Philosophie des Leidens: Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens 9783495994740, 9783495994733

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Philosophie des Leidens: Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens
 9783495994740, 9783495994733

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Besondere Bezeichnungen
Einleitung
I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
1.1. Gegenstand, Herkunft und Problem der Metaphysik als Wissenschaft
1.2. Die drei Hauptquellen der Erkenntnis als Ausgsangsbasis einer jeden Metaphysik
1.3. Das Wesen der Metaphysik und ihre Abgrenzung von Phänomenologie, Ontologie und Theologie
1.4. Die ontologische Grundstruktur des Seins und die besondere ontologische Stellung des Leidens
1.5. An den Grenzen und darüber hinaus: metaphysische Regionen und Gegenstände
1.6. Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft
1.7. Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik
1.8. Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft: die innere Verbundenheit der Seinsregionen
1.9. Die Verankerung der metaphysischen Dimension des Leidens in der Phänomenologie des Leidens: die Selbsttranszendierung des Leidens
1.10. Die Notwendigkeit einer Metaphysik des Leidens: Das Leiden begründet sich nicht selbst.
1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens: die reduktiv-regressive Methode und ihre Abgrenzung von Intuition, Deskription, Deduktion und Induktion als Weg einer grundsätzlichen Revision und Erneuerung der klassischen Metaphysik
1.12. Denkprinzip gleich Seinsprinzip? Die Verwurzelung des epistemologischen Erkenntnisprinzips im ontologischen Seinsgesetz; ihre Differenz und Identität
1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre
1.13.1.
1.13.2.
1.13.3.
1.13.4.
Ad 1.
Ad 2.
Ad 3.
Ad 4.
1.13.5.
1.13.6.
1.13.7.
1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre
1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik: Platon, Buddha, A. Schopenhauer, S. Kierkegaard, Thomas v. Aquin, Hiob, Genesis, Augustinus, »Epikur«
II. Das Fundament: Leiden und Freiheit
2.1. Freiheit und Gebundenheit im Leiden: Nur ein partiell freies, partiell unfreies Wesen kann leiden; die Unmöglichkeit unmittelbarer Leidzufügung
2.2. Das Wesen der Freiheit: Bestimmungsoffenheit, Selbstbestimmungsfähigkeit und Selbstannahme
2.3. Der metaphysische Beweis der Freiheit über die Unmöglichkeit des infiniten Regresses
2.4. Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden
2.5. Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem
2.6. I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung
2.7. Das Verhältnis von endlichem und unendlichem Sein: die Unmöglichkeit des metaphysischen Finitismus
2.8. Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos: die Unmöglichkeit sowohl des metaphysischen Monismus als auch des metaphysischen Dualismus
2.9. »Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel
2.10. Freiheit und Unfreiheit des Menschen als Selbsterfahrung: die menschliche Freiheit als Einheit von Abhängigkeit und Selbständigkeit
2.11. Freiheit und Unfreiheit als fundamentale Leidensquellen: Sehnsucht nach absoluter Autonomie und das Faktum der Nichtsverfallenheit
2.12. Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit; Reinigung des Gottesbegriffs von Anthropomorphismen und die Unmöglichkeit der unmittelbaren Leidzufügung durch Gott
2.13. Das schlichthinnige Sein bei Parmenides und die Theorie des Allbewusstseins in der indischen Spiritualität
2.14. Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild: die Verkennung der Gebrochenheit der Existenz oder der Mensch in naiver Weltgeborgenheit
2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität
III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit: Die allgemeine Kosmologie des Leidens
3.1. Leiden, Zeit und Zeitlichkeit: Zeitunterworfenheit und doppelte Zeitlichkeit des Menschen
3.2. Das Problem der Entstehung überhaupt und die traditionellen drei Kausalitätskonzepte
3.3. Die Kausalität des Leidens: Getroffenheit, Betroffenheit und Selbstentwurf
3.4. Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«)
3.5. Das Wesen des Übels und seine Ordnung
3.6. Das Problem der »privatio boni«
3.7. Qualität und Quantität des Übels
3.8. Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen als eines Zwischen-, Konflikt-, Mängel- und Universalwesens
3.9. Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden
3.10. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: Weltveräußerung und Weltausgesetztheit des Menschen
3.11. Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch
3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste
3.13. Das Weltwechselwirken und das Leiden: Pluralität, Antagonismus und Dissonanz der metaphysischen Grundkräfte des Kosmos und die »Kraftspezialisierungstheorie«
3.14. Leiden als unvermeidbare Folge der Unfertigkeit, Unreife, Prozessualität, Pluralität und Agonalität der Wirklichkeit; die Widerlegung der stoischen Theodizee
3.15. Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt, eine werdende einer fertigen Welt, eine werdend-selbsttätige einer werdend-passiven, eine personale einer nicht-personalen Welt vorzieht
3.16. Hiobs Theodizee und ihr Ungenügen
3.17. Theodizee zweiter Teil
IV. Natur und Leiden: Die Verinnerlichung der Natur durch das Leiden im veräußerten Geist
4.1. Naturgeschehen und Kausalität; Zuständigkeit und Grenzen der Naturwissenschaft
4.2. Das gebrochene Weltbild der Neuzeit
4.3. Das Problem des Seelisch-Geistigen und das Leiden in der vormenschlichen Natur
4.4. Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit
4.5. Die Oszillationstheorie und das Leiden
4.6. Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte
4.7. Die Erklärungsprinzipien der modernen Evolutionstheorie: »Zufall und Notwendigkeit«
4.7.1. Der biologische und der physikalisch-mathematische Zufall
4.7.2. Mathematisch-physikalischer Exkurs zum Ungenügen des Gleichverteilungsprinzips für die Welterklärung (nach T. Pröll)
4.8. Die evolutionären Kausal- und Gestaltungsfaktoren – eine Zusammenfassung
4.9. Die Evolution als Geburts- und Leidensprozess mit zunehmender Verselbständigung und Emanzipation ihrer Gebilde vom Umweltbezug
4.10. Die drei Grundübel nach G. W. Leibniz mit einer Ergänzung durch ein viertes Grundübel auf dem Hintergrund der kosmischen Evolution
4.11. Der menschliche Leib als prekäre Synthese der Evolution; seine Antiquiertheit, Gebrechlichkeit, Offenheit und Plastizität
4.12. Existenzielle Unbehaustheit und Preisgegebenheit als anthropologische Grundentfremdung des Menschen
4.13. Der Mensch als Bürger zweier Welten: die Weisheit des Mythos
4.14. Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn: Gott- bzw. Heimatverlust und Weltdurchgeistigung
4.15. Religionsphilosophisch-mythologischer Exkurs zur Ursprungsfrage von Leiblichkeit und Schuld (mit eigenem Lösungsvorschlag)
4.16. Der Sinn von Schmerz, Mühsal, Verletzung, Krankheit, Altern und Tod
4.17. Der Sinn der Evolution und des Leidens darin; die Unvermeidbarkeit des Leidens in der Evolution
4.18. Die Inkommensurabilität von Leibleben und Geistleben: ihre polar-konfliktuöse Lebenseinheit
4.19. Das Leiden der Tiere
4.20. Der Mensch als natürlich-übernatürlicher Abschluss der Evolution; die Lehre vom »großen Menschen« (homo maximus)
4.21. Noch einmal Hiob und sein Scheitern an der kosmologischen Frage
4.22. Theodizee dritter Teil: Verleiblichung und Erbhang
V. Mensch, Kultur und Leiden: Die Explikation des Leidens im Kulturgeschehen
5.1. Die Kultur als unvermeidbare Entfremdungs- und Leidensquelle: die Selbstentfremdung in der Objektivation
5.2. Die historisch wechselnde Polarität von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft, von Freiheit und Ordnung, Willkür und Wertorientierung als Leidensquelle
5.3. Das Leiden als Preis der Kulturentwicklung: die großen Kulturepochen der Menschheit und die Theorie der Kulturentwicklung
5.3.1. Der Quellgrund der Kultur
5.3.2. Die anthropologischen Grundlagen der Kultur
5.3.3. Der allgemeine Kulturaufbau und die vier Kulturepochen der Menschheit
5.3.4. Exkurs: Die Krise des Kapitalismus und der Buddenbrook-Effekt
5.3.5. Mystik und Kultur
5.3.6. Zusammenfassung: Kultur als Dienst am Ganzen
5.3.7. Die Prinzipien der Kulturbildung und ihre innere Logik: eine Übersicht
5.4. Der Bewusstwerdungs- und Selbstwerdungsprozess als Leid- und Heilungsquelle
5.5. Personale Unreife, Vielfalt der Interessen und Kampf um die »Lebensmächte« (»Ideen«) als Quelle des Leidens
5.6. Herrschaft, Abhängigkeit, Autonomie und Leiden
5.7. Das Problem der Kommunikation als Leidquelle: die Grenze des Verstehens und das Ichsein als einzigartig-unvertretbare Perspektive
5.8. Das Leiden als Marker dessen, was Not tut: die utopische Potenz des Leidens und der metaphysische Sinn der Zeit
5.9. Not als Grund des Leidens: der überforderte Mensch und der Sinn des Scheiterns
5.10. Vom Sinn der Zeit und des Raums
5.11. Sinn und Sinnmangel der Geschichte: die schwere Geburt des Humanum (»dynamischer Platonismus«/»kritischer Humanismus«)
5.12. Vom Segen zum Fluch
5.13. Theodizee vierter Teil: die Rolle des Nichts im Seinsgeschehen mit einer Kritik an der plotinischen Gleichsetzung von Materie und Üblem, Materie und Bösem
5.14. Hiobs Unkenntnis der unbewussten Seelentätigkeit; die Unmöglichkeit der Erbsünde im wörtlichen Sinn
VI. Gott und das Leiden: Gott als die letzte Fremdheit und Eigenheit des Menschen
6.1. Macht und Ohnmacht – Leiden als Ausdruck von grundhafter Ohnmacht und grundhafter Erlösungsbedürftigkeit
6.2. Formen der Gottferne und Verlorenheit ins drohende Nichts
6.3. Der Tod als Symbol der Nichtsverfallenheit; Anmerkung zu T. di Campanella
6.4. Der kosmische Sinn des Todes
6.5. Die Urangst und ihre Folgen
6.6. Die Härte Gottes und die »Nichtswürdigkeit« des gefallenen Menschen
6.7. Der Gottesverlust als Strafe? Von der Unmöglichkeit eines zornigen, reuigen, hassenden und strafenden Gottes
6.8. Der leidlose Gott, der leidende Gott und der »leidend« mitfühlende Gott
6.9. Die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und offener Zukunft mit der Allmacht und Allwissenheit Gottes
6.10. Gottes Gerechtigkeit und das Problem der Ausgleichsidee
6.11. Die Gewährung destruktiven, »ungerechtfertigten« Leidens und ihr Sinn: die Öffnung des pU Abgrundes des Menschen (»homo abyssus«)
6.12. Leiden als Achtung der fehlbaren Freiheit durch Gott: Warum erschafft Gott überhaupt frei-fehlbare Wesen? Seine Mitverantwortung für das Übel und das Böse in der Welt
6.13. Leiden als Achtung der kosmischen Ordnung durch Gott und damit der Ermöglichung menschlicher Freiheit
6.14. Leiden als Achtung der leidvollen Handlungskonsequenzen für Selbsterkenntnis und Selbstkorrektur
6.15. Leiden als Erweckung und Lehre
6.16. Leiden als Prüfung
6.17. Das Anfechtungs- und Versuchungsleid
6.18. Leiden als Warnung und Bewahrung vor größerem Übel; Anmerkung zu A. Schopenhauer
6.19. Leiden als Führung und Erziehung
6.20. Das Schuld- und Sündenleid
6.21. Leiden als Reinigung und Vorbereitung für die Vervollkommnung
6.22. Das Leid von Reue, Buße und Sühne; der falsche und der rechte Sinn des Strafleids
6.23. Das stellvertretende Leiden, das Drama der Soteriologie und die Koinonia der Leidenden
6.24. Das Opferleid – sein Wesen und Sinn
6.25. Die Transformation existenziellen Zwangsleids in freiwilliges Opferleid
6.26. Möglichkeit und Unmöglichkeit des Gottesopfers
6.27. Leiden als Vorschein der Durchgeistigung und Heiligung der Schöpfung: »Verklärung des Leidens durch das Leiden«
6.28. Das reine Leiden als Ort der Gottvereinigung oder das Leiden als »Seinsbrand« in Gott
6.29. Das Leiden des Scheiterns
6.30. Das Leiden der Gottferne, der Gottlosigkeit, der Widergöttlichkeit und sein Sinn
6.31. Der Sinn von Gottes Schweigen und die Sprachen Gottes
6.32. Die Einheit der Lebensurgründe in Gott und ihre Diskrepanz im Weltsein als Fundament des Leidens und des Bösen
6.33. Das Problem der besten und der schlechtesten aller möglichen Welten und seine Auflösung
6.34. Problem und Wesen des Schicksals
6.35. Hiob und der neue Gott: Auflösung anthropomorpher Projektionen
6.36. Theodizee fünfter Teil: die Stellung des Gottmenschen im Sein
VII. Der metaphysische Sinn des Leidens
7.1. Die ontologische Abkünftigkeit allen Leidens und der vertikale Rückverweis des Leidens
7.2. Der vielfältige Sinnzusammenhang des Leidens und die horizontalen Querverweise des Leidens; das Kreuz als Synthese von Vertikalität und Horizontalität
7.3. Die möglichen Zwecke des Leidens und die Instrumentalisierung des Leidens
7.4. Dynamik und Endsinn des Leidens oder die utopischen Vorverweise des Leidens
7.5. Die dreifache Aufhebung des Leidens in Sein, Sinn und Wert
7.6. Unmöglichkeit einer letzten metaphysischen Tragik bzw. eines Pantragismus des Seins
7.7. Der Sinn von Ausweglosigkeit, Scheitern und Absurdität: der positiv-spirituelle Sinn einer Selbstvernichtung der Menschheit als äußerster Sinngrund des Leidens
7.8. Das Leiden als Spur größeren Lebens und als Statthalter der Vollendung: der individuelle Mensch als zu realisierende »Seite Gottes«
7.9. Das Leiden als Geburt, Lehre und Weg
7.10. Die unvermeidlich katastrophalen Folgen des Gottverlustes für die Menschheit: die »Verkehrtheit der Welt« und noch einmal das Problem der Erbsünde
7.11. Ursprung und Sinn des Bösen: Hat »Auschwitz« einen Sinn?
7.12. Hiob und Jesus oder der geschichtlich-metaphysische Sinn des Judentums: das alte Zion und das neue Jerusalem
7.13. Der Höchstsinn des Leidens: das freiwillige Opfer und die Unmöglichkeit eines Gottesopfers
7.14. »Eritis sicut Deus«: das letzte Bild des Menschen und eine kurze Metaphysik der Geschichte
7.15. Grad und Fassungskraft: die Ordnung der unerlösten und der erlösten Schöpfung
7.16. Zusammenfassende Kritik der Theodizeekritiker
7.17. Ein letztes Wort: die äußere und innere Schönheit der leidenden Schöpfung
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Seele, Existenz, Leben

| 40.II

Boris Wandruszka

Philosophie des Leidens Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens

Band II: Metaphysik des Leidens

https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Seele, Existenz, Leben Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Band 40.II

https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Boris Wandruszka

Philosophie des Leidens Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens

Band II: Metaphysik des Leidens

https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99473-3 (Print) ISBN 978-3-495-99474-0 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

»Et la, – c'est comme un nid sans plumes, sans chaleur [...] On sourit avec des pleurs, et chante en grelottant [...]« »Und hier, hier ist ein Nest, aus dem die Wärme wich [...]Durch Tränen lächelnd, mit frostbebendem Gesang […]« (Arthur Rimbaud, Les Étrennes des Orphelins)

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https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Vorwort

Ein Werk wie dieses, das über einen Zeitraum von vierzig Jahren hinweg entstand, ist ein unabschließbares »work in process« und, insofern es an Klarheit, Differenziertheit und Tiefe gewinnt, ein »work in progress«. Zwar ist seine Thematik – die Ergründung des Phänomens »Leiden« – von mir ergriffen, aber nicht einfach frei gewählt worden. Vielmehr drängte es sich nach langen Jahren früher und wiederholter Traumatisierungen, unglücklicher familiärer Umstände, schwerer Krankheiten, falscher Lebensentscheidungen und allerlei akuter und chronischer Leiden so sehr auf, dass die Beschäftigung mit seiner Thematik eher einer Nötigung als einem freien Entschluss glich.1 Sein Zweck war darum zunächst die persön­ liche Bewältigung des Unausweichlich-Unerträglichen. Doch bald schon, etwa mit zwanzig Jahren, wurde klar, dass es sich nicht um ein zufälliges oder grausam auferlegtes Schicksal handelte, das ich so schnell wie möglich loswerden musste, sondern um eine Aufgabe, deren Lösung nicht nur mir, sondern allen, die leiden, besonders denen, die in dieser Welt ohne Aussicht auf ein unbeschwertes und gelingendes Leben sind, zukommen sollte. Da ich selbst nicht nur viel durchzustehen hatte – und wohl mein restliches Leben noch durchste­ hen muss –, sondern mit den Studien der Medizin, Psychotherapie und der Philosophie – Letztere schon seit dem 14. Lebensjahr – Vor­ aussetzungen schuf, die in dieser Konstellation besonders günstig für die gestellte Aufgabe waren, fühlte ich mich geradezu aufgerufen, an diese Arbeit heranzugehen. Als mir nach dem Abitur drei Fragen zur Leidensthematik aufgingen, wusste ich nicht nur, dass ich mich um diese Auseinandersetzung nicht herumdrücken konnte, sondern dass ich dafür ein ganzes Leben würde benötigen und einsetzen müssen. Ich schätzte die Zeitspanne, die für dieses Unternehmen benötigt 1 Auch auf ihn passt somit die Selbstcharakterisierung von Emil M. Cioran (1987, 24), Der zersplitterte Fluch: »Sein Los war es, sich nur halbwegs zu verwirklichen. Alles an ihm war verstümmelt: seine Seins- wie seine Denkart. Ein Fragmentenmensch, selber nur ein Fragment.« – vielleicht aber auch das Los des modernen Menschen überhaupt!

7 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Vorwort

würde, auf etwa vierzig Jahre. Die drei erwähnten Grundfragen zum Leiden lauteten: 1.

2.

3.

Was sind Leid und Leiden überhaupt (quid malum et miseria)? Haben sie eine innere Struktur, d. h. eine Seinsbeschaffenheit, durch die sie sich charakteristisch von anderen Phänomenen wie Anstrengung, Mühsal, Schmerz, Krankheit, Übel, Arbeit, Glück und Erfolg usw. unterscheiden? Woher rühren Leid und Leiden letztlich (unde malum et mise­ ria)? Wie muss ein Wesen bzw. wie muss das Universum be­ schaffen sein, dass darin Leid und Leiden möglich, vielleicht sogar nötig sind? Und schließlich: Wie kann und soll der Mensch mit den viel­ fältigen leiblichen, psychischen, sozialen, politischen, ökonomi­ schen, kulturellen, religiösen und metaphysischen Leiden umge­ hen, so dass sie angemessen wahrgenommen, verstanden und bewältigt werden (quomodo laborare cum malo et miseria)?

Aus diesen drei Grundfragen zum Leiden ergaben sich drei Wissen­ schaften vom Leiden: 1.

2.

3.

die Phänomenologie von Leid und Leiden, die sich mit der phä­ nomenal zugänglichen – leiblichen, psychischen, sozialen und geistigen – Struktur von Leid und Leiden beschäftigt, d. h. mit ihrem charakteristischen »Wesen«; die Metaphysik von Leid und Leiden, die die vorletzten und letzten Bedingungen, Gründe und Quellen von Leid und Leiden aufdeckt, durch die die Herkunft und evtl. das Ziel von Leid, Übel und Leiden verständlich werden; und die Ethik von Leid und Leiden, die versucht, den hilfreichen bzw. dysfunktional-schädlichen Umgang mit dem Leiden her­ auszuarbeiten.

Entsprechend diesen drei Wissenschaften schrieb ich eine auf fünf Bände geplante Grundlegung des Leidens, von denen bisher zwei Bücher veröffentlicht wurden, die in ihrem Inhalt und Umfang, in ihrer Differenzierung und Methodik hohe Anforderungen an den Leser stellen und daher nicht ohne Mühe angeeignet werden können.2 Daher lässt sich dieses Werk nicht mit populären Ratgebern verglei­ 2 Vgl. Boris Wandruszka (2023), Philosophie des Leidens. Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens, Bd. I: Phänomenologie des Leidens.

8 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Vorwort

chen, deren Ziel es ist, schnell zu helfen. In meinem Werk ging es stets um mehr, nämlich um die Seins-, Sinn- und Wertfrage des Menschen in Bezug auf seine Stellung im Kosmos und im Leben überhaupt, die unmöglich an den Tatsachen von Unglück und Misserfolg, Schmerz, Verletzung und Krankheit, Glück, Sinn und Erfolg, Sinnlosigkeit, Unrecht, Sehnsucht und Erfüllung vorbei behandelt und beantwortet werden kann. Genau dieser Horizont bildete sich auch in der Werkentstehung selbst ab, die durch viele Hemmungen und Störungen, Fehlgriffe und Rückschläge, Ablehnungen und Tücken, durch Gleichgültigkeit, zorniges Missverstehen und überhebliche Zurückweisung behindert, letztlich aber dann doch genau dadurch, dass ich all dies annahm und daran zu wachsen versuchte, gefördert wurde.3 Zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr rang ich damit aufzudecken, was Leiden als solches überhaupt ist bzw. was eigentlich geschieht, wenn wir leiden. Da bis heute an diesem Punkt in der Geistes- und Philosophiegeschichte, in Psychologie und verwandten Wissenschaf­ ten, soweit ich dies erkunden konnte, keine durchdringenden und systematischen Arbeiten vorlagen – vielleicht von Arthur Schopen­ hauer und der buddhistischen Psychologie abgesehen -, stand ich vor einem schroffen und abweisenden Hochgebirge, das alleine und ohne Führer zu besteigen war. Entsprechend blieben Sackgassen, Abbrüche, Umwege, Fehlwege, Abstürze, »Erfrierungen«, Verzweiflungen und resignative Selbstaufgaben nicht aus. Doch letztlich kämpfte ich mich durch und fand im dreißigsten Lebensjahr die Lösung – der Gipfel des ersten und schwierigsten Teiles, der »Phänomenologie des Leidens«, war erstiegen! Und in der Tat war ich auf eine verborgene Struktur gestoßen, die so überraschend sinnig, komplex, tief, vor allem für Wesen und Stellung des Menschen im Ganzen so erhellend war, dass ich nur staunen und dankbar sein konnte. So war ich nicht nur von »guten Mächten wunderbar geborgen und getragen«, sondern auch ermutigt, gestützt und zu einem guten Ende geführt worden. Im Gegensatz zur »Phänomenologie des Leidens«, die ich origi­ när und mit viel Mühen ermitteln und aufbauen musste, konnte ich im Falle der »Metaphysik des Leidens« auf viel Vorarbeit zurückgreifen, vor allem auf die »Grundlegung der Philosophie« (1965–1971) mei­ 3 Die Metaphysik des Leidens (2023) war ursprünglich als Habilitation für Philoso­ phie an der Universität Heidelberg eingereicht und anerkannt, geriet dann aber in die Wirren einer verunglückten Betreuung und musste zum großen Bedauern des Autors als universitäres Projekt aufgegeben werden.

9 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Vorwort

nes wichtigsten Lehrers, des deutsch-ungarischen Philosophen Béla Freiherr von Brandenstein (1901–1989). Trotzdem erwies sich diese Arbeit keineswegs als leicht, sie hatte ihre eigenen Schwierigkeiten, die der ungeheuren Weite, Tiefe und Kompliziertheit der Thematik geschuldet sind, zumal mich in der Zeit ihrer Ausführung – vom dreißigsten Lebensjahr bis heute – so schwere Beeinträchtigungen auf allen Lebensgebieten trafen und behinderten, dass das Niederschrei­ ben fast immer mit körperlichen, seelischen und sozialen Schmerzen verbunden war und zur wahren Qual wurde. Jetzt zum ersten Mal zeichnet sich ein Ende dieser Leiden ab, für die allerdings ein so hoher Preis gezahlt werden musste, dass dieses Leben – nicht nur vom bürgerlichen Standpunkt, sondern auch vom Standpunkt meines persönlichen Potentials, meiner Neigungen und Sehnsüchte aus – wie ein durchgängiges Scheitern erscheint. Aber auch dies konnte ich »leidenstheoretisch« nutzen und daraus eine – jedenfalls für mich – ermutigende Theorie sowohl des Scheiterns als auch des Opferns entwickeln, die notwendigerweise spirituelle Dimensionen umfasst. Schlussendlich wagte ich es, aus der phänomenologischen und metaphysischen Ergründung des Wesens des Leidens eines der schwersten und bedrängendsten Probleme des Geistes, zumal eines spirituell offenen und tiefer fragenden Geistes anzugehen: das Pro­ blem der Pathodizee bzw. allgemeiner gesagt: das Problem, ob und inwiefern dem Übel und dem Leiden, dem Schlechten und dem Bösen ein Sinn zukomme, der ihnen einen annehmbaren Ort in Dasein und Welt zuweist.4 Auch hier erwies sich die Antwort als sehr komplex und vielschichtig, doch hoffe ich, eine Lösung gegeben zu haben, die psychologisch, soziologisch, philosophisch und theolo­ gisch befriedigt. Jedenfalls habe ich mich darum bemüht und dabei alle mir bekannten Lösungsversuche, so gut es geht, berücksichtigt und kritisch eingearbeitet. Denn natürlich, der Mensch kann diese Frage nicht übergehen, sie folgt ihm wie eine dunkle Erinnye auf dem Fuß, und er kann sie nur dadurch »loswerden«, dass er sie in seinem Lebenshaus, auch wenn nur wie Hiob nach anfänglichem Hadern, Wird die Frage nach Sinn und Unsinn des Leidens mit der Frage nach dem Zusammenhang von Gott und Leid verknüpft, hat man es mit dem Problem zu tun, wie ein allmächtiger, allweiser und allliebender Gott mit dem Unmaß an Leid, Unrecht und Bosheit in der Welt konsistent zusammengedacht und in diesem Sinne »gerechtfertigt« werden kann. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) führte dafür den Begriff der »Theodizee« (»Gottesgerechtigkeit«, »Gottesrechtferti­ gung«) ein. 4

10 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Vorwort

willkommen heißt, bewirtet und zu verstehen sucht. Dann kann sie – wie schon bei Aischylos in seiner »Orestie« – zur lebenswahrenden Eumenide werden. Ich wünsche mir, dass mein Lebenswerk, das sich hier theoretisch niederschlug, das ich aber auch als Arzt, Psycho­ therapeut, Künstler und politisch engagierter Mensch umzusetzen versuchte, diese »metanoetische Wirkung« nicht nur bei mir und vie­ len meiner Patienten, sondern bei allen Menschen tue, die sich nicht scheuen, eine gewisse Lebenszeit und Mühe für die drängendste aller existenziellen Fragen, die sich den Menschen stellt, aufzubringen.5 Da niemand solch ein Werk, wie das hier vorgelegte, allein aus sich schaffen kann, möchte ich Frau Gerlinde Schäfer-Pröll und Herrn Dr. Rolf Eraßme dafür herzlich danken, dass sie sich die Mühe gemacht haben, es durchzulesen und auf sprachliche, formale, inhaltliche und argumentative Mängel hin zu prüfen. Zu besonderem Dank bin ich außerdem Herrn Lukas Trabert, dem ehemaligen Leiter des Karl Alber Verlages in Freiburg, Frau Monika Mühlpfordt und Herrn Fabian Wahl (im Auftrag der Nomos-Gesellschaft) verpflichtet, die den Mut haben, eine solche schwierige und umfängliche Arbeit, die wohl kaum einen großen Leserkreis finden wird, zu betreuen und zu veröffentlichen. Stuttgart, 6.5.2023

5

»Metanoia« bezeichnet eine seelisch-geistige Einstellungsumkehr.

11 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

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Inhaltsverzeichnis

Besondere Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft . . . . .

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1.1.

Gegenstand, Herkunft und Problem der Metaphysik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1.2.

Die drei Hauptquellen der Erkenntnis als Ausgsangsbasis einer jeden Metaphysik . . . . . . . .

43

1.3.

Das Wesen der Metaphysik und ihre Abgrenzung von Phänomenologie, Ontologie und Theologie . . . . . .

45

1.4.

Die ontologische Grundstruktur des Seins und die besondere ontologische Stellung des Leidens . . . . .

50

1.5.

An den Grenzen und darüber hinaus: metaphysische Regionen und Gegenstände . . . . . . . . . . . . . .

61

1.6.

Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . .

67

1.7.

Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik . . . . . .

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1.8.

Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft: die innere Verbundenheit der Seinsregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Die Verankerung der metaphysischen Dimension des Leidens in der Phänomenologie des Leidens: die Selbsttranszendierung des Leidens . . . . . . . . . . .

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1.10. Die Notwendigkeit einer Metaphysik des Leidens: Das Leiden begründet sich nicht selbst. . . . . . . . . . . .

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1.9.

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Inhaltsverzeichnis

1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens: die reduktiv-regressive Methode und ihre Abgrenzung von Intuition, Deskription, Deduktion und Induktion als Weg einer grundsätzlichen Revision und Erneuerung der klassischen Metaphysik . . . . . . . .

89

1.12. Denkprinzip gleich Seinsprinzip? Die Verwurzelung des epistemologischen Erkenntnisprinzips im ontologischen Seinsgesetz; ihre Differenz und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre . . . . . . . . . . . . . . . .

102

1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik: Platon, Buddha, A. Schopenhauer, S. Kierkegaard, Thomas v. Aquin, Hiob, Genesis, Augustinus, »Epikur« . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

II. Das Fundament: Leiden und Freiheit . . . . . . . .

149

2.1.

Freiheit und Gebundenheit im Leiden: Nur ein partiell freies, partiell unfreies Wesen kann leiden; die Unmöglichkeit unmittelbarer Leidzufügung . . . . . .

149

2.2.

Das Wesen der Freiheit: Bestimmungsoffenheit, Selbstbestimmungsfähigkeit und Selbstannahme . . .

153

2.3.

Der metaphysische Beweis der Freiheit über die Unmöglichkeit des infiniten Regresses . . . . . . . . .

159

2.4.

Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

2.5.

Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem . . .

171

2.6.

I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung . . . .

176

2.7.

Das Verhältnis von endlichem und unendlichem Sein: die Unmöglichkeit des metaphysischen Finitismus . . .

182

2.8.

Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos: die Unmöglichkeit sowohl des metaphysischen Monismus als auch des metaphysischen Dualismus . . . . . . . .

183

14 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Inhaltsverzeichnis

2.9.

»Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel . . . . .

187

2.10. Freiheit und Unfreiheit des Menschen als Selbsterfahrung: die menschliche Freiheit als Einheit von Abhängigkeit und Selbständigkeit . . . . . . . . .

195

2.11. Freiheit und Unfreiheit als fundamentale Leidensquellen: Sehnsucht nach absoluter Autonomie und das Faktum der Nichtsverfallenheit . . . . . . . .

197

2.12. Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit; Reinigung des Gottesbegriffs von Anthropomorphismen und die Unmöglichkeit der unmittelbaren Leidzufügung durch Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

2.13. Das schlichthinnige Sein bei Parmenides und die Theorie des Allbewusstseins in der indischen Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

2.14. Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild: die Verkennung der Gebrochenheit der Existenz oder der Mensch in naiver Weltgeborgenheit . . . . . . . . . .

206

2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

212

III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit: Die allgemeine Kosmologie des Leidens . . . . . . .

221

3.1.

Leiden, Zeit und Zeitlichkeit: Zeitunterworfenheit und doppelte Zeitlichkeit des Menschen . . . . . . . . . .

221

3.2.

Das Problem der Entstehung überhaupt und die traditionellen drei Kausalitätskonzepte . . . . . . . . .

224

3.3.

Die Kausalität des Leidens: Getroffenheit, Betroffenheit und Selbstentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

230

3.4.

Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

3.5.

Das Wesen des Übels und seine Ordnung . . . . . . .

237

3.6.

Das Problem der »privatio boni« . . . . . . . . . . . .

245

3.7.

Qualität und Quantität des Übels . . . . . . . . . . .

251

15 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Inhaltsverzeichnis

3.8.

Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen als eines Zwischen-, Konflikt-, Mängel- und Universalwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

3.10. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: Weltveräußerung und Weltausgesetztheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

3.11. Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch . . .

279

3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

3.13. Das Weltwechselwirken und das Leiden: Pluralität, Antagonismus und Dissonanz der metaphysischen Grundkräfte des Kosmos und die »Kraftspezialisierungstheorie« . . . . . . . . . . . . .

298

3.14. Leiden als unvermeidbare Folge der Unfertigkeit, Unreife, Prozessualität, Pluralität und Agonalität der Wirklichkeit; die Widerlegung der stoischen Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

3.15. Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt, eine werdende einer fertigen Welt, eine werdend-selbsttätige einer werdend-passiven, eine personale einer nichtpersonalen Welt vorzieht . . . . . . . . . . . . . . .

315

3.16. Hiobs Theodizee und ihr Ungenügen . . . . . . . . .

321

3.17. Theodizee zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . .

325

IV. Natur und Leiden: Die Verinnerlichung der Natur durch das Leiden im veräußerten Geist . . . . . . .

327

3.9.

4.1.

Naturgeschehen und Kausalität; Zuständigkeit und Grenzen der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . .

327

4.2.

Das gebrochene Weltbild der Neuzeit . . . . . . . . .

332

4.3.

Das Problem des Seelisch-Geistigen und das Leiden in der vormenschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . .

341

4.4.

Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347

16 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Inhaltsverzeichnis

4.5.

Die Oszillationstheorie und das Leiden . . . . . . . .

351

4.6.

Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte . . . . . . . . . . . . . . . .

353

4.7.

Die Erklärungsprinzipien der modernen Evolutionstheorie: »Zufall und Notwendigkeit« . . . .

381

4.8.

Die evolutionären Kausal- und Gestaltungsfaktoren – eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .

395

4.9.

Die Evolution als Geburts- und Leidensprozess mit zunehmender Verselbständigung und Emanzipation ihrer Gebilde vom Umweltbezug . . . . . . . . . . .

399

4.10. Die drei Grundübel nach G. W. Leibniz mit einer Ergänzung durch ein viertes Grundübel auf dem Hintergrund der kosmischen Evolution . . . . . . . .

404

4.11. Der menschliche Leib als prekäre Synthese der Evolution; seine Antiquiertheit, Gebrechlichkeit, Offenheit und Plastizität . . . . . . . . . . . . . . . .

407

4.12. Existenzielle Unbehaustheit und Preisgegebenheit als anthropologische Grundentfremdung des Menschen . .

412

4.13. Der Mensch als Bürger zweier Welten: die Weisheit des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

416

4.14. Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn: Gott- bzw. Heimatverlust und Weltdurchgeistigung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417

4.15. Religionsphilosophisch-mythologischer Exkurs zur Ursprungsfrage von Leiblichkeit und Schuld (mit eigenem Lösungsvorschlag) . . . . . . . . . . . . . .

434

4.16. Der Sinn von Schmerz, Mühsal, Verletzung, Krankheit, Altern und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

445

4.17. Der Sinn der Evolution und des Leidens darin; die Unvermeidbarkeit des Leidens in der Evolution . . . .

452

4.18. Die Inkommensurabilität von Leibleben und Geistleben: ihre polar-konfliktuöse Lebenseinheit . . .

454

4.19. Das Leiden der Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . .

458

17 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Inhaltsverzeichnis

4.20. Der Mensch als natürlich-übernatürlicher Abschluss der Evolution; die Lehre vom »großen Menschen« (homo maximus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

462

4.21. Noch einmal Hiob und sein Scheitern an der kosmologischen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . .

465

4.22. Theodizee dritter Teil: Verleiblichung und Erbhang . .

467

V. Mensch, Kultur und Leiden: Die Explikation des Leidens im Kulturgeschehen . . . . . . . . . . . . .

475

5.1.

Die Kultur als unvermeidbare Entfremdungs- und Leidensquelle: die Selbstentfremdung in der Objektivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

475

Die historisch wechselnde Polarität von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft, von Freiheit und Ordnung, Willkür und Wertorientierung als Leidensquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

481

Das Leiden als Preis der Kulturentwicklung: die großen Kulturepochen der Menschheit und die Theorie der Kulturentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

484

5.4.

Der Bewusstwerdungs- und Selbstwerdungsprozess als Leid- und Heilungsquelle . . . . . . . . . . . . . . .

523

5.5.

Personale Unreife, Vielfalt der Interessen und Kampf um die »Lebensmächte« (»Ideen«) als Quelle des Leidens

529

5.6.

Herrschaft, Abhängigkeit, Autonomie und Leiden . . .

531

5.7.

Das Problem der Kommunikation als Leidquelle: die Grenze des Verstehens und das Ichsein als einzigartigunvertretbare Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .

537

Das Leiden als Marker dessen, was Not tut: die utopische Potenz des Leidens und der metaphysische Sinn der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

541

Not als Grund des Leidens: der überforderte Mensch und der Sinn des Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . . .

546

5.10. Vom Sinn der Zeit und des Raums . . . . . . . . . . .

548

5.2.

5.3.

5.8.

5.9.

18 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Inhaltsverzeichnis

5.11. Sinn und Sinnmangel der Geschichte: die schwere Geburt des Humanum (»dynamischer Platonismus«/ »kritischer Humanismus«) . . . . . . . . . . . . . . .

551

5.12. Vom Segen zum Fluch . . . . . . . . . . . . . . . . .

556

5.13. Theodizee vierter Teil: die Rolle des Nichts im Seinsgeschehen mit einer Kritik an der plotinischen Gleichsetzung von Materie und Üblem, Materie und Bösem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

559

5.14. Hiobs Unkenntnis der unbewussten Seelentätigkeit; die Unmöglichkeit der Erbsünde im wörtlichen Sinn . . .

570

VI. Gott und das Leiden: Gott als die letzte Fremdheit und Eigenheit des Menschen . . . . . . . . . . . . .

575

6.1.

Macht und Ohnmacht – Leiden als Ausdruck von grundhafter Ohnmacht und grundhafter Erlösungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

575

6.2.

Formen der Gottferne und Verlorenheit ins drohende Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

578

6.3.

Der Tod als Symbol der Nichtsverfallenheit; Anmerkung zu T. di Campanella . . . . . . . . . . . . . . . . . .

582

6.4.

Der kosmische Sinn des Todes . . . . . . . . . . . . .

586

6.5.

Die Urangst und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . .

588

6.6.

Die Härte Gottes und die »Nichtswürdigkeit« des gefallenen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . .

591

6.7.

Der Gottesverlust als Strafe? Von der Unmöglichkeit eines zornigen, reuigen, hassenden und strafenden Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

593

6.8.

Der leidlose Gott, der leidende Gott und der »leidend« mitfühlende Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

598

6.9.

Die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und offener Zukunft mit der Allmacht und Allwissenheit Gottes . .

603

6.10. Gottes Gerechtigkeit und das Problem der Ausgleichsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

607

19 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Inhaltsverzeichnis

6.11. Die Gewährung destruktiven, »ungerechtfertigten« Leidens und ihr Sinn: die Öffnung des pU Abgrundes des Menschen (»homo abyssus«) . . . . . . . . . . .

613

6.12. Leiden als Achtung der fehlbaren Freiheit durch Gott: Warum erschafft Gott überhaupt frei-fehlbare Wesen? Seine Mitverantwortung für das Übel und das Böse in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

617

6.13. Leiden als Achtung der kosmischen Ordnung durch Gott und damit der Ermöglichung menschlicher Freiheit . .

619

6.14. Leiden als Achtung der leidvollen Handlungskonsequenzen für Selbsterkenntnis und Selbstkorrektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

622

6.15. Leiden als Erweckung und Lehre . . . . . . . . . . . .

623

6.16. Leiden als Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

625

6.17. Das Anfechtungs- und Versuchungsleid . . . . . . . .

626

6.18. Leiden als Warnung und Bewahrung vor größerem Übel; Anmerkung zu A. Schopenhauer . . . . . . . . . . . .

631

6.19. Leiden als Führung und Erziehung . . . . . . . . . . .

635

6.20. Das Schuld- und Sündenleid . . . . . . . . . . . . . .

637

6.21. Leiden als Reinigung und Vorbereitung für die Vervollkommnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

640

6.22. Das Leid von Reue, Buße und Sühne; der falsche und der rechte Sinn des Strafleids . . . . . . . . . . . . . . .

643

6.23. Das stellvertretende Leiden, das Drama der Soteriologie und die Koinonia der Leidenden . . . . . . . . . . . .

646

6.24. Das Opferleid – sein Wesen und Sinn . . . . . . . . .

655

6.25. Die Transformation existenziellen Zwangsleids in freiwilliges Opferleid . . . . . . . . . . . . . . . . .

662

6.26. Möglichkeit und Unmöglichkeit des Gottesopfers . . .

663

6.27. Leiden als Vorschein der Durchgeistigung und Heiligung der Schöpfung: »Verklärung des Leidens durch das Leiden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

666

6.28. Das reine Leiden als Ort der Gottvereinigung oder das Leiden als »Seinsbrand« in Gott . . . . . . . . . . . .

668

20 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Inhaltsverzeichnis

6.29. Das Leiden des Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . .

669

6.30. Das Leiden der Gottferne, der Gottlosigkeit, der Widergöttlichkeit und sein Sinn . . . . . . . . . . . .

672

6.31. Der Sinn von Gottes Schweigen und die Sprachen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

674

6.32. Die Einheit der Lebensurgründe in Gott und ihre Diskrepanz im Weltsein als Fundament des Leidens und des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

681

6.33. Das Problem der besten und der schlechtesten aller möglichen Welten und seine Auflösung . . . . . . . .

683

6.34. Problem und Wesen des Schicksals . . . . . . . . . .

686

6.35. Hiob und der neue Gott: Auflösung anthropomorpher Projektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

690

6.36. Theodizee fünfter Teil: die Stellung des Gottmenschen im Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

692

VII. Der metaphysische Sinn des Leidens . . . . . . . . .

697

7.1.

Die ontologische Abkünftigkeit allen Leidens und der vertikale Rückverweis des Leidens . . . . . . . . . . .

697

7.2.

Der vielfältige Sinnzusammenhang des Leidens und die horizontalen Querverweise des Leidens; das Kreuz als Synthese von Vertikalität und Horizontalität . . . . . .

699

7.3.

Die möglichen Zwecke des Leidens und die Instrumentalisierung des Leidens . . . . . . . . . . .

701

7.4.

Dynamik und Endsinn des Leidens oder die utopischen Vorverweise des Leidens . . . . . . . . . . . . . . . .

705

7.5.

Die dreifache Aufhebung des Leidens in Sein, Sinn und Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

706

7.6.

Unmöglichkeit einer letzten metaphysischen Tragik bzw. eines Pantragismus des Seins . . . . . . . . . . .

708

7.7.

Der Sinn von Ausweglosigkeit, Scheitern und Absurdität: der positiv-spirituelle Sinn einer Selbstvernichtung der Menschheit als äußerster Sinngrund des Leidens . . . . . . . . . . . . . . . . .

710

21 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Inhaltsverzeichnis

7.8.

Das Leiden als Spur größeren Lebens und als Statthalter der Vollendung: der individuelle Mensch als zu realisierende »Seite Gottes« . . . . . . . . . . . . . .

711

Das Leiden als Geburt, Lehre und Weg . . . . . . . .

715

7.10. Die unvermeidlich katastrophalen Folgen des Gottverlustes für die Menschheit: die »Verkehrtheit der Welt« und noch einmal das Problem der Erbsünde . . .

717

7.11. Ursprung und Sinn des Bösen: Hat »Auschwitz« einen Sinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

719

7.12. Hiob und Jesus oder der geschichtlich-metaphysische Sinn des Judentums: das alte Zion und das neue Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

727

7.13. Der Höchstsinn des Leidens: das freiwillige Opfer und die Unmöglichkeit eines Gottesopfers . . . . . . . . .

733

7.14. »Eritis sicut Deus«: das letzte Bild des Menschen und eine kurze Metaphysik der Geschichte . . . . . . . . .

736

7.15. Grad und Fassungskraft: die Ordnung der unerlösten und der erlösten Schöpfung . . . . . . . . . . . . . .

746

7.16. Zusammenfassende Kritik der Theodizeekritiker . . .

749

7.17. Ein letztes Wort: die äußere und innere Schönheit der leidenden Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

757

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

761

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

783

7.9.

22 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Besondere Bezeichnungen

Zur genaueren Bestimmung des Seinsranges eines Seienden wird die zeitliche Charakteristik benutzt. Ihr gemäß gibt es folgende Zeitbzw. Dauerdimensionen: 1.

2.

3.

4.

5. 6.

E = endlich. Dies umschließt alle jene Wirklichkeiten, die einen Anfang und ein definitives Ende haben und dazwischen endlich lange dauern, die also finit sind. Dahin gehören alle physischen Gebilde und alle Gegenstände und Zustände des Seelenlebens, d. h. einerseits die materiellen Körper und der Leib, anderer­ seits Phantasien, Gedanken, Vorstellungen, Impulse, Stimmun­ gen usw. pU = potentialunendlich = endlos. Dies umfasst alle jene Wirk­ lichkeiten, die zwar einen Anfang haben, doch nicht enden, auch nicht enden können. Hierzu zählen die »Geistseele« bzw. das geistige Ich und überhaupt alle personalen Wesen. aU = aktualunendlich. Hiermit wird jene Wirklichkeit bezeich­ net, die zeitlos, also ohne Anfang und ohne Ende, sprich ewig und damit immer als Totum zugleich besteht. Hierzu zählt allein die Urwirklichkeit der Gottheit (einschließlich ihres aU Ideenalls). atU = aktualisiertunendlich = vaU (Vergöttlichung). Dies bedeu­ tet, dass ein erschaffenes und damit anfängliches Geistgeschöpf (pU) oder ein Mensch zu Gott erhoben und mit ihm voll eins, und d. h. aktualunendlich, wird. Im christlichen Raum trifft dies nur auf den Gottmenschen Jesus Christus zu. Dieser Vorgang wird auch als Vergöttlichung bezeichnet (vaU). Da im Gottmenschen alle Dauerdimensionen zusammenkommen, ist er formal als E-pU-atU zu bestimmen. E-pU ist der irdische Mensch als innigste Einheit eines ver­ gänglichen Körpers, des Leibes, mit einer, und zwar nur einer unerschöpflichen Geistseele. E-pU-aU = daU (Durchgöttlichung) meint jenen Menschen, der von Gott erfüllt oder zu ihm erhoben, auch mit ihm vereinigt ist, aber nicht im Sinne der Vergöttlichung, sondern der Durch­ göttlichung, die nur den Kern der Geistseele verunendlicht, aber

23 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Besondere Bezeichnungen

7.

nicht den ganzen Menschen, was bedeutet, dass sich der Mensch »peripher« endlos (pU) weiterentwickelt. Eine Sonderstellung nimmt die metaphysische Materie als Trä­ gerin des kosmischen Wechselwirkens ein: Zwar ist sie (von Gott) geschaffen und substanzial, also selbständig bestehend, in diesem Sinne »real« und daher nicht nur Vorstellungsinhalt geistiger Wesen, dennoch passiv, endlich ausgedehnt und als Wirkfeld endlos (pU) teilbar. Durch diese besondere Wesens­ struktur macht sie es möglich, dass schöpferische Wirkkräfte ihre Wirkungen, wozu alle bekannten Naturgebilde und alle mensch­ lichen Werke zählen, endlos fein und differenziert in sie hinein­ schaffen, wo sie, gleichsam als objektivierte »Gedanken«, getra­ gen werden und intersubjektiv zugänglich sind. Wahrscheinlich hat die metaphysische Materie nur eine endlich-finite Dauer und wird von Gott aufgegeben, wenn alle seine tätigen Geschöpfe »in sein Reich« zurückgekehrt sind, wo Er dann selbst das Medium aller Kommunikation und alles Wechselwirkens seiner Geschöpfe abgeben wird.

Aktiv sind nur die pU-Wesen, d. h. Wesen im zweiten Seinsrang, und das aU-Wesen im ersten Seinsrang. Alle Dinge im dritten Seinsrang sind wesenhaft inaktiv, nichtsdestotrotz bewegt, sinndurchwirkt und geistgeprägt, was bedeutet, dass sie geschaffen und erhalten werden müssen. In der Mathematik gibt es Größen und Mengen in allen drei Dauer-Dimensionen, die durchwegs inaktiv sind und von aktiven Wesen gedacht, bewirkt und erhalten werden, so z. B. die pU-Mengen des menschlichen Bewusstseins, ausdrückbar als endloses Zählen, und die aU-Mengen im göttlichen Bewusstsein, etwa das reine Kon­ tinuum einer unendlichen Geraden oder alle Brüche zwischen 1 und 2. Sowohl im geschöpflichen Bewusstseinsleben als auch in der Natur sind reine Kontinuen unmöglich; deshalb sind Bewegungen stets diskret, unstetig, »saltatorisch«.

24 https://doi.org/10.5771/9783495994740 .

Einleitung

»L'homme dépasse l'homme infiniment« »Der Mensch geht unendlich über den Menschen hinaus.« (Blaise Pascal, Gedanken über die Religion, Zeno.org, 301)

Viele Phänomene des Lebens weisen über ihre Selbstgegebenheit im Erleben und ihre darin gesetzten Grenzen in Dimensionen hinaus, die sich der direkten Erfahrung entziehen: Wünsche, Sehnsüchte und Utopien übersteigen die Gegenwart auf die niemals direkt gegebene oder gar durchschaubare Zukunft hin; Trauer um einen Verlust, Erinnerungen und Reue weisen über die Gegenwart in die versun­ kene, ebenfalls nie direkt gegebene Vergangenheit zurück; Träume, Fehlleistungen und schöpferische Einfälle lassen etwas von der rätsel­ haften Tiefe des »Unterbewussten« erahnen; mathematische Größen und Gestalten, die unendlich klein und unendlich groß sind wie der Punkt, die echte Gerade, alle Brüche zwischen 0 und 1 und die unvor­ stellbaren Größen der komplexen Zahlen transzendieren die gesamte bekannte Erscheinungswelt in ein Reich der ewig unveränderlichen und doch alles Endliche und Zeitliche auf geheimnisvolle Weise ordnenden und haltgebenden Verhältnisquantitäten;6 tief ergreifende Werterlebnisse wie das Erleben von Anmut und Erhabenheit, Würde und Gerechtigkeit, von Wahrheit und Güte, Barmherzigkeit und Liebe gehen mit einem Unbedingtheitscharakter einher, der die durch und durch bedingte und gebrochene Erfahrungswelt der Menschen

6 Was die Möglichkeit unanschaulicher Erkenntnis betrifft, vergleiche etwa B. Bavink (1951, 91): »Dass sie – die nichteuklidische Geometrie – aber rein logisch angesehen denkbar ist, lässt sich strikt beweisen. Es geht daraus unzweifelhaft hervor, dass das menschliche Denken einen weiteren Kreis umfasst als die menschliche Anschauung.« Dieser »weitere Kreis«, den man im unanschaulichen Denken entfalten kann, ist erweisbar um Unendliches größer als die immer endlich begrenzte Anschauung des Menschen. Ein nicht-anschauliches Denken ist darum nicht, wie I. Kant meint, notwendig »leer« bzw. zwar leer an sinnlicher oder gestaltlicher Anschauung, aber nicht leer an echter Erkenntnis, an »Gedankeninhalt«.

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Einleitung

durchwirkt und zugleich überragt;7 und alles, was entsteht, vorher also nicht war, weist auf einen Quellgrund zurück, der sich zumeist der Erfahrung entzieht.8 Schließlich und endlich ist da ein Existenzial, das die Menschen ergreift, »beirrt«9 und erschüttert wie kaum ein anderes, eine leibliche, soziale und seelisch-geistige Seinsmacht, die irgendwie zugleich in die Vergangenheit, die Zukunft, in das Unbewusste und ins Zeitlose weist und den Menschen nötigt, die radikalsten, alle Begrenztheiten transzendierenden Fragen zu stellen: nach dem Zusammenhang von Sein und Nichts, nach der Möglichkeit von Entstehen, Werden und Vergehen, nach dem Sinn des Lebens, nach der postmortalen Existenz, nach Freiheit und Unfreiheit, nach der Existenz Gottes, nach der Herkunft des Seins, des Lebens, des Geistes, und vor allem die Frage nach der erlösenden, alles Unheil und Unrecht beendenden Zukunft – diese Seinsmacht ist das Leid.10 Unter den genannten Phänomenen kann man solche unterschei­ den, die auf eine Realität bezogen sind, die prinzipiell erreichbar ist, und solche, die sich auf »das Uneinholbare« beziehen.11 Den Anfang der Welt, das Ende der Zeit, unendlich große und kleine mathematische Größen, auch die reine Liebe, das Unbewusste und die Gottheit in ihrem Ansichsein, überhaupt die weitaus größere Fülle In der Marquise von O. (1808) hat H. v. Kleist eine Figur geschaffen, deren Reinheit und Wahrhaftigkeit so groß, so »unglaublich« ist, dass sie von aller Welt, und d. h. auch von ihrer Familie, als Betrügerin verworfen und verbannt wird. 8 Etwas, das entsteht, zuvor also nicht war, weist notwendig auf einen »Wirkgrund« zurück, der das beginnende Dasein jenes entstehenden Etwas ermöglicht. Denn da etwas, das entsteht, weder sich selbst bewirken kann, weil es sonst hätte schon existieren müssen, was direkt selbstwidersprüchlich ist, noch durch nichts ins Sein gelangen konnte, weil dann das »nichts« des Seins wäre, muss ihm ein aktiv wirkendes Prinzip vorgeordnet werden, das den Übergang von nichts zu etwas leistet. Dieser Wirkgrund kann nun aber nicht innerhalb der möglichen Erfahrung liegen, da – im Falle der Annahme des der Wirkung zeitlich vorangehenden Verursachers – ad infinitum in die Vergangenheit zurückgefragt werden müsste. Dies bedeutete jedoch in der Konsequenz, dass überhaupt nie etwas verursacht wurde und also niemals etwas entstand, was der unleugbaren Tatsache des Entstehens und Werdens direkt widerspricht. Die Wirkursache kann daher, wie zu zeigen sein wird, ihrer Wirkung nicht in derselben Dimension zeitlich vorangehen, sondern muss ontologisch »über« ihr stehen. Was schon hier zur Sprache kommt, ist das über alle Empirie hinauswei­ sende »metaphysische Kausalprinzip«. 9 Siehe H. Schmitz (2011, 9ff.). 10 Mit den Worten P. Strassers (2000) handelt es sich bei all den genannten Transzendierungen und Transzendenzen um »ontologische Überschüsse«, die, als »Wege nach draußen«, aus der »Immanenzverdichtung« herausführen. 11 Zum »Uneinholbaren« siehe W. Schweidler (2008). 7

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des Seienden – solches und vieles mehr liegt jenseits der »Physis«, also der erfahrbaren Welt und heißt darum »metaphysisch«, womit der Umstand bezeichnet wird, dass der Mensch solch ein »Transphy­ sicum« aus eigener Kraft nicht in sein unmittelbares Erleben und Anschauen heben kann. Aber wie, so fragt sich sogleich, kann er dann davon wissen und sinnvoll reden? Oder ist hier alles nur diffuse Ahnung oder gar nur willkürliche Konstruktion? Wenn man die Frage umkehrt, stellt sich die Perspektive anders dar und führt einen Schritt weiter. Zu fragen ist, wie die eingangs genannten Phänomene, die als solche in der Gegenwart erlebt werden, über sich hinaus in die Dimensionen des Nicht-Mehr, Noch-Nicht, Nicht-Hier, Überhaupt-Nicht-im-Endlichen, ins Ganz-Andere, also in eine Art »Nichts«, genauer, in das Nicht-voll-bei-uns hinüberwei­ sen können? Am Ende dadurch, dass dieses »Nichts« nicht einfach nichts, sondern ein anderes und verborgenes Sein ist, das die Men­ schen mit Dimensionen verbindet, die sie vergessen haben, die sich entziehen, zu denen der Schlüssel bisher nicht gefunden wurde oder die sich nie eröffnet haben, aber dennoch »Spuren« im Hier und Jetzt hinterlassen, die als »Vorschein« eines Nicht-Imaginierbaren fungieren? Sind die Menschen mit diesen transzendenten, in das Hiesige zwar irgendwie hereinscheinenden, in ihrem eigenen Sein aber entzogenen Regionen des Seins verknüpft, weil sie ohne diese nicht bestehen würden, ihre Gegenwart ohne sie nicht das sein würde, was sie ist, und sie also bewusst oder unbewusst von diesen »über­ sinnlichen Regionen« – dem Unbewussten, der Tiefe des Leiblichen, dem Göttlichen, dem Idealen usw. – her leben, von ihnen getragen und genährt, aber auch oft irritiert und erschüttert? Eine Philosophie des Leidens, die nicht nur, wie in meiner philosophischen Dissertation, die erlebbare Grund-, Wesens- und Folgestruktur des Phänomens Leiden erhellen will, sondern in die Hintergründe und Abgründe des Leidens hineinfragt, will zeigen, dass das Leben von direkt nicht greifbaren, durchaus in seine Immanenz hineinwirkenden Seinsmächten und Seinsstrukturen umgeben und durchwirkt ist.12 Weitaus mehr Kräfte und Ordnungen, als dem Menschen bewusst und direkt anschaulich sind, tragen und halten ihn, so dass er durch sie einerseits ermöglicht, andererseits beschränkt und gebunden wird. Da diese Kräfte und Strukturen die zum Teil erweisbar notwendigen, nicht nur plausiblen oder hypothetischen Seinsvoraus­ 12

Siehe B. Wandruszka (2023), Philosophie des Leidens, Bd. I.

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setzungen des Erlebens, Anschauens und Handelns sind, können sie retrograd erschlossen werden, und zwar, wie das der Anspruch einer Philosophie ist, die nicht auf Glauben und spekulativem Konstruieren beruhen will, mittels vernünftiger Argumente in logisch nachvoll­ ziehbaren, methodisch ausgewiesenen und kritisch reflektierten Dis­ kursen. Dabei geht sie stets vom erfahrbaren, empirischen Phänomen im weitesten Sinne aus und sucht zunächst dessen inneres seinslogi­ sches Strukturgefüge phänomenologisch aufzuhellen, um von da aus weiter über den empirisch-erfahrbaren Horizont hinauszufragen.13 Wie das wissenschaftlich korrekt möglich ist, wird im ersten Abschnitt dargestellt. Er ist erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch unumgänglich, um sachgerechte und methodisch durchsichtige Phi­ losophie zu betreiben. Philosophie, die nicht mehr Wissenschaft sein will oder kann, deren Aussagen also nicht, wie der Wiener Kreis um M. Schlick, O. Neurath und R. Carnap forderte, überprüf­ bar und als richtig oder falsch erkannt werden können, wird zur halbkünstlerischen Essayistik oder zur phantastischen Spekulation.14 Das bedeutet umgekehrt jedoch keinesfalls, dass Philosophie, wie an dieser Stelle der Wiener Kreis zu Unrecht meinte, im Sinne der Naturwissenschaften bzw. des logischen Empirismus vorgehen müsste.15 Zu ihrem eigenen Schaden versuchte die neuzeitliche Philo­ 13 »Phänomenologie« bedeutet »Logos des Phänomens«, und Logos meint wiederum Sinn, Struktur, Gefüge, Zusammenhang, Wesensbeziehung oder »innere Natur«. Der hier vorgelegte Ansatz ist zwar eine »Spekulation«, insofern er die Erfahrung zu transzendieren sucht, aber er geht stets von einer bestimmten Erfahrung aus und schließt von da aus auf die notwendigen Bedingungen dieser Erfahrung zurück, konstruiert also nicht »rein aprioristisch« ohne alle Erfahrung, weswegen dieser Rückschluss mehr als die bloße Abstraktion eines begrifflich fassbaren Wesensgefüges von einem Phänomen ist. Zwar baut dieser Rückschluss auf der Phänomenanalytik auf, überschreitet diese dann aber zu den transzendental-subjektseitigen und den ontologisch-sachseitigen »Bedingungen der Möglichkeit« dieses Phänomens hin. 14 Allerdings verneinten in Anlehnung an I. Kant der radikal antimetaphysisch eingestellte Wiener Kreis, aber auch B. Russell, G. E. Moore und L. Wittgenstein, weiter E. Husserl und M. Heidegger die Möglichkeit einer echt wissenschaftlichen Metaphysik. Dagegen halten J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 5–8) eine wissenschaftliche, d. h. in Grenzen Gewissheit und theoretische Sicherheit gebende, Philosophie für möglich. Vgl. auch W. Krampf (1973). 15 Vgl. die Kritik von J. Habermas (1984, 15–36) am so genannten »Szientismus«, den er, wie folgt, definiert: »Unter Wissenschaftstheorie verstehe ich eine im szi­ entistischen Selbstverständnis der Wissenschaften betriebene Methodologie. Dabei nenne ich Szientismus den Glauben der Wissenschaft an sich selbst, nämlich die Überzeugung, dass wir Wissenschaft nicht länger als eine Form möglicher Erkennt­

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sophie immer wieder, entweder der Mathematik nachzueifern und aus allgemeinen Axiomen und Begriffen konkrete Zusammenhänge zu deduzieren,16 oder sie versuchte, es den empirischen Wissenschaften gleichzutun und zu induzieren, also aus konkret-empirischen Daten allgemeinere Gesetze herauszudestillieren. Beides geht nachweislich am Wesen der philosophischen Erkenntnis vorbei, die, recht betrach­ tet, ihren eigenen Denkweg bis heute nicht gefunden bzw. immer wieder verloren, auf jeden Fall nicht als klaren und sicheren Besitz mit sich trägt.17 Platon, Aristoteles, Thomas v. Aquin, I. Kant und viele andere wandten die spezifisch philosophische Denkmethode zwar an, jedoch nicht selten nur intuitiv oder nicht konsequent und explizit genug. Auch bei R. Descartes trifft man sie an, doch vermischt mit der mathematischen Deduktion, worin ihm C. Wolff, B. de Spinoza, teilweise I. Kant, J. G. Fichte und, ins Dialektische gewendet, G. W. F. Hegel und viele andere folgten. »Die deduktive Mathematik ist der verborgene Stammvater des phi­ losophischen Systems«, sagt der Physiker und Philosoph C. F. v. Weizsäcker m. E. zutreffend über die idealistischen Systeme.18

Das musste in die philosophische Krise führen, in der entweder an der philosophischen Erkenntnismöglichkeit überhaupt gezweifelt oder das philosophische Denken mit unkritisch-willkürlicher Gedanken­ dichtung gleichgesetzt wurde. Im 19. Jahrhundert gelang es einigen

nis auffassen dürfen, sondern Erkenntnis mit Wissenschaft identifizieren müssen«, gemäß den Grundintentionen des Wiener Kreises, wie er hinzufügt, der einen logischen Empirismus vertrat, in dem empirische Beobachtungen durch logische Ver­ arbeitungsoperationen angeeignet und, wenn auch niemals letztbegründend, validiert werden (auch logischer Positivismus). Vgl. zum schwierigen Problem von Begründung und Letztbegründung von Theorien J. Mittelstraß (1984a, 117–140; 1984b). 16 Wenn auch der Versuch, die Philosophie mathematisch durch Kombinatorik und Deduktion aufzubauen mit R. Descartes, B. Pascal, G. W. Leibniz, B. de Spinoza und C. Wolff in der Neuzeit anhebt und seinen ersten Höhepunkt erfährt, so darf nicht verkannt werden, dass schon im Spätmittelalter gewisse Ansätze dazu vorliegen, so etwa bei dem Katalanen Ramon Lull (1232–1316) in seiner »Ars generalis ultima« und bei Nicolaus Cusanus (»Nihil certi habemus in nostra scientia, nisi nostram mathema­ ticam«). Mit G. Frege, B. Russell und A. N. Whitehead wird dann um 1900 nochmals der Versuch gemacht, die Logik zu mathematisieren, durch Zeichenkombinatorik zu universalisieren und zu perfektionieren. Vgl. kritisch dazu B. v. Brandenstein (1970 und 1976). 17 Vgl. dazu auch M. Wundt (1931). 18 Siehe C. F. v. Weizsäcker (1985, 29).

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Denkern, die sich wie B. Bolzano, F. Brentano, E. Husserl,19 A. v. Pauler und B. v. Brandenstein von den spekulativen Deduktionen und Dialektiken abwandten, die originär philosophische Methode, die reduktiv-regressive Analyse, als die rückschreitend-rückfragende Aufdeckung der notwendigen Voraussetzungen eines Phänomens wiederzuentdecken und nach und nach in ihrer Eigenart herauszu­ arbeiten.20 Im Werk des deutsch-ungarischen Philosophen B. v. Brandenstein (1901–1989) hat sie wohl ihren differenziertesten und umfassendsten Niederschlag gefunden, in einer »Grundlegung der Philosophie« (1965–1970), wie sie in dieser Weise von G. W. Leibniz erstrebt, aber nur fragmentarisch erreicht wurde. Leid als Übel und Leiden am Leid-Übel als Aktvollzug von Subjekten erwiesen sich bei meinen langjährigen Bemühungen sehr bald als ausgezeichnete Phänomene, weil sie, verbunden mit allen Seinsregionen, in selbige hinüberweisen. Das Leiden ist ein Schlüssel von enormer Reichweite und darum von entsprechend epistemologischer Tragweite.21 Allerdings musste zuvor geklärt werden, was Leiden und Leid überhaupt sind, welche innere Struktur, vor allem Grund- und Wesensstruktur sie besitzen und wie sie mit dem Sein überhaupt und dem seelisch-geistigen Leben insbesondere, aber auch mit der Leib19 Vgl. auch E. Husserl (2009, 5). Er spricht hier von einer phänomenologischen Reduktion und meint damit den beschreibend-analysierenden Rückgang vom Phäno­ men auf seine Konstitutionsbedingungen, die E. Husserl »gut kantisch« in bestimm­ ten Formen der Bewusstseinstätigkeit gründen lässt. Immerhin geht auch hier der philosophische Weg »gut aristotelisch« vom Bedingten zurück zum Bedingenden und wird nicht konstruiert. Allerdings umfasst der Rückgang (Reduktion) auf die subjektiven Akte nicht alle Möglichkeiten der Reduktion, sondern muss durch eine »objektivistische Wende« ergänzt werden, die E. Husserl im Sinne der »eidetischen Reduktion« vom gegebenen Gegenstand auf sein Wesen (eidos), d. h. sein inneres Strukturgefüge, vollzieht. Denn auch im Gegenstand, in der Sache bzw. im Phänomen selbst gibt es »oberflächliche«, sprich bedingte Strukturen, und tiefer gelegene, oft verborgene, bedingende und in der Sache selbst gelegene Grundstrukturen. Die sachimmanente »Reduktion« sucht die Grundstrukturen bzw. das Wesensgefüge im Phänomen auf, während die transzendentale Reduktion über das Phänomen hinaus zu den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit dieses Phänomens im Ich (und in seinen Akten) zurückschreitet, daher keine bloße Reduktion, sondern eine Regression darstellt. Vgl. zu Husserls Methodenlehre E. Pivcevic (1972, 11–25). Diese transzendentale Regression muss schließlich durch eine ontologische Regression ergänzt werden. Dazu gleich mehr. 20 Denn schon Aristoteles (1995, Bd. 6, 1, Absatz 1) beschreibt sie auf der ersten Seite seiner »Physik«. 21 Vgl. übereinstimmend E. Angehrn (2003, 25ff.).

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lichkeit, dem Unbewussten und der intersubjektiven Kommunikation zusammenhängen.22 Das hatte ich in meiner philosophischen Dissertation (2009, 2. Aufl., 2023), die eine grundlegende Phänomenologie des pathischen Lebens darstellt, zu klären versucht. Zudem gilt es hier wie nirgends, selbstkritisch zu sein, jedes Denkergebnis auf seine innere Stimmigkeit (Konsistenz oder posi­ tive Evidenz), seine Denkbarkeit (Widerspruchsfreiheit oder nega­ tive Evidenz), seine logische Kohärenz mit anderen, weitgehend gesicherten Aussagen, seine empirische Korrespondenz mit anderen, weitgehend gesicherten Tatsachen und auf seine notwendigen Vor­ aussetzungen (Wohlbegründetheit) hin zu überprüfen. Geschieht diese kritische Selbstreflexion nicht, bleibt solche Philosophie unkri­ tisch-naiv, etwas, das sich jede Wissenschaft leisten kann und, was ihre Grundlagen betrifft, leisten muss, die Philosophie sich dagegen, will sie ihr Selbstverständnis als Prinzipienwissenschaft (mit zeitkriti­ schem und utopischem Potential)23 nicht verletzen, nicht leisten darf. Aus diesem Grund vollführt das philosophische Denken stets rekur­ siv-kreisende Bewegungen, die ihm den Schwung nehmen mögen, dafür aber mit in die Tiefe dringender Gründlichkeit belohnen.24 Was die Philosophie m. E. von allen anderen Wissenschaften unterschei­ det, ist ihr Ergründungs- und Begründungsimpetus: Da sie auf das Ganze des Seins, die Totalität, zielt, diese aber konkret nicht erreichen kann, nimmt sie den Umweg über die letzten und höchsten Seinsbestimmungen, die Gründe, die »archai«, die »principia«, in der berechtigten Annahme, dass sie mit diesen Gründen,25 die sich in allem 22 Grundstruktur und Wesensstruktur eines Phänomens sind nicht identisch, wie wohl E. Husserl und M. Heidegger zu meinen scheinen. Die Wesensstruktur ist mehr als die Grundstruktur, setzt diese aber voraus. Die Wesensstruktur ist reicher, aber oft nicht grundhaft, die Grundstruktur ist ärmer, dafür aber grundhaft und bedingt und trägt daher alles Seiende und jede Wesenheit, besonders wenn unter »Wesen« die allgemeine Gattungsform wie bei Aristoteles und E. Husserl oder »das Idealtypische« wie bei J. W. v. Goethe und M. Weber verstanden wird. In den nächsten Kapiteln soll das konkret gezeigt werden. 23 Vgl. zur zeitkritischen und utopischen Potenz der Philosophie H. Fahrenbach (1975, 10–12), Zur Problemlage der Philosophie. Eine systematische Orientierung. 24 Vgl. ebenso R. L. Fetz (1988, 42ff.) und J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 6). 25 Siehe N. Hartmann (1964, 6): »Tatsächlich kann keine Philosophie ohne irgend­ welche Grundanschauungen über das Seiende bestehen«, wobei N. Hartmann betont, dass unter dem »Seienden« entgegen der heutigen Meinung nicht nur das physischempirische Seiende verstanden werden darf, sondern alles, wovon gesagt werden kann, dass es »ist«, also auch imaginiert Seiendes (Vorstellungen, Phantasien), ideal

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Seienden zeigen (sollen sie das Begründete wirklich begründen, also bestimmen und tragen), das »Ein und Alles« erreichen und dadurch alles Seiende – wenn schon nicht im Detail, so doch prinzipiell – erfas­ sen kann.26

Zu diesen Gründen, d. h. zu den tiefsten, letzten bzw. höchsten Seinsbestimmungen, will sie jedoch nicht auf zufälligem Wege, sondern auf deskriptiv und rational-analytisch nachvollziehbarem, methodisch gesichertem und systematisch zusammenhängendem Wege gelangen, vorher gibt sie sich nicht zufrieden.27 Wo sie diesen Impetus aufgibt oder für sinnlos erklärt, da verliert sie gegenüber den Spezialwissenschaften ihre »differentia spezifica«, da wird sie letztlich überflüssig. Ich möchte mit dieser Arbeit, die zu den Gründen und Ab­ gründen des Leidens und des geschöpflichen Lebens überhaupt auf methodisch klar und deutlich ausgewiesenem Wege hinführt, zeigen, dass die heute weit verbreitete Selbstentmächtigung der Philosophie kein zwangsläufig-unumkehrbarer Vorgang ist, dass Philosophie, von einer phänomenologischen Basis ausgehend, sehr wohl zugleich kri­ tisch und auf methodisch tragfähige Weise transempirisch-metaphy­ sisch sein kann und in ständiger Selbstreflexion zu den Fundamenten von Sein, Welt, Leben und Erkennen vorzudringen vermag.28 In Seiendes (reine Figuren, Zahlen, Begriffe etc.) und reflexiv Seiendes (Stimmungen, Selbstzustände, Akte etc.). 26 Vgl. B. v. Brandenstein (1955, 9–18), Was ist Philosophie? Es wird sich zeigen, dass dieses »größte Ganze« nicht die bekannte Welt mit allen ihren physikalischen, biologischen, psychischen, kulturellen usw. Bereichen ist, zumal die Welt als werdende offen und unfertig, also wesenhaft »unganz«, a-total ist. So ist auch nicht, wie M. Gabriel (2013) richtig betont, zu erwarten, dass sie durch eine physikalische »Formel« erschöpfend beschrieben werden kann. Ihre Vielaspektivität und Vieldimensionalität hindert aber entgegen M. Gabriel keineswegs, die Welt als »eine« zu fassen, zumal wenn es gelingt, ihre vorletzten und letzten Seinsgründe, aus denen sie sich gestal­ tet, aufzudecken. 27 Und eben dieser Weg muss sich als Methode des Denkens, insofern er zu den Gründen vordringt, von anderen Wissenschaften charakteristisch unterscheiden, weil die Spezialwissenschaften weder den Anspruch noch das Vermögen haben, in und hinter den Phänomenen die (letzten) Seins- und Erkenntnisgründe zu erfragen und zu erhellen. 28 Vgl. die klarsichtig-kritische Darstellung der philosophischen Lage der Gegenwart durch H. Schnädelbach (2013, 7–16), V. Hösle (1997, 13–108) und B. v. Brandenstein (1957, 4–14; 1965a, 7–19; 1983, 13f.). Siehe auch J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 5): »Was die letzten Lebensfragen des Menschen betrifft, ist unsere Gegenwart weithin aus der Gewissheit in die Ungewissheit gefallen. Namentlich breitet sich immer

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diesem Rahmen wird die Frage nach dem Sein, dem Sinn und der Bewältigungsmöglichkeit des Leidens gestellt: zuerst nach dem Sein bzw. der Seinsgrundstruktur in der phänomenologischen Ontologie des Leidens (quid malum), nach Herkunft und Sinn in der Metaphysik des Leidens (unde malum) und schließlich nach dem Wert und der Bewältigungs- bzw. Überwindungsmöglichkeit des Leidens in der Ethik des Leidens (laborare cum malo). Dabei ist die Überzeugung leitend, dass die Frage nach der praktischen Bewältigungsmöglichkeit des Leids nicht befriedigend beantwortet werden kann, wenn die Fragen nach dem Sein und dem Sinn geistig nicht umfassend und durchdringend geklärt worden sind.29 Diese ersten Hinweise erlauben am Ende dieser Einleitung eine Bemerkung zu einem der Grundprobleme aller Philosophie, das von vielen das »Problem der Probleme« genannt wird, dem Problem der Stellung, des Sinns und des Wertes des Übels in der Welt.30 Und in der Tat scheint es keine Religion und keine tiefere Philosophie zu geben, die sich nicht mit dieser Herausforderung konfrontiert sehen, gleich mehr ein Misstrauen gegen die Philosophie aus, von der man nicht Sicherheit, sondern nur noch Problematik erwartet, die alle Inhalte des Wissens den übrigen Wissenschaften überlassen und sich auf die Klärung der formalen Strukturen des Wissens im Sinne von Wissenschaftstheorie beschränken soll.« Diese Umstellung der Philosophie begann wohl spätestens mit I. Kants Kritik der reinen Vernunft (1781). 29 Sinn meint hier in umfassender Weise Sinnzusammenhang und schließt auch den Sinnmangel, den Unsinn und den Widersinn ein. So betrachtet, lässt sich die Sinnfrage nicht auf die Zweckfrage reduzieren. Der Zweck ist ein spezieller Sinnzusammenhang, so dass die Möglichkeit besteht, dass etwas Sinn hat, aber keinen Zweck. Das Leiden steht immer in einem Sinnzusammenhang, ob es aber immer einen Zweck hat, wird zu prüfen sein. 30 Der Begriff »Übel« (malum) umfasst in Anlehnung an G. W. Leibniz alles wertund seinsmäßig Negative, alles Wertwidrige, also das Schlechte, Misslungene und Leidvolle (malum physicum, malum psychicum, malum soziopoliticum etc.) ebenso wie das Gemeine und Böse (malum morale). So gebrauche ich ihn in der folgenden Analyse (s. u. III.5; IV.10) und ergänze die Grundarten der Übel um eine vierte. Wenn auch selten, so gibt es allerdings Denker wie H. Lübbe (1986, 204), die das Theodizeeproblem für ein rein akademisches, also überflüssiges Problem halten, das weder theoretisch noch religiös von Bedeutung sei, sondern nur den praktischen Sinn habe, das Bewusstsein der Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz durch »Kontingenzbewältigung« zu besänftigen. Abgesehen davon, dass diese These, wie auch N. Hoerster (2017, 20–25) aufweist, fragwürdig ist und gut widerlegt werden kann, käme sie auf die alte marxistische These »Religion = Opium fürs Volk« hinaus, dergegenüber die existenzialistische These eines A. Camus, dass die Absurdität der gottlosen Welt tapfer auszuhalten sei, aufrichtiger und einem selbsttäuschenden Glauben vorzuziehen wäre.

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ob sie theistisch oder atheistisch, monotheistisch, polytheistisch oder pantheistisch verfasst sind. Im Rahmen monotheistischer Religionen und Philosophien modifiziert sich dieses Problem bekanntlich zu der besonderen Frage nach der Vereinbarkeit des Glaubens an ein absolut gütiges und zugleich allmächtiges Wesen mit der unleugba­ ren Existenz von Leid und Übel, Bosheit und Schlechtigkeit in der Welt, das G. W. Leibniz (1646–1716) »Theodizee« (1710), wörtlich »Gottesgerechtigkeit« oder »Gottesrechtfertigung« genannt hat. In einer Weise, die zu Missverständnissen Anlass gibt, wird dieser Kunstbegriff mit der Umschreibung übersetzt: »Rechtfertigung Gottes angesichts des von ihm trotz seiner Allmacht und Güte zugelassenen physischen Übels, moralisch Bösen und des Leidens in der Welt«,31

wo in Wahrheit nicht Gott zu rechtfertigen ist, sondern der Glaube an bzw. das menschliche Wissen um ihn.32 Denn es fragt sich, ob dieser Glaube zu rechtfertigen ist und ob er sich überhaupt im Angesicht der Maßlosigkeit ungerechten und anscheinend sinnlosen Leidens halten lässt oder ob man ihn aufrichtigerweise aufgeben muss? Wer an Gott glaubt oder sogar von ihm zu wissen meint, kann sich daher an dieser Frage nicht vorbeidrücken, das verlangt, wie der Theologe A. Kreiner33zu Recht sagt, die intellektuelle Redlichkeit.34 Siehe Brockhaus Enzyklopädie (1993, Bd. 22, Stichwort: »Theodizee«). Vgl. übereinstimmend J. Hessen (1955a, 219ff.) und (1962, 324ff.). Er weist diesen Gedanken wie viele andere Denker, z. B. J. H. Fichte und N. Söderblom, als widersinnig zurück. Nach ihm ist es vermessen, Gott verteidigen zu wollen, und also darf der Mensch Gott nicht zu rechtfertigen versuchen. In Wahrheit, so J. Hessen (1955a, 221), könne sich Gott nur selbst rechtfertigen, und das tue er »in seinem Wirken als Heilswirken«, also soteriologisch und eschatologisch. Erkenntnistheoretisch kann der Philosoph Gott insofern nicht direkt vor den »Gerichtshof der Vernunft« ziehen und ihn verurteilen oder verteidigen wollen, als er niemals für den Menschen zum Objekt werden kann. 33 Vgl. A. Kreiner (2005, 394ff.). 34 Noch weiter geht G. Streminger (1992, 73) und m. E. zu Recht, wenn er sagt: »[...] aber solange das Theodizeeproblem ungelöst ist, kann es zu Gott keine echte Vertrauensbeziehung geben.« Denn wie sollte man, fragt G. Streminger, zu einem möglicherweise indifferenten oder gar grausam-sadistischen Gott Vertrauen entwickeln können? Da G. Streminger von der Tatsache des Übels und des Leids (voreiligerweise) auf einen solchen Gott zurückschließt, hält er den Glauben an ihn (sittlich) für unvertretbar. Dieser Schluss wäre in der Tat unvermeidbar, wenn Gott die einzige und direkte Wirkursache der Welt wäre, da er dann auch direkt Übles und Böses schaffen würde, weshalb eine jede konsistente Theologie, ob philosophisch oder nichtphilosophisch, 31

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Darüber hinaus gilt, dass die Theodizeefrage nur überhaupt unter zwei Bedingungen sinnvoll gestellt werden kann: erstens unter der Bedingung, dass es Gott überhaupt gibt bzw. dass seine Existenz erkennbar ist (oder doch wenigstens vernünftig plausibel gemacht werden kann), und zweitens unter der Bedingung, dass die kosmische Wirklichkeit eine in den Grundlagen vernünftig erfassbare Ordnung aufweist.35 Wo beides oder eines von beiden prinzipiell im Dunkeln liegt, ist eine Klärung der Theodizeefrage unmöglich und ein jeder Antwortversuch ohne Sinn.36 Selbst als Hypothese würde er, da nie genötigt ist, sich diesem Problem zu stellen und Alternativen zu entwickeln, in denen Gott nicht alles und direkt bewirkt, um es so aufzulösen. Andernfalls bliebe von allem Glauben nur das »credo quia absurdum« oder, fast konsequenter, ein »Monosata­ nismus« (Ed. Hartmann) zurück. Es wird sich zeigen, dass weder Naturalismus noch Pantheismus bzw. Panentheismus in der Lage sind, das Problem des Übels einer Lösung zuzuführen. Zum Problem der direkten und alleinigen Totalverursachung der Welt durch Gott (ohne geistige Sekundärursachen) vgl. B. v. Brandenstein (1979c, 86-87). 35 Siehe P. Koslowski (1992, 263–307), besonders (263): »[...] Theodizee [...] als eine wirkliche Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt [ist] nur mög­ lich, wenn Theodizee […] umfassende Theorie der Gesamtwirklichkeit, spekulative Onto-Theologie ist, nicht aber als Rechtsstreit gegen Gott aufgefasst wird [...] (sie) kann nicht als statische Rechtfertigung der gegebenen Wirklichkeit […] durchgeführt werden [...] Die Welt kann nur als Werk eines guten Urhebers gerechtfertigt werden, wenn sie als eine gedacht wird, die gefallen ist und erlöst werden wird.« 36 In der Tat gibt es Autoren, die sich mit dem Theodizeeproblem ohne den Versuch, die Existenz Gottes und die Grundstruktur der Wirklichkeit zu klären, beschäftigen, so z. B. F. M. Voltaire, H. Jonas (1994), A. Kreiner (2005), C.-F. Geyer (1992), G. Streminger (1992), O. Marquard (1982), W. Schmidt-Biggemann (1988) und N. Hoerster (2017). Zumeist begnügen sie sich damit, die Theodizeeproblematik auf bloß philosophiehistorischem, rein begriffslogischem und ethischem Wege zu lösen. Die Grundargumentation ist dabei meistens folgende: Da ein allmächtiges und absolut gütiges Wesen alles kann und nur das Beste will, kann es unmöglich das Mangelhafte, Fehlerhafte, Schädliche und Destruktive wollen oder zulassen, und also kann es, wenn es Übel und Leid gibt, was niemand bestreitet, unmöglich solch ein Wesen geben. Andere Autoren wie Platon, Plotin, Augustinus, G. W. Leibniz und G. W. F. Hegel versuchen dagegen eine Lösung des Problems auf dem Hintergrund einer umfassenden Wirklichkeitsanalyse. Sie kommen interessanterweise zu einem gegenteiligen Ergebnis, was vor allem daran liegt, dass sie Gott zwar Allmächtigkeit, aber nicht Allwirksamkeit beilegen. Das bedeutet, dass Gott nicht alles direkt und allein bewirkt, sondern Machtwirken geschöpflichen Wesen überträgt. Dagegen hält I. Kant (1791) in seiner Schrift Das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee eine Lösung der Theodizeeproblematik, sei es positiv, sei es negativ, aus erkenntnistheoretischen Gründen für unmöglich, obwohl er – inkonsequenterweise – die Argumente der Theodizeebefürworter dann doch mit logischen Mitteln, also etwa mit dem Satz des Widerspruches, zu entkräften versucht.

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verifizierbar, nichts taugen. Daraus folgt, dass die Fragen nach dem Seinssinn des Leids und nach der Vereinbarkeit bzw. Unvereinbar­ keit von Gott und Leid, wenn sie mit philosophischem Anspruch auftreten, die argumentativ-rationale Aufhellung der fundamentalen Wirklichkeitsstruktur und ihres Zusammenhangs mit dem letzten Daseinsgrund verlangen. Diese Überlegungen implizieren ein neues Verständnis sowohl der kosmischen und biologisch-stammesgeschichtlichen Evolution als auch der tiefenbewussten Schichten des Menschen, ohne das das Leid- und das Theodizeeproblem rätselhaft bleiben.37 Erst mit Ch. Darwins Deszendenztheorie, ja überhaupt mit dem den gesamten Kosmos erfassenden Entwicklungsgedanken und mit der Klärung der Natur des »Unbewussten« lässt sich, so eine These dieser Arbeit, das Leid- und Theodizeeproblem erfolgreich in Angriff nehmen, denn noch bei G. W. Leibniz und I. Kant fehlten diese beiden Wis­ sensbestände, ohne die eine überzeugende bzw. zureichende Pathound Theodizee unmöglich ist. Andererseits gilt es, sowohl über den Freudianismus als auch über den Darwinismus hinauszugehen und nicht, wie heute die gesamte Wissenschaft einschließlich großer Teile der Theologie, in der positivistischen Natur- und überhaupt Seinsbetrachtung, die meint, alles auf Zufallsmutation und Gesetzes­ notwendigkeit zurückführen zu können, stecken zu bleiben.38 Es geht darum, eine Synthese zwischen wissenschaftlicher Metaphysik und empirischer Wissenschaft zu leisten, dann erst kommt man in Sachen Sinn des Leidens (und vielleicht auch Theodizee) über ein bloßes hypothetisches Spekulieren hinaus.39 37 An diesem Punkt gerät die Geschichtsphilosophie J. Bernharts (1945, 8f.) an eine problematische Grenze, da sie Sinn und Unsinn der Geschichte unabhängig von einer jeden Naturphilosophie ermitteln will. So spricht er von »Natur ohne Eigen-Sinn«, was, wenn es wahr wäre (was er nicht erweist), bedeutete, dass die menschliche Kultur, die aus der Natur herauswächst, sich vielfach auf sie stützt, aus ihr schöpft und sie weiterführt, weder Ort noch Sinn im Naturganzen besäße. Im Gegensatz dazu versucht die hier vorgelegte Arbeit einen tieferen Sinnzusammenhang zwischen Natur und Kultur herauszuarbeiten, der zeigt, dass das Leiden unabhängig von der Naturgeschichte und ihrem metaphysischen Sinn unmöglich aufzuklären ist. Vgl. B. v. Brandenstein (1975, 63–65), Vom Sinn der Natur. 38 Vgl. B. v. Brandenstein (1975, 59–62), Fragen an die Entwicklungstheorie. 39 Nichtpositivistische Alternativen zu den darwinistischen Erklärungsgründen »Zu­ fall und Selektion« sind B. v. Brandenstein (1930, 1947, 1965–1970), H. Jonas, R. Koltermann (1997), P. Overhage (1964), J. Illies (1983) und R. Junker/S. Scherer (2013), ontologisch und erkenntnistheoretisch begründet nur bei B. v. Brandenstein.

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Einleitung

In eine Frage gekleidet, lautet das Programm dieser Arbeit: Wie lässt sich von dem bloßen Phänomen »Leiden« auf wissenschaft­ lichem Wege zu seiner vollen Wirklichkeit, sprich zu jenen wirk­ lichen Voraussetzungen gelangen, ohne die das Leiden nicht möglich wäre? Wissenschaftlich meint dabei philosophisch-wissenschaftlich und umfasst intuitive, deskriptive, analytische und diskursiv-begrün­ dende (erweisende) Verfahren, mit deren Hilfe, wo möglich, die vorletzten und letzten Seins- und Erkenntnisgründe des Leidens ermittelt werden, die verstehen lassen, was das Leiden ist, wie es möglich ist und welches Sinn- und Unsinnspotential in ihm liegt.

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

1.1. Gegenstand, Herkunft und Problem der Metaphysik als Wissenschaft In Philosophie und Wissenschaft hat das Wort »Metaphysik« keinen guten Klang, vielmehr wurde es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, mit der relativ kurzen Ausnahme des deutschen Idealismus, zum Un­ wort, das für begriffliche Spiegelfechterei, intellektuelle Phantasterei und leere Begriffskonstruktion steht.40 Das war nicht immer so. Vor Immanuel Kants (1724–1804) »Zertrümmerung«41 der klassischen Metaphysik galt sie als die Königswissenschaft des menschlichen Denkens,42 da sie sich die Erhellung des edelsten, freilich auch schwie­ I. Kant (Werke, Bd. III, 2011, 124) definiert die Metaphysik fälschlicherweise gerade als jenes Denken, das allein aus reinen Begriffen, also Begriffen, die ohne empirischen Bezug sind, reine Begriffe zu deduzieren sucht. Im Folgenden soll dies hinterfragt werden. 41 Vgl. M. Mendelssohn (1785) in Vorbericht zu seinen Morgenstunden oder Vorlesun­ gen über das Dasein Gottes, Erster Teil, wo er I. Kant den »Alleszermalmer« nennt. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 58) betont, dass er nur die theoretische bzw. »spekulative« Metaphysik als Scheinwissenschaft entlarvt, dagegen eine praktisch-ethische Meta­ physik nicht nur für möglich, sondern für notwendig erachtet. Scheinwissenschaft ist die theoretische Metaphysik nach ihm deswegen, weil sie sich auf »lauter synthetische Sätze apriori« stützt, die nach ihm letztlich Erdichtungen sind. Noch in diesem Abschnitt soll dargelegt werden, dass die Metaphysik keineswegs auf synthetischen Urteilen aufgebaut werden muss, sondern – ausgehend von unleugbaren empirischen Tatbeständen – mittels analytischer Urteilssätze auf dem Weg der reduktiven Erläute­ rungsurteile und der regressiven Erweiterungsurteile erbaut werden kann. 42 Als der »Urvater« der Metaphysik als Wissenschaft vom Sein des Seienden und als »prima philosophia« gilt Aristoteles (siehe Metaphysik, I, 1ff.). Von dieser »metaphy­ sica generalis« (ab dem 17. Jahrhundert auch »Ontologie« genannt), deren Gegenstand nach Aristoteles »das Seiende als solches« (on he on) bzw. die innere Grundstruktur des Seins ist, wird traditionell die »metaphysica spezialis« unterschieden, die das Seiende im Ganzen – regionalontologisch in Kosmologie, Noologie/Psychologie und Theologie unterteilt – untersucht. Vgl. die tiefdringende Geschichte der Metaphysik von M. Wundt (1931), die allerdings das typische, von mir bald dargelegte Erkenntnis­ verfahren der Metaphysik nicht zu bestimmen weiß. 40

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

rigsten Gegenstandes der Philosophie zur Aufgabe gemacht hatte, zum einen die Erhellung des letzten Fundaments alles Seienden bzw. das Sein des Seienden (Metaphysica generalis oder Ontologie) und zum anderen die Strukturanalyse der Gesamtwirklichkeit mit ihren Hauptregionen der Kosmologie, Noologie und Theologie (Metaphy­ sica spezialis).43 Fragen wie die nach dem Sein überhaupt und seiner Grundstruktur, dann nach dem Beginn, Aufbau und Ende des Kosmos, nach dem innersten Wesen von Zeit, Raum, Kausalität und Werden, nach der Natur des Geistes, nach Freiheit und Unsterblichkeit, nach dem göttlichen Urgrund und schließlich nach dem Sinn des ganzen Seins und Lebens wurden gestellt und zu beantworten gesucht.44 Charakteristisch für diese Antwortversuche war der Anspruch, Erkenntnisse auf rationale Weise, d. h. argumentativ begründet, methodisch gesichert und systematisch geordnet, zu gewinnen. Den­ ker wie Platon, Aristoteles, Thomas v. Aquin, R. Descartes, G. W. 43 Vgl. ähnlich J. Halfwassen (2015, 11ff.); J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 123ff.); vgl. ebenso A. Dempf (1986, 13ff.); vgl. dazu auch Hist. Wörterbuch der Philosophie (1980, Bd. 5, 1186–1279), Artikel »Metaphysik«; vgl. dazu ähnlich Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (2004, Bd. 2, 870–873); vgl. dagegen W. Detel (2007, 13): Nach ihm behandelt die Metaphysik die Frage, welche Gegenstände (»Dinge«, »Etwasse«, Seiende) es überhaupt gibt bzw. geben kann. In dieser Fassung ist sie allerdings nicht klar von Ontologie, Gegenstandslogik und Mathematik abge­ grenzt, die es alle mit »Seiendem« i. w. S. zu tun haben – die Ontologie mit der Seinsgrundstruktur alles Seienden, die Gegenstandslogik mit dem Seinsaspekt des Zusammenhangs bzw. der inneren, sachhaften Logizität in allem Seienden und die Mathematik mit dem Seinsaspekt des Quantitativ-Gestaltlichen allen Seienden; vgl. wieder anders W. Schweidler (2008, 2): Er versteht unter Metaphysik dasjenige, »was innerhalb des Gegebenen unfassbar bleibt und sich an allem Seienden nur als die ihm Sinn gebende Grenze indirekt zu zeigen vermag [...]« Hier bleibt offen, wie sich das Unfassbar-Uneinholbare doch zeigt und methodisch nachvollziehbar – und nicht nur glaubend oder meinend – aufgewiesen werden kann. Wenn der »Sinn« nicht nur Wunsch und Projektion sein soll, fragt sich, wie sein objektiver, seinsmäßiger Status bestimmt ist und ermittelt werden kann. Die hier vorgelegte Arbeit wird zu zeigen versuchen, dass jegliche Metaphysik zwar von unmittelbaren Erfahrungen ausgeht, aber darüber hinausstrebt und dabei indirekt vorgeht. Das, was sie dabei erschließt, ist empirisch bzw. bloß phänomenologisch-intuitiv nicht einholbar, nichtsdestotrotz aber methodisch streng erweisbar. Vgl. zum Wesen der Metaphysik, der metaphysischen Methode und zur Transzendierbarkeit des Bewusstseins B. v. Brandenstein (1965a, Kap. 16, 17, 18, 19). 44 Konkret: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Wie ist das Sein in seinem Kern, an seinem »Grunde« bestimmt? Was bedeuten solche Grundbestimmungen des Seins wie Dass-Sein (Existenz, Dasein), Was-Sein (Essenz, So-Sein, Wesen) und Eins-Sein (Einheit), und in welchem Zusammenhang stehen sie?

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1.1. Gegenstand, Herkunft und Problem der Metaphysik als Wissenschaft

Leibniz, B. de Spinoza und C. Wolff versuchten, in diesem Sinne herauszuarbeiten, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Auch I. Kant45 schloss sich diesem Anliegen über Jahrzehnte seines Lebens an, bis er, geweckt durch die englischen Empiristen J. Locke und D. Hume, aus »seinem dogmatischen Schlummer«46 erwachte, diese Denkhaltung, in die er nach eigenem Bekunden zeit seines Lebens »verliebt« war, aufgab und in seiner »Kritik der reinen Vernunft« von 1781 als eitles, wissenschaftlich unmögliches Unterfangen entlarvte.47 Trotzdem war er sich bewusst, dass im Menschen grundsätzlich ein unaustilgbarer Hang zum Übersinnlichen lebt, der immer wieder nach den letzten Seinsgründen und Seinsquellen fragt und fragen muss. Wenn dies so ist, erhebt sich sogleich das Bedenken, wie ein Wesen mit solch einem Zwiespalt möglich ist und nach den letzten Erkennt­ nisgründen zu fragen vermag, ohne dafür die geistige Ausrüstung zu besitzen. Kann man etwas wissen wollen, was man wesenhaft nicht wissen kann? Dies ist kein geringes geistontologisches Problem und selbst eine Grundquelle von Leid und Zerrissenheit, das, wie zu zeigen sein wird, auch I. Kant nicht löste. Bevor auf diese Frage näher eingegangen wird, gilt es zu klären, was die Metaphysik als philosophische Wissenschaft bedeutet bzw. als was sie gemeint war und wie sie entstand. Das Wort selbst steht mit Andronikos von Rhodos aus dem ersten Jahrhundert vor Christus in Zusammenhang, der die Schriften des Aristoteles bibliothekarisch ordnete und diejenigen, die Aristoteles selbst als »erste Philosophie« (prima philosophia) bezeichnete, nach (meta) dessen »Physik«, also nach seiner Kosmologie, aufführte.48 »Meta« meint hier nichts ande­ res als ein örtliches »nach« und hat keine weitere sachliche Bedeutung. Dies änderte sich, als das Wörtchen »meta« den Sinn von »hinter« oder »über« erhielt. Während sich die »Physik« auf die erfahrbare Welt bezog, behandelte die Metaphysik die nicht direkt erfahrbaren, verborgenen und nur indirekt ermittelbaren Gründe (griechisch: archai), Fundamente, Urquellen und Urweisen allen Seins oder noch einfacher: das Sein als solches bzw. die Seinsgrundstruktur alles Sei­ 45 Die sachliche Auseinandersetzung mit I. Kants Metaphysikkritik, die entscheiden muss, ob Metaphysik als Wissenschaft möglich ist, folgt im Kapitel 1.12. 46 Siehe I. Kant (Werke, Bd. III, 2011, 118). 47 Siehe den Brief von I. Kant an M. Mendelssohn vom 8.4.1766, in: K. Vorländer (1924), Immanuel Kant, der Mann und sein Werk, II.3. Die sechziger Jahre. 48 Vgl. M. Wundt (1931, 2).

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

enden, die als Grundstruktur sachlich zwar das Erste, nach Aristoteles epistemologisch aber das Letzte, sprich Letzterkannte ist.49 Betrachtet man diese beiden Werke des Aristoteles, die »Phy­ sik« und die »Metaphysik«, genauer, trifft diese Klassifikation auf ihn selbst nicht zu. So werden in der aristotelischen Physik meta­ physische, aus der Erfahrung allein nicht beantwortbare Probleme behandelt, so z. B. die Fragen nach dem Anfang der Welt, nach den innersten Strukturmomenten von Zeit und Raum, nach dem Wesen der Bewegung, nach den Letztursachen des Lebens und nach dem Ursein der Gottheit, während in seiner »Metaphysik« nicht nur Analysen zur Seinsgrundstruktur und zu den Letztgründen der Wirklichkeit, sondern auch phänomenologische Deskriptionen und Analysen vorgefunden werden, die sich auf die direkt anschauliche Struktur des empirischen Seins beziehen. Bei der Metaphysikkritik von D. Hume und I. Kant sinkt der Begriff dann zu einem willkürlichen Spekulieren herab, wie das beson­ ders eindrucksvoll an den sehr bissigen und im Ganzen tendenziösen Invektiven deutlich wird, die I. Kant in den »Träumen eines Geister­ sehers«50 gegen den Theosophen E. Swedenborg schleudert.51 Hier meint »metaphysisch« nur noch »übersinnlich« und »spekulativ« im schlechtesten Sinne des Wortes. »Metaphysisch«, wie I. Kant es tut, als »übersinnlich« zu bezeich­ nen bzw. »übersinnlich« mit »jenseits der Erfahrung« gleichzuset­ zen,52 ist verfänglich und unangemessen, da es durchaus nicht-sinn­ liche, nicht durch die Leibessinne vermittelte Erfahrungen gibt, so nämlich alle inneren und reflexiven Erfahrungen der eigenen Phan­ tasiewelt, der eigenen seelisch-geistigen Akte und Zustände oder Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 6, Kap. 1). Siehe I. Kant (Werke, Bd. I, 2011, 918–989). Dort nennt ihn I. Kant einen »Erzphantast unter allen Phantasten« (Werke, Bd. I, 2011, 966). Nach I. Kants Biograf L. E. v. Borowski liegt, wie E. Benz (1979, 155ff.) anführt, in dieser Auseinandersetzung der erste Keim für Kants Kritik der reinen Vernunft mit ihrem Anliegen, die Grenzen der Vernunft zu bestimmen. In einem Brief an Charlotte von Knobloch (zit. bei E. Benz 1979, 158ff.) zeichnet I. Kant dagegen ein positives Bild von E. Swedenborg. E. Benz arbeitet Hintergrund und Sinn dieser Diskrepanz überzeugend heraus. 51 Vgl. dagegen die hervorragenden Arbeiten zu E. Swedenborg und I. Kant von E. Benz (2004). 52 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, Einleitung). I. Kant versteht unter »Metaphysik« jene »Wissenschaft«, die Gegenstände behandelt, die prinzipiell der Erfahrung, also auch der möglichen Erfahrung entzogen sind, was gewiss richtig ist, aber nicht ausschließt, dass sie erschlossen werden können. 49

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1.2. Die drei Hauptquellen der Erkenntnis

der idealen Gegenstände der Mathematik und Logik, die alle direkt erfahrbar sind, ohne sinnlich zu sein, wie es umgekehrt empirische Dinge gibt (z. B. die Ultraschallwelt der Fledermäuse, den Anfang der Welt), die für die menschlichen Sinne unzugänglich sind.53 Die ungenaue Differenzierung der sinnlichen und unsinnlichen Erfahrung in I. Kants Werk (und nicht nur bei ihm) hat sich denn auch verhängnisvoll ausgewirkt, wie gezeigt werden soll. An diesem Punkte sei darum auf die drei grundsätzlichen, nicht aufeinander rückführbaren Erfah­ rungsquellen hingewiesen, ohne deren genaue Unterscheidung exakte Philosophie nicht möglich ist.

1.2. Die drei Hauptquellen der Erkenntnis als Ausgsangsbasis einer jeden Metaphysik Als erste Quelle der Erfahrung ist die Sinneswahrnehmung zu nen­ nen; als zweite die Anschauung innerer, rein geistiger Gegenstände, z. B. von Vorstellungen, Gedanken, Begriffen, mathematischen Grö­ ßen, Phantasien, Ahnungen, Werten etc.; und als dritte Quelle der Erfahrung die reflexive Wahrnehmung der eigenen ungegenständ­ lichen bzw. »inständlichen«54 Selbstvollzüge (Akte) und die aus den Akten sich bildenden Zustände, also das im Selbsterleben erfahrbare, eher statische Selbstsein des Erlebenden.55 Hierher gehören zum einen die Akte der Entscheidung, des Vorsatzes, der Freude, des Das sieht auch I. Kant in der Kritik der reinen Vernunft, B 34, der im Falle der Mathematik deshalb von »reinen Anschauungen« spricht. 54 Der Begriff »inständlich« geht auf K. Graf Dürckheim (2001, 36) zurück, der damit alles Seiende meint, was sich vollzieht bzw. selbst vollzieht, also aktiv, selbständig und an ein Erleben gebunden ist. 55 Viele Denker versuchen, die drei Erkenntnisquellen aufeinander bzw. auf eine einzige Erkenntnisquelle zurückzuführen. So will z. B. E. B. de Condillac (1754) in seiner Abhandlung über die Empfindungen, worin er seine sensualistische Erkennt­ nistheorie entwickelt, die beiden Erfahrungs- und Erkenntnisquellen der intrapsy­ chisch-gegenständlichen und der ungegenständlich-reflexiven Introspektion, die er beide kennt, auf die Sinneswahrnehmung zurückführen. Er bedient sich dabei der genetischen Methode, die zeigen will, dass aus der Sinneswahrnehmung die anderen Erfahrungsquellen mit Notwendigkeit abgeleitet werden können bzw. notwendig da­ raus entstehen. Hierbei unterläuft ihm der logisch-erkenntnistheoretische Fehler, aus einer zeitlich-genetischen Folge, die von ihm richtig gesehen wird, da das Kleinkind erst sinnliche Erfahrungen macht und später zur Introspektion und Reflexion gelangt, ein notwendiges Deduktionsverhältnis zu machen, also eine bloß sukzessive, insofern kontingente als eine deduktiv-logisch-notwendige Folge auszugeben. Obwohl dies 53

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

Mitleids, der Hoffnung, des Unterscheidens und Schließens, zum anderen die aktiven Zustände der Entschlossenheit, der Einsicht, der Güte, der Gelassenheit und der Traurigkeit usw. Es ist unglücklich, all dies, wie I. Kant es tut, unter den Sammelbegriff der »Erscheinungs­ welt« zu fassen, mit der Folge, dass er das Ich nur logisch bzw. erkenntnistheoretisch, also abstrakt und nicht in seinen immer kon­ kreten, realen Akten und Zuständen zu fassen bekam. Hierdurch wird mehr verschleiert als geklärt, und es ist darum kein Zufall, dass I. Kant keine Philosophie der Akte, der Selbstvollzüge und der aktiven Zustände entwickelte, dies vielmehr erst im 19. und 20. Jahrhundert von Denkern wie F. Brentano, E. Husserl, M. Scheler und N. Hart­ mann in den Blick genommen wurde.

nicht angeht, geht auch das Umgekehrte nicht an, etwa als der idealistische Versuch, aus dem reinen Denken die Sinneswahrnehmung abzuleiten. Gewiss gehen Sinnes­ wahrnehmung und Denken eine engste Verbindung ein, und die Sinneswahrnehmung ist selbst eine sinnlich-konkrete Form des Denkens, und zwar ein unreflektiert-intui­ tives, implizites, am Konkreten orientiertes Denken. Aber dass sich aus diesem sinnlichen Denken das abstrakt-mathematische Denken, das introspektive Schauen und das reflexive Denken erheben und sich von den Sinnen lösen, das ist keineswegs ein notwendiger Prozess, zumal er bei vielen Menschen und erst recht bei den Tieren unterbleibt, sondern das ist ein »Sprung«, der nur möglich ist, weil im Menschen das abstraktere Denken in Logik, Mathematik, Philosophie, Ethik etc. angelegt ist und nur »schläft«, aber durch die Interaktionen mit anderen Subjekten geweckt wird, erwacht und sich durch Lernprozesse »im sinnlichen Feld« entfaltet. Richtig gesehen, ist es eine Leistung der Kultur bzw. ihrer Höhe, Tiefe und Ausdifferenzierung, dass ihre Individuen zu höchsten logischen, mathematischen, ethischen etc. Denkleistungen gelangen, eine Leistung, die an den geistigen Keimen des Menschen ansetzt, sie aber nicht macht und erfindet. Während also der Sensualismus, etwa eines E. B. de Condillac, nur die Sinneswahrnehmung als Erkenntnisquelle anerkennt, sieht der Empirismus, etwa eines J. Locke, zwei Erkenntnisquellen, die Sinneswahrnehmung und die innere Wahrnehmung (Introspektion). Leider aber differenziert er nicht genauer zwischen der gegenständlichen Introspektion und der ungegenständlichen Reflexion, was – so auch bei I. Kant – zur Folge hat, dass sie gleichgesetzt werden bzw. die Reflexion als »vorempirisch« bzw. apriorisch gedeutet wird. Aber auch die Reflexion bezieht sich auf Erfahrbares, z. B. auf die eigenen Akte und Zustände, und kann von da aus, unabhängig von weiterer Empirie, auf transzendentale Vorausset­ zungen reduktiv, nicht deduktiv, wie I. Kant meint, zurückschließen, die evtl. jenseits der Erfahrung liegen.

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1.3. Das Wesen der Metaphysik

1.3. Das Wesen der Metaphysik und ihre Abgrenzung von Phänomenologie, Ontologie und Theologie Um sinnvoll Metaphysik zu betreiben, ist man, wie diese Überlegun­ gen zeigen, genötigt, ihren Begriff klarer zu bestimmen. Zunächst gilt es, die Metaphysik von allen Wissenschaften zu unterscheiden, die sich ausschließlich auf das Erfahrbare, d. h. auf das sinnlich, ideal und reflexiv Erfahrbare, beziehen. Hierzu zählen alle Natur- und Geisteswissenschaften, ebenso die philosophische Phänomenologie und Axiologie oder Wertlehre. Im Unterschied zu den ersten beiden, die keine Grundwissenschaften sind, erstrebt die philosophische Phä­ nomenologie, jene Bestimmungen, Wesenszüge und Eigenschaften eines Sachverhaltes aufzudecken, die zwar direkt erfahrbar und da­ rum geistig anschaulich sind, aber kategorialen, sprich grundlegen­ den Charakter besitzen und auf andere Bestimmungen nicht zurück­ geführt werden können. So verstanden E. Husserl, M. Scheler und M. Heidegger ihre Phänomenologien.56 Wenn sich diese philosophische Arbeit weiter vertieft und über die grundlegenden Seinsstrukturbe­ stimmungen eines bestimmten Sachverhaltes, etwa bei M. Scheler die Wesensstruktur der Reue, der Liebe, des Leidens hinausgeht und die Frage nach der Seinsgrundstruktur des Seienden überhaupt stellt, wie dies Aristoteles, M. Heidegger, N. Hartmann, L. Lavelle, G. Jacobi und B. v. Brandenstein versuchen, dann konstituiert sich eine Lehre vom Sein, eine phänomenologische Ontologie als Logos vom On überhaupt. So allgemein und grundlegend diese Seinslehre sein mag, so bewegt sie sich stets insofern im phänomenologischen Bereich, als sie die Seinsgrundstruktur (das Sein schlechthin) im erfahrbaren, konkreten Seienden, sei es der eigenen Existenzvollzüge, sei es des Inder-Welt-Seins, sei es im Dingsein, herauszuheben, zu beschreiben und in ihrem inneren Zusammenhang zu verstehen sucht.57 Stößt sie bei dieser Analyse auf die letzten, nicht mehr weiter differenzierbaren So spricht E. Husserl (2009) in Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie etwa von Fundierungszusammenhängen oder M. Heidegger (1979, 41) in Sein und Zeit von Fundamentalstrukturen. 57 Im Sinne I. Kants stellt sie »analytische Erläuterungsurteile« auf, arbeitet also solche Strukturen eines Gegenstandes heraus, die zwar in ihm, aber erst nur implizit oder, wie I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 52) sagt, »verworren« in ihm liegen. Das Verfahren, das zu solchen Urteilen führt, heißt die »reduktive Analyse«, da sie das Bedingte in einem Gegenstand auf seine gegenstandsimmanenten Grundbedingun­ gen zurückführt. 56

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

Seinsstrukturmomente, hat man es mit einer phänomenologischen Fundamentalontologie zu tun, die mit Metaphysik, wie sie I. Kant kritisierte, nichts zu tun hat und im Übrigen von Aristoteles in seiner »Metaphysik« (und in anderen seiner Schriften) als Katego­ rienlehre des Seins, d. h. als Lehre von den Urweisen des Seins, zu geben versucht wurde.58 Wie N. Hartmann zu Recht betont, müssen »Seinsfragen nicht notwendig metaphysisch« sein.59 Entgegen der heutigen Gepflogenheit, die Ontologie und Metaphysik gleichsetzt, muss daher zwischen phänomenologischer Ontologie und transphä­ nomenaler Metaphysik unterschieden werden.60 Was ist also unter Metaphysik sinnvollerweise zu verstehen? M. E. bleibt nur eine Möglichkeit: Sie soll jene Wissenschaft bezeich­ nen, die zwar von Erfahrungsgrundlagen ausgeht, darüber hinaus aber deren empirisch nicht direkt zugänglichen, sondern indirekt zu erschlie­ ßenden Wirklichkeitsgründe ermittelt.61 Ob und wie das möglich ist, M. Heidegger (1927) unternimmt in Sein und Zeit eine Wende auf den Menschen hin, insofern er den »Sinn des Seins« (seine Ur- und Grundstruktur) nicht an irgendeinem Seienden, sondern an jenem ausgezeichneten Seienden, das über ein Seinsverständnis verfügt, aufzudecken sucht, das heißt: am »Dasein« des Menschen. Nach seinem eigenen Bekunden ist ihm dieses Vorhaben in Sein und Zeit nicht abschließend gelungen. Im Übrigen ist es gleichgültig, auf welch konkretes Seiende sich der Erkennende bezieht, da die Seinsgrundstruktur, wenn es sie überhaupt gibt, an jedem noch so unscheinbaren Seienden muss aufgewiesen werden können. Sonst ist sie keine Seinsgrundstruktur. Vgl. zu den Ur- und Grundweisen des Seins B. v. Brandenstein (1983, 104–115). 59 Siehe N. Hartmann (1933, 338). 60 Vgl. M. Heidegger (1966, 31f.), der das problematische Verhältnis zwischen Metaphysik und Ontologie sieht und daher empfiehlt, »auf den Gebrauch der Titel »Ontologie« und »ontologisch« zu verzichten.« Dies scheint mir über das Ziel hinaus­ zuschießen. Versteht man unter Ontologie in sprachlich wie sachlich angemessener Weise die Lehre vom Sein und seinen Grundweisen bzw. von den »Transzendenta­ lien«, also die Lehre von der Grundstruktur des Seins überhaupt (und nicht nur dieses oder jenes Seienden), lässt sie sich präzise von der Metaphysik abgrenzen. 61 Am besten geht sie von unleugbaren empirischen Tatbeständen, z. B. von je eigenem Erleben oder von der Veränderlichkeit aller erfahrbaren Wirklichkeit aus. Vgl. dagegen I. Kant (Werke, Bd. II 2011, 124), der festsetzt, dass Metaphysik ihrem angeblichen Anspruch nach in keiner Weise von Erfahrung ausgehe, sondern rein aus Begriffen Begriffe ableite: »Zuerst, was die Quellen einer metaphysischen Erkenntnis betrifft, so liegt es schon in ihrem Begriffe, dass sie nicht empirisch sein können«; ähnlich I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 118): Der spekulative Verstand sei insofern unbrauchbar, als »dieser aber, wo im Allgemeinen, aus bloßen Begriffen geurteilt werden soll, z. B. in der Metaphysik [...]« Diese Behauptung ist jedoch historisch wie sachlich falsch: Zwar überschreiten metaphysische Diskurse als Urteilsketten die Erfahrung, aber stets so, dass sie von einer geeigneten, nämlich ohne Selbstwider­ 58

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1.3. Das Wesen der Metaphysik

gilt es zu zeigen, doch nur in dieser Fassung lässt sich m. E. Metaphy­ sik klar und deutlich von den positiven Spezialwissenschaften, von der philosophischen Phänomenologie und von der nicht notwendig transempirischen Ontologie unterscheiden. Doch nicht nur das. An diesem Punkt wird zudem deutlich, wie sie sich von anderen Grundwissenschaften, vor allem von der Mathematik und Logik abhebt. Während diese beiden nur bestimmte, für sich allein nicht bestandsfähige, »vorwirkliche« oder besser wirklichkeitskomponierende Aspekte des Wirklichen behandeln, die Mathematik die quantitativ-gestaltlichen, die Gegenstandslogik die relational-zusammenhangsartigen Aspekte des Seienden, behandelt die Metaphysik vollwirkliche Sachverhalte und Zusammenhänge, und zwar die seinsmäßig ersten, grundlegenden und ursprünglichsten Wirklichkeiten, klassischerweise die Wirklichkeiten Gottes, des Geis­ tes, der Materie, des Werdens, der Kausalität, des Aufbaus des Kos­ mos, seinen Anfang und sein Ziel u. a. m. Mit dieser Spezifizierung lässt sich die Metaphysik bündig als philosophisch-fundamentale und damit notwendig universale Wirklichkeitswissenschaft, und weiter als jene Wissenschaft bezeichnen, die die fundamentalen Wirklichkeiten und Wirklichkeitszusammenhänge und nicht nur gewisse Aspekte derselben aufzudecken sucht. Da diese fundamentalen Wirklichkeiten und Wirklichkeitszusammenhänge der Erfahrung nur teilweise direkt zugänglich sind und im Entscheidenden sich erweisbar der Erfahrung entziehen, wiewohl sie aus der Erfahrung mittels Rückschluss über die Erfahrung hinaus erschlossen werden können, transzendiert die Metaphysik den Horizont der Erfahrung und stößt ins Transempiri­ sche und Transpositive vor. Dieses Transempirische ist aber keineswegs notwendig unsinn­ licher Natur, denn die Vergangenheit bzw. der fragliche Anfang der Welt z. B. sind als solche zwar transempirisch, aber keineswegs unsinnlich oder übersinnlich, so wie es umgekehrt Nichtsinnliches, z. B. abstrakte Gedanken, und Übersinnliches, z. B. das Ich, gibt, das cisempirisch, d. h. diesseits der Erfahrung, liegt. Damit ist klar, dass die Metaphysik nichts mit Okkultismus und übersinnlicher Geister­ seherei zu tun hat, da diese eingestandenerweise nur auf Erfahrung spruch nicht leugbaren Tatsache ausgehen. Trotzdem können sie notwendige Geltung bei sich haben (vgl. diesen Abschnitt über I. Kant). Im Übrigen beginnen weder Platon, Aristoteles, Augustinus und Thomas v. Aquin noch G. W. Leibniz und R. Descartes – im Unterschied zu B. de Spinoza in seiner Ethik und G. W. F. Hegel in seiner Wissenschaft der Logik! – mit erfahrungslosen Begriffen.

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beruhen, allerdings auf einer, die angeblich weder in sinnlicher Wahr­ nehmung noch in bloßer Phantasiebildung wurzelt. Wie fragwürdig dies ist, beweist der Umstand, dass Denker wie E. Swedenborg und R. Steiner selten stichhaltige Kriterien für die Unterscheidung von spiritistischer Phantasterei und wirklichem Einblick in »übersinnliche Welten« angeben und sich nur auf ihre Intuition berufen, die bekannt­ lich sehr (selbst-)täuschbar ist. Die echte Metaphysik ist da einerseits bescheidener, andererseits weitaus anspruchsvoller: Sie sagt nämlich, dass sie jene transempiri­ schen Wirklichkeiten, die sie ermittelt, niemals direkt anschauen, sondern nur erschließen kann, doch das, was sie erschließt, mit angebbaren notwendigen Vernunftgründen und allgemein nachvoll­ ziehbaren Diskursen und nicht nur intuitiven Behauptungen zu er­ reichen bestrebt ist. Unabhängig von der Frage, ob und wie solche Metaphysik methodisch möglich ist, unterscheidet sie sich folglich charakteristisch von Phänomenologie, Ontologie, Mathematik und Logik und berührt Grundfragen, Grundanliegen und Grundsehn­ süchte des Menschen, die, unbefangen betrachtet, den Kernbestand der Philosophie ausmachen. Wo sie diesen Kernbestand aufgibt, da verliert die Philosophie nach Aussage nicht weniger Philosophen – z. B. nach G. W. F. Hegel62 – ihre Daseinsberechtigung und reduziert sich entweder auf bloße Methodenlehre und Erkenntniskritik oder auf eine bloße Deskription dessen, was erfahrbar ist, womit sie sich in einem vordergründigen Positivismus verfängt. Da jene Grund­ fragen, Grundanliegen und Grundsehnsüchte im Menschen nicht auszulöschen sind, wandern sie konsequenterweise in esoterische oder ideologische Bereiche ab, wo sie oft sehr viel Schaden anrichten und, weil wesenhaft dogmatisch, bald autoritär und doktrinär werden. Von Theologie und Religion, insofern sie sich auf Glauben und Offenbarung berufen, unterscheidet sich die philosophische Metaphysik dadurch, dass sie ihrem Anspruch nach nicht auf Glau­ ben und Offenbarung, sondern auf Erfahrungswissen und daraus erfolgenden notwendigen Vernunftrückschlüssen auf transempirische 62 Siehe G. W. F. Hegel (Werke 5, 1986, 13):: »So merkwürdig es ist, [...], so merkwürdig ist es wenigstens, wenn ein Volk seine Metaphysik verliert, wenn der mit seinem reinen Wesen sich beschäftigende Geist kein wirkliches Dasein mehr in demselben hat.« Trotz des gegensinnigen »Mainstreams« halten manche Philosophen der Gegenwart wie J. Halfwassen (2015, 11ff.), J. B. Lotz und B. v. Brandenstein (1966) Metaphysik für unverzichtbar und als echte Wissenschaft mit ihrer eigenen Methodik für möglich.

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1.3. Das Wesen der Metaphysik

Wirklichkeiten, wozu auch die Wirklichkeit Gottes zählt, gründet. Die Theologie der reinen Metaphysik beruft sich darum nicht auf Offen­ barung, Glaube und deren rational-systematische Durchdringung, sondern auf Erfahrung und Logik. Da die mittelalterliche Metaphysik einschließlich ihrer Theologie in der Regel den Glauben voraussetzt, ist sie nicht reine philosophische, sondern religiöse Metaphysik und religiöse Theologie, während z. B. die aristotelische und die cartesia­ nische Theologie keinen Glauben voraussetzt und darum nicht-reli­ giöser, sondern rein philosophischer und damit rein metaphysischer Art ist.63 In der Mystik schließlich wird das Göttliche zwar direkt erfahren und muss daher nicht logisch erschlossen werden, doch wird es meist nicht klar und differenziert in seiner inneren Wesensstruktur erkannt. Deshalb benötigen Mystik und Religion der philosophischmetaphysischen Kritik, da alle Erfahrung, auch die des Göttlichen, der Selbsttäuschung ausgesetzt ist, und vieles, was sich Mystik, Intuition und Inspiration nennt, erweisbar mehr eine Projektion menschlicher Wünsche und Ängste darstellt als eine echte visio mystica oder Inspi­ ration. Dem Inhalt nach gliedert sich die Metaphysik der Tradition gemäß in drei Bereiche, in die Lehre von den letzten Seinsgründen und Seinsverhältnissen des seelisch-geistigen Lebens, auch »Geistonto­ logie«, Noologie oder philosophische Psychologie genannt, in die Lehre vom Grundaufbau des Kosmos, die Kosmologie, und in die Lehre vom Ursein, die philosophische Theologie. Beginnen muss sie, um sich sicher zu gründen, in der unmittelbaren Erfahrung des Er­ lebenden, um von da aus zu den Seinsgründen von Selbstsein, Leben und Welt und weiter zum Urgrund aller Wirklichkeit zurückzufragen und, wo möglich, mittels notwendiger, argumentativ vermittelter Rückschlüsse vorzudringen.

Wieder einen anderen Weg geht die phänomenologische Religionsphilosophie und Theologie etwa von M. Scheler, D. v. Hildebrand und J. Hessen, deren Ausgangspunkt zwar auch die Erfahrung, aber nicht die Erfahrung von Welt und Mensch, sondern die (angeblich) unmittelbare, »intuitive« Erfahrung des Heiligen bzw. Göttlichen in einem spezifisch religiösen Akt ist. Diese Erfahrung wird dann in einem zweiten Schritt auch logisch-diskursiv durchdrungen und systematisch dargestellt. Hier ist also die Basis im Grunde ein mystisches Erlebnis. 63

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1.4. Die ontologische Grundstruktur des Seins und die besondere ontologische Stellung des Leidens64 Um die Metaphysik als Wissenschaft besser fassen zu können, ist eine detailliertere Abgrenzung von der anderen philosophischen Grundwissenschaft, der Ontologie, hilfreich. Letztere hat, wie bereits erwähnt, den Anspruch, das Sein im Seienden oder genauer, falls überhaupt vorhanden, die Seinsgrundstruktur in allem konkret Sei­ enden – sei dieses physisch-real oder ideal, gegenständlich oder ungegenständlich, qualitativ, formal oder quantitativ – aufzufinden, so etwa bei M. Heidegger, N. Hartmann, B. v. Brandenstein u. a. Um dies zu leisten, genügt insofern ein einziges gegebenes bzw. zugängliches Seiendes, als die Seinsgrundstruktur in jedem möglichen Seienden, mag es noch so unscheinbar sein, impliziert ist, andernfalls wäre sie nicht grundhaft und grundsätzlich. Somit erhellt, dass die Seinsgrundstruktur keineswegs nur transempirisch oder außerhalb des empirisch Seienden bestehen kann, wie das bei den meisten und wichtigsten metaphysischen Gegenständen der Fall ist, sondern auch in den empirischen Gegenständen als deren notwendige Grundstruk­ tur muss aufgezeigt werden können. Die Ontologie als die Grundwis­ senschaft von der Beschaffenheit bzw. dem inneren Strukturbau des Seins überhaupt hat daher drei Bedingungen zu erfüllen: – – –

Die Seinsgrundstruktur muss erstens dadurch zugänglich sein, dass es überhaupt Seiendes, konkret Wirkliches, Phänomenales, das erfahrbar ist, gibt; sie muss zweitens in diesem Seienden die Grundhaftigkeit ihrer Bestimmungen begründet aufweisen; und sie muss drittens überhaupt durch das Denken erfass­ bar sein.

Die erste Bedingung ist vielfach gegeben, da der Mensch, wie ge­ sehen, aus drei Erfahrungsquellen eine unerschöpfliche Vielfalt an Seiendem unmittelbar und mittelbar schöpft: erstens das Seiende, das sinnlich vermittelt ist, also die gesamte sinnliche Erscheinungswelt; Im Falle des Leidens fällt die ontologische Kategorialstruktur mit der Existenzial­ struktur zusammen, denn die Seinsgrundstruktur des Leidens ist stets eine Erlebensund Vollzugsgrundstruktur und also ein fundamentales Aktgefüge. Kategorien und Existenzialien wiederum bedeuten nichts anderes als die »Urweisen« des Seins und Lebens, hier des »leidenden Seins«. 64

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1.4. Die ontologische Grundstruktur des Seins

zweitens das Seiende, das im Bewusstsein selbst ohne Rückgriff auf die Sinnenwelt erzeugt werden kann wie z. B. Vorstellungen, Begriffe, Gedanken, Entschlüsse, mathematische Größen, Phantasien, Werte, logische Figuren usw.;65 und schließlich Seiendes, das in der Reflexion als Selbstakte und Selbstzustände gewahrt wird, etwa die Akte des Fragens, Zweifelns, Suchens, Erkennens und Zustände wie die Stim­ mungen der Gelassenheit, Verzweiflung, Freude usw. All dies ist nicht nichts, sondern ist etwas, wenn auch nicht physisch-materiell Seien­ des, welch Letzteres im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung nicht unmittelbar, sondern nur vermittels der leiblichen Sinne und des geistigen Wahrnehmungs- und Denkapparates zugänglich ist und als solches nur schwer in seiner eigenen Seinsbeschaffenheit aufzuklären ist und keinesfalls, wie die Materialisten und Naturalisten meinen, selbstverständlich zu Tage liegt.66 Kurzum, es gibt viel Seiendes, das unmittelbar im Bewusstsein erscheint und das auf eine eventuelle Seinsgrundstruktur hin befragt werden kann. Ob diese Grundstruktur existiert oder nicht, und ob sie, wenn sie existiert, erfasst werden kann, kann nur die Probe aufs Exempel klären. Wie steht es damit? Wenn man von irgendeinem Seienden ausgeht, dann am besten von solchem, dessen Leugnung unmöglich bzw. direkt selbstwider­ sprüchlich ist. So erlebe ich mich z. B. als erkenntnissuchendes, als so und so gestimmtes, schreibendes, fragendes Wesen und kann dies nicht leugnen, ohne diese Leugnung selbst zu zerstören. Denn wenn ich sagen würde: »Ich erlebe nichts«, so ist dies ein Erleben, ein Akt des Erlebens und nicht nichts. Analog verhält es sich mit der Aussage: »Es gibt Veränderung, Wechsel, Wandel«. Wollte ich dies leugnen, indem ich sage, »Es gibt keine Veränderung«, so würde mit diesem Satz evi­

65 Es handelt sich hier entweder um bloß intrapsychisch wirkliches Seiendes wie Phantasien oder Bewusstseinsakte oder um ideal Seiendes wie reine geometrische Figuren, logische Beziehungen oder Werte. Wird das Seiende wie oft, so auch von H. Pichler (1910, 3ff.), auf das extrapsychisch Seiende, das angeblich allein daseiend ist, beschränkt, gerät man in Schwierigkeiten und engt die Ontologie unsachgemäß in naturalistischer Weise ein. Das »esse« kommt allem zu, von dem man überhaupt sagen kann, dass es ist, nicht nur dem, von dem man sagen kann, es ist in der physischen Wirklichkeit daseiend. Dasein haben auch die Inhalte einer bloßen Vorstellung, einer Phantasie, eines Gedankens, obschon nur ein imaginatives, ideales oder imaginäres Dasein, das jedoch stets etwas ist und nicht nichts. Damit muss sich an ihnen die Grundstruktur des Seins überhaupt aufweisen lassen. 66 Präzise gedacht, ist also auch die Materie (an sich) ein transempirisch-metaphysi­ scher Gegenstand.

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dentermaßen ein Wechsel von Worten, also ein Veränderungsprozess konstituiert und damit die Aussage aufgehoben. Solche ohne performatorischen Selbstwiderspruch unleugbaren »Urtatsachen« gibt es viel mehr, als man gemeinhin annimmt, wes­ wegen ich mit Bezug auf den »Wiener Kreis« von »neuen Protokoll­ sätzen« spreche, die als Fundamentalsätze einer jeden Wissenschaft dienen können. Hier mögen die beiden genannten genügen, so dass sich feststellen lässt: Es ist absolut, d. h. unwidersprechbar, gewiss, dass es Seiendes gibt, z. B. mein Erleben oder Veränderliches. Von diesem konkret Seienden muss als erstes gesagt werden, dass es ist, als solches da ist, nicht nur für mich da ist (das auch), sondern zuallererst in sich da ist, man kann auch sagen, in sich besteht, in sich ruht, in sich befasst ist, kurz: »im Sein ist«, in diesem grundlegenden Sinne »existiert«.67 Das, was einfach da ist, antwortet auf die Frage »Was ist da?«, etwa z. B. mein Erleben, diese Stimmung, diese Phantasie, diese Sinneswahrnehmung, diese Zahl, diese Frage, dieser Irrtum, dieser Wahn usw., worauf zu antworten ist: Das, was da in sich seiend ist, das ist ein Seinsgehalt, eine bestimmte konkrete Seinsqualität, z. B. dieses bestimmte Rot, dieses bestimmte Freudegefühl, dieser Gedanke jetzt und hier. Ohne diesen immer kon­ kreten, indivdual-einzelnen Seinsgehalt, der das bestimmte Seiende mit seinem konkreten Gehalt füllt und hält, würde ein Sachverhalt, etwa eine bestimmte Farbe, eine Zahl, ein Gefühl usw. verschwinden. Das Wesenhafte und Eigentümliche dieses Seinsgehaltes ist, dass er das infrage stehende Seiende ganz individual und einmalig füllt, sozusagen von innen, sachhaltig, seinsmäßig füllt. Seinsgehalt und Seinsfüllung sind identisch, und ohne sie kann kein Seiendes, mag es noch so vage, abstrakt oder allgemein sein, da sein, bestehen bzw. erscheinen. Das Moment des Seinsgehaltes, dieses ersten Momentes der Seinsgrundstruktur, entspricht dem klassischen Seinsmoment des Da- und Dass-Seins, der Existenz, das in der aristotelischen Ontologie der ersten Substanz (próte ousia) des Seins, in gewisser Weise auch der hyle (materia) entspricht. In der Philosophiegeschichte wurde dieses fundamentalste, immer wesenhaft individual-einzelne Seinsstrukturmoment selten Als solches umfasst es nicht nur sinnlich vermittelte Gegenstände, sondern alles, was »des Seins« ist, mithin Aktvollzüge, Stimmungen, Gedanken, Begriffe usw., die vielfach nicht gegenständlich, sondern »inständlich« sind (siehe K. Graf Dürckheim, 2001, 36). 67

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1.4. Die ontologische Grundstruktur des Seins

und, soweit ich sehe, nie gründlich thematisiert, bei Aristoteles als »erste Substanz« und als »tode-ti« (Dieses-da) und bei Duns Scotus als »haecceitas«. Erst B. v. Brandenstein (1901–1989) hat daraus die Grundwissenschaft der Ontologie entwickelt, die Gehaltlehre oder Totik, die Lehre von den immer individual-konkreten, nie real all­ gemeinen, höchstens ähnlichen, oft aber qualitativ abweichenden Ge­ halten mit ihren qualitativen Kategorien und Gesetzmäßigkeiten.68 Ohne sie ist keine Wissenschaft und damit auch keine Philosophie fundiert aufbaubar, weder eine phänomenologische Ontologie noch eine Metaphysik noch eine Epistemologie, denn ohne sie schwebt alles, das ohne solch einen Bezug auf einen Seinsgehalt nichts wäre, im Unbestimmten. Wie bekannt, baut auch I. Kant seine Erkenntnis­ theorie auf den sinnlichen Gehalten der Empfindungen auf, ohne deren ontologischen und metaphysischen Status allerdings zu klären. Das ist jedoch nicht alles. Die Seinsgrundstruktur entfaltet sich sogleich, d. h. unzeitlich zugleich, mit dem Seinsgehalt, der Seins­ gefülltheit weiter und zeigt ein neues Moment: Wenn man einen Seinsgehalt erfährt oder erschließt, zeigt sich sofort, dass er als solcher auch gewisse Beziehungen konstituiert und wenigstens mit sich selbst und eventuell mit anderem zusammenhängt. Der Selbstzusammen­ hang bzw. die selbstbezogene Seinsform ist das, was allgemein als Identität bezeichnet wird: Voll identisch ist jedes Seiende nur mit sich selbst, partiell identisch mit vielem anderen. So ist Sokrates nur mit sich voll identisch, volle Identität wäre mit einem zweiten Sokrates nicht möglich, selbst wenn sie total gleich wären, denn der zweite ist nicht der erste und befindet sich z. B. nicht da, wo der erste ist, ist also wenigstens raumverschieden. Dagegen ist Sokrates als Grieche mit Platon, Aristoteles und Epikur (teil-)identisch, hängt also mit diesen dreien insofern real und allgemein zusammen, als sie Griechen, Philosophen, Männer, Europäer, Vorchristen usw. sind. Dieses Seins­ moment ist altbekannt und wurde als seinslogisches Formmoment in allen Dingen, so vor allem von Aristoteles, erkannt und als Forma, Eidos, »zweite Substanz«, Logos, »Wort« oder Essenz bezeichnet. Ein Blick zurück macht klar, dass der Seinsgehalt bzw. die Qualität sachlich (nicht zeitlich) der Seinsform als dem Zusammen­ hangswesen eines Seienden vorausgeht, denn nur etwas, ein Seien­ des, genauer, ein Seinsgehalt und nicht eben nichts kann mit sich 68 Vgl. B. v. Brandenstein (1965), Grundlegung der Philosophie, Bd. I, Gehalt­ lehre/Totik.

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und anderem zusammenhängen. Ein Zusammenhang ohne Zusam­ menhängendes ist in sich unmöglich, und also folgt das Seinsstruk­ turmoment des Zusammenhangs – die »Form« als sachlogisches Bezugsmoment – dem Seinsgehalt nach, zwar nicht zeitlich, da ein Gehalt, der nicht wenigstens mit sich zusammenhängt, in sich haltlos, zusammenhanglos, völlig unverbunden und zerrissen, also unmög­ lich wäre. Seinsgehalt und Seinsform sind darum korrelat, bestehen zugleich und vollständig untrennbar, nur unterscheidbar ineinander, sind nicht verschiedene Dinge, sondern unterschiedene Seinsaspekte in ein und demselben Ding. Die Wissenschaft des Zusammenhangs überhaupt bzw. der Grundformen des Zusammenhangs ist die zweite ontologische Wissenschaft und kann als »Logik«, hier allerdings im Sinne von Seins- oder Sachlogik – nicht im Sinne der Wissenschaft von den Denkregeln, wie von Aristoteles entwickelt –, bezeichnet werden. Auch sie hat B. v. Brandenstein grundlegend und umfassend ausgeführt.69 Während die Seinsgehalte immer qualitativ-einzeln sind, können die sachlogischen Zusammenhangsformen, z. B. die For­ men der Gattung, der Unterordnung, der Entsprechung, der Klasse usw., real allgemein im Einzelnen bestehen und vom Einzelnen abgelöst im Denken für sich gedacht und behandelt werden.70 In der Einheit von »Materie« und Form schließt sich nach antikem Denken die Seinsgrundstruktur ab, wobei sowohl der ontologische Status der Materie als auch derjenige der Form einerseits unterbestimmt, andererseits vieldeutig ist und dadurch die gesamte antike Ontologie problematisch bleibt. Nicht nur Antike und Scholastik, sondern auch moderne Onto­ logien meinen, mit Materie (»Gehalt«) und Form sei die Seinsgrund­ struktur voll entfaltet. Das ist erweisbar nicht der Fall.71 Vielmehr lässt sich feststellen, dass der mit sich zusammenhängende, also Vgl. B. v. Brandenstein (1965), Grundlegung der Philosophie, Bd. 1. Sie entsprechen den universalia in re und post rem des Mittelalters. 71 Hier deutet sich die Crux der dualistischen aristotelisch-thomasischen Ontolo­ gie von Hyle und Eidos (Stoff und Form) an, die das Hylemoment nicht recht zu fassen bekommt und das Moment der Form überdeterminiert. In ihm vereint Aristoteles nämlich die Seinsstrukturmomente des unanschaulich-begrifflich-logisch zu definierenden Wesens (forma, eidos, Essenz), die anschauliche Gestalt (morphé) und, insofern nach Aristoteles die forma selbst wirkmächtig ist, das dynamische Kraftmoment, die Entelechie. Wie B. v. Brandenstein in seiner Grundlegung der Philosophie (1965–70) beweist, müssen diese Momente aufgrund ihrer verschiedenen Seinsmodalität in verschiedenen ontologischen und metaphysischen Wissenschaften ermittelt und bestimmt werden. 69

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»geformte« Gehalt insofern ein neues Moment aus sich entlässt, als er eine Einheit bildet: Er ist einer, nicht zwei oder mehrere. Das ist ein durchaus drittes Moment, das den in der Form diffe­ renzierten Gehalt wiedervereinigt und zu einer »Größe«, einer im weitesten Sinne gemeinten »Quantität« macht. So ist das Sein in seiner Grundstruktur nicht nur ein Dass und Dieses-Da (Gehalt, Existenz), nicht nur ein Was und Wesen (Essenz, Form), sondern auch ein Eines oder »Einssein« (Hen), das am ehesten auf die Frage Wie? antwortet. Die Wissenschaft, die sich mit dieser Ureigenschaft des Seins befasst, mit ihrer Größen-, Zahlen- und Mengenhaftigkeit, ist längst bekannt, meist jedoch nur als Fachwissenschaft entwickelt worden: die Mathematik.72 Alles Seiende ist in der Tat mindestens insofern mathematisch, d. h. größenhaft-quantitativ, als es unter die Urkategorie alles Mathematischen fällt: die Einheit bzw. unter die drei mathematischen Urkategorien der Einheit, Ganzheit und Gleichheit. Ihr Wesenszug besteht im Gestalten bzw. im gestaltenden Umfassen. Am ursprünglichsten gestaltet sie den Gehalt mit seiner Form zur umfassten und umfassenden Einheit. Weiter gestaltet sie die unendlich vielen gestaltungshaft-quantitativen Größen, Mengen und quantitativen Beziehungen. Auch die Urquantität der Einheit ist grundlegend und tritt mit Gehalt und Form zeitlich zugleich, nur der inneren unzeitlichen Seinsordnung nach als drittes Moment auf. Evidenterweise kann sie nur an dritter Stelle erscheinen, da sie vereinigt und zusammengestaltet, wozu es mindestens zweier Momente, die zur Einheit gestaltet werden, bedarf. Im Grundlegen­ den sind dies Gehalt und Form, die in und durch die Gestaltung zur innerlich umfassten Seinseinheit gebracht werden. Die einfachste Seinsgrundstruktur offenbart somit nicht nur ein Moment oder auch nur zwei, sondern drei Momente: Gehalt, Form und Gestaltung; Existenz, Essenz und »Unizenz«. Es leuchtet ein, dass sich mit ihr die Seinsgrundstruktur bzw. kategoriale Struktur des Seins überhaupt abschließt, da die Gestal­ tung den Gehalt mit seiner Form wiedervereinigt und gleichsam abrundet. Nach dieser Grundeinheit können nur mehr weitere neue 72 Vgl. aus neuerer Zeit die aufschlussreiche Arbeit des Thomisten J. B. Lotz (1988), der den Versuch unternimmt, das Sein in seiner Grundstruktur als Einheit (Gestal­ tung), Wahrheit (Form), Gutheit (Gehalt), Schönheit und Heiligkeit zu bestimmen. Unter »Grundbestimmung« versteht er das, was »Transzendentalie« im Mittelalter oder was heute »Grundkategorie« oder »Letztprädikat« bedeutet.

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Einheiten, also Mengen bzw. verschiedene Dinge kommen, die selbst wieder aus Gehalt, Form und Gestaltung komponiert sind. Die Grundhaftigkeit dieser trinitarischen Grundstruktur aus Gehalt/Seinsgefülltheit, Form/Seinszusammenhang und Gestal­ tung/Größenhaftigkeit wird daran ersichtlich, – – –

dass sie erstens nicht geleugnet werden kann, da auch eine Leugnung ihren bestimmten Gehalt, ihren Zusammenhang mit sich und anderem und ihre quantitative Bestimmung hat;73 dass sie zweitens nicht auf Einfacheres zurückgeführt werden kann, sondern unmittelbar evident sich selbst begründet; und drittens alles Komplexere fundamental trägt und bestimmt. Denn ein noch Einfacheres als die Dreieinheit von Gehalt, Form und Gestaltung müsste erstens selbst in sich da sein, also einen Seinsgehalt haben, müsste mindestens mit sich als Form ureinfach zusammenhängen und wäre als solches eine Einheit, eine »Größe«. Gehaltgefülltheit (Qualität), Form­ zusammenhang (»Eidos«, »Wesen«, »Logos«) und gestaltliche Quantität (»Gestalt«, morphé) machen darum die tiefste Struk­ turschicht eines Seienden, also dessen »Sein« aus, und zwar durchaus anschaulich und nicht transzendent.

Unstrittig kann diese Grundstruktur in jedem Seienden aufgedeckt werden, so z. B. an einem roten Blütenblatt: Die seinsfüllenden Seins­ gehalte, die immer, weil füllend, konkret und einzeln sind, sind die Qualitäten von Farbe, Geruch, Schwere, Glattheit usw.; die zusam­ menhangsbildenden Seinsformen sind die gedanklich erfassbaren und oft real allgemeinen, qualitativ leeren Begriffsstrukturen, z. B. die Pflanzengattung, die Ordnung der Lebewesen, der Zusammenhang mit einer Jahreszeit usw.; und die größenbildenden Quantitätsgestal­ tungen sind die zähl- und messbaren Momente, z. B. des Raumes, der Zeit, der Zahl und der Menge. Alle drei zusammen machen die Grundstruktur eines Gegenstandes aus, ob er sinnlich wahrgenom­ men, in der Innenwelt erzeugt oder diskursiv erschlossen wird. Eine Wirklichkeit, der eines dieser drei Seinsmomente fehlte, wäre weder erfahrbar noch denkbar, daher nichtig. Ohne Gehalt wäre sie nicht da, 73 Klassischerweise werden diese Grundbestimmungen der universalen Seinsgrund­ struktur »Kategorien« oder »Transzendentalien« genannt. In Sprache gefasst, nennt sie Thomas v. Aquin (1985, 4f.) daher treffend »Ursätze«, die er, da sie nicht verneint werden können, ohne in der Verneinung gesetzt zu werden, als denknotwendig cha­ rakterisiert.

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vor allem in sich nicht da; ohne Formzusammenhang würde sie mit nichts zusammenhängen, weder mit sich noch mit anderem (z. B. mit dem Erkennenden); und ohne Gestaltung wäre sie in sich ungeeint, also grundlegend zerrissen und damit nicht bestandsfähig. Aus diesen drei Seinsgrundmomenten lassen sich drei philo­ sophische Grundwissenschaften entwickeln, die Gehaltlehre/Totik, die Formenlehre/Logik und die Gestaltungslehre/Mathematik. Sie bewegen sich, was ihre Kategorial- oder Grundlegungsstruktur be­ trifft, ganz im phänomenologischen Bereich, sind also anschaulich, erfahrbar und müssen nicht metaphysisch erschlossen werden.74 Es ist klar, dass sie als dreifach ausgefaltete Ontologie, d. h. als Lehre vom Sein des Gehaltes, vom Sein der Form und vom Sein der Gestaltung, alle anderen Wissenschaften begründet und darum den Namen der »ersten Philosophie« verdient.75 Auf ihr bauen Metaphysik, Prag­ matik, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Ästhetik, Ethik, Reli­ gionsphilosophie und die Spezialwissenschaften auf, die immer schon ein, wenn auch meist unreflektiertes Seinsverständnis implizieren. In meiner Dissertation habe ich diese phänomenologische Onto­ logie am Sachverhalt des Leidens entwickelt und in ihrer Besonderheit dargestellt. Sie modifiziert sich im Leiden in spezifischer Weise: Aus der Dreieinheit von Gehalt, Form und Gestaltung wird eine Fünfheit, wobei sich das dritte Moment in ein viertes und fünftes aufspaltet und dadurch die vorgelegte Seinsgrundstruktur nicht auf­ hebt, jedoch abändert bzw. komplizierter weitergestaltet. In jedem Leiden waltet in seinem bestimmten Sosein wesenhaft ein Mangel, der, weil er der Mangel von etwas ist, das sein sollte, einen Zwie­ spalt konstituiert, aus dem – als der Polarität der zwiegespaltenen, nicht getrennten (!) Momente – eine Spannung hervorgeht. Sichtlich 74 Hier wird eine tiefste philosophische Crux der Phänomenologie Husserlscher Provenienz sichtbar. Da sie nur die allgemeine bzw. »generische« Wesensstruktur eines Sachverhaltes aufdeckt, entgeht ihr weitgehend die gehaltlich-totische, wesen­ haft singuläre Strukturkomponente des Seins, die wieder M. Heidegger besser sieht, allerdings nur im Blick auf den Menschen, das »Dasein«, womit die eidetische Bestim­ mung der Gegenstände ontologisch in der Luft hängt und einseitig wird. Ohne Totik ist keine ontologische Fundierung möglich. Das wusste bereits Aristoteles, der das Einzelsein des Seienden als »erste Substanz«, als tode-ti fasste, wissenschaftlich aber nicht ausarbeitete. Diese »Totik« liefert B. v. Brandenstein (1965, 63ff.), Grundlegung der Philosophie, Bd. 1. 75 Dadurch wird auch eine jegliche Vernunftkritik begründet, weil die Vernunft bzw. die Kritik als geistiges Aktgeschehen nicht nichts, sondern etwas bzw. seinshaft ist und damit der trinitarischen Seinsgrundstruktur gehorcht.

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wiederholt sich hier die trinitarische Grundstruktur des Seins, da der Mangel das einfachste, gehalthafte Moment des Seins des Lei­ dens ist, der Zwiespalt das zweite, zeitlich zugleich bestehende, der Seinsordnung nach aber folgende, formhaft-entzweiende Moment darstellt, und die Spannung das dritte, ebenfalls zugleich bestehende, doch zuletzt auftretende und das Leiden in seiner gespannten Einheit zusammengestaltende, mathematisch-größenhaft vereinigende Mo­ ment angibt. Interessanterweise bleibt die Seinsgrundstruktur des Leidens an diesem Punkt nicht stehen, sondern zeugt – als Erweis des dynamisch fundamentalen Spaltungswesens des Leidens – eine weitere Spaltung des Leidenden: Das dritte Moment der Spannung kann sich nämlich als Hemmung oder als Zwietracht, als Blockade oder als Oszillation, als Beschränkung oder Konflikt oder als beides mehr oder weniger zugleich weiter ausgestalten und offenbart so das Urwesen des Leidens in seiner intrinsischen Struktur und Dynamik – innere Entzweiung und Selbstentfremdung.76 Aus diesem dynamischen Mangel heraus entfaltet sich die spezi­ fisch transzendierende Zeitlichkeit des Leidens: Während die trinita­ rische Seinsgrundstruktur einen überzeitlichen Status aufweist (daher niemals von Unglück, Leid und Vergehen angegriffen werden kann),77 kann das Leiden nicht unzeitlich sein, sondern muss sich aus seinem Noch-Nicht bzw. Nicht-Mehr notwendig zeitlich entfalten. Insofern ist das Leiden wesenhaft an Endlichkeit, genauer, an Potentialunend­ lichkeit gebunden.78 Zum Entfremdungsphänomen als »Beziehung der Beziehungslosigkeit« und »Nicht-bei-sich-zuhause-Sein« vgl. R. Jaeggi (2016). Leiden impliziert stets ein inneres Fremdwerden, ein Unverbundensein mit sich und Anderem, und zwar genau da, wo etwas verbunden und in Resonanz sein sollte. Dieser Zustand ist, oft nicht empfunden (!), typisch für das krankmachende neoliberal-ökonomische Arbeits-, Konsum- und Freizeitleben, das kein echtes a-funktionales Festen und Feiern kennt. Vgl. hierzu sehr aufschlussreich K. Albert (1982, 115–126), Vom Kult zum Logos, 10. Kap.: Metaphysik des Festes. 77 So wie Gott die Sonne über Guten und Bösen aufgehen lässt, so trägt die Seins­ grundstruktur unangreifbar alles positive und negative, konstruktive und destruktive gute, defekte und böse Sein. 78 Ein rein endliches, statisch-fertiges Seiendes kann darum nicht leiden, sondern nur solche Wesen können leiden, die sich, was Aktivität und Selbstbezüglichkeit einschließt, erleben und zu transzendieren vermögen. Diese Differenzierung ist entscheidend und wird z. B. von M. Heidegger unterlassen, der den Menschen auf­ grund seines Fragenkönnens und Fragenmüssens zwar richtig als wesenhaft endlichen bestimmt, aber nicht differenziert, dass Fragen (wie Leiden) nur für ein Wesen möglich ist, das jede Endlichkeit (fragend oder eben leidend) zu übersteigen vermag. Vgl. M. 76

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1.4. Die ontologische Grundstruktur des Seins

Die weitere phänomenologische Leidensanalyse zeigt, dass die fünf Leidensurmomente in ein kompliziertes seelisch-geistiges Akt­ gefüge eingewoben sind, das sich aus folgenden Akten zusammen­ setzt: – – – –

aus dem Akt der positiv setzenden, affirmativen Wahrneh­ mung einer Störung/eines Widerfahrnisses (»Erleiden«, Affek­ tion, Affliktion),79 aus dem Akt der meist spontan-impliziten und negativen Bewer­ tung desselben als Übel, aus dem Akt eines vergeblichen, trotzdem anhaltenden meist emotionalen, eventuell auch praktischen Aufbegehrens dagegen und aus dem Akt der daraus entspringenden inneren Zerrissen­ heit als dem Selbstvollzug des Leidens und als Leiden an sich selbst, am »Dasein«.80

Mangel, Zwiespalt, Spannung, Hemmung und Zwietracht treten hier auf höherer Ebene als Akte bzw. Aktmomente eines erlebenden We­ sens und als Subjektzustände auf, Mangel und Zwiespalt besonders in den beiden ersten Akten, die Spannung besonders im Akt des Aufbegehrens, die Hemmung in Vergeblichkeit und Ohnmacht und die Zwietracht schließlich in der Zerrissenheit des Leidens. Dabei ver­ Heidegger (1951, 197ff.). Insofern Leiden immer Erleben ist, kann es auch nie total passiv sein, wiewohl durch das Erleiden (Widerfahrnis, affectio, afflictio) immer ein grundpassives Moment gegeben ist, das aber erst im aktiven Erleben lebendig und erfahrbar ist. Deshalb darf Leiden nicht, wie z. B. M. Henry (2005, 124–139) dies tut, mit Erleiden, Sichempfangen und Sichertragen gleichgesetzt werden. M. Henry meint nämlich, dass das Leiden so ursprünglich wie das Leben sei, weil alles Leben notwendig ein Sich-selbst-Erleiden sei, was gewiss richtig ist. Da das Sich-selbst-Erleiden im Sinne eines Sich-selbst-Empfangens aber gar nicht leidvoll sein muss, liegt hier bei M. Henry eine Äquivokation vor, die dann zu Aussagen führt wie: Freude und Leiden seien im tiefsten Grunde des Lebens, im absoluten Leben, gleichzeitig gegeben und identisch. Wohl sind sie beide »Leben« und werden beide nicht nur lebendig-aktiv vollzogen, sondern auch erlitten, aber leidvoll ist nur das Leiden. 79 Wie im ersten Band gezeigt, ist ein Widerfahrnis nicht notwendig leidvoll, aber im neutralen oder sogar positiven Sinne stets erlitten. Auch wenn im Wort Erleiden das Wort Leiden steckt, so soll mit dem Erleiden doch nur die passiv erfahrene Einwirkung, etwa auch einer angenehmen Sonnenstrahlung, bezeichnet werden. Aristoteles verstand seinen Leidensbegriff in diesem leidlosen Widerfahrungssinne. Erst wenn gegen ein erlittenes oder erfahrenes Widerfahrnis vergeblich aufbegehrt wird, beginnt Leiden im schmerzlichen Sinne. 80 Vgl. A. Holzhey-Kunz (1994), die das »Leiden am Dasein« von daseins- und psychoanalytischer Seite her untersucht.

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weben sich stets passiv-erleidende und aktiv-mitgehende Momente, so dass auch das Erdulden beide Aspekte enthält. Daher ist rein passives Leiden so unmöglich wie rein aktives Leiden: Weder der Stein noch Gott können leiden. Darüber hinaus gilt, dass in jedem Leiden die Spur eines Anderen, Fremden, noch Unintegrierten (Nicht-zueigen-Gemachten) anwest, sogar dann, wenn das Widerfahrnis nicht aus der äußeren physischen Welt kommt, sondern aus dem Mensch­ sein selbst stammt: So kann selbst die Freiheit als Widerfahrnis, als Last und Leid (vgl. S. Kierkegaard!) erfahren werden, mehr noch, sie ist am tiefsten Seinsgrunde des Menschen insofern ein volles echtes Widerfahrnis, als sich der Mensch die Freiheit nicht selbst geben kann, sondern sie mit seinem Erschaffensein empfängt und dann erst – nicht zeitlich, aber ontologisch später – ergreift und selbst gestaltet. Hier trifft der Mensch auf den letzten Grund seines Geschöpfseins, seine Grundpassivität, die aber noch nicht Leiden, sondern nur Erleiden (seiner selbst von seinem Ursprung her) ist, eine Grundpassivität, die nur in der Selbstaktivität des Erlebens, des aktiven Selbstlebens erlebt und erfahren werden kann. Im Gegensatz zum Erleiden besitzt Leiden daher, entgegen der Auffassung von M. Henry, immer ein Moment der Aktivität.81 Ohne die allgemein-philosophische und die leidensspezifische Onto-Phänomenologie würde aller Leidenslehre das Fundament feh­ len, so dass nicht gewusst werden könnte, womit man es zu tun hat. Der Gefahr, sich in Spekulationen zu verlieren, wären Tür und Tor geöffnet. So aber gibt es Grund unter den Füßen, und viele Fragen, etwa die, ob im Urgrund des göttlichen Lebens Leiden möglich ist und ob Tiere leiden, lassen sich einer Klärung annähern. Analoges gilt von der Aufdeckung des vorletzten und letzten Sinns des Leidens aus seiner Grundstruktur heraus. Als Vorgriff auf das Ganze darf angedeutet werden, dass das Leiden all jenes Seiende umfasst, das nicht-absolut (Nicht-Gott) ist, aber zum Absoluten bzw. zur Fülle des Seins zurückzukehren und mit ihm einszuwerden strebt. Der Weg, der diese Rück- und Einkehr theoretisch aufweist, ist weit, zumal in der Philosophie nicht das Ergebnis, sondern der Erhellungsprozess im Zentrum der Arbeit steht. Bis es möglich ist, in die Metaphysik des Leidens einzutreten, muss daher noch einige methodische Vorarbeit geleistet werden. 81

Vgl. M. Henry (2017, 13–26).

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1.5. An den Grenzen und darüber hinaus

1.5. An den Grenzen und darüber hinaus: metaphysische Regionen und Gegenstände Wenn Wahrnehmen, Denken und Erkennen, was niemand bezweifelt, an Grenzen stößt, dann legt sich der Gedanke von Bezirken nahe, die über diese Grenzen hinausgehen. Das ist allerdings nicht notwendig der Fall, da jenseits solcher Grenzen auch nichts sein könnte. Da man z. B. heute weiß, dass sich der Kosmos ausdehnt, folgt notwendig, dass er nicht unendlich weit ausgedehnt sein kann, sondern verschiebliche, d. h. notwendig immer endlich bestimmte, Grenzen besitzt, jenseits derer auch nichts mehr folgen könnte. Bisher gibt es keine Hinweise auf andere Kosmen außerhalb des bekannten Kosmos, die, wenn es sie gäbe, mit dem bekannten verbunden sein müssten, weil sonst nichts von ihnen gewusst werden könnte, und mit dem bekannten Kosmos dann ein Ganzes, einen polykosmischen Megakosmos, bildeten. Anders liegen die Verhältnisse, wenn man zwar an unüberwind­ liche Grenzen stößt, doch so manches »von drüben« herüberdringt und so beweist, dass es jenseits der Erfahrung dynamisch-wirksame Seinsbezirke gibt. In moderner Zeit gehört das so genannte »dyna­ misch-aktive Unbewusste« hierher, das schon definitionsgemäß nicht als solches, sondern nur in seinen Wirkungen und Spuren im Erleben bzw. Bewusstsein erscheint und nicht direkt erfahren werden kann. Und obwohl es sich hier um eine echte, die Erfahrung real überstei­ gende Transzendenz und entsprechend, wenn es wissenschaftlich angegangen wird, um Metaphysik handelt, was die Psychoanalytiker nicht bemerken, würde niemand die Existenz des Unbewussten, aus dem tagsüber unentwegt – und oft ohne oder gar gegen den Willen des Betroffenen – Vorstellungen, Gedanken und Impulse und nachts die Träume steigen, leugnen. Wieder anders verhält es sich mit der Transzendenz des Vergan­ genen. Hier hat man es mit etwas zu tun, das zu nichts wurde und nur aus seinen Rückständen, Spuren, Nachbildern und Erinnerungs­ resten in der Gegenwart erschlossen werden kann. Das Vergangene als solches ist nicht erfahrbar, sondern nur seine in die Gegenwart mitgeführte Spur, weswegen eine jede historische Wissenschaft über einen metaphysischen Kern verfügt, den sie ohne Gefahr der Selbst­ zerstörung nicht leugnen kann. Und in der Tat geht jene Wissenschaft meist naiv davon aus, dass sich das Vergangene im Gegenwärtigen irgendwie abbilde, was nicht selbstverständlich ist. So ist z. B. keines­ wegs sicher, dass die physikalischen Naturgesetze am Anfang des

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Kosmos schon gültig waren, vielmehr könnte es sein, dass sie sich erst in einem langen Stabilisierungsprozess herausgebildet haben. Wäre dem so, dürften heutige Astrophysiker nicht ohne Weiteres auf den Anfang des Kosmos zurückschließen, sondern müssten andere Szenarien als heute üblich zulassen. In gewisser Hinsicht noch unerfahrbarer als die Tiefe der Gegen­ wart im Unbewussten und als das Nicht-mehr-Sein der Vergangen­ heit in der Gegenwart ist das Noch-nicht-Sein der Zukunft, da sie nie gewesen ist. Wie sie dennoch werden kann, ist eines der Urprobleme der Philosophie, da auch das Künftige eine Seinsquelle besitzen muss, die tiefer reicht als der Seinsbestand der Gegenwart, da ansonsten alles Künftige schon gegenwärtig, also nicht künftig wäre und nicht künftig sein könnte. Mit gewissem Recht entwickelte Aristoteles da­ raus seine tiefgründige Lehre vom Potentiellen, doch lässt sich zeigen, dass die zum Künftigen offene und befähigte, davon »schwangere« Gegenwart nicht der zureichende Seinsgrund des Zukünftigen sein kann. Es braucht eine weitere Seinsdimension, eine, die alles Zeitliche überhaupt ermöglicht und selbst nicht mehr zeitlich, daher wesenhaft transzendent ist und gleichsam »von oben« die Zukunft – in und aus der Potentialität der Gegenwart heraus – nährt.82 Erst hier würde verständlich, warum etwas und nicht nichts ist und warum etwas, das als Werdendes zunächst nicht ist, entstehen und ins Sein treten kann. Darauf komme ich zurück. Wer oder was bringt schließlich die konkrete Welt hervor, bewegt sie, ordnet sie, baut sie auf und ab und um? Da die Welt bewegt-dyna­ misch ist, müssen auch ihre Wirkpotenzen dynamisch-aktiv sein. Das besagt schon der Kausalitätssatz, wonach etwas, das entsteht oder – wie I. Kant sagt83 – geschieht, eine Ursache, einen realen Seins- und Wirkgrund haben muss. Warum? Weil etwas, das nicht war, dann aber ist, womit Dynamik konstituiert ist, weder allein von sich her noch von rein nichts entstanden sein kann. Das bedeutet aber, dass im Begriff des Entstehens und Werdens notwendig die Verknüpfung mit einem Sein gefunden werden kann, das nicht im entstehenden Ding selbst gegeben ist, aber von diesem notwendig vorausgesetzt wird.84 Vgl. B. v. Brandenstein (1984, 196–202), Über die Zu-Kunft. Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 47). 84 Wie die Einleitung der zweiten Auflage der KdrV beweist, erkennt I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 54f.) klar, dass im Begriff des Geschehnisses, genauer, des Entstehenden der Begriff der Ursache zwar nicht als solcher enthalten ist, aber ihm dennoch 82

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Nur, wie geschieht dies? Mechanisch-materiell aufgrund bloßer Stoßgesetze oder durch geistige Prinzipien oder durch Zufall oder sonst wie? Auch hier stößt die Erfahrung an Grenzen, hinter denen unmöglich nichts sein kann, da Bewegung, Wandel, Aufbau und Ab­ bau nicht allein aus sich möglich sind, sondern, wenn sie nicht als völ­ lig zufällig oder deterministisch festgelegt betrachtet werden, initiiert und geführt sein müssen. Zumindest für die zwischenmenschliche Kommunikation, in der das Du in seinem Selbstgewahrsein nicht unmittelbar als Ich gegeben und darum transzendent ist, ist dies anzunehmen.85 Das Problem der Kausalität hat hier eine tiefe Wurzel und Fragwürdigkeit und weist über die Grenzen der Erfahrung hinaus. In allen bisherigen Fällen liegen dynamische Transzendenzen vor, die aktiv in die Gegenwart hineinwirken, ohne als solche in der Gegenwart selbst zu erscheinen; bestenfalls drücken sie sich darin aus. Daneben gibt es nicht-dynamische, unzeitlich-statische Transzendenzen, die seit alters bekannt sind. Hierzu gehören alle Gegenstände der überendlichen Mathematik, etwa die Lehre von den notwendig zukommt, insofern, als er die notwendige Voraussetzung seiner (des Geschehnisses) Möglichkeit ist. Dagegen sagt I. Kant, dass der Ursache-WirkungsZusammenhang »gänzlich apriori und aus bloßen Begriffen diese zweite Vorstellung zu der ersteren hinzugefügt« werde (54f.). Stimmt dies? Offensichtlich nicht. Denn zum einen würde ohne die Erfahrung von Veränderung, Werden und Entstehen die Frage nach der Ursache gar nicht auftauchen, womit das »gänzlich apriori« schon nicht mehr haltbar ist; zum anderen wird der Begriff der Ursache nicht synthetisch hinzugefügt, wie I. Kant meint, sondern aus dem Begriff des Geschehnisses bzw. des Entstehenden analytisch-regressiv als dessen notwendige Seins- und Denkvorausset­ zung erschlossen. Die Notwendigkeit, die I. Kant durchaus und richtig im Gegensatz zu D. Hume sieht, beruht gerade darauf, dass das Geschehnis bzw. Entstehen von etwas, das vorher nicht war, logisch wie sachlich unmöglich wäre, wenn kein Sein vorausgesetzt würde, das als Wirkgrund tätig ist. Keineswegs liegt die Notwendigkeit, wie I. Kant meint, allein in der Denkstruktur des Denkenden und wird von dieser in den empirischen Sachverhalt des Geschehens und Entstehens projiziert, sondern sie wird von der Sachlage des veränderlichen Geschehens selbst gefordert. Als Was, Wo und Wie diese Ursache zu denken ist, steht damit noch offen, wogegen I. Kant entgegen seiner richtigen Erkenntnis, dass die Ursache gerade wegen ihrer Notwendigkeit nicht in der Empirie angetroffen werden kann und also transzendent bestehen muss, sagt, die Ursache eines Geschehens sei das diesem Geschehen zeitlich vorangehende, also doch empirisch feststellbare Geschehen. Logisch würde dadurch jedoch der Notwendigkeitsstatus der Ursache als notwendige Voraussetzung einer Veränderung verloren gehen, den Kant gerade retten will. Damit widerspricht sich Kant selbst und hebt seine Kausaltheorie auf. 85 Selbstverständlich offenbart sich das Ich des Anderen (z. B. als heiteres) im Leib, doch eben im Medium des Leibes und nicht in unmittelbarer Gewahrung.

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unendlich kleinen und unendlich großen Größen, Beziehungen und Mengen, aber auch die reine Geometrie, z. B. des echten Kreises, der unendlichen Gerade etc. Jeder kann die Diagonale in einem Quadrat einzeichnen, und jeder Anfänger würde auf Anhieb behaupten, hier­ bei handele es sich um eine endliche Größe, hat er sie doch endlich mit Anfang und Ende gezeichnet. Versucht er, sie zu berechnen, muss er erstaunt feststellen, dass sie in endlichen Verhältnissen nicht zu fassen ist, sondern in sich ein unendliches Größenverhältnis befasst. Mehr noch, er kann dies stringent und unwiderlegbar beweisen, obwohl er gleichzeitig aufweisen kann, dass ein endlicher Verstand wie der menschliche dieses überendliche Größenverhältnis nicht wird unmittelbar fassen und anschauen können. Wo diese Größe liegt, da sie weder in der bewegten und endlichen Natur noch im endli­ chen Vorstellungsvermögen bestehen kann, bleibt dem Mathematiker rätselhaft, weswegen er nicht sagen kann, wie es möglich ist, dass sein endlicher Verstand eine unendliche Größe in ihrer Seinsweise nachweisen kann. Und doch ist es unwiderleglich so! Hätte I. Kant, der die Mathematik so verehrte, dieses einfache Beispiel bedacht, hätte er nicht behaupten können, dass transzendente Wissenschaft, sprich begründete und theoretisch gewisse Erschließung transempirischer Erkenntnis, unmöglich ist. Die wirkliche Diagonale des echten Qua­ drates, die weder gezeichnet noch direkt vorgestellt noch in der Natur gefunden werden kann, besteht zwar – durch den mit Notwendigkeit geführten Beweis begründet – unleugbar und bestimmt ihre inadä­ quaten Abbilder, die gezeichneten und vorgestellten Diagonalen, doch kann man sie nicht erfahren und anschauen, was allein einem unendlichen Geist vorbehalten ist.86 Und dies lässt sich in der philo­ Bekanntlich sagt I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 45), dass alle unsere Erkenntnis, damit auch die mathematische und geometrische Erkenntnis zwar »[...] in der Erfah­ rung anfange, daran ist gar kein Zweifel [...], so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung« (II, 2011, 45). Ist das wirklich so? Muss ein Mensch, der ein Dreieck aufzeichnet, das gewiss kein echtes Dreieck ist, wie auch I. Kant weiß, nicht mindestens die Erfahrung davon gemacht haben, was Ausdehnung, Größe, Quantität, Einheit, Vielheit, Konstruktion usw. ist, um das echte Dreieck konstruieren und daran dann (!) erkennen zu können, dass diese Konstruktion notwendig erfolgt und das Strukturgefüge des Dreiecks notwendige Verhältnisse in sich schließt? Zwar lässt sich das echte Dreieck nicht aus der Erfahrung entnehmen, das sieht I. Kant richtig, aber es lässt sich als notwendige Seinsvoraussetzung der empirischen Dreiecke, die als echte gemeint sind, im Zusammenhang mit der konkreten Erfahrung von Gestalt, Ausdehnung, Quantität, Berechenbarkeit usw. erschließen. Synthetisch ist hier zwar die Konstruktion, aber die ist kein Urteil; und der Rückschluss auf die notwendige Exis­ 86

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1.5. An den Grenzen und darüber hinaus

sophischen Mathematik aufzeigen: Das gesamte unendliche All der reinen mathematischen Größen und Verhältnisse ist keine Fiktion, sondern besteht erweisbar im Allbewusstsein Gottes und bestimmt von daher idealerweise alle endlichen mathematischen Verhältnisse der Welt, gleichsam wie eine Hintergrundfolie, die in ihrem Eigensein entzogen bleibt, aber nichtsdestotrotz, wie die Mathematik beweist, mit Notwendigkeit aus der bedingten Weltwirklichkeit als deren unabdingbare Seinsvoraussetzung erschlossen werden kann.87 Eine weitere halb dynamische, halb statische Metaphysik eröff­ net sich an jener Grenze, wo die Frage auftaucht, wodurch das, was Lebewesen untereinander kommunizieren, getragen und vermittelt wird. Der reine Raum? Die Materie, also der mit irgendetwas gefüllte Raum? Was man unmittelbar vom physischen Raum wahrnimmt, sind Sinnesqualitäten und deren Zusammenhangs- und Raum-Zeit­ momente, die Materie an sich, den notwendig anzunehmenden Träger der sinnlichen Wirklichkeit, der zwischen den Subjekten Wechselwir­ kung und Kommunikation ermöglicht und vermittelt, ist sinnlich nicht zugänglich. Da die Materie rein empirisch in ihrem Ansichsein nicht erfahrbar ist, eben weil alles Erlebte und Wahrgenommene nicht an sich, sondern im Subjekt als von diesem Subjekt abhängige Erscheinung besteht, stellt ihre Wesensbestimmung ein großes meta­ physisches Problem dar und gehört nicht von ungefähr zu den schwie­ rigsten philosophischen Herausforderungen, die dem reflektierten Denken gestellt sind. Denn wenn es einen selbständigen Träger der physischen Werdewelt gibt – und es muss ihn, wie gesagt, geben, weil sonst keine intersubjektive Kommunikation möglich ist und alles im Solipsistischen bleibt -, dann kann dieser in seiner Selbständigkeit tenz eines echten Dreieckes, das weder in der Natur noch im menschlichen Denken, sondern wegen seiner Unendlichkeitsverhältnisse nur in einem absoluten Denken bestehen kann, geht vom Empirischen aus und erreicht nicht synthetisch, sondern analytisch mittels regressiver Rückschlüsse sein Ziel, eben das echte reine Dreieck. So muss festgehalten werden, dass die notwendige und allgemeine Erkenntnis wie in der Mathematik und Metaphysik zwar mit der Erfahrung anfängt, aber keineswegs, wie I. Kant meint, unabhängig von der Erfahrung aus dem reinen Denken geschöpft wird, sondern in der Erfahrung deren zwar erfahrungstranszendente, aber mit der Erfahrung notwendig zusammenhängende, weil diese bedingende und begründende Seins- und Denkvoraussetzung dieser Erfahrung im und durch das Denken ermittelt wird. In und aus der Erfahrung zu den mit dieser notwendig zusammenhängenden, wenn auch erfahrungstranszendenten Seinsvoraussetzungen also. 87 Was z. B. von P. Plichta (2012) in Bezug auf die physische Natur nachzuweisen versucht wird.

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nicht die wesenhaft unselbständige Erscheinungswelt des sinnlich wahrnehmenden Bewusstseins sein, sondern bleibt grundlegend ver­ borgen und kann bestenfalls erschlossen werden. Und so ist es auch: Die Materie in ihrem substanzialen Kern, in ihrer echten Trägerfunk­ tion88 für alle physischen, kulturellen und sprachlichen Wechselwir­ kungen, ist eine transzendente, transempirische Wirklichkeit, der man nur auf Umwegen habhaft werden kann.89 Mehr vom Lebensweltlichen her öffnen sich metaphysische Regionen, wenn man die den meisten Menschen so selbstverständlichen, in Wahrheit nicht selbstverständlichen Sinn- und Wertfragen in den Blick nimmt. Hat das Leben, hat der Kosmos einen Sinn? Hat die ein­ zelne Existenz einen Wert, der über den Nutzwert für die Gattung hinausgeht und gewissermaßen einen Ewigkeitsstempel trägt? Ethik und Religion sind davon überzeugt, aber sie wissen, dass die tiefste Sinn- und Wertquelle solcher Phänomene wie Güte, Achtung, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe nicht in der naturalen Wirklichkeit allein wurzelt, denn dort regieren (oft) Gleichgültigkeit, Eigennutz, Vorteilsnahme, Rücksichtslosigkeit, Zerstörung, Neid und Hass, sondern, wenn sie nicht illusionär sein sollen, über die Welt in Sphären hinausweisen, die empirisch zwar nicht zugänglich sind, an die die ethisch ernsthaften und religiös hingebungsvollen Menschen aber zu allen Zeiten unerschütterlich geglaubt haben und sich von dorther berührt, getragen, genährt, auch korrigiert und ermahnt fühlen. Diese Metaphysik geht über eine bloß theoretisch-philosophische Metaphysik hinaus und bildet eine existenziell-ethische Metaphysik, wie sie etwa I. Kant mit Nachdruck vertrat, ohne die sich ein Mensch nur an relativen Realitäten orientieren kann. Wenn das ganze Sein dem Nichts verfällt, dann kann auch nichts eine letzte und höchste Gültigkeit besitzen, dann sind Güte, Achtung, Liebe und Wahrheit nichtshaft und am Ende seins-, sinn- und wertlos. Das aber wider88 Platon (1982, Bd. 5, 49a) spricht in seinem Dialog Timaios von der Weltmaterie treffend als Aufnehmerin und Amme des Werdens. Daran anknüpfend vertieft Plotin die Einsicht in das Wesen der Materie und erkennt viele ihrer Züge, z. B. den, dass sie die sichtbaren Wirkungen der Weltseele bzw. der Geistkräfte aufnimmt, ohne selbst wahrnehmbar zu sein, lädt aber diese tiefe Erkenntnis leider dann mit moralisierendnegativen Mythologemen auf und bezeichnet die Materie als böse, lügnerisch, maßlos und nichtseiend. Vgl. hierzu kritisch-zusammenfassend F. Billicsich (1955, 113–116). 89 Vgl. B. v. Brandenstein (1966, 265ff.), Grundlegung der Philosophie, Bd. 3, III. Die Materie und (1955, 166–174), 11. Kap.: Die Materie und der Raum, der die Andeutun­ gen Platons und Plotins zum Wesen der Materie durchdenkt, reinigt und versachlicht.

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1.6. Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft

spricht ihrem unmittelbaren Seinssinn und dem ihm korrespondierenden Wertgefühl in eklatanter Weise, wie I. Kant, E. Husserl, M. Scheler, N. Hartmann, J. Hessen, D. v. Hildebrand, K. Jaspers und B. v. Brandenstein, und früher schon Sokrates, Platon, Aristoteles, Boe­ thius, Thomas v. Aquin, R. Descartes, G. W. Leibniz, B. de Spinoza, G. W. F. Hegel u. v. a. herausgestellt haben.90 Wer konsequent alle Metaphysik leugnet, der darf folgerichtigerweise, wie N. Hartmann91 betont, weder Logik noch Erkenntnistheorie, weder Mathematik noch Naturphilosophie, weder Ethik noch Tiefenpsychologie,92 weder Archäologie noch Geschichte,93 weder Ästhetik noch Religionsphilosophie betreiben – das ergibt alles keinen Sinn und wird bestenfalls zu einem konventionalen Wort- oder Sprachspiel. Ob und wie Metaphysik methodisch solide möglich ist, werden die nächsten Kapitel mit dem Aufweis der spezifisch metaphysisch-philosophischen Erkenntnismethode und ihrer Konfrontation mit der Metaphysikkritik, besonders der von I. Kant, zu zeigen versuchen.

1.6. Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft Immer wieder ist in Philosophie und Wissenschaft zu hören, die An­ nahme übersinnlicher, genauer, transempirischer Wirklichkeiten sei überflüssig und müsse mit dem Occamschen Rasiermesser eliminiert werden.94 Vorsichtigere Denker zeigen dagegen, dass diese Einstel­ lung unhaltbar ist oder nur selten konsequent durchgehalten wird.95 Ihre Antipoden F. Nietzsche, M. Heidegger und J.-P. Sartre sehen das nicht mehr. Vgl. N. Hartmann (1933, 296ff.). 92 Und überhaupt keine Psychologie. 93 Wie gesagt, muss auch der Historiker insofern »Metaphysik« voraussetzen, als er die Vergangenheit bzw. das, was vergangen ist und nicht mehr unmittelbar erfahren werden kann, als (ehedem) real voraussetzt. 94 Siehe W. Occam (1998, 249): »Nichts darf man ohne eigene Begründung anneh­ men, es sei denn, es sei evident oder aufgrund von Erfahrung gewusst oder durch die Autorität der Heiligen Schrift gesichert.« In klassischer Form findet sich der Satz erstmals bei Johannes Clauberg (Logica vetus et nova 1654, p. 320): »Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem [oder: sine necessitate]«, deutsch: »Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden.« 95 Zu ihnen gehört z. B. H. Jonas (1988, 64). Auch R. Wiehl (1996, 10) fragt zu Recht, ob eine von allen metaphysischen Resten gereinigte Erfahrung »nicht ein Kunstprodukt sei, ein Destillat aus der Erfahrung, welches in Wahrheit immer auch 90

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

Klassisch ist der Denkfehler im angeblich metaphysikfreien Mate­ rialismus, dem entgeht, dass die Annahme einer selbständig-wirkli­ chen Materie nicht allein auf sinnlicher Erfahrung beruhen kann, da das Wesentliche dieser Materie, ihre angenommene Selbständigkeit (Substanzialität), nicht in der Sinneswahrnehmung erscheinen kann, wo nur unselbständige, von der Wahrnehmung und dem Denken abhängige Phänomene, eben die Empfindungen und Vorstellungen als Korrelate bzw. Repräsentanten der physischen Welt, erfahren werden. Daraus folgt nicht, dass diese Sinneswahrnehmung in ande­ rer Hinsicht nicht etwas vom Wesen der Materie enthüllen könnte, aber die Substanzialität der Materie kann sie nicht direkt sichtbar machen. Zudem gilt, dass jede Wahrnehmung von Materie ein see­ lisch-geistiger Akt und daher geistig mit- oder rekonstruiert wird, also keineswegs ein »factum brutum« ist. Gerade das Materiekonzept ist im höchsten und unvermeidlichen Maße geistig und metaphysisch. Eine Denkinkonsistenz ähnlicher Art bietet der Metaphysikkri­ tiker I. Kant, der sagt, der menschliche Geist könne von den Dingen, wie sie an sich existieren, nichts, sondern nur von ihren der Wahr­ nehmung bewussten Erscheinungen wissen, deren Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung mit den Dingen theoretisch nicht über­ prüfbar sei, und der dennoch gleichzeitig zu wissen angibt, dass diese angeblich unwahrnehmbaren und unerkennbaren Dinge an sich 1. 2. 3. 4. 5.

existieren, viele – und nicht etwa eins – sind, den Sinnesapparat affizieren, also aktiv sind (!), nicht räumlich und nicht zeitlich sind (!) und dadurch, dass sie auf den Wahrnehmungsapparat wirken, die erlebten Phänomene kausal hervorbringen, vor allem die vom Menschengeist nicht erzeugbaren Sinnesqualitäten.96

ein Anderes in sich enthalte oder doch auf ein solches verweise.« Wenn die Erfahrung einen solchen Rest real enthält, ist er allerdings als solcher nicht »metaphysisch«, also transempirisch, wogegen die Erfahrung in der Tat so beschaffen sein kann, dass sie über die Erfahrungsgrenze hinausweist. Obwohl R. Wiehl selbst allerdings keinen Weg zu einer neuen oder zur alten Metaphysik angibt, auch nicht geben will, so meint er doch, dass die Erfahrung die Metaphysik als Gegenpart und Kontrast brauche. Dieses »Brauchen« bleibt bei ihm unbestimmt, da er nicht zeigt, wie das Denken aus seinem unmittelbaren Erfahrungshorizont in die transempirischen Regionen vordringen könnte. 96 Wie man sieht, wendet I. Kant das Kausalprinzip auf das Ding an sich an, obwohl er stets betont, dass es nur auf die phänomenale Welt angewandt werden darf. So entsteht

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1.6. Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft

Schon J. G. Fichte97 erkannte, dass hier ein Widerspruch vorliegt, der entweder zur völligen Verwerfung der Dinge an sich führt – so die Entscheidung J. G. Fichtes, der nur ein »Ding an sich« anerkennt, das absolute Ich – oder die Annahme zulässt, dass vom Ding an sich irgendetwas erkannt werden kann.98 Im letzten Fall, den I. Kant selbst um den Preis der epistemologischen Inkonsequenz vertritt, hat man es mit Metaphysik zu tun, also mit der Annahme einer Wirklichkeit, die sich der direkten Erfahrung entzieht und anderweitig erschlossen werden muss. Umso überraschender ist es, dass I. Kant, der bezüglich transempirischer Realitäten alle logischen Beweise für unmöglich hält, dennoch mittels eines echten Beweisverfahrens die notwendige Realität der Dinge an sich gegen G. Berkeley (und J. G. Fichte) festzustellen sucht, ja mehr noch im krassen Gegensatz zu seiner transzendentalen Raumtheorie, wonach der Raum nicht das Ding an sich, sondern nur die intrapsychischen Erscheinungen bestimme, behauptet: »Lehrsatz: Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewusst­ sein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir.«99 Als weiteres Beispiel, das bei I. Kant eine Inkonsistenz enthüllt, die für seine Philosophie und Erkenntnistheorie grundlegend ist, sei seine Auffassung genannt, die besagt, dass das, was dem Einzelmen­ schen in seiner Wahrnehmung von der Welt erscheint, von einer all­ gemeinen, alle Menschen auszeichnenden Vernunftstruktur geprägt »schlechte« Metaphysik. Vgl. übereinstimmend die differenzierte und durchdringende Kritik von O. Willmann (1979, Bd. 3, 280ff.). 97 Vgl. J. G. Fichte (GA I, 4, 1962–2011, 216). 98 Die Position des »kritischen Idealrealismus«, die hier vertreten wird, unterstellt, dass die physische Wirklichkeit im Bewusstsein des Erkennenden erscheinen kann, aber nicht in identischer, sondern in analoger und meist nur approximativer Weise. Letztlich steht dahinter die Annahme, dass Subjekt und Welt, was ihre Grundstruk­ turen betrifft, denselben grundlegenden Seinsgesetzen unterstehen. Würde das nicht zutreffen, wäre der Weltbegriff unsinnig und wären Weltwirken, Interaktion und Kommunikation prinzipiell unmöglich. Diese Wahrnehmungs- und Erkenntnistheo­ rie schließt ein, dass das Subjekt im Erkenntnisvorgang aktiv ist, allerdings überwie­ gend rezeptiv-aktiv (»nachgestaltend«), und schließt nicht aus, dass es zuweilen, z. B. wie bei den so genannten »Sinnestäuschungen« zwecks besserer praktischer Weltori­ entierung, darüber hinausgeht und etwas in der Wahrnehmung »dazu konstruiert«, was so nachweisbar nicht gegeben ist. Vgl. ähnlich J. Halfwassen (2015) und B. v. Brandenstein (1965a; 1965–1970), die erweisen, dass die Grundbestimmungen von Sein und Denken in gleicher bzw. analoger Weise gelten und so »Metaphysik als Wissenschaft« möglich machen. 99 Siehe I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, B 275, 254–257).

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

und geformt sei, so vor allem von den apriorischen Anschauungsfor­ men der Zeit und des Raums und von den Kategorialstrukturen des Verstandes (Substanz, Kausalität etc). Auch in dieser Auffassung, die von niemandem bestritten wird, steckt insofern Metaphysik, als die Vernunftstruktur aller Menschen nicht als solche erfahrbar und analysierbar ist, sondern nur von einem konkreten Menschen in seiner eigenen Vernunfttätigkeit aufgedeckt werden kann. Die Übertragung auf alle – Vergangenheit und Zukunft einschließenden – Menschen, Völker und Kulturen bzw. überhaupt, wie bei I. Kant, auf alle geistigen Wesen kann empirisch nicht verifi­ ziert werden, ihre Gültigkeit liegt jenseits aller möglichen Erfahrung und ist daher transempirisch. Selbst die philosophische Phänomenologie (E. Husserl, M. Scheler, N. Hartmann, M. Heidegger u. a.), die am nur erfahrenen Phänomen zu bleiben versucht, kommt nicht ohne metaphysische Annahmen aus, etwa wenn sie wie E. Husserl die Existenz eines »absoluten Ichs« oder zeitüberlegener Wesenheiten (»Ideen«) an­ nimmt oder wenn sie von einem echten »Selbst« spricht, dem die Wesensmomente der Eigenaktivität, der Intentionalität, der Selbst­ gewahrung und damit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, also Freiheit zukommen. Alle diese Wesenszüge lassen sich rein deskriptiv nicht gewinnen, sondern müssen argumentativ ermittelt werden und weisen über die bloße Anschauung hinaus. Zwar wäre ein absoluter und reiner Phänomenalismus frei von aller transempirischen Theorie möglich, doch ist er nirgendwo anzutreffen, da er für den Menschen in seinem existenziellen (Un-)Ernst belanglos ist. Damit nicht genug: Auch ein solcher Phänomenalismus sieht sich mit der Frage konfron­ tiert, was wie wem erscheinen kann – womit er sich schon selbst transzendiert und die metaphysische Grenze berührt.100 Wie sogleich dargelegt, lässt sich das Phänomenale nämlich in seiner Gänze und Wurzel rein phänomenal nicht fassen. Analog verhält es sich mit der Gesamtheit der Natur- und Geisteswissenschaften, da sie alle unbewusst metaphysische Voran­ nahmen machen und sich darum aufheben, wenn sie solche verleug­ nen. Die Physik etwa geht davon aus, dass Zeit, Raum, Materie und Energie nicht nur Sinnesphänomene bzw. nur innerpsychische Realitäten (Empfindungen und Phantasien), sondern Wirklichkeiten bzw. Aspekte derselben sind, die zwischen den wahrnehmenden 100

Vgl. übereinstimmend W. Stegmüller (1969).

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1.6. Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft

Subjekten bestehen und eine eigenständige Welt bilden, die schon vor dem Menschen und über ihn hinaus Bestand hat.101 Das aber ist eine metaphysische Annahme, die rein empirisch nicht validiert werden kann. Metaphysisch-erkenntnistheoretisch ist ebenfalls die Annahme, der menschliche Erkenntnisapparat könne von der Welt an sich mehr oder weniger adäquate Begriffe bilden, und metaphysisch ist erst recht die physikalische Annahme, der Kosmos habe einen ersten Beginn, vor dem entweder nichts oder eine unendlich ruhende Energieballung oder eine anfangslos-unendliche Aneinanderreihung von explodie­ renden und wieder zusammenfallenden Universen bestand.102 Die Biologie wiederum setzt transempirisch-metaphysische Realitäten voraus, wenn sie das Prinzip des Lebendigen objektiv setzt und nicht auf rein physikalisch-chemische Bedingungen zurückführt, selbst dann, wenn sie offenlässt, woher dieses Lebensprinzip stammt. Die historischen Wissenschaften müssen, wie gesehen, anneh­ men, dass die Vergangenheit, die insofern metaphysisch ist, als sie verschwunden ist, in der erfahrbaren Gegenwart Spuren hinterlässt, die den Menschen über das Verschwundene etwas Reales mitteilen. Ähnlich unterstellt die Psychoanalyse die empirisch nicht direkt überprüfbare, sondern nur erschließbare, darum wesenhaft trans­ empirisch-metaphysische Existenz des Unbewussten, was S. Freud durchaus bewusst war. Und überhaupt stehen die Geisteswissenschaf­ ten auf metaphysischem Grund, wenn sie annehmen, dass die geistige Produktion eine eigenständige Quelle besitzt, die sich nicht in bloßer Eine in der Physik seltene Ausnahme ist der Physiker E. Mach (1838–1916), der alle Realität auf »Empfindungen« reduzieren wollte. 102 Wie weit der metaphysische Eifer in der Physik gehen kann, beweist die unter Physikern weit verbreitete Annahme, im Urknall sei die Energie auf einen echt unendlich kleinen Punkt zusammengeballt gewesen, sprich auf eine Art echten mathematischen Punkt. Es ist aber klar, dass ein unendlich kleiner Punkt weder wahrnehmbar noch feststellbar, allerdings rein mathematisch berechenbar ist, und es kann gezeigt werden, dass er als physikalische Realität unmöglich ist. Denn vom unendlich Kleinen lässt sich auf zeitlich-endliche Weise niemals ein Übergang zum zeit­ lich-räumlich Endlich-Ausgedehnten herstellen und entsprechend kann sich aus solch einem Punkt unmöglich das bekannte und stets ausgedehnte Universum entwickelt haben. Analog verhält es sich mit der These der »keine-Grenze-Bedingung« von S. Hawking (2010), die besagt, dass der Urknall aus einem anfangslos-zeitlos, also ewig unverändert bestehenden Vorzustand hervorgegangen sei. Was aber in der Ewigkeit, die ja unendlich ist, nicht geschah, kann nie geschehen; das zeigte schon I. Kant in seiner ersten Antinomie. 101

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Psychobiologie erschöpft, sondern z. B. Güter, Werke und Werte schafft, die für sich Bestand und Geltung haben. Und selbst die Mathematik ist ohne Metaphysik unmöglich, zumindest dann, wenn sie echte Punkte, Geraden, Linien, Flächen, die Menge aller natürlichen Zahlen, die irrationalen Größen und damit das unendlich Kleine und das unendlich Große, das sich jeder Anschauung entzieht, zulässt. Schließlich und endlich ist jede Aussage metaphysisch, auch wenn sie von einer Erfahrung ausgeht, die das Bestehen einer echten Wirklichkeit behauptet. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, beweist die Seinskonzeption Gautama Buddhas (etwa von 560–480 v. Chr.), der alles Erfahrbare, sowohl das seelisch-geistige Innenle­ ben als auch die physische Realität, für nicht-substanzial, für »nichtinsistent«, also für nicht-wirklich bzw. für eine bloße Illusion oder Projektion hält. Allerdings fragt sich, wer hier mit welcher Kraft illusioniert bzw. projiziert – soll es sich dabei wieder nur um eine Illusion oder Projektion oder nicht doch um ein reales, wirkliches Wesen handeln, das die gewaltig-schöpferische Kraft besitzt, ein ganzes Universum zu imaginieren? Wenn Buddha dem Menschen die Möglichkeit zugesteht, aus eigener Entscheidung und Kraft sich von dem sonst von ihm als deterministisch gedeuteten samsarischen Weltlauf (dem bedingten Entstehen) zu lösen, dann ergibt dies nur unter der metaphysischen Annahme einen Sinn, dass solch ein sich befreiendes Wesen über eine innere Freiheitspotenz verfügt und fähig ist, sich selbst und anderes zu bestimmen. Ein Wesen nämlich, das sich aus sich selbst bestimmt, ist eo ipso selbständig, eigenständig, im echten und vollen metaphysischen Sinne »substanzial« und nicht nur passive Erscheinung, Akzidenz, Illusion oder Projektion. Denkt man die Sache weiter und erkennt, dass die Behauptung, alles Seiende sei unselbständig und nur abhängig wirklich bzw. nur phänomenal, in einen infiniten, nie fertigen, immer fragmentarischen Regress führt, ersieht man, dass solche Unselbständigkeit eine ver­ borgene selbständige Wirklichkeit impliziert, weil alles Unselbstän­ dige nur dadurch unselbständig ist, dass es von einem eigenständig Wirklichen abhängt. Da das Sein im Letzten nur ein Ganzes sein kann, denn ein Fragment, dem nichts fehlt, ist ein Widersinn, muss das Ganze als Ganzes notwendig unabhängig und selbständig, also voll­ wirklich sein. Selbst im Falle eines real anfangslosen Weltgeschehens, das sich im infiniten Regress des Denkens andeutet, wäre die unend­ lich-anfangslose Reihe des bedingt Entstehenden als solche ganz,

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1.6. Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft

genauer, unendlich-ganz und damit als ganze notwendig selbständig und nicht nur das Akzidens oder die bloße phänomenale Erscheinung irgendeiner weiteren Wirklichkeit.103 Ergo: Phänomenalität ist wirk­ lichkeitsfrei nicht zu denken. Die Wirklichkeit als selbständiges An-sich-sein, wo auch immer sie anzutreffen ist, ist demnach, wie schon Aristoteles104 betonte, die erste und oberste Kategorie des Seins und Werdens. Solche Wirklichkeit ist für den begrenzt und perspektivisch wahrnehmenden Menschen nur bedingt erfahrbar und reicht über den Erfahrungshori­ zont hinaus, weswegen sie metaphysisch ist. Selbst wer sie leugnet, setzt sie voraus, wenigstens insofern, als er sein Leugnen für wirklich, für seiend, für wirksam, dynamisch-aktiv und für wahr hält. Das Wirkliche als solches bzw. das Wirkliche überhaupt ist daher nicht zu leugnen; es kann nicht nur unwirkliche Erscheinungen, Illusionen und Projektionen geben, da alle diese entstehen und daher eines realen, wirklichen, weil wirksam-dynamischen Entstehungsgrundes und einer sie tragenden Wirklichkeit bedürfen, die, auch wenn sie nicht direkt erfahren werden kann, gedacht werden muss. Dass schlussendlich auch der Alltagsmensch zahllose metaphy­ sische Vorannahmen macht, meist in der Tat naive, manchmal ver­ schrobene und phantastische, das braucht hier nicht belegt zu werden. Doch beweist dieses unreflektierte Verhalten, dass im Menschen eine Zumindest muss derjenige, dem etwas erscheint, als Wirklichkeit und nicht mehr nur als Phänomen angesetzt werden, da er rein passiv nicht gedacht werden kann. Denn er muss mindestens in der Lage sein, sich das Phänomen erscheinen zu lassen. Das aber impliziert Aktivität, Eigenheit, Bewusstsein, Intentionalität und basale Reflexivität, also »Geist«, selbsttätigen, damit selbständigen Geist. Was aber selbständig ist, ist eo ipso wirklich und nicht nur Erscheinung, nicht nur Akzidenz oder Effekt. Daher kann entgegen I. Kant das empirische Ich nicht nur Erscheinung, sondern es muss, da es sich unmittelbar als selbsttätig-wirksam, selbstgewahrend und selbstgestaltend erfährt, zumindest auch »Ding an sich«, selbständige geistige Realität sein. Im Grunde meinte genau dies R. Descartes mit seinem »Cogito, (ergo) sum.« Wohl ermittelte er nicht, was er genau unter dem Sein des sum versteht, aber aus dem Kontext wird klar, dass er damit nicht etwas bloß Erscheinendes/Phä­ nomenales, sondern etwas wirksam und daher selbständig Seiendes, in diesem Sinne eine echte lebendige Substanz meinte, die nach I. Kant angeblich nie erfahren, nur transzendental als notwendige Voraussetzung des empirischen Ich erschlossen werden kann. Dagegen revoltierten zu Recht die deutschen Idealisten, auch wenn sie über das Ziel hinausschossen und das substanziale Ich zu einem göttlichen Ich verabsolutierten. Ein aktueller Vertreter solch eines »neuen Realismus«, der nicht nur das Bestehen echter Wirklichkeit, sondern auch ihre Erkennbarkeit vertritt, ist M. Gabriel (2018). 104 Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 5, Buch IX, Kap. 7–8). 103

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tief berechtigte Ahnung steckt, dass es über ihn hinaus Wirklichkeiten gibt, die er zwar nicht eins zu eins in seiner Erfahrung abbilden, mit denen er aber irgendwie in Verbindung treten kann und immer schon verbunden ist. Denn alles Metaphysisch-Transzendente, wenigstens insofern es für Menschen relevant ist, ragt, obschon nur in Spuren, in die Immanenz ihres Erlebens und Lebens hinein, ob es die objektive Materie ist oder das andere, nicht als solches erfahrbare Ich (das Du), ob es der Ursprung der Dinge oder ihr geheimnisvolles Ziel ist, ob es die idealen mathematischen Größen oder die ethischen Werte, das Unbewusste oder das transzendentale Ich, die Vergangenheit oder die Zukunft sind. Alles ist mit allem verbunden und bildet dadurch nicht nur Differenzen und Grenzen, sondern überspannt diese auch. Wie solch ein Überstieg theoretisch möglich ist, soll bald dargelegt werden.

1.7. Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik Ein Hauptvorwurf an alle Metaphysik, insofern sie mit dem Anspruch auftritt, Wissenschaft von der Wirklichkeit als ganzer und in ihren letzten Gründen zu sein, lautet, dass sie im willkürlich phantastischen Sinne »spekulativ« sei. Damit meint man, dass sie erstens auf keinem ausweisbaren empirischen Boden stehe und zweitens willkürlich aus allgemeinen Begriffen deduktiv konkrete Realitäten und spezifische Wahrheiten ableite. Es kann kein Zweifel bestehen, dass dieser Vor­ wurf, den I. Kant als erster mit epochaler Wirkung erhebt, in einigen Fällen zu Recht besteht. Denn wenn am Anfang eines Diskurses keine Erfahrung, sondern ein »bloßer« allgemeiner Begriff steht, aus dem dann versucht wird, das konkrete Weltgebäude deduktiv, vom Allgemeinen zum Besonderen übergehend, abzuleiten, dann hat man es mit einer Fehlform der Metaphysik und damit des philosophischen Denkens überhaupt zu tun.105 Die Kritik setzt dabei an zwei Punkten an: Erstens kann mensch­ liches Denken, wenn es nicht beliebig oder dogmatisch sein will, nicht anders, als von irgendeiner Erfahrung auszugehen, welche allerdings nicht die sinnliche sein muss, sondern auch eine imaginative, ideale oder reflexive sein kann; und zweitens kann aus allgemeinen Begrif­ fen unmöglich ein weniger allgemeiner Begriff oder eine konkrete 105 L. Feuerbach (1955, 80) sagt klug und kritisch: »Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie, zu beginnen.«

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1.7. Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik

Wirklichkeit deduktiv abgeleitet werden. Denn im Allgemeinen ist niemals das Besondere, vielmehr im Besonderen das Allgemeine enthalten. Allein aus dem Begriff Mensch kann niemand ersehen, welcher konkrete Mensch gemeint ist; dagegen kann aus Sokrates, der unmittelbar, direkt, ganzheitlich, also »intuitiv« erfahren werden muss (soll er überhaupt erfahren werden), das Menschsein analytisch ermittelt werden. Letzteres ist aber keine synthetisch-deduktive, sondern eine analytisch-reduktive Operation. Wie man sieht, übertragen deduktive Philosophien das mathe­ matische Verfahren, wo solche Deduktion oder besser operative bzw. kombinatorische Konstruktion möglich ist, auf das ganz anders geartete philosophische Denken, das umgekehrt verfährt, indem es »reduktiv« oder »regressiv« aus konkreten Erfahrungsinhalten deren notwendige und meist allgemeinere Seinsvoraussetzungen rückfragend, rückführend und damit analytisch und nicht synthetischkonstruktiv (wie in der Mathematik) aufzudecken und zu erschlie­ ßen sucht. Was die deduktiv-synthetische Begriffsbildung betrifft, sind klassischerweise die Philosophen C. Wolff, B. de Spinoza und G. W. F. Hegel zu nennen, die aus obersten und allgemeinen Denkgesetzen mittels einer scheinbar an die Mathematik angelehnten Methode das konkrete Seins- und Weltgeschehen an der Empirie vorbei zu deduzie­ ren suchten. So will C. Wolff106 (1679–1754) aus bloß denklogischen 106 Vgl. C. Wolff (1720, Kap. 2.), Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt und (1728) in dem zusammenfas­ senden Werk Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen. Kritisch nimmt W. Stegmüller (1970b, 12ff.) zu C. Wolff Stellung; vgl. auch den Artikel über C. Wolff von L. Kreimendahl (1994, 215–246). Eine genauere Analyse zeigt, dass C. Wolff die philosophische Zentralmethode zwar gut sieht, die darin besteht, durch Argumente von empirischen Tatbeständen zu deren bedingenden und ermöglichenden Gründen reduktiv zurückzufragen. Doch vermischt er dies mit der mathematischen Deduktion, die operiert, konstruiert und kombiniert, nicht analytisch auflöst und nicht vom Bedingten zum Bedingenden zurückfragt, sondern umgekehrt vom Bedingenden Bedingtes synthetisch abgestaltet. Hierin verfällt er wie viele Denker seiner Zeit dem »Zauber« des mathematischen Szientismus. Vgl. auch: C. Wolff (1730, § 27ff. und § 56ff.), Erste Philosophie oder Ontologie. Eine tiefdringende Kritik bietet H. Pichler (1910, 7f.) in Über Christian Wolffs Ontologie. Was das konkrete Beispiel betrifft, so ist kritisch zu sagen, dass zwar der Kausalsatz den Identitätssatz voraussetzt, jener aus diesem jedoch nicht ableitbar ist. Denn der Identitätssatz gilt schon für ein einziges Seiendes, während die Geltung des Kausalsatzes mindestens den Zusammenhang von zwei Wirklichkeiten voraussetzt. Damit ist evident, dass dieser nicht aus jenem deduktiv gewonnen werden kann.

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Regeln, z. B. aus dem Satz des Widerspruches, Seinsverhältnisse, also etwa die Kausalität bzw. den Satz vom zureichenden Grunde und die Naturgesetze, deduktiv ableiten, und so beginnt B. de Spinoza107 seine »Ethik« mit einer dogmatischen Definition der absoluten, nur selbstbestimmten Substanz (causa sui). In ähnlicher Weise hebt G. W. F. Hegel108 in seiner »Wissenschaft der Logik«109 mit dem reinen allgemeinen Sein an, um dann daraus mittels der dialektisch-syn­ thetischen Methode ohne Rückbezug auf die Empirie alles weitere konkrete Weltsein, z. B. das Werden, deduktiv abzuleiten.110 Da fragt sich sogleich, ob solche Begriffe wie absolute Substanz, Causa sui, reines Sein und reine Vernunft überhaupt sinnvoll sind, also eine echte Realität treffen oder nur leere Begriffshülsen darstel­ len?111 Unumstößliche Tatsache ist, dass die Menschen in ihrem Wahrnehmen und Denken nur konkret Seiendes, dieses und jenes und alles in gegenseitiger Abhängigkeit erfahren – von einer reinen absoluten Substanz oder einem reinen Sein, frei von allen konkreten qualitativen Bestimmungen und unabhängig nur in sich stehend, wissen sie nichts, zunächst jedenfalls nichts. Somit lässt sich nicht davon ausgehen, hier baut alle Deduktion, kritisch gesehen, auf Sand. Zu Recht sagt daher W. Windelband, nachdem er die außeror­ dentliche Leistung G. W. F. Hegels gewürdigt hat: »Freilich entfaltete er am Gegebenen die Willkür des konstruktiven Denkens, die das Wirkliche nicht darstellte, wie es empirisch sich darbietet, sondern so, Vgl. B. de Spinoza (1967, 3, 1. Definition). Vgl. G. W. F. Hegel (1986, 82f.). 109 Vgl. die treffende Kritik der hegelschen Wissenschaft der Logik durch L. Feuerbach (1955, 58ff.), insbesondere ihres »Nichtsdiskurses«; vgl. zu Sein und Nichts Aristote­ les: Metaphysik IX, 10; vgl. A. Lehmen (1923, Bd. 1, 327ff.); vgl. J. B. Lotz (1992, 269f.) in W. Brugger (1992). 110 Auch I. Kant lehnt sich an die Mathematik an und entwickelt daraus z. B. seine transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe und der Natur der reinen Vernunft, ja er meint sogar, die Naturgesetze aus dem Wesen der Vernunft ableiten zu können. In Wahrheit handelt es sich aber nicht um eine mathematische Deduktion apriorisch synthetischer Urteile, sondern um eine Rückschließung (Reduktion oder Regression) von der Erscheinungswelt auf ihre notwendig anzunehmenden Denkund Seinsvoraussetzungen mittels reduktiv-regressiver, immer analytischer Urteile. Diskursivität zwar allemal, aber nicht deduktive Diskursivität, die nur in der Mathe­ matik, nicht aber in Logik und Philosophie möglich ist, wo alle Diskursivität reduktiv und regressiv verfährt. 111 Causa sui nicht im unmöglichen Sinne einer Selbstverursachung bzw. Selbsther­ vorbringung (aus nichts), sondern einer ursprünglichen Selbstbestimmung. Besser wäre daher »Conditio sui« oder »Determinatio sui«. 107

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1.7. Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik

wie es in der dialektischen Bewegung sein sollte, und die Vergewalti­ gung des Tatsächlichen konnte da bedenklich werden, wo er versuchte, das empirische Material in ein philosophisches System zu bringen, so in der Naturphilosophie, in der Geschichte der Philosophie, in der Geschichte überhaupt.«112 Darüber hinaus fragt sich, wie die Erkenntnismethode der De­ duktion überhaupt gerechtfertigt werden kann, und da zeigt sich, dass hier in fundamentaler Weise Willkür im Spiel ist, die dem echten Erkenntnisprozess zuwiderläuft. Wenn G. W. F. Hegel aus dem reinen Sein die Identität desselben mit dem reinen Nichts dialektisch dedu­ ziert und daraus – als Wechselspiel von Sein und Nichts – das Werden ableitet, dann kann dies nur um den Preis der Täuschung gelingen, da erstens die Identität als grundlegender Selbstzusammenhang des Seins dem Nichts nicht zukommen kann, weil das Nichts sonst ein Seiendes wäre, woraus folgt, dass das Sein mit dem Nichts unmöglich identisch ist, und da zweitens das angeblich reine Nichts, wie L. Lütkehaus113 zu Recht betont, bei G. W. F. Hegel keineswegs rein, sondern sehr seinshaltig und seinswirksam ist und bei G. W. F. Hegel in der Konstitution des Werdens als realer, weil wirksamer Gegenpart zum Sein fungiert, womit es seine Nichtshaftigkeit verliert. Bedenkt man das Wesen des Begriffs der Sache und dem Wesen des Erkenntnisvorganges nach, liegt auf der Hand, dass ein echter Begriff nur an und in etwas Begriffenem gebildet werden kann. Wo nichts, also nichts Seiendes im weiten und nicht nur physischen Sinne begriffen wird, da kommt kein Begriff zustande. Woher rührt aber das zu begreifende Seiende? Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird dieses Seiende unmittelbar wahrgenommen (etwa auch selbst erzeugt wie in der Phantasie und im Handlungsgeschehen) oder es wird mittelbar erschlossen. Im zweiten Fall gelingt die Erschließung nur, wenn sie von etwas ausgeht, das unmittelbar gegeben, unmittel­ bar erfahrbar ist, da sonst die Erschließung keinen Ausgangspunkt besitzt. Ein echter Begriff impliziert daher letztlich immer einen direk­ ten, unmittelbaren Erfahrungsgrund, auch wenn er sich in vielen Fäl­ len darin nicht erschöpft. So geht z. B. der Begriff »Vergangenes« von den unmittelbaren Erfahrungstatsachen erstens des »Gegenwärtigen« und zweitens des »Wandelbaren, Wechselhaften« aus, erschöpft sich darin aber nicht, sondern schließt über das Erfahrene in eine Sphäre 112 113

Siehe W. Windelband (1957, 527). Vgl. L. Lütkehaus (2005, 660).

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

zurück, die nicht mehr als solche erfahren werden kann, eben die Vergangenheit. Als Argument lautet dieser Gedankengang: »Wenn etwas existiert und (mir) gegenwärtig ist, was gewiss ist, und wenn dieses Gegenwärtige wandelbar ist, was ebenfalls sicher ist, da seine Veränderbarkeit erfahren wird, gilt unter der Annahme, dass diese Veränderlichkeit schon vor der jetzigen Gegenwart in Aktion war, dass es Vergangenes als ehemals Gegenwärtiges als zeitliche und logische Voraussetzung des Jetzigen gegeben haben muss.« Im Begriff des Vergangenen verbinden sich unmittelbare Erfah­ rungstatsachen mit erfahrungstranszendierenden, hier allerdings nur hypothetischen Rückschlüssen. Doch ohne echte Erfahrungsgrund­ lage wären diese Rückschlüsse unmöglich. Das aber ist keine dem mathematischen Vorgehen analoge Deduktion (allerdings auch keine Induktion), sondern eine rückfragende und rückschließende, in die­ sem Sinne reduktiv-regressive Analyse, die aus einem Erfahrungs­ material dessen notwendigen Seins- und Denkvoraussetzungen er­ mittelt. Ein Begriff begreift demnach nur dann etwas, wenn er etwas unmittelbar Anschauliches fasst oder wenn er, von solchem aus­ gehend, nicht mehr unmittelbar Anschauliches mittelbar durch Rück­ schluss von unleugbaren Erfahrungstatsachen auf deren notwendige, wahrscheinliche oder mögliche Seinsvoraussetzungen erschließt. Gerechterweise muss gegenüber I. Kant, der eine Verflachungs­ form der Metaphysik, wohl die Wolffsche Schulmetaphysik, im Blick hatte, die er ansonsten selbst am Katheder lehrte, gesagt werden, dass die großen Metaphysiker wie Platon, Aristoteles, Boethius, Thomas v. Aquin, R. Descartes und G. W. Leibniz solcher falschen Begriffsbil­ dung selten verfallen sind. Im Gegenteil bedienten sie sich zumeist des korrekten Rückschlussverfahrens, ausgehend von unleugbaren Erfahrungstatsachen, deren notwendig oder wahrscheinlich anzuneh­ menden Seinsbedingungen sie dann mittelbar erschlossen. Keines­ wegs konstruierten sie wie C. Wolff, B. de Spinoza oder G. W. F. Hegel more geometrico oder more genetico-dialectico aus willkürlich bzw. dogmatisch aufgestellten Behauptungen irgendwelche »Wahr­ heiten«. Hier zeigt sich bei I. Kant eine Verkennung des wahren metaphysischen Erkenntnisverfahrens, wenn er die missbräuchlichen Fehlformen, die es zu seiner Zeit gab, mit seinen reifsten Hochformen undifferenziert zusammenstellt. Der Vorwurf des Dogmatismus trifft daher keineswegs generell, sondern nur für bestimmte Fälle zu. Echte metaphysische Begriffs- und damit Erkenntnisbildung geht nicht konstruierend vor, ist nicht synthetisch, daher auch nicht

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1.7. Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik

dialektisch oder genetisch, sondern immer diskursiv-analytisch, und zwar dadurch, dass sie aus etwas unleugbar Gegebenem bzw. ganz­ heitlich-direkt-intuitiv Ergriffenem wie z. B. dem Veränderlichen dessen innere, meist verborgene Grundstruktur analytisch-reduktiv herausarbeitet, um diese schließlich – wiederum analytisch, dann aber regressiv – auf dessen vorletzte und letzte Seinsvoraussetzungen »anti-genetisch«, sprich rückfragend, rückführend, anti-konstruktiv­ diskursiv zurückzuführen. Um einer größeren Klarheit willen schlage ich für dieses intuitiv-diskursive Erkenntnisverfahren daher das Kunstwort »Implikatanalyse« vor. Am Anfang seiner »Physik« hat Aristoteles114 dieses spezifisch der Philosophie eigene Erkenntnisverfahren klar formuliert: Alles philosophische Erkennen geht von dem für den Menschen erkennt­ nismäßig Ersten, das das seinsmäßig Spätere bzw. Letzte ist, aus und schreitet zum seinsmäßig Ersten, Grundlegenden, Ursprüngli­ chen, das das erkenntnismäßig Spätere, schließlich Letzte ist, durch eine Art Rückfragen und Rückdenken zurück. A. v. Pauler (1876– 1933), der Lehrer B. v. Brandensteins, rehabilitierte diese Denkme­ thode im 20sten Jahrhundert, reinigte sie und stellte sie als eigene Erkenntnismethode der Erfahrungs- oder Anschauungsintuition,115 der mathematischen Deduktion und der spezialwissenschaftlichen Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 6), Vorlesung über die Natur, Kap. 1. Es sei nochmals betont, dass alles Denken von der Erfahrung (sinnlich, introspek­ tiv, reflexiv) ausgeht, welche wiederum nur durch einen direkten, unmittelbaren, ganzheitlich-ungeteilten, konkreten Hinblick, sprich »intuitiv« bzw. »konspektiv« vollzogen werden kann. Die »Intuition« ist darum erweislich sowohl das Fundament aller diskursiven Erkenntnismethoden als auch der Abschluss eines jeden Diskurses. Falls es der meist zu übenden Intuition gelingt, in den Erfahrungsgegenstand tiefer und doch direkt hineinzuschauen, vielleicht sogar bis auf seinen anschaulichen Grund, dann erfolgt das, was E. Husserl »Wesensschau« (Ideation), J. G. Fichte »intellektuelle Anschauung«, H. Bergson »metaphysische Intuition« und was Thomas v. Aquin »Abstraktion« als das direkte Abheben einer Form vom sinnlichen Grund nennt. Aus dem Phänomen wird seine qualitative Eigenart direkt erfasst und ihre innere, sachlogisch und begrifflich gefasste Binnenstruktur herausgehoben. Um der Ideation aber epistemologisch Geltung zu verschaffen, muss sie auf einem nicht-intuitiven, diskursiven Weg gesichert, sprich methodisch begründet werden. Das leisten H. Bergson und E. Husserl, soweit ich sehe, nicht. Überhaupt fehlt bei E. Husserl, M. Heidegger und anderen Phänomenologen und Existenzialphilosophen zwar nicht der philosophische Ergründungsimpuls, aber der dazu notwendig hinzugehörende Begründungswille mit seiner entsprechenden philosophischen Begründungsmethodik, vor allem mit der Arbeit an der »negativen Evidenz« mittels der argumentatio ex negativo. So sieht es auch V. Hösle (1997, 87–99). 114

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Induktion gegenüber und nannte sie »philosophische Reduktion«.116 In Wahrheit findet sie in allen Wissenschaften Anwendung, doch in der Philosophie strebt sie erkenntnismäßig bis zu den letzten, nicht mehr weiter auflösbaren Gründen des Seins, Lebens und Erkennens und, wenn möglich, mittels notwendiger, damit gültig begründender Rückschlüsse zurück. Neben der deduktiven bzw. dialektischen Metaphysik, die in der Geschichte der Philosophie das wichtigste nicht-reduktiv-regressive Modell von Metaphysik war, gibt es weitere metaphysische Konzepte, und zwar die intuitiven, deskriptiven und die induktiven. Da ihre Inkonsistenz evident ist – handelt es sich bei allen doch um »hölzerne Eisen« -, müssen sie nicht umständlich widerlegt werden. Gemäß ihrem eigenen methodologischen Ansatz setzen alle drei – die intui­ tive Metaphysik z. B. H. Bergsons,117 die deskriptive Metaphysik z. B. P. Strawsons118 und die induktive Metaphysik z. B. von C. Th. Fechner, H. Lotze, W. Wundt119und R. Swinburne120 – nicht nur in der Erfah­ Vgl. A. v. Pauler (1925, 7–19), (1929, 269ff.), (1936). Auch N. Hartmann (1964, 18ff.) erkennt die Untauglichkeit von Induktion und Deduktion für die Auffindung der Grundprinzipien von Sein und Denken (damit für das philosophische Denken) und favorisiert die »analytische Reduktion«, die vom Gegebenen der Erfahrungstatsachen zu seinen in ihm verborgenen Grundbestimmungen zurückschließt. Für N. Hartmann ist charakteristisch, dass er diesen Prozess, darin I. Kant folgend, für bloß hypothetisch und für unabschließbar hält. Damit gibt er jedoch zu, dass er die Grundbestimmungen prinzipiell nicht auffinden kann. Das trifft schon deswegen nicht zu, weil erstens die Grundbestimmungen die notwendigen, also nicht hypothetischen Voraussetzungen der auf ihnen aufgebauten Folge- oder Erscheinungsbestimmungen des Gegebenen sind und weil zweitens nur jene Bestimmungen Grundbestimmungen sind, die an ihnen selbst ihr Grundsein ausweisen, und zwar so ausweisen, dass ihre Verneinung den gegebenen Erfahrungssachverhalt aufheben würde, was heißt, dass ihre Vernei­ nung unmöglich ist. Genau das meinen Thomas v. Aquin mit seinen »Ursätzen« und B. Bolzano mit seinen »Sätzen an sich«. 117 Vgl. H. Bergson (1985, 126–148). 118 Vgl. P. Strawson (1972). 119 Siehe W. Wundt (1919, Bd. 1, 17): »Metaphysik ist der auf der Grundlage des gesamten wissenschaftlichen Bewusstseins eines Zeitalters oder besonders hervortre­ tender Inhalte desselben unternommenen Versuchs, eine die Bestandteile des Einzel­ wissens verbindende Weltanschauung zu gewinnen.« Gegen diese Gleichsetzung von Philosophie und Weltanschauung wandte sich E. Husserl (EA 1911) in seiner Schrift Philosophie als strenge Wissenschaft. 120 Vgl. R. Swinburne (1987), der versucht, die Existenz Gottes und seine Schöpfung als die beste aller möglichen Welten wahrscheinlichkeitstheoretisch zu sichern. Da Gott aber kein empirischer Gegenstand ist, lässt sich überhaupt keine Wahrscheinlich­ keit für oder gegen ihn angeben. Was aber die Schöpfung als die Beste aller möglichen 116

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1.8. Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft

rung, im unmittelbar Gegebenen an, sondern verbleiben darin auch. Da Intuition, Deskription und Induktion nur unmittelbar Gegebenes, Erfahrenes, Anschauliches beschreiben und nicht solches, das nicht gegeben und nicht beschreibbar ist (tun sie es doch, sind sie nicht mehr deskriptiv), und darum erfahrungsübersteigende Sachverhalte nicht erreichen können, bieten sie zwar die Grundlage für einen jeglichen metaphysisch-regressiven Diskurs, geraten aber niemals in ihn hinein. Die Induktion wiederum, die durch Vergleich mehrerer Erfahrungsgegenstände allgemeinere Strukturen und Gesetzmäßig­ keiten im Erfahrungsmaterial aufzudecken sucht und daher über die Empirie grundsätzlich nicht bzw. höchstens hypothetisch hinausgeht, hat keinen transempirischen Anspruch. Somit handelt es sich in allen drei Fällen um Fehlformen oder doch unklar bestimmte oder unzureichende Formen von Metaphysik.

1.8. Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft: die innere Verbundenheit der Seinsregionen Bevor die metaphysische Methode, die reduktiv-regressive Analyse, konkret angewendet und auf diesem Wege geprüft werden soll, seien Plausibilitätsgründe für die Möglichkeit einer metaphysischen Wissenschaft angegeben. Am Beginn möge das Gefühl des Menschen stehen, mit vielen Dimensionen verbunden zu sein, in die er zwar nicht direkt eintreten kann, die aber nicht völlig von ihm getrennt sind, sondern zuweilen in seine Welt hineinragen und hineinwirken. Solche Welten sind jene Regionen der physischen Welt, die er ohne Hilfsmittel nicht erhellen kann, etwa das astronomisch Große und das mikrophysikalisch Kleine, weiter das Vergangene und das Zukünftige. Andere Welten sind die idealen Regionen der reinen mathematischen Größen, vor allem der unendlich-kleinen und der unendlich-großen und der irrationalen, imaginären und transzendenten Verhältnisse, Welten betrifft, so verbleiben Swinburnes Argumente im rein Hypothetischen, da er Gottes Existenz unerwiesen voraussetzt und – dann richtigerweise – apriorisch impliziert, dass Gott als das Urgute nur das Beste wollen und schaffen kann, was schon G. W. Leibniz betonte. Das kann aber nur für die Schöpfung als ganze (und d. h. am Ende aller Zeiten!) gelten und gibt kein Kriterium an die Hand, welches konkrete Weltereignis gut oder schlecht ist und inwiefern es akzeptiert oder verändert werden muss.

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weiter die idealen Regionen der reinen Logik, also das »All der rei­ nen Wahrheitsformen« (wie Identität, Zusammenhang, Bedingung, Ordnung, Unterordnung, Klasse, Entsprechung usw.), und schließ­ lich die idealen Wertregionen des Guten, Schönen, Gerechten und Liebevollen. Der wirklichkeitsverbundene und tiefer in die Wirklich­ keit hineinfühlende Mensch, so vor allem der frühe Mensch, fühlt darüber hinaus das Bestehen und Walten einer oder mehrerer höchs­ ter Seinsquellen all jener Sinn- und Wertverhältnisse und fasst sie als machtvolle Kraftwesen zusammen, als Gott oder Götter oder als ein Schicksalsgesetz. Apriori lässt sich daraus folgern: Wenn es Welten gibt, die der Mensch nicht unmittelbar erfahren kann, dann kann er nur indirekt von ihnen wissen. Indirekt kann er von ihnen jedoch nur dann wissen, wenn sie mit ihm verbunden sind, denn andernfalls könnte er sie von sich aus auf indirektem Wege nicht erstreben bzw. zu ihnen gelangen. Das aber setzt wiederum voraus, dass seine gegeben-erfahrbare Welt (im Kern die Welt des Erlebens, des Bewusstseins, der Intentionalität, der Kommunikation) mit jenen Regionen, die nicht direkt betreten werden können, seinsstrukturelle Gemeinsamkeiten hat, da völlig Verschiedenes und Inkompatibles nicht vermittelt werden kann. Das lässt sich an I. Kants Ding an sich gut exemplifizieren: Wenn I. Kant behauptet, dass das Ding an sich die Sinnesorganisation so affiziert, dass Sinnesqualitäten und, durch diese vermittelt, die phä­ nomenale Welt im Erleben verursacht werden, dann impliziert dies notwendig eine gewisse (nicht totale) Kompatibilität zwischen den Menschen und den Dingen an sich. Gilt dies, dann ist das Ding an sich erstens nicht total unerkennbar, sondern kann indirekt und in gewisser Hinsicht analog erkannt werden, und zweitens folgt, dass nicht nur, wie I. Kant121 meint, zwei Fälle möglich sind, »unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen [...] Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung oder diese den Gegenstand allein möglich macht«, sondern drei Fälle, von denen der dritte lautet: Denken und Gegenstand sind durch gemeinsame Kategorien bestimmt.122 Noch tiefer reicht der nächste Gedanke: Wenn jene Seinsregio­ nen, die, obwohl transempirisch-transzendent, mit dem Menschen Siehe I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 131). Vgl. O. Willmann (1979, Bd. 3, 386), der I. Kants einseitigen Subjektivismus sieht und sachlich überzeugend kritisiert. 121

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1.8. Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft

so verbunden sind, dass er sie indirekt erreichen kann, wenn jene Seinsregionen also der immanenten Welt nicht nur parallel beigeord­ net, sondern als notwendige Voraussetzung der menschlichen Welt bzw. des In-der-Welt-Seins sach- und denklogisch vorgeordnet sind, dann erhält die Verbindung zwischen ihr und der Transzendenz eine neue und entscheidende Qualität, die nämlich, die notwendige Bedingung der menschlichen Immanenz zu sein, was den logisch zwingenden Rückschluss von dieser auf jene erlaubt. Ein einfaches empirisches Beispiel: Wenn bekannt ist, dass zur Zeugung eines Menschen ein Elternpaar notwendig ist, dann kann man von einem gegebenen Kind, das elternlos ausgesetzt ist, zurückschließen, dass es gemäß dem Kausalsatz irgendwo zwei Menschen geben muss oder gab, die das Leben dieses Kindes ermöglicht haben. Diese Eltern lassen sich dann suchen, obwohl sie empirisch zunächst nicht gegeben sind. Radikaler verhält es sich in dem Fall, wo die Physiker von der Hintergrund­ strahlung des Weltraums, die man noch heute in minimaler Form messen kann, auf eine ursprüngliche, weit zurückliegende Explosion zurückschließen, eine Explosion, die insofern transzendent ist, als sie, da verschwunden, empirisch nicht direkt nachgewiesen werden kann. Und so gilt auch dies: Wenn es Gott geben sollte, und wenn dieser Gott eine notwendige Bedingung der menschlichen Existenz ist, dann muss er aus der Existenzverfassung des Menschen indirekt ermittelt werden können, denn als notwendige Bedingung des Menschendaseins selbst oder der Welt überhaupt kann er nicht völlig von ihm bzw. der Welt getrennt sein. Entsprechend fußt eine echte metaphysische Erkenntnis immer auf einem Seinsverhältnis zwischen zwei Realitäten, die einerseits ver­ schieden und insofern getrennt, andererseits insofern verbunden sind, als die eine die notwendige Seinsbedingung der anderen ist, so dass diese nicht das sein könnte, was sie ist, wenn jene nicht wäre. Wo also metaphysische Seins- und Wertregionen bestehen, und wo diese zwar unmittelbar nicht erfahrbar, doch die notwendige Seinsvoraussetzung der für die menschliche Erfahrung zugänglichen Welt sind, da können jene Transzendenzen erkannt werden, nicht direkt, nicht als solche und nicht total, aber indirekt, mit Notwendigkeit und in gewisser, meist wesentlicher Hinsicht. Es wäre demnach unplausibel und unlogisch, wenn diejenigen Seinsregionen, die auch I. Kant für existent hält – Gott, die Welt als Ganzes, die intelligible Welt der Bewusstseinswesen, die Welt der mathematischen, logischen und sittlichen Werte -, wenn diese

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Welten, die nach I. Kant die phänomenale Welt wesentlich mitbestim­ men, nicht partiell und indirekt erkennbar wären. Denn das bedeutete, dass sie in keiner Weise mit den menschlichen Subjekten verbunden wären, was wiederum hieße, dass sie nicht die Seinsvoraussetzungen des irdischen Lebens wären. Wäre das aber der Fall, könnte der Mensch von ihnen nicht einmal eine Ahnung haben, geschweige Begriffe und – gemäß I. Kant – regulative Ideen bilden. Das wäre nicht nur unmöglich, sondern sinnlos. Liegt dagegen eine Verbundenheit zwischen den empirisch nicht direkt zugänglichen und den empirisch zugänglichen Seinsregionen vor, muss die eine Seite dieser Verbun­ denheit beim Erfahrungssubjekt, die andere »drüben« anknüpfen. Ist dies der Fall, muss eine Erkenntnismöglichkeit, obgleich indirekt und beschränkt, bestehen, da der menschliche Intellekt von solch einer Verbundenheit mitbestimmt wäre und damit eine notwendige Spur, eine Art Abglanz seiner transempirischen Seinsvoraussetzun­ gen aufweisen müsste. Das mag wenig scheinen, ist aber für die philosophische Wirklichkeitslehre, zumal für die Metaphysik des Leidens, ausreichend (siehe Abschnitt II. und III.). Schließlich und endlich besitzt der Mensch zahlreiche Verknüp­ fungsfähigkeiten von den vielfältigen Sinnesorganen über die Phan­ tasie, das intuitive Gefühl, den rechnenden und messenden Verstand, die argumentierende Vernunft, die intellektuelle Anschauung, die Invention, die Intuition bis hin zur mystischen Schau, die ihn erkennt­ nismäßig mit allen Regionen, Schichten und Dimensionen der Wirk­ lichkeit verbinden und die in der Zeit entstanden sind.123 Wenn man vernünftigerweise voraussetzt, dass sich alle diese Erkenntnisorgane im Verlauf von Evolution und Geschichte an ihren Aufgaben und Gegenständen gebildet und geschärft haben, dann 123 Im Unterschied zu J. G. Fichte (1962–2011, 463, Akademie-Ausgabe, Bd. 1), der den Begriff der intellektuellen Anschauung geprägt hat und ihn auf das absolute Ich und seine »Tathandlung« bezieht, halte ich es für unumgänglich, auch dem empirischen Ich die Fähigkeit zur unmittelbaren Selbstgewahrung und damit zur Tathandlung zuzusprechen, ohne es deswegen für absolut zu nehmen. Unmittelbarkeit und Absolutheit sind keineswegs identische bzw. notwendig zusammengehörende Begriffe. Das muss schon deshalb so sein, weil es nach J. G. Fichte das empirische Ich ist, das in sich die »absolute« Tathandlung als Selbstsetzung entdeckt. Darum ist auch zu fordern, dass sich die unmittelbare Selbstgewahrung (i. S. der intellektuellen Anschauung) im empirischen Ich zwar nicht in sukzessiver Zeitlichkeit, aber in einer zeitlichen Dauerform, die nicht zeitlos ist, vollzieht. Nur in einem göttlichen, zeitlosewigen Wesen würde sich die intellektuelle Selbstanschauung zeitlos, unmittelbar und absolut im Sinne des »actus purus« von Thomas v. Aquin konstituieren können.

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1.9. Die Verankerung der metaphysischen Dimension des Leidens

darf man erwarten, dass sie sich zwar in Maßen und Grenzen, doch in einiger Hinsicht ihren Herausforderungen angepasst und so die zu erfassenden Wirklichkeiten im Rahmen ihrer Möglichkeiten assimiliert haben. Ragen transempirisch-transzendente Seinsregio­ nen wie das Unbewusste, das Ideale, das Unendlich-Kleine und Unendlich-Große, der Ursprung der Dinge, der Sinn, die Werte, die Wahrheit, das Ganze, die Ordnung und das Leben irgendwie in die Immanenz des menschlichen Subjekts hinein, ist es mehr als plausibel zu unterstellen, dass sich an ihnen auch Erkenntnismodi ausgebildet haben, die etwas von dem, dem sie ihre Existenz mitverdanken, erkenntnismäßig wiedergeben. Nicht zuletzt beweist die außeror­ dentlich praktische Wirklichkeitsverbundenheit der menschlichen Wahrnehmungen, Erfindungen, Berechnungen und Kreationen eine ontologische Verwandtschaft, die nahelegt, dass alle Seinsregionen miteinander korrespondieren, miteinander kompatibel sind und im letzten Grund denselben Urbestimmungen des Seins, Sinns und Wertes gehorchen.124 Dies methodisch überprüfbar nachzuweisen, wird die Aufgabe sein.

1.9. Die Verankerung der metaphysischen Dimension des Leidens in der Phänomenologie des Leidens: die Selbsttranszendierung des Leidens Betrachtet man das Leiden unmittelbar von seiner menschlichen Betroffenheit her, lässt sich sagen: Es ruht nicht in sich selbst, es ist sich zuviel und leidet doch Mangel, es will von sich weg und kommt nicht von sich los, es strebt über sich hinaus und weiß nicht wohin – es ist da und ist zugleich so unerträglich, dass es seine Auflösung ersehnt. Oder anders: Das Leiden ist, was es nicht ist, und ist nicht, was es ist. Schon im Alltag fühlt der Mensch, dass das Leid sich nicht selbst genügt, es strebt nach Selbstüberwindung und nach Selbstaufhebung, und in der Tat kann es nur solange ertragen und getragen werden, als leidfreie Kräfte wie Zuversicht, Mut, Hoffnung, Geduld, Tapferkeit und Vertrauen vorhanden sind, die seiner herabdrückenden und zer­ setzenden Dynamik die Waage halten. Und so müssen im Leiden zwei Sinn- und Wirkrichtungen unterschieden werden, die miteinander im Streit liegen: der Wille, das Leiden loszuwerden, und die Ohnmacht, 124

Zur Einheit von Sein, Sinn und Wert vgl. B. v. Brandenstein (1957, 179–182).

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dies zu erreichen. Erst der Wille im Leiden macht das Leiden zum Leiden, da ein Mensch, der jeden Widerstand und Kampf aufgeben und sich ganz dem Leiden ergeben würde, entweder vernichtet würde oder sein Leid verflüchtigte. Auf der anderen Seite wirkt das Leiden durch seine innere Selbst­ aufzehrung in Richtung Entkräftung, Schwächung und Auflösung – am chronischen Leiden wird dies besonders deutlich. Beide Dynamis­ men beweisen, dass das Leiden nicht in sich ruht und sich nicht selbst genug ist, sondern nach Aufhebung strebt, entweder in der Vernich­ tung oder in der positiven Überwindung. Damit offenbart das Leiden eine Selbsttranszendierungsdynamik, die nur verständlich ist, wenn ihr eine Transzendenz entspricht. Alles Leiden ist auf seine Aufhebung bezogen, sei es im Nichts, sei es im Heil, und genau dies konnte aus der ontologischen Grundstruktur des Leidens – aus der Fünfheitsgestalt von Mangel, Zwiespalt, Spannung, Hemmung und Zwietracht – herauspräpariert werden.125 Aller Mangel ist Mangel an Sein, alle Spannung ist Spannung zwischen Polen, alle Hemmung impliziert eine Lebenskraft, einen »Willen«, der sich an einem Widerstand bricht, und alle Zwietracht impliziert Pluralität und Konflikt. Das Leiden weist aus sich selbst heraus auf die größere Fülle, und darum würde es, wenn es universal oder fundamental wäre, notwendig auf eine universale oder fundamentale Seinsfülle verweisen. Da sowohl im Menschen als auch, wie später zu zeigen sein wird, im Kosmos ein solcher universal-fundamentaler Seinsmangel aufgewiesen werden kann, der im Endlichen und Irdischen nicht behebbar ist, der aber kein passiver Mangel ist, sondern mit Spannung, Zwietracht, Kampf, sprich mit Aktivität verbunden ist, zeichnet sich ein Sein und Leben ab, das ganz mangelfrei und damit leidfrei ist und der Dynamik des Leidens erst ihren Sinn und ihre Ermöglichung gibt. Buddha126 erkannte diesen fundamentalen Seinsmangel im Lei­ den als universalen Seinsdurst; Aristoteles127 als Sehnsucht alles bewegten Seins hin zum alles Werden »erotisch« anziehenden unbe­ wegten Urbeweger; Augustinus128 als brennendes Herz, das erst in Gott zur seligen Ruhe findet; und alle großen Philosophen in den 125 Vgl. Paulus im Röm 1,18–32. Dort sagt Paulus, dass der Mensch der Nichtigkeit verfallen kann. 126 Vgl. Buddha (1998, 21ff.). 127 Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 5, Buch XII, 7). 128 Vgl. Augustinus (1958, 1. Buch, 1).

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1.10. Die Notwendigkeit einer Metaphysik des Leidens

Urfragen des Geistes: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wozu sind wir da? Wie kön­ nen wir glücklich werden? Überall wirkt hier das Leiden als Ungenü­ gen mit, überall wirft es Fragen, Zweifel und Sehnsüchte auf, und man ahnt, dass es so lange nicht zur Ruhe kommt, wie sein innerster Seinsmangel nicht gestillt, sein Grunddurst nicht gelöscht, seine letz­ ten Fragen nicht beantwortet und seine Sehnsucht nicht erfüllt wird. So wäre, wenn es stimmte, das Leiden, bildlich gesprochen, der Schatten der Gottheit und würde ohne Bezug auf sie, mag derselbe noch so unbewusst sein, verschwinden.129 Alles Leiden weist über sich und somit über alles Seiende hinaus – allein dies kann schon den Versuch einer Metaphysik existenziell rechtfertigen.

1.10. Die Notwendigkeit einer Metaphysik des Leidens: Das Leiden begründet sich nicht selbst. Doch nicht nur existenziell, auch theoretisch lässt sich die Notwendig­ keit einer Metaphysik rechtfertigen, da man sich nicht mit dem Leiden beschäftigen könnte, wenn der Mensch nicht über einen geistigen Überschuss verfügte, mit dessen Hilfe diese Herausforderung ange­ gangen werden kann. Wenn das Leiden sich nicht selbst genügt und über sich hinausweist, und zwar sowohl zurück zu seinen Ursachen, Bedingungen und Gründen, als auch voraus zu seiner Überwindung, dann ist eine Wissenschaft vonnöten, die das Leiden transzendiert, und eben das tut die Metaphysik des Leidens wie keine andere Wissenschaft, erhebt sie doch den Anspruch, sowohl die Ursprünge und Ermöglichungsgründe als auch die Zielgründe des Leidens zu ermitteln. Leiden ohne Ursprung ist so unmöglich wie Leiden ohne Ziel, und darum kann ihm nur eine Transzendierungswissenschaft gerecht werden. Sollte es kein Sein geben, aus dem das Leiden möglich war, und sollte es kein Sein geben, in dessen Fülle sich das Leiden auf­ heben kann, wäre das Leiden als Tatsache ein ontologisches Kuriosum, eine seinsmäßige Monstrosität (vgl. dazu das Spiegelgespräch mit M. Horkheimer vom 5.1.1970 oder hier Fußnote 826). Wie gezeigt werden soll, ist das Leiden die Seinsweise eines typischen »Zwischenwesens«, das zwar außerhalb der Fülle des Seins 129

Vgl. V. Frankl (1988).

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

steht, aber darauf bezogen ist und durch die »Wüste der Zeit« hindurch einen Weg geht, der zwar Not, Tod und Unglück mit sich bringt, aber auch eine neue Freiheit mit einer Weltgestaltungsmöglichkeit eröff­ net, die den Menschen im Kosmos zum Mitschöpfer in einzigartiger Freiheit und Verantwortlichkeit erhebt, die alle endlichen Grenzen überschreitet. Darum ist Leiden nicht nur passiv, sondern eine, wenn auch beschwerliche, Arbeit und Läuterung, in der das Gold des Lebens von den Schlacken des Lebens geschieden wird. Auf diesem Weg wird das Leiden zum unentwegten Kampf der Weltakteure unterein­ ander, deren Singularitäten, Diskrepanzen und Destruktionen nicht nur Leid schaffen, viel Leid und den überendlichen Abgrund des Leidens offenbaren (und offenbaren sollen), sondern dadurch den Verständigungs-, Versöhnungs- und Friedenswillen wecken, nach dem die ganze Schöpfung gemäß dem berühmten Wort des Paulus »stöhnt und seufzt«.130 Dass dieser Leidensabgrund des Weltganzen in seiner Überendlichkeit nicht in endlicher Weise behoben werden kann, sondern nur durch die Einwohnung des Unendlichen zur Ruhe kommt, wird sich im Folgenden (siehe Abschnitt VI.) als ein Ursinn des Leidens erweisen. Nur in der welteinwohnenden Gottheit könnte die Schöpfung leidfrei werden, wogegen im anderen Fall, im Falle der Unmöglichkeit solcher »Einwohnung«, das Leben notwendig im Abgrund des eigenen Leidens verbliebe und sich – sollte dies, wie das A. Schopenhauer für sein Prinzip des metaphysischen Lebenswil­ lens vermutet, der Dauer- oder Endzustand sein – qualvoll selbst verzehrte.131 Die Metaphysik des Leidens will von theoretisch-phi­ losophischer Seite her diesem ontologisch drohenden Selbstzusam­ menbruch des Lebens entgegenwirken, wohlwissend, dass dies nur ein »theoretischer Tropfen« auf den heißen Stein des Daseins ist. (Wer sich die folgenden sehr schwierigen und abstrakten Darle­ gungen zur Logik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie metaphy­ sischer Probleme nicht zumuten möchte, kann direkt zu Kapitel 1.15. übergehen.)

Siehe Apostel Paulus, Neues Testament, Röm, Kap. 8, Vers 18–25. Analog spricht G. Büchner in seinem Drama Dantons Tod (3. Akt, 1. Szene) von einem »Riss in der Schöpfung von oben bis unten«. 131 Zur Selbstverzehrung des »Lebenswillens« vgl. A. Schopenhauer (1949, Sämtliche Werke, Bd. 2, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Bd., § 27, 175). 130

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1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens

1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens: die reduktiv-regressive Methode und ihre Abgrenzung von Intuition, Deskription, Deduktion und Induktion als Weg einer grundsätzlichen Revision und Erneuerung der klassischen Metaphysik Nach all diesen Vorbemerkungen und Hinführungen ist es an­ gebracht, das Kernanliegen einer wissenschaftlichen Metaphysik zu formulieren. Ihre Herausforderung besteht darin, von gewissen em­ pirischen Tatsachen ausgehend, die aus den drei genannten Quellen der Sinnes-, der Innen- und der Selbsterfahrung stammen, über alle mögliche Erfahrung hinaus durch einen diskursiven Rückschluss solche Wirklichkeiten zu erreichen, die als solche in der Erfahrung nicht auftauchen können oder anders: das »Uneinholbare« doch irgendwie einzuholen.132 Die Notwendigkeit dieses Rückschlusses wird dadurch einsich­ tig, dass die nicht leugbare empirische Tatsache so, wie sie beschaffen ist, nicht möglich wäre, wenn jene erschlossene transzendente Seins­ bedingung nicht gültig wäre. Da diese empirische Tatsache, gefasst als metaphysischer Protokollsatz, ohne Selbstwiderspruch nicht verneint werden kann, muss daher auch ihre Seinsvoraussetzung, ohne die sie nicht das wäre, was sie ist, bestehen und gültig sein. Man sieht: Hier handelt es sich weder um eine Induktion noch um eine Deduktion noch um eine bloße Deskription, da die Induktion nur in mehreren empirischen Ereignissen die ihnen gemeinsame, all­ gemeinere Struktur durch Vergleich, Analyse und Zusammenfassung ermitteln kann. Dabei gelangt sie niemals zu einer allgemeinsten und notwendigen Aussage. Der universalen Verallgemeinerung ihrer Behauptung – z. B. »Alle Körper des Universums sind schwer« – kommt daher nur, wie auch I. Kant betont, hypothetischer Charakter zu. Warum überhaupt Körper da sind, warum sie sich bewegen, und warum sie sich gerade in der Weise des newtonschen Gravitations­ gesetzes und nicht anders bewegen, kann keine Naturwissenschaft angeben und kann von keiner noch so feinen und umfänglichen Induktion ermittelt werden. Sie kann nur sagen: Wenn dieses Gesetz universal gilt, dann bewegen sich Körper so und so. Die mathematische Deduktion wiederum ist überhaupt weder ein Urteil, wie I. Kant fälschlicherweise meint (siehe Kapitel 1.12.), 132

Zum »Uneinholbaren« siehe W. Schweidler (2008).

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

noch ein Schlussverfahren noch überhaupt eine Analyse, sondern zunächst einmal eine gestaltend-operative Synthese, eine Konstruktion oder Kombination: 5 und 7 ergibt addiert 12. Was ist dies? Eine Analyse, eine Urteilsaussage, ein Schluss? Nichts davon. Denn es wird weder die 5 noch die 7 zu 12 analysiert; auch wird keine Urteilsaussage getroffen, etwa im Sinne von »5 ist eine Quantität, und zwar eine ungerade«, wo vom Urteilssubjekt, der 5, etwas ausgesagt wird, nämlich das Urteilsprädikat »ungerades Quantitätssein«, das im Ur­ teilssubjekt als immanentes, noch unexpliziertes Moment vorhanden ist, sondern es werden zwei Quantitäten, hier zwei Mengengrößen, zusammengestaltet und zu einer neuen Größe mit neuen Eigenschaften, der 12, so ineinsgestaltet, dass sie darin verschwinden und ihre alten Eigenschaften teilweise verlieren (wie z. B. die 5 ihre Ungeradheit). Hier hat man eine echte Synthese in Form der additiven Opera­ tion vor sich, weder einen Begriff noch ein Urteil noch eine Analyse noch ein Schlussverfahren. Erst nachdem die Synthese, hier als Addi­ tion, geleistet wurde, und das ist kein analytischer, sondern ein operativer Akt, kann ein Urteil gebildet werden, nämlich jenes, das darin besteht, dass die 12 (Urteilsprädikat) im Urteil 5+7=12 weder von der 5 noch von der 7, was falsch wäre, sondern von deren Summe (5+7) als dem Urteilssubjekt ausgesagt wird – und das ist jetzt, aber erst jetzt (!), eine Analyse, ein Herausheben der Gleichheit der 12 aus der Mengengesamtheit (5+7). Nicht ist das Urteil synthetisch, wie I. Kant in diesem Fall meint, sondern es ist analytisch. Dieses Urteil steht aber nicht am Anfang, sondern es wird von einer typisch mathematischgestaltenden Synthese ermöglicht, die als Operation, Konstruktion oder Kombination die Grundlage für eine Urteilsanalyse bildet. Damit offenbart sich der wesentlich andere Erkenntnismodus der Deduktion im Vergleich zur analytischen Reduktion. Während diese vom Bedingten zurück zum Bedingenden (und nicht umgekehrt) schließt, kann die mathematische Deduktion von der Bedingung, der Voraussetzung zum Bedingten, zur Folge überleiten, und zwar durch Gestaltung, Umgestaltung und Abgestaltung. Das ist primär keine Erkenntnis, sondern ein Tun, ein Schaffen, kurz ein Operieren, was für die philosophische Erkenntnisgewinnung ungeeignet ist, die zu den realen Seins- und Erkenntnisgründen vorstoßen will, die der Menschengeist nicht schafft, sondern aufdecken und herausarbei­ ten muss. Alles mathematische Synthetisieren verbleibt dagegen im Feld der reinen Größen, Zahlen, Mengen und Größenbeziehungen; niemals kann es den direkten Übergang zur Wirklichkeit leisten,

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1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens

dazu bedarf es, wie in der Physik, notwendig des Rückgriffs auf die physische Erfahrung. Wie leistet in diesem Kontext die reduktiv-regressive Analyse ihre Erkenntnis, zumal im Modus der Notwendigkeit? Mit vier zen­ tralen Begriffen soll dies präzisiert werden: mit den Begriffen der positiven Evidenz, der negativen Evidenz, dem Satz des Selbstwiderspru­ ches und der argumentatio ex contrario. Ausgehen muss die reduktiv-regressive Analyse von einer posi­ tiven, unmittelbar intuitiv vollzogenen Evidenz, von einer Tatsache, am besten von einer solchen, die ohne Selbstwiderspruch nicht ge­ leugnet werden kann (was Letzteres allerdings diskursiv ermittelt werden muss). In einem zweiten Schritt beschreibt und analysiert sie ihren Gegenstand bis zu seinen letzten immanenten Strukturmomen­ ten und Strukturbeziehungen, den anschaulichen Kategorialverhält­ nissen – das ist die analytische Reduktion oder Implikatanalyse.133 »Reductio« meint hier nicht Verminderung, sondern Rückführung des Komplexen auf seine letzten elementaren Momente, Aspekte und Bezüge. 133 Die reduktive Analyse arbeitet nicht nur die grundlegenden Elemente, Momente oder Bausteine eines Phänomens heraus, sondern zugleich deren innere Beziehungen. Dieser Hinweis ist deswegen von großer Bedeutung, da manche Denker die Leistung des Verstandes und seiner Analyse allein in einer oberflächlichen Zergliederung, Auftrennung und damit angeblichen Zerstörung des Phänomens erblicken. Zum Kern und Wesen eines Sachverhaltes vermöge nur, so z. B. H. Bergson (1985, 180–184), ein Hauptvertreter dieses verstandeskritischen, intuitionistischen Philosophierens, die »Intuition« vorzudringen. Die Fehler, die hier begangen werden, sehe ich darin, dass erstens die verstandesmäßige Analyse mit einer realen, z. B. physikalisch-chemischen Analyse, die angeblich nur zersetze, gleichgesetzt wird; dass zweitens die ganz andersartige philosophische Analyse verkannt und dass drittens die Intuition – nach H. Bergson (1985, 183) das »Sichhineinversetzen in die Sache« – überschätzt wird, angeblich ohne Symbolsprache möglich sein soll und kein kritisches Widerlager besitzt. Im Fall der reduktiven Analyse werden jedoch die Momente eines Phänomens nicht zertrennt, sondern unterschieden und dadurch zugleich aufeinander bezogen und damit sachgemäß miteinander verknüpft. Das ist eine quasi-synthetische Leistung des Verstandes innerhalb der Analyse, die H. Bergson verkennt, weswegen er dessen Betätigungsfeld irrigerweise nur in den Naturwissenschaften und an der Materie verortet, wo sie doch zweifellos auch in Philosophie, Geisteswissenschaften, Kunst und Religion »am Material des Geistigen« erfolgreich angewandt wird. In Wahrheit ist die unterscheidend-beziehende Arbeit des Verstandes, die »Arbeit am Begriff« (G. W. F. Hegel), sowohl im Alltag als auch in den Geisteswissenschaften unverzichtbar. Darum ist der Verstand nicht tot oder tötet gar das Leben, vielmehr ermöglicht er sein besseres Verständnis, allerdings stets anhebend von einer »Intuition qualitati­ ver Gegebenheiten«.

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Von diesem Ergebnis ausgehend, stellt sie dann die Frage im Sinne des Satzes vom zureichenden Grunde, ob der infrage stehende Sachverhalt sich selbst genügt, also sich selbst vollständig oder genü­ gend begründet, und zwar evidenterweise, oder ob er einer weiteren Begründung bedarf. In der Regel ist Letzteres der Fall. Hier setzt die regressive Analyse an, die die notwendigen Seins­ voraussetzungen des infrage stehenden Sachverhaltes bzw. Problems ermitteln will, insofern sie nicht mehr in diesem Sachverhalt selber vor-, sondern darüber hinaus liegen und nur als Spur im Sachverhalt anwesen. Um hier weiter zu kommen, muss die regressive Analyse einen Umweg, den Weg über die argumentatio ex contrario und die negative Evidenz, nehmen. Beispiel: Es ist unmittelbar positiv evident, dass nicht nichts, sondern etwas ist, zumindest hier die­ ses mein Erleben, Denken, Fühlen, Schreiben usw. Analysiere ich reduktiv diese positiv-evidente Gegebenheit, stoße ich z. B. auf das nicht weiter reduzierbare Grundmoment der Intentionalität, d. h. der inneren Ausgerichtetheit all meines Erlebens, da jedes Erleben – Wahrnehmen, Fühlen, Wünschen, Denken, Wollen – das Erleben von etwas ist.134 Will ich wissen, woher diese Intentionalität, die 134 Intentionalität darf hier nicht zu eng verstanden und etwa nur auf rein kognitivkonzeptuelle oder willentlich-bewusste, sprich absichtliche Intentionalität beschränkt werden. Intentional sind auch unreflektierte Verhaltungen, die aus ihrer Implizitheit oder Vorbewusstheit meist relativ leicht ins explizite Selbstbewusstsein überführt werden können. Damit nicht genug, können völlig unbewusste, durch Eigenanstren­ gung nicht zugängliche Intentionalitäten im Erleben und Verhalten aktiv sein, wie Psychoanalyse und Hypnose erkannten und wie das von Träumen, Fehlleistungen, Neurosen, schöpferischen Prozessen etc. belegt wird. Schließlich sind nicht nur kognitive und volitionale Akte, ob implizit, explizit oder völlig unbewusst, intentional, sondern auch das gesamte Emotionsleben. Bei Wunsch- und Affektgefühlen streitet das niemand ab, doch selbst Stimmungen sind, recht betrachtet, intentional, also auf Seiendes bezogen, nur nicht auf äußere Dinge bzw. gegenstandsbezogen (wie viele Wunsch- und Affektgefühle, aber längst nicht alle), sondern auf den Betroffenen selbst, sozusagen unmittelbar selbsthaft und damit unmittelbar rekursiv: »Ich (als Trauriger) bin traurig« heißt so viel wie »Ich fühle mich traurig, erlebe mich als traurig gestimmt«, was die intentional-reflexive Struktur im Modus der Gefühlsstimmung, eben auf das Seiende »mich« anzeigt. In der Tat durchdringt das Intentionale i. S. des Selbstausgerichtetseins (auf etwas, sei dies etwas Anderes oder/und Eigenes) das gesamte psychophysische Menschenleben, selbst da, wo sich Gewohnheiten und Automatismen einstellen, deren verblasste Intentionalität noch gut an ihrer Kontextund Sinnbezogenheit sichtbar wird. Dem existenziellen Ausdruck der Intentionalität, der wesenhaften Ausgerichtetheit des Menschseins begegnet man schließlich im Lebens-, Sinn- und Glückswillen. Kurzum: Intentionalität ist keineswegs, wie viele Phänomenologen meinen, erstens notwendig auf ein Objekt bezogen, eben weil

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1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens

einmal entstanden ist, kommt, kann mir die positive Evidenz bzw. die deskriptive Analyse dieser Intentionalität keine Auskunft geben, denn die Frage reicht über ihre Gegebenheit hinaus. Wie also wei­ terkommen? Durch die regressive Analyse mittels des Umwegs der argumentatio ex contrario und der negativen Evidenz. Das würde im konkreten Fall bedeuten, probeweise anzunehmen, dass die zweifellos entstandene Intentionalität entweder aus nichts oder aus etwas NichtIntentionalem, z. B. aus passivem Stoff, reiner Naturgesetzlichkeit oder aus total Unbewusstem, entstanden sei. Diese Annahme gilt es dann durchzukämpfen und solange aufrecht zu erhalten, bis sie sich entweder bewahrheitet oder zu einem Selbstwiderspruch führt. Im letzten Fall hat sich auf dem Umweg der argumentatio ex contrario eine negative Evidenz eingestellt, die dazu nötigt, die Vorannahme aufzugeben und ihr Gegenteil anzunehmen. Genau das ist der Fall im angeführten Beispiel: Wenn die Inten­ tionalität aus nichts kommt, dann ist das Nichts nicht nichts, sondern etwas, ist schöpferisch und besitzt die (außerordentliche) Kraft, ein intentionales Wesen, zu dem Bewusstsein und Absicht gehören, zu erzeugen. Wenn die Intentionalität aus Nicht-Intentionalem kommt,

es auch auf das Subjekt, das Selbst bezogen sein kann, und es ist zweitens nicht notwendig vollbewusst, positional-explizit, im expliziten Sinne reflexiv. Im Gegenteil hat das »Selbst« auch in seinem unmittelbaren »Selbstgewahrsein« immer schon einen »rekursiven«, »reflexiven« Selbstbezug konstituiert, zwar nicht notwendig vollbe­ wusst, explizit oder thematisch, so vor allem in der »unbewussten«, besser unmittelbar erlebenden und sozusagen »unthematisch-eingewickelten« Selbsthabe des Selbstge­ fühls. Ein völlig a-rekursives und non-intentionales Selbstsein, ein Selbst ohne jeden Selbstbezug (self-reference) ist daher, recht betrachtet, ein Selbstwiderspruch. Ein Selbst, das sich nicht selbst hat, ergreift, will, das nicht in einem Selbstbezug steht, den es selbst und damit aktiv konstituiert, ist kein Selbst. Ein reines Selbst-an-sich, dem kein Keim des Für-Sich innewohnt, kann nicht gedacht werden, das war die epochale Erkenntnisleistung J. G. Fichtes bezüglich des Ich und seiner Tathandlung in der intel­ lektuellen Anschauung. Da J.-P. Sartre (1974) unter »reflexiv« ein elaboriertes, expli­ zit-rationales Selbstbewusstsein versteht (eine Selbstkonzeptualisierung) und auch die präreflexive Stufe des Selbstgewahrseins als selbstreferentiell erkennt (Ipseität), kann man sich mit ihm einigen: Jedes Selbstbewusstsein ist qua (Selbst-)Bewusstsein stets selbstreferentiell, in diesem fundamentalen Sinne »reflexiv«, selbst-bezogen, doch muss diese basale Selbstbezüglichkeit (basale Reflexivität) nicht notwendig explizit oder konzeptuell-elaboriert, sondern kann unmittelbares Selbstgewahrsein sein. So ließe sich eine basale, niederstufige von einer differenziert-komplexeren, also höherstufigen Reflexivität, welch Letztere irrtumsanfälliger ist, unterscheiden. Zur begrifflich-sprachlichen Unterscheidung schlage ich vor, die erste (und »primitivere«) »rekursiv«, die zweite (differenziertere) »reflexiv« zu nennen.

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z. B. aus Atomen und Molekülen, dann verdankt sie sich, die wesen­ haft aktiv, gerichtet, selbstgewahrend, vollzugshaft und in sich un­ räumlich, die also wenigstens auch selbstbestimmend ist, einer rein fremdbestimmten, »kausal« außenbestimmten Realität. Eine solche, etwa auch noch räumliche Realität kann, unmittelbar einleuchtend, keine intentionale, aktive und sich selbst gewahrende Realität her­ vorbringen, das ist ein unmittelbarer, sich selbst aufhebender Wider­ spruch. Darüber hinaus würde der apriorische Grundsatz verletzt, dass die Ursache nicht weniger mächtig und seinshaltig sein kann als ihre Wirkung.135 Ebensowenig kann eine zwar wirkfähige, aber blinde Kraft, z. B. die physikalische Energie oder der Lebenswille A. Schopenhauers136 (1788–1860), ein intentionales Wesen hervorbrin­ gen, da das Intentionale, das immer in sich »hell«, »erleuchtet« bzw. selbsthaft ist, in solchem Fall das Ergebnis von etwas wäre, das in sich »blind« und dunkel ist und sich gerade nicht selbst haben, nicht sich selbst ergreifen und ausrichten kann, eben weil dies irgendeine Art der Rekursivität impliziert. Da aber alle Intentionalität im Rahmen eines wesenhaften Selbstbezuges ein Sichselbstergreifen und ein Sichselbstausrichten impliziert, ist es unmöglich, dass sie sich einer Wirklichkeit verdankt, die dazu nicht in der Lage ist. Da am Ende dieser argumentatio ex contrario, wie zu sehen ist, ein sich selbst aufhebender Widerspruch, eine negative Evidenz steht, ist man genötigt, die erste Annahme aufzugeben und ihr Gegenteil anzunehmen. Dieses Gegenteil ist eine neue, eine zwar indirekte, aber wesentlich positive Evidenz: Eine Intentionalität, die, wie die menschliche, entstanden ist, kann weder auf nichts noch auf eine passive Wirklichkeit noch auf eine zwar aktive, aber blinde Wirklich­ keit zurückgehen, sondern muss auf eine Wirklichkeit zurückgeführt werden, die selbst nicht nicht-intentionaler, also intentionaler, damit bewusster, geistiger, (wenigstens potentiell) reflexiver Natur ist. Wie

135 An diesem Punkt scheitert die naturalistische Ontologie J.-P. Sartres (1997), die annimmt, dass das bewusstlos-intentionslose, areflexive Ansichsein das bewusstintentionale Fürsichsein hervorbringen könne. Letztlich lässt sich zeigen, dass die menschliche, wesenhaft beginnende und zeitlich erstreckte Intentionalität weder von einem bloßen Sein-an-sich noch von einem anderen zeitlichen Sein-für-sich, sondern nur von einem absoluten, zeitüberhobenen Sein-für-sich generiert werden kann, weil man andernfalls in einen infiniten Regress gerät. 136 Vgl. A. Schopenhauer (1949, Sämtliche Werke, Bd. 2, Die Welt als Wille, 4. Buch, 317ff.).

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1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens

diese des Näheren beschaffen ist, wird eine weitere regressive Analyse (Abschnitt II.) zeigen.137 Die reduktiv-regressive Analyse mit ihren entsprechenden Urteilsketten ist zweifellos ein komplexes, in der konkreten Handhabe schwieriges Verfahren, das ohne Übung nicht sicher angewendet werden kann. Zu betonen bleibt, dass sie zwar diskursiv, aber nie rein apriorisch und deduktiv vorgeht, sondern stets auf einem reallogi­ schen Seinszusammenhang aufbaut, der zwischen einer gegebenen Sache als der bedingten von einer nicht gegebenen, aber bedingenden Wirklichkeit, die mit einem ihrer Seinsmomente in die bedingte Sache hineinverwoben ist und darum daraus erschlossen werden kann, geknüpft ist. Die probatorische Leugnung, die evtl. zu einer negativen Evidenz führt, dient dabei der Heraushebung des wirklichen Geltungszusammenhanges, sie hat demnach, wie der Descartessche Zweifel, methodischen Charakter und steht nicht für sich. Da bei metaphysischen bzw. transempirischen Verhältnissen der transzen­ dente Pol jenes reallogischen Seinszusammenhanges nicht als posi­ tive Evidenz vorliegt, muss diese durch einen Umweg, sprich durch die Unmöglichkeit und damit Unhaltbarkeit der negativen Evidenz, herausgearbeitet werden. Mit dieser Methode wird in der Mathematik z. B. die Irrationalität der Wurzel aus 2 bewiesen. Damit sollte das Verfahren der reduktiv-regressiven Analyse klargestellt sein, allerdings muss es im Folgenden, vor allem in der Auseinandersetzung mit I. Kant (1.12.) weiter erprobt und besser kennengelernt werden. Es ist, wenn es zu den Gründen des Seins und Erkennens vordringt, die philosophische Erkenntnismethode katexo­ chen. Ohne sie ist Philosophie als Grundwissenschaft nicht möglich, was der Selbstaufgabe ihrer Eigenart, ihres Gegenstandes und ihrer Erkenntnismöglichkeiten gleichkommt. Andererseits löst erst diese geklärte und gereinigte Methode jenen Anspruch ein, den die klassi­ 137 Die heute für solche Fälle angewandte »Emergenztheorie« vermag hier nichts zu erklären, da sie nur das Auftauchen eines Phänomens beschreibt und nicht erklären kann, wie und wodurch dies erfolgt. Sehr häufig wird hier Beschreibung mit Begründung verwechselt. Aus der Tatsache, dass das Bewusstsein des Kindes bzw. des Frühmenschen im Leib und im Zwischenmenschlichen erwacht, folgt nicht, dass der Leib bzw. die Zwischenmenschlichkeit die zureichende Ursache bzw. der Ursprung des Bewusstseins seien. Sie sind »nur« Bedingungen, allerdings notwendige und wesentlich mitgestaltende Bedingungen, aber keineswegs der Ursprung des Bewusstseins; sie sind nicht hinreichend. Das gilt für die Emergenztheorie allgemein und grundsätzlich.

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sche, methodisch teils noch naive Metaphysik nicht einzulösen in der Lage war und daher – zu Recht – ihre Kritik und Ablehnung hervorrief. Dies erkannte I. Kant, doch gelang es ihm trotz eines anfänglich schweren und langen geistigen Ringens nicht, die rein theoretische Metaphysik zu retten.138 Hauptursache dafür war die Vermischung von (mathematischer) Deduktion und metaphysischer Reduktion bzw. Regression. Und in der Tat behielte er Recht, wenn die reduktivregressive Analyse nicht möglich wäre: Ohne sie könnte die Grenze der möglichen Erfahrung nicht überschritten werden. Weil er den Erkenntnisweg der reduktiv-regressiven Analyse nicht fand, musste für ihn – durchaus konsequent – die Metaphysik als Wissenschaft unmöglich werden.139 Diese Hypothek und vor allem jene genannte Verwirrung der Methoden hat die Philosophie m. E. bis heute nicht erkannt, geschweige denn aufgelöst.

1.12. Denkprinzip gleich Seinsprinzip? Die Verwurzelung des epistemologischen Erkenntnisprinzips im ontologischen Seinsgesetz; ihre Differenz und Identität Das Kernstück der reduktiv-regressiven Analytik als Zentralme­ thode philosophischen und speziell metaphysischen Erschließens und Erkennens ist der Aufweis der negativen Evidenz, d. h. des indirekt-diskursiv ermittelten Selbstwiderspruches eines behaupte­ ten Erkenntniszusammenhanges. Dieser Selbstwiderspruch ist das Ergebnis der argumentatio ex contrario und erweist sich damit als Denkgebilde, als erkenntnisund wissenschaftstheoretisches Produkt und Konstrukt der Vernunft, nicht als Sachaussage zu einer Eigenschaft eines Erkenntnisgegen­ standes. Denn er besagt in Aussagenform, dass etwas in derselben Hinsicht und im selben Augenblick ist und nicht ist, so ist und nicht so ist. Solche Selbstwidersprüche sind zahlreich, sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft. 138 Man bedenke, dass I. Kant seine Hauptwerke erst nach seinem 60sten Lebens­ jahr geschaffen hat! Was die Metaphysik überhaupt betrifft, hat I. Kant sie in praktisch-ethischer Hinsicht zu retten versucht und in Grenzen »gerettet« (vgl. dazu R. Spaemann, 1987, 9ff.). 139 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 45ff. und 308ff.).

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Ein planes Dreieck, das 200 Winkelgrade umfasst, ist streng­ genommen ein Nichts, weder ein Dreieck noch ein Winkel, doch immerhin werden zwei denkbare Gegenstände – Dreieck und Winkel – im Bewusstsein nebeneinandergestellt und zu verbinden gesucht. Da diese Verbindung misslingt, kommt keine Erkenntnis zustande. Es liegt auf der Hand, dass der Versuch dieser Verbindung zweier inkompatibler Sachverhalte nicht nichts, sondern etwas ist, ein Ver­ such bzw. geistiger Akt allerdings, der das erwünschte Ziel, die Verbindung zweier Momente zu einem Erkenntnisgegenstand, nicht erreicht. Als solch gescheiterter Versuch kann dieser Akt nur in einem Bewusstsein, in einem geistigen Wesen bestehen, darum handelt es sich beim Selbstwiderspruch bzw. bei der negativen Evidenz um ein reines Denkgebilde, um nichts Gegenständlich-Objektives. Nur wo denkende Wesen sind, können Selbstwidersprüche und negative Evidenzen auftreten, darum sind sie rein subjektiv, was nicht willkür­ lich meint, sondern subjekthaft, in einem Subjekt erzeugt und (nur) dort bestehend.140 Da die negative Evidenz eine implizite positive Aussage enthält, nämlich die, dass die erstrebte Verbindung zweier Elemente unmög­ lich, und zwar von der Sache her unmöglich ist, kann ein Dreieck in sich nicht zugleich planes Dreieck sein und 200 Winkelgrade umfassen. Hier wird die reine Subjektivität der negativen Evidenz zur inneren Sachhaltigkeit oder Objektivität eines Sachzusammen­ hanges hin überschritten bzw. zu transzendieren versucht. Man kann sagen: Der gescheiterte Erkenntnisversuch deutet die richtige positive Erkenntnis an, indem er zum sachhaft bestandsfähigen Erkenntnis­ zusammenhang hinüberweist. Wenn die Elemente »planes Dreieck« und »200 Winkelgrade« nicht kompatibel sind, sondern sich gegen­ seitig aufheben, dann deutet sich die Möglichkeit eines kompatiblen, sachlich bestandsfähigen Erkenntniszusammenhanges an, der etwa so lauten könnte: Wenn planes Dreieck und 200 Winkelgrade nicht zusammengehen, dann gehen vielleicht planes Dreieck und eine andere Winkelsumme zusammen. Konstruiert man dann die Win­ kelsumme eines beliebigen planen Dreieckes, stößt auf die Winkel­ summe 180 Grad und kann mathematisch-rechnerisch zeigen, dass ausschließlich diese mit dem planen Dreieck vereinbar ist, ist man 140 Bekanntlich verlegt G. W. F. Hegel den denklogischen Widerspruch in die Sache selbst, was zu folgenschweren Verwirrungen führt; außerdem setzt er unsachgemäß den logischen Selbstwiderspruch mit dem positiven Gegensatz (z. B. zwischen Kon­ servativen und Progressiven etc.) gleich.

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von der negativen Evidenz zur positiven Evidenz hinübergelangt. Was heißt dies genauer? Der Übergang von der negativen Evidenz zur positiven Evidenz ist der Übergang vom Selbstwiderspruch, sprich vom Selbstnichtzu­ sammenhang zum Selbstzusammenhang, von der Inkonsistenz zur Konsistenz bzw. Identität: Ein planes Dreieck ist dadurch bestimmt, dass es 180 Winkelgrade umfasst. Oder: Zu seiner Identität, zu seinem objektiven Seinsbestand gehören 180 Winkelgrade. Zwar bildet man auch mit dieser Aussage eine Aussage, einen Satz, also ein geistiges Produkt, etwas Subjektives, doch in objektivsachhafter Form. Das heißt, dass man von dem bloß subjektiven Ge­ bilde der negativen Evidenz in das Innere, das Sachhafte, das »Wahre« des Erkenntnisgegenstandes gelangt ist. Damit wird offenbar, dass der reine erkenntnistheoretische Subjektivismus des negativ-evidenten Selbstwiderspruches in den positiv-evidenten, zwar subjektiv voll­ zogenen, aber objektiv gültigen, weil sachhaft (notwendig) bestands­ fähigen Selbstzusammenhang eines Erkenntnisgegenstandes überge­ gangen ist. Oder anders: Der Satz des Selbstwiderspruches, der nur subjektiv als Denkgebilde bestehen kann, verankert sich im objektiv gültigen Identitäts- bzw. Konsistenzsatz, der zwar auch, aber nicht nur ein Denkgebilde ist, sondern einen objektiven Seinszusammen­ hang wiedergibt, der nicht allein dem Denken, sondern primär dem zu erkennenden Gegenstand entnommen ist. Hier, und zwar nur hier werden Denken und zu erkennendes Sein identisch-eins, und das »parmenideische Programm«: »Denken und Sein sind eins« ist erfüllt.141 Stimmt dies wirklich? Und wie ist es möglich? Möglich wird diese Übereinstimmung dadurch, dass das Denken selbst ein Sein ist und einen Selbstzusammenhang, eine innere, objektive, sachhafte Identität konstituiert oder genauer: dass auch das Denken als bestimmtes Sein, nämlich als ein Sein, das aktiv, selbst­ vollzüglich und bewusst ist, unter dem allgemeinen, grundlegenden und übergeordneten Gesetz des Selbstzusammenhanges, der Identität und der Konsistenz steht, das positiv besagt, dass etwas, das ist, so ist, wie es ist, bzw. negativ, nicht so ist, wie es nicht ist bzw. nicht so ist, wie es nicht sein kann. Erkenntnisbestrebtes Denken und zu erkennender Gegenstand stehen demnach koordiniert und nicht, wie I. Kant meint, subordiniert unter dem Seinsgesetz des Selbstzusammenhanges, und genau deswegen können sie einander 141

Siehe Parmenides (1981, 7).

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begegnen und in gewissen Hinsichten eins werden.142 Wären sie absolut verschieden und inkompatibel, wäre Begegnung unmöglich, womit eine jede Erkenntnis unmöglich wäre. Da es aber unmöglich ist, dass das Denken, das so ist, wie es ist, und nicht so sein kann, wie es nicht sein kann, einem Gegenstand begegnet, der so ist, wie er nicht ist, bzw. nicht so ist, wie er ist, wäre es unmöglich, wenn solch ein Gegenstand möglich wäre, da er in diesem Falle weder angeschaut noch erkannt werden könnte. Doch ist, wie gezeigt, solch ein Gegenstand nicht bestandsfähig, da er in sich, weil das Gesetz des Selbstzusammenhanges verletzend, unmöglich ist. Viele Erkenntniszusammenhänge sind für den Menschen nicht direkt erkennbar, sprich nicht durch direkt-einfache bzw. intuitive Anschauung erfassbar. Im Gegenteil sind die meisten Erkenntnis­ zusammenhänge dem Menschen verborgen. So gibt es z. B. in der Mathematik unendlich viele unendliche Größen, die alle vom Men­ schen nicht direkt angeschaut und erfasst werden können. Von diesen unendlich vielen, direkt für den Menschen unzugänglichen Gegen­ ständen und Verhältnissen gibt es manche, die dem Menschen ganz verborgen sind, von denen er also nicht einmal weiß, dass es sie gibt, und solche, die er, indirekt erschließend, erkennen kann. So kann er z. B. die Diagonale eines Quadrates in ihrem wahren Sein, das ein unendliches Größenverhältnis umfasst, nicht direkt anschauen und erkennen, und dennoch vermag er zu erschließen, und zwar mit notwendiger Gültigkeit, dass diese Diagonale keine rationale, endlich bestimmbare Länge besitzt. Solche Erkenntnis kommt auf einem Umweg, indirekt, erschließend, durch einen argumentativen Diskurs zu ihrem Ziel, nicht direkt durch einfachen Hinblick. Die indirekte Erkenntnis, auf die der Mensch mit seinem beschränkten direkten Erkenntnisausschnitt, seiner »kleinen Phä­ nomenologie«, deshalb angewiesen ist, weil das Gegenstandsfeld unendlich groß ist, erarbeitet ihre Gültigkeit, indem sie von einem behaupteten, erkenntnismäßig und sachlich jedoch unmöglichen zu einem möglichen oder notwendigen Selbstzusammenhang übergeht. Auch sie tritt nicht aus dem erkennenden Subjekt heraus, aber sie wird 142 Siehe N. Hartmann (1964, 112): »Denn das Erkenntnisgebilde ist dem Erkennt­ nisgegenstande zugeordnet, hat also den Sinn, ihn zu repräsentieren. Es kann nur Erkenntniswert haben, soweit es die Seinsstruktur des Gegenstandes wirklich im Bewusstsein »darstellt« (repräsentiert); und darstellen kann sie es nur, wenn es sich auf den gleichen Kategorien aufbaut wie der Gegenstand.« (kursiv von B. W.).

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dadurch objektiv gültig, dass sie erstens in die innere Seinsstruktur eines Erkenntnisgegenstandes vordringt, und zweitens dass sie einem Gesetz, erkenntnistheoretisch dem Gesetz des (unmöglichen) Selbst­ widerspruches und ontologisch dem Gesetz des einzig möglichen Selbstzusammenhanges, der Identität bzw. Konsistenz, gehorcht, das nicht, wie I. Kant meinte, vom Subjekt ausgeht und einseitig den Erkenntnisgegenstand bestimmt, sondern logisch zugleich über bzw. im erkennenden Subjekt und im Erkenntnisobjekt steht und beide in ihrem Da- und Sosein bis auf den Grund bestimmt. Somit wurzelt der Satz der Identität im Sein selbst, stets direkt erfahrbar im Sein des Denkenden selbst und entweder direkt im angeschauten Sein des erfahrenen Denkgegenstandes oder indirekt im nur erschlossenen Denkgegenstand. Der Satz der Identität, zunächst ein Denkgebilde, ist in einem ontologischen Gesetz, im Selbstzusammenhang des Seins überhaupt, verankert. Und weil dies so ist, kann das Denken objektiv, d. h. seins- und sachgerecht, seins- und sachbestimmt, gegenstandsund realitätsbezogen, sein.143 Somit wird deutlich, inwiefern Denken und Sein identisch sein können, nämlich da, wo sie beide gleichermaßen dem Grundgesetz der Identität – weiter des Zusammenhanges, der Ganzheit und Ein­ heit – unterworfen sind und eben das sind, was sie jeweils sind. Doch nur im Grunde, also dort, wo das Urprinzip der Identität gilt, sind sie real identisch, ansonsten weisen sie Differenzen auf. In der Erkenntnis soll das Denken dem Sein gleich werden, soll sich ihm so hingeben und anschmiegen, dass dieses jenem offenbar und angesichtig wird.144 Das zu erkennende Seiende kann jedoch nur offenbar werden, wenn es sich zeigt, wenn es sich zeigen kann, und das kann es nur, wenn es sich 143 Unter manchen Philosophen und Theologen gibt es die Auffassung, der Satz des zu vermeidenden Selbstwiderspruches gelte nur für den »endlichen« Verstand und nicht für die »überendliche« Vernunft oder den Glauben, sodass den beiden Letzteren erlaubt sei, einer Wirklichkeit, z. B. Gott, in ein und derselben Hinsicht zugleich Eigenschaften zuzuweisen, die sich gegenseitig aufheben. Wäre das richtig, dürfte man z. B. behaupten, dass Gott in derselben Weise existiert und nicht existiert, was offensichtlich widersinnig ist. Da der epistemologische Satz des Widerspruchs auf den ontologischen Identitätssatz zurückgeht, kann er niemals außer Kraft gesetzt werden. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen Verstand, Vernunft und Glauben. Zwar gibt es (Glaubens-)Wahrheiten, die den menschlichen Geist (Verstand und Vernunft) übersteigen, aber niemals in widervernünftiger Weise. Das betonte schon Thomas von Aquin. 144 Nach der berühmten Formel des Thomas v. Aquin (1970): »Adaequatio rei et intellectus«, in: De Veritate, quaestio 1, articulus 1.

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so zeigt, wie es ist und wie es sein muss. Andererseits kann sich das zuerkennende Seiende nur zeigen, wenn das erkennende Seiende, das Denken, offen ist zu sehen, sehfähig, aufnahmefähig, hingabefähig, also so ist, wie es ist und sein kann, und nicht so, wie es nicht ist und nicht sein kann.145 Da erkennendes Denken und zuerkennendes Sein nur im Grunde apriori identisch, ansonsten zumeist sehr verschieden sind, etwa weil, was der häufigste Fall ist, das Denken aktiv, bewusst und selbstbestimmt, das zu Erkennende ein passives Ding ist wie z. B. das Dreieck oder ein Sinnending, muss eine aktive Angleichung, eine adäquatio activa, eine »Identifizierung« (erkenntnistheoretisch, nicht psychologisch verstanden) erfolgen. Das wiederum ist nur dadurch möglich, dass sich das Aktive an das Passive oder evtl. an Aktives, z. B. an ein anderes Ich, das Erkenntnissuchende sich an das Erkenntnisgebende anschmiegt und ihm überlässt. Hier gilt, dass Denken und Sein nicht identisch sind, jedoch im Erkenntnisgeschehen »einig« werden können und im Erfolgsfall ihre »chymische Hochzeit« feiern. Solche Identifikation hat ihre Grenzen, und manchmal ist sie überhaupt nicht möglich, so etwa, wenn ein Mensch versuchen wollte, die Perspektive eines anderen Ich vollstän­ dig und vollkommen einzunehmen, was aufgrund der unübernehm­ baren Eigenaktivität des Anderen unmöglich ist. Andererseits reicht sie viel weiter, als etwa I. Kant dachte, und zwar deshalb, weil dem Menschen der indirekte Erkenntnisweg offensteht, den I. Kant durch die Abweisung eines analytischen Urteils, das neue Erkenntnis zu geben imstande ist, für ungangbar hielt.146 Seiner Meinung nach ist 145 Wollte das erkennende Denken z. B. sich verweigern, sich anzugleichen, sondern wollte (vgl. F. Nietzsche!) »befehlen«, würde es seine spezifische Seinsart und damit seine Erkenntnismöglichkeit verfehlen. 146 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 52), wo er vom bloßen »Erläuterungsurteil« spricht, das angeblich keine neue Erkenntnis geben könne. Wie viele Logiker setzt I. Kant hier das analytische mit dem tautologischen Urteil gleich. Dieses gibt in der Tat keine neue Erkenntnis, sondern sagt im Urteilsprädikat offen dasselbe aus, was im Urteilssubjekt bereits explizit gesagt ist: »Der Schimmel ist weiß.« Im analytischen Urteil wird dagegen zwar im Urteilsprädikat auch nur ausgesagt, was im Urteilssubjekt enthalten ist, doch ist dieser Inhalt implizit, noch unaufgedeckt enthalten und muss erst bewusstgemacht und eigens herausgehoben werden. O. Willmann (1979, 393) spricht in seiner Kantkritik treffend von einem »eingewickelten« Urteilsprädikat. Das analytische Urteil liefert entgegen I. Kant darum sehr wohl neue Erkenntnis. Im Falle der metaphysischen, genauer, reduktiv-regressiven Erkenntnisgewinnung handelt es sich um eine bestimmte, komplizierte Verkettung von analytischen Urteilen, die

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die menschliche Erkenntnis in die Grenzen der möglichen Erfahrung, letztlich in den direkten Erfahrungshorizont gebannt. Doch schon die positiven Wissenschaften, erst recht die Mathematik, widerlegen diese Behauptung, da sie alle auf indirektem Wege zweifellos vielfäl­ tige Erkenntnisse und nicht selten solche Erkenntniszusammenhänge ermitteln, die grundsätzlich jenseits der Erfahrung liegen, Zusam­ menhänge etwa über den Ursprung des Weltalls, über das Wesen des Unbewussten, über die inneren Motive eines Anderen oder über die innere Struktur eines unendlich großen oder kleinen mathematischen Sachverhaltes, welche Erkenntnis, obwohl transempirisch, dennoch notwendiger Natur ist. Um diesen alles entscheidenden Punkt – den Kern der philo­ sophischen Erkenntnismethode, die reduktiv-regressive Analytik – deutlicher herauszuheben und philosophisch-erkenntnistheoretisch gründlich zu belegen, folgt der Versuch, den Kantischen Standpunkt, der das größte Hindernis einer jeden wissenschaftlichen Metaphysik darstellt, darzulegen und, wo möglich, zu überwinden.

1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre 1.13.1. Mit seiner »Kritik der reinen Vernunft« von 1881 hat Immanuel Kant (1724–1804) die radikalste Metaphysik- und damit überhaupt Philosophiekritik, die die Philosophiegeschichte kennt, geschrieben. Sich dessen selbst vollbewusst, stellte sie I. Kant auf die Stufe der von Kopernikus bewirkten Revolution der Astronomie.147 über die Erfahrung hinaus mittels erst reduktiver, dann regressiver Urteile neue Erkenntnisse gewinnt. Es ist allerdings zu bemerken, dass I. Kant an anderer Stelle in der Einleitung der KdrV durchaus sieht, dass das analytische Urteil etwas nur »verworren« Erkanntes ins helle Licht des Bewusstseins hebt und insofern doch Neues, zuvor Unbekanntes erkennt. Leider nutzt er diese Einsicht nicht. 147 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 25); vgl. erläuternd E. Hirschberger (1980, 268ff.). Was die generelle Kritik an I. Kants Philosophie betrifft, besonders an der Autonomisierung des Subjekts und an der Subjektivierung der ontologischen Prinzipien, sei auf die kluge und umfassende Kritik O. Willmanns (1979, 292–401: Der Autonomismus als Nerv des kantischen Philosophierens) verwiesen, die allerdings

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1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre

Ihre Durchschlagskraft erhält I. Kants Kritik nach seinen eigenen Angaben dadurch, dass sie, um überhaupt vernünftig argumentieren zu können, Wesen, Struktur, Funktion, Umfang und Grenze der Vernunft selbst zu bestimmen sucht. »Kant spürt daher das Verlangen, die Grenzen deutlicher zu ziehen, aus dem Dogmatismus herauszu­ kommen, ohne in Skepsis zu verfallen.«148 Sein Ergebnis ist, dass menschliche Erkenntnis über die Grenzen möglicher Erfahrung nicht hinauszukommen vermag, da sie unabdingbar an die Anschauung – die empirische Anschauung in der Welt- und Selbsterkenntnis, die reine Anschauung in der Mathematik – gebunden sei. Die Möglich­ keit transempirisch-metaphysischer Erkenntnis wird somit, weil sie nach I. Kant nur mit leeren, anschauungslosen Begriffen umgehe und keinen Anhalt in der Anschauung habe, unmöglich.149 Auf drei Säulen stellt I. Kant diese seine Erkenntnistheorie: auf die Säule der sinnlich erfahrenen Empfindungswelt der Farben, Töne etc., auf die Säule der nach ihm vorempirisch-apriorischen Anschau­ ungsformen von Zeit und Raum und auf das System der reinen Begriffe, Urteile und Kategorien. Was das Wesen, den Seinsstatus, die Herkunft und die Auffassungsmöglichkeit der Sinnesempfindungen (Farbe, Klänge, Wärme, Druck etc.) angeht, so fasst sich I. Kant in seiner »transzendentalen Ästhetik« sehr kurz, so dass sie in ihrem Sein, ihrem Wesen und ihrer Herkunft weitgehend im Dunklen bleiben. Immerhin folgert er aus ihrer Unverfügbarkeit und Nichtma­ nipulierbarkeit (?) durch die menschliche Auffassung, dass sie von einer nicht wegzudiskutierenden, an sich seienden Welt zeugen und vom Menschen nicht »gemacht« oder synthetisiert, sondern rezeptiv aufgenommen werden. Obwohl dasselbe von Raum und Zeit gilt, denn auch sie erfährt der Mensch als rezeptiv aufgenommene, kaum verfügbare Wesens­ züge der empirischen Welt, hält I. Kant dafür, dass sie vor aller Erfah­ rung im Menschen bestehen und die Anschaulichkeit der empirischen Welt konstituieren. Ja, er wagt sich so weit zu behaupten, die »Dinge an sich selbst«, also die Welt, insofern der Mensch meint, sie bestünde unabhängig von ihm, könnten objektiv weder räumlich noch zeitlich die Unhaltbarkeit des zentralsten Kantischen Philosophems, des synthetischen Urteils apriori, nicht untersucht, was in diesem Kapitel getan wird. 148 Siehe E. R. Sandvoss (2001, 276–267). 149 Weiter oben wurde gezeigt, dass Vieles aus der physischen Welt dem Menschen insofern transzendent ist, als es sich seiner Erfahrung prinzipiell entzieht, Metaphysik also auch physische Regionen umfasst.

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ausgedehnt sein. Da fragt sich allerdings, wie und woher er das wissen kann. Denn insofern nach I. Kant die Dinge in ihrem selbständigen Weltsein total unerkennbar sind, kann der Mensch strenggenommen weder wissen, ob sie raumzeitlich bestimmt sind, noch, ob sie es nicht sind. I. Kants Annahme, nur die Erscheinungswelt, nicht die Dinge an ihnen selbst seien raumzeitlich bestimmt, schließt Letzteres keineswegs aus. Im Gegenteil wäre zu fragen, wie Dinge, die an ihnen selbst völlig zeit- und raumlos sein sollen, überhaupt in raumzeitliche Erscheinungen sollen übergehen können, zumal I. Kant jene als die notwendige ontologische Voraussetzung für diese betrachtet und hierbei sogar ein Kausalverhältnis unterstellt, das er sonst strikt nur auf die Erscheinungswelt beschränkt! Logisch können in Wahrheit nur solche Dinge an sich erscheinen, die dazu in der Lage sind, und insofern können sie nicht völlig unerkennbar sein. Die dritte Säule bzw., wie I. Kant sagt, den dritten Stamm unseres Erkenntnisvermögens bilden die Begriffe bzw. Urteile, in und mit denen der Mensch den nach I. Kant angeblich chaotischen bzw. verworren zerstreuten Empfindungsstoff gliedert, ordnet und versteht.150 Auch dies geschehe apriorisch, was heißt, dass die Ord­ nungen, die der Mensch in der Welt zu finden meint, wie I. Kant selbst sagt, in sie hineinlegt, philosophisch genauer, von ihm konstituiert sind. Abgesehen davon, dass die empfundene Welt nie chaotisch vorgefunden wird und eine reiche, vom Menschen nicht erzeugbare Binnenstruktur aufweist, wäre auch hier zu fragen, wie eine Welt beschaffen sein muss – an deren Objektivität I. Kant, obschon nach ihm unerkennbar, unbedingt festhält –, dass sie diese Projektionen theoretisch und vor allem praktisch zulässt und ermöglicht, also damit grundsätzlich kongruent und adäquat ist.151 Es muss betont werden, dass das »Chaos der Empfindungen« keineswegs, wie I. Kant behauptet, eine empirische Tatsache ist, sondern bestenfalls eine Hypothese, die I. Kant ungeprüft und unerwiesen voraussetzt, welche Voraussetzung wiederum die entscheidende Basis für seine Annahme ist, dass alle Strukturierung der Erfah­ rung vom Anschauen und Denken des Subjektes ausgehe. In Wahrheit ist die »Empfindungsmaterie« immer schon strukturiert, ja hochstrukturiert, etwa gemäß der Sinnesorgane oder gemäß inneren Gesetzen (Farbenkreis, Obertonreihe etc.), die von der Vernunft nicht originär gesetzt und synthetisiert, sondern rezeptiv-aktiv aus der Erfahrung entnommen und »nachgestaltet« werden. 151 Vgl. meine Dissertation (2023, Kap. X), wo auch gezeigt wird, dass ohne die Klärung des Wesens, der Stellung und der intrinsischen Ordnungen der Sinnesemp­ findungen die Leiblichkeit ein Rätsel bleibt, und es daher wenig verwundert, dass die Leiblichkeit bei I. Kant kaum eine Rolle spielt. 150

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1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre

Da für I. Kant Denken und Erkennen notwendig in Urteilen erfolgen, was noch in diesem Kapitel kritisch hinterfragt wird, steht im Mittelpunkt seiner Argumentation letztlich jedoch weniger die Frage nach dem Status der Empfindungen oder der Anschauungsformen für die Erkenntnisleistung des Menschen, sondern, trotz dieser sehr wertvollen, leider nicht ausgeschöpften und durchdachten Triadisie­ rung des Erkenntnisapparates, die Frage nach Wesen und Anzahl der logischen Handlungen, also der Urteile. Und so wird seine Analyse des Erkenntnisapparates von der Frage geleitet: Was sind Urteile überhaupt? Welche gibt es? Wie und worüber kann der Mensch überhaupt urteilen und auf diesem Wege Erkenntnisse gewinnen? Und dann: Wie ist, da allgemeine und notwendige Erkenntnisse nach I. Kant in der Erfahrung unmöglich sind, aber in der reinen theoreti­ schen Physik und in der Mathematik unbezweifelbar vorkommen, solche notwendige Erkenntnis vor oder über alle Erfahrung hinaus möglich?152 Die zentrale Rolle spielt dabei nach I. Kants153 eigenem Bekunden die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des »synthetischen Urteils apriori«, was im Folgenden erläutert wird.154

1.13.2. Nach I. Kant vollzieht sich die theoretische Erkenntnis des Menschen gemäß der Einleitung in der »Kritik der reinen Vernunft«, in den »Prolegomena« und zum Teil schon in den beiden Vorreden der Kritik der reinen Vernunft in Urteilen. Diese Urteilseinteilung, die nach ihm Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 45–66). Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 58f.). 154 In seiner Schrift (1970b) rekonstruiert W. Stegmüller, worin für I. Kant die »Not­ wendigkeit« bestand, die Erkenntnismöglichkeit des synthetischen Urteils apriori aufzustellen. Im Kern läuft seine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheore­ tische Überlegung auf folgendes Resümee hinaus: Um die Newtonsche Theorie philosophisch »definitiv zu begründen« (1970b, 22), muss I. Kant die Möglichkeit einer synthetischen Erkenntnis apriori erweisen, da er den Weg des Wolffschen Rationalismus, der aus obersten logischen Prinzipien die Naturgesetze deduktiv herleiten will, (zu Recht) für ungangbar, den skeptischen Weg des Empirismus von D. Hume, für den eine definitive Begründung der Naturwissenschaft unmöglich ist, für inakzeptabel hält. Vgl. weiter zum Problem W. V. O. Quine (1972, 167–194), der die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen analytischen und synthetischen Sätzen grundsätzlich bestreitet, was allerdings nicht der Aufgabe enthebe zu klären, welcher Natur Urteile überhaupt sind und welche Rolle die Synthese darin spielt. 152

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»klassisch« genannt zu werden verdiene, für die Kritik des mensch­ lichen Verstandes unentbehrlich sei und aller Wissenschaftlichkeit zugrunde liege, formiere sich in zweimal zweierlei Urteilsarten.155 Zum Ersten stößt man auf Urteile, in welchen der Begriff des Prädikates im Subjektbegriff des Urteils notwendig enthalten ist: das sind die analytischen Urteile, nach I. Kants Beispiel »Der Körper ist ausgedehnt«.156 Zweitens gibt es Urteile, in welchen der Begriff des Prädikates im Subjektbegriff gemäß I. Kant nicht enthalten ist, sondern zu diesem von außen hinzukommt, und das sind die synthetischen Urteile, bei I. Kant: »Der Körper ist schwer« und »7+5 = 12«. In einer anderen Hinsicht findet I. Kant Urteilsformen, die sich in ihrem jeweils besonderen Bezug zur Erfahrung konstituieren: – –

erstens die aposteriorischen Urteile, die primär von der Erfah­ rung ausgehen und sich in der Erfahrung vollziehen und da Erkenntnis festsetzen: »Der Körper ist schwer«; und zweitens die apriorischen Urteile, die nicht aufgrund der Erfahrung, sondern vor und unabhängig von ihr aufgestellt werden, wiewohl sie stets von der Erfahrung angeregt, I. Kant sagt, »aufgereizt« werden, so das Urteil »7+5 = 12« oder das Urteil: Die echte oder reine Diagonale eines Quadrates, die es so weder im Vorstellen noch im Physischen geben kann, ist

Vgl. zur »Klassizität« I. Kant (Werke, Bd. III, 2011, 129). Um das Wesen des Urteils und seinen Zusammenhang mit den Vorgängen von Analyse und Synthese zu bestimmen, muss zuerst das Wesen des Analytischen und Synthetischen bedacht werden, was I. Kant in der Einleitung der KdRV nicht tut. Für die Zwecke dieser Arbeit mag es vorerst genügen, unter Analyse nicht das reale, von der Naturwissenschaft geübte Zerlegen oder Spalten eines Gegenstandes in seine Teile (z. B. die Spaltung des Atoms), sondern, wie das auch I. Kant so versteht, das Unterscheiden und Beziehen von Aspekten und Momenten eines einheitlichen Sach­ verhaltes zu verstehen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Unterscheiden von miteinander real zusammenbestehenden Momenten impliziert, den mitgegebenen Zusammenhang dieser Momente zu denken, was keine Synthese darstellt, sondern nur eine »Zusammenschau« (Konspektion). Unter Synthese soll demgegenüber das Zusammenbringen, Zusammenfügen und Zusammenhalten von verschiedenen, zuerst getrennt bestehenden Realitäten zu einer neuen Einheit verstanden werden, was etwa der Fall ist, wenn in der Sinneswahrnehmung ein Weltgegenstand mit dem Bewusstsein des Wahrnehmenden oder wenn in der Sprachbildung etwas zu Bezeichnendes mit dem bezeichnenden Zeichen oder wenn aus Steinen eine Mauer zusammengebracht und zu einer neuen, vorher so nicht bestehenden Einheit synthe­ tisiert wird. 155

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irrational, das heißt: kann durch ein endliches Verhältnis nicht ausgedrückt werden. Bei analytischen Urteilen sei nach I. Kant Erfahrung weder nötig noch möglich, da hier der Begriff des Prädikates ohnehin im Subjektbegriff enthalten sei.157 Aufgrund dieser Eigenschaft erweitern sie darum nach seiner Auffassung den Begriff des Satzsubjektes nicht und geben keine neue Erkenntnis. Sie stellen nur »Erläuterungsurteile« dar. Das aposteriorische Urteil komme dagegen dadurch zustande, dass der Begriff des Prädikates aufgrund der Erfahrung als zum Begriff des Subjektes zugehörig erkannt werde und darum diesem, das auch ohne jenes Prädikat als Eigenschaft bestehen kann, beigelegt werde. Hier sei neue Erkenntnis möglich, was die Grundlage für den Ausbau aller Erfahrungswissenschaften sei. Bei solchen Urteilen handele es sich daher um »Erweiterungsurteile«. Daneben gibt es gemäß I. Kant Wissenschaften, die (angeblich) versuchen, ohne Hilfe der Erfahrung neue Erkenntnisse zu liefern. Solche Wissenschaften sind die Mathematik und die Metaphysik. Aufgrund ihrer empirischen Erfahrungsunabhängigkeit können sie nach I. Kant nur in synthetisch-apriorischen Urteilen aufgebaut wer­ den, solchen Urteilen, die ohne alle Erfahrung rein aus der Struktur der Vernunft entworfen oder hergestellt werden.158 Da sich die Ma­ thematik auf die reine, die Metaphysik aber weder auf eine empirische noch auf eine reine Anschauung stütze, stellt sich für I. Kant die Frage, wie synthetisch-apriorische Urteile überhaupt möglich sind. Um dieses Problem kreist, wie von I. Kant selbst betont und allgemein anerkannt wird, sein großes erkenntnistheoretisches Werk, die Kritik der reinen Vernunft. W. Stegmüller bestätigt diese Sicht und erweitert sie zur radikalen Frage: »[...] ob es synthetische Urteile apriori gibt, ist in einer gewissen Hinsicht eine Schicksalsfrage der Philosophie.«159 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. III, 2011, 126): »Erfahrungsurteile sind jederzeit synthe­ tisch. Denn es wäre ungereimt, ein analytisches Urteil auf Erfahrung zu gründen.« Kann man das nach I. Kant rein analytische Urteil »Der Körper ist ausgedehnt« ohne alle Erfahrung eines Körpers überhaupt bilden? Vgl. ähnlich I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 53): »Denn es wäre ungereimt, ein analytisches Urteil auf Erfahrung zu gründen, weil ich aus meinem Begriffe gar nicht hinausgehen darf, um das Urteil abzufassen, und also kein Zeugnis der Erfahrung dazu nötig habe.« 158 Vgl. Stichwort »synthetisch«, »Synthese« in: Enzyklopädie Philosophie und Wis­ senschaftstheorie (2004, 181ff.). 159 Siehe W. Stegmüller (1954a, 535f.). Vgl. weiter zum Problem des apriorischen Urteils: B. v. Brandenstein (1976, B., 57ff.: Das Urteil); ders., Grundlegung der Philo­ 157

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1.13.3. Wie also sind synthetisch-apriorische Urteile möglich? Sie sind dadurch möglich, sagt I. Kant, dass die Subjekte mit den reinen Anschauungen der vor allem das Innenleben bestimmenden Zeit und des die Außenerfahrung bestimmenden Raumes, die die gesamte Erfahrung formen, auch vor oder außer der tatsächlichen Erfahrung Urteile bilden können, die sich synthetisch und apriorisch konstituie­ ren. Diese Urteile heißen »rein«, nicht weil sie ohne Inhalt wären, sondern weil sie nach I. Kant erfahrungsfrei bzw. nur erfahrungsange­ regt zustande kommen: so vor allem die Urteile der Mathematik, der reinen Naturwissenschaft und – nach I. Kant irrtümlicherweise, wie wir sogleich sehen – der Metaphysik.160 Da die Objekte der Metaphysik aber außer der Zeit und des Rau­ mes und so auch außerhalb aller möglichen Erfahrung liegen, gebe es für sie kein Medium und keinen Anhalt, vermittels dessen auf sie bezogene apriorisch-synthetische Urteile gebildet und an der Realität überprüft werden könnten, weshalb keine für diese transempirischen Dinge gültigen theoretischen Urteile möglich seien.161 Darum hät­ sophie (1966, Bd. 4, 152–159) und (181–185), an die ich mich bei meinen folgenden Ausführungen in den Grundzügen anlehne. 160 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. III, 2011, 521): »Der Begriff ist entweder ein empirischer oder ein reiner Begriff (vel empiricus vel intellectualis). – Ein reiner Begriff ist ein solcher, der nicht von der Erfahrung abgezogen ist, sondern auch dem Inhalte nach aus dem Verstande entspringt.« Im Gegensatz zu Aristoteles, für den allgemeine Erkenntnis durch das »Abziehen« (Abstrahieren) der allgemeinen Form vom konkre­ ten empirischen Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung zustande kommt, vertritt I. Kant die Ansicht, dass gewisse Begriffe (und ihr Inhalt!) im Sinne des Rationalismus mit seiner Theorie der ideae innatae rein aus dem Verstande entspringen bzw. diesem entnommen werden können. Allerdings meint I. Kant, dass es trotzdem eines empirischen Anstoßes bedürfe, damit es zur reinen intellektualen Begriffsbildung komme. Beispiel: Ein empirisches Dreieck, das in Wahrheit nie ein echtes Dreieck sein kann, erweckt den Verstand, den reinen Begriff des echten geometrischen Dreieckes zu bilden. Diesen aus der Mathematik bekannten Vorgang überträgt I. Kant auf alle Philosophie bzw. apriorische Wissenschaft, was erweisbar inadäquat ist. Die Erhellung z. B. der inneren Wesensstruktur der Trauer, des Wollens oder der Zeit, des Raumes etc. und ihre Rückführung auf die »Bedingungen ihrer Möglichkeit« hat mit der Mathematik und ihren deduktiven Verfahren nichts zu tun, sondern ist ein typisch analytisch-reduktives und regressives Vorgehen, das aus dem bedingt Gegebenen in reduktiven Urteilen sein immanentes Strukturgefüge und in regressiven Urteilen seine oft transzendenten, letztlich unbedingten Seinsvoraussetzungen ermittelt. 161 Da schon die zeitlich-räumliche, weiter materielle Welt nicht direkt, sondern nur mittels der sinnlichen Wahrnehmung erfahren werden kann, weil sie an sich

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1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre

ten die auf sie bezogenen synthetischen Urteile keine konstitutive, d. h. erkenntnisgebende, sondern bloß regulative, die Gesamtheit der tatsächlichen und möglichen Erfahrungserkenntnis ordnende und in gewissem Sinne lenkende Bedeutung. Wenn der Mensch, darüberhinausgehend, beanspruche, solchen metaphysischen Sätzen Erkenntnisbedeutung beizulegen, dann werde er »dogmatisch« bzw. unkritisch und verfalle unvermeidlich in Widersprüche und Kontra­ diktionen, so dass einander widersprechende Urteile mit gleicher Gültigkeit in ein und derselben Hinsicht Wahrheit beanspruchen, damit aber in Wahrheit nichts bzw. alles beweisen. Das ist im Kern der Standpunkt der Kantischen Erkenntnistheorie bezüglich der Grenzen der Erkenntnis der menschlichen Vernunft. Was ist kritisch dazu zu sagen?

1.13.4. Das Erste, was angemerkt werden muss, ist, dass I. Kant diese Urteils­ lehre, die zweifellos, auch von ihm selbst betont, grundlegend für sein gesamtes kritisches Werk ist, ohne jeden kritischen Erweisversuch und mit schlichter Selbstverständlichkeit, also, wissenschaftlich gese­ hen, »dogmatisch« hinstellt. Der Leser der Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft erfährt –

erstens nicht, warum sich die theoretische Erkenntnis nur oder hauptsächlich in Urteilen vollzieht;

transempirisch besteht, ist die Behauptung problematisch, Metaphysik beziehe sich nur auf Gegenstände außerhalb von Zeit und Raum. Im Gegenteil, die Metaphysik z. B. des materiell-empirischen Raum-Zeitgeschehens gehört zu den schwierigsten metaphysischen Problemen überhaupt. Richtig dagegen ist, dass sich Metaphysik auf Gegenstände bezieht, die außerhalb des subjektiven Erscheinungsraums und der subjektiven Erscheinungszeit liegen. Da gemäß I. Kant die »Dinge an sich« bzw. die objektive Welt weder zeitlich noch räumlich sind, meint er mit Zeit und Raum nur die subjektive Anschauung der beiden. Und da hat er Recht, dass die Metaphysik über diese Zeit-Raum-Anschauung hinausstrebt. Unrecht hat er, dass die Metaphysik von reinen Begriffen und von keinerlei Erfahrung ausgehe; das ist weder bei Platon und Aristoteles noch bei R. Descartes und G. W. Leibniz der Fall. Im Folgenden wird dies kritisch hinterfragt.

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zweitens nicht, wie ein Urteil vor bzw. unabhängig von aller Erfahrung möglich sein soll;162 drittens nicht, warum es gerade die zweimal zwei Kriterien des Analytisch-Synthetischen und des Aposteriorisch-Apriorischen sind, die alle möglichen Urteile formieren; und viertens nicht, welche Urteilsform verwendet wird, die die Urteile in analytische und synthetische, apriorische und apos­ teriorische unterscheidet.

Ad 1. Der erste Punkt betrifft die Erkenntnis überhaupt, insbesondere die theoretische, und problematisiert nicht, dass es nicht nur diskursiv­ theoretische, sondern auch intuitiv-verstandesmäßige, des Weiteren praktische und emotionale Erkenntnisweisen gibt. Wie vollziehen sich diese? Und sind auch diese in den Horizont möglicher Erfah­ rung eingeschlossen? Die Behauptung, philosophische Erkenntnis vollziehe sich nur in (diskursiven) Urteilen, muss man verneinen, schon deswegen, weil alle, auch die theoretisch-diskursive Erkenntnis einer Basis bedarf, die nicht wieder nur diskursiv konstituierbar ist, weil man sonst in einen infiniten Regress gerät, sondern durch einen einfachen direk­ ten Hinblick, durch einen ganzheitlich intuitiven bzw. konspektiven Erschauungsakt zustande kommt.163 Diese Behauptung wird schon Siehe I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 13): »Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag [...] Diesen Weg, den einzigen, der übrig gelassen war, bin ich nun eingeschlagen und schmeichle mir, auf demselben die Abstellung aller Irrungen angetroffen zu haben, die bisher die Vernunft im erfahrungsfreien Gebrauche mit sich selbst entzweit hatten.« Liegt hier nicht insofern ein Selbstwiderspruch vor, als I. Kant einerseits beweisen will, dass alle Erkenntnis, die über die Grenzen der möglichen Erfahrung hinausgeht (was er Metaphysik nennt), unzulässig, weil unmöglich ist, andererseits dies dadurch erreichen will, dass er das Wesen der Vernunft (und ihre Grenzen) vor aller Erfahrung, also doch wohl sei es transempirisch, transzendental oder sei es transzendent, bestimmen will? 163 Dies bestätigt I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 16f.) insofern, als er zugibt, dass er der intuitiven Basis alles Denkens und ihrer »obzwar nicht so strengen, aber doch billigen Forderung nicht habe Genüge leisten können.« Diese Aussage hängt mit I. Kants Festsetzung zusammen, gemäß der philosophische Verstandeserkenntnis nur diskursiv sei (vgl. Werke, Bd. III, 2011, Prolegomena, § 7). Eine genauere phänomenologische 162

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1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre

durch die Grundstruktur des Urteils erwiesen. Denn woher nehmen die urteilenden Subjekte das Urteilssubjekt, von dem diskursiv ein Urteilsprädikat ausgesagt bzw. dem ein solches beigelegt wird? Wie­ der von einem Urteil? Keineswegs, sondern von einer Wahrnehmung, einer Erfahrung, einer Gewahrung. Und auch diese darf mit Recht theoretisch, nur nicht diskursiv-urteilsmäßig-theoretisch, sondern intuitiv-anschauend-theoretisch genannt werden.164 Eine »Kritik der Vernunft«, die das Wesen des erkennenden Geis­ tes bis auf seinen Grund durchleuchten will, kann nicht ohne Schaden auf die Betrachtung der intuitiven Basis aller Erkenntnis verzichten.165 Die moderne Phänomenologie hat daran zu Recht angesetzt und damit neue Wege eröffnet. Allerdings darf hier Intuition nicht mit Gefühlsahnung oder »Schau in andere Welten« gleichgesetzt werden. Wie B. v. Brandenstein166 in seiner Wissenschaftslehre zeigt, wirkt in der theoretischen Intuition als Hauptkraft die »gehaltliche oder qua­ litative Nachsetzung«, mittels welcher überhaupt erst der zu erken­ nende Sachverhalt bzw. seine Repräsentation ins Bewusstsein gesetzt wird, so im Rahmen der Sinneswahrnehmung oder im Falle der Phantasiesetzung. Hierbei handelt es sich noch nicht um ein Urteil, sondern um dessen Vorbereitung und Fundierung, also um eine echte Synthese, in der sich das Bewusstsein mit einem, dann urteilsmäßig zu analysierenden, Inhalt zusammenbringt.167 Wie wichtig diese Einsicht ist, werden wir bald an der Behandlung des synthetischen Urteils erkennen, in deren Durchführung I. Kant genau dies, die genauere Differenzierung zwischen dem synthetisch-nachsetzenden Akt und dem darauf aufbauenden (wesenhaft immer) analytischen Urteil, unterlässt bzw. verkennt.

Analyse des Urteils kann das widerlegen – auch der Verstand hat seine intuitive Kom­ ponente, was I. Kant übrigens der Mathematik und ihren Urteilen zugesteht (Werke, Bd. III, 2011, Prolegomena, § 7). 164 Vgl. die Evidenzlehre E. Husserls (1993, 120–127). 165 Vgl. anders W. Stegmüller (1954b), der das Intuitionsproblem für unlösbar hält. 166 Vgl. B. v. Brandenstein (1966, 101ff.). 167 Genauer handelt es sich um eine nachsetzende, also aktiv-rezeptive Synthese, der ein passives Erleiden vorhergehen kann. Vgl. E. Husserl (1929, § 38), wo er in vergleichbarer Weise von der »passiven Synthese« spricht.

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

Ad 2. Eine beinahe noch größere Bedeutung spielt der bei I. Kant nicht genügend präzisierte und differenzierte Erfahrungsbegriff. In sei­ nem gesamten Werk schwankt er auffällig zwischen »Erfahrung überhaupt« und »sinnlicher Erfahrung«, die I. Kant beide zumeist gleichsetzt, jedenfalls nicht klar scheidet. In Wahrheit gibt es, wie bereits erläutert, drei Erfahrungsquellen bzw. Erfahrungsstämme, erstens die sinnliche, über die leiblichen Sinnesorgane vermittelte Erfahrung, zweitens die Erfahrung der nicht sinnlich vermittelten Bewusstseinsgegenstände und drittens die Erfahrung der unsinnlichen und ungegenständlichen Selbstvollzüge (Akte) und Selbstzustände des Subjekts. Die sinnliche Erfahrung lässt sich weiter in zwei Hauptrichtun­ gen scheiden: Da gibt es zum einen jene sinnliche Erfahrung, die sich auf eine Welt bezieht, die außerhalb des Leibes liegt, und zum anderen jene sinnliche Erfahrung, die sich auf die Leibeswelt selbst bezieht und eine Art leiblicher Reflexivität konstituiert. Das Auge, das Ohr, Geruch, Geschmack, Getast und das Gleichgewichtsorgan vermitteln Gestaltungen von der außerleiblichen Welt, während Hun­ ger, Durst, Schmerz, Spannung, Druck, Jucken usw. nichts von der außerleiblichen, sondern von der leiblichen Welt bzw. vom leiblichen Selbst mitteilen. Analog gliedert sich die Erfahrung der inneren Gegenstandswelt charakteristisch auf: Da gibt es erstens die noch sehr stark sinnlich tingierten Phantasien, die dennoch unabhängig von den leiblichen Sinnesorganen rein aus der Imaginations- und Erinnerungskraft des Geistes aufsteigen; da gibt es zweitens die unsinnlichen Gedanken-, Begriffs-, Urteils-, Schluss- und sonstigen abstrakten Vorstellungs­ gegenstände; und da gibt es schließlich drittens die rein idealen Ge­ genstände, etwa die mathematischen Größen, die logischen Gesetze und die verschiedenen ethischen, praktischen, ästhetischen und reli­ giösen Wertgegenstände. Während all dies gegenständlicher, nicht-personaler Natur ist, bezieht sich die Selbsterfahrung, wie das Wort sagt, auf das Selbst, das Ich, die Person selbst, vor allem auf ihre Selbstvollzüge oder Akte und ihre aktiven Zustände. Zu diesen gehören z. B. die Akte des Dankens, Entscheidens, Sichanvertrauens, Fragens, Hoffens, Sich­ ängstigens, Zweifelns, Sichdurchsetzens, Nachdenkens, also volitio­ nale, kognitive und emotive Akte und die zeitüberdauernden, meist

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1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre

aus Akten hervorgehenden aktiven Zustände der Person, z. B. die willentliche Entschlossenheit, die Treue, die Tapferkeit, aber auch Stimmungen wie die Traurigkeit, Ängstlichkeit, Zuversichtlichkeit, Gelassenheit usw. Es war psychologisch und erkenntnistheoretisch folgenschwer, dass I. Kant diese Unterscheidungen nicht traf und alles undifferen­ ziert unter den Überbegriff der »Erscheinungswelt« fasste. Denn man muss sich fragen, ob eine Sinneswahrnehmung nicht ganz anders erscheint als ein Entscheidungsakt? Während auf die erste der Begriff des Erscheinens noch zutreffen mag, insofern in der Sinneswahrneh­ mung etwas erscheint, was als solches – I. Kant168 sagt: als Ding an sich – entzogen bleibt, gilt dies von personalen Akten nicht: Diese erscheinen nicht bzw. zeigen etwas anderes an, sondern sie zeigen sich unmittelbar selbst und sind in ihrem »An-sich-Sein«, nämlich in ihrem Selbstvollzug, sprich in ihrer nicht von anderem ableitbaren Selbst­ aktivität als Seinsweise des Subjekts direkt erfahrbar. Gerade der selbstaktive Geist bzw. seine Akte und Zustände sind jenes einzige, dem Bewusstsein zugängliche »Ding-an-sich«, das I. Kant verkannte und als intelligibles Noumenon in die Sphäre der Unerkennbarkeit verbannte. Schon A. Schopenhauer169 stellte dies in Frage, und die Aktphilosophie F. Brentanos170 und später die Phänomenologien E. Husserls,171 M. Schelers172 und N. Hartmanns173 korrigierten hier I. Kant grundlegend. Recht betrachtet, wurde dadurch R. Descartes rehabilitiert, der den Wesensunterschied zwischen den Selbstvollzü­ gen der Person und ihren sinnlichen und unsinnlichen Bewusstseins­ gegenständen, der »Welt der Erscheinungen«, klarer gesehen hatte. Einen letzten Punkt, der vor der kritischen Befragung von I. Kants Urteilstheorie erwähnt werden muss, betrifft seine Auffassung, dass es Urteile vor aller Erfahrung geben könne und dass nur diese, weil erfahrungsunabhängig, allgemein und apodiktisch gültig seien.174 168 Darin wurzelt I. Kants Realismus, während die radikalen Idealisten diesen Reali­ tätsrest des Dinges an sich streichen und alles aus dem Ich entstehen lassen. 169 Vgl. A. Schopenhauer (1949, Sämtliche Werke, Bd. 2, Kritik der Kantischen Philosophie, 489ff.). 170 Vgl. F. Brentano (1874). 171 Vgl. E. Husserl (1993, II/1, 343ff.). 172 Vgl. M. Scheler (1923b). 173 Vgl. N. Hartmann (1921). 174 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 46): »Wir werden also im Verfolg unter Erkenntnissen apriori nicht solche verstehen, die von dieser oder jener, sondern die

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Wenn unter Empirischem im Sinne I. Kants alles verstanden wird, was überhaupt erscheinen kann, dann bezieht dies über die sinnli­ che Erfahrung hinaus notwendig alle andere Erfahrung, etwa die nichtsinnliche Erfahrung von Zeitlich-Veränderlichem (im eigenen Erleben und in der Welt), von Räumlichem, von Ausgedehntem, von Körpern und von überhaupt Quantitativ-Größenhaftem usw. ein.175 Wie aber soll ohne alle Erfahrungsbasis überhaupt ein Urteil, etwa das Urteil »Der Körper ist ausgedehnt« gebildet werden? Was I. Kant daher nur meinen kann, ist, dass es bestenfalls Urteile vor aller sinnlichen Erfahrung gebe.176 Urteile vor aller Erfah­ rung überhaupt erweisen sich als unmöglich, sie müssen stets von einer inner-empirischen oder weltempirischen Basis ausgehen, die mehr als nur, wie I. Kant meint, Anstoß für apriorische Begriffsund Urteilsbildung ist, sondern, wie in der vorvorigen Fußnote näher dargelegt, wesentliche Aspekte des Urteilsgeschehens, wie die quantitative Strukturiertheit der Welt, ihre Körperlichkeit usw., mitbringt. Folgt daraus, dass alle Erkenntnis, wie I. Kant sagt, weil bloß aposteriorisch, hypothetisch ist? Wie sich zeigen wird, ist das nicht der Fall. Damit wird der Kern der kritischen Befragung von I. Kants Urteilstheorie berührt. Ist sie, so wie er sie gibt, konsistent? schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden. Ihnen sind empirische Erkenntnisse oder solche, die nur a posteriori, d. i. durch Erfahrung, möglich sind, entgegengesetzt. Von den Erkenntnissen apriori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist.« 175 So könnte, um bei I. Kants Beispiel zu bleiben, das Urteil 5+7 ist 12 niemals vollzogen werden, wenn der Denkende nicht vorher in sich bzw. in der Welt die Erfahrung (!) von Einheit und Vielheit, von Quantitativem und Begrenztem, Gleichem und Ungleichem gemacht hätte bzw. ihm niemand beigebracht hätte, was 1, 0, Addi­ tion und Gleichheit bedeuten. Jenes Urteil wird mitnichten rein apriorisch vollzogen, sondern stützt sich auf die Erfahrung von Quantitativem im eigenen Erleben und in der Welt. Zwar ist es richtig, wenn I. Kant sagt, aus dem empirischen Dreieck könne seine geometrische Struktur (z. B. seine 180 Grad) nicht »abgezogen« werden, aber die Konstruktion des reinen Dreieckes ist ohne das empirisch vermittelte Erfah­ rungswissen von Einheit und Vielheit, Gleichem und Ungleichem, Ausgedehntem und Begrenztem, ja von Aktivität und Bewegung, ohne die das Konstruieren als Akt und Prozess unmöglich ist, nicht durchführbar. Die empirische Basis ist mehr als nur ein Anstoß, sie ist ein Konstituens des »apriorischen« Erkenntnisprozesses. 176 Siehe W. Stegmüller (1954a, 535), der auch meint, es könne rein logische (ana­ lytische) Urteile ohne »jeden Wirklichkeitsgehalt« geben. Worüber wird dann aber geurteilt? Das nach I. Kant und W. Stegmüller rein analytische Urteil »Der Körper ist ausgedehnt« könnte ohne die Erfahrung von Körperlichkeit nicht zustande kommen.

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Ad 3. Die genauere Betrachtung der Grundstruktur des Urteils und damit aller Urteilsformen zeigt, dass es synthetische Urteile im Sinne I. Kants – d. h. in Hinsicht ihrer Aussagefunktion – nicht gibt und nicht geben kann, da die Sachbedeutung des Urteilsprädikates (in wahren Urteilen) wesenhaft in der Sachbedeutung des Urteilssubjektes ent­ halten ist, wenn auch nicht immer explizit, sondern »eingewickelt« bzw. implizit. Das synthetische Urteil apriori ist demnach logisch inkonsistent, woraus folgt, dass es überhaupt kein Urteil ist bzw. nur dem sprachlichen Anschein nach.177 Da sich nach I. Kant178 die Metaphysik allein aus synthetisch apriorischen Urteilen, angeblich bar aller Anschauungsbasis, aufbaut, fällt die kritizistische Schranke in dem Moment, wo gezeigt wird, dass solche Urteile nicht möglich sind und Metaphysik sehr wohl eine empirische Basis haben und trotzdem die Erfahrung auf wissenschaftlichem Wege übersteigen kann. Metaphysik wird möglich. Zweitens ist das analytische Urteil entgegen I. Kants Auffassung durchaus in der Lage, zahllos neue Erkenntnis zu liefern, weil es aus der komplizierteren und dem Erkennenden noch nicht hinreichend bewusst gemachten, daher erst aufzudeckenden inneren Verhältnis­ struktur des Urteilssubjektes viele neue Bedingungen und Bezüge herausanalysieren kann. Unter diesen Bezügen und Wirklichkeitsverhältnissen sind grundsätzlich drei zu unterscheiden: –



erstens solche, die sich nur auf den unmittelbaren Gegenstand des Urteilssubjektes, auf das Phänomen und seine immanente Struktur, beziehen (z. B. auf eine bloße Phantasie, ein Gefühl, ein Ideal, auf das Wahrgenommene als solches). Hier spreche ich von der »Implikatanalyse« oder gemäß A. v. Pauler der reduktiven Analyse; zweitens solche, die den unmittelbar erfassten Gegenstand des Urteilssubjektes mit anderen, in den Bereich der möglichen

177 Vgl. dagegen W. Stegmüller (1954a, 538), der das synthetische Urteil apriori für widerspruchsfrei hält, andererseits aber zugibt, dass im gegebenen Einzelfalle nicht bestimmt werden könne, ob ein vorgelegtes Urteil ein synthetisches Urteil apriori sei oder nicht. Immerhin stimmt W. Stegmüller (1954a, 540f.) mit der hier vertretenen Position insofern überein, als er »die kantischen Bestimmungen für unzulänglich« hält. 178 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 58).

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Erfahrung gehörenden Gegenständen (z. B. das bloße erinnerte Bild, das ich vom Eiffelturm habe, mit dem realen, sinnlich vermittelten Eiffelturm) verbinden und die mittels einer hypo­ thetischen Analyse in hypothetische Urteile gefasst werden; und schließlich drittens solche, die den vom Urteilssubjekt inten­ dierten Gegenstand auf seine notwendigen und erfahrungstran­ szendenten Seinsvoraussetzungen zurückzuführen versuchen und dabei zu apodiktischer Gewissheit gelangen, z. B. in Form von mathematischen Beweisen von transempirischen Größen­ verhältnissen und von logisch-regressiven Schlüssen. Hierbei handelt es sich um die regressive Analyse, die notwendig auf der reduktiven Analytik aufbaut.



Ad 4. Jenes Urteil, das die Urteile in analytische und synthetische, apos­ teriorische und apriorische untergliedert, kann als Metaurteil bezeich­ net werden, das erweisbar selbst analytischer Natur ist. Denn es bezieht sich auf das Urteilsvermögen überhaupt und findet darin jene vier Urteilsformen, deren Validität in dieser Unterteilung, wie bald noch gezeigt wird, problematisch ist. Schon mit diesen Unterscheidungen wird die kritizistische Erkenntnistheorie I. Kants empfindlich erschüttert. Das soll an I. Kants eigenen Beispielen nun noch genauer nachgewiesen werden.

1.13.5. »Alle Körper sind ausgedehnt« sei, wie I. Kant sagt, ein rein analyti­ sches, ohne empirische Grundlage gefälltes, apodiktisches, das heißt mit Notwendigkeit geltendes, Urteil, da die Ausdehnung als Eigen­ schaft im Körpersein selbst bestehe und in demselben enthalten sei.179 Aber stimmt es, dass hier keinerlei Empirie im Spiel ist und das Urteil rein apriorisch gefällt wird? Und stimmt es, dass die Ausdehnung allen Körpern wirklich notwendig zukommt? Beginnen wir mit der zweiten Frage. I. Kant beweist nirgends, dass Körper notwendig ausgedehnt sind, dies scheint ihm intuitiv gewiss zu sein, obwohl er die Intuition 179

Siehe I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 52).

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sonst für das Wissen als untauglich erklärt, doch ist der Erweis dieses Zusammenhanges keineswegs einfach und muss von einer philosophischen Geometrie geleistet werden. Im Gegenteil beweist er nicht einmal, dass die Ausdehnung ein wichtigster Grundzug des Körperseins darstellt, da es sein könnte, dass andere Eigenschaften des Körperseins bedeutender sind als die Ausdehnung. Würde I. Kant das zu klären versuchen, hätte er entgegen seiner Behauptung, analytische Urteile würden keine neue Erkenntnis geben, durchaus neue und sehr bedeutende Einsichten gewonnen. Schon die Fragen, was Ausdehnung dem Wesen nach ist und wie sie zustande kommt etc., sind analytische Fragen, deren Beantwortung eine große Heraus­ forderung darstellt. Einen weiteren kritischen Punkt berührt die Frage: Ist das ana­ lytische Urteil tatsächlich immer rein apriorisch? I. Kant sagt ja, die Nachprüfung sagt nein. Denn es fragt sich, woher das urteilende Subjekt von Körpern weiß? Doch offensichtlich aus der Erfahrung, sei es aus der sinnlichen, sei es aus der Erfahrung des inneren Vorstellungs- und Phantasieraumes. Körper vor aller (!), nicht nur vor aller sinnlichen Erfahrung kann kein Mensch denken, und ihre Aus­ gedehntheit ist mit ihnen co-empirisch gegeben und muss analytisch aus dem erfahrenen Körpersein herauspräpariert und verstanden wer­ den. Dabei kann der Mensch durchaus Neues erkennen (z. B. was das Wesen der Dimensionalität betrifft), und entsprechend sind entgegen I. Kants Auffassung analytische Urteile erstens erfahrungsfundiert, d. h. aposteriorisch, können zweitens trotzdem apodiktisch-allgemein gelten, eben weil ihr Gegenteil als selbstwidersprüchlich erkannt wird, und bieten drittens echte neue Erkenntnis.180

180 Es gibt Stellen bei I. Kant, die beweisen, dass er nahe daran war, den Fehler seiner Urteilslehre zu erkennen. Vgl. I. Kant (Werke, III, 2011, 125): »Dagegen enthält der Satz: einige Körper sind schwer, etwas im Prädikate, was in dem allgemeinen Begriffe (!, B. W.) vom Körper nicht wirklich gedacht wird, er vergrößert also meine Erkenntnis, indem er zu meinem Begriffe etwas hinzutut, und muss daher ein synthetisches Urteil heißen.« Völlig richtig sieht I. Kant, dass im allgemeinen Begriff des Körpers die Schwere nicht enthalten ist, und also, so müsste er folgern, über diesen bloß ausgedehnten Körper mit jenem Urteil »Der Körper ist schwer« gar nicht geurteilt wird! Letzteres Urteil ist nur dann richtig, wenn es nicht nur über den Körper »im allgemeinen Begriffe« urteilt, sondern über jenen, der schwer ist. Also wird auch hier nichts dazugetan, was im Urteil nicht wäre, und also ist auch dieses Urteil kein synthetisches. Kants Urteilslehre, das Fundament seiner ganzen Kritik der reinen Vernunft, wie er betont, zerbricht hiermit zum zweiten Mal.

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Was für ein Urteil stellt I. Kants Beispiel »Alle Körper sind schwer« dar? I. Kant sagt, es handele sich um ein synthetisches Urteil aposteriori, bei dessen Aufstellung dem Körper aufgrund der sinnlichen Erfahrung die Schwere gleichsam von außen zugesprochen wird.181 Ist das so? Die Antwort wird von der Frage abhängen, von welchem Körper ausgesagt wird, dass er schwer sei? Schwer ist zwei­ fellos nicht der bloß vorgestellte oder begrifflich gefasste Körper, sondern nur von jenem Körper darf behauptet werden, er sei schwer, auf den die Gravitation »beschwerend« einwirkt. Diese Behauptung ist aber nur deswegen möglich, weil die Schwere in ihm enthalten ist und aus ihm entnommen werden kann, während das Urteil »Der Körper ist schwer«, auf den nur vorgestellten Körper angewandt, falsch wäre, weil diesem die Schwere nicht einwohnt und daher nicht zugesprochen werden darf. Ergebnis: Auch das Urteil »Der Körper ist schwer« ist ein ana­ lytisches Urteil, dessen Grundlage allerdings nicht die reine innere Erfahrung ist (wie im Falle eines bloß vorgestellten Körpers), sondern die sinnliche Welterfahrung. Das Urteil bezieht sich in diesem Fall auf einen komplizierter gebauten Körper, zu dessen Gesamtstruktur die Schwere gehört, was es möglich macht, sie dem Körper analytisch-urteilend zu entnehmen. Wohl gibt es hier eine Synthese, das spürt I. Kant richtig, aber sie liegt nicht im Urteil, sondern in jenem dem Urteil vorausgehenden Naturgeschehen, in dem ein Weltkörper mit der Gravitationswirkung verbunden, vereinigt, »aufgeladen« wird. Das aber ist kein Urteilsvor­ gang, sondern ein weltbildendes Kraftwirkungsgeschehen, das die Subjekte im Nachhinein analysieren und beurteilen. Über die genannte objektive Synthese im Naturgeschehen hi­ naus gibt es zwei weitere Synthesen von Bedeutung, die genannt werden müssen, um das Verhältnis von Synthese und Analyse an dieser Stelle durchdringend zu bestimmen. Dabei handelt es sich um Synthesen, von denen die eine dem Urteil vorangeht und die andere dem Urteil nachfolgt, und die beide weder Urteile noch Analysen sind. Die erste (insgesamt also zweite), dem Urteil vorausgehende Synthese ist die Wahrnehmung, in der der Weltgegenstand – der schwere Körper – irgendwie mit dem Erleben bzw. Urteilen zusam­

181

Siehe I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 52).

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1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre

mengebracht und vereinigt wird.182 Die zweite (insgesamt dritte) ist die sprachlich-begriffliche Synthese, in der die urteilsmäßige Erkennt­ nis in eine Wort- und Satzstruktur umgesetzt wird. In beiden Fällen handelt es nicht um Urteile, sondern um synthetische Akte, die als Wahrnehmungen dem Urteil vorausgehen bzw. die als synthetische Satzbildungen dem Urteil folgen bzw. mit ihm stattfinden. Das Urteil dagegen erfasst die Eigenschaft der in die Materiekörper verwobenen Gravitationswirkung so, dass es sie aus dem wahrnehmend aufgefass­ ten, das heißt sinnlich empfundenen schweren Körper heraushebt. Ergo: Auch das aposteriorische Urteil ist analytisch, nicht synthetisch. Damit ist der Punkt erreicht, an dem I. Kant sein wichtigstes Urteilsbeispiel anführt, das Beispiel für ein apriorisch-synthetisches Urteil: 7+5 = 12.183 Das Subjekt ist hier (7+5), das Prädikat (12), und das Urteil sagt die Gleichheit (=) von jenem mit diesem aus. Wie ist das Verhältnis von Subjekt und Prädikat beschaffen? Ist das Prädikat im Subjekt enthalten oder nicht? Nach I. Kant ist es nicht enthalten, sondern wird synthetisch hinzugegeben. Wäre dem so, fragt sich, wie in diesem Fall die 12 mit (7+5) soll gleich sein können? Offenbar ist die 12 im Urteilssubjekt (7+5) enthalten und wird erkenntnismäßig, also analytisch daraus entnommen (genauso wie z. B. die 2er-, 4er-, 6er-Teilbarkeit aus 7+5). Das Urteil erfasst demnach einen im Begriff des Urteilssubjektes steckenden Wesenszug, hebt ihn als Prädikat heraus und verbindet ihn mit dem Subjekt des Satzes in einem echten analytischen Urteil. Und doch: Auch hier gibt es eine Synthese, nämlich die additive Ineinsgestaltung bzw. additiv-operative Mengenbildung der einzel­ Diese Synthese sieht auch I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 201) und fasst sie als sein transzendentales, alle synthetischen Urteile fundierendes Grundprinzip: »Ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung.« So richtig es ist, dass ohne die synthetische Anschauung des Subjektes kein Objekt in seiner inneren Mannigfaltigkeit (und in seiner mannigfaltigen Umgebung!) erkannt und identifiziert wird, so verkennt I. Kant zum einen, dass diese Synthese kein Urteilen ist, sondern als Akt der Wahrnehmung bzw. der Erfahrungsgebung dem Urteilen vorausgeht und die »Materialität« des Objektes erst herbeibringt, setzt und sich selbst gibt; und zum anderen sieht er nicht, dass die vereinheitlichende Synthese, die das Subjekt im Angesicht des wahrzunehmenden Objektes (und seiner inneren Mannigfaltigkeit) zweifellos leistet, die innere Einheit des Objekts voraussetzt, ohne die jene Synthese keinen Anhalt fände, das Objekt von anderen nicht abgrenzbar wäre und zur bloßen Fiktion und Illusionsbildung herabsänke. 183 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 55ff.). 182

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nen Zahlengrößen 7 bzw. 5 zur Mengeneinheit (7+5). Das ist in der Tat kein Urteil, sondern erst ein das Urteilssubjekt (7+5) zustande bringen­ des, operatives Gestalten. Das Ergebnis dieser operativen Gestaltung ist dann (7+5) als operative Menge, deren eindeutig abgestalteter Funktionswert die 12 ist, die mit jener operativen Menge an reiner Quantität gleich ist und im Urteil als Prädikat fungiert. Und da man hier eigentümlich quantitativen Verhältnissen gegenübersteht, die primär gestaltet und nicht geurteilt werden, muss zuerst das Urteils­ subjekt operativ gebildet und aus diesem dann der Funktionswert auf Grund der rein quantitativen Gleichheit synthetisch abgestaltet werden. Erst nach der Ausführung dieser in keiner Weise urteilshaf­ ten, sondern mathematisch-operativen, gestaltenden Funktion kann das Resultat in ein Urteil gefasst werden, das nichts mehr gestaltet, sondern bloß die Gleichheit des Urteilssubjektes (7+5) mit dem Urteilsprädikat 12 als eine immanente Bedingung von (7+5) feststellt, und zwar analytisch feststellt. Auch das mathematische Urteil ist demnach analytisch. I. Kant hat jene von R. Descartes, G. W. Leibniz und später von B. Bolzano gesehene Tatsache, dass jedes Urteil in Hinsicht seiner Aussagefunk­ tion analytisch ist, nicht gesehen. Tiefer eindringend, hat er allerdings die hinter den Urteilen steckenden sachlichen, wahrnehmungstheo­ retischen und vielleicht auch sprachlichen Synthesen erspürt. Weil er aber die entsprechenden ontologischen, mathematischen und logi­ schen Voruntersuchungen nicht unternommen hat, konnte er die außerordentlich komplizierten Verhältnisse der Urteilsbildung nicht durchschauen und klären.184 Am Schluss der kritischen Aufarbeitung der Urteilslehre von I. Kant darf die Feststellung eines Details nicht fehlen, das selten bemerkt wird und frappiert: Gemäß der zweifach-zweierlei Urteils­ kriterien I. Kants zur Bildung der grundlegenden Urteile wären vier Urteile zu erwarten. Doch bietet I. Kant in seiner Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft nur drei: das analytisch-apriorische, das synthetisch-aposteriorische und das synthetisch-apriorische. Wo aber bleibt das analytisch-aposteriorische Urteil? Offenbar meint I. Kant, dass es, weil analytische Urteile nicht aus der Erfahrung entnommen werden, sondern rein logisch vollzogen werden, nur

184 Vgl. ähnlich das Gesamturteil von O. Willmann (1979, 380ff.) und B. v. Branden­ stein (1976, 62).

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1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre

apriorisch-analytische Urteile gebe.185 Wie die Kritik zeigte, sind jedoch nicht nur grundsätzlich alle Urteile analytisch, entnehmen also das Urteilsprädikat immer dem Urteilssubjekt, sondern beziehen sich außerdem stets auf irgendeine sinnliche oder nichtsinnliche Erfahrung, sind also aposteriorisch.186 Erst nach dieser ersten, meist einfachen Urteilsstufe können die Urteile apriorisch in dem Sinne werden, dass sie nicht mehr erneut auf die Erfahrung zurückgreifen, sondern in einem komplizierten Urteilsprozess entweder nach rein mathematischen Gesetzen oder nach rein logischen Schlussregeln über die Erfahrung, von der sie aus­ gegangen waren, hinausgelangen. Wer z. B. einmal durch Erfahrung und Anschauung begriffen hat, was Quantität überhaupt ist (und ohne Erfahrung ist das unmöglich), der kann ohne weiteren Rückgriff auf die Erfahrung z. B. mittels der Zahl 1 neue Zahlen aufbauen oder eine Strecke teilen. Weil diese höhere Stufe jene einfachere voraussetzt, spreche ich von einem »sekundären Apriori«.187 Kurzum: Das einzige Urteil, das bei I. Kant nicht vorkommt bzw. das er als »ungereimt« verwirft, ist genau das Urteil, das einzig möglich ist!188 Weder gibt es primär-apriorische Urteile im Sinne einer völligen Erfahrungsunabhängigkeit der Urteilsform (unabhängig von der sinnlichen Erfahrung können sie sein, aber nicht von Erfahrung überhaupt), noch gibt es synthetische Urteile, sondern Urteile sind immer zunächst aposteriorisch-analytisch und in manchen Fällen dann sekundär apriorisch-analytisch. Schon diese seltsame und von I. Kant in der Kritik der reinen Vernunft nicht hinterfragte logische Dishar­ monie in seiner Urteilslehre hätte aufhorchen lassen müssen: Warum

Dabei ist offensichtlich, dass alle empirischen Natur- und Geisteswissenschaften analytische Urteile fällen, etwa wenn sie einen Gegenstand auf seine Elemente hin analysieren, Urteile, die aposteriori zustande kommen und trotzdem in vielen Fällen allgemein gelten. 186 Wie gezeigt, stützt sich auch die angeblich rein apriorische Konstruktion des echten Dreieckes, welche kein Urteil, sondern eine synthetische Operation ist, auf die Erfahrungen von Einheit und Vielheit, Ausgedehntem und Nichtausgedehntem, Gleichem und Ungleichem, überhaupt auf Quantitatives im Bewusstsein und der Welt, das nicht nur den Anstoß für jene Operation gibt, wie I. Kant meint, sondern wesentliche Aspekte liefert, die ohne Erfahrung nicht vorliegen und jene Operation sachlich erst ermöglichen. 187 Eine große Konfusion bezüglich des Apriori entsteht dadurch, dass nicht zwischen dem erkenntnistheoretischen und dem ontologischen Apriori unterschieden wird. 188 Siehe I. Kant (Werke, Bd. III, 2011, 126), Prolegomena, § 2c. 185

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fehlt bei ihm eine Urteilsform, die seine Einteilung selbst fordert? Und warum verkennt er deren Bedeutung?189

1.13.6. Mit der kritischen Revision von I. Kants Urteilslehre fällt die kriti­ zistische Schranke, die alle Erkenntnis auf den Horizont möglicher Erfahrung begrenzt, und mit dieser Schranke schwindet das Verdikt gegen eine mögliche rationale Metaphysik. Urteile sind, so das Resümee, immer analytisch, und dennoch sind sie, da sie mit tauto­ logischen nicht identisch sind, in der Lage, neue Erkenntnisse zu liefern, sogar solche, die mittels der regressiven Analyse über die Erfahrung auf wissenschaftlich gesicherte Weise hinausgehen und trotz ihres Erfahrungsausganges apodiktisch-allgemeine Erkenntnis liefern können.190 Zwar gibt es kein Urteil ohne Synthese, doch diese Synthese findet nicht im Urteil, sondern vor und nach dem Urteil statt. Daher muss jedes Urteil von irgendeiner Erfahrungsbasis ausgehen, nur ist diese breiter als die sinnliche und bezieht nichtsinnliche, sprich imaginative, ideale und reflexive Erfahrungsräume ein. Dabei fungiert diese Erfahrungsbasis nie nur, wie I. Kant meint, als Anstoß, sondern als sachlich und logisch unumgängliches Objekt, das den Diskurs, mag er sich noch so weit von dieser Basis entfernen, stützt und in diesem Diskurs als notwendige Bedingung mitgeführt wird. 189 Sechs logische Unzulänglichkeiten liegen m. E. I. Kants Urteilskonzeption zugrunde: 1. Sie ordnet voreilig dem »Analytischen« ausschließlich das »Apriorische« zu; 2. sie setzt oft »analytisch« und »tautologisch« gleich; 3. sie verkennt, dass analytische Urteile neue Erkenntnisse liefern können (im Gegensatz zu tautologi­ schen); 4. Sie lokalisiert das »Synthetische« unbedachterweise im Urteil statt a. im realen Naturgeschehen, b. im Wahrnehmungsakt und c. in der Sprachbildung; 5. sie erkennt im Erfahrungsobjekt nur den Anstoß für notwendige (und oft auch allgemeine) Urteile und sieht nicht, dass es mit seiner Eigenstruktur ein notwendiger Bestandteil des Diskurses ist; und 6. verkennt I. Kant, dass notwendige Geltung des Binnengefüges durchaus in einem empirischen, wenn auch als Ganzem kontingenten Gegenstand besteht. 190 Apodiktisch ist, wenn von Erfahrungstatsachen ausgegangen wird, eine solche Erkenntnis, die ohne Selbstwiderspruch nicht geleugnet werden kann, wie z. B. die Selbsterfahrung oder die Erfahrung von Zeitlichkeit. Werden deren notwendige Seinsvoraussetzungen regressiv und diskursiv-erweisend ermittelt, hat sich metaphy­ sisch-wissenschaftliche Erkenntnis eingestellt.

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1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre

Da alle auffassend-erkenntnisbezogene Erfahrung, indem sie den aufzufassenden Erkenntnisgegenstand im Subjekt nachsetzt und nachgestaltet, aktiv ist, hat sie wesenhaft synthetischen Charakter, so vor allem in der inneren und äußeren Wahrnehmung.191 Dabei handelt es sich nicht um ein Urteilsgeschehen, sondern um die synthetisch herstellende Grundlegung für das wesentlich analyti­ sche Urteilen. Im Gegensatz zu I. Kants Auffassung ist die Urteilsanalyse jedoch, obschon sie stets von einer Erfahrungsbasis ausgeht, keines­ wegs an diese Erfahrungsbasis gekettet. Im Sinne des »sekundären Apriori« kann das urteilende und schließende Denkvermögen die Erfahrung, von der sie ausgeht, übersteigen, jedoch nie verlassen: In urtümlich philosophischer Weise schreitet dieser Erkenntnispro­ zess vom Bedingten reduktiv-regressiv zu den notwendigen (oder manchmal auch nur wahrscheinlichen) Vorbedingungen, zu den vor­ letzten und letzten Gründen, den archai bzw. prinzipia der durch sie bedingten Erfahrungsbestände zurück.192 Auf diesem Weg können Gegenstände und Zusammenhänge analytisch aufgedeckt (in der philosophischen Mathematik auch ingressiv rekonstruiert) werden, die nicht mehr im Felde der direkten Erfahrung liegen, sondern deren logische und ontologische Voraussetzung bilden. Der springende Punkt gegenüber I. Kant ist, dass die Urteilsprädikate eines Urteils keineswegs nur, wenn sie nicht nur tautologisch sind, der Erfahrung entnommen werden müssen, sondern aus der Erfahrung über diese hinaus als deren notwendige Seinsbedingung ermittelt werden kön­ nen. Würde metaphysische Erkenntnis, wie I. Kant der Metaphysik vorwirft, nur auf Synthese basieren, zumal auf solcher, die nicht in der Erfahrung gründet, hätte er Recht mit seiner Abweisung meta­ physischer Erkenntnismöglichkeit. In Wahrheit basiert sie jedoch auf Erfahrungsbeständen, die sie analytisch-reduktiv auf ihre imma­ nenten Grundstrukturen, was einer phänomenologischen Analytik entspricht, und darüber hinaus analytisch-regressiv auf ihre transzen­ denten notwendigen Seinsvoraussetzungen, was die metaphysische Analytik ausmacht, hin befragt. Vgl. zur Struktur des Wahrnehmungsaktes B. v. Brandenstein (1966, 101–112). Und eben weil diese Erfahrungsbestände durch die archai/principia bedingt sind, sind diese irgendwie, nämlich als Bedingungsspur in jene verknüpft und können daher aus ihnen herausgelöst, analysiert werden.

191

192

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All dies verdeutlicht, dass es entgegen I. Kants Annahme über­ haupt keine primär apriorische Erkenntnis gibt. Alle Erkenntnis muss von einem Aposteriori ausgehen (das sich, wie gesehen, nicht im sinnlichen Aposteriori erschöpft, sondern das intrapsychische und reflexive Aposteriori umfasst), weil es andernfalls bodenlos wäre. Doch vermag der Erkenntnisprozess im Sinne eines sekundären Apriori, von einem stets primären Aposteriori ausgehend, entwe­ der operativ-konstruktiv mit innerer Notwendigkeit mathematische Welten zu erzeugen oder reduktiv-regressiv mit innerer Notwendig­ keit seinslogische Zusammenhänge analytisch-retrograd bzw. regres­ siv aufzudecken. Mathematische Erkenntnisse, die ohne Rückgriff auf die sinnli­ che Erfahrung zustande kommen und nicht darin überprüft werden können, gibt es zahllos viele; doch müssen auch sie von irgendeiner Erfahrung ausgehen, z. B. von der meist intuitiven Wahrnehmung und Gewissheit von dem, was Quantität, Einheit, Menge, Größe, Vielheit und Ausdehnung bedeuten. Wer überhaupt nicht begreift, wofür 5, das Gleichheitszeichen = oder die Addition stehen (und solche Arithmasteniker gibt es), der kann nicht die Summe von 7+5 bilden. Alles (erkenntnistheoretische) Apriori ist sekundär, was aber nicht, wie wieder I. Kant meinte, bedeutet, dass alles, was irgendwie an das Aposteriori einer Erfahrung gebunden ist, allein deswegen kontingent und urteilsmäßig hypothetisch sei.193 I. Kant sah nicht, dass in einem an sich kontingenten Erfahrungsgegenstand notwendige Seinsbedingungen inhärieren, die das Erkenntnissubjekt als notwendige erkennen und herauslösen kann, ohne dass dadurch der ganze Gegen­ stand notwendig würde: So ist ein gezeichnetes oder vorgestelltes Dreieck als solches zufällig, müsste nicht sein, könnte auch nicht sein; doch wenn es einmal als ideal gemeintes Dreieck gedacht und gezeichnet wird, dann gelten an ihm gewisse notwendige Seinsver­ hältnisse wie z. B. die Winkelsumme zweier rechter Winkel, und keineswegs konstituiert sich diese Notwendigkeit, wie I. Kant meinte, Im Gegensatz dazu gibt es ein primäres ontologisches Apriori, das allerdings auch nur »im Nachhinein«, also aposteriori erkannt werden kann. So liegt, wenn wir I. Kants Theorie als Beispiel nehmen, einem Wahrnehmungsakt zweifellos eine gewisse »ontologische« Lebens- und Denkstruktur des Menschen primär apriori zugrunde, doch kann auch diese erst aposterori als Bedingung der Möglichkeit des Wahrneh­ mungsaktes durch analytische Urteile retrograd oder regressiv aufgedeckt werden. 193

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aufgrund der Apriorität der inneren Raumanschauung. Das (ideale) Dreieck ist nicht deswegen notwendig 180 gradhaltig, weil ihm dies von der subjektiven Raumanschauung auferlegt würde, sondern es ist in sich, als solches, auch wenn es nicht vorgestellt wird, notwendig 180 gradhaltig; das ist ein Moment seiner inneren objektiv-sachhal­ tigen Struktur.194 Hier überspannte I. Kant mit seiner Behauptung, das Denken bestimme den Gegenstand, nicht der Gegenstand das Denken, das subjektive Erkenntnisprinzip und verkannte, dass sich das Erkennt­ nisvermögen, wenn es z. B. das innere Wesen des Dreiecks erkennen will, trotz seiner durchaus vorhandenen Eigenaktivität nach dem zu erkennenden Gegenstand und seiner immanenten Struktur richten, ihm sich anschmiegen muss, da es andernfalls erkenntnismäßig daran vorbeigeht und den Gegenstand verfehlt.195 In Wahrheit bestimmt weder das Denken ausschließlich den Gegenstand, wie der transzendentale Idealismus meint, noch der Gegenstand, wie der Sensualismus meint, ausschließlich das Denken, Im Übrigen taugt die subjektive Raumanschauung nicht, wie I. Kant meinte, für die Grundlegung der Geometrie, da sie nicht euklidisch, sondern perspektivisch ist. Was die nicht-euklidischen Geometrien und unanschauliche mathematische Verhältnisse betrifft, versagt die subjektive Raumanschauung und damit I. Kants Begründung der Mathematik vollends. Vieles in der Mathematik ist weder zeitlich noch räumlich bestimmt und kann trotzdem apodiktisch erkannt werden. I. Kants Behauptung, die Geometrie ruhe (allein) auf der Raum-, die Arithmetik auf der Zeitanschauung, ist, sachlich nachweisbar, unhaltbar. 195 Vgl. O. Willmann (1979, 305–364), der die Versubjektivierung der ontologi­ schen Prinzipien und die entgrenzte Autonomisierung der menschlichen Vernunft in Kants Theorie und Praxis (Ethik) klar und deutlich herausarbeitet. Der Gedanke der »Anschmiegung« des Denkens an die zu erkennende Sache ist nicht neu, sondern entspricht weitgehend der Erkenntnislehre von Aristoteles und Thomas v. Aquin: Der intellectus agens hebt die innere Wesensstruktur, die »Form« oder »Essenz« des empirischen Gegenstandes, im Sinne der »Abstraktion« aus dem Sachverhalt heraus und bildet daraus den entsprechenden Begriff der Sache. Dazu vgl. Aristoteles: Über die Seele II, 3 sowie Metaphysik VII, 15 und XIII, 4. Zum Urteil bei Thomas v. Aquin (1970, I, 3). Diese Abstraktionslehre gilt für alle objektiv logischen oder Wesensverhältnisse, vermag aber die echte mathematische Erkenntnis nicht zu erklären. Aus empirischen, in Wahrheit nie echt kreisförmigen Kreisen kann niemals der echte, mathematische Kreis abstrahiert werden, da er unmöglich in der Empirie, weder in der Natur noch in der menschlichen Vorstellung, als einer aktualunendlichen Punktemenge, liegen kann. Die reine Geometrie ist, wie I. Kant richtig sieht, aus der Empirie weder abstrahierbar noch deduzierbar. Ihm gelang allerdings nicht, dieses Problem zu lösen; vielmehr vertrat er eine Sonderform der rationalistischen Lehre von den ideae innatae, die erweisbar nicht zureicht. 194

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sondern das Denken eignet sich durch Selbstanpassung aktiv den zu erkennenden Gegenstand an, was wiederum nur dadurch mög­ lich ist, dass Denken und Gegenstand gleicherweise identischen oder doch ähnlichen Seinsprinzipien, sprich grundlegenden Seinskategorien unterstehen, im Übrigen unabhängig davon, ob es sich um sinnliche Gegenstände, ideale Gegenstände (wie Werte, reine mathematische und logische Größen) oder reflexive Sachverhalte (wie Subjektakte u. dgl.) handelt. Das Subjekt bleibt auch in dieser Konzeption aktiv, aber verfügt über keine absolute, sondern nur relative Autonomie. Ohne aktive Rezeption des Gegenstandes gäbe es keine aktive Erkenntnis, aber auch keinen Gegenstand, der mir vorgegeben ist. Erkenntnis ist nicht nur, wie I. Kant meint, »Entwurf«, Synthese, Projektion.

1.13.7. Zusammengefasst: Die logische Notwendigkeit liegt im bestimm­ ten Sosein oder inneren Wesen (Zusammenhangsstruktur) des zu erkennenden – real-empirischen, idealen, imaginativen oder reflexivinständlichen – Sachverhaltes und geht, wenn sich das erkennende Denken diesem Sachverhalt innerlich angemessen anschmiegt, von da aus auf das Denken über, so dass die innere Gültigkeit eines gegenständlichen Seinszusammenhanges zu einer Erkenntnisgültig­ keit, man kann auch sagen, die Sachwahrheit zur Erkenntniswahrheit wird.196 Erfolgt dies sachgerecht, hat sie für die Erkennenden not­ wendige Gültigkeit und nicht nur für den Gegenstand. Am Beispiel sieht man dies ein: Wenn erkannt wurde, warum das wahre oder ideale plane Dreieck notwendig 180 Grad befasst, dann hat man nicht nur einen dem Dreieck notwendig innewohnenden Seinszusam­ menhang erkannt, sondern diese Erkenntnis gilt dann auch für den Erkennenden selbst notwendig, weil sie (in sich) wahr (Seinswahrheit) und als wahre erkannt (Erkenntniswahrheit) ist. Damit entzieht sie sich seiner Willkür: Das Erkenntnissubjekt kann nicht mehr wollen, dass das Dreieck anders beschaffen wäre, es muss dies so denken und nimmt es auch zustimmend an, wenn es nicht einem absurden Trotz verfallen will. I. Kants erkenntnistheoretischer Subjektivismus zwang die Philosophie in Form der Phänomenologie (F. Brentano, E. Husserl), der Gegenstandstheorie (A. Meinong) und der Wahrheits­ 196

Vgl. ähnlich J. Pieper (1966).

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1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre

theorie (B. Bolzano, A. v. Pauler, Neuthomisten, B. v. Brandenstein) zu Widerspruch und Korrektur, die allerdings noch nicht ihre breitere Anerkennung fanden. Diese Untersuchungen sollten genügen, um die Hindernisse, die einer rationalen Metaphysik von Seiten der kantischen Erkenntnis­ theorie und Kritik der theoretischen Vernunft im Wege liegen, zu beseitigen und die Möglichkeit echter Metaphysik aufzuzeigen. Me­ taphysik zaubert weder aus nichts Begriffe noch aus bloßen Begriffen andere Begriffe hervor, sondern analysiert ohne Selbstwiderspruch nicht zu leugnende Erfahrungsbestände auf ihr inneres Struktur­ gefüge bzw. Wesen (reduktive Analytik) und auf ihre überempiri­ schen notwendigen Seins- und Denkvoraussetzungen (regressive Analytik) hin. Dem konkreten metaphysisch-transempirischen Er­ kenntnisprozess kann selbstverständlich nicht vorgegriffen, er muss an konkreten Problemstellungen und ihren Lösungen dargelegt und begründet werden. Das soll in einer Auseinandersetzung mit dem ersten, die Zeitproblematik betreffenden Beweispaar von I. Kants Antinomienlehre geschehen.

1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre Nachdem I. Kant mit seiner Urteilslehre die Unmöglichkeit einer jeden rationalen metaphysischen Erkenntnis gelehrt und nach sei­ ner eigenen Aussage damit metaphysische Urteile, metaphysische Schlussfolgerungen und Beweise als bedeutungslos entlarvt hatte, machte er sich in der Kritik der reinen Vernunft (Elementarlehre, 2. Teil, 2. Abteilung, 2. Buch, 2. Hauptstück) überraschenderweise anheischig, klassische metaphysische Fragen wie die nach dem An­ fang der Zeit, den Grenzen des Raumes, dem Wesen der Kausalität und der Existenz eines höchsten Wesens mit rationalen Mitteln, also argumentativ-logisch zu beweisen. Wie kommt das? Und ist dies, nachdem I. Kant die angebliche Unmöglichkeit solcher Beweise gezeigt hatte, nicht apriori unnötig oder gar widersinnig? Nach I. Kants Urteilslehre ist dies allerdings widersinnig oder doch zumindest überflüssig. Wenn metaphysische Erkenntnisurteile wirklich unmöglich sind, dann gibt es auch keinen Weg, mit ihnen die Unmöglichkeit von Metaphysik aufzuweisen. Doch I. Kant muss

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gefühlt haben, dass seine Urteilslehre nicht genügend Überzeugungs­ kraft besitzt, sonst hätte er nicht ernsthaft Beweise klassisch-meta­ physischer Art durchgeführt.197 Dem entspricht, dass er erst gar nicht versucht zu zeigen, dass die klassischen metaphysischen Fragenkom­ plexe mittels Begriffen, Urteilen und Schlüssen nicht angegangen werden können. Im Gegenteil bildet er durchaus verstehbare, keines­ wegs sophistisch gemeinte, sondern sinnvolle und nach seiner Überzeu­ gung zwingend-schlüssige Beweisketten, so dass man den Eindruck gewinnt, dass er seine vernunftkritische Urteilslehre aus dem Blick verloren hat. Auf diesem Hintergrund zeigt er, dass von ein und derselben Sache – z. B. vom Problem des Anfangs bzw. Nichtanfangs der Zeit – mit angeblich zwingender Beweislogik sowohl die Thesis – die Zeit hat notwendig einen ersten Anfang – als auch die Antithesis – die Zeit hat notwendig keinen ersten Anfang, ist also anfangslos, mithin unendlich – gilt. Und damit meint er, seine Urteilslehre, wonach metaphysische Urteile sinnlos seien, eben weil sich ihre Ergebnisse gegenseitig aufheben und weil sie empirisch nicht validiert werden können, bestätigt zu haben. Ist das wirklich so bzw. beweist er dies wirklich? Wenn seine kontradiktorischen Beweise tatsächlich gelten, d. h. gleichzeitig gelten können sollen, dann würde dies die Nichtgeltung bzw. die Aufhebung des logischen Widerspruchssatzes bedeuten, mit der unerbittlichen, von I. Kant anscheinend nicht gesehenen Konsequenz, dass von ein und demselben Sachverhalt (bzw. seinem entsprechenden Urteil) in ein und derselben Hinsicht, also auch zeit­ lich und logisch zugleich, die Bejahung und die Verneinung ausgesagt werden können. Wäre dem so, hätte das fatale Folgen: Wenn der Widerspruchssatz in irgendeinem logischen Bereich, hier bei I. Kant im Bereich der metaphysischen Aussagen, nicht gilt, dann gilt er, da er seinem Wesen nach zeitlos und universal ist, überhaupt nicht. Wenn er aber überhaupt nicht gelten würde, dann gälte er für überhaupt kein Urteil, weder für ein analytisches noch ein synthetisches Urteil in I. Kants Sinne, und dann dürfte man z. B. sagen, dass I. Kants Urteilslehre, die empirisch sicher nicht validierbar ist, sowohl gilt als Wie gesehen, versucht I. Kant, mittels eines solchen metaphysischen Beweises den Idealismus von G. Berkeley zu widerlegen und die Existenz eines außer uns seienden, »im Raume außer mir« seienden Dinges an sich als notwendige Bedingung der empirischen menschlichen Existenz zu beweisen, was nach seiner eigenen Auffassung aber echte Metaphysik, die er gerade widerlegt zu haben meint, ist! 197

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1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre

auch nicht gilt, dass es analytische Urteile gibt und zugleich nicht gibt usw. Alles wäre mit gleichem Recht erlaubt zu behaupten, sowohl die Thesis als auch die Antithesis – weder gäbe es die logische Konsistenz noch die logische Inkonsistenz. Stimmte dies, wären ersichtlich alle Wissenschaft und alles Denken am Ende. Denn der logische Satz vom Widerspruch ist, wie gezeigt, nur die logisch-erkenntnistheoretische bzw. negative Fassung des sachpositiven Identitätssatzes, der besagt, dass etwas in ein und derselben Hinsicht und zeitlich zugleich nicht sein und nicht nicht sein, nicht gelten und nicht nicht gelten kann. Dass der Satz vom Widerspruch bzw. der Identitätssatz nur in einem logischen Teilbereich, etwa im Bereich der empirischen Urteile, zutreffe, in anderen Bereichen nicht, ist ob seiner fundamentalen Universalität ausgeschlossen. Ohne Selbstwiderspruch kann man nicht sagen, hier gilt er, dort gilt er nicht. Was I. Kant in seiner Antinomienlehre vorführt, ist daher die Selbstaufhebung des Denkens, nicht nur des metaphysischen, sondern allen Denkens. Obgleich dies gewiss nicht seine Absicht war, so hat er diesen Prozess, der bald nach ihm eine Eigendynamik gewann, die der klaren Denklogik Schaden zufügte – so vor allem bei J. G. Fichte und G. W. F. Hegel -, doch ausgelöst und grundgelegt. Darin liegt eine unverkenn­ bare Tragik, da I. Kant nur die Grenzen der menschlichen Vernunft aufzeigen, nicht ihre grundsätzliche Geltungskraft aufheben wollte. Wo aber die theoretische Vernunft so grundsätzlich wie bei I. Kant geschwächt wird, dauert es nicht lange, bis auch die anderen, etwa praktischen und sittlichen Vernunftkräfte – durch geistige Abenteurer – untergraben werden.198 Hier an dieser Stelle soll es nur darum gehen, die Beweise I. Kants sachphilosophisch und methodisch zu hinterfragen, und dann zeigt sich m. E., dass die Beweispaare, die I. Kant als Thesis und Antithesis gegenüberstellt, alles andere als gleichwertig und stichhaltig sind. Von den vier Antinomien beschränke ich mich auf die erste (und da wieder nur auf die Zeitproblematik), da sie grundlegend für alle anderen ist und I. Kants Beweislogik ausreichend zur Darstellung bringt. Er sagt also: 198 Zumindest scheint die seit R. Descartes sich einschleichende Seins- und Weltent­ fremdung des Denkens Symptom und Ausdruck der zunehmenden Selbstermächti­ gung des abendländischen Menschen zu sein, der auch Herr über die Wahrheit sein will. Folgen sind Willkür und Haltlosigkeit im Denken und bald im Handeln. Vgl. die entsprechende Kritik von M. Heidegger (1947) und (1962).

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»Thesis: Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen. Beweis: Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkte eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, dass sie durch sukzessive Synthe­ sis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins, welches zuerst zu beweisen war. Antithesis: Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit als des Raumes unendlich. Beweis: Denn man setze: sie habe einen Anfang. Da der Anfang ein Dasein ist, wovor eine Zeit vorhergeht, darin das Ding nicht ist, so muss eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt nicht war, d. i. eine leere Zeit. Nun ist aber in einer leeren Zeit kein Entstehen irgendeines Dinges möglich, weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgendeine unterscheidende Bedingung des Daseins, für die des Nichtseins an sich hat (man mag annehmen, dass sie von sich selbst oder durch eine andere Ursache entstehe). Also kann zwar in der Welt manche Reihe der Dinge anfangen, die Welt selber aber kann keinen Anfang haben, und ist also in Ansehung der vergangenen Zeit unendlich.«199

Was ist hierauf zu sagen? Zweierlei. Zum Ersten gibt I. Kant hier das treffliche Beispiel einer logischen Argumentation aus dem Gegenteil (argumentatio ex contrario): Von einer Thesis bzw. der Welterfahrung der Veränderlichkeit ausgehend, setzt er zunächst deren Gegenteil und versucht dieses, indem er es durchkämpft, zu bestätigen. Im weiteren Argumentationsgange stößt er dann auf einen Widerspruch bzw. eine negative Evidenz und sieht sich genötigt, seine erste An­ nahme – bei der Thesis die Annahme, die Zeit habe keinen Anfang – aufzugeben und deren Gegenteil – die Zeit müsse einen ersten Anfang haben – zuzulassen. Dieselbe Beweislogik wendet er im nächsten Schritt auf die Antithesis an und kommt zu einem analogen Ergebnis und damit zu einem logischen Selbstwiderspruch in Ansehung der Frage nach dem Anfang der Zeit: Rein logisch betrachtet, ist es darum nach I. Kant genauso wahr zu sagen, die Zeit habe begonnen, wie zu sagen, sie habe nicht begonnen. 199

Siehe I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 412ff.).

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1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre

Zweitens muss angemerkt werden, dass die beiden Beweise in der inhaltlich sachlogischen Struktur auffällig differieren. Während die Thesis weitgehend schlüssig ist, arbeitet die Antithesis mit einem unbegründeten, in der Sache aufweisbar konstruierten, erweisbar falschen Begriff, nämlich mit dem der »leeren Zeit«. Denn Zeit als Veränderung, Wechsel, Wandel oder Sukzession ist nur an oder mit etwas, das wechselt und sich ändert, erfahrbar, und nicht an nichts oder an einer Leere, wo sich niemals etwas ändern kann.200 Darüber hinaus ist im Rahmen der Thesis der folgende Gedanke entscheidend: Wenn die Zeit anfangslos ist und als Wechsel- bzw. Veränderungsreihe verstanden wird, was bei I. Kant der Fall ist, dann müssen dem Heute real unendlich viele Wechselzustände der Welt vorausgegangen sein. Gilt dies, bedeutet das, dass es zumindest einen Zustand in der Vergangenheit gegeben haben muss, der vom Heute durch unendlich viele Zustände getrennt ist. Gäbe es solch einen Zustand nicht, wären also alle vergangenen Zustände vom Heute H endlich weit entfernt, hätte die gesamte Wechselreihe, mithin die gesamte Zeit einmal begonnen. Gab es aber wenigstens einen solchen Zustand X, der vom Heute H durch real oder voll unendlich viele Zeitglieder getrennt ist, konnte die Zeit von jenem Zustand X zum Zustand H, wie I. Kant richtig sagt, durch bloße Sukzession nicht hindurchgelangen, da sukzessiv, d. h. durch Abfolge, immer nur endlich viele Glieder durchschritten werden können. Wenn aber die Zeit von X nicht zum H hatte gelangen können, dann dürfte es das H nicht geben. Da es aber das H unleugbar als gegenwärtigen Zeitzustand gibt, kann die Anzahl der zwischen X und H sukzessiv durchschrittenen Glieder nur endlich groß sein, mithin muss die gesamte Zeitreihe, insofern sie dem H vorausging, endlich sein und einen ersten Anfang haben.201 Vgl. übereinstimmend Platon, Aristoteles, O. Willmann und B. v. Brandenstein. Platon (10. Kap., 37c6–38b5) lehrt im Altersdialog Timaios: »Die Zeit entstand also mit dem Himmel«, dass die Zeit eine Eigenschaft der Welt ist und mit der Welt begon­ nen habe; Aristoteles lehrt in seiner Physik (Kap. 10–14), dass die Zeit die »Maßzahl von Bewegung« ist; und B. v. Brandenstein (1966) fasst in seiner Metaphysik (1966, Abschnitt F., 414ff.) die Zeit als Gestaltungsseite aller veränderlichen Realität. 201 Diese Argumentation gegen die Anfangslosigkeit der Welt findet man schon, allerdings unvollständig, bei Thomas v. Aquin (1970, 38), Summa contra Gentiles, II. In der Summa theologiae sagt Thomas v. Aquin (1985, I, 46, 2), dass die Anfänglichkeit der Welt nicht bewiesen, sondern nur geglaubt werden kann; vgl. dagegen B. v. Brandenstein (1966, 37–63), der den Beweis reinigt und vervollständigt. 200

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Mit dieser Präzisierung und Vervollständigung erweist sich I. Kants Thesis von der sukzessiven Undurchschreitbarkeit des Unend­ lichen als logisch konsistent und sogar notwendig. Wie aber steht es mit der Antithesis? I. Kant behauptet, vor dem Anfang der Zeit müsse eine leere Zeit vorangegangen sein. Was will er damit sagen? Zeit erfahren die Subjekte dadurch, dass etwas dauert und vor allem dadurch, dass sich etwas ändert: Etwas ist, dauert eine begrenzte Zeit und ändert sich oder verschwindet, z. B. ein Licht, das angeht und wieder ausgeht. Wo nichts ist, das dauern oder sich ändern kann, machen die Subjekte keine Erfahrung von Zeit und können keine Zeit denken. Denn wo nichts ist, rein nichts, kann nichts entstehen, dauern, sich verändern und vergehen. Dagegen trifft es zu, wenn I. Kant sagt, dass es in einer leeren Zeit kein Moment der Auszeichnung für die Entstehung irgendeines Dinges gibt, weil eine leere Zeit eben leer ist. Somit ist klar, was schon Aristoteles und G. W. Leibniz betonten, dass sowohl eine objektiv leere Zeit als auch ein objektiv leerer Raum unmöglich sind:202 Es muss etwas da sein, das dauert und sich ändert bzw. das ausgedehnt ist. Das Nichts dauert nicht und ist nicht ausgedehnt. Zeit an sich, »leere Zeit«, ist eine unstatthafte Hypostasierung bzw. Substanzialisierung der Zeit, die in Wahrheit nur ein Aspekt bzw. Moment, nämlich derjenige der Sukzessionsdauergestaltung einer wandelbaren Wirklichkeit ist. Wo keine wandelbare Wirklichkeit ist, gleichgültig ob nur in oder auch außer den Subjekten, da kann sich Zeit nicht ausgestalten: Nichts wandelt sich nicht. Vor dem Anfang aller wandelbaren Wirklichkeit war demnach nichts, jedenfalls keine wandelbare Wirklichkeit und damit konsequenterweise auch keine Zeit. Wie sich von selbst versteht, kann solche wandelbar-entstehende Wirklichkeit weder von sich selbst noch von nichts kommen, aber das ist ein anderes Problem und führt zur notwendigen Annahme einer zeitlos-überzeitlich-wandellosen Wirklichkeit als des notwendigen und zureichenden Seinsgrundes einer wandelbaren Wirklichkeit. Hier genügt, dass selbst I. Kant beweist, dass eine leere Zeit als Seinsvor­ aussetzung einer veränderlichen Welt unmöglich ist, weil aus einer solchen Zeit heraus nichts entstehen kann. Nun ist aber die Welt als Insofern die subjektive Zeit- und Raumanschauung mindestens im Sinne I. Kants ein »Ich denke« oder »Ich erlebe« hinzudenken muss, kann sie nicht leer sein; denn mindestens an sich selbst als einem auch geistig veränderlichen lebendigen Wesen erfährt das Subjekt unmittelbar die Zeitlichkeit. 202

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1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre

veränderliche, entstehend-vergehende da, und also kann sie, so der Rückschluss auch nach I. Kant, nicht aus einer leeren Zeit, mithin muss sie aus einer gefüllten Zeit gekommen sein, welche ihrerseits entweder endlich oder unendlich ist. Da sie aber, wie I. Kant richtig sieht, als unendliche sukzessiv nicht durchschritten werden kann, der Weltprozess aber von der Vergangenheit bis heute sukzessiv vonstattengegangen ist, muss das bisherige Weltgeschehen mit seiner Zeitgestaltung endlich gewesen sein, mithin notwendig einen ersten Anfang gehabt haben, vor dem zeitlich nichts war, auch keine, weil in sich unmögliche, leere Zeit. Wie aber, so fragt sich, kommt es, dass I. Kant auf den so offensichtlich widersinnigen Begriff einer leeren Zeit verfällt? Hierfür sind zwei Gründe zu nennen. Der erste ist in seinem Konzept von der apriorischen Zeitanschauung zu suchen. I. Kant meint, dass die menschlichen Subjekte innerlich Zeit unabhängig von sinnlicher Erfahrung anschauen können. Das ist zweifellos wahr – aber ist diese Zeitanschauung leer, absolut leer? Nein, denn sie ist zumindest mit dem Erfahrungssubjekt, mit dem Anschauenden, mit seinem Bewusstsein, mit der Gestimmtheit seines Erlebens, in der Regel auch mit allerlei Bewusstseinsobjekten, obschon nicht notwendig, wie z. B. Phantasien, Erinnerungen etc., letztlich mit dem Bewusstseins­ strom ausgefüllt. Selbst in der total gegenstandslosen Meditation, die es wohl gibt, ist das Bewusstsein, zeitlich gesehen, nicht leer, sondern dauert als Bewusstsein, z. B. als durchaus real erlebbare Ruhe, Gelassenheit, Heiterkeit, Freude, Frieden oder auch als Unruhe usw. Leer ist diese Zeitanschauung nur relativ in Bezug auf die Sinneswahrnehmung, nicht absolut. Der zweite Grund für das Konstrukt der leeren Zeit ist möglicher­ weise darin zu suchen, dass der Mensch geistig fähig ist, sich hinter einen gesetzten Zeitanfang immer weitere Zeitanfänge, also immer weiter zurückversetzt, denken zu können. Wenn man jemandem sagt, die Zeit habe einen ersten Anfang, dann lautet sofort die Frage: Und was war davor? Diese zurückdenkende Zeitvorstellung besagt jedoch nichts über die objektive Zeitstruktur, im Gegenteil, sie beweist, dass die Zeit nicht unendlich, sondern nur immer weiter endlich zurückgedacht werden kann. Vor allem ist aber zu bedenken, dass die Zeit in Ansehung der Vergangenheit abgeschlossen ist, also nicht vermehrt werden kann. Denkt man sich den Zeitanfang in der Vergan­ genheit immer weiter zurückversetzt, wird ein Zukunftsgeschehen nach hinten projiziert, was nicht angeht, da die Zukunft wesenhaft

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

offen, die Vergangenheit (nach hinten) wesenhaft geschlossen ist. Die Vergangenheit kann entweder nur unendlich (aktualunendlich, aU) oder endlich (E), aber nicht real nach hinten vermehrbar (also nicht potentialunendlich, pU) sein. Die Antwort kann gemäß I. Kants richtiger Thesis daher nur lauten: Vor aller Zeit war keine Zeit, nichts, genauer, keine wandelbar-zeitliche Wirklichkeit, vielmehr muss man, da nichts von nichts entstehen kann, voraussetzen, dass alle wandelbar-zeitliche und damit kontingente Wirklichkeit ihren Seinsermöglichungsgrund in einer absoluten, wandellos-anfangslosewigen, damit wesenhaft zeitlosen Wirklichkeit hat. Man kann gegen I. Kants Antithesis auch umgekehrt, gleichsam mit seinen eigenen Waffen argumentieren: Wenn der wirklichen, real gefüllten Zeit eine leere Zeit vorausgegangen wäre, dann hätte in dieser nie etwas entstehen können, also auch die spätere gefüllte Zeit nicht, und also ist eine real sich wandelnde Welt mit einer leeren Zeit unvereinbar. Da es nun aber jene gibt, kann diese nicht bestehen, eine leere Zeit ist unmöglich, ohne Sinn, und also hat alle zeitliche Wirklichkeit einen real ersten Beginn. Wann dieser war, genauer: vor wie vielen Veränderungszuständen (z. B. Quarzatomschwingungen), das lässt sich weder philosophisch noch physikalisch mit Sicherheit bestimmen. Letztlich liegt dies daran, dass die zeitliche Wirklichkeit kontingent ist, hätte also auch nicht oder anders sein können, so dass ihre zeitliche Erstreckung keine notwendige Größe darstellt. Man kann nur sagen, dass sie insgesamt endlich sein muss bzw. in die Zukunft endlos weitergehen kann, vielleicht noch, dass aus gewissen Überlegungen ihr erster Beginn der Urknall gewesen sein könnte. Aber auch dann wäre denkbar, dass dem letzten Urknall schon viele andere vorausgegangen sind, nur nicht unendlich, sondern endlich viele, welche endliche Anzahl wieder kontingent wäre. Gerade die Erkenntnis, dass die Welt als zeitliches Geschehen von heute her nicht eindeutig bestimmbar ist, beweist ihre Nichtnot­ wendigkeit, während sie im Falle einer real unendlichen Anfangslo­ sigkeit nur als notwendig gedacht werden könnte, also nicht nicht sein könnte, sondern sein müsste. Wäre dem so, müsste das vom Menschen insofern erkannt werden, als in diesem Falle seine Vernunft selbst eine notwendige Komponente des Weltseins wäre. Da dies nicht der Fall ist, der Mensch offensichtlich keine notwendige Einsicht in die als unendliche dann auch notwendige Existenz der Welt besitzt, spricht alles gegen die anfangslose Unendlichkeit der Welt, mithin gegen eine anfangslose Zeit.

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1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass sich die Antinomie I. Kants bezüglich der Zeit zugunsten der Thesis auflöst, womit zweierlei geleistet wird: Erstens wird der Satz des Widerspruchs wieder als unbedingte und universale Wahrheitsbedingung in Geltung gesetzt, und zweitens erweisen sich, ausgehend von ohne Selbstwiderspruch nicht zu leugnenden Erfahrungen, metaphysische Begriffe, Urteile und Schlussfolgerungen als möglich. Damit ist die Urteilslehre I. Kants anhand eines konkreten Beweisbeispiels widerlegt. Wie man sieht, sind, um metaphysische Erkenntnisse zu gewin­ nen, keine – sowieso unmöglichen – synthetischen Urteile nötig, sondern es genügen analytische Urteile und Schlüsse, wie sie auch I. Kant in seinen Beweisen anzuwenden sucht, die zwei Bedingungen erfüllen müssen: Sie müssen von einer unleugbaren Erfahrungsbasis ausgehen, hier von der unleugbaren Zeitlichkeit, genauer, von etwas veränderlich Seiendem, und sie müssen mittels korrekten reduktivregressiven Rückschlüssen vom Bedingten, das bekannt ist, zum Bedingenden, das unbekannt ist, im Rahmen einer indirekten argu­ mentatio ex contrario anhand des Aufweises der negativen Evidenz zurückführen und so die positive, als solche nicht direkt einsehbare Evidenz »umwegig« aufdecken und mittels des Satzes vom Wider­ spruch als unwiderlegbar gültig beweisen.203 Die direkte Erfahrung einer transzendenten Realität ist philoso­ phisch niemals vermittelbar, wie etwa die nachkantischen Idealisten meinten, Stichwort »intellektuelle Anschauung des Göttlichen« bei J. G. Fichte und F. W. J. Schelling, doch hat dies ernsthafte Philosophie auch nie beansprucht, daher der Vorwurf I. Kants, die alte Metaphysik habe aus Begriffen Begriffe gezaubert, was für C. Wolff zutreffen mag, aber nicht für Platon, Aristoteles, Boethius, Thomas v. Aquin, R. Descartes und G. W. Leibniz. Wo eine transzendente Realität direkt erfahren wird, findet eine mystische Begegnung oder Offenbarung statt, die der Mensch nicht leisten kann, sondern die ihm gewährt und geschenkt wird. Es ist klar, dass solche Erfahrung wissenschaftlich nicht begründbar und verallgemeinerbar ist, vielmehr ein einzigarti­ ges individuales Ereignis darstellt, das sich der philosophischen und wissenschaftlichen Vermittlung entzieht. 203 Entgegen W. Stegmüller gibt es also keine Urteile frei von jeglichem Wirklich­ keits- oder Sachgehalt. Wie I. Kant betont, haben jeder Begriff und jedes Urteil einen Inhalt, eben etwas Begriffenes bzw. Beurteiltes, nur muss dieser Inhalt nicht sinnlich-empirisch, er kann nach I. Kant auch rein intellektual sein.

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik: Platon, Buddha, A. Schopenhauer, S. Kierkegaard, Thomas v. Aquin, Hiob, Genesis, Augustinus, »Epikur« Wie in der Einleitung meiner philosophischen Dissertation angedeu­ tet, wird die gesamte Geistes-, Philosophie- und Religionsgeschichte tiefgreifend von der Frage nach dem Sinn von Übel und Leid in der Welt durchzogen. Einerseits geben alle großen Denker Antworten auf diesen Fragenkomplex, andererseits aber fehlt eine kritisch-sys­ tematische Durchklärung, die in umfassender Weise nur von der Philosophie geleistet werden kann. Ihre Aufgabe besteht darin zu klären, was Leiden überhaupt ist bzw. welche Grundstruktur ihm eignet und was die ontologischen und epistemologischen Bedingun­ gen seines Auftretens sind. Oder anders: Wie ein Wesen in dieser Welt beschaffen sein muss, damit Leiden möglich ist und verstanden werden kann. Was frühere Denker im Grundsatz dazu gedacht haben, soll im Folgenden an einer exemplarischen Auswahl, allerdings nur skizzenhaft, erläutert werden. Platon204 (427–347) erblickt in allem Weltsein das schattenhafte Halbsein der allein vollseienden göttlichen Ideen- und Geisteswelt. Da der Mensch als Geistwesen wesenhaft auf die Welt der Ideen bezogen ist, die er in seinem vorgeburtlichen Leben direkt geschaut hat, faktisch aber – sowohl aufgrund eines Vergehens als auch einer göttlichen Vergeltung – in die Welt der Materie, und damit des Wandelhaften und Vergänglichen verbannt ist, ist er unfähig, sich seiner geistigen Herkunft spontan zu erinnern, in seiner »Gott- und Selbstentfremdung« vielen Übeln ausgesetzt und muss leiden. In diesem Leiden, das durch mühsame Rückerinnerung an die geistige Welt (»Anamnesis«) kaum gemildert werden kann, drückt sich nichts anderes als die schmerzliche Sehnsucht des »Eros« und, solange der Mensch in seinem Leibe lebt, das mehr oder weniger vergebliche, weil nie voll gelingende bzw. immer wieder von Rückschlägen heimge­ suchte Zurückstreben nach der Heimat des Menschengeistes aus, die, wie es Sokrates in seinem selbstgewählten Tode vorgelebt hat, erst nach dem Tode erreicht wird, deren Erreichung aber schon hiesig auf der Erde eingeübt werden soll. Diese Sicht, die Platon vor allem 204

Ausführlich zu Platons Theodizee und Übellehre vgl. F. Billicsich (1955, 27–60).

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1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik

während seiner mittleren Periode in den Dialogen »Phaidon«, »Phaid­ ros« und »Staat« gewinnt, wird in seinen Alterswerken »Timaios«, »Theaitet« und »Nomoi« weiterentwickelt, teilweise umgewandelt und vertieft. Die materiell-leibliche Welt erscheint dort nicht nur als Anlass zum Bösen, zu Unvernunft und Unbesonnenheit, sondern, da von einer bösen Weltseele bewegt, selbst als übel und böse.205 Dieser Weltseele steht eine persönliche Gottheit gegenüber, die als ihr Schöpfer frei von allem Übel ist, aber das Übel in der »ewigen Materie« nicht vollständig aufheben kann. Der Mensch als typisches Zwischenwesen ist zwar in der Lage, frei zwischen dem Guten und Bösen zu wählen, und soll sich in dem von Bedrängnissen und Verführungen übervollen Erdendasein bewähren, aber darüber hinaus auch die Zeit in der Höhle des Daseins nutzen, das All zu beleben und zu verschönern. Das Ziel allen Seienden ist hier und drüben die Gottverähnlichung, die nur die (Selbst-)Verdammten verfehlen. Dass Platon hier eine der umfassendsten, reichsten und tiefsten Antworten auf die Frage nach Wesen, Sinn und Zweck des Übels gibt, steht außer Frage und wird wohl erst von Plotin und Augustinus, seinen gelehrigen Schülern, wieder erreicht und von Augustinus, der nicht mehr in der Materie, sondern in der endlichen Freiheit die letzte Wurzel des Bösen erkennt, überboten. Diese »Theo- und Pathodizee« ist daher keineswegs antiquiert, folgen doch sogar manche Denker der Moderne wie H. Bergson, H. Driesch, J. Volkelt u. a. diesem Dualismus, der in der Materie, einem FastNichts (me on), die Wurzel allen Übels sieht. Im Falle Gautama Buddhas206 (etwa 560–480 v. Chr.) wird die lebenswendende Entscheidung durch eine existenzielle Erfahrung und die durch sie ausgelöste Krise gefällt: Nachdem er als Fürstensohn fern von der leidvollen Welt sorgenfrei gelebt hatte, wurde er eines Tages mit dem Unglück des Lebens, mit Krankheit, Tod, Armut und Elend in einer Weise konfrontiert, die ihn so sehr erschütterte, dass er seine bisherige »Glückswelt« verlässt und zunächst den Weg des Asketen, dann aber, weil dieser zur Selbstzerstörung führt, den Weg der Selbstversenkung beschreitet. Für Buddha ist alles Leid-Übel ers­ tens grundsätzlich negativ und muss gemieden werden, und zweitens sieht er es wenigstens am Anfang seiner Lebensbahn überwiegend 205 Eine ausführliche und differenzierte Darstellung der platonischen Theodizee liefert F. Billicsich (1955, 27–60). 206 Vgl. Reden des Buddha (1998).

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

»objektivistisch« an. So sagt er z. B. (1998, 32–33), »Geburt ist leidvoll, Alter ist leidvoll, Krankheit ist leidvoll, der Tod ist leidvoll, mit Unlieben vereint, von Lieben getrennt sein ist leidvoll, nicht erlangen, was man begehrt, ist leidvoll [...]«, was so nicht zutrifft, da ein objektives Ereignis als solches noch kein Übel bzw. Leid bedeutet, sondern erst dadurch leidhaft wird, dass jemand daran leidet, d. h. solche Ereignisse wie Geburt, Krankheit, Verlust, Schmerz, Tod etc. als etwas Negatives affektiv bewertet, sich dagegen auflehnt, es vergeblich aufzuheben sucht und erst so zu Übeln macht. Da dem Betroffenen die Leidüberwindung nicht oder nicht sofort gelingt, muss er leiden. Leiden ist also ohne die affektiv wertende und zunächst vergeblich aufbegehrende Aktivität eines Subjektes bzw. als rein objektives Geschehen nicht möglich. Man könnte auch überspitzt sagen, dass der Leidende sein Leiden letztlich »selbst macht«. Später erkannte Bud­ dha genau dies, so dass er alles Leiden als von subjektiven Wertungen abhängige Illusionsbildung und als Projektion des seinsdurstig-gieri­ gen, dadurch anhaftend-habenwollenden Menschen betrachtete. Wer aber anhaftet, ist zwangsläufig den Übeln der Welt ausgeliefert. Wieder anders verhält es sich bei A. Schopenhauer (1788–1860), dem wohl größten abendländischen Leidensphilosophen. Zwar inter­ pretiert er das Dasein in Anlehnung an Buddha und die Upanischaden als unaufhebbares Leiden, doch gibt er dafür eine andere metaphysi­ sche Erklärung.207 Nach seiner Überzeugung ist das ganze Weltsein nichts anderes als die Selbstverwirklichung des unendlichen, aber blinden Lebenswillens in immer wieder neuen Daseinsformen.208 Da diese Formen jedoch endlich sind, kann sich der unendliche Weltwille nicht adäquat realisieren und muss in seinen immer zu engen Reali­ 207 Es kann A. Schopenhauer wohl darin zugestimmt werden, dass im menschlichen Dasein, wenn man die große Zahl der Menschen, das überall drohende Leid, die endlosen Konflikte und das unausweichliche Sterben in Betracht zieht, das Last-, Unlust- und Leidmoment quantitativ das Lust- und Glücksmoment überwiegt, zumal in den immer komplexer, rasanter, verwirrender werdenden und abhängigmachen­ den Zivilisationsprozessen. Neben dem Problem der stets subjektiv-individuellen Bewertung dieser Quantität ist aber die Frage, ob in Lust, Glück und Wohlleben das entscheidende Kriterium für ein gelungenes Leben zu sehen ist oder vielmehr nicht in etwas anderem, etwa in »Sinn« (V. Frankl), »Schaffen und Werk« (F. Nietzsche), »zwischenmenschlicher Verbundenheit« oder in der »Vereinigung mit dem höchsten Gut« (Platon, Plotin, Christentum, G. W. F. Hegel etc.). Zur »Bewusstseinslast der Vergänglichkeit« vgl. B. v. Brandenstein (1975, 55–58). 208 Zur metaphysischen Erklärung vgl. A. Schopenhauer (1949, Sämtliche Werke, Bd. 2, Die Welt als Wille, 2. Buch, 111ff.).

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1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik

sationen leiden. Um seiner Unendlichkeit neue Freiheit zu verschaf­ fen, ist er daher genötigt, das Leben in seinen begrenzten Gestalten aufzubrechen, was das bewegende Moment des Weltgeschehens aus­ macht. Dieser Prozess erfolgt nach A. Schopenhauers »romantischer« Anschauung deterministisch-fatal, blind und tragisch: Er kann aus innerer Notwendigkeit nicht zum Ende kommen und ist im Letzten – sich selbst verzehrend – sinnlos.209 Im Menschen, in dem dieses Geschehen zu Bewusstsein gelangt, gibt es jedoch – im Rahmen von A. Schopenhauers Weltbild nicht konsequent – die Macht, sich aus diesem Folter- und Tollhaus zu befreien, nämlich durch reine Kontemplation, so in Kunst, Musik und Spiritualität, und durch ethische Entsagung und Askese. Es liegt auf der Hand, dass diese Konzeption von der »schlechtestmöglichen Welt« mit der Idee des blind-gierig-unendlichen, aber in endliche Daseinsgestalten gebann­ ten Lebenswillens steht und fällt. Die folgenden Kapitel werden zei­ gen, dass dieser Weltwille wie ähnlich der weltbildend-weltleidende Weltgeist G. W. F. Hegels, hier allerdings ins Optimistische gewendet, das typisch unfertig-unausschöpfliche Werdewesen des Menschen ins Kosmisch-Metaphysische projiziert und zu einem werdenden, darum leidenden Gott macht. Bei einem anderen großen Denker des 19. Jahrhunderts erhält das Leiden erst in der religiösen Sphäre seinen wahren Sinn, wobei allerdings schon auf der ersten sinnlich-ästhetizistischen und der zweiten, der ethischen Stufe gelitten werden muss, weil beide Exis­ tenzweisen hinter dem Vollsein des Menschen zurückbleiben. Für S. Kierkegaard (1813–1855) offenbart sich im Leiden die Tatsache, dass der Mensch von Gott und damit von der Fülle, der Ganzheit und Seligkeit des Lebens so radikal getrennt ist, dass er in einer metaphysischen Grundentfremdung gefangen ist und daran bewusst und öfters unbewusst, sprich in verdeckten, »verblendeten« Formen verzweifelt. Damit stellt sich das »ganze irdische Dasein (als) eine Art Übelsein« dar, das menschlich nicht zu beheben ist.210 Nichtsdesto­ 209 Siehe A. Schopenhauer (1949, Sämtliche Werke, Bd. 2., Die Welt als Wille, 2. Buch, § 28, 183): »Im Grunde entspringt dies daraus, dass der Wille an sich selbst zehren muß, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden.« Wie zu sehen, gleicht das Konzept des Lebenswillens A. Schopenhauers weitgehend dem Konzept der Lebensgier Buddhas. Eine gute und kri­ tische Zusammenfassung der Lehre A. Schopenhauers, die auch die inneren und äußeren Widersprüche klar herausstellt, findet sich bei F. Billicsich (1959, 11–39). 210 Siehe S. Kierkegaard (1982, 159).

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

trotz drängt das Leiden gerade dadurch, dass es alles Dasein verleidet, dazu, durch einen Läuterungsprozess alles Endliche und Allzuirdische vom höheren Selbst des Menschen, seinem göttlichen Seelenfunken, wie M. Eckhart211 sagt, abzuscheiden und so der Gottebenbildlichkeit (wieder) bewusst zu werden: »Wie der Glaube der Unmittelbarkeit der an das Glück ist, so ist der Glaube des Religiösen der, dass gerade im Leiden das Leben liegt [...] Denn religiös gesehen, sind alle Menschen leidend und es kommt gerade darauf an, in das Leiden hin­ einzukommen (nicht dadurch, dass man sich darein stürzt, sondern dass man entdeckt, dass man darin ist), nicht darauf, dem Unglück zu entkommen.«212 Erst im Sprung des sich vertrauend hingebenden Glaubens an Gott kann der Mensch dieses Leid wahrnehmen, ertragen und ins Positive, in Läuterung, Entwicklung und Reifung wenden. Auf den ersten Blick mutet die Stellungnahme von Thomas v. Aquin zum Leiden und zum Verhältnis von Gott und Leiden, die Boethius und Augustinus folgt, paradox an. Kurz und bündig sagt er nämlich: »Si malum est, Deus est«, »Wo ein Übel ist, ist (notwendig) Gott.«213 Dies bedeutet, tief und genial von Thomas v. Aquin gesehen, dass ohne Gott (und die von ihm garantierte Weltordnung) das Übel letztlich nicht möglich, dass das vollkommene Sein die notwendige Bedingung des unvollkommenen Seins ist.214 Auf diesem Hintergrund wird verständlich, dass Thomas v. Aquin wie das ganze Mittelalter das Leiden bzw. »Kreuz« als Königsweg zu Gott auffasst, was durch die Aufhellung der Wesensstruktur des Übels bestätigt wird.215 Wegen ihrer großen geistesgeschichtlichen Wirkung kommen der impliziten Pathodizee und Theologie des alttestamentlichen

211 Unter »Seelenfunken« oder »Seelengrund« versteht Meister Eckhart eine un­ geschaffene, dennoch immanent im geschaffenen Geschöpf naturhaft bzw. wesenhaft bestehende göttliche Schicht des Menschen und nicht nur wie z. B. Augustin das zwar ewige, aber nur in Gott, also transzendent existierende Vor- oder Urbild des Menschenselbst, seine platonische Idee. Zu Meister Eckhart (1996, 49ff.) vgl. Von der wahren Armut und Ich und der Vater sind eins. Vgl. auch meinen Aufsatz zu Meister Eckharts »Panentheismus« (2018, 319–358). 212 Siehe S. Kierkegaard (1982, 143ff.). Vergleiche hier besonders seine Werke: Die Krankheit zum Tode (EA 1849), Der Begriff Angst (EA 1844) und Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (EA 1846). 213 Siehe Thomas v. Aquin (1970), Summa contra Gentiles, III. Buch, Kap. 71. 214 Vgl. B. Welte (1959). 215 Vgl. Kap. III. 3.5.

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1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik

Buches »Hiob« eine besondere Bedeutung zu.216 Hier wird ein got­ tesfürchtiger und gerechter Mensch in einem so ungeheuerlichen Ausmaß von Unglück und Leid getroffen, dass er an seiner Gottesvor­ stellung irrewird und mit Gott (nach anfänglicher Ergebung)217 zu hadern und zu rechten beginnt. Alles bis auf sein Leben verliert er: Frau (die sich von ihm abwendet), Kinder, Hof, Vieh, Haus, Ansehen und Gesundheit. Einen Grund dafür kann er nicht finden, auch bis zur wundersamen Aufhebung seines Unglückes am Ende des Buches nicht. Seine Freunde dagegen, die ihn besuchen und ihm beistehen wollen, meinen ganz im Sinne der klassischen Vergeltungsgerechtig­ keit ihrer jüdischen Tradition, Hiobs Unglück könne nur die Strafe für seine – uneingestandenen, verborgenen oder verdrängten – Sünden sein.218 Da sich Hiob jedoch nichts vorzuwerfen, im Gegenteil stets ein ausnehmend vorbildliches und frommes Leben geführt hat, gewinnt er das Bild eines Gottes, dem Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nichts bedeuten. Nach A. Deissler219 sei diese Verunsicherung gegenüber der Frage »Wer ist Gott?« für einige spätjüdische Texte charakteristisch und eröffne eine Vertiefung des Glaubens. Wie das Kapitel 23 des Buches Hiob zeigt, erlebt sich der Unglückliche in wahrhaft gren­ zenloser Gottesferne (Verse 3–4), fühlt sich einem undurchschauba­ ren und schreckenerregenden Gott der Willkür und Prädestination ausgesetzt (Verse 13–16), will aber nichtsdestotrotz sein Schicksal verstehen und rechtfertigt sein bisheriges Leben im Dialog mit Gott, der dem Leidensmann aber dann doch offen gegenübertritt und sich auf einen Dialog einlässt, an dessen Ende Gott, nachdem sich

216 Vgl. die differenzierte, kenntnisreiche und tiefsinnige Ausdeutung der Hiobpara­ bel durch K. Kühlwein (2003), deren symbolisch-existenzielle Sichtweise annehmbar ist, sich nichtsdestotrotz aber mit einer metaphysischen Deutung, wie ich sie geben will, durchaus verbinden und vereinen lässt. 217 Siehe AT, Buch Hiob, 1,21: »Nackt bin ich aus meiner Mutter Schoß gekommen, und nackt werde ich dorthin zurückkehren; der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen: der Name des Herrn sei gepriesen!« 218 Diese Vergeltungsgerechtigkeit nennt man auch Tun-Ergehen-Zusammenhang. 219 Vgl. A. Deissler (1973, 101–110).

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Hiob unterworfen hat (40,3–5220, 42,1–6221), seine Rechtschaffenheit bestätigt und ihn belohnt. Im Unterschied zu Hiob darf der Leser des Buches, dem die Rah­ menhandlung bekannt ist, das Geschehen als Prüfung der Gottestreue verstehen, deren Sinn es ist zu klären, ob Hiob irgendein weltimma­ nentes Gut – Wohlstand und Ansehen, Kinder und Gesundheit – (ganz analog zur Prüfung, die Abraham am Berge Morija erfährt) sei­ nem weltüberlegenen Gott, dem »Summum bonum« allen Daseins, vorziehen wird oder nicht. Für Hiob, der von der Rahmenhandlung bis zum Schluss nichts erfährt und im Dunkeln gelassen wird (was mit einen barmherzig-gerechten, der Wahrheit verpflichteten Gott aller­ dings kaum zusammengeht), bleibt sein leidvolles Unglück undurch­ schaubar, ja – auf dem Hintergrund seiner Gerechtigkeitsvorstellung – bleibend ungerecht222 und kann durch ihn schlussendlich nur durch bedingungslose, ziemlich kleinmütig wirkende Unterwerfung im Sinne des »credo quia absurdum« gemeistert werden. Im Verlauf dieser Arbeit soll mit dieser Leidtheologie am Ende eines jeden Abschnitts eine Auseinandersetzung stattfinden, um den eigenen Standpunkt immer wieder kritisch zu beleuchten und zu präzisieren. Am tiefsten dringt die Deutung des Leids im alttestamentlichen Buch Genesis, der viele Denker – so neben Paulus u. v. a. – auch F. W. J. Schelling und der tiefsinnige russische Kultur- und Religi­ onsphilosoph N. Berdjajew223 (1874–1948) folgen. Vom Menschen wird hier gesagt, dass er seinem innersten Wesensgrund nach zu Gott gehört, dass er nur dort bei Gott als dem Urquell des Seins Buch Hiob, 40,3–5: »Da antwortete Hiob dem Herrn und sprach: Siehe, ich bin zu gering. Was kann ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, ich tue es nicht wieder; ein zweites Mal, doch nun nicht mehr!« 221 Buch Hiob, 42,1–6: »[…] So habe ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind […] Darum widerrufe ich und atme auf in Staub und Asche.« – Um welche Dinge geht es? Um die Schöpfungstaten Gottes, mit denen dieser »argumentiert«, die in der Sache jedoch inkommensurabel mit dem ethischen Problem der Ungerechtigkeit in der Welt sind. Andererseits soll vielleicht die das ethische Dilemma Hiobs ignorierende Antwort Gottes den Umstand symbolisieren, dass nur Gott das Ganze seines Schöpfungswerkes kenne und daher das scheinbar (?) ungerechte Leid anders bewertet. 222 Es ist natürlich auch klar, dass eine Kompensation, wie am Ende des Buches gegeben, das Gerechtigkeitsdilemma gar nicht beseitigt. 223 Vgl. besonders sein Buch: Der Sinn der Geschichte, in dem N. Berdjajew (1950) die gesamte Weltgeschichte als Mysterienspiel und spirituelle Tragödie, mehr noch als Gottesdrama deutet. 220

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voll Mensch sein kann und seine Heimstatt hat. Da der Mensch aufgrund eines Vergehens sich von Gott frei ab- und irgendeinem endlichen Gut (letztlich seinem Ego) zuwendet, fällt er aus dieser Heimat der vollkommenen Geborgenheit und Fülle heraus und gerät in eine ihm letztlich wesensfremde Welt. Da diese Welt die der Kontingenz, des Nichtswerdenkönnens, nach N. Berdjajew der »Materieversunkenheit«, ist,224 gibt es keine Alternative zu Leiden, Daseinsangst, quälender Seinsgier und zu in der Welt unerfüllbarer, daher tragischer Sehnsucht.225 Immer ist der Mensch von seiner innersten Seinsmöglichkeit und Seinsberufung her, die das Bei- und In-Gott-Sein ist, wo alle Kontingenz endet und das Dasein unzufällig wird, abgeschnitten und entfremdet;226 immer ist er unterwegs zu sich, und nie kann er, solange er in der Welt lebt, ankommen. Das Schicksal des jüdischen Volkes, seine Versklavung, sein Exodus, seine Diaspora, sein nie endendes messianisches Unterwegssein und die immer wieder über es hereinbrechenden Vernichtungsversuche durch irdisch-widergöttliche Geschichtsmächte sind auf diesem religiösen Hintergrund nichts anderes als der Ausdruck für das Herausgefallen­ sein aus Gott und für das Im-Nichts-Hängen, das zu überwinden zwar die Ursehnsucht und Urberufung dieses Volkes, das stellvertretend für die Menschheit steht, ist, doch kann diese »Gottlosigkeit« menschlich nie ganz überwunden werden, also Leid pur: Mangel, Zerrissenheit, Bedrohung, Angst, Vergeblichkeit, Scheitern, Schuld total. Der letzte Sinn des Leidens aus dieser Sicht, die neben N. Berdjajew (1950) auch E. Drewermann (1984 und 1988), obschon im Rahmen einer »naturalistischen Metaphysik«, und die bedeutende jüdische Simmel224 Vgl. N. Berdjajew (1950). Nicht ganz unähnlich meint der indische Philosoph Sri Aurobindo (1991), dass das Leiden die Reaktion des Ganzen, des Totalen auf den irrigen Versuch des Ich darstelle, das Universelle zu beschränken und der bloßen Möglichkeit individueller Freude unterzuordnen. Das ist eine typisch hinduistische Deutung. Auch für G. W. F. Hegel und M. Scheler (1923a) ist Leiden das Zeichen für das Aufbegehren eines Teiles gegen das Ganze. 225 E. Drewermann (1984 und 1988) sieht hier sehr tief, wenn er sagt, dass die Angst vor der Kontingenz, vor dem Wissen also, nicht notwendig zu sein, sondern nicht sein zu können, die Urquelle allen Leidens und aller Sünde der Selbstanmaßung ist. Allerdings erklärt dieser Ansatz nicht, warum und wie der im Kern überendliche Menschengeist in die totale Kontingenz und Seinskorruptibilität der vergänglichen materiellen Welt geraten ist. 226 Siehe Angelus Silesius (2006, EA 1675), 1. Buch, 42, 102. Aphorismus: »Dann wird das Blei zu Gold, dann fällt der Zufall hin/Wann ich mit Gott durch Gott in Gott verwandelt bin.«

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Schülerin Margarete Susman (1872–1966)227 teilen, lautet darum: Außerhalb Gottes ist alles Leben Leiden, totales Leiden, weshalb alles daranzusetzen ist, in Gott zurückzukehren bzw. – in jüdischer Sicht – Gottes Reich der Gerechtigkeit in der Welt aufzurichten. Auf einer anderen Erzählung aus dem ersten Buch des Alten Tes­ tamentes (Genesis 1,25–28), der Geschichte von den Brüdern Jakob und Esau, beruht eine andere, dezidiert christliche Theodizee, die das abendländische Denken bis in seine tiefsten Gefühlsregionen geprägt hat und darum schon an dieser Stelle nicht verschwiegen werden darf: die Erbsündenlehre des Kirchenvaters Aurelius Augustinus (354– 430).228 Wie längst nicht mehr allen Christen bekannt, lehrt sie, dass die Erst- und Ursünde der Stammeltern Adam und Eva nicht nur aller­ lei Übelstand zur Folge hatte (Verlust der Gottgeborgenheit, bittere Arbeit, Schmerz, Leid, Krankheit, Streit, Leid, Not und Tod), sondern direkt als vollzogene (!) Sünde auf die Nachkommen überging, so dass alle Menschen mit ihrer Zeugung im Mutterleib der durch keine Reue und Sühne revidierbaren Verdammung anheimfallen und nur in sehr kleiner Zahl unverdient von Gott in einer undurchschaubaren, ja grundlosen und darum willkürlich erscheinenden »Gnadenwahl« befreit werden, während der riesige Rest, die sogenannte »massa damnata«, ihrem höllischen Schicksal überlassen bleibt.229 Es leuchtet 227 So besonders in Das Hiob-Problem bei Franz Kafka, Hiob und unsere Zeit sowie Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. 228 Vgl. Augustinus z. B. in seiner Schrift De diversis quaestionibus ad Simplicianum (397 v. Chr.), die sich vor allem am Esau-Jakob-Dilemma abarbeitet, und weiter seine Schrift De natura et gratia (36,42). Vgl. außerdem A. Fürst (1999), Augustins Briefwechsel mit Hieronymus. 229 Während Judentum, Islam und christliche Ostkirche (!) die Erbsündenlehre nicht lehren, hält die katholische Kirche im Anschluss an Augustinus an der Theorie der Erbsünde fest, obwohl sie ausdrücklich betont (vgl. J. Neuner/H. Ross 1971, 218), dass eine persönliche Sünde, wie sie Adam beging, nicht vererbt werden kann. Eine nichtpersönliche oder überpersönliche, dazu irgendwie aber doch vererbbare Sünde ist nach­ weislich aber ein ontologischer, logischer und sittlicher Selbstwiderspruch, der die mora­ lische Freiheit und überhaupt die Freiheit zerstört, gleichzeitig jedoch mit der Verantwortungszuschreibung an den Menschen eine fatale Spaltung in das mensch­ liche Leben hineinträgt. Die Existenz und Vererbung solch einer »Sünde« scheint die katholische Kirche zu lehren (vgl. J. Neuner/H. Roos, 231ff.), doch ist die Begrifflich­ keit nie ganz scharf (vgl. dazu den kath. Katechismus, 1997, Nr. 403 und 404). Der Rückbezug auf Paulus (eph' ho aus Röm 5,12) genügt nach Aussage bedeutender Exegeten nicht zur Begründung von Augustins Konzeption, da Adam und Christus nur parallelisiert werden, aber nirgends von einer Vererbung bzw. nur von einer sym­ bolischen Identifikation der Sünder (»in«) mit Adam die Rede ist. Der Sache nach kann

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1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik

unmittelbar ein, welches Unheil diese Sünden- und Schuldtheorie in den erschreckten Seelen anrichten musste, zumal sie oft missbraucht die »Erbsünde« daher nur, wie dies auch Augustinus vor 397 lehrte, als Folge von Adams Sünde interpretiert werden und meint dann erstens die Aufhebung der unmit­ telbaren Gemeinschaft mit Gott und damit den Verlust der Gnade der ungetrübten Gottesverbindung und zweitens die Überantwortung der Menschen an die korruptible Physis, also an Geburt, Altern, Schmerz, Geburt, Krankheit, Tod, Mühsal, Begierlich­ keit und Schuld, also die Auslieferung an die endliche, lust-, tod- und leidbestimmte, zudem schuldverstrickte Welt im Sinne von Erbverstrickung und Erblast, aber nicht von Erbsünde im wörtlichen Sinne. Dadurch werden weder die von Gott primär gut­ geschaffene Natur des Menschen noch die Willensfreiheit aufgehoben, wie anschei­ nend Augustinus, M. Luther und J. Calvin (und viele konservative Christen bis heute) lehren, sondern es werden – allerdings durchaus entgegen der Auffassung des Pelagianers Julianus von Eclanum – Wille und Erkenntnis belastet, getrübt und geschwächt, das aber durchaus. Demnach wird von Adam auf die Menschen keine (aktuale) Sünde, sondern es werden, und das durchaus real, der Gnadenverlust, die physisch-leibliche (Erb-)Last der Sterblichkeit und die prinzipielle, von Gott nicht mehr unmittelbar geschützte Sündenneigung in eine sündenverstrickte Welt weitergegeben. Dies bedeutet, dass das neugeborene Kind zwar primär gut und sündenfrei geschaffen ist, aber (aus höheren, durchaus angebbaren Gründen!) in eine derart bedrohlichungeborgene Welt gerät, dass die Sünde durch Verletzlichkeit, Angst, Verwirrung, Verstrickung und reale Sündenneigung sehr wahrscheinlich (und faktisch-empirisch zur Normalität) wird (christlich mit der Ausnahme von Jesus und Maria). Es liegt daher auf der Hand, dass der Verlust der Gnade der unmittelbaren Gottgemeinschaft die Unmöglichkeit beinhaltet, aus eigener menschlicher Kraft in jenen Anfangsstand der Gnade zurückzukehren, eine Machtanmaßung, die wohl eher zu Unrecht dem Mönch Pelagius (gest. 418 n. Chr.) unterstellt wird, dessen Standpunkt nach Kurt Aland (1991, 200–208) weitaus mehr in die heutige katholische Position Eingang fand als der radikale, im Wesen unhaltbare und grundpessimistische, nach K. Flasch (2012) sogar desperate, antihumane und gewaltlegitimierende Standpunkt von Augustinus, der dazu tendiere, dem Menschen alle Freiheit abzusprechen und mit einem düsteren Willkürgott zu drohen. Recht besehen, bedarf der Mensch, wie alle Konfessionen und Kirchen übereinstimmend lehren, sowohl der Hilfe des Gottmenschen, um zu Gott zurückzufinden, als auch der entschlossenen Mitwirkung seines, wenn auch geschwächten und leicht verführbaren Willens (siehe Lk 10,27: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt«). Denn was man soll, von dem muss grundsätzlich gelten, dass man es auch können kann – eine Logik, die der Augustin seit 397 n. Chr. ablehnt. Vgl. dazu K. H. Schelkle (1968), der kurz, aber klar das Erbsündeproblem darlegt und neben den historischen auch die sprachlichen Zusammenhänge, Verwicklungen und Verwirrungen aufzeigt. Von katholischer Seite ist es J. Ratzinger (1971, 179), von evangelischer Seite W. Pannenberg (1983, 116–139), die die Unmöglichkeit der bio­ logischen Vererbung lehren. Letzterer weist wie viele andere überzeugend nach (118– 119), was schon der Philologe R. Simon 1693 bewiesen hatte (Nachdruck 1969), dass Paulus im Römerbrief keine erbliche Sünde lehrt, vielmehr Augustinus es ist, der in seinem leidenschaftlichen Kampf gegen Julianus (und zudem unkundig des Bibel­ griechisch) erst zu seiner Deutung gelangt. Vgl. außerdem W. Schobert (2006, 115– 124). In den Abschnitten III. und IV. gehe ich auf diese Thematik genauer ein.

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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft

wurde, und wie dringlich und überfällig es ist, sie zwar nicht völlig zu verwerfen, sie aber doch in Hinsicht eines sehr wahren Kerns sachund geistgerecht umzubilden. An dieser Stelle ist es angebracht, die erste explizite Formulie­ rung der Theodizeeproblematik, die auf rational-philosophischem Niveau stattfindet, anzuführen. Es handelt sich dabei um ein logi­ sches Kalkül, das interessanterweise in aporetischer Ausweglosigkeit endet und daher das Denken entweder lahmlegt oder herausfordert. Der Kalkül, in dessen Gestalt sich das Theodizeeproblem kundgibt, stammt nach Laktanz von Epikur (341–271 v. Chr.) und lautet, wie folgt:230 – – – – –

Kann Gott nicht oder will er nicht? Entweder will Gott die Leiden aufheben und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er will es weder, noch kann er es, oder er will es und kann es.

1.

Wenn er will und nicht kann, ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, ist er missgünstig, was Gott ebenso fremd ist. Wenn er weder will noch kann, ist er missgünstig und schwach und deshalb auch kein Gott. Wenn er sowohl will als auch kann, woher kommen dann die Übel?

2. 3. 4.

Der erste und der dritte der vier Fälle sind in Hinsicht auf Gott als auf ein allmächtiges und allgütiges Wesen direkt selbstwidersprüchlich und daher hinfällig; der zweite Fall bleibt dunkel und ist daher zunächst unverständlich, möglicherweise aber richtig. Der letzte Fall schließlich scheint sich nicht mit dem tatsächlichen Vorhandensein des Übels zu vertragen. Es ist klar, dass, wenn überhaupt, nur der zweite und der vierte Fall für die Lösung der Theodizeeproblematik Vgl. Epicurea (Hrsg. H. Usener, 1887, Fragment 374), das aus der Schrift De ira die, 13, 9 von Laktanz entnommen ist. Die heutige Forschung schreibt das Fragment nicht Epikur zu, sondern einem skeptischen Philosophen, vielleicht Arkesilaos oder Karneades. Darüber hinaus betont H.-G. Janßen (1989, 4), dass der Theodizeegedanke im Allgemeinen der Antike fremd gewesen sei, letztlich weil für sie der Kosmos identisch mit der Gottheit war und darum das Übel darin keinen Platz einnehmen konnte. Das ändert jedoch nichts an der formallogischen Bedeutung und am philoso­ phisch-sachlichen Ernst des pseudo-epikuräischen Kalküls. 230

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1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik

infrage kommen, so dass sich die Aufgabe stellt zu klären, warum Gott das Übel zeitweise (!) zulässt oder anders: Warum er das Gute, Heile und Vollkommene zeitweise nicht will bzw. das Übel duldet und die Ganz- und Heilwerdung gleichsam aufschiebt. Während sich die epikureische Position allein auf Vernunft- und Argumentationsgründe stützt, lassen sich bei den meisten Philoso­ phien und Religionen unthematisierte metaphysische Voraussetzun­ gen, in die das Leiden interpretativ hineingestellt wird, aufzeigen. So wertvoll sie im Einzelnen sind, so fragwürdig sind sie zumeist, da sie auf weltanschaulichen Vorentscheidungen aufbauen, die nicht ohne Weiteres übernommen werden können und von Späteren meist verworfen werden, so etwa die fragwürdige Deutung des Leids als gottgeschickte Strafe oder als karmische »Rache«. Um hier auf feste­ ren Boden zu bauen, gilt es, das Fundament empirisch, methodisch, systematisch und analytisch-metaphysisch tiefer zu legen.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

2.1. Freiheit und Gebundenheit im Leiden: Nur ein partiell freies, partiell unfreies Wesen kann leiden; die Unmöglichkeit unmittelbarer Leidzufügung Nachdem die theoretisch-methodische Vorarbeit geleistet ist und die Möglichkeit einer Metaphysik des Leidens als Wissenschaft aufgewiesen wurde, einer Wissenschaft, die zwar von empirischen Tatsachen ausgeht und ausgehen muss, darüber hinaus aber auf methodisch-sicherem Wege zu den transzendenten, der direkten Erfahrung sich entziehenden, doch durchaus erschließbaren Wirklich­ keitsvoraussetzungen des Leidens vorzudringen vermag, kann das Leiden als Realität im gesamten Ordnungsgefüge der Wirklichkeit zu verorten gesucht werden. Auszugehen ist dabei von dem, was die »Phänomenologie des Leidens« aufgedeckt und ermittelt hat.231 Das Leiden ist zwar eine unmittelbare Erfahrungstatsache, doch ist es keineswegs nur einfach gegeben, kein »Ding«, kein Faktum brutum, sondern konstituiert sich erst durch Widerfahrnis, Betrof­ fenheit, Erleben, implizite Bewertung und widerstrebenden Selbst­ vollzug. Das bedeutet, dass Leiden nicht nur passives Erleiden ist, sondern erlebt werden muss, um zu sein. Erleben ist aber immer auch inneres Leben, Innesein, Selbstsein in Selbstvollzug, ist demnach eine eigenständige Aktivität und Selbsttätigkeit, also ein Seiendes mit Spontaneität und Kreativität. Dieser Selbsttätigkeitscharakter im Leiden offenbart sich deutlicher, wenn das Leiden bewusstwird: »Ich leide«, »Du erträgst dein Leiden«, »Er will sich von einem Übel befreien, kann es aber nicht, und gerade darin besteht sein Leiden.« Erkennt man gar, dass eine widerfahrene Realität erst dadurch zum Übel wird, dass jemand daran leidet, dass ein Subjekt sie als etwas bewertet, das ihm zuwider, jedoch nicht loszuwerden ist, obwohl es dies erstrebt, wird das (ambivalent-dissonante) Aktivitätsmoment im Leiden überdeutlich. Ein Wesen, das im Leiden nur fremdbestimmt 231

Vgl. B. Wandruszka (2023), Philosophie des Leidens, Bd. I.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

wäre und nicht einmal von seinem Leid wissen, dieses nicht selbst spüren könnte, ein solches Wesen könnte unmöglich leiden. Zum Leiden gehört demnach wesenhaft ein Selbstverhältnis, und da ein jedes Selbstverhältnis nur dadurch eines ist, dass ein Wesen sich von und aus sich her zu sich selbst hin verhält, walten im Leiden, wenn auch meist unreflektiert, Selbsttätigkeit und Selbstbezüglichkeit. Das bedeutet, dass im Leiden nicht nur ein Fremd-, sondern wesentlich ein Selbstbestimmen (mit-)wirkt, was wiederum nichts anderes ist als der Kern und das Wesen der Freiheit. »Ich leide« heißt demnach: »Ich vollziehe mich als Leidenden«, heißt: »Ich bestimme mich, ich »will« mich als Leidenden.« Würde der Mensch gänzlich von einem Anderen oder von etwas Anderem in seinem Leiden vollzogen, »würde ich total gelitten« und litte nicht selbst, dann litte bestenfalls der Andere in mir, aber niemals »als ich«; reine Passivität ist mit dem Leiden daher unvereinbar. Leiden ist, wie die Phänomenologie klar gezeigt hat, »selbstgemacht«, selbstvollzogen, wenn auch nicht nur. Die Akte des Leidens als Selbstvollzug umfassen, detaillierter betrachtet, die Wahrnehmung einer widerfahrend-widerständigen Realität, die meist intuitiv-emotionale Bewertung dieser Realität als Störung und Übel, das Aufbegehren dagegen und die Ohnmacht gegenüber dieser erlittenen Realität. All das zusammen konstituiert das Leiden als Mangelerleben, Zwiespalt, Spannung, als Ohnmacht und innere Diskrepanz. Wäre kein Widerfahrnis, würde nichts wahr­ genommen; würde nichts als Übel bewertet, würde sich nichts da­ gegen auflehnen; wäre da keine sich erhebende Macht, die an ihre Grenzen gelangte und Ohnmacht erlitte, wäre kein Leiden in dieser Welt. Leiden ist demnach an Leben, Eigenleben, selbsttätige Wahr­ nehmung, an selbsttätige Bewertung, selbsttätige Auflehnung und an durch andere Daseinsmächte begrenzte und im Leiden bedrohte und ohnmächtige Eigenmacht gebunden, andernfalls wäre es nicht. Bezo­ gen auf die Theodizeeproblematik bedeutet dies: Endliche Freiheit und Leiden sind untrennbar verbunden, derart, dass Leiden Freiheit, allerdings begrenzte, beschränkte, damit fehlbare und verletzliche Freiheit notwendig voraussetzt. Selbsttätigkeit und Selbstaktivität verdienen aber nur diesen Na­ men, wenn da ein Wesen ist, das sich selbst ergreifen und sich selbst erleben, kurz: das sich selbst bestimmen kann. Wo Selbstbestimmung ist, da ist an diesem Punkt kein Fremdbestimmen. Wenn Leiden die Fähigkeit zur Selbstbestimmung impliziert, dann ist Leiden ohne ein Mindestmaß an Freiheit unmöglich. Wesen, die ihre Freiheit nicht

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2.1. Freiheit und Gebundenheit im Leiden

vollziehen können, etwa ein Stein, ein Kunstwerk, ein Leichnam oder ein komatöser Mensch können zwar erleiden bzw. affiziert und affligiert werden, aber sie können nicht leiden. Es ist andererseits ebenso klar, dass ein Wesen, das in seinem Selbstsein und Selbstbestimmen unbegrenzt und in keiner Hinsicht fremdbestimmbar wäre, ebenfalls nicht leiden könnte. Leiden heißt zwar gewiss Lebenwollen, aber genauer, etwas leben wollen, was sich nicht leben lässt und was eine Hinderung, eine Hemmung erfährt. Im Leiden ist, wie A. Schopenhauer232 erkannte, ein Wille behindert, aber nicht von sich, sondern von irgendetwas Anderem her: Im Leiden muss der Mensch etwas erfahren, das er nicht erfahren will und, solange er leidet, vergeblich abzuschütteln trachtet. Ein leidensfähiges Wesen ist demgemäß nicht nur ein partiell freies, zum Selbstvollzug und zur Selbstbestimmung fähiges, sondern ein auch zur Fremdbestimmung, zur Hemmung und Behinderung fähiges, sprich ein ausgesetztes und von allerlei Außenbedingungen abhängiges Wesen. Denn im Leiden erfährt ein Subjekt etwas, was es nicht erfahren will, aber muss. Ausgesetzt ist jedoch nur ein solches Wesen, das in einem Daseinsrahmen steht, den es sich nicht selbst gesetzt hat und von dem es in seiner Existenz abhängt. So atme ich zwar selbst, aber die Luft muss bereitgestellt sein, von ihr hänge ich ab. Noch fundamentaler bin ich ein fühlendes, wahrnehmendes, phanta­ sierendes, erinnerndes, denkendes, wollendes Wesen, doch habe ich mir alle diese Fähigkeiten nicht selbst gegeben, sondern wurde mit ihnen »betraut«. Entsprechend bin ich im konkreten Lebensvollzug und damit auch in meinen freien Entscheidungen von diesen Fähigkei­ ten abhängig. Diese Einsicht erweist, dass das menschliche Ich, sofern es leidet bzw. leiden kann, unmöglich ein absolut selbstsetzendes Ich ist.233 Zwar trifft zu, dass sich das menschliche Ich – in der Sprache J. G. Fichtes – selbst setzt, aber nicht absolut, sondern nachdem es gesetzt wurde: Das menschliche Selbst ist nach S. Kierkegaard ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und dabei erkennt, dass es sich auch zu etwas Anderem verhält, durch das es ins Sein kam und überhaupt ein Verhältnis sein kann.234

Vgl. A. Schopenhauer (1949, Sämtliche Werke, Bd. 2., Die Welt als Wille, 4. Buch, § 56, 363ff.). 233 Vgl. anders J. G. Fichte (1979, 11ff., EA 1794). 234 S. Kierkegaard (1976, 32). 232

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Weder ein total passives Wesen noch ein total freies Wesen, weder Stein noch Gott können also leiden, wiewohl viele Schwerlei­ dende sich wünschen, stumpf wie ein Stein zu sein: »Leidlose Steine, wie beneid' ich euch!«235 Leiden kann nur ein Zwischenwesen, ein Wesen, das sein Dasein primär und ursprünglich nicht sich selbst verdankt, weil es sonst absolut, ewig und unendlich wäre, sondern sich als gegeben erfährt und zugleich und sofort sich selbst zu wollen, sich zu bestimmen, sich und sein Leben zu gestalten aufgerufen ist. Philosophisch gesprochen: Nur ein Objekt-Subjekt kann leiden, weder ein reines Objekt noch ein reines totales Subjekt können leiden. Eine Welt könnte demnach nur dann ohne Leiden sein, wenn sie entweder nur aus einem absoluten Subjekt oder nur aus einem bloßen Objekt oder nur aus beidem bestünde, sprich nur göttliches Bewusstsein oder nur reines, ruhendes, parmenideisch-statisches Sein wäre. Doch fehlte ihm dann etwas Einzigartiges und wohl auch unvertretbar Wertvolles: nämlich ein selbstwerdendes, sich im Suchen, Experimentieren und Finden selbstgestaltendes Sein. Ist eine Welt aber, so fragt sich schon hier, nicht vollkommener, in der solche selbstkreativen, selbstwerdenden, dann allerdings auch dem Irrtum und Leid ausgesetzten Wesen vorkommen als entweder keine Welt oder nur eine statisch-leblose Welt? Diese jetzt noch offene Frage, die zutiefst mit der Theodizeeproblematik zusammenhängt, soll im Verlauf der Arbeit geklärt werden. Wenn Leiden nicht nur passives Erleiden ist, sondern durch selbsttätige Akte mitkonstituiert wird, durch Wahrnehmen von etwas störend Widerfahrendem, durch Bewertung dieses Widerfahrenden als Übel, durch vergebliche Auflehnung gegen dieses Übel und durch die darin erlebte Ohnmacht, dann kann es keine direkte und unmittel­ bare Leidzufügung geben. Niemand und nichts kann mich unmittelbar leiden machen, weder ein anderer Mensch noch Gott. Sie können mir wohl allerlei zufügen, auch Schaden zufügen – dass diese Zufü­ gungen, diese Widerfahrnisse, diese Schädigungen aber zum Übel, zum Leid, genauer, zu meinem Übel, meinem Leid, zum Übel an mir werden, das kommt allein durch mich, durch meine stets aktive Wahrnehmung, Bewertung und Stellungnahme zustande. Somit ist die Rede von einem Gott, der Leiden »macht«, falsch oder doch ungenau: Er schafft Wesen, die leiden können, aber leiden tun diese selbst durch sich selbst – und, wie die Erfahrung bezeugt, ist kein Leiden 235

Siehe Il Pensieroso, Gedicht von C. F. Meyer.

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2.2. Das Wesen der Freiheit

notwendig. Das ist so, weil zum einen die dem Leiden zugrundelie­ genden Widerfahrnisse als solche nicht notwendig sind (niemand muss krank werden), zum anderen, und das ist entscheidender, weil Wahrnehmung und Bewertung eines Widerfahrnisses als Übel vom Betroffenen abhängen und im Extremfall, wie Epikur auf dem Ster­ bebett, Epiktet in seinem Sklavenleben, Buddha in der Meditation und Paulus in seinem Glaubenskampf bezeugen, etwa durch völlige Erge­ bung oder Nichtwertung unterlassen werden können. Selbst schwerste Schmerzen, größte Verluste und gemeinste Demütigungen können leidfrei erlebt werden, wiewohl dies die Ausreifung einer bei­ nahe übermenschlichen inneren Freiheit verlangt, die jedoch nicht unmöglich ist und immer wieder von Menschen realisiert wird.

2.2. Das Wesen der Freiheit: Bestimmungsoffenheit, Selbstbestimmungsfähigkeit und Selbstannahme Wenn Leiden ohne Freiheit nicht möglich ist, stellt sich die Frage nach dem Wesen der Freiheit. Weithin bekannt, handelt es sich hierbei um eines der größten Rätsel der Menschheit, und bis zum heutigen Tag streiten ihre besten Köpfe um seine Lösung: Gibt es überhaupt Freiheit, und wenn ja, was ist sie und wodurch wurde sie möglich? Die meisten Lösungsangebote gehen von der unmittelbaren Selbstwahrnehmung aus, und da erlebt der Mensch in der Tat, dass er sich trotz vielfältiger Fremdbestimmungen in gewissen Grenzen selbst bestimmen kann.236 Vor allem erlebt er intuitiv sein Freisein in der Wahl bzw. im Wählenkönnen, weiter im Handeln, Widerstehen und Nachgeben, da er meint, er könne sich so oder so, zumindest für oder gegen etwas entscheiden. Obschon ihm dieses Erlebnis durch keine noch so kluge deterministische Sophistik genommen werden kann, liegt es auf der Hand, dass es zur Fundierung eines wissen­ schaftlich begründeten Erweises nicht genügt. Da auch die philosophi­ sche Phänomenologie dieses unmittelbar evidente Freiheitserlebnis zur wichtigsten Grundlage in der Verteidigung der Freiheit des Men­ schen nimmt, steht sie auf unsicheren Füßen, deren Untergrund von ihren Gegnern, den Naturalisten, die meist Deterministen sind, hinterfragt und leicht erschüttert wird. 236

Vgl. J. Nida-Rümelin (2005).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Was führen diese für Argumente ins Feld? Die Naturalisten führen alles ins Feld, was zeigt, dass der Mensch in seinem Verhalten, Denken, Fühlen, Wollen und überhaupt Erleben von physisch-leib­ lichen, psychischen, sozialen, ökologischen und geistig-kulturellen Faktoren abhängt. Und gewiss lässt sich daran nicht zweifeln. Wenn jemand, wie z. B. der frühe J.-P. Sartre,237 behaupten wollte, der Mensch sei total frei, der allerdings würde sich in den Augen der Natu­ ralisten (und der gewöhnlichen Menschen) in ein lächerliches Licht setzen. Folgt aber aus der vielfältigen Gebundenheit des Menschen seine totale Unfreiheit, seine totale Determiniertheit, seine Unselb­ ständigkeit in jeder Hinsicht? Das wäre ein Kurzschluss. Ein Reiter, der auf sein Pferd gebunden ist, kann dieses trotzdem lenken.238 Noch bedenklicher ist der methodisch-epistemologische Fehler, der dem naturalistischen Determinismus unterläuft, da er nicht sieht, dass er nicht die methodisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten be­ sitzt, um überhaupt das Freiheits-Unfreiheits-Problem anzugehen. Warum ist das so? Freiheit, wenn es sie gibt, konstituiert sich nur da, wo sich ein Wesen selbst bestimmt, das heißt eigenaktiv ist, sich selbst vollzieht und einen unmittelbaren Rückbezug auf sich konstituieren kann. Dieser Selbstvollzug ist nur in der Erste-Person-Perspektive und nur in der Selbstreflexion erfahrbar, die Naturwissenschaftler dagegen betrachten ihre Gegenstände grundsätzlich von außen, als Objekte, was heißt, dass sie so etwas wie Selbstvollzug und Erleben grundsätzlich nicht zu Gesicht bekommen. Wenn sie etwa versuchen, im Gehirn nach dem Ich, nach einem freien (oder unfreien) Subjekt zu fahnden, dann begreifen sie nicht, dass sie mit ihren Mitteln und in diesem Medium nur auf Objekte, niemals auf ein Wesen sto­ ßen können, das sich selbst erlebt. Das Freiheits-Unfreiheits-Problem liegt darum prinzipiell außerhalb der Reichweite aller objektivierenden Naturwissenschaft, es ist darin nicht einmal formulierbar. Zwar können sie allerlei Interdependenzen zwischen objektiven Wirklichkeiten beschreiben, unmöglich jedoch kann ein Physiker oder Neurobiologe die Modalität dieser Interdependenz bestimmen, also klären, ob diese frei oder notwendig, ob sie zufällig oder nichtzufällig ist. Somit ist offenkundig, dass weder durch bloße Intuition noch durch objektivierende Analyse das Freiheitsproblem wissenschaftlich Vgl. J.-P. Sartre (1997, 49ff.). Vgl. N. Hartmann (1964, 67ff. und 98ff.), der wiederholt betont, dass Abhängig­ keit Selbständigkeit nicht ausschließe. 237

238

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2.2. Das Wesen der Freiheit

geklärt werden kann. Ist es dann überhaupt klärbar? Gegen die Unlös­ barkeit werden Einwände erhoben, vor allem von Philosophen, die seit I. Kant die Freiheit moralisch bzw. intersubjektiv begründen.239 Paraphrasiert lautet die Argumentation: »Es ist gewiss, dass ich ein Wertbewusstsein habe und dass ich mich für meine Entscheidungen und Taten verantwortlich fühle; und auch ist gewiss, dass ich aufgrund dieses Wert- bzw. Unwertbewusstseins soll und sollen kann. Wäre ich aber völlig unfrei, wäre ein jedes Sollen, das die Befolgung und die Widersetzung als Möglichkeit impliziert, widersinnig. Weil ich soll, kann ich auch.« Obschon diese Argumentation zutrifft, ersetzt sie eine Intui­ tion, nämlich die der Wahlfreiheit durch eine andere, die des Wertbzw. Verantwortungsbewusstseins. Damit ist nicht viel gewonnen, besonders dann nicht, wenn der ernst zu nehmende Widerspruch laut wird, dass das Wert-Unwertbewusstsein, wie S. Freud240 und viele Soziologen behaupten, nichts anderes sei als die unbewusste, mehr oder weniger zwangsweise Internalisierung elterlicher bzw. überhaupt kultureller Gebote und Verbote. Schon I. Kant hat betont, dass das empirische Gewissen zum Freiheitsbeweis nicht tauge, da die Freiheit kein Erfahrungsbegriff sei, sondern nur gedacht bzw. erschlossen werden könne.241 Gibt es also keinen Ausweg aus dem Dilemma? Kann der Mensch in Hinblick auf den vielleicht wichtigsten Wesenszug seiner Existenz, wie schon I. Kant glaubte bewiesen zu haben, keine Klarheit bekommen? Sind Sein und Erkenntnis im Men­ schen so hoffnungslos auseinandergerissen, dass er sich in seinem Sosein nicht erkennen kann?242 Um hierin weiterzukommen, gilt es zu umreißen, was überhaupt unter Freiheit verstanden werden kann, um dann zu prüfen, ob es sie gibt und was die Bedingung ihrer Möglichkeit ist. Geht man vom Gegenteil, von der Unfreiheit, aus, sind sich wohl alle Menschen darin einig, dass ein Wesen nicht frei genannt werden kann, das in jeder Hinsicht fremdbestimmt ist und in keiner 239 Für J. Nida-Rümelin (2005) ist entscheidend, dass der Denkende für seine Wahlakte Vernunftgründe angeben kann, was bei unterstellter Unfreiheit unmöglich und widersinnig wäre. 240 Vgl. S. Freud (1970a, 9ff.). 241 Vgl. I. Kant (2011, 91–102), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. IV, 3. Abschnitt: Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie. 242 Was dann wohl als das Urübel des Menschen bezeichnet werden müsste, da es der Ausdruck einer anthropologischen Grundspaltung wäre.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Hinsicht über sich selbst verfügt. Ein solches Wesen trägt keine Verantwortung, da alles, was es tut, mit ihm getan wird, wodurch die Verantwortung auf jene Realität übergeht, die solch ein Wesen, das nicht mehr als eine Marionette darstellt, agieren lässt. Damit wird offenkundig, dass Freiheit ein Mindestmaß an Selbstbestimmung und damit an Aktivität, Eigenkraft und Selbstverfügung beinhaltet.243 Wenn dies der Fall ist, dann setzt das mindestens dreierlei voraus: Erstens muss solch ein freies Wesen bestimmbar sein, zweitens sich selbst ergreifen und sich in dieser Selbstergreifung selbst errei­ chen, »treffen«, begegnen und letztlich sich selbst bestimmen und annehmen können. Ergreifen aber kann sich nur etwas, das sich »sehen«, sich erleben kann, andernfalls würde es, wenn es für sich blind wäre, an sich vorbeigreifen. Zum Wesen der Freiheit gehören demnach Offenheit (Bestimm­ barkeit), Eigenaktivität (Spontaneität), ein Mindestmaß an Selbster­ leben und Selbsterfahrung, also Selbstbezüglichkeit im fundamen­ talen, etwa auch nur präreflexiven Sinne, und ein Minimum an Selbstannahme. Eigenaktivität und Selbsterleben sind nicht-intentio­ nal aber unmöglich, denn jedes Erleben ist gerichtet bzw. richtet sich aus, entweder auf Anderes oder auf sich selbst oder auf beides. Wäre es dazu nicht in der Lage, könnte sich also nicht ausrichten, wäre 243 Da T. Nagel (2008, Kap. 6, 50ff.: Willensfreiheit) Kausalität/Wirkgeschehen nur als physikalisch-mechanische Wirkkraft denken kann, steht er ratlos vor der Frage, wie ein freier Wille – er sagt auch Ich, Person, Mensch – soll frei sein können, wenn er doch nicht wirkfähig ist, und gerät konsequent in das Dilemma, entweder eine völlig determinierte Kausalität ohne alle Freiheit oder eine Freiheit ohne alle Kausalität, eine Freiheit ohne Kraft, Wirkfähigkeit und Inhalt denken zu müssen. »Es ist mir nicht klar, was man damit sagt, dass ich meine Entscheidung bestimme, wenn sie durch nichts an oder in mir bestimmt wird.« (61) Wieso »durch nichts an oder in mir«? Ist das Ich mit seinem Wollen, Wissen und Fühlen nichts? Und hat es keine Bestimmungen wie z. B. Neigungen, Wünsche, Erwartungen, Vorstellungen, Ziele, Konzepte, Werte usw., die der Mensch ergreifen, ablehnen, hemmen oder aufschieben kann und also aktiv Stellung zu ihnen bezieht? Wenn das Ich allerdings als völlig passiv und leer gedacht wird, dann freilich ist Freiheit unmöglich. Das Ich ist aber weder passiv noch leer, sondern voller Möglichkeiten, Potenzen und sozialen Prägungen, von denen es sich bestimmen, leiten und raten lassen kann. Sowohl diese Möglichkeiten der Selbstrealisation als auch die willentliche Stellungnahme zu ihnen kann das Ich (als Wille etc.) vollziehen, und also gibt es eine personale, seelisch-geistige Kausalität, die keineswegs willkürlich sein muss, sondern durchaus konsequent, vernünftig und erwartbar sein kann. Gelingende Kommunikation und gelingendes soziales Zusammenleben wären anders unmöglich. Auch T. Nagel bleibt also in der Chimäre der neuzeitlichen Kausalvorstellungen gefangen.

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2.2. Das Wesen der Freiheit

es entweder ein völlig passives oder ein völlig blindes Wesen oder ein passiv-blindes Wesen. All das ist mit Erleben, damit auch mit Leiden unvereinbar. Zur Freiheit gehört, worauf die erste Bedingung hinweist, noch mehr: die Bestimmbarkeit. Was meint sie? Nichts anderes als Bestim­ mungsoffenheit.244 Wäre ein Wesen, das sich selbst zu ergreifen und darin sich selbst anzunehmen, zu bestimmen, zu formen und zu gestalten suchte, schon im Vorhinein in jeder Hinsicht bestimmt, fest­ gelegt, »ausbestimmt«, fehlte der Raum für jede Selbstbestimmung. Freiheit umfasst demnach passive Offenheit – Bestimmbarkeit – und aktive Offenheit – Bestimmungskraft –, die erste ist rezeptiv-intentio­ nal, die zweite initiativ-intentional. Weder ein rein passives noch ein in jeder Hinsicht bestimmtes Wesen kann frei sein bzw. frei agieren. Zur Freiheit gehören die auf das Selbstsein bezogene partielle Unbestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit und die aktive Bestimmungs­ fähigkeit. Selbstbestimmbar wiederum kann nur ein Wesen sein, das sich aus eigener Kraft auf sich selbst zurückbeziehen, sich in diesem Rück­ bezug selbst erleben, inne sein, sprich selbst erfahren und erleben und darin sich selbst annehmen und ergreifen kann. Selbsterleben, Selbstgewahrsein, Selbstannahme und Selbstergreifung sind korre­ late Begriffe, und das heißt, dass jedes Selbsterleben schon eine Art Selbstergreifung darstellt. Umgekehrt wird in jeder Selbstergreifung ein Selbstwissen mitvollzogen. Damit ist klar, dass ein freies Wesen notwendig ein geistiges, ein bewusstes, ein Wesen sein muss, das in und für sich selbstgewahrend ist.245 Könnte es sich zwar »sehen« (nicht sinnlich gemeint), aber nicht ergreifen bzw. könnte zwar nach sich greifen, aber sich nicht sehen, bliebe ein solches Wesen radikal von sich getrennt, wäre hoffnungslos zerrissen, es wäre als echtes Subjekt und Selbst unmöglich. Denn Sehen und Nichtergreifen heißt soviel wie Sehen und Nichtsehen; und Ergreifen ohne zu Sehen heißt soviel wie Nichtergreifen.246 244 Das Moment der Bestimmungsoffenheit lehnt N. Hartmann (1964, 98ff.) in der Formulierung seines Freiheitsbegriffes ab. 245 In Anlehnung an J. G. Fichte könnte man von einer empirisch-zeitlichen Form der intellektuellen Anschauung sprechen. 246 Bekanntlich bestreitet dies I. Kant, wenn er die transzendentale Freiheit in der KdrV und in seinen anderen Schriften als unerfahrbar behauptet. Für ihn ist auch das empirische Ich bzw. das Selbsterleben nur Phänomen (Vorstellung), nicht »Ding an sich selbst« und unterliegt daher den deterministischen Kausalgesetzen. In welche

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Wo sich schließlich ein Wesen, sich selbst wahrnehmend, selbst ergreift, da nimmt es sich auch selbst an, »lässt sich sein«, akzeptiert und schätzt sich. Dies ist der dritte Grundzug der Freiheit, und man kann sehen, welche klassisch-psychologischen Kräfte sich hier ankün­ digen: In der Selbstergreifung agiert der Wille, das Sichselbsthabenbzw. Selbstseinwollen, das Selbstsetzen; in der Selbstgewahrung die reflexiv-intuitive Vernunft; und im Sichannehmen und Sichschätzen das anerkennende oder gar liebende Gefühl. Alle drei Akte der Freiheit – Sichergreifen, Sichgewahren, Sichannehmen – bestehen ineinander und zugleich, doch in dieser unzeitlichen Reihenfolge. Erst indem sich der Mensch ergreift, weiß er sich; und erst indem er sich, sich gewahrend, ergriffen hat, kann er sich annehmen, schätzen und lieben. Im Kern erweist sich Freiheit als Selbstbestimmung, und Selbst­ bestimmung umfasst intentional-rezeptive und intentional-initiative Eigenaktivitäten mit einem Rückbezug auf sich als einem bestim­ mungsoffenen und bestimmungsfähigen Sein. Wenn ich z. B. sage: »Ich will mich gelassener verhalten« und dies gelingt, dann bestimme ich reflexiv mein offen-formbares Sein als gelassen, dann mache ich mich zu einem gelassenen Ich, indem ich mich als bestimmungsof­ fenem Sein rezeptiv annehme und initiativ-reflexiv gestalte. Wenn dieses Bestimmen von mir – und nicht von einer anderen verborgenen Macht, den Genen, Neuronen, von Gott oder sonst etwas – ausgeht, und wenn dieses Bestimmen wieder bei mir ankommt, dann ist Freiheit da, echte, wirkmächtige, inhaltsreiche und lebendige Freiheit. Wäre dies nur eine Illusion, wie heute allenthalben behauptet wird, fragt sich, wer diese Illusion wem macht und wie es kommen kann, dass der Mensch sie als Illusion – angeblich völlig unfrei! – durch­ schaut? Hier tummeln sich Selbstwidersprüche in großer Zahl. Nach diesem Bestimmungsversuch der Freiheit steht die Frage an, ob diese vorläufig und hypothetisch bestimmte Freiheit auch wirklich besteht. Und wenn ja, wie dies erwiesen werden kann. Widersprüche dies führt, liegt auf der Hand. Es ist aber auch phänomenologisch widersprüchlich, das Ich als Vorstellung zu fassen – ein Erbe, das von D. Hume auf I. Kant überging –, da es als Vollzug der Aktkern und Ursprung von Vorstellungen und Handlungen ist, aber nicht selbst Vorstellung sein kann. Selbstverständlich könnte ein rein phänomenales, total unter dem deterministischen Kausalprinzip stehendes Ich niemals über die »Bedingungen seiner Möglichkeit« nachdenken und ein freies, aber verborgenes (transzendentales) Ich seiner selbst als Voraussetzung erschließen. Auch das phänomenale Ich muss, soll es dies leisten können, partiell frei und darin erfahrbar sein. Vgl. meine Arbeit (2019), Selbststruktur, Selbst und Narzissmus. Versuch einer Fundamentalanalyse.

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2.3. Der metaphysische Beweis der Freiheit

2.3. Der metaphysische Beweis der Freiheit über die Unmöglichkeit des infiniten Regresses Dass die bloße phänomenologische Intuition, die objektivierende Analyse und die sittliche Werterfahrung nicht ausreichen, um das Bestehen der Freiheit zu erweisen, steht fest. Gibt es noch einen anderen Weg? Das müsste ein diskursiv-argumentierender Weg sein, der über die bloß objektivierende Analyse hinausgeht. Ist das mög­ lich? Durchaus, es handelt sich um die argumentatio ex contrario. Man setze also: Es gibt in dieser werdenden Welt keine Freiheit, kein freies Wesen. Was impliziert dies? Wenn sich ein Vorgang wie dieses Schreiben hier in seiner Entstehung nicht einem freien (psychophysischen) Wirken verdankt, dann geht er notwendig auf ein anderes Wirken zurück. Da er weder von nichts noch von sich selbst entstanden sein kann, da etwas, das nicht ist, sich nicht erzeugen kann bzw. etwas, das schon ist, sich nicht erzeugen muss, muss er von Anderem entstanden und hervorgebracht worden sein. So lautet das grundlegende Kausalprinzip. Wenn man gemäß der Annahme das Wirken aus Freiheit aus­ schließt, dann kann dieses Andere wieder nur die Wirkungsfolge eines anderen Wirkens sein – und so entsteht unvermeidbar ein infiniter Regress, der nötigt, die Möglichkeit einer anfangslosen Wechsel- und Werdereihe anzunehmen. Nur eine solche vermag das Werden der Welt bei Ausschluss von Freiheit zu fundieren, sachlich und logisch notwendig. Der Grund liegt zu Tage: Würde man an irgendeiner Stelle dieser Wechselreihe im Wirkungsgeschehen Halt machen, würde man entweder annehmen, etwas entstünde von und aus nichts oder man würde annehmen, am Anfang der Wechselreihe stünde ein Wirken aus Freiheit. Das eine kann man nicht denken, und das Zweite wurde ausgeschlossen, und so bleibt nur eines: eine anfangslose, unendliche, und zwar – weil vergangen – abgeschlos­ sen bzw. durchlaufen unendliche und dabei notwendig-determiniert aufeinander folgende Kette von Wechselzuständen, Wechselgliedern, Werdeteilen. Was ist davon zu halten? Die Antwort wurde schon bei der Auseinandersetzung mit I. Kants Antinomienlehre und in Anlehnung an die Metaphysik B. v. Brandensteins247 gegeben: Eine anfangslos-unendliche und notwen­ 247

Vgl. B. v. Brandenstein (1966, 37ff.).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

dig verknüpfte Wechselreihe ist sachlich und logisch unmöglich. Der Grund ist bündig formuliert dieser: Wenn ein Werdeprozess real unendlich ist und aus dem echt oder durchlaufen Unendlichen kommt, dann kann er nicht auf dem Wege der Sukzession im Hier und Jetzt angekommen sein. Da er aber im Hier und Jetzt erfahrungsgemäß angekommen ist, kann er nicht aus dem Unendlichen gekommen und kann nicht notwendig abgelaufen sein.248 Da es sich bei dieser Argumentation um den entscheidenden Gedanken handelt, sei dies genauer begründet. Unter der Annahme, dass jedes Glied das notwendige Folgeglied eines vorangegangenen Gliedes einer Wechselreihe ist, gilt, dass dem heutigen letzten Glied dieser Wechselreihe notwendig unendlich viele Glieder vorausgegangen sind. Denn wären es nur endlich viele, gäbe es zumindest ein Glied, eben das erste, das sein Dasein nicht der Notwendigkeit, weil nicht einem notwendig vorausgegangenen Wechselglied verdankte. Damit wäre diese Wechselreihe erstens end­ lich und zweitens an diesem ersten Beginn ursachlos. Wäre dieses erste ursachlos entstandene Glied trotzdem entstanden, wäre es aus und von nichts entstanden, was offensichtlich falsch ist. Also könnte es nur ein nichtentstandenes Glied sein. Als solches wäre es nicht von Anderem verursacht und wäre frei, absolut frei. Will man dies gemäß der Annahme vermeiden, bleibt nichts anderes als die Annahme einer anfangslosen, dann total unfreien und mit Notwendigkeit verknüpf­ ten und ablaufenden Wechselreihe. Insoweit diese Wechselreihe anfangslos ist, ist sie unendlich, und insofern sie unendlich ist, muss es in dieser Reihe mindestens 248 Von der Seite mancher Physiker – z. B. C. F. v. Weizsäckers (1954, 4. und 5. Kapitel), nicht aber S. Hawkings (2010) – wird heute ebenfalls angenommen, dass der Kosmos zeitlich, räumlich und energetisch endlich sei. Dabei stützt man sich vor allem auf den zweiten thermodynamischen Hauptsatz, der eine regressio in infinitum deswegen unmöglich macht, weil andernfalls die Temperatur in der unendlichen Vergangenheit hätte unendlich hoch sein müssen, was zu Sinnwidrigkeiten führt. Im Übrigen wäre dann auch die Geschwindigkeit der kosmischen Expansion unendlich und höbe damit das einsteinsche Gesetz der speziellen Relativitätstheorie, wonach die Lichtgeschwindigkeit die höchstmögliche ist, auf. Eine unendliche Geschwindigkeit ist aber keine Bewegung mehr, sondern eine Art totales, unendlich ausgebreitetes, völlig statisches Leuchten, wie dies noch Aristoteles dachte. Die Annahme einer anfangslos-unendlichen Expansion des Kosmos bzw. einer anfänglichen Expansion aus einem energetisch unendlichen Ruhezustand heraus (S. Hawking, 2010) zerstört schließlich die Möglichkeit der Quantentheorie. Kurzum: Die These eines anfangslosunendlichen Kosmos höbe die moderne Physik auf – auch rein physikalisch!

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2.3. Der metaphysische Beweis der Freiheit

ein Glied geben, das vom Heute aus, rückwärts betrachtet, unendlich weit entfernt und demgemäß durch unendlich viele Glieder vom Heute getrennt ist. Von einem solchen Glied X ausgehend, muss der Wechselprozess auf dem Wege der Sukzession, also der gliedweisen Aktualisierung auf das Heute H zugeschritten sein. Was gilt in diesem Fall? Da die gliedweise Sukzession immer nur endlich viele Glieder aneinanderreihen kann, bestenfalls endlos endlich oder potentialun­ endlich viele, zwischen X und H gemäß der Annahme jedoch unend­ lich viele Glieder liegen, hat der Prozess der Wechselreihe nie im Heute (H) ankommen können, mithin kann es das H als heute letzten Zustand der Wechselreihe nicht geben. Nun gibt es ihn aber, und also hat er möglich sein müssen. Möglich kann er aber nur sein, wenn zwischen X und H endlich, sprich endlich-durchschreitbar viele Glieder liegen. Das aber impliziert, dass jedes mögliche Glied der vergangenen Wechselreihe nur endlich weit vom H entfernt liegen kann, was wiederum heißt, dass die Wechselreihe einen ersten Anfang gehabt haben muss. Gilt dies, dann gilt, dass ein Wechselreihenglied nicht die not­ wendige Wirkungsfolge eines vorangegangenen Ursachegliedes ist, da sonst wieder die als unmöglich erkannte Möglichkeit einer an­ fangslosen Wechselreihe heraufbeschworen wird. Wenn aber die Wechselreihe einen ersten Anfang gehabt haben muss, wie erkannt, dann kann sie keine notwendige Verkettung von notwendigen Ursa­ che-Wirkungsfolgen sein, dann muss, und das ist jetzt die über­ raschende, aber zwingende Erkenntnis, dann muss sie an jedem Punkt frei – wenn auch etwa mehr oder weniger streng regelhaft – bewirkt und hervorgebracht worden sein. Damit würde jeder Werdeprozess, sowohl der rein psychische als auch das Werden der Natur auf Freiheit, eventuell auf mehr oder weniger geregelter Freiheit beruhen. Noch einmal: Die Annahme einer anfangslosen, real und damit durchlaufen unendlichen Weltzeit ist dann unvermeidbar, wenn ange­ nommen wird, dass ein Wechselglied in der Ursachen-Wirkungs­ kette notwendig von einer vorangegangenen Ursache, die wieder die Wirkung einer vorangegangenen Ursache und dies ad infinitum ist, hervorgebracht wurde. Notwendige Ursachenverknüpfung und anfangslose Unendlichkeit bedingen sich gegenseitig. Ist aber die eine, nämlich die anfangslose Unendlichkeit in sich unmöglich, muss es die andere auch sein. Und so folgt mit streng logischer Notwendig­ keit: Wenn es ein Werden, eine Wechselreihe, also zeitverbundenes

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Entstehen und Vergehen gibt, was ohne Selbstwiderspruch nicht geleugnet werden kann, da schon diese Leugnung einen Werdevor­ gang darstellt, dann muss dieses Werden endlich sein bzw. einen allerersten Anfang haben, dem kein anderes Werden vorhergegangen sein kann, was wiederum notwendig impliziert, dass dieses Werden nicht notwendig erfolgte, weil es sonst anfangslos wäre, und also nicht anders als durch ein freies Kausalwirken, und zwar an jedem Punkt zustande gekommen ist.249 Mit diesem Beweis ist aller deterministische Naturalismus wi­ derlegt: Die Welt ist ein Geschehen aus Freiheit, und es gilt, dass Kausalität aus Notwendigkeit, wie dies die neuzeitliche Wissenschaft generell fasst, ein selbstwidersprüchliches Konstrukt ist, das mit der Erfahrung des zeitlichen Werdens und dem Durchdenken von dessen wesentlichen Seinsvoraussetzungen unvereinbar ist. Kausalität ist nur in und aus Freiheit möglich, was allerdings Regelhaftigkeit bzw. Gesetzlichkeit nicht ausschließt, sondern im Falle bewusster und gereifter Freiheit sogar einschließt. An diesem Punkt helfen die früheren Erkenntnisse weiter: Frei­ heit, so hatte sich gezeigt, ist – diesseits der Unterscheidungen Frei­ heit von/Freiheit zu und innere Freiheit/äußere Freiheit – als offenes Selbstbestimmen mit sehender Selbstergreifung und Selbstannahme identisch und darum wesenhaft mit Selbstbewusstsein verbunden. Freiheit ohne Bewusstsein ist unmöglich. Daraus folgt, dass das Weltwerden das Werk bewusster Freiheit ist. Wie aber genau? Min­ destens so, dass darin Leiden möglich ist. Das aber ist nur der Fall, wenn diese Freiheit nicht unendlich, sondern endlich, begrenzt und verletzbar ist, woraus folgt, dass all jene Wirkfaktoren, Wirkgründe und dynamischen Ursachen, die das Weltgeschehen bewirken, nicht göttlicher, sondern geschöpflicher Natur sind und sein müssen, d. h. zwar geistige Wirkkräfte darstellen, die frei wirken, aber wesenhaft zeitlich agieren und damit beschränkt sind. 249 Kausalitätswirken aus Freiheit ist demnach keineswegs identisch mit Zufallswir­ ken. Die Kausalität wird mit der Einsicht in ihr Freiheitswesen keineswegs aufge­ hoben, wie viele Philosophen und Wissenschaftler meinen; sie wird auch nicht willkürlich, da sie frei geregelt, sogar gesetzlich geregelt sein kann. Gesetz und Freiheit schließen sich ebenfalls nicht, wie I. Kant meinte, gegenseitig aus. Das metaphysische Kausalprinzip, wonach etwas, das entsteht, nicht von nichts kommen kann, bleibt dabei voll erhalten, nur seine Gleichsetzung mit dem transitiven Kausalgedanken, wonach der frühere, zeitlich vorangehende Weltzustand den folgenden nicht nur bedinge und gesetzlich mitgestalte, sondern vollständig hervorbringe, wird abgewie­ sen und als inkonsistent erkannt.

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2.4. Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden

Ungeklärt ist nach all dem die Frage, wie die als nur endlich mögliche Weltwechselreihe begonnen hat. Soviel ist sicher: Von rein nichts kann sie nicht kommen, da sonst das Nichts ein Sein wäre, sogar ein weltschöpferisches, dauernd die Welt tragendes und nährendes Sein. Wovon dann? Von sich selbst kann das als Ganzes anfängliche Weltsein ebenfalls nicht gekommen sein, da etwas, das nicht ist, sich nicht erzeugen kann. Woher dann?

2.4. Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden Der Seinsgrund der anfänglich-werdenden Welt kann aus logischen Gründen erstens nur ein Sein und kein Nichts sein und darf zweitens kein Sein sein, das dem Werden unterworfen ist, da sonst der infinite Regress der anfangslosen Wechselreihe droht. Ein werdeloses Sein ist aber notwendig ein anfangsloses, zumindest in Hinsicht der Dauer ein unendliches Wesen, das keinen Anfang, damit auch kein Ende hat, da nur ein werdendes Wesen zu einem Ende gelangen kann. Diese Einsicht zwingt zur definitiven Abweisung einer temporalistischen Ewigkeit, wie sie etwa A. Kreiner250 vertritt, d. h. eines anfangslosendlos sich entwickelnden Urseins und damit generell zur Ausschlie­ ßung eines veränderlichen Urseins.251 Daraus wie A. Kreiner den Siehe A. Kreiner (2005, 166ff.). Ähnlich lehrt dies Aristoteles in Bezug auf den Kosmos – und entgegen Platon – in seiner Physik, Buch VIII, Proömium. 251 Der Beweis lässt sich auch folgendermaßen führen: Wenn das Absolute anfangs­ los-zeitlich ist, dann hat es sich bis zum Heute durch real-unendlich viel Zeit hindurch vollzogen. Etwas Real-Unendliches, ob als Zeit oder sonst etwas, ist aber weder endlich-finit, andernfalls hätte es einen ersten Anfang, noch potentialunendlich, sprich endlich-endlos, sondern hat ein Unendliches aktualisiert. Damit ist es in dieser Hinsicht nicht erweiterbar, vermehrbar, vergrößerbar, weil es andernfalls nicht realunendlich wäre. Da auf das Heute ein Morgen bzw. auf das Gestern das Heute folgt, ist die zeitlich werdende Welt bzw. die angenommen zeitliche Gottheit doch erweiterbar, vermehrbar und kann nicht real-unendlich sein. Ist sie aber nicht real-unendlich, hat sie keine unendliche Zeit durchschritten, sondern hat mit einem ersten Anfang, vor dem nichts Zeitliches war, begonnen. Entweder ist also die werdende Gottheit zeitlich, dann auch begonnen oder sie ist unzeitlich, dann auch unbegonnen und damit unveränderlich. Hat sie aber begonnen, kann sie nicht göttlich sein, sondern bedarf eines weiteren Seinsgrundes, der sie ermöglicht. Eine werdend-anfangslose Welt ist also so unmöglich wie eine werdend-anfangslose Gottheit. Alles Anfangslose ist notwendig ganz, total, in jeder Hinsicht aktual, schon allein deswegen, weil an das 250

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Schluss zu ziehen, ein unveränderliches Sein könne nicht wirken, sich und anderes nicht bestimmen, etwa auch nicht denken, wollen, fühlen usw., ist voreilig. Im Gegenteil lässt sich zeigen, dass nur ein zeitlos-unveränderliches Sein urfrei und unbegrenzt agieren kann, sprich in seinem Seinsrang alles zugleich, allerdings gemäß einer inneren sinnorientierten Seinsordnung bestimmt, so dass sich seine Wirkungen, das Insgesamt der Welt, im endlichen Seinsrang zeitlich nacheinander entfalten.252 Doch bevor dies geklärt wird, fragt sich, ob dieses zeitlos-ewig dauernde Ursein auch seinem Seinsgehalt nach unendlich ist. Denkbar wäre immerhin ein wandelloses, rein zeitlos dauerndes, aber endliches Sein. Von solch einem Sein wäre gewiss, dass es undynamisch, unaktiv und unkreativ wäre, da es als dynamisches über seine endlichen Grenzen müsste hinauswirken können. Da die zeitliche Welt als zeitliche wesenhaft dynamisch ist und von echter Aktivität zeugt und da dieselbe Welt, wie gesehen, in jenem zeitlos-anfangslos-ewigen Sein gründet und von diesem letztlich bzw. in seinen Grundlagen erzeugt wurde, folgt notwendig, dass dieses Ursein ebenfalls dynamisch, aktiv, wirkend und schaffend ist, nur nicht in werdender Weise. Gleichzeitig wurde erkannt, dass es frei, nämlich urfrei ist, da es als anfangsloses Sein von nichts anderem bedingt sein kann, und dass es als freies, das sich selbst ergreift und selbst bestimmt, wesenhaft bewusst ist. Aus all dem folgt, dass das Ursein zeitlos-ewig und in dieser Dauer frei, bewusst und, weil es wenigstens die Grundlagen der Welt erschafft, wirkmächtig ist. Anfangslose nichts angesetzt und angestückelt werden kann. Als werdende ist damit die Welt notwendig nicht-ganz, unfertig, wesenhaft nicht real-unendlich, a-total, also notwendig anfänglich. Das Anfangende kann nicht total und rein aktual sein, sondern beginnt und muss von Anderem ermöglicht worden sein. Was aber von Anderem ermöglicht wird, kann nicht von selbst bestehen und kann nicht absolut bzw. Gott sein, sondern ist kontingent. Vgl. dazu ähnlich Thomas v. Aquin (1985), Summe der Theologie, 3./7./9./10. Untersuchung. 252 Da die zeitlich-sukzessive Welt in ihrer Totalität im Bewusstsein des frei Absolu­ ten, also der Gottheit repräsentiert sein muss, diese Repräsentation jedoch nicht zeitlich erfolgen kann, muss die Sukzessivität der Welt bzw. die Aufeinanderfolge ihrer Ereignisse anders im Absoluten dargestellt sein. Dies geschieht dadurch, dass jedes Ereignis der Welt in ihm (Gott) eine Art Index erhält, aus dem hervorgeht, wo es steht, welches sein Vorgängerereignis und welches sein Nachfolgeereignis in der Welt ist. Das gelingt am adäquatesten durch die natürlichen Zahlen, die unendlich viele sind und die Stelle eines Ereignisses eindeutig angeben.

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2.4. Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden

Ein wirkmächtiges Wesen kann jedoch unmöglich endlich sein, mindestens ist es potentialunendlich, insofern jedes dynamische Wirken über ein endlich Gegebenes hinauswirken können muss, da es sonst nicht wirkfähig wäre. Im Falle des anfangslosen Urseins zeigte sich aber, dass diese Wirkmächtigkeit nicht zeitgebunden ist, also nicht potentialunendlich ist, sondern eine ewige Dauer muss füllen können. So liegt auf der Hand, dass nur ein unendlicher Inhalt, eine unendliche Wirkkraft diese ewige Dauer füllen kann, und so folgt, dass dieses Ursein urreich und an Seinsgehalt realunendlich ist. Da dieser Gehalt, wie erkannt, in nichts anderem besteht als in bewusster Freiheit, also in einer anfangslosen, von nichts anderem bestimmten Selbstbestimmungsfähigkeit, folgt, dass der Seinsgehalt dieses Urseins Geist, reiner Geist, sprich freies Selbstbewusstsein und damit wesenhaft Person ist.253 Hier setzt eine moderne Kritik an, die behauptet, dass eine Per­ son unmöglich zeitlos-unendlich sein könne, da sie nicht in der Lage wäre, »eine Beziehung zu zeitlich existierenden Dingen und Personen herzustellen. Sie wäre demzufolge auch nicht in der Lage dazu, andere Personen zu lieben oder auf irgendeine Weise auf deren Handlungen zu reagieren.«254 Das ist zu menschlich gedacht und verkennt, dass der unendliche Seinsrang des personalen Urseins alle Zeit umfasst, trägt, ermöglicht und in ihren Grundlagen bewirkt.255 Das Umgekehrte gilt: Ein unendliches und zugleich aktives Sein kann nur Person sein, da es ausschließlich als frei-bewusstes gedacht werden kann, und außerdem kann nur ein aktualunendliches Geist- und Bewusstseinswesen die potentialunendliche Welt umfassen, erkennen und lieben. Im Übrigen gibt es im menschlichen Bereich diesbezügliche Analogien, so etwa im Falle, in dem Wolfgang Amadeus Mozart berichtet, dass er eine ganze Symphonie gleichzeitig hören könne, obwohl sie in der Zeit sukzessiv abgespielt und aufgeführt werden muss.256 Vgl. ähnlich Thomas v. Aquin (1985), Summe der Theologie, 14. und 19. Untersu­ chung. 254 Siehe A. Kreiner (2005, 169); ähnlich D. A. Pailin (1989) und P. Davies (1986). Schon Plotin und J. G. Fichte verwarfen einen persönlichen Gott zugunsten einer überpersönlichen Gottheit. 255 Über die Repräsentation zeitlichen Geschehens im zeitlosen Bewusstsein Gottes siehe obige Fußnote 252. 256 Zur Kritik an der Unveränderlichkeit und Ewigkeit und zum Erweis der Personali­ tät des Urseins vergleiche B. v. Brandenstein (1966, VI., 427–525: Gott). Im Übrigen verstricken sich die Vertreter einer »temporalistischen Ewigkeit« (C. Th. Fechner, A. 253

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Wenn all dies gilt und wenn, wie erkannt, außerdem gilt, dass alles freie Selbstbestimmen eine bestimmbare Seinsoffenheit impli­ ziert, weil sonst ein Selbstbestimmen unmöglich ist, das Ursein sich aber mindestens zum Erschaffen der werdenden Welt selbst bestimmt hat, dann gilt notwendig, dass das Ursein alle seine Bestimmungen sich selbst gegeben hat, mithin in seinem innersten Kern reine bestim­ mungsoffene Unbestimmtheit ist. Das aber ist nicht nur Freiheit, sondern absolute Freiheit. Im Ursein und allein in ihm besteht ein solches Sein, das – durch nichts anderes bestimmt – sich selbst alle seinsmöglichen Bestimmungen gibt und darum urfrei im Sinne von uroffen, von absolut unbestimmt, aber absolut selbstbestimmbar ist und sich in einem zeitlosen, absolut aktualen Selbstergreifungsakt selbst total bestimmt, »festlegt«, durchgestaltet und vollendet.257 Damit ist klar geworden, dass das anfangslose Ursein als der notwendig anzunehmende Grund, sprich als tätige Ursache des werdenden Weltseins erstens in seinem Seinsgehalt nur unendlich, zweitens in seinem Seinsgehalt Geist, genauer: selbstbewusster, freier Geist, also Person und drittens als Person nur uraktiv, urdynamisch, urschöpferisch, also unendlich reiche, grenzenlos schöpferische Per­ son sein kann.258 Kann solch ein Wesen leiden? Und wo ist die Stelle des Leidens auf dem Hintergrund dieser Ontologie? Kreiner, H. Jonas) in einen selten gesehenen Selbstwiderspruch: Da sie einerseits davon ausgehen, dass das vergängliche Weltsein kontingent ist, also prinzipiell nicht oder anders sein könnte, sie andererseits von der Anfangslosigkeit, also der zeitlichen Unendlichkeit des Weltseins bzw. der zeitlichen Gottheit ausgehen, welche Anfangslosigkeit die Kontingenz ausschließt und mit der Notwendigkeit der Existenz und des Soseins einer ewigen Welt-Gottheit einhergeht – denn das Anfangslose hätte nicht anders beginnen können, da es nie begann –, geraten sie in eine Aporie, die eine der beiden Aussagen als unhaltbar abstempelt. 257 Es ist interessant, dass J.-P. Sartre (1973, 11ff.) die menschliche Freiheit genauso bestimmt, nämlich als reine wesenlose Freiheit, die sich ihr Sosein (Wesen, Essenz) selbst gibt, ohne jede Vorgabe und damit an die Stelle der Gottheit tritt. Diese Gefahr der Vergöttlichung bzw. Selbstvergottung des Menschen ist typisch für das neuzeitliche Subjektdenken, das im Werk G. W. F. Hegels seinen unüberbietbaren Höhepunkt erreicht und bei Sartre seinen Niedergang erfährt. M. Heidegger versucht dann, vom Subjektdenken völlig wegzukommen. 258 In Nachfolge von J. Böhme bezeichnet N. Berdjajew (1949, 150ff.) den göttlichen Urgrund als Ungrund, was besagen soll, dass die Gottheit kein Sein hat, sondern reine »vorseiende« Freiheit, Urfreiheit ist. Es ist klar, dass »Sein« hier nur im weltlichen, abkünftigen und statischen Sinne gemeint sein kann, da die Freiheit als Modus eines geistigen Vollzuges nicht vollständig seinslos sein kann, sondern ein vollzugshaftes Sein, hier als Ursein voraussetzt, das sich frei ergreift und so sich und

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2.4. Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden

Würde nur dieses Ursein existieren, könnte kein Leiden sein, denn Leiden, das zeigte seine Wesensanalyse, ist notwendig an Zeit gebunden. Außerdem impliziert ein jegliches Leiden ein Betroffen­ sein, ein Erleiden, also die Möglichkeit, Objekt eines Widerfahrnisses zu werden. Das ist im Falle des Urseins, das, wie gesehen, nur selbstbestimmbar ist, unmöglich. Schließlich wurde aufgezeigt, dass Leiden ohne Mangel, Zwiespalt, Beschränkung und Ohnmacht nicht bestehen kann, sondern durch diese innere Strukturvielfalt bestimmt ist. Alle diese Momente können im zeitlos-unbeschränkten und seinsvollkommenen Ursein nicht vorkommen und so gibt es dort kein Leiden. Damit erübrigen sich an dieser Stelle alle jene Lehren, die das absolut-göttliche Sein an ein Werden, an Endliches oder an irgendetwas Unfertiges, Unvollendetes, Dunkles oder Mangelhaftes binden, also z. B. gewisse gnostische Lehren, die Weltanschauung der Manichäer (mit ihrem absoluten Gegengott »Ahriman«) oder auch die Philosophien F. W. J. Schellings,259 G. W. F. Hegels, C. Th. Fechners, Ed. Hartmanns und H. Bergsons, des Prozesstheologen A. N. Whitehead (1979), die Religionsphilosophie N. Berdjajews (1950), die Gotteslehre von H. Jonas (1994)260 und vieler Theosophen (J. Böhme, R. Steiner?).261 evtl. Weiteres bestimmt, also durchaus dynamisch, allerdings zeitlos dynamisch ist. Freiheit ist nur als Modus eines Seins möglich, nicht als Modus von nichts. Immerhin aber sieht N. Berdjajew, dass dieses Ursein nicht vor der freien Selbstbestimmung Gottes bestimmt gewesen sein kann, daher unbestimmt sein muss. Mir scheint, dass er das unter »Ungrund« versteht. Da Gott in sich diesen Ungrund sogleich selbst vollständig bestimmt, verbleibt in ihm nicht, wie bei J. Böhme, F. W. J. Schelling und Ed. Hartmann, etwas Dunkles, Unfertig-Werdendes, »Naturhaftes« oder gar ein »Finstergrund«. 259 »In uns sind zwei Prinzipe, ein bewusstloses, dunkles, und ein bewusstes. Der Prozess unsrer Selbstbildung [...] besteht darin, das in uns bewusstlos Vorhandene zum Bewusstsein zu erheben, das angeborne Dunkel in uns in das Licht zu erheben, mit einem Wort zur Klarheit zu gelangen. Dasselbe in Gott. Das Dunkel geht vor ihm her, die Klarheit bricht erst aus der Nacht seines Wesens hervor« (1811, VII, 431–433: Stuttgarter Privatvorlesungen). Eine ausführliche und konzise Darstellung der schellingschen Übellehre und Theodizee bietet F. Billicsich (1952, 294–332). 260 H. Jonas (1994) vertritt einen solchen Gottesbegriff in seinem, von ihm selbst so genannten »kosmogonischen Mythos«: Gott sei einerseits allgütig und allwissend, andererseits ohnmächtig und erleide insofern seine Schöpfung, als er sich ihr auslie­ fere und in sie so übergehe, dass der Mensch für ihn und die Schöpfung verantwortlich werde. Nicht mehr Gott sorge sich um seine Geschöpfe, sondern diese sorgen sich um ihn. Diese Idee, die man schon in der Philosophie C. Th. Fechners finden kann, hat

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

In analoger Weise wäre Leiden unmöglich, wenn es zwar über das göttliche Sein hinaus noch ein Weltsein geben würde, dieses aber entweder völlig statisch, endlich, fertig oder, wenn auch prozesshaftwerdend, so doch in jeder Hinsicht und jedem Detail direkt von Gott bewirkt wäre. Im ersten Fall könnte kein Leiden sein, weil dasselbe ohne einen dynamischen Mangel, der dadurch dynamisch ist, dass er nicht sein soll, sprich durch ein werdendes Streben transzendiert wird, unmöglich ist; im zweiten Fall wäre Leiden unmöglich, weil eine direkt und in jeder Hinsicht von Gott bewirkte Welt mangellos sein müsste. Beiden Fällen fehlt schließlich das entscheidende Prinzip des Leidens, nämlich ein Wesen, das beschränkt und angreifbar und doch selbstaktiv, also partiell frei ist. Ein allmächtiger Gott, der entweder eine endlich-fertige Welt erzeugt oder eine werdende Welt schafft, in der kein eigenständig-freihandelndes Wirkprinzip vorkommt, weil er alles selbst wirkt und nur zu seinem unfreien Spielzeug hat, ein solcher Gott schließt die Möglichkeit des Leidens definitiv aus.

er nachweislich aus seinen Studien (2008) über die Gnosis, d. h. die nichtchristliche Gnosis im Sinne des Gnostizismus, gewonnen, die einen guten überweltlichen Gott lehrt – den Gott des Neuen Testamentes –, der dem in der Welt wirkenden bösen Schöpfergott des Alten Testamentes, dem Demiurgen, ausgeliefert ist. Vgl. die diesbe­ zügliche Kritik von F. Wetz (2001, 135–147), Abschied von Gott, Anmerkungen zu Hans Jonas und Hans Blumenberg. Umgekehrt hält es dagegen N. Hoerster (2017, 119–124), der meint, dass Gott, wenn es ihn denn gäbe, zwar allmächtig und allwissend, aber nicht allgütig sein könne, sondern, wie er sagt, sogar »allböse« (!). Beide Standpunkte lassen sich mit der Analyse des Wesens Gottes und seines Planes in Bezug auf seine Schöpfung nicht vereinbaren. 261 Religionsgeschichtlich betrachtet, knüpfen alle theogonischen Philosophien an der altorientalisch-nichtisraelitischen, z. B. babylonischen Vorstellung einer werden­ den Götterwelt an, die einer ewig-ungeschaffenen Naturmaterie, mit der sich der Hochgott verbindet, entspringt. Was J. Böhme betrifft, kommt seine Lehre, die systematisch allerdings nicht durchgebildet ist, am ehesten einem Panentheismus gleich, der sich, wenn auch anders, bei Meister Eckhart, B. de Spinoza, K. C. F. Krause und vielen anderen findet. Vgl. dazu F. Billicsich (1952, 52). Im Übrigen lehrt auch die nichtchristliche Gnosis, hier dem Meister Eckhart gleich, dass im Menschen ein überweltlich-göttlicher Funke, das »pneuma«, wenn auch verborgen und verdeckt, lebt, das erweckt werden kann und muss. Das Ziel liegt daher nicht wie im Falle des Manichäismus in einem ewigen dualistischen Kampf zweier Hochgötter, sondern in der Wiedervereinigung des Menschen mit dem welttranszendenten guten Gott. So birgt diese Lehre, die vom Christentum einseitig herabgesetzt wurde, neben manchen Abwegigkeiten ihrer überbordenden Phantastik zweifellos eine Fülle tiefer spiritueller Weisheiten, die mit dem wahren Christentum vereinbar sind und nicht verloren gegeben werden dürfen (zur positiven Würdigung der Gnosis vgl. A. Grube, 2006).

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2.4. Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden

Daraus folgt zwingend, dass nur dann in einer Welt Leiden möglich ist, wenn darin ein eigenständiges, allerdings nicht-göttliches Wirkprinzip, also endliche, genauer, potentialunendliche Freiheit existiert.262

Wer das Leiden als Tatsache nicht leugnet, anerkennt die Existenz von endlicher Freiheit und damit die innerweltliche Existenz eines über Gott hinausgehenden eigenständigen, frei und selbständig handeln­ den Wirkprinzips. Diesen Fall meinen die Menschen für gewöhnlich für sich in Anspruch nehmen zu dürfen: Denn zumindest sich selbst erleben sie als eigenständig wirkfähige Wesen, doch oft erahnen sie solche Geistprinzipien auch in oder »hinter« der Natur, wo sie auf naiver Kulturstufe als Götter, Dämonen, Geister und Ahnen gefasst werden. Wer also fragt, warum es im Angesicht eines vollkommenen Gottes überhaupt Leiden gibt, der muss sich fragen, warum Gott eine Welt mit Freiheit und Selbstwirksamkeit einer Welt ohne Freiheit vorzieht.

Die Antwort liegt auf der Hand: Eine Welt, in der Wesen agieren, die selbst entscheiden, handeln und eigenschöpferisch wirken, obschon beschränkt und verletzbar, ist unvergleichlich reicher, lebendiger und wertvoller als eine Welt, die entweder völlig statisch-fertig, also tot ist oder die zwar bewegt, aber nur wie eine passiv-bewegte, dann eben­ falls tote, weil in keiner Weise selbstaktiv-innerliche Marionette funk­ tioniert. Auch die keineswegs seltene Behauptung, ein Gott, der ein selbstmächtiges Wesen schaffe, sei nicht allmächtig, löst sich auf die­ sem Hintergrund auf: Denn worin bekundet sich eine größere Wirk­ samkeit und Leistungskraft – im Erschaffen einer passiven, leblosen Marionette oder im Erschaffen eines selbständigen, selbstbewussten, sich und seine Welt beschränkt-frei gestaltenden Lebewesens? Recht betrachtet, hat man es hier mit einem unauslotbaren Wunder zu tun: mit der Erscheinung eines Geistwesens, eines zur Freiheit und Selbst­ bewusstheit, zur Verantwortung und Liebe begabten und berufenen Wesens. Wie gewaltig muss der Wirkgrund, der solches vermag, gedacht werden? Und welch unabsehbar freie, gelassene und große Souveränität beweist dieses Ursein, dass es sich nicht scheut, einem Weltwesen in solchem Maße Eigenständigkeit, Freiheit und Selbst­ wirksamkeit zu überlassen? Nur ein ängstlich-kleinlicher Tyrann, ein dostojewskijscher Großinquisitor, der um seine Machtfülle bangt, 262

Analoges gilt für das Böse. Vgl. R. Safranski (2008).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

würde davor zurückschrecken und sich aus Sicherheitsgründen auf solch ein Unternehmen nicht einlassen. Da erkannt wurde, dass das Ursein unendliches, freies Selbstbestimmen ist, hat sich auch schon seine Allmacht erwiesen. Allmacht bedeutet nun aber keineswegs, wie oft, z. B. von Au­ gustinus (?), J. Calvin, N. Malebranche, B. de Spinoza, manchen islamischen Theologen und auch von H. Zahrnt263 irrtümlich behaup­ tet wird, Allwirksamkeit bzw. Allursächlichkeit, die per se eine jede geschöpfliche, also auch eine jede menschliche Freiheit ausschließt. Das Leiden beweist das Gegenteil: Wo ein Wesen leiden kann, kann es auch wirken, zumindest dadurch, dass es sich als Leidendes vollzieht, und damit ist es wenigstens partiell frei, partiell eigenstän­ dig und selbstmächtig wirksam. Gott tritt hierbei keine Macht ab, wie man zunächst meinen könnte, sondern er verleiht Macht, wenn auch beschränkt. Allerdings tritt sein Wille in den Hintergrund und nimmt indirekte, freilassende und anderweitig bestimmende, z. B. tragende, belebende, unterstützende, weitreichend fügende, wohl auch warnende, mahnende und hemmende Formen an. Seine Macht bleibt unbeschränkt, sie wird nur geheimnisvoller, verhüllt sich und wirkt eher gewährend als diktatorisch. Das aber ist nicht Ausdruck von Schwäche, sondern von Liebe, Güte und unendlicher Souveränität – Zeichen einer unendlichen Verinnerlichung von Macht, die die Welt nicht von außen zwingen, sondern von innen überzeugen und so zu sich hinziehen will. Während das erste Gottesbild noch von Gewalt Vgl. H. Zahrnt (1985, 75ff.). Wie nicht wenige große Denker meint auch H. Zahrnt in seiner Hiobschrift, dass Gott die unmittelbare Ursache von Leid, Not und Grausamkeit sei, und dennoch will er am allgütigen Gott festhalten, der »gegen alles, was den Menschen kaputt macht, sei« (1985, 76). Ein eklatanter Selbstwiderspruch, der das gute Gottesbild – wie G. Streminger richtig sieht (siehe die Einleitung dieser Arbeit) – zerstören und verdüstern muss. Zudem übergeht H. Zahrnt, dass der Gott Hiobs eben gerade nicht direkt das lebensfeindliche und ungerechte Übel bewirkt, sondern dies Satan überlässt, der zur Prüfung von Hiobs Gottestreue in den Dienst der göttlichen Planung genommen wird. In Wahrheit entsteht kein Widerspruch, wenn Gott in seiner Allmacht Macht abgibt, also nicht allwirksam ist. Indirekt bleibt er zwar mitverantwortlich für das Übel und Böse in der Welt, doch kann es eine sinnhafte bzw. sinnvolle Funktion erhalten, die es nicht haben würde, wenn Gott seine unmittelbare Ursache wäre. Bei J. Calvin ergibt sich das Allwirksamkeitspro­ blem im Rahmen seiner freiheitsausschließenden Prädestinationslehre, bei manchen islamischen Theologen im Rahmen der Kismet- bzw. Schicksalslehre, bei B. de Spinoza in seiner Ein-Substanzlehre. Zu den islamischen Theologen gehören die so genannten Kalamisten (Mutakallimun) im 10. und 11. Jahrhundert. Vgl. dazu Windelband-Heimsoeth (1957, 266). 263

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2.5. Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem

geprägt ist (Jahwe), nimmt das zweite Gottesbild überwiegend Züge der Liebe an (Jesu Abba-Gott). Wie wichtig der Unterschied zwischen Allmacht und Allwirk­ samkeit ist, beweist die geistesgeschichtliche Reaktion, die A. Ca­ mus264 als »metaphysische Revolte der Söhne Kains« bezeichnet. Zwar tritt sie zu allen Zeiten in Erscheinung, häuft sich aber beson­ ders, was gewiss kein Zufall ist, im Europa des 18. und 19. Jahrhun­ derts. Bei diesen »Verdammten« handelt es sich um Gotteslästerer, die sich gegen einen Gott auflehnen, der anscheinend nicht genugkriegt, seine Schöpfung mit Abscheulichkeiten zu überhäufen. Da das Theo­ rem der Allwirksamkeit impliziert, dass Gott für die Fehlerhaftigkeit der Schöpfung und die Bosheit der Menschen direkt verantwortlich ist, muss er selbst schlecht, böse, grausam und abscheulich sein, was ver­ ständlicherweise – wie schon bei Hiob – Empörung und Ablehnung provoziert. Am grellsten kommt diese Rebellion in den Dichtungen der »poètes maudits« zum Ausdruck, angefangen mit dem Marquis de Sade, weitergeführt von der »schwarzen Romantik«, von Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, Friedrich Nietzsche, Iwan Karamasow, Emile Cioran, um schließlich in Lautréamonts gewaltigen Chants de Maldoror (1869) ihren Höhepunkt zu erreichen. Statt diese im Grunde hochherzigen, von Mitleid und Gerechtigkeit gepeinigten Aufrührer zu bekämpfen und als »verflucht« zu disqualifizieren, ist es allerdings angebracht, das Gottesbild zu korrigieren und die Idee der – Gott meist naiverweise zugesprochenen – Totalwirksamkeit aufzugeben. Das kann nur durch die Vertiefung in Gottes Wesen und in die dynamisch-polare Struktur der Schöpfung gelingen.

2.5. Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem Da die Freiheit als fundamentale, allerdings nicht zureichende Bedin­ gung der Möglichkeit des Leidens in zweierlei Gestalt, im ersten Seinsrang der Gottheit als unbeschränkte Urfreiheit und im zwei­ ten Seinsrang des geschöpflichen Geistes als beschränkte Freiheit, erkannt wurde, und da die Freiheit zu den bedeutungsvollsten und schwierigsten Problemen der theoretischen Vernunft gehört, ist es ratsam, sich mit ihr weiter zu beschäftigen. Zuerst ist zu fragen, ob 264 Vgl. A. Camus (1974b, 22–83): »Wer voll wahren Mitleids ist, für den ist kein Heil möglich« (49).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

die Freiheit auf anderen als den bisher beschrittenen Wegen erwiesen werden kann, etwa indem andere Urtatsachen als die Veränderung bzw. die Zeit ins Auge gefasst werden. Fast noch fundamentaler als die Zeiterfahrung bzw. als Wechsel und Wandel der Wirklichkeit ist das Selbsterleben: Mir ist unleugbar gewiss, dass ich als Erlebender bin. Das ist der berühmte Satz des Selbstbewusstseins, der dem »Cogito« des R. Descartes265 zugrunde liegt. Negativ formuliert lautet er: »Ich kann mich nicht als Nichterle­ benden denken« bzw. »Ich kann erlebend nicht über mein Erleben hin­ auskommen.«266 Hier liegt eine durch keine Leugnung aufhebbare Erfahrungs­ grundlage vor, von der aus das Freiheitsproblem erörtert werden kann. Die Frage lautet: Was impliziert Erleben als Erleben, Bewusstsein als Bewusstsein? Die Antwort heißt: Erleben ist nur als aktives, eigentä­ tiges und intentionales möglich, denn würde ein erlebendes Wesen in seinem Erleben vollständig fremdvollzogen, würde es nicht sich selbst erleben können, die Meinhaftigkeit könnte sich nicht konstituieren; und wäre es nicht intentional, hätte es keinen Inhalt, da nichts erleben identisch mit nicht erleben ist. Sicherfahren, Sichspüren, Sichanneh­ men und Sichwissen implizieren notwendig einen selbstgetätigten und auf sich selbst gerichteten Selbstbezug, ein Sichselbstberühren, Sichselbstergreifen, Sichselbstfassen (»self-affection«). Das ist wie­ derum nur möglich, wenn mein Sein derart beschaffen ist, dass es erstens anzielbar (intentionabel), zweitens berührbar und drittens aus eigener Initiative erreichbar ist. Das heißt, ein erlebendes Wesen ist wesenhaft sowohl bestimmungsoffen und damit wenigstens partiell unbestimmt als auch zugleich bestimmungsfähig, und zwar nicht nur passiv von Anderem, sondern durch sich selbst. Das ist, wie erkannt, das Wesen der Freiheit, ihr Kern. Ergo: Wer anerkennt, dass in diesem Universum Wesen existieren, die erleben, d. h. etwas – nämlich anderes oder sich selbst – gewahren und bewusst haben können, der anerkennt notwendig die Existenz von Freiheit. Eine andere Ausgangstatsache für den Freiheitserweis bietet das Werden, genauer, das spontane und eigentätige Werden in der Welt, das den Pflanzen, Tieren und Menschen unterstellt wird, das Vgl. R. Descartes (1960), Zweite Meditation. Wie man dennoch praktisch und theoretisch über das eigene Erleben hinaus­ kommt, zeigt B. v. Brandenstein (1965a, 174–180) in seinem Aufsatz Über die Transzendierbarkeit des Bewusstseins.

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2.5. Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem

sich aber auch in spontanen physikalischen Ereignissen, z. B. den Quantenvorgängen, dem Kommen und Gehen von Gluonen, im »Zufall« von radioaktiven Zerfallsprozessen usw. findet. Die Freiheit ließe sich in diesen Geschehnissen nur dadurch abstreiten, dass ihnen das eigentätige Werden, sprich die Autopoiesis abgestritten wird. Prozessualität, die sich im Zeitverlauf selbst autopoietisch formt, steuert und gestalthaft zusammenfasst, wie das heute die meisten Wissenschaftler annehmen, so z. B. in einem Organismus, die muss partiell frei sein, andernfalls ist sie nicht autopoietisch, selbstgestal­ tend, selbstwerdend. Nimmt man ihr diese Freiheit, nimmt man ihr auch die Autopoiesis und müsste sie, wenn man nicht in einen infiniten Regress geraten will, als das alleinige und direkte Werk der zeitlosen Freiheit des Urseins, also Gottes zuschreiben.267 Dagegen sprechen viele Erfahrungstatsachen, z. B. die Zeitlichkeit, Unvollkom­ menheit, Störbarkeit, Konfliktuosität, Versuch und Irrtum, Krankheit, Degeneration, Fehlanpassung u. v. a. m. in der kosmischen Evolution. Wie im Abschnitt über das Leiden in der Natur gezeigt wird, spricht vieles dafür, dass das kosmische Werden nicht das unmittelbare Werk des Urseins Gottes ist, sondern das Werk ermächtigter endlicher, eben geschöpflicher Freiheit. In jedem Fall gilt: Wer im Kosmos, gleich auf welcher Differenzierungsstufe, ein eigenständiges Wirken am Werk sieht, das nicht nur bzw. nicht direkt auf das Ursein zurückgeht, der setzt endliche Freiheit voraus. Im Hinblick auf die Freiheitsproblematik ist das Phänomen des Gedächtnisses, das vielen Lebewesen zugeschrieben wird, interessant und aufschlussreich. Denn hier gelingt es einem Wesen, sich von dem unmittelbaren physischen Zeitgeschehen zu distanzieren, sich darü­ 267 Gerade in den modernen Naturwissenschaften gehört die Idee der Selbstorganisa­ tion der kosmischen, physikalischen und biologischen Prozesse zum theoretischen Grundbestand, der sowohl im Falle der Annahme eines anfangslosen Weltalls, das den infiniten Regress impliziert, als auch im Falle der Annahme einer Selbstverursachung zu wissenschaftlichen Inkonsistenzen führt. Den meisten Wissenschaftlern ist nicht bewusst, dass die Autopoiesis wesenhaft Freiheit, sprich aktive Selbstbestimmung impliziert. Vgl. zum Thema »Selbstorganisation« E. Jantsch (1982, 25ff.), der am Ende seines Buches (411) die auf allen Seinsebenen aufgedeckte Selbstorganisationsdyna­ mik mit »Sinn und Geist« gleichsetzt, und also damit doch wohl Freiheit unterstellt. Darüber hinaus sieht er im Stufenbau der Wirklichkeit eine Zunahme der Freiheit bzw. des freien Gestaltungsspielraums des Weltgeschehens. Hierin stimmt er mit der Wirklichkeitssicht von G. W. F. Hegel, N. Hartmann, H. Jonas, B. v. Brandenstein, R. L. Fetz, aber auch mit vielen Evolutionstheoretikern wie F. A. Kipp, P. Overhage usw. überein.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

ber zu erheben und es in seinem eigenen Erleben zeitübergreifend zusammenzufassen: Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges bestehen in gewisser Hinsicht zugleich, aus dem Fluss der Zeit heraus­ gehoben. Das ist nicht anders möglich als durch eine Herauslösung, also eine »Freiheit von« im Sinne der Emanzipation vom physischen In-der-Welt-Sein bzw. ein Nein-Sagen und Nein-Tun, wie das M. Scheler268 und J.-P. Sartre269 herausgearbeitet haben. Eine solche »Freiheit von« impliziert aber, wenn sie von dem betroffenen Wesen selbst ausgeht, eine »Freiheit zu«, also aktives Selbstbestimmen und damit eine »Freiheit in sich«. Diese Freiheit ist zwar, da zeitverbunden, keine totale, aber doch eine relative, beschränkte Freiheit. Darüber hinaus zeigt diese Fähigkeit zur erinnernden Zeitzusammenfassung an, dass solche Wesen ihr Sein noch aus einer anderen als der welthaft-natürlichen, rein sukzessiven Dimension speisen, nämlich aus einer geistigen Welt, die synthetisch zeitlich Disparates zusam­ menzufassen vermag. Denn indem sie in ihrem inneren Tun die Welt präsentieren und repräsentieren, geben sie ihr eine zweite Heimstatt, einen »Weltinnenraum«, wie R. M. Rilke270 sagt. Von diesen Freiheitsbeweisen sind die Freiheitshinweise zu unterscheiden: Sie beziehen sich auf die bekannten moralischen Phänomene des Wertbewusstseins, der Wertdifferenzerfassung von Gut und Böse, des sittlichen Entscheidungs- und Wahlerlebnisses, des Rechtsbewusstseins, der Zurechnungsfähigkeit und des Verant­ wortungsbewusstseins für die Folgen der eigenen Handlung. Wer die Freiheit für nicht existent hält, muss diese Phänomene für Illu­ sionen erklären und hat dann nachzuweisen, was diese Illusionen bedeuten und warum sie zustande kommen. Wissenschaftstheore­ tisch ist es immer fragwürdig, eine hartnäckige und konstante Realität wie etwa das Verantwortungs- und Schuldbewusstsein rein auf Täu­ schung zurückzuführen.

Vgl. M. Scheler (1947, 51ff.). Vgl. J.-P. Sartre (1994). 270 Siehe R. M. Rilke, August 1914, München, Das Inselschiff 8 (1927): »Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.« – Ins kosmisch Spirituelle gewendet, findet sich dieser Gedanke z. B. bei Angelus Silesius: »Mensch! Alles liebet dich; um dich ist sehr Gedrange/Es läuft dir alles zu, dass es zu Gott gelange« und bei Meister Eckhart: »So soll der gute Mensch alle Dinge hinauftragen zu Gott, in ihren ersten Ursprung.« 268

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2.5. Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem

Über allen diesen Einsichten darf das wichtigste Ergebnis dieser Kapitel nicht aus den Augen verloren werden: – – –

Erstens ist die Freiheit die Modalität des Seinsurgrundes, das heißt, das Sein ist im Urstand in sich selbst frei; und zweitens begründet die Freiheit das erste Kausalverhält­ nis, nämlich das zwischen dem Seinsurgrund der Gottheit und der Welt. Darüber hinaus hat drittens der Beweis der Unmöglichkeit der anfangslosen Wechselreihe gezeigt, dass auch innerweltlich nur eine Kausalität, die Kausalität aus Freiheit, möglich ist. Denn jedes andere Kausalitätsmodell, sowohl die naturalistisch-physi­ kalische, transitiv von Ursache zu Wirkung zwangsläufig hin­ durchgehende Kausalität als auch die immanente Kausalität, bei der die Ursache notwendig in der Wirkung lebt, laufen auf die Annahme einer anfangslosen, als seinsunmöglich erwiesenen Wechselreihe hinaus.271

Aus all dem folgt, dass das gesamte Weltgeschehen bzw. die kos­ mische Evolution das Werk frei wirkender Kräfte ist, die als freie nur geistig gedacht werden können. Das klingt für moderne Ohren befremdlich, ist aber das streng logisch ermittelte, mit rational gegebenen Gründen belegte Ergebnis einer philosophisch zu den fundamentalen Voraussetzungen der Wirklichkeit vorgedrungenen Analyse und keineswegs bloße Mythologie, obwohl die alten Mythen, wenn auch auf naive und meist bizarre Weise, diesen Kausalzusam­ menhang aus Freiheit durchaus erahnten.272

271 Von den bekannten vier Ursachenformen des Aristoteles in Physik, Buch II, 3 ist, sachlich gesehen, nur die causa effizienz wirkmächtig bzw. hervorbringend im echten und vollen Sinne, während die Materialursache, die Form- und die Zweckursache die Bedingungen und Instrumente eines Wirkens sind, aber nicht selber unmittelbar wirken. Das gilt allerdings nicht für Aristoteles und seine Anhänger selbst, die in der Forma (Eidos) eine echt wirkende Kraft und in der causa effizienz nur eine »Anstoßursache« sehen. 272 Vgl. B. v. Brandenstein (1966), Grundlegung der Philosophie, Bd. 3, 67–85: Das Problem der Kausalität; 107–128: Die Kraft; 143–153: Das Problem der Willensfreiheit.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

2.6. I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung Wie im Fall der Zeitproblematik muss im Falle der Freiheitsfrage die Position I. Kants zur Prüfung werden, da er in seiner dritten Antino­ mie in der »Kritik der reinen Vernunft« (1781) meint, beweisen zu können, dass die Freiheitsfrage rational unlösbar sei.273 Den Haupt­ grund sieht I. Kant darin, dass das Denken hier in ein intellektuelles Dilemma gerate, weil es sowohl die Notwendigkeit der Freiheit als auch ihre Unmöglichkeit beweist. Er sagt dort:274 »Thesis: Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig. Beweis: Man nehme an: es gebe keine andere Kausalität, als nach Gesetzen der Natur, so setzt alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt. Nun muss aber der vorige Zustand selbst etwas sein, was geschehen ist (in der Zeit geworden, da es vorher nicht war), weil, wenn es jederzeit gewesen wäre, seine Folge auch nicht allererst entstanden, sondern immer gewesen sein würde. Also ist die Kausalität der Ursa­ che, durch welche etwas geschieht, selbst etwas Geschehenes, welches nach dem Gesetze der Natur wiederum einen vorigen Zustand und dessen Kausalität, dieser aber ebenso einen noch älteren voraussetzt usw. Wenn also alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es jederzeit nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen. Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: dass ohne hinreichende apriori bestimmte Ursache nichts geschehe. Also widerspricht der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Naturgesetzen möglich sei, sich selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit, und diese kann also nicht als die einzige angenommen werden. Diesemnach muss eine Kausalität ange­ nommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne dass die Ursache davon noch weiter durch eine andere vorhergehende Ursache nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d. i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne 273 Steckt nicht schon in der Aussage, dass etwas rational hergeleitet bzw. bewiesen werden soll, was rational unlösbar ist, eine Ungereimtheit? 274 Siehe I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 426ff.).

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2.6. I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung

welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist.«

Die Argumentation scheint trotz ihrer sprachlichen Umständlichkeit stichhaltig zu sein. Vereinfacht lautet sie: Wenn ein Naturzustand entstanden ist – und das sind alle Naturzustände, insofern sie zeitlich sind -, und seine einzige und zureichende Ursache ein gesetzlich vorangegangener Naturzustand ist, dann bildet sich auf diese Weise notwendig eine unendliche, weil anfangslose Kette von Ursache-Wir­ kungen. Eine solche wäre in Hinsicht ihrer Ursächlichkeit unvoll­ ständig, wie I. Kant richtig sagt, da eine erste Ursache fehlte bzw. überhaupt keine echte, d. h. aus sich selbst wirkende, Ursache in dieser Reihe vorhanden wäre. Ohne eine solche »hinreichend apriori bestimmte Ursache« kann jedoch nichts geschehen, und also ist die Annahme reiner Gesetzesursächlichkeit, in der das Weltwirken von einer Wirkung zur nächsten transitiv-notwendig bzw. magisch wie von selbst übergeht, selbstwidersprüchlich. Ergänzen lässt sich diese Argumentation für den Fall, dass die anfangslose, unendliche Ursache-Wirkungskette ohne inneren Gesetzeszusammenhang, also etwa nur »zufällig« oder probabilistisch abrollt, da auch in diesem »ordnungslosen« Fall die »hinreichend apriori bestimmte Ursache« fehlt. Wie lautet demgegenüber die Antithese? »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur. Beweis: Es gebe eine Freiheit im transzendentalen Verstande, als eine besondere Art von Kausalität, nach welcher die Begebenheit der Welt erfolgen könnte, nämlich ein Vermögen, einen Zustand, mithin, auch eine Reihe von Folgen desselben schlechthin anzufangen, so wird nicht allein eine Reihe durch diese Spontaneität, sondern die Bestimmung dieser Spontaneität selbst zur Hervorbringung der Reihe, d. i. die Kau­ salität wird schlechthin anfangen, so dass nichts vorhergeht, wodurch diese geschehende Handlung nach beständigen Gesetzen bestimmt sei. Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch erster Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d. i. auf keine Weise daraus erfolgt. Also ist die transzendentale Freiheit dem Kausalgesetze entgegen und eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender Ursachen, nach welcher keine Einheit der Erfahrung möglich ist, die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird, mithin ein leeres Gedankending. Wir haben also

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

nichts als Natur, in welcher wir den Zusammenhang und die Ordnung der Weltbegebenheiten suchen müssen. Die Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln. Denn man kann nicht sagen: dass, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese nach Gesetzen bestimmt wäre, so wäre sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anderes als Natur. Natur also und transzendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetz­ mäßigkeit und Gesetzlosigkeit, davon jene zwar den Verstand mit der Schwierigkeit belästigt, die Abstammung der Begebenheiten in der Reihe der Ursachen immer höher hinauf zu suchen, weil die Kausalität an ihnen jederzeit bedingt ist, aber zur Schadloshaltung durchgängige und gesetzmäßige Einheit der Erfahrung verspricht, dahingegen das Blendwerk von Freiheit zwar dem forschenden Verstande in der Kette der Ursachen Ruhe verheißt, indem sie ihn zu einer unbedingten Kausalität führet, die von selbst zu handeln anhebt, die aber, da sie selbst blind ist, den Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist.«275

Das Erste, was auffällt, ist, dass diese Antithese (wie die erste Anti­ these) komplizierter als ihre Thesis ist und konstruiert anmutet. Das liegt daran, dass sich darin zwei voneinander unabhängige Argumen­ tationsketten verflechten. Der eine Diskurs reicht bis »wodurch diese geschehende Hand­ lung nach beständigen Gesetzen bestimmt sei«, wird dann von einem neuen Diskurs unterbrochen und setzt dann wieder ein mit dem Satz »Die Freiheit (Unabhängigkeit), von den Gesetzen [...]« Im zweiten Argumentationsgang arbeitet I. Kant mit dem Argu­ ment der »beständigen Gesetze«, den »Gesetzen der Natur«, die er offensichtlich deterministisch verstanden haben will und mit Freiheit unvereinbar hält. Im ersten Argumentationsgang arbeitet I. Kant dagegen mit dem Problem des Zusammenhangs von Handlung und noch nicht handelnder, dann handelnder Ursache und behauptet – ohne Begründung! –, dass zwischen beiden »gar kein Zusammenhang der Kausalität« bestehen könne. Mit der Analyse des zweiten, für I. Kant wohl wichtigeren Argu­ mentationsganges soll der Anfang gemacht werden – was ist darauf zu sagen? Zunächst ist zu fragen, ob sich »Gesetze der Natur« und »Freiheit« apriori voneinander ausschließen? »Reißt der Leitfaden der Regeln« notwendig ab, wenn Freiheit ins Spiel kommt, wie I. Kant 275

Siehe I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 427ff.).

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2.6. I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung

behauptet? Und ist Freiheit, wie er ebenfalls hinstellt, »selbst blind«? Das sind die Fragen, die I. Kants Text dem Leser aufdrängt. Aus der biografischen, vielleicht etwas legendenhaften Sicht war I. Kant selbst die schlagendste Widerlegung dieser Antithesis. Im Zentrum seines Lebens und seiner vorwiegend ethisch-praktischen Philosophie stand die bestimmte Selbstgesetzgebung des freien Wil­ lens, der zwar soll und nicht muss, dabei aber trotzdem gesetzmäßig handeln kann. Wenn I. Kant aus frei-konsequenter Lebensführung heraus seinen Spaziergang so pünktlich absolvierte, dass – der Anek­ dote nach – die Königsberger ihre Uhren nach seinem Vorbeikommen stellen konnten, dann lief dieser Vorgang, etwa vom Mars aus be­ trachtet, äußerlich genauso ab wie ein periodisch wiederkehrender Naturprozess: Ein x langer, y breiter, z hoher Körper durchmisst in t Zeiten eine bestimmte s Strecke mit v Geschwindigkeit, jeweils nach 24 Stunden wiederkehrend, wobei die mit Buchstaben angegebenen Größen annähernd gleich bleiben. Wenn also ein freier Akt von den früheren freien Akten und Zuständen der freien Ursache auch nicht in der Weise abhängt, dass er notwendig und ursächlich aus ihnen folgt, sondern jeder von dersel­ ben freien Ursache, einem Ich, einem persönlichen Subjekt frei gesetzt wird, so kann diese den Akten gemeinsame freie, persönliche Ursa­ che die Reihe ihrer aufeinander folgenden, nacheinander gesetzten Akte dennoch in einer regelhaften, gesetzmäßigen Ordnung setzen und diese Ordnung frei-konsequent einhalten: Hierauf gründet sich jede ethisch-psychische Selbsterziehung. Die positiv handlungsfähige Freiheit muss sich daher keineswegs vom Leitfaden aller Regeln entblößen. Und andererseits wird sie durch ihre selbstgesetzten und befolgten Regeln mitnichten zur unfreien Natur. Schließlich ist die Freiheit nicht blind, sondern der freie Vollzug einer bewusst wollen­ den, urteilenden und handelnden Ursache. Dass eine solche in der vormenschlichen Natur als transzendente Ursache der Naturerschei­ nungen unmöglich wäre, ist nicht nur nicht von I. Kant bewiesen worden, sondern im Gegenteil: Im Beweis der Thesis der Antinomie hat I. Kant die Notwendigkeit ihrer Annahme dargelegt und diese im »Beweis« der Antithesis keineswegs widerlegt. Wo liegt der Fehler? Einerseits unterstellt I. Kant apriori und ohne allen Beweis, dass »Gesetze der Natur« notwendig deterministische, eindeutig-zwangs­ mäßig festgesetzte Regeln seien, was folgerichtig Freiheit ausschlösse; andererseits interpretiert er Freiheit apriori und ohne allen Erweis als notwendig gesetzlos bzw. regellos, setzt sie also mit Willkür gleich.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Das gilt aber keineswegs notwendig, kann doch Freiheit, wie I. Kant mit seinem Leben und Werk selbst bewies, sehr wohl gesetzmäßig bzw. frei regelhaft sein (bis zur Altersstarrheit), ohne jemals determi­ nistisch zu werden. Dass Freiheit blind sei, ist auf dem Hintergrund der Intelligibilitätslehre von I. Kants Freiheitsphilosophie vollends widersprüchlich, hat er doch selbst stets betont, dass nur ein freies Wesen »sehender«, geistiger Natur ist.276 Schließlich zeigt die heutige Physik, so vor allem im Felde der Quantenmechanik, dass die Gesetze der Natur nicht deterministisch festgelegt gedacht werden müssen, sondern als mehr oder weniger schwankende, um eine Idealgröße oszillierende Regeln aufgefasst werden können. Das aber verträgt sich bestens mit geistigen Natur­ ursachen, die die Naturgebilde – Felder, Atome, Moleküle, Organis­ men – schaffen und formen. Richtig an I. Kants Kausalitätstheorie ist (und das gilt gegen D. Hume), dass jedes entstehende Ding unmöglich von nichts oder von sich selbst verursacht ins Sein kommt und daher notwendig eine Wirkursache als realen Seinsgrund voraussetzt. Diese Notwendigkeit ist aber nicht logisch umkehrbar, so dass die Ursache, wie I. Kant mit der Naturwissenschaft der Neuzeit denkt, notwendig ihre Wirkung hervorbringen müsse und in ihre Wirkung notwendig übergehe. Das ist erweisbar falsch und kann nicht ungeprüft vorausgesetzt werden. Da ein notwendiger Kausalnexus im Sinne I. Kants zur Annahme einer anfangslosen Wechselreihe führt, die bereits als unmöglich erkannt wurde, ist jener Nexus sachlich widersprüchlich und damit denk- und seinsunmöglich: Der Kausalnexus kann nur ein freier, wenn auch etwa mehr oder weniger frei-geregelter Wirkungszusam­ menhang sein. Wie steht es zum Schluss mit dem ersten Argumentationsgang in I. Kants Antithesis? I. Kant sagt: »Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch handelnder ers­ ter Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d. i. auf keine Weise daraus erfolgt. Also ist die transzendentale Freiheit dem Kausalgesetze entgegen, und eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender Ursachen, nach welcher keine 276 Siehe I. Kant (Werke, Bd. IV, 2011, 82ff.): »Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden.«

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2.6. I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung

Einheit der Erfahrung möglich ist, die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird, mithin ein leeres Gedankending.«277

Was ist hierzu zu sagen? Zunächst fragt man sich, warum der Zustand einer noch nicht handelnden Ursache mit der aus ihr folgenden Handlung »keinen Zusammenhang der Kausalität« haben solle? Auch wenn der Zusammenhang bei Voraussetzung der freien Bewirktheit der Handlung seitens der intelligiblen Ursache nicht deterministi­ scher Natur ist, und eine Handlung nicht, wie I. Kant richtig sieht, naturnotwendig aus einer vorangegangenen Handlung bzw. einem vorangegangenen Zustand des Subjektes folgt, so liegt dennoch ein Zusammenhang vor und kann in der inneren Anschauung erfahren werden. Man denke sich den Fall, dass sich ein Mensch energiegeladen fühlt, sich entscheidet, einen Waldlauf zu machen, weil die Sonne so herrlich scheint, und dann losläuft. Steht dieses Laufen in keinem »kausalen Zusammenhang« mit seinem Anfangszustand? Gewiss doch. Der Mensch selbst ist die Causa, er selbst mit seiner Befindlich­ keit, Vitalität und Lust, im Wald zu laufen. Kausaler Zusammenhang also allemal, nur nicht zwangsläufig, blind und deterministisch, son­ dern seelisch-motiviert und auf freier Entscheidung basierend. Solche Freiheit ist nicht der Kausalität überhaupt, wie I. Kant behauptet, sondern nur der deterministisch-transitiven Kausalität entgegen, diese allerdings ist ausgeschlossen, aber die Kausalität aufgrund von Moti­ vation, freiem Entschluss und Tat, die einen inneren Zusammenhang konstituiert, keineswegs. Nicht anders verhält es sich mit I. Kants Behauptung, dass die Einheit der Erfahrung nur durch das deterministische Kausalgesetz garantiert werden könne. Selbst- und Fremderfahrung beweisen das Gegenteil: Selbst das relativ regellose Verhalten der Menschen statu­ iert Einheit der Erfahrung, weil die Verhaltungen eines Menschen aus ein und derselben Person kommen und weil ihre Verhaltungen in der Regel sinnhaft mit ihrem Charakter, ihren Absichten, ihrer Lebensgeschichte, ihren Aufgaben, ihren Möglichkeiten und mit dem Kontext der realen Umgebung verbunden sind. Nicht nur Not­ wendigkeit konstituiert Einheit der Erfahrung, sondern auch mehr oder weniger motivierte, beanspruchte, selbst- und fremdgeregelte Freiheit, klassisch etwa im Straßenverkehr oder bei einem Spiel. Die Folgerung I. Kants, »wir haben also nichts als Natur«, womit er blinde, deterministische Naturabläufe meint, wird in der Antithesis 277

Siehe I. Kant (Werke, Bd. I, 2011, 429).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

nicht von ihm bewiesen, im Gegenteil nur dogmatisch gesetzt und ist sachlich unhaltbar. Ergo: Die Kausalität der Natur kann nur Ausdruck des Wirkens freier Ursachen sein, die ihre Wirkungen frei-geregelt zu nie ganz starr festgelegten, sondern um Idealwerte schwingenden, »probabilis­ tischen« Naturgesetzen verbinden.

2.7. Das Verhältnis von endlichem und unendlichem Sein: die Unmöglichkeit des metaphysischen Finitismus Die Wissenschaftlichkeit des hier entwickelten Ansatzes gebietet es, das bisher gewonnene Ergebnis anderen Seinsentwürfen von Bedeutung gegenüberzustellen. Am Anfang möge jene Metaphysik stehen, die das Sein radikal endlich bzw. finit denkt, eine Anschauung, die erst im 19. und 20. Jahrhundert dominant wurde und etwa von Denkern wie K. Marx,278 M. Heidegger279 und J.-P. Sartre vertreten wurde. Wie steht es damit? Ist sie haltbar? Schon allein die Tatsache, dass das dem Menschen zugängliche kosmische Sein im Werden begriffen ist, widerlegt den ontologischen Finitismus, da ein rein end­ liches Sein endlich, also fertig, mithin nicht entwicklungsfähig, nicht werdefähig ist, strebt doch Werdendes über den je erreichten letzten endlichen, also finiten Zustand hinaus. Immerhin kann behauptet werden, dass solch ein werdendes Sein nicht nur von nichts komme, sondern in nichts vergehe, womit es sich dann als endgültig finit erwiese. Während J.-P. Sartre280 in dieser Hinsicht eindeutig ist, Vgl. K. Marx (1974, Bd. 1, 201ff.). Vgl. M. Heidegger (1979). Der »späte« M. Heidegger entwickelt seit den 30er Jahren des 20sten Jahrhunderts eine Ontologie, die nicht mehr rein finit, nicht rein »todesgezeichnet« ist, sondern mit dem Begriff des »Unerschöpflichen« zu einer transfiniten Ontologie übergeht. Zwar anerkennt er nicht die Möglichkeit eines unzeitlich-ewigen, also eines aktualunendlichen Seins (aU), aber doch ein unerschöpfliches, also potentialunendliches Sein (pU) an. Allerdings behauptet er es nur und erweist es nicht, zeigt also nicht die »Bedingungen der Möglichkeit« seiner Wirklichkeit auf. Auch stellt er sich nicht dem Problem, wie ein pU-Wesen, das er dem Menschen zuspricht, sterben kann und muss. Bald soll erwiesen werden, dass ein pU-Sein nur durch ein aU-Sein ermöglicht werden kann und in seinem Kern unvergänglich ist. Denn alles echt Unerschöpfliche verfügt notwendig über einen überendlichen Seinsinhalt und ist daher wesenhaft unvergänglich. 280 Vgl. J.-P. Sartre (1997, 1055ff.). 278

279

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2.8. Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos

bleibt M. Heidegger in diesem Punkt unklar und mehrdeutig (vgl. vorvorige Fußnote). Was diese Ontologie scheitern lässt, sind folgende Implikate: Sie muss erstens das Nichts zu einem Seinsquell erklären; zweitens kann sie die dynamische und damit »bewegende«, »schaffende« Werdeund Wandelpotenz des angeblich so nichtigen Seins nicht erklären; und drittens kann sie nicht aufweisen, dass wirklich alles Sein im Nichts endet – sie behauptet das nur. Da ein radikal endliches Sein, das nicht seit Ewigkeiten wandellos da war, sondern das entstand und dem Wandel unterworfen ist, weder von sich noch von nichts stammen kann, muss es von etwas herkommen bzw. erzeugt worden sein, das nicht nichts und selbst nicht radikal endlich ist. Wäre die Ursache des finiten Seins wieder nur endlich, müsste wieder ein endliches Sein als Ursache angenommen werden und das so ins Unendliche fort. Dies aber bewiese, dass auch die finite Ontologie ohne die Annahme eines Unendlichen, hier als unendliche Reihe von Endli­ chem, nicht auskommt, dass also jedes endliche Sein notwendig und unausweichlich in ein unendliches Sein eingebettet ist. Da erkannt wurde, dass eine unendlich-anfangslose Wechselreihe unmöglich ist, bleibt kein anderer Ausweg als die Annahme eines nichtwandelbaren Unendlichen, also eines echt Unendlichen. Damit ist der ontologische Finitismus widerlegt, und es lässt sich festhalten, dass er logisch wie sachlich unmöglich ist. Auch der Nihilismus erweist sich damit als ontologisch-logische Unmöglichkeit.

2.8. Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos: die Unmöglichkeit sowohl des metaphysischen Monismus als auch des metaphysischen Dualismus Ein Ansatz, der das unendliche Sein nicht leugnet, aber das endlich­ wandelbare Sein als realen Teil des unendlichen Seins erklärt, liegt bei allen monistischen Philosophien vor. Er tritt in verschiedenen Varianten auf, angefangen beim radikalen Monismus, der wie im Falle des Parmenides das endlich-werdende Sein zum Schein degradiert, über den gemäßigten Monismus, der im Sinne des Pantheismus bzw. Panentheismus das endlich-werdende Sein als realen Bestandteil des unendlichen Seins deutet – so bei Averroes, M. Eckhart, K.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

C. F. Krause,281 F. W. J. Schelling, G. W. F. Hegel, M. Scheler, W. Hellpach, H. Küng, W. Thiede, A. Grabner-Haider, E. Jantsch –, bis zu jenem Monismus, der das werdende Sein als Ausströmung bzw. Emanation des Urseins versteht, das sich bis zum Fastnichts der toten Materie hinab entäußert (Gnosis, Neuplatonismus, Kabbala).282 281 Vgl. B. P. Göcke (2012), der die aktuellste Übersicht und Zusammenfassung zu Leben und Werk von K. C. F. Krause gibt und belegen kann, dass A. Schopenhauer viele seiner Ideen übernommen hat. 282 Mit dem Endlich-Werdenden wird auch das Mangelhafte, Disparate, Dunkle, Suchende, Triebhaft-Unfreie, evtl. sogar das Böse bzw. dessen Ermöglichung zum echten Bestandteil des Göttlichen gemacht, so etwa bei J. Böhme, K. C. F. Krause, A. Schopenhauer, F. W. J. Schelling, Ed. Hartmann, N. Berdjajew (1950, 80) und C. G. Jung. Bei F. W. J. Schelling ist das Böse zwar nicht direkt in Gott aktuiert, aber durch das »Reale«, die »Natur« oder den »Ungrund« in Gott, d. h. durch seinen dunkel-sehnsüchtigen, triebhaft-zwielichtigen oder, wie er sagt, »wilden« Ungrund, angelegt. Dieses »Real-Naturhafte« wird als das kontraktive Prinzip in Gott durch das »Ideal-Geistige«, das als expansives Prinzip mit Vernunft und Liebe identisch ist, »gezähmt«, gelichtet und dadurch unschädlich gehalten. Das wirklich Böse deutet F. W. J. Schelling (1995, 64ff.) als bewusste Abkehr des menschlichen Geistes bzw. seiner »Natur« oder »Selbstheit« vom Urgrund bzw. als die Kontraktion des menschlichen Willens im Sinne seines eigensüchtigen Egos auf Kosten des Liebesprinzips. Richtig an dieser Sicht F. W. J. Schellings ist, dass der göttliche Urgrund nicht nur Vernunft oder Ratio, sondern auch Wille ist, womit F. W. J. Schelling – nach der Bemerkung M. Heideggers – die intellektualistische Einseitigkeit des abendländisch-griechischen Denkens überwindet. Doch erstens ist dieser Wille nicht, wie F. W. J. Schelling meint, mit der unbewussten, »schlummernden« Natur identisch; zweitens ist er keineswegs irrational, sondern nur arational, aber wesenhaft mit Vernunft verbunden; und drittens ist er nicht werdend, suchend, wild und »sehnsüchtig«, wie F. W. J. Schelling meint, sondern unendliche, durch den Logos völlig erhellte Kraft, gute Kraft und reine allmächtige Güte, nicht im Geringsten potential oder potentialer Ungrund des Bösen. Hier projiziert F. W. J. Schelling – in exzeptionell-originaler Weise – das tief und wahr gesehene Wesen des potentialunendlichen Menschen – der wirklich und immer einen unausschöpfbaren dunkel-zwielichtig-unabschließbar-sehnsüchtigen, noch unbestimmten und wild-ungezähmten »Ungrund« hat – in die Gottheit hinein. Immerhin sieht F. W. J. Schelling wieder tief, dass im Menschen wohl weniger der Intellekt die Sünde, d. h. die (willenskräftige) Abkehr von Gott, bewirkt, sondern der Wille, die Kraft zur Selbstbestimmung und »Kontraktion«. Im Gegensatz zu all dem verlegt C. G. Jung tatsächlich das Böse, das echt Böse, also das Gemeine und Sadistische in Gott, zumal in den Gott des Alten Testamentes, wobei nie ganz klar wird, ob er mit »Gott« nur den innerseelischen Archetyp oder die Realität »Gott« meint bzw. ob der psychische Archetyp eine transzendentale, vorkulturell-all­ gemeine Vernunftstruktur oder ein kulturelles, zeitbedingtes Gebilde ist (vgl. dazu seine Schrift Antwort auf Hiob). Eine beeindruckende künstlerische Manifestation der Schellingschen Theo- und Anthroposophie findet man, wohl unbeabsichtigt, in dem Grimmschen Märchen Der Mond, besonders in der musikalischen Umsetzung von Carl Orff, und in absichtsvoll-bewusster Weise im dramatisch-lyrischen Gesamtwerk

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2.8. Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos

Diese Monismen können sich entweder idealistisch wie bei F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel oder materialistisch wie bei K. Marx und bei den modernen Evolutionisten ausformen, monistisch sind sie beide, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Während der materialis­ tische Monismus allerdings eher zur finitistischen Ontologie neigt, geht der idealistische eher von einem infiniten Sein aus, das sich irgendwie verendlicht. Wie man sich zu diesen Ontologien zu stellen habe, ist bereits durch den Wechselreihenbeweis entschieden: Erstens ist das zeitliche Seinsgeschehen nicht nur Schein, sondern aufgrund seines Dyna­ mismus und seiner Wirkmächtigkeit sehr real, genauer, unerschöpf­ lich seinsvoll;283 und zweitens verdankt es sich im letzten Grund einem zeitlos-ewigen und gehaltlich unendlichen Sein, das zugleich anfangs- und werdelos in sich besteht und vollendet ist. Als solches kann es nicht in ein Werden übergehen, kann, wie Parmenides284 sah, weder zunehmen noch abnehmen, und also kann es sich nicht verzeitlichen und verendlichen. Insofern das endliche Sein nicht als realer Teil aus dem Unendlichen hervorgeht, wird es demnach von diesem in einem zeitlos-unendlichen und wesentlich willentlich-geis­ tigen Akt sich als ein echt Anderes und nicht als unendlicher Teil von sich gegenübergesetzt. Im menschlichen Leben kann man etwas Ähnlichem begegnen: Wenn sich mein Ich Gedanken, Phantasien, Erinnerungen, Vorstel­ lungen, Bilder, Wünsche und Entschlüsse bildet, dann handelt es sich hier nicht um reale Ichteile, sondern um gegenständlich-dinghafte Wirkungen, die sich das ungegenständliche Ich in ungegenständli­ chen Akten gegenübersetzt, eben als echt Anderes, das wesentlich passiv, dinglich, gegenständlich, bewusstlos, also im Seinsrang we­ senhaft tiefer steht als das aktive, selbstbewusste Ich. Analog verhält es sich bei Gott: Er setzt nicht Teile aus sich heraus, sondern Wirkun­ gen, die im Seinsrang unendlich unter ihm stehen, eben Realitäten sind, die nicht ewig bestehen, sondern entstehen und zeitlich verfasst Friedrich Hebbels, der die Philosophie F. W. J. Schellings, aber auch L. Feuerbachs und G. H. Schuberts zur geistigen Folie seines Schaffens nahm. Vgl. dazu W. Liepe (1963, 139–382). Ausführlich zu F. W. J. Schelling siehe die tiefschürfenden Studien von H. Fuhrmans (1965, 9ff.), L. van Bladel (1965) und W. R. Corti (1965) — alle drei in Schelling-Studien (1965). 283 Was nichts erklären würde, da ein zeitlich sich vollziehender Schein nicht nichts, sondern etwas ist. 284 Vgl. Parmenides (1981, 11f.).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

sind. Nur so ist ein Wirken möglich, das nicht den Wechselreihen­ beweis verletzt. Damit sind alle Monismen, die das endliche im unendlichen Sein aufheben bzw. direkt aus dem unendlichen Sein als dessen realen Teil hervorgehen lassen, widerlegt. Nicht anders ergeht es allen Formen des radikalen Dualis­ mus, der zwei ursprünglich gleichhohe Seinsprinzipien wie etwa im Manichäismus – den guten Gott Ormuzd und den bösen Gott Ahriman – annimmt. Wenn das Ursein unendlich und zeitlos ist, dann kann es nur ein höchstes Seinsprinzip geben, und was es kausal hervorbringt, kann unmöglich im selben Seinsrang, gleichursprüng­ lich und gleichmächtig sein, sondern muss eine Wirkung darstellen und damit rangtiefer stehen. Entweder ist diese Wirkung selbst ein Subjekt, ein wirkfähiges Prinzip, dann allerdings begonnen, zeitver­ bunden und beschränkt, oder es ist nur Objekt, ein Ding, das weder geistig noch physisch wirken kann, sondern nur von Anderem – nämlich von einem Subjekt – bewirkt und gehalten wird.285 Mit dieser Kritik wird eine fundamentale metaphysische Wahr­ heit sichtbar, der man immer wieder begegnet. Sie lautet: Es gibt drei und nur drei mögliche Seinsränge, nämlich das rein aktive, in keiner Hinsicht fremdbestimmte Ur- und Nursubjekt (Gott), das fremd- und selbstbestimmte Objekt-Subjekt (den Menschen und alle Zweitursachen) und das rein fremdbestimmte Nur-Objekt. Schon Platon und das Mittelalter kannten diese drei Seinsränge, die später in der Neuzeit vergessen oder verwischt wurden.286 Noch bei I. Kant lassen sie sich als Gottes Ursein, als die transzendentalen Dinge an sich und als die Phänomene nachweisen; und in Überresten tauchen sie sogar bei M. Heidegger auf, der in »Sein und Zeit« (1927) das reine Sein vom seinsverstehenden Dasein (des Menschen) und von den nur vorhandenen und zuhandenen Dingen unterscheidet. 285 Könnte es physisch wirken, wie das naturwissenschaftliche Kausalmodell an­ nimmt, entstünde ein infiniter Regress, mithin die als unmöglich erwiesene anfangs­ lose Wechselreihe. Folglich gibt es kein rein mechanisches Wirken bloßer Objekte oder Dinge aufeinander, etwa der Dinge mittels Wellen, Druck und Lichtstrahlen auf die Sinnesorgane. Auch hier wird »im Hintergrund« das Wechselwirken wie bei allem Wirken durch geistige, in der Natur wirkfähige Kräfte vermittelt und geführt. 286 Vgl. etwa Thomas v. Aquin in seiner Summa theologiae und H. Schell (1896, 402). Letzterer erkennt, dass das Theodizeeproblem nur dann einer Lösung zugeführt werden kann, wenn Gott nicht Allursächlichkeit zugesprochen und »eine Geisterwelt von beschränkter Weisheit, Macht und Güte« eingeführt wird. Bei der Behandlung der Kausalitätsproblematik werden wir sehen, dass sich nur diese Sicht mit der ontologischen Klärung von Kausalität überhaupt verträgt.

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2.9. »Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel

Die Einsicht in die dreirangige Wirklichkeit gibt über die Stellung des Leidens in der Welt entscheidenden Aufschluss. Zum einen gilt, dass Leiden nur im zweiten, im geschöpflichen Seinsrang möglich ist, zum anderen lehrt die Erfahrung, dass mit dem Menschen eine einzig­ artige Lebens- und Leidensgestalt in die Welt tritt, die zugleich in den zweiten und dritten Seinsrang gehört und als personalisiertes Leib­ wesen die innigste Einheit der beiden unteren Seinsränge darstellt. Allerdings bedeutet dies auch, dass ein personaler Geist, der in einem Leib lebt, nicht nur dieses Stück Materie in einzigartiger Weise belebt und durchgeistigt, sondern dadurch auch tiefgreifend eingeschränkt, nämlich echt verendlicht, gewissermaßen »eingesperrt« wird, wie es Platon in seinem Dialog Phaidon und nach ihm viele Denker lehren, und damit allen Unbilden des Weltgeschehens direkt ausgesetzt ist. Nur weil er als Leib und im Leib lebt, kann der Mensch verletzt, krank und verstümmelt werden, er kann sterben, hungern, dürsten, frieren, er muss die leiblichen Triebe ertragen, er kann gemieden, verfolgt, gefoltert, getötet werden – er kann, ja er muss fast leiden. Der Preis für die einzigartige Personalisierung und Vergeistigung eines Stückes der kosmischen Materie ist demnach das Leiden in allen seinen Formen, beginnend bei den einfachsten Lebewesen, endend beim Gott­ menschen. Man könnte auch so sagen: Jede lebendige Kreatur, vor allem aber die menschliche Geistseele ist auf ihren Leib und somit auf das Kreuz der Welt gespannt mit dem metaphysischen Sinn, auf diese Weise die an sich nicht-innerliche, gleichsam »hohle« und ihrer selbst nicht mächtige Materie unendlich zu verinnerlichen, ja durch Innerlichkeit, Selbsthabe, Reflexion, Phantasie, Kommunikation und Kulturbildung in den Rang des Selbstseins zu heben.

2.9. »Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel An dieser Stelle soll ein »Zwischenspiel« eingeschoben werden, in dem es um einen Gottesbeweis geht, von dem R. Spaemann,287 der ihn führt, behauptet, er sei »der letzte«. Damit meint er, ohne dies allerdings explizit zu sagen, dass es sich um den einzig noch möglichen Beweis von der Existenz Gottes, der logische Stringenz beanspruchen darf, handelt. Näher betrachtet, schränkt R. Spaemann 287

Siehe R. Spaemann (2007).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

den Titel seines Buches aber schon im Vorwort erheblich ein und sagt »Genau genommen ist ein rationales Argument dafür, etwas zu glauben, nicht dasselbe wie ein Beweis.« (2007, 7). Dem ist zweifellos beizustimmen. Und so bestätigt er auf Seite 32 seine Aussage noch­ mals, indem er sagt, bei seinem »Beweis« handele es sich nur um ein Postulat. Mit »Postulat« kann allerdings Verschiedenes gemeint sein. I. Kant, der diesen Begriff an zentraler Stelle seiner Philosophie ein­ führt, versteht darunter einen hypothetischen Rückschluss von einer praktisch-sittlichen Tatsache auf deren transzendental-logische bzw. metaphysische Voraussetzung, ohne deren Annahme jene sittliche Tatsache rätselhaft bleibt und sinnlos wird. Bei jener »Tatsache« handelt es sich um die innere Aufforderung des »kategorischen Imperativs«, das Gute zu tun und die Wahrheit zu achten, worin sich das Sittengesetz und sein Anspruch, ihm unbedingt Folge zu leisten, kundgibt. Voraussetzungen solcher Art nennt I. Kant288 Postulate der praktischen Vernunft oder »regulative Ideen«. Unter sie zählt er die Freiheit des Menschen, seine Unsterblichkeit und die Existenz Gottes, da erst durch diese drei Bedingungen dem unbedingten Sittengesetz die Stütze im realen Leben gegeben wird. Hypothetisch nennt I. Kant diesen Rückschluss, weil er auf der bloß praktischen, jedoch theoretisch nicht beweisbaren Evidenz des sittlichen Verpflichtungs­ erlebnisses beruht, an das nach I. Kant letztlich nur geglaubt werden kann, während der Rückschluss selbst logisch zwingenden Charakter besitzt. So wäre, wie I. Kant betont, ein Sollen sinnlos, wenn ihm keinerlei Können, also ein freies und wirkfähiges Wollen entsprechen würde. Freiheit wird so zu einem unverzichtbaren Bestandteil des sittlichen Bewusstseins, den man nur bestreiten kann, wenn die sittlichen Wert- und Sollenserfahrungen überhaupt negiert werden. Von solchen praktischen Postulaten müssen die echten, d. h. theoretischen, Postulate unterschieden werden, die deswegen nicht hypothetisch sind, weil erstens ihre Erfahrungsbasis unmittelbar evident ist, weil sie zweitens ohne Selbstwiderspruch nicht geleugnet werden können und weil drittens die Art des Rückschlusses von logisch notwendiger Natur ist. In solchem Falle erhält ein Postulat echt theoretische, eben logisch zwingende Beweiskraft. Die Beweise, 288

Vgl. I. Kant (Werke, Bd. IV, 2011, 252ff.).

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2.9. »Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel

die bisher in dieser Arbeit geliefert wurden, sind von dieser Art und dürfen mit den praktischen Postulaten nicht vermengt werden. Wie verhält es sich im Falle der Argumentation von R. Spae­ mann? Nach seinem eigenen Bekunden handelt es sich um keinen echt theoretischen Beweis, sondern um ein praktisch-religiöses Postulat. Träfe dies zu, würde im Titel seines Buches allerdings mehr angekün­ digt als eingelöst werden. Das gilt es zu überprüfen. Bevor diese Prüfung erfolgt, ist noch zu klären, ob R. Spaemanns »Beweis« wirklich der einzige ist, der Stichhaltigkeit beanspruchen darf, und ob er so neu ist, wie R. Spaemann behauptet. Beides trifft nachweislich nicht zu. Zum einen gibt es, wie in den Kapiteln 1.13. und 2.1. bis 2.8. gezeigt, andere und konsistentere Beweise, zum anderen geht R. Spaemanns Schlussfigur auf Augustinus zurück, den R. Spaemann m. E. nur variiert.289 Es verwundert daher, dass Augus­ tinus290 weder bei R. Spaemann noch im Nachwort von R. Spaemanns Buch beim Mittelalterspezialisten R. Schönberger erwähnt wird. Wie lautet R. Spaemanns Argument? In wenigen Sätzen zusam­ mengefasst, wie folgt: Wenn es Wahrheitsfähigkeit gibt, muss – soll sich diese Wahrheitsfähigkeit realisieren können – Wahrheits­ erkenntnis möglich sein. Ist diese möglich, gibt es etwas, das unbe­ dingt gilt, eben Wahrheit. Solche Unbedingtheit ermöglicht aber nur ein unbedingtes, kein bedingtes Wesen, also Gott. Oder umgekehrt: Wenn es Gott nicht gibt, dann kann es, da Gott die notwendige Bedingung der Möglichkeit von (unbedingter) Wahrheit ist, keine Wahrheit und damit auch keine Wahrheitsfähigkeit geben. Diesen Schluss zieht R. Spaemann aus der unleugbaren Tatsache, dass der Mensch Person und als Person wesenhaft frei und wahrheitsfähig ist.291 Die Argumentationskette lautet also, wie folgt: 1. 2.

Der Mensch erlebt sich als Person. Diese empirische Tatsache ist ohne Selbstwiderspruch unbestreitbar, da auch der Versuch der Bestreitung das Personsein impliziert. Als Person hat der Mensch die Fähigkeit, sich selbst zu bestim­ men, wenigstens insofern, als er als bewusstes Wesen sich selbst aktiv und gewollt wahrnehmen kann und damit sich

Vgl. J. Hessen (1920). Augustinus führt seinen Beweis in der Schrift Über die wahre Religion. 291 Als dritte fundamentale Kennzeichnung des personalen Seins sei neben den beiden genannten die Liebesfähigkeit genannt. Diese trinitarische Struktur, die der Dreieinigkeit Gottes analog ist, bestimmt den Menschen als Ebenbild der Gottheit. 289

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als Wahrnehmend-Wahrgenommener selbst bestimmt. Selbst­ bestimmung ist aber nichts anderes als aktiver Vollzug von Frei­ heit. Als Person hat der Mensch zweitens die Fähigkeit, etwas – we­ nigstens sich selbst – zu gewahren, also in unmittelbarer Weise wahrzunehmen. Etwas wahrnehmen und erfassen, impliziert Wahrheitsfähigkeit, und Wahrheitsfähigkeit, die sich vollzieht und damit real einen Zusammenhang erkennt, etwa den, dass sich das Erkenntnissubjekt selbst als Wahrnehmend-Wahrge­ nommenes bestimmt, impliziert notwendig Wahrheit bzw. genauer, Erkenntniswahr­ heit. Damit aber Wahrheitsfähigkeit möglich ist, muss Wahrheit erkannt werden können, und also ist Wahrheit eine notwendige Voraussetzung von (realisierbarer) Wahrheitsfähigkeit. Da die Wahrheit nur dadurch wahr ist, dass sie gilt, und das heißt, absolut gilt, bedarf es eines absoluten Bewusstseins, das die unbedingt-absolute Geltung der Wahrheit ermöglicht und trägt. Ein solches Bewusstsein nennt man Gott. So R. Spaemann.

Es war Augustinus,292 der aus dem Wesen der Wahrheit und ihres absoluten Geltungsanspruches die Notwendigkeit eines absoluten Bewusstseins oder Denkens erschloss. Da R. Spaemanns Beweis genau darauf hinausläuft, obgleich mit einem Umweg über die sub­ jektive Wahrheitsfähigkeit, ist er mit dem von Augustinus im Kern identisch. Der Zusatz, den R. Spaemann macht, ist dennoch nicht unbedeutend, da eine unerkennbare Wahrheit (für uns) sinnlos wäre. So betrachtet, ist die Wahrheitsfähigkeit des Menschen tatsächlich eine Bedingung für die absolute Geltungskraft der Wahrheit, aber selbstverständlich nicht an sich, sondern nur insoweit, als sie sich im Menschen manifestiert. Das Grundproblem, ob Wahrheit wirklich besteht und unbedingt gültig ist oder ob sie nur eine Fiktion darstellt, bleibt davon unberührt und muss eigens durchdacht werden. R. Spaemann versucht dies auf zwei Wegen, negativ und positiv. Wer eine Wahrheit oder die Wahrheit überhaupt leugnet, setzt sie voraus und muss sie, um seine Aussage machen zu können, in An­ spruch nehmen. Wahrheit kann demnach nie total, sondern höchstens partiell oder lokal negiert werden. Wer z. B. behauptet, dass die Shoah 292 Vgl. dazu die Schriften von Augustinus: De Vera Religione, Contra Academicos, Soliloquia und besonders De Libero Arbitrio.

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2.9. »Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel

nicht stattgefunden habe, setzt erstens voraus, dass er weiß, was unter Shoah zu verstehen ist, behauptet zweitens, dass sie an der historischen Stelle, wo sie geschehen sein soll, nicht stattgefunden hat, womit drittens vorausgesetzt ist, dass an dieser Stelle etwas an­ deres stattgefunden haben muss – und also dies historisch »wahr« ist. Noch radikaler formulierte der Sophist Gorgias293 im Altertum seine Skepsis und leugnete jede Wahrheitsmöglichkeit. Da die Behauptung, es gebe keine Wahrheit, selbst Wahrheitsgeltung beansprucht, hebt sie sich jedoch selbst auf. Gorgias müsste darum, wollte er konsequent sein, schweigen. Der Aufweis der Wahrheitsmöglichkeit ist aber nicht nur durch die Unmöglichkeit ihrer totalen Negation führbar, sondern auch positiv; darauf verweist R. Spaemann mit dem »Futurum exactum« (2007, 31). Hier liegt eine positive Bestätigung der Wahrheit vor: Etwas, was jetzt wahr ist, z. B. dass ich dies hier schreibe, muss auch in der Zukunft, mehr noch: immer und überzeitlich wahr sein, da es sich um ein Faktum handelt. Denn es ergibt keinen nachvollziehbaren Sinn zu behaupten, irgendwann in der Zukunft gelte die Wahrheit, dass ich dies hier jetzt schreibe, nicht bzw. nicht mehr. Was in diesem Fall deutlich wird, ist der Umstand, dass der unbedingte Geltungsanspruch der Wahrheit unzeitlicher bzw. über­ zeitlicher Natur ist, was nicht nur »ideale Vernunftwahrheiten« (G. W. Leibniz), also mathematische und logische Wahrheiten, sondern auch »Tatsachenwahrheiten« (historische, psychologische und politische Wahrheiten) betrifft. Noch entschiedener drängt sich der überzeitliche Wahrheits­ anspruch bei den »idealen«, den logischen, mathematischen und metaphysischen Wahrheiten auf, letztlich weil diese Wahrheiten auf zwingenden Beweisen und auf unmittelbarer Evidenz beruhen.294 Wer behauptet, die Aussagen »5 + 7 ist gleich 12« oder »Alles, was entsteht, verdankt sich einer hervorbringenden Ursache« seien an das Jahr 2011 oder an seinen Verstand gebunden, verknüpft etwas Unverknüpfbares. Gebunden an 2011 und an seinen Verstand ist nur seine Wahrheitsfähigkeit, die die notwendige Voraussetzung für seine Erkenntnisfähigkeit ist. Persönlich zu erkennen, dass 5 + 7 Vgl. Gorgias von Leontinoi in seiner als Fragment überlieferten Schrift Über das Nichtseiende oder Über die Natur (Peri tou me ontos e Peri physeös), zitiert bei Die Vorsokratiker von W. Capelle (1968, 343ff.). 294 Mittels der argumentatio ex contrario, der reductio ad absurdum und dem Aufweis der negativen Evidenz. Siehe Propädeutik.

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= 12 ist und dass von nichts nichts wird, das ist allerdings vom Erkennenden abhängig. Gäbe es also keine Wahrheit, wäre in der Tat alle echte und damit realisierbare Wahrheitsfähigkeit unmöglich. Gäbe es aber keine Wahrheitsfähigkeit, wäre Erkenntnis unmöglich. Wo jedoch keine Erkenntnis möglich ist, ist Bewusstsein unmöglich, denn Bewusstsein konstituiert sich nur als »Bewusstsein von etwas« (Franz Brentano), was notwendig Erkenntnis von diesem etwas impliziert. Ohne alles Bewusstsein ist aber Personalität unmöglich. Oder umgekehrt: Wenn sich der Mensch unleugbar als Person erlebt, dann muss er auch prin­ zipiell erkennen können, wenigstens partiell etwas von sich selbst, und dann gilt alles andere. So R. Spaemann. Wenn einer Wahrheitserkenntnis überzeitlicher Geltungs­ anspruch zukommt, dann fragt sich im nächsten Schritt, wer diesen Geltungsanspruch garantiert? Da weder die Welt noch die Menschen als Subjekte zeitlos, sondern veränderliche Wesen sind, können weder die Welt noch die Menschen die tragfähige Basis für diese Geltung abgeben. Genau dies war es, was Augustinus295 (im Anschluss an Pla­ ton) erkannt hatte, und genau das betont R. Spaemann und zu Recht. Der Rückschluss kann dann – so diese drei Denker – nur einer sein: Es muss eine zeitlose, genauer, eine ewige Wirklichkeit geben, die den unbestreitbar unbedingten und zeitlosen Geltungsanspruch der Wahrheit ontologisch, sprich seinsmäßig ermöglicht und trägt. Da es bei einer Wahrheit, einer »Geltung« wesenhaft um einen geistigen Zusammenhang geht, muss diese Wirklichkeit »des Geistes« sein, also nicht nur zeitlos, absolut und unbedingt, sondern auch »noe­ tisch«. Diese m. E. unwiderlegliche Einsicht genügt R. Spaemann (und vorher schon Augustin), um daraus die Personalität des Absoluten zu erschließen. Zu Recht? Ich meine nicht. Denn es ist nicht undenkbar, dass diese geistige Wirklichkeit, zumal sie in diesem Zusammen­ hang aller Dynamik entbehrt, apersonaler Natur ist. Platons und E. Husserls Ideenlehre sind dafür Beispiele. Darum bedarf dieser Beweis der Ergänzung, die darin besteht, aus dem (dynamischen) »Hätte ich die Wahrheit erschaffen, dann dürfte ich sagen: meine Wahrheit. Aber die Wahrheit ist nicht meine Wahrheit und ist nicht deine Wahrheit noch die Wahrheit eines Dritten, sie ist unser aller Wahrheit« (Bekenntnisse, XII, 25). So folgert Augustinus, dass diese Wahrheiten von einem ewigen, höchsten, unwandelbaren und notwendigen Wesen stammen müssen, von Gott. »Denn Gott ist die Wahrheit.« 295

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2.9. »Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel

Werden der empirischen Welt (inklusive des empirischen Selbsterle­ bens) den wesenhaften Dynamismus der absoluten Wirklichkeit zu ermitteln.296 Denn dieser Dynamismus impliziert die Wirkfähigkeit dieser Wirklichkeit, was nichts weniger bedeutet, als dass sie aktiv, selbsttätig, selbstbestimmend und damit frei ist. Sich selbst kann ein Wesen aber nur dann aktiv bestimmen, wenn es von sich weiß, und also ist ein dynamisches, wirkfähiges Wesen notwendig frei und bewusst, als unbedingtes Wesen notwendig nur selbstbedingt, urfrei und urbewusst. Das sind die Grundbestimmun­ gen von dem, was man Person heißt, die im Falle, dass sie von nichts anderem abhängt, mit Gott identisch ist. Mit dieser Ergänzung wird erreicht, was R. Spaemann vertritt: Ohne Gott keine Wahrheit, ohne Wahrheit keine Wahrheitsfähigkeit, ohne Wahrheits- und damit eingeschlossen Erkenntnisfähigkeit keine Person, ohne Person kein Mensch – ergo existiere ich nicht. Da ich aber zweifellos existiere und wenigstens von mir mit absoluter Gewissheit weiß, also wahrheitsfähig bin, ist es unmöglich, dass es keine Wahrheit und nichts absolut Gültiges gibt. Erkennt man, dass dieses statisch-strukturelle oder »formale« Absolutum auch dynamisch ist, folgt mit Notwendigkeit seine Per­ sonalität – und also ist Gott. Oder umgekehrt nach der ursprüng­ lichen erkenntnislogischen Ordnung: Ich bin. Ich bin Mensch. Ich bin veränderliche Person. Ich weiß um mich selbst und bin daher, wie minimal auch immer, erkenntnisfähig. Wenn ich aber wirklich erkenne, dann erkenne ich Wahres, und also bin ich wahrheitsfähig. Bin ich aber wahrheitsfähig und erkenne Wahres, muss es Wahrheit geben, die, weil in sich zeitlos gültig, nicht von mir, sondern nur von Anderem, einem wenigstens geistähnlichen Absolutum ermög­ licht und getragen ist.297 Als solches ist es nicht sofort als Gott zu erkennen, doch kann ein zusätzlicher Diskurs, wie gesehen, diesen Mangel ausgleichen und die Personalität dieses Absolutums mit Gewissheit erweisen.298 Hier ist an die Gottesbeweise des Thomas v. Aquin zu denken, die von der bewegten, werdenden Welt ausgehen und auf ihre notwendigen dynamischen Seins­ voraussetzungen zurückschließen. So in seiner Summa theologiae. 297 Genau dies, die (Teil-)Identität von menschlichem (transzendentalem) Ich und Gottheit, sollten die deutschen Idealisten J. G. Fichte, F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel behaupten. 298 In De Libero Arbitrio argumentiert Augustinus, dass das Absolute, weil vollkom­ men, Person sein müsse. Leuchtet das auf Anhieb ohne alle Begründung ein? Wäre 296

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Welches Erkenntnisverfahren von R. Spaemann hier angewen­ det wird, macht der Rückblick deutlich: Ausgehend von einer unleug­ baren Erfahrungstatsache, hier des Selbstbewusstseins, das mit sei­ nem Selbstwissen seine Wahrheitsfähigkeit realisiert und damit die zeitlose Geltung einer Wahrheit offenbar macht, fragt er nach den Voraussetzungen dieser empirischen Tatsache und schließt auf die notwendigen, ohne Selbstwiderspruch nicht leugbaren Vorbedingun­ gen dieser Erfahrungstatsache bis zu jenem Punkt zurück, der nur noch sich selbst bedingt und so sein eigener Grund ist, eben jener, der sich bewusst selbst bestimmt und daher absolute Person ist, Gott. Das ist der Weg der reduktiv-regressiven Analytik, der als klassischer Erkenntnisweg der Philosophie erkannt wurde. Zusammengefasst: Wenn R. Spaemanns »Beweis« durch zwei Zusätze ergänzt wird, erhält man nicht nur einen theoretisch-pos­ tulatorischen, sondern einen durchaus vollständigen Gottesbeweis. Dazu muss die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, auf die sich R. Spaemann als ein Primum stützt, von ihrer bloß potentiellen in eine aktualisierte Form überführt werden. Das ist dann der Fall, wenn sie sich an einer ohne Selbstwiderspruch nicht leugbaren Erkenntnis, genauer, einer Erkenntniswahrheit bewährt. Dies trifft zu, wenn sich das Erleben des Menschen selbst gewahrt und z. B. in seiner Bewusstheit, seiner Selbsttätigkeit, seiner Zeitlichkeit und seiner Geistigkeit erfährt. Denn das Bewusstsein ist von der Art, dass es sich nicht nicht erfahren kann, sondern erfahren muss. Hier wird die bloß potentielle Wahrheitsfähigkeit zu einer aktualisierten und damit bewährten Wahrheitserkenntnis, womit es unmöglich wird, Wahrheit kategorisch zu leugnen. In einem zweiten Schritt führt dieser Veritas-Aufweis auf reduktiv-analytischem Wege zur Einsicht in das Wesen von Wahrheit überhaupt und sowohl zur Erkenntnis seiner Unbedingtheit bzw. apriorischen Geltungsmacht als auch sei­ ner Allgemeingültigkeit. So wird der Veritas-Aufweis zum – schon von Augustin formulierten – Veritas-Beweis. An dieser Stelle ange­ kommen, postulieren Augustin und R. Spaemann die Existenz Gottes, indem sie – ohne eigenen Beweis – die absolute Veritas mit einem göttlichen Bewusstsein identifizieren. Hierbei handelt es sich in der Tat um ein nur praktisches oder religiöses Postulat, keinen Beweis, der dem so, könnte es die verbreitete Auffassung nicht geben – so bei J. G. Fichte, A. Kreiner, so in der indischen Philosophie –, dass das Personsein einen Mangel darstelle und deswegen dem Absoluten nicht zukommen könne. Es bedarf demnach eines eigenen Erweises der Personalität Gottes, den ich oben zu geben versuchte.

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2.10. Freiheit und Unfreiheit des Menschen als Selbsterfahrung

eigens entwickelt werden muss und durchaus, wie gesehen, entwickelt werden kann. Erfolgt dies, wird das Argument vollständig und erweist auf analytisch-regressivem Wege die Personalität des Absoluten nicht nur in Form des abstrakten Wahrheitsgrundes, sondern als dynamisch schaffendes, frei wirkendes und selbstbewusstes Prinzip, als Gott.

2.10. Freiheit und Unfreiheit des Menschen als Selbsterfahrung: die menschliche Freiheit als Einheit von Abhängigkeit und Selbständigkeit Die Kehrseite der kreatürlichen Freiheit im Sinne der Emanzipation ist ihre vielfältige Abhängigkeit, positiv formuliert, ihr ökologisch-sozia­ les und fundamental metaphysisches Eingebunden- und Geborgen­ sein. Der Mensch trägt und hält sich primär nicht selbst, sondern wird ontologisch, biologisch und sozial getragen, angeregt und gefördert, wenigstens solange, bis er sein Leben selbst führen kann. Dieser Impuls zur Selbstbestimmung, der sich ein Leben lang zur Selbst­ führung und Selbstdisziplin erziehen muss, erwacht früh im Leben des Menschen, in der Regel im ersten Lebensjahr, und lässt dann bald alle Bindungen nicht nur als schützend, tragend, bergend und förderlich, sondern auch als beengend und bevormundend erfahren. Das zeigt sich schon bei Kleinkindern, die das Laufen lernen. Hieraus entstehen zahllose Dilemmata und nie ganz auflösbare Konflikte, die nämlich zwischen Autonomie und Heteronomie, Autarkie und Versorgung, Alleinsein und Zusammensein, Selbstkompetenz und Angewiesensein und zwischen Macht und Ohnmacht. Umso mehr ist hervorzuheben, dass der Mensch innerhalb sei­ ner unumgehbaren biologischen, ökologischen und soziokulturellen Gebundenheiten seine Selbständigkeit erlebt und ergreift, Abhängig­ keit und Selbständigkeit sich also nicht per se ausschließen, allerdings gegenseitig begrenzen. Der Mensch ist gegeben, genauer, sich vor­ gegeben, aber auch sich aufgegeben, und diese Spannung zwischen Objekt- und Subjektsein, zwischen Nehmen und Geben, Bedürfen und Selbsttun macht nicht nur seinen prinzipiell metaphysischen Seinsstatus aus, sondern bedingt eine nie aufhebbare Grundspannung zwischen Selbstbehauptung und Selbsthingabe, Selbstabgrenzung und Verschmelzung, die selbst in der Vereinigung mit der Gottheit nie ganz aufgehoben wird.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Das zeigt, dass der Mensch nicht urfrei ist, sondern dass seine Freiheit vielfach beschränkt, beeinflussbar, verwirrbar, verführbar und verletzbar ist. Die Bestreiter der Willensfreiheit haben daher Recht, wenn sie herausheben, dass der Wille des Menschen durch allerlei Prägungen, Neigungen, Motive, Wünsche und Ängste beein­ flussbar ist, doch begehen sie den fundamentalen Fehler, Einfluss­ nahme und Verursachung gleichzusetzen. So behauptet etwa G. Streminger299 in Anlehnung an D. Hume und A. Schopenhauer, dass der Mensch zwar über eine Handlungsfreiheit, aber über keine Willens- oder Entscheidungsfreiheit verfüge, weil sein Wille bzw. seine Willensentscheidung eindeutig von unbewussten oder halbbe­ wussten Motiven verursacht werde. Richtig daran ist, dass solche Motive – Gefühle, Neigungen, Stimmungen etc. – immer da sind, aber falsch ist, dass sie die Willensentscheidung direkt und eindeutig bestimmen. Im Gegenteil kann sich der Mensch (in Grenzen) seine Motive bewusst machen und, was A. Schopenhauer verkennt, (in Grenzen) frei zu ihnen Stellung beziehen, selbst dann, wenn diese Motivkräfte einen großen Druck auf ihn ausüben.300 Weiter kann er nicht nur zwischen verschiedenen Motiven wäh­ len, etwa gemäß sittlichen oder anderen Vernunftgründen, sondern sich überhaupt einer Wahl verweigern. Wünsche, Ängste und Motive wirken keineswegs, wie G. Streminger mit D. Hume und A. Schopen­ hauer meint, wie mechanische Kräfte, was sie übrigens nur behaupten und nirgendwo erweisen. All das bedeutet andererseits nicht, dass, wie diese Autoren behaupten, die Willensentscheidung »ursachlos« und völlig willkür­ lich bzw. zufällig wäre. Im Gegenteil ist die Ursache der Entscheidung Vgl. G. Streminger (1992, 117ff.). Siehe G. W. Leibniz (1710, § 288) in seiner Theodizee: »Die freie Substanz entscheidet sich durch sich selbst, und zwar gemäß dem Motiv des vom Verstand erkannten Guten, das sie anreizt, ohne sie zu zwingen.« Diese richtige Sicht auf die menschliche Freiheit schränkt G. W. Leibniz allerdings dadurch bedenklich ein, dass er betont, dass sich immer und unausweichlich das stärkste Motiv im Seelenhaushalt durchsetze, wobei ungeklärt bleibt, was unter »stark« zu verstehen ist. Es scheint, als verstehe G. W. Leibniz darunter eine quantitative, fast energetisch-mechanische Größe. Nicht von ungefähr spricht er in seiner Theodizee B. 52 vom Menschen als einem »geistigen Automaten«, in dem eine »Vorstellung« die nächste quasinotwendig nach sich ziehe: »Alles ist also im Menschen wie überall im Voraus sicher und bestimmt und die menschliche Seele ist somit eine Art geistiger Automat.« Diese Lehre wird der Realität des Psychischen nicht gerecht. Ähnlich argumentiert A. Schopenhauer, der meint, dass »aus dem Motiv unausbleiblich die Tat« folge (s. Zitat bei F. Billicsich, 1959, 24). 299

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2.11. Freiheit und Unfreiheit als fundamentale Leidensquellen

der Wille selbst, allerdings meist im Zusammenhang mit einer sinn­ haft, vom Entscheidenden beurteilten und gewerteten inneren und äußeren Situation. Wäre dem nicht so, und wäre der Wille bzw. der Mensch überhaupt keine eigenständige Ursache, gälte es, weiter zu fragen und zu versuchen, die Ursache der motivationalen Ursachen für die Willensentscheidung zu ermitteln. Wäre diese ermittelt, hörte das Fragen keineswegs auf, sondern müsste ins Endlose fortgesetzt werden. In diesem regressus ad infinitum, der schon aus anderen Gründen als selbstwidersprüchlich erkannt wurde, würde man nicht zu einem Ende bzw. ersten Anfang gelangen, und also gäbe es überhaupt keine Ursache für die ganze Wirkungskette des Seins, was direkt selbstwidersprüchlich ist. Weiter gilt, dass die Handlungsfreiheit, von der jene Autoren sprechen, unter den von ihnen gemachten Voraussetzungen nur scheinbar bestünde und nicht wirklich frei vollzogen würde, da sie total von ihren Vorbedingungen wie Reizen, Neigungen, Wünschen etc. bestimmt wäre. Auf diesem deterministischen Hintergrund wirkt es befremdlich, mit welcher Betonung diese Autoren an der Verant­ wortlichkeit des Menschen festhalten. Wie aber sollen ein Wille und das ihm folgende Handeln zurechnungsfähig sein, wenn sie von Naturgesetzen und unbewussten Naturprozessen streng determiniert sind? So wird der Mensch zum vollendeten Automaten, der gemäß der hier vorgelegten Analyse nicht leiden – und auch nicht fragen und erkennen – können dürfte. Nach der Klärung der Kausalverhältnisse kann jedoch nur das eine gelten: Der Wille des Menschen ist frei, allerdings in beschränkter Weise, und so ist er auch abhängig, vielfach beeinflussbar und verletzbar, Letzteres vor allem aufgrund seiner Leibabhängigkeit, Intersubjektivität und Weltausgesetztheit.

2.11. Freiheit und Unfreiheit als fundamentale Leidensquellen: Sehnsucht nach absoluter Autonomie und das Faktum der Nichtsverfallenheit Mit den letzten Ausführungen wird einer der empfindlichsten Punkte der menschlichen Existenz berührt. Schaut man sich in der Geistes­ geschichte um, trifft man wiederholt auf eine bestimmte existenzielle Grundfigur: Der Mensch – aufgeschreckt von seiner Preisgegeben­ heit, Vergänglichkeit und Abhängigkeit – erwacht zu seiner inneren

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Freiheit, bäumt sich heroisch auf und erstrebt die totale Autonomie.301 Dieser Impuls kann sich zur radikalen Askese aufschwingen, so etwa beim jungen Buddha, in der ein Mensch die völlige Selbstbefreiung erstrebt und erkennen muss, dass er sich damit zu zerstören droht. F. Nietzsche (1844–1900) ist eine andere Figur, die im Konzept des Übermenschen die absolute Autonomisierung des Selbstseins erstrebte, und selbst I. Kant (1724–1804) huldigte diesem Ziel, obschon ins Innerlich-Moralische gewendet, wo er die Möglichkeit der unbeschränkten sittlichen Autonomie des Menschen im Sinne der »Selbstgesetzgebung der Vernunft« lehrte.302 Vor allem die neuzeitliche Philosophie wird durch die wachsende Neigung charakterisiert, das menschliche Subjekt zu verabsolutieren und damit in die unumschränkte Freiheit zu erheben.303 Dass dies gescheitert ist, steht heute außer Frage: Der Mensch ist weder phy­ sisch noch sozial noch sittlich total autonom und kann dies auch nicht werden, im Gegenteil überspannt er sein Wesen, wenn er sein physisches, metaphysisches und sittlich grundlegendes Angebunden­ sein verkennt.304 Schließlich ist, wie die Existenzphilosophie betont, seine Nichts­ verfallenheit durch keine geistige oder technische Operation zu überwinden und beweist mit dem Tod die radikalste Heteronomie, die dem Menschen auferlegt ist. Da hilft kein »Vorlaufen in den Tod«, wie M. Heidegger meint, weil der eigene Tod nicht antizipiert oder probeweise durchlebt werden kann.305 Vom Tod werden die Menschen letztlich überwältigt. Das Beste, was sie tun können, ist, sich ihm hinzugeben. Und trotzdem: Allein die Tatsache, dass sich der Mensch gegen die vielen Heteronomien seines Lebens auflehnt, beweist eine tiefste Befreiungs-, Emanzipations- und Freiheitssehnsucht, die der Erklä­ rung bedarf. Kein Tier zeigt diesen transnaturalen Zug; kein Tier will Vgl. besonders das Alte Testament, Buch Kohelet. Siehe I. Kant (Werke, Bd. IV, 2011, 74ff.). 303 Der Höhepunkt wird mit J. G. Fichte, F. W. J. Schelling, G. W. F. Hegel, dann mit M. Stirner und F. Nietzsche erreicht. Pervertierungen dieser Tendenz haben sich in der Geschichte wiederholt ausgewirkt, nicht zuletzt bei A. Hitler. 304 Damit wird partielle, eingeschränkte Autonomie nicht geleugnet, sondern vor­ ausgesetzt. 305 Siehe M. Heidegger (1979, 235ff.). Konträr dazu E. Blochs (1973, 282) »alter Grabspruch der Leiche an den noch droben stehenden Leser«: »Was du bist, das war ich, was ich bin, das wirst du. Dies zu bestehen, dazu gehört ein anderer Mut als der zum Leben und Sterben, als schwerem oder schalem, je nötige.« 301

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2.12. Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit

ganz frei sein und sich aus seiner Umweltnische lösen. So ist der Mensch mehr, als ihm gemäß zu sein scheint, gebunden. Wie ist das zu verstehen? Und woher rührt dieses Gefangenheitsgefühl, das so viele Mythen, Religionen und Philosophien beschreiben? Wenn es sich um keinen Trug handelt, was unwahrscheinlich ist, dann handelt es sich um eine Grundquelle des Leidens, die nie ganz zur Ruhe kommt, weil diese Sehnsucht nach vollkommener Freiheit im Hiesig-Endlichen (E) nicht gestillt werden kann. Wenn sie aber im Hiesigen nicht erfüllt werden kann, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass sie überhaupt nicht aus dem Hiesigen stammt. Im Abschnitt IV. soll gezeigt werden, dass jedes Wesen, das selbsttätig-wirkfähig ist, sich im zweiten Seinsrang befindet und damit über begrenzte Freiheit und Autonomie verfügt, ein wesenhaft kreatives, damit unerschöpfliches, also potentialunendliches (pU) Wesen ist, dessen natürlich-übernatürliches Wesensziel das Aktualunendliche (aU) und damit das Allleben der Gottheit ist. Trifft dies zu, wird die ungeheure Spannung sichtbar, in der der Mensch steht: als pU-Wesen im E der Welt auf das aU der Gottheit hingeordnet zu sein. So aber erweist er sich als das pathische Wesen par excellence.

2.12. Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit; Reinigung des Gottesbegriffs von Anthropomorphismen und die Unmöglichkeit der unmittelbaren Leidzufügung durch Gott Wie dargestellt, existiert ein schlechthinniges Sein, ein vorausset­ zungsloses Ursein, und zwar als unendlich-zeitloses, seiner selbst be­ wusstes, darum personales Ur-Ich, das sich regressiv-analytisch aus der Zeit als der notwendige Ursprung der werdenden Welt erschließen lässt. Da dieses Ursein nur sich selbst bestimmt und durch nichts anderes (direkt) bestimmt werden kann, ist es aktiv und frei, mehr noch schlechthin frei: Jede Bestimmung, die es hat, hat es von und aus sich selbst.306 Da es sich frei auf sich selbst zurückzubeziehen vermag, ist es notwendig bewusst, also geistig; und da es sich selbst total annimmt, schätzt, sich ganz und ohne Vorbehalt rezeptiv aufnimmt, Siehe Thomas v. Aquin (1985, 22ff.), vor allem dort den Kontingenzbeweis mit dem klassischen Ausdruck für das Absolute: »ens a se«.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

durchdringt und umfasst, und dies schließlich mit reiner Positivität (»Freude«) im Ursein selbst tut, ist es Liebe. Die reine absolute Fülle bedingt die Mangellosigkeit im Absolu­ ten, die Zeit- und Werdelosigkeit dagegen die Unmöglichkeit zu leiden und die absolute innere Harmonie die Unmöglichkeit von Zwiespalt, Hemmung und Zwietracht. Dadurch, dass es sich ganz und damit unendlich bestimmt und ganz und damit unendlich hat, ist es seiner vollkommen mächtig, also allmächtig; dadurch, dass es sich, ganz und damit unendlich schauend, durchdringt, weiß es sich vollständig, ohne Rest und Dunkel, ist also allwissend; und dadurch, dass es alles, was ist, unendlich ermöglicht, trägt, belebt, erkennt und zur Vollendung führt, ist es Güte und Liebe. Damit liegen die Kriterien vor, die herkömmlichen Gottesbilder kritisch zu überprüfen und von eventuellen menschlichen Wunschund Angstprojektionen zu reinigen. Und da muss zunächst gesagt werden, dass alle bekannten Gottesvorstellungen, selbst die von Paulus, Augustinus307 und M. Luther, in Teilen problematisch und allzumenschlich sind. Die oben gegebene Wesensbestimmung der Gottheit zeigt, dass Gott unmöglich kränkbar, zornig, rachsüchtig, ängstlich, reuig, neidisch und grausam sein kann; auch als traurig, mitleidig, hilflos, suchend und wünschend kann er nicht gedacht werden, da mit allen diesen Zuständen notwendig Mangel, Leid, Unzufriedenheit, Unglückseligkeit, Beschränktheit und vor allem Zeitlichkeit verbunden sind.308 Siehe P. Ricoeur (2006, 32). Er spricht im Falle von Augustin wohl nicht zu Unrecht von einer »antignostischen Gnosis«, in der – versteckt im Erbsündekonzept – die Entwertung des Leibes, das alte Vergeltungsprinzip und das Bild eines irratio­ nal-willkürlichen Gottes zum Austrag kommen. Diesem Eindruck kann man sich insofern bei Augustin (1948, 80ff.) nicht erwehren, als er aus seiner Erbsündenlehre – in seinem System konsequent – folgert, dass alle Menschen schon mit der Geburt gerechterweise verdammt sind und nur deswegen erlöst werden, weil Gottes Erbar­ men das Urteil der Gerechtigkeit aufhebt und – aus rätselhaften Gründen – eine kleine Menge Menschen von der Verdammnis losspricht. Wenn Gott, so Augustinus, ein Neugeborenes verdamme, dann sei dies trotz seiner persönlichen Sündlosigkeit (?!) deswegen gerecht, weil es der Erbsünde unterliege und daher die Verdammnis verdiene. Vgl. hierzu kritisch K. Flasch (2012), Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397. 308 Hier ist die reine Gottheit in sich, nicht im Menschen Jesus gemeint, in dem Gott in gewissem Sinne mitzuleiden vermag, auf jeden Fall mitfühlt. Dass Jesus als Gottmensch leidet, steht außer Frage. Vgl. zum leidenden und werdenden Gott A. Kreiner (2005, 173ff.); ähnlich P. S. Fiddes, J. Moltmann, A. N. Whitehead, aber auch K. Rahner (1967, Bd. 1, 169–222, hier 202, Anm. 2), der fast »hegelisch« davon spricht, dass 307

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2.12. Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit

Heißt das aber, Gott sei gefühllos? Das wäre ein Kurzschluss, der nicht selten Mitgefühl und Leiden voreilig gleichsetzt.309 Wenn Gott reine Liebe ist, dann können auch Mitgefühl und Barmherzigkeit in ihm bestehen, sind diese beiden Haltungen doch positive, in keiner Weise defizitäre, sondern zum Geschöpf hin überquellende Formen der Liebe: Gefühle sind keineswegs, wie die rationalistische Tradition – so etwa bei den Stoikern und I. Kant –310 meinte, bloß weil sie Gefühle sind, leidvoll, mangelhaft, irrational oder gar pathologisch. Im Gegenteil sind sie Leben, gefühltes Leben, inneres Leben, gelebte Fülle. Manche Gefühle, die das endliche Sein des Menschen spiegeln, sind dagegen wohl mit Mangel und Leid verknüpft, so der Zorn, die Traurigkeit, die Angst, die Schuld, die Sehnsucht, die Niedergeschla­ genheit, die Verzweiflung, erst recht Neid, Hass, Rache, Missgunst und Depression, nur impliziert dies keineswegs »Pathologie«, son­ dern spiegelt den Werdestatus des Menschen wider. Gott kann sich nicht sehnen, sich ängstigen, erzürnen oder leidend bedrückt sein, das lässt seine Seinsfülle nicht zu. Doch Mitgefühl hat er, und zwar ohne Mangel, Beschränktheit, Ohnmacht, Aufbegehren und Sehnsucht nach Heil, ohne die das Leiden in der Tat unmöglich ist. Solches Mitgefühl übt Gott unentwegt, wenn auch oft nur verborgen, leise und am tiefsten Punkt der Seele, wo sie sich selbst kaum spürt. Warum das so ist, soll im Abschnitt VI. erörtert werden. Zusammengefasst: Leid und Übel sind weder durch einen zorni­ gen, rachsüchtigen und im menschlichen Sinne strafenden noch durch

Gott zwar nicht an und in sich, aber am Menschen bzw. an der Welt zum werdenden Gott wird, was allerdings mit logischen Inkonsistenzen erkauft wird. 309 A. Kreiner (2005, 174) behauptet ohne sachliche Begründung: »Liebesfähigkeit impliziert offenkundig Leidensfähigkeit.« Hier wird weder durchdacht, was Leiden noch was Liebe ist. Liebe als Mitgefühl und Erbarmen sieht und nimmt das Leiden an, aber leidet nicht selbst, sondern überbietet das Leiden durch ihren Seinsüberfluss und »deckt« es gleichsam zu, füllt seinen Mangel aus, tröstet, gleicht aus, erhebt und erfüllt. Schon im menschlichen Leben begegnet die Situation, dass eine Trostspende zwar mit Mitgefühl, aber nicht notwendig mit Leiden und oft mit Freude, helfen zu können, einhergeht. Für den endlichen Menschen, der viele Leiden nicht beheben kann und ohnmächtig vor ihnen steht, ist es charakteristisch, dass er nicht nur mitfühlt, sich erbarmt, tröstet und »die Tränen wegwischt«, sondern selbst leidet, ohnmächtig, ratlos und in seinem Helfenkönnen beschränkt ist. Das Leiden im menschlichen Mitfühlen ist also gerade der Ausdruck dafür, die Übel nicht beheben zu können. Dies trifft für Gott nicht zu, der alle Übel beheben kann, auch wenn er dies nicht sofort tut. Warum das so ist, wird später dargelegt (Abschnitt VI.). 310 Vgl. I. Kant (1983, 3. Buch).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

einen hilflosen Gott, der dem Leid machtlos gegenüberstünde, ver­ stehbar und erklärbar.311 Damit stellt sich die Frage, ob Gott als Gott überhaupt Leid zufügen und Schaden anrichten kann. Dass er Leid und Schädigung in seiner Schöpfung zulässt, ist empirisch gewiss; und dass er sie nutzt, um andere Sinnmöglichkeiten damit zu befördern, ist sehr wahrscheinlich und mit seinem urpositiven Schöpfergeist notwendig verknüpft. Denn Gott kann das Schlechte und Böse selbst nicht wollen, das widerspricht seinem Wesen, aber er kann es, wenn es seine Geschöpfe tun, zulassen, lenken und zur Ermöglichung eines umfassenderen Gutes nutzen. Dabei übersteigen seine Pläne, die stets aufs Ganze der Schöpfung dem Inhalt, dem Raume und der Zeit nach gehen, die Vorstellungskräfte des Menschen, weswegen die Menschen den möglichen Letztsinn des Leidens im Einzelnen meist nicht erken­ nen können. Im Allgemeinen lässt sich aber manches wissen, wie der Fortgang der Arbeit zeigen wird, doch apriori ist klar, dass Gott Leid und Schaden unmöglich direkt und nur um ihrer selbst zufügen kann (wie das im menschlichen Strafsystem verbreitet ist), weil dies seine wertmäßige Urpositivität und wertmäßige Urfülle beeinträchtigen würde.312 Daher ist er als strafender oder sich rächender Gott im Sinne des »Auge um Auge, Zahn um Zahn« wesenhaft nicht denkbar – das sind menschliche Projektionen, die dem bloßen Ausgleichs- und

Im göttlichen Sinne »straft« auch Gott. Doch indem er dem Geschöpf etwas »Negatives« zufügt, sei es direkt oder, wie meist, indirekt, hat er ein größeres Positivum im Blick, letztlich das Heil aller Geschöpfe und ihren Platz in Gott. Denn da in Gott wesenhaft nichts Negatives sein und von ihm nichts Negatives ausgehen kann, ist er die Urpositivität und Letztpositivität schlechthin. Die Menschen dagegen strafen zumeist, auch heute in den modernen Rechtsstaaten, um ein Negativum durch ein anderes Negativum auszugleichen, um »zu vergelten«, nicht um zu bessern oder das Bewusstsein zu wecken oder Wiedergutmachung zu ermöglichen. Dadurch wird das Negative vermehrt, nicht gemindert oder in Positives überführt. Statt »strafen« wäre es im Falle Gottes bzw. im Falle einer humanen Ethik angemessener von »richten« im dreifachen Sinne von »urteilen«, »recht machen (wiedergutmachen, zurechtrücken)« und »aufrichten« zu sprechen. Gott rückt alles zurecht, in und vor allem am Ende der Zeiten – und richtet dadurch auf. 312 Auch N. Hoerster (2017, 19), der das Theodizeeproblem behutsam und differen­ ziert behandelt, geht ohne weiteres Hinterfragen davon aus, dass Gott die Schöpfung mit allen ihren Mängeln direkt und unmittelbar geschaffen habe, womit Gott seines göttlichen Status verlustig geht. Gäbe es keine andere Lösung, die ich später vorstellen werde, wäre der Glaube an Gottes Allmacht und Allgüte widersinnig und müsste aufgegeben werden. 311

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2.13. Das schlichthinnige Sein bei Parmenides

Rachebedürfnis des Menschen, man könnte auch sagen, einem allzu menschlichen Gerechtigkeitsgefühl entspringen.

2.13. Das schlichthinnige Sein bei Parmenides und die Theorie des Allbewusstseins in der indischen Spiritualität Von der Warte aus, die mit den letzten Erkenntnissen gewonnen wurde, kann Stellung zu zwei Deutungen des Absoluten bzw. Gött­ lichen bezogen werden, die geistesgeschichtlich große Wirksamkeit entfaltet haben. Parmenides313 erfuhr auf seiner geistigen Reise in das Reich der Wahrheit, dass das Sein vollkommen, »rund«, unendlich und vollständig unbewegt ist. Was bewegt und wandelbar ist, schien ihm nichtiger Schein. Das ist tief geschaut, denn in der Tat kann das Sein in seinem Urstand nicht veränderlich sein, vor allem nicht, wenn es unendlich, vollständig und vollkommen ist. Wer seine Intuition schult, kann erfassen, dass der Gedanke, das Sein als solches und ganzes sei einmal entstanden, widersinnig ist. Denn woher soll es entstanden sein? Aus und von Nichts? Wenn aber das Nichts solches vermag, ist es ein gewaltiges Sein, ein Übersein, wie Platon sagen würde. Im Fragment 8 begründet dies Parmenides in logisch überzeu­ gender Weise: »Also ist es unumgänglich, dass es entweder ganz und gar ist oder überhaupt nicht. Aber auch nicht aus Seiendem: denn die Kraft der Überzeugung wird es nie zulassen, dass etwas darüber hinaus entsteht. Ebendeswegen hat Dike es nicht, die Fesseln lockernd, freigegeben, dass es werde oder untergehe, sondern sie hält es fest [...] Denn weder ist es, wenn es entstanden wäre, noch wenn es künftig einmal sein sollte. Also ist Entstehung ausgelöscht und unerfahrbar Zerstörung. Auch teilbar ist es nicht, da es als Ganzheit ein Gleiches ist. Es ist ja nicht irgendwie an dieser Stelle ein Mehr oder an jener ein Weniger, das es daran hindern könnte, ein Geschlossen-Zusammenhängendes zu sein, sondern es ist als Ganzheit von Seiendem innen erfüllt.«314

Darum ist es nach Parmenides unbeweglich, unveränderlich, anfangs­ los und ohne Aufhören, also ohne Ende, vollendet, mangellos (»Denn wäre es mangelhaft, so würde ihm an allem mangeln«, 1981, 13). Und 313 314

Vgl. Parmenides (1981). Siehe Parmenides (1981, 11f.).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

all das gilt im Modus der »Unentrinnbarkeit« und »Verlässlichkeit«, womit Parmenides das Nicht-nicht-Sein-können, das Seinmüssen, die schlichthinnige Notwendigkeit des Seins meint. Zweifellos ist dies alles sehr tief gesehen, nur gilt es nicht für das Weltsein, den Kosmos, sondern für das Sein als solches, das Sein schlichthin, das Parmenides allem Anschein nach hier unmittelbar und intuitiv erschaut. Und dennoch, die Lösung des Parmenides befriedigt nicht: Auch wenn man das flüchtige Weltsein zum bloßen Schein erniedrigt, ist trotzdem die Bedingung der Möglichkeit von Schein überhaupt zu klären. Denn rein nichts ist der Schein offensicht­ lich nicht, also verlangt er einen zureichenden Grund. Außerdem ist nicht zu leugnen, dass dieser angebliche Schein zum Menschsein gehört, ihm zusetzt, sehr zählebig und schließlich unüberschaubar reich an Vielfalt, Gestalt, Dynamik und Sinn ist. Ins Zentrum des Problems dringt deswegen die Frage, in wel­ chem Zusammenhang das Ursein und das Scheinsein stehen. Diese Frage, die zu den wichtigsten gehört, klärt Parmenides nicht. Und da gilt, dass erstens ein Zusammenhang bestehen muss – sonst wäre das Sein in zwei unüberbrückbare Hälfen getrennt, was widersinnig ist – und dass die Dynamik des Scheinseins zweitens einen aktiven Seinsurgrund voraussetzt. Wäre die vollkommene Ruhe des parmen­ ideischen Seins als absolute Untätigkeit aufzufassen, was Parmenides wahrscheinlich nicht tut, da er es mit dem Denken gleichsetzt, hätte das Scheinsein nicht entstehen können. Da dieses jedoch unleugbar da ist, eben als werdende Welt, muss das Sein in seinem letzten Grund aktiv, tätig und dynamisch sein. Ist es aber dies, dann kann es, weil es durch anderes nicht bedingt sein kann, nur selbsttätig, selbstbestimmend, also frei und, weil es sich selbst frei ergreift und vollzieht, bewusst sein. Das Ursein ist rein untätig und damit geistlos nicht denkbar; es ist, mittelalterlich mit Thomas v. Aquin gesprochen, »actus purus«.315 Das führt zur zweiten Konzeption, die auf dem indischen Sub­ kontinent weite Verbreitung gefunden hat und heute in den spiri­ Siehe Thomas v. Aquin (1985, 27f.): »Deus est actus purus, non habens aliquid de potentialitate.« Die Bezeichnung »actus purus« geht auf Aristoteles zurück: »actus« ist das lateinische Wort für energeia. In seiner Metaphysik, XI, 7, 1072b, ff. kennzeich­ net Aristoteles den unbewegten Beweger als reine energeia, reine totale Wirklichkeit, in der – im Gegensatz zur Auffassung J. Böhmes, F. W. J. Schellings, G. W. F. Hegels, Ed. Hartmanns und A. N. Whiteheads – nichts Potentiales ist. 315

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2.13. Das schlichthinnige Sein bei Parmenides

tuellen Kreisen Europas und Amerikas, z. B. bei Ken Wilber und Willigis Jäger, sehr beliebt ist. Sie denkt sich das absolute Sein als reines, vollkommen ruhendes Bewusstsein, als kontemplatives Allbewusstsein, in dem sich die vergängliche Welt wie die Welle im Meer bewegt. Kommt das Meer zur Ruhe, verschwindet die Welt, als wäre sie nie gewesen, im Allbewusstsein. So lehrt es der Benediktiner und Zen-Buddhist Willigis Jäger.316 Ist dieses Konzept haltbar? Wohl nicht. Man fragt sich spontan, warum sich das unendliche und vollkommen ruhende Meer über­ haupt zu bewegen beginnt? Wie kann die absolute »Leere« plötzlich in Unruhe geraten, in die bunte Vielfalt der endlichen Gestalten zerfallen, zu leiden und zu kämpfen beginnen und schließlich wieder alles in ihre absolute Leere, unbewegt und differenzlos, auflösen? Der Widerspruch reicht noch tiefer: Bewusstsein als Bewusstsein ist weder leer noch untätig. Denn zumindest ist es mit sich selbst erfüllt, und diese Fülle ist im Falle des unendlichen Bewusstseins unendliches Selbstwissen, unendliche Ruhe, Gelassenheit, unendli­ cher Frieden, wohl auch reine mangellose Freude, reines Glück, unendliche Kraft (nämlich selbst zu sein), und also ist es unendliches Leben. Mitnichten ist hier »Leere« und »nichts«, sondern das pure intensive Gegenteil. Stellt man die Frage, wie sich Bewusstsein qua Bewusstsein konstituiert und vollzieht, erhellt, dass Bewusstsein als untätiges oder bloß kontemplativ-schauendes Sein nicht gedacht werden kann. Bewusstsein ist dadurch Bewusstsein, dass es sich auf sich selbst bezieht, sich ergreift, sich weiß und sich will, also sich bejaht und annimmt. All dies sind aber höchst aktive Vollzüge, echte Tätigkeiten, keineswegs bloß passives Ruhen oder »unwillkürliches Wogen«. Selbst die vorwiegend rezeptive Selbstschauung kommt ohne ein aktives Moment nicht aus, muss doch das Ursein, wenn es Bewusst­ sein ist, sich auch anschauen wollen, sich auf sich selbst richten und sich selbst, indem es sich schaut, annehmen. Wenn aber dieses Bewusstsein als unendliches die Kraft und Größe besitzt, sich selbst, sprich sich in seiner Unendlichkeit zu umfassen und zu durchdringen, dann ist es auch fähig, Endlich-Vergängliches hervorzubringen, sich also endliches Sein gegenüberzusetzen. Für die Menschen, die in diese Welt gebannt sind, kann das nur heißen, dass der Urgrund des Seins nicht nur ein Allbewusstsein ist, das die – nach W. Jäger 316

Vgl. W. Jäger (2001).

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

angeblich anfangslose – Welt »wie das Meer die Welle« umfasst, son­ dern ein schöpferisches Wesen, das zwar aus nichts, aber von sich her, und d. h. aus seiner unendlichen Kraft und Fülle, das »Meer der Welt« erschafft, ihm einen ersten Anfang setzt und es mit seinem dramati­ schen Wogen durch die Zeit trägt.

2.14. Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild: die Verkennung der Gebrochenheit der Existenz oder der Mensch in naiver Weltgeborgenheit Bibelfeste Menschen wissen um die Hiobsgeschichte im Alten Testa­ ment, und Unbelesenen ist das Sprichwort von der »Hiobsbotschaft«, die von einem maßlosen Unglück berichtet, das über einen Unschuldi­ gen in irrationaler Weise hereinbricht, bekannt. Und in der Tat erlitt der biblische Hiob, nachdem er ein langes gesegnetes, ja »steinrei­ ches« Leben führen durfte, eine Folge von entsetzlichen Unglücks­ schlägen, die ihm alles – Familie, Haus, Hof, Gesinde, Getier und schließlich auch die eigene Gesundheit – raubte, so dass er schließlich, in Sack und Asche sitzend, mit seinem Gott haderte und an dessen Gerechtigkeit und Güte zweifelte. Obwohl es Vorläufer dieses Glaubensdramas in der jüdischen Bibel (und in sumerischen Schriften) durchaus gibt, so etwa den Propheten Jeremias, stellt das nach der babylonischen Gefangenschaft zwischen 500 und 100 v. Chr. geschriebene Hiobbuch doch ein ungeheuerliches Novum dar, in dem mehrere Dinge Epoche machen: 1.

2.

Zum Ersten wird hier eine existenzielle Tatsache in die Form einer Parabel gegossen, die alle Menschen kennen und mehr oder weniger beklagen: die oft massive Ungleichverteilung von Glück und Unglück bzw. das unverständlich-übermäßige Leiden der Guten und das selbstgefällige Wohlergehen vieler Bösen. Zum Zweiten ermächtigt sich hier ein Mensch ganz aus dem Eigenen heraus und beansprucht das Recht zu fragen, zu zweifeln und im Angesicht offensichtlichen Unrechts gegen die Schöp­ fungsordnung und ihren Urheber selbst, Gott, aufzubegehren. Die Gestalt des metaphysischen Rebellen betritt die Bühne der

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2.14. Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild

3.

4. 5.

Weltgeschichte, die sie bis zum Jüngsten Tag wohl nicht mehr verlassen wird.317 Zum Dritten wird das bisherige Gottesbild des eifernd-zür­ nenden, oft willkürlich-agierenden Jahwegottes bzw. der Rück­ schluss von Unglück auf Sünde318 explizit infrage gestellt und als nicht mehr tragfähig befunden. Die Schöpfungsordnung des allmächtigen Jahwes erhält, da er offenkundig nicht in der Lage ist, für Gerechtigkeit zu sorgen, Risse und wird unglaubwürdig. Zum Vierten beteuert hier ein Mensch, dass er ohne Gerechtig­ keit nicht glücklich werden kann und nicht bereit ist, diesen Zustand widerspruchslos hinzunehmen.319 Und schließlich ringt hier ein Mensch um seinen Gott, den er zwar nicht verlieren will, aber auch nicht mehr so wie bisher hinnehmen kann – er will ihn anders, transparenter, sittlich integrer, »menschlicher« und kooperativer.320 Religionsphiloso­ phisch betrachtet, hat man hier das Zeugnis eines neuen Huma­ nismus vor sich, der die Ethisierung und Humanisierung des Gottesbildes einfordert.

Albert Camus schrieb zu dieser Figur 1951 sein Buch Der Mensch in der Revolte. So genannter Tun-Ergehen-Zusammenhang (Vergeltungsgerechtigkeit): Ursache von Glück ist Rechtschaffenheit; Ursache von Unglück Sünde. Bald soll allerdings gezeigt werden, dass dieser Zusammenhang auch dann vorliegt, wenn ein rechtschaf­ fener Mensch meint beanspruchen zu dürfen, glücklich zu leben. Für den gläubigen Juden um diese Zeit hat die Vergeltungsgerechtigkeit allerdings eine weit existenzi­ ellere Bedeutung als für Christen oder Moslems, da für ihn die Unsterblichkeit der Einzelseele nicht existiert, er also darauf angewiesen ist, dass schon im Diesseits für Gerechtigkeit gesorgt werde! 319 Fjodor Dostojewskij macht dieses Dilemma zu einem Hauptthema seines Romans Die Brüder Karamasow, vor allem in der Figur des Iwan Karamasow. 320 E. Bloch (1973a, 118–134) spricht daher im Falle der Hiobrevolte treffend vom »Auszug aus Jahwe« und meint damit die Enttheokratisierung des jüdischen Gottes­ bildes. Nicht mehr autokratische Befehlsgewalt und brutales Machtgebahren, sondern moralische und menschliche Integrität sollen das Antlitz Gottes auszeichnen. Von daher geht es auch nicht um den Auszug aus Gott schlechthin, wie Bloch (übertrei­ bend) meint, sondern nur um den Auszug aus einem bestimmten, nämlich dem von der damaligen orientalischen Despotie geprägten Bild des Willkür-, Straf- und Gewaltgottes (der im AT allerdings auch barmherzige Seiten hat). Um so irritierender ist es, wie z. B. auch H. Zahrnt (1985) betont, dass sich Hiob am Ende doch wieder unter den alten Gott (besser: die alte Gottesvorstellung) begibt, der sich genau jener Argumente gegen Hiob bedient, die zuvor die Freunde Hiobs lang und breit vorgetragen haben und die von Jahwe explizit verworfen worden waren. Man könnte mit Blochs Worten sagen, »Der alte Jahwe zieht wieder ein«. 317

318

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Weil Hiob das Unrecht, das ihm widerfährt, nicht ertragen kann, begehrt er auf, stellt bohrende Fragen und versucht, seinen Gott vor den »Gerichtshof« der ethisch sich rechtfertigenden Vernunft zu ziehen. Auch wenn dies sowohl subjektiv als auch objektiv, d. h. sowohl aus der Sicht Hiobs (und seiner Selbsteinschätzung) als auch vom Standpunkt einer allgemeinen Ethik, völlig berechtigt, ja unum­ gänglich ist, so fragt sich, ob Hiobs Verhalten auf dem Hintergrund der allgemeinmenschlichen Alltagserfahrung, speziell aber auch auf dem Hintergrund des jüdischen Weltbildes angemessen ist. Und in der Tat, hier drängen sich Fragen auf. Zum ersten: War Hiob in seinem langen glücklichen Leben nie Zeuge von Unglück und Unheil geworden? Traf es nicht täglich Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld, die schuldlos krank wur­ den, schuldlos einen Unfall erlitten, schuldlos beraubt, geschlagen, verfolgt, verschleppt, verletzt, gedemütigt, ausgebeutet und ermordet wurden? Wenn er aber solches schon erlebt haben sollte, was man unterstellen muss – wieso konnte er dann ernsthaft glauben, ihn würde solches nie ereilen? Bloß weil er gottesfürchtig lebte und sich nie hatte Böses zu Schulden kommen lassen? Warum traf es dann aber die vielen anderen, die doch gewiss nicht alle unfromme Gottes­ verächter waren, die ihr Unglück verdienten?321 Da Hiob von seiner Nach W. Eichrodt (1974, 336–345), dessen Werk einen tiefen Einblick in das religiöse Denken der Israeliten gibt, liefert das Hiobbuch ein Gleichnis für das Zerbre­ chen der spätjüdisch-rationalistischen Theodizee mit ihrer, von den Freunden Hiobs vertretenen Vergeltungsmechanik (Unglück folgt Sünde). Dem ist zuzustimmen. Doch erkennt Eichrodt nicht (im Gegensatz etwa zu G. E. Lessing, der dies durchaus sah), dass Hiobs Denken von derselben Vergeltungslogik bestimmt ist, nur mit umge­ kehrten Vorzeichen, da er als Entsprechung seiner Frömmigkeit ein glückliches Leben einfordert (Glück folgt Gutsein). Außerdem verkennt Eichrodt, bedingt wohl durch seine protestantisch-voluntaristische Einstellung, dass mit der berechtigten Widerle­ gung der Vergeltungstheodizee keineswegs alle Theodizee zuschanden wird, zumal die quälenden Zweifel Hiobs, wie Eichrodt unterstellt, durch das drohend-erzürnende Machtgebaren Jahwes im »Wettersturm« (Hiob 38, 1–41) überhaupt nicht aufhören und keineswegs einem echten inneren Frieden Platz machen. Fundamentalethisch müsste man hier von einem Kategorienfehler der Erzählung sprechen, da sich ein innerer ethischer Konflikt nicht durch eine physische, »schöpfungstheologische« (Macht-)Antwort beheben lässt: Mag die Schöpfung (und damit ihr Schöpfer) noch so gewaltig, groß, herrlich und voller Macht und Weisheit sein, sie kann nicht einmal, wenn sie sonst nichts bietet (nämlich keine Wiedergutmachung), das kleinste Unrecht, das einem Kind widerfährt und ungesühnt bleibt, wie F. Dostojewskij und vorher schon A. Schopenhauer richtig betonen, aufwiegen. Keine »Ganzheit und Harmonie des Kosmos« kann, wie das zuweilen bei G. W. Leibniz, F. Brentano u. a. anklingt, 321

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2.14. Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild

(angeblich vollkommenen) Sündlosigkeit auf das Recht von Leidfrei­ heit und Glück schließt, impliziert Hiobs Klage zwangsläufig auch den umgekehrten Rückschluss vom Unglück auf ein gottwidriges Verhal­ ten. Damit durchbricht er aber – und es ist überraschend, dass dies den bisherigen Hiobdeutungen entgangen ist!322 – den berüchtigten alttestamentlichen Tun-Ergehen- bzw. Vergeltungszusammenhang genauso wenig wie seine Freunde, gegen deren Sünden-Straf-Logik er sich (zu Recht) wehrt und die dafür sogar von Gott gerügt werden.323 So mutet, unbefangen betrachtet, der Aufschrei Hiobs zumindest naiv und weltfremd, im Angesicht der vielen schuldlos Leidenden, die es schon damals in Unzahl gab, fast sogar egozentrisch und herzlos an. Damit nicht genug, drängt sich im Horizont der jüdischen Theologie zweitens die irritierende Frage auf, ob der Verfasser des Buches Hiob die Thora, also das mosaische Gesetz, nicht kannte bzw. nicht anerkannte (!). Denn in Genesis 3 lehrt die Schrift, dass die menschliche Existenz auf dieser Erde grundsätzlich und unaufhebbar gebrochen ist, da sie ihren Lebensgrund und Lebensquell – Gott – selbstverschuldet verloren hat und sich so vom eigenen Heilsein das kleinste Unrecht rechtfertigen, da physische Macht und Herrlichkeit mit sittlicher Integrität nicht kommensurabel sind. Nur wenn die bisher so prekäre Schöpfung am Ende die letztgültige Überwindung und Wiedergutmachung von allem Bösen, Unrechten und Üblen erreicht, nur dann kann sie ethisch akzeptabel sein. Da das Gottesbild (nicht Gott an sich!) im Falle Hiobs aber noch auf der vorethischen Stufe, der prämoralischen »Machtstufe«, verharrt und mit einschüchternder Erhabenheit (vgl. conträr: Elia (1. Kön 19,12)) agiert, erreicht es die Stufe der höheren Ethik nicht. Man wird daher um den Versuch einer besseren »Patho- und Theodizee«, die sowohl metaphysisch als auch ethisch argumentiert, nicht herumkommen. Zur geistlich-sym­ bolischen Ausdeutung der Hioberzählung vgl. K. Hälbig (2011, 195–229). 322 G. E. Lessing ist hiervon eine bemerkenswerte Ausnahme. In seiner berühmten Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechtes von 1780 (Paragraf 16, 27, 29) weist er darauf hin, dass auch Hiob im Denken der irdischen Vergeltungsgerechtigkeit befangen bleibt. 323 Während I. Kant die Anschauung der Freunde Hiobs in seiner Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (2011, 103–124) als »doktrinale Theodizee« bezeichnet, bezeichnet er diejenige Hiobs als »authentische Theodizee«. Letztere, in der sich nach I. Kant das Gewissen (der kategorische Imperativ der sittlichen Vernunft) als Stimme Gottes praktisch-ethisch äußere, hält I. Kant durchaus für möglich bzw. authentisch, wogegen er eine jede doktrinale Theodizee, also eine rein theoretisch-spekulative Metaphysik bzw. Theodizee, etwa im Unter­ schied zu G. W. Leibniz, abweist. M. Enders (2011, 151f.) zeigt überzeugend auf, dass I. Kant keineswegs G. W. Leibniz widerlegt, sondern im Wesentlichen mit ihm sogar so sehr übereinstimmt, dass sich beide Theodizeen einander koordinieren lassen und ergänzen.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

abgrundtief getrennt hat. Entsprechend spricht an jener berühmten Textstelle Gott selbst zur Schlange324 jenes lastend-schwere Wort von der gegenseitigen existenziellen Feindschaft der Kreaturen (Genesis 3, 15ff.): »Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse. Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen. Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten habe: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.«

Das ist das Bild, das sich der jüdische Geist von der menschlichen Exis­ tenz gebildet hat, ein dramatisch-tragisches Bild, schwer gezeichnet von Unglück, Leid und Schuld, Verbannung, Mühsal und Arbeit, Feindschaft und Kampf, Not und Tod. Der Mensch ist aus der intimen Geborgenheit Gottes herausgefallen und in eine gottlose, damit zwangsläufig leid- und todverfallene Welt hineingestürzt – eine Sichtweise, die von der modernen Existenzialphilosophie in säkularisierter Form wieder aufgenommen wurde und von dieser kaum überboten wird. Hiob aber verhält sich so, und eben das müsste doch frappieren, da er ein frommer Jude ist, als hätte er vor seinem Unglück im Paradies gelebt, und pocht auf seine prälapsarische Logik: Während Adam und Eva in die Verbannung gerieten, weil sie gegen Gott gefrevelt hatten, darf sich er, Hiob, der sich gegen Gottes Schöp­ fungsordnung nie vergangen hat, gleichsam für immer unbedrohbar im »Schoße Abrahams« geborgen wissen. So zwingend diese Logik klingen mag, sie übersieht, dass nach jüdischem Daseinsverständnis mit der Verbannung der schuldigge­ wordenen Ureltern auch deren zunächst unschuldige Nachkommen mitbelastet wurden: Denn seit Adam und Eva lebt niemand mehr 324 Die Schlange steht gleichnishaft wohl am besten für die verführerisch-verschla­ gene, selbstherrliche Seite des Menschen, nicht für den Satan, den der biblische Jahwist zu seiner Zeit noch gar nicht kannte. Vgl. ähnlich K. Kühlwein (2003, 116–119).

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2.14. Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild

primär bei Gott im Paradies, sondern wird mit seiner Geburt sogleich in die »Wüste der Welt« ausgesetzt.325 Damit aber erhält die Existenz des Menschen grundsätzlich den Stempel der originären Seinsentfrem­ dung, Gebrochenheit und Nichtsverfallenheit, und zwar unabhängig von der Schuldfrage, was der Grund dafür ist, dass die jüdische Religion in der Sache zwar durchaus das Faktum der Erblast, aber nicht das Theorem der Erbsünde kennt.326 Hinzu kommt drittens, dass Hiob von Gott, wie der Prolog des Hiobbuches bezeugt, auf seine Treue hin geprüft wird, was auf dem Hintergrund der grundsätzlichen Entfremdungssituation und Fallibilität des Menschen, die ihn seine Gottesherkunft immer wieder vergessen und verraten lässt, einen präzisen Sinn ergibt. Umso befremdlicher ist es, dass Hiob über diese Prüfung niemals aufgeklärt wird. Wenn die Deutung der menschlichen Existenz durch die jüdische Bibel zutrifft, dann drängt sich in Wahrheit eine ganze andere Frage auf als die nach der gerechten Verteilung von Glück und Unglück, die Frage nämlich, was Gott mit jener Kollektivverbannung der Mensch­ heit bezweckt und welchen positiven Sinn er damit realisieren will. Gäbe es diesen nicht, sondern gäbe es nur den negativen wie in Genesis beschrieben, wäre dieses Universum in der Tat nichts als das sinnlose und grausame Spiel eines göttlichen Sadisten, der sich am (Straf-)Leiden seiner Geschöpfe weidet, eines Gottdespoten, der dann zu Recht von Hiob verklagt und von ethisch hochstehenden Menschen wie z. B. von Marcion (etwa 100–160 v. Chr.) verworfen wird.327 325 In einer klugen kleinen Schrift arbeitet K. Adam (1959) heraus, dass der nachpara­ diesische Adam kulturgeschichtlich an das Ende der Jungsteinzeit (Steinwerkzeuge, Ackerbau, Viehzucht etc.) gehört, was insofern plausibel ist, als der Autor des bib­ lischen Genesistextes, der vielleicht in der Bronzezeit lebte, wohl noch Spuren dieser Vergangenheit in seiner Gegenwart antraf, womit die biblische Zeitangabe von 4000 Jahren v. Chr. für das Erscheinen des scheinbar »ersten« Menschen in der physischen Welt nicht so realitätsfern wäre. Das würde bedeuten, dass der paradiesische Adam keine Existenz der irdischen Geschichte ist, sondern anders gedacht werden muss. Vor allem die Leiblichkeit, die aus wissenschaftlich-evolutionstheoretischer Sicht als Ergebnis einer animalischen Geschichte verstanden werden muss, müsste in seiner paradiesischen Phase fundamental anders konzipiert werden. Leider lässt K. Adam den Sinn der biblischen Ursprungserzählung an diesem Punkt im Dunklen. Unter 4.12.-4.17 behandle ich diese Frage eingehend. 326 Zum Problem der Erbsünde siehe Kapitel 1.15. 327 Und heute, z. B. von T. Moser (1976) in Gottesvergiftung, aus den gleichen Gründen verworfen wird.

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

Unabhängig von diesem religionsphilosophischen Kontext trifft die Hiobfigur (neben jener erstgenannten existenzialen Wahrheit) in entwicklungspsychologischer Sicht nichtsdestotrotz eine zentrale Wahrheit: Am Anfang seines Lebens verhält sich jeder Mensch in der Tat wie Hiob und erwartet von der Welt, in die er eintritt, Wärme, Halt, Vertrauen, Güte und keineswegs Bedrohlichkeit und Bosheit – es ist, als käme er geradewegs aus dem Paradies bzw. aus Gottes Hand. So könnte man sagen, der menschliche Geist ist als solcher nicht von dieser Welt, ist nicht von ihr »informiert«, sondern muss ihre leidvollen Gesetze erst mühsam und schmerzlich kennenlernen. Wie schwer er sich damit tut und ein Leben lang damit kämpft, zurechtzukommen, ist bekannt. Insofern manifestiert sich in Hiobs Revolte doch eine Wahrheit, nur jetzt eine andere und wohl auch tiefere: Im Letzten sind die Menschen in dieser Welt, die schwer von Feindschaft und Zerstörung, von Leid, Verlorenheit und Tod gezeichnet ist, fremd, ja falsch; sie müssen (letztlich) woandershin gehören, nicht hierher, sondern nach jüdisch-christlichem Glauben – und nach vielen anderen Kulturen auch – unmittelbar in den Lebenskreis Gottes, jüdischchristlich gesprochen in ein neues Jerusalem auf neuer Erde und unter neuem Himmel. Ob sich das so verhält oder ob das nur ein frommer Wunsch ist, wird in den Abschnitten III. und IV. zu klären sein.

2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität In seinem Buch Gott im Leid, einer groß angelegten Studie zur Theo­ dizeeproblematik, zu der schon 1994 ein kleines Büchlein herausge­ geben worden war, legt A. Kreiner überzeugend dar, dass keine Theo­ logie bzw. theologische Philosophie an der Aufgabe vorbeikommt, die Verbindung von Gott und Leid widerspruchsfrei zu denken.328 Darüber hinaus zeigt er, dass nicht nur die klassische Theologie, sondern auch alle ihre modernen Alternativen an Grenzen stoßen, an der sich unüberwindliche Widersprüche auftürmen. Überzeugend arbeitet er die immanenten, rein formal-logischen Inkonsistenzen, Inkohärenzen und Unwahrscheinlichkeiten der verschiedenen Posi­ tionen heraus, ohne den Anspruch zu erheben, selbst eine wider­ spruchsfreie und objektiv gültige Alternative anzubieten. 328

Siehe A. Kreiner (2009).

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2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität

A. Kreiner favorisiert selbst eine Variante der Prozesstheologie, die »Gott« als zeitlich werdendes und a- oder überpersonales Wesen auffasst, das dennoch (in seinem Sinne) allmächtig, »allwissend« und gut sei. Diese Position hält er für widerspruchsfrei.329 Da A. Kreiner seine rein begriffslogische bzw. formale Kritik ohne sachphilosophische Analyse durchführt, also offen lässt, ob es Gott gibt, ob Gott Person ist, ob er zeitlich oder ewig verfasst ist, ob der Mensch einen freien Willen hat und ob die Evolution einen Sinn hat usw., bleiben alle seine Aussagen nur Hypothesen und Vermutungen, nach seinem eigenen Bekunden sogar unverifi­ zierbar.330 Damit lässt sich selbstverständlich die Theodizeefrage nicht klären, sondern höchstens »beweisen«, dass der Glaube an Gott nicht unvernünftig ist. Doch auch dies gelingt ihm nicht, da eine unverifizierbare Theorie wissenschaftlich irrelevant ist, und so scheint im Angesicht des grenzenlosen Leidens die Gottverneinung, wie viele Atheisten und Skeptiker an diesem Punkt betonen, letztlich plausibler zu sein als der Glaube an die Existenz eines allgütigen, allmächtigen und allwissenden Wesens.331 Meine bisherige Analyse kommt zu anderen Ergebnissen: Die Existenz eines absoluten Seins ist streng wissenschaftlich erweisbar, letztlich mittels eines notwendigen Rückschlusses von der unleug­ baren Tatsache der zeitlich-wandelnden Welt des Kosmos bzw. der Erlebenswelt des Subjektes auf ihre notwendigen Seinsvoraussetzun­ gen. Da dieses Ursein keinen Anfang hat, ist es notwendig zeitlos, ewig, unwandelbar und unendlich. Und da es aktiv und selbsttätig, nämlich als Grund der wandelbaren Welt notwendig dynamisch ist, Vgl. A. Kreiner (2009, 392f.). Einen ähnlichen, rein logisch-formalen Weg nimmt K. Koreck (2019), der das Theodizeeproblem begrifflich noch schärfer fasst als A. Kreiner, aber nicht grundsätz­ lich lösen kann, da die metaphysische Vorarbeit fehlt. 331 A. Kreiner spricht Gott die klassische, die Zukunft der Zeit umfassende All­ wissenheit ab, weil sie angeblich selbstwidersprüchlich und mit der menschlichen Willensfreiheit unvereinbar sei, begründet aber nicht, wie das mit seiner Allmacht, urfreien Schöpferkraft und vollkommenen Güte zusammengehen soll, die er ihm lässt. Überhaupt fragt man sich, was eine Theologie, zumal eine christliche, sein soll, die von Gott die Personalität verneint und ihn gleichzeitig für »gut« hält. Ohne personalen Bezug werden Begriffe wie Gerechtigkeit, Sünde, Freiheit, Güte, Liebe, Leid, Weisheit, Macht und Wissen sinnlos. Auf das Problem der auch die Zukunft umfassenden und dennoch die bedingte und partielle Freiheit der Geschöpfe wahrenden Allmacht und Allwissenheit Gottes gehe ich später ein. Seine durchgreifende Lösung findet sich bei B. v. Brandenstein (1966, Bd. 3, 427–618, bes. 459ff., 465ff., 487ff., 536ff.). 329

330

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muss es die Fähigkeit besitzen, zu sich ins Verhältnis zu treten, seiner selbst bewusst und habhaft zu sein, womit das Ursein nur Person sein kann. Damit erweist sich die Behauptung, Personsein und Unendlichkeit schlössen sich gegenseitig aus, als unhaltbar. Im Gegenteil, nur ein personales Sein kann absolut bei und in sich, seiner selbst gewiss und inne, kann tätig und reines nunc stans sein. Als nur sich selbst bestimmendes Sein muss schließlich die Urperson Gottes absolut frei sein, frei in der Selbstbestimmung und frei in der Erschaffung von nichtgöttlichem Sein. Aus der letzten Bemerkung folgt, dass Gott, der die Grundlagen und Grundkräfte der Welt erschafft, diese Welt auch hätte nicht erschaffen können. Sie ist weder ein realer Teil noch eine notwendige Wirkung seines Selbstseins. Damit erweist sich die Welt als kontin­ gent, als nicht-sein-müssend, als »zufällig« und als ein »Aus-Nichts« (aber vom Sein Gottes unendlich rangtiefer gesetzt!), gleichsam nah ans Nichts gebaut. Nur weil Gott sie, die sich selbst nicht tragen kann, trägt und erhält, stürzt sie nicht in den Abgrund der Selbstauf­ lösung.332 Insofern Gott nicht nur eine statisch-passive Welt erschafft, sondern eine Welt, die das Werk von partiell freien, weil selbständigen Geistpotenzen ist, zu denen das Menschenich zählt, hat Gott der endlichen Freiheit Raum gegeben und sie der Unfreiheit vorgezogen. Offensichtlich erachtete er diese Wahl als die vollkommenere und das, wie die Analyse vertiefen wird, zu Recht. Mit der endlichen, genauer, potentialunendlichen Freiheit öff­ nete er der Möglichkeit ihres Missbrauches die Tür. Dass es dazu kommt, hätte zwar nicht sein müssen und hätte von Gott verhindert werden können, doch ließ er dies nicht nur zu, sondern ermöglichte den Missbrauch insofern, als er dem Menschen die Macht über sich, die Natur und über seinesgleichen gab. Insofern ist Gott indirekt für die Existenz des Übels mitverantwortlich. Der Sinn der Ermöglichung und Zulassung gründet jedoch nicht in einer Schwäche, Unwissenheit 332 Noch einmal: Wäre die Welt nicht die von Gott frei gesetzte Wirkung, sondern bestünde anfangslos, wie etwa Aristoteles, B. de Spinoza, G. W. F. Hegel und E. Bloch behaupten, könnte sie nicht kontingent sein, dann wäre sie notwendig da, nämlich deswegen, weil sie nie entstanden war. Wenn die existenzialistischen Philosophen die Welt für kontingent halten, aber für unbegonnen, unerschaffen, dann entgeht ihnen diese fundamentale ontologische Inkonsistenz, die im Übrigen mit der radikalen Auf­ hebung der Möglichkeit von Freiheit bezahlt wird, die von den Existenzphilosophen meist entschieden vertreten wird.

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2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität

oder Bosheit, sondern in seinem Willen, den Menschen in den Stand zu versetzen, sich selbst um die beste Form seiner endlichen Freiheit zu bemühen und von sich selbst die beste Version seiner größten Vision zu realisieren. Gott will eine kämpfende, wachsende, kreative, vor allem will er eine reifungsmögliche und reifende Freiheit, nicht eine von Anfang an fertig-gute, damit entwicklungsunfähige Freiheit, die, wenn so von Gott erschaffen, ihre Freiheit einbüßen würde.333 Deshalb rechnet er mit Irrtum, Verirrung, Vergehen, Bosheit und Sünde und bezieht sie in die Dynamik des werdenden Kosmos ein. Darüber hinaus zeigt er sich so souverän und »selbstlos«, dass er Wesen erschafft, von denen er weiß, dass sie sich endgültig und für immer von ihm abwenden werden oder wenigstens dazu in der Lage sind. Ihre Funktion im Schöpfungsganzen ist dennoch da und hat exemplarischen Charakter: Sie dienen als Beispiel für die verheeren­ den Folgen der Gottverneinung, sie dienen zur Warnung, Läuterung und Abschreckung, weiter zur entschiedeneren Hinwendung zum Guten und zur größeren Strahlkraft alles Wertvollen. Doch obgleich die geschöpfliche, endlich-potentialunendliche Freiheit eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Übel, Irr­ tum, Schlechtigkeit und Leiden ist, so reicht sie und mit ihr die These des »free will defense« keineswegs, wie A. Kreiner richtig hervorhebt, zur Erklärung für die Existenz von Übel und Leid in der bestmöglichen Welt aus. Es muss weitere Motivgründe geben, die Gott dazu bringen, das Wagnis von Leid und Übel einzugehen. Und sie gibt es, wie in den Abschnitten IV., V., VI. und VII. gezeigt wird. Soviel sollte klar geworden sein, dass Leid, Übel, Versagen, Irrtum und Sünde, die wesenhaft an Zeit, Mangel, Endlichkeit und schöpferische Eigentätigkeit gebunden sind, in Gott selbst unmöglich sind. Ihr Platz ist allein in der Welt, und auch da nicht notwendig, sondern nur insofern, als sich Gott für eine Welt entschied, die In der Theodizeediskussion spricht man im Falle des Reifungsargumentes nach John Hick (1966) vom »Konzept der Seelenbildung« (»soul-making«). In der Tat ist dieses pädagogische Argument unverzichtbar, allerdings nicht hinreichend für die Klärung des Sinns (und Unsinns) des Leidens in Leben und Kosmos. Letztlich steht dahinter der Umstand, dass der Mensch seelisch-geistig ein pU-Wesen ist, das in seinem Anfang »wie eine Knospe« unschuldig und verschlossen ist und erst durch den Akt einer Selbstergreifung seine Freiheit aktualisiert und ein echtes personales Selbst konstituiert, in dem die potentialen Möglichkeiten und Fähigkeiten – ein Leben lang – entwickelt werden. Entgegen J. Hick schließt das entelechiale Reifungsargument keineswegs das jüdische Sündenfallargument aus, sondern kann, wie zu zeigen sein wird, damit sinnvoll verbunden werden. 333

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dynamisch, werdend und mit partiell frei-selbsttätigen Geistwesen begabt ist, die zur agonalen Reifung nach Gott hin berufen sind. Warum solch eine Welt besser ist als eine andere, wird mit dem Fortschritt der Untersuchung klarer. Für hier genüge die Einsicht, dass es Gott gibt, dass er frei von Leid und Übel ist und dass er das Übel ermöglicht und zulässt, aber nicht direkt bzw. nur als Übel bewirkt, sondern in einen höheren Sinnzusammenhang hineinstellt, dessen Dynamik, insofern sie auf Gott ausgerichtet ist, die Aufhebung von Mangel, Unfrieden, Leid, Unglück und Schuld beinhaltet. Diese Einsichten erlauben, zu einer philosophischen Kritik Stel­ lung zu beziehen, die behauptet, das Theodizeeproblem sei schon logisch mit unaufhebbaren Antinomien belastet. Klassisch wird dies von dem Neukantianer W. Windelband anhand der Grundbegriffe »Substanz« und »Kausalität« formuliert, zweier Begriffe, die nach I. Kant notwendige Formen des menschlichen Denkens und Vorstellens sind und dennoch oder gerade wegen ihrer Denknotwendigkeit in logische Aporien führen, wenn sie auf überempirisch-metaphysische Wirklichkeiten angewandt werden. W. Windelband sagt: »Die Kategorie der Substanz bedeutet in ihrer empirisch berechtigten Anwendung Urteil und Begriff von der konstanten Zusammengehörig­ keit endlicher, bestimmter Erfahrungsinhalte, welche als Eigenschaften gemeinsam einem Ding inhärieren. Das absolute Abhängigkeitsgefühl postuliert für seinen Gegenstand ein »Ding aller Dinge«, von dem, wie wir selbst, so auch alles andere empirisch Wirkliche Eigenschaft und Zustand sein soll. Aber dies absolute Ding, die unerfahrbare Substanz, enthält eine unlösbare Antinomie in sich: es ist einerseits das Ding, das durch keine empirische Qualität bestimmt und von anderen unterschieden wird, das qualitätslose Eine, andererseits das Ding, welches alle Wirklichkeit in sich als Qualitäten vereinigt (ens realissimum et perfectissimum).«334

Die Forderung, dass diese absolute Seinssubstanz alle Qualitäten vereinige, impliziert nach W. Windelband notwendig, dass ihr die Qualitäten des Übels, des Bösen und des Leids zukommen, und zwar absolut, ewig und unveränderlich zukommen. Wenn aber Gott selbst böse, schlecht, mangelhaft, zerrissen und leidend ist, dann kann er nicht vollkommen sein, weder ontisch noch ethisch, und also gerät die Theodizeeproblematik in eine unüberwindliche Sackgasse. So die Argumentation von W. Windelband. 334

Siehe W. Windelband (1924, 311ff.).

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2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität

Wäre sie konsistent, dann allerdings ließe sich das Theodizee­ problem in der Tat nicht lösen. Doch fragt sich, ob diese Argumen­ tation logisch tatsächlich so zwingend ist, wie sie zu sein bean­ sprucht? Sie ist es nicht. Der Fehler liegt bei der ungeprüften und damit unkritisch-dogmatischen Voraussetzung, wonach »alles andere empirisch Wirkliche Eigenschaft und Zustand« der einen absoluten Ursubstanz sein soll. So muss selbstverständlich eine Antinomie zustande kommen, doch übersieht W. Windelband die Möglichkeit der Existenz von mehreren Substanzen, also mehreren selbständig wirklichen Dingen. Zwar können solche (Zweit-)Substanzen der absoluten und unendlichen Ursubstanz nicht gleichgeordnet sein, da sonst deren Absolutheit aufgehoben würde und damit eine neue Aporie entstünde – mehrere absolute Wirklichkeiten nebeneinander heben sich in ihrer Absolutheit auf. Doch besteht die Möglichkeit von sekundären Substanzen, also von Wesen, die zwar nicht absolut sind und damit von der absoluten Seinssubstanz einseitig abhängen, die aber dennoch selbständig agieren können und nicht Eigenschaft der absoluten Substanz sind. Das von W. Windelband ins Feld geführte Abhängigkeitsgefühl der Kreatur hat nur Sinn, wenn diese nicht ein rein passives Ding, sondern ein lebendes, selbstbestimmendes, in dieser Hinsicht also selbständig-substanziales Wesen ist. Als ein solches ist es ontologisch nicht vollkommen und kann daher auch die Eigenschaften des Unvollkommenen, des Schwachen, Gebrechlichen, Verletzlichen, Schlechten, des Leidens und des Bösen haben. Gesteht man diese Möglichkeit ein – und W. Windelband setzt sie für den Menschen voraus –, müssen diese negativen Eigenschaften nicht der Ursubstanz der Urwirklichkeit zugeschrieben, sondern können bei der Kreatur und ihrer relativen Substanzialität belassen werden. Der Grundfehler, der hier zum Vorschein kommt, ist die unkri­ tisch vorausgesetzte, auch von Aristoteles,335 B. de Spinoza und I. Kant in problematischer Weise vorausgesetzte Auffassung, Substanz (Eidos, Wesensform, Substrat) bedeute notwendig ein abgeschlosse­ Gemäß Aristoteles besteht ein Wirkliches aus der unveränderlichen Substanz – dem Träger, aus seiner Wesensform – und aus der Materie, die Veränderlichkeit ermöglicht. Was sich verändert, nennt er Akzidentien. Die Substanz selbst (als Wesensform) ändert sich nach Aristoteles nicht. N. Hartmann (1964) und B. v. Brandenstein (1965) in seiner Grundlegung der Philosophie, Bd. 1, konnten durch ihre neuen Ontologien klären, dass die Hyle-Morphe-(Stoff-Form-)Ontologie des Aristoteles in entscheidenden Hinsichten inkonsistent ist und daher neu gefasst werden muss. Vgl. auch das Kap. 1.3. in dieser Arbeit. 335

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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit

nes, fertiges und unveränderliches Sein. Das ist aber ein Kurzschluss, der die Möglichkeit werdender, unfertiger und dennoch selbsttäti­ ger, relativ freier Substanzen, die z. B. G. W. Leibniz sah und als Monaden bezeichnete, voreilig ausschließt. Berücksichtigt man diese Möglichkeit, die von der Existenz des Menschen nahegelegt wird, hebt sich jene Antinomie auf, in die W. Windelband die Theodizee geraten sieht. Damit aber werden sowohl ein jeglicher substanzialer Seinsmonismus als auch ein jeder Pantheismus, wie er bei W. Win­ delband vorliegt, die das Theodizeeproblem in der Tat nicht lösen können, hinfällig. Ähnlich wie im Fall der Substanz argumentiert W. Windelband im Fall der Kausalität, also in der Frage nach dem dynamischen Grund für all das, was entsteht und darum irgendwie muss hervorgebracht worden sein. Er sagt Seite 316: »Das Böse ist zweifellose Realität, das lehrt gerade das religiöse Bewusstsein selbst am deutlichsten und gewissesten. Wie aber ist diese Realität möglich in einer Welt, deren ganzes Sein, deren einzige Kausalität in der absoluten Persönlichkeit, in dem allmächtigen Nor­ malbewusstsein beruht? Diese Frage ist für menschliche Einsicht völlig unbeantwortbar, das muss sie sich ehrlich eingestehen. In Gott selbst ist des Bösen Wesen und Ursache nicht zu suchen: wo also, wenn er das einzige Wesen, die einzige Ursache ist?«

Wieder setzt W. Windelband – wie viele andere! – unkritisch Gott als den einzigen dynamischen Seinsgrund, als alleinige Ursache im Weltgeschehen voraus.336 Zwar ist er die einzig absolute Ursache, also 336 Selbst der christliche Religionsphilosoph J. Hessen (1955, Bd. II, 193) sieht – fälschlicherweise – im Wertcharakter des Göttlichen eine Antinomie: »Als ens realissimum ist das Göttliche Urquell alles Seins. Alles endliche Sein hat in ihm seinen letzten metaphysischen Ursprung. Nun ist das endliche Sein gleichsam aus Licht und Schatten gewoben. Werte und Unwerte sind in ihm gemischt. Es geht ein Riss durch die Wirklichkeit: neben den positiven Werten stecken in ihr negative, neben den bona auch mala. So ist das ens perfectissimum zugleich Prinzip des Unvollkommenen, des Übels. Die göttliche Wertwirklichkeit ist zugleich Quelle des Unwertes.« Richtig ist, dass das Göttliche letztendlich (!) der Ursprung von allem ist, aber nicht im Vorletzten: Es gibt auch untergöttliche und damit potentiell widergöttliche Kausalitäten. Richtig ist ferner, dass alles Endliche unvollkommen ist, doch falsch, dass das Unvollkommene ein Übel und somit Gott, als Ursache des Unvollkommenen, auch Ursache des Übels sei. Gott, der die endliche Welt notwendig nur als »unvollkommene« i. S. von »nicht-göttlich« erschafft, ist daher keineswegs die Quelle des Unwertes bzw. des Übels. Wertwidriges können nur endliche Kausalitäten wirken. Dass diese geschöpflichen Wirkursachen von Gott erschaffen werden, bedeu­

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2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität

jene Ursache, die ewig besteht, unentstanden, unendlich, durch nichts anderes bedingt. Aber schließt dies die Existenz von entstandenen, bedingten, zeitlichen und wandelbaren Zweitursachen aus? Keines­ wegs. Im Gegenteil, Gott – und nur er! – kann solche erschaffen, muss es allerdings nicht. Doch die menschliche Selbstwahrnehmung lehrt zweifelsfrei, dass es zeitlich-bedingte Wesen gibt, die wirken und hervorbringend tätig sind und also als begrenzte Ursachen tätig sein können, im Falle des Menschen z. B. Gedanken, Vorstellungen, Handlungen, Gesten, Werke, Worte und Sprache verursachen und kreativ hervorbringen. Lässt man dies gelten, gibt es nicht nur eine einzige Causa, und Gott muss nicht die direkte Ursache des Unvoll­ kommenen, Schlechten und Bösen sein. Vielmehr bieten andere Ursachen, die Zweitursachen, die dynamische Grundlage für das unvollkommene Sein und Werden, womit sich ein Weg für die Lösung der Theodizeeproblematik öffnet. Man kann auch so sagen: Gott ist wohl allmächtig, aber nicht allwirksam, da er Wirksamkeit verleiht und, anders als der allwirksam gedachte Allah, aus der Allwirksam­ keit zurücktritt.337

tet außerdem nicht, dass das Wertwidrige, das sie tun, auf ihn zurückfalle, nur, dass er es ermöglicht und, falls von den Zweitursachen realisiert, zugelassen habe. Was der Sinn dieser Ermöglichung und Zulassung ist, bedarf einer eigenen Betrachtung, doch eröffnet allein das ontologische Verhältnis von Erstursache und Zweitursachen die Möglichkeit, dass Gott schlussendlich (!) das Wertwidrige richtet und heilt. Im Falle, er würde das Unwerte selbst unmittelbar wirken, wäre eine Heilung, da er dann selbst der absolut Unheile wäre, ausgeschlossen. Wo eine Wertwidrigkeit in diesem Kosmos ist, da kann Gott nicht die einzige Kausalität (und Finalität) sein. 337 Vgl. ähnlich zum islamischen Gottesbild H. Stieglecker (1959, 105f.).

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit: Die allgemeine Kosmologie des Leidens

3.1. Leiden, Zeit und Zeitlichkeit: Zeitunterworfenheit und doppelte Zeitlichkeit des Menschen Alles Zeitliche dauert, doch ist es in seiner Dauer nicht wandellos, sondern ändert sich, wechselt, wird anders. Zumindest muss alles, was zeitlich dauert, wie erkannt, beginnen. Ob es dann endlos-unver­ ändert andauert, sich verändert oder vergeht, ist prinzipiell offen, doch beweist die Erfahrung, dass keine erfahrbare Wirklichkeit unverän­ derlich ist, sondern irgendwann vergeht bzw. in Anderes übergeht.338 Gilt dies, dann hat das Zeitlich-Dauernde nicht nur einen Anfang, sondern auch ein Ende, zwischen denen beiden es dauert, mag es sich auch nur um einen kurzen wandelfreien Augenblick handeln. Die kleinste aktuelle Dauer eines realen Geschehens ist jenes Gegen­ wartsmoment, das in sich selbst weder unendlich klein noch geteilt, sondern real endlich, aber in sich ungeteilt ist, denn unmöglich kann ein Zeitlich-Dauerndes aus real unendlich vielen Momenten zusam­ mengesetzt sein, da sonst ein Unendliches sukzessiv durchschritten werden würde, was in Kapitel 1.14. und 2.3. als unmöglich erkannt wurde. Damit erhellt, dass alles Zeitliche »pulsiert«, also beginnt, eine Zeitlang unveränderlich dauert, endet, beginnt, dauert, endet – ein ständiges Aufleuchten und Verlöschen und Wiederaufleuchten und Wiedererlöschen. Zeit ist daher mitnichten ein stetig kontinuierlicher Strom, der gleichsam passiv dahinwallt, sondern sie zeugt, sei es in der Natur, sei es im Bewusstsein, von Aktivität, Pulsation und Dynamik.

Auch rein geistige Wirklichkeiten, z. B. geistige Aktvollzüge und deren geistige Inhalte, die, wie z. B. die mathematischen Verhältnisse, in sich unveränderlich sind, vergehen, insofern sie an das veränderliche Leben und Bewusstsein des Menschen gebunden sind und mit ihm vergehen. 338

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Im ersten Band der Philosophie des Leidens, in der Phänomeno­ logie des Leidens, wurde die vielschichtige Zeitstruktur des Leidens aufgehellt und erkannt, dass sie mit einem erlittenen Widerfahrnis – wozu schon die eigene Existenz gehört – beginnt, im Weiteren als »Leidleiden« oder Durchleiden eines konkreten Leides dauert und meist irgendwann endet, zumindest in das Wegwünschen des Leids und das Erwünschen des Heils übergeht. Hier geschieht Zeit als Suk­ zession, als Aufeinanderfolge von Verschiedenem, Sichänderndem. Ist die Zeitlichkeit des Leidens aber durch nichts anderes als durch Sukzession bestimmt? Keineswegs. Da das Leiden ein aktives Gesche­ hen und Erleben ist, führt es seine Vergangenheit in die Gegenwart mit und antizipiert in der leidvollen Gegenwart die erwünscht leidfreie oder die leidvoll drohende Zukunft. Leiden ist also, zeitlich betrachtet, eine durchgängige Einheitsgestalt aller drei Zeitekstasen und über­ wölbt Zeit als bloße Sukzession. Leiden ist nicht nur unstete Zeit, es ist veränderungsüberdauernde, zusammenfassende Zeitlichkeit. Solche Integration ist nur in einem aktiv-erlebenden Wesen möglich; ein bloß passives Ding ist dazu nicht befähigt, was wiederum bedeutet, dass der Leidende stets seine Zeit, d. h. die Dauer seines Leidens, mitkonstituiert und zusammenfasst. Das Widerfahrnis mag rein passiv erlitten worden sein, z. B. eine Verletzung, Demütigung, ein Unrecht, Geburt und Tod, doch das Leiden daran ist schon aktiv und erhebt die bloße Sukzessionszeit zur Simultanzeitlichkeit, in der alle drei Zeitekstasen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ineinsgefasst sind. Andererseits ist hervorzuheben, dass der Mensch seine Zeitlich­ keit nie rein leben kann – sie wird immer wieder zwangsweise unterbrochen, etwa durch den Tiefschlaf, das Vergessen, die Konzen­ trationslosigkeit, durch Krankheit. In diesen Situationen fällt er in die bloße passive Sukzessionszeit zurück, hier kann er die Zeit nicht mehr überbrücken und synthetisch zusammenfassen, seine synthetische Subjektivität bricht ab; sie verliert sich. Umso staunenswerter ist es, dass ihm, etwa aus dem Schlaf heraus, Bewusstsein und Erinnerung, gleichsam wie geschenkt, zurückkommen, und er wieder Anschluss an Unterbrochen-Vergangenes findet. All das beweist, dass der Mensch zwei Zeitordnungen angehört, einmal der immer wieder unterbrochenen Sukzessionszeit des physi­ schen Weltgeschehens, in der die Synthesekraft des Bewusstseins erlischt, ein andermal der Synthesezeitlichkeit, in der Erleben und Bewusstsein die drei Zeitekstasen überwölben. Woher kommt das?

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3.1. Leiden, Zeit und Zeitlichkeit

Wodurch wird dies verursacht? Die direkte Selbstbeobachtung be­ weist, dass alles Seiende, das der physischen Welt angehört, also auch der Leib, der Sukzessionszeit unterworfen ist, während nur Bewusstsein und Geist sich erinnern, sprich die Vergangenheit leben­ dig in die Gegenwart mitführen und in der Gegenwart die Zukunft antizipieren können. Der Leib nur als solcher bzw. die physische Welt sind dazu nicht in der Lage, an ihnen können höchstens Spuren der Vergangenheit abgelesen werden, das muss jedoch wieder ein Bewusstseinswesen tun. Mit dieser doppelten Zeitstruktur, die zu den tiefsten Quel­ len menschlicher Leiden gehört, erweist sich der Mensch erneut als ein Zwischen- und Diskrepanzwesen. Alle Störungen, die mit Gedächtnisminderung oder Gedächtnisverlust einhergehen, etwa alle Demenzkrankheiten, die auf die Degeneration des Gehirns bzw. das Altern des Leibes zurückgehen, sind solche »Zeitleiden«, in denen ein Mensch seine erlebte Zeit nicht mehr synthetisch zusammenfassen kann und in unsynthetisierte Sukzession zerfällt. Das Materielle setzt sich gegen das Geistige durch. Insofern der Mensch ein Wesen ist, das in seiner hochdyna­ mischen Unruhe zu Ruhe und zu Vollendung kommen will, ist er über alle Zeit hinaus auf eine dritte Dauerdimension bezogen, nämlich jene, in der Zeit überhaupt erlischt und nichts mehr wird und wechselt, damit auch nichts mehr beginnt und endet. In der tiefen Meditation, in der erfüllten Liebe, in der beglückenden ästhetischen Kontemplation und in der Seligkeit kann der Mensch Anteil an dieser Überzeitlichkeit gewinnen, wie er dies zu allen Zeiten als Einbruch der Ewigkeit in sein Dasein erlebt. So betrachtet, ist der Mensch nicht nur in zeitlicher Hinsicht doppelt, sondern dreifach diskrepant, da jene Überzeitlichkeit der erfüllten Ruhe sich nur selten einstellt und nicht machbar ist, sondern ihm gewährt wird, aber auch wieder entzogen werden kann. Das bezeugen die Mystiker aller Zeiten und beteuern, wie qualvoll dieser Rückfall in die Zeit ist. Hier wird die Preisgegebenheit an die Kreatürlichkeit am schmerzhaftesten spürbar, hier ist alle Autono­ mie und Selbstherrlichkeit am Ende: Wohl ist der Mensch auf die erfüllte Zeit als Ewigkeit angelegt, doch aus eigener Kraft kann er sie höchstens annähern, und also kann er hier nur warten, sich bereiten,

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

ausharren und sich ergeben.339 Ein Mensch dagegen, der ungeduldig Erfüllung, Glück, Seligkeit und Ruhe erzwingen will, der muss bitter leiden, nämlich in der Form des Scheiterns.

3.2. Das Problem der Entstehung überhaupt und die traditionellen drei Kausalitätskonzepte Wo etwas entsteht, fragt schon das kleine Kind nach dem »Warum?« und damit nach dem »Woher?« oder »Wodurch?«. Ganz naiv ist es dabei auf das gestoßen, was die Philosophen und Wissenschaftstheo­ retiker das »Kausalproblem« nennen.340 Die philosophische Logik kann auf die Frage nach dem Wodurch rein formal nur antworten: Das, was entsteht, entsteht nicht von sich selbst her, da es, solange es nicht ist, sich nicht selbst erzeugen kann, wenn es aber ist, sich nicht mehr erzeugen muss, und also entsteht es, da es von und aus rein nichts nicht kommen kann, von Anderem her. Dieses Andere heißt die »Ursache« und meint jene dynamisch-tätige 339 Siehe Altes Testament, Prediger 3,11: »Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte.« 340 Vgl. W. Stegmüller (1970a, 1–20), besonders Seite 3: »Das allgemeine Kausalprinzip bedeutet hiernach, dass ein Ereignis, also etwas, das entsteht oder wird, nicht von nichts, sondern von etwas herkommt. Dabei bezeichnet man das, was entsteht, also das genannte Ereignis, als Wirkung, dasjenige, wodurch dieses Ereignis entsteht, als Ursache. Der Zusammenhang lautet dann: Die Ursache bewirkt die Wirkung.« W. Stegmüller trennt von diesem Kausalprinzip m. E. zu Recht erstens das Kausalgesetz, d. h. die Regel, nach der eine Ereignisfolge geordnet ist, und zweitens die Antecedenz­ bedingungen, die dem Ereignis vorausgehen oder gleichzeitig mit ihm gegeben sind, also seine diachrone und synchrone Umgebung. In den Naturwissenschaften sind die Kausalgesetze mit den Naturgesetzen, die Antecedenzbedingungen mit all dem iden­ tisch, was das entstehende Ereignis raumzeitlich umgibt und direkt und indirekt bedingt. Während das Kausalprinzip nach dem Wodurch fragt und daher eine Spezi­ alform des »Satzes vom Grunde« ist, fragt das Kausalgesetz nach dem Wie und das Antecedenztheorem nach dem Worin. Schon hier erkennt man, dass weder das Kau­ salgesetz noch die Antecedenzien das, was entsteht, hervorbringen, sondern nur regeln und begrenzen. W. Stegmüller untersucht nach eigener Angabe (S. 5) nicht das Problem der Ursächlichkeit, sondern nur das Problem der Gesetzlichkeit. Auf diesem Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, dass er ohne Begründung das Kausalprinzip (Wodurch) auf das Antecedenztheorem (Worin) zurückführt. Während er die Fragen nach dem Wie (Gesetzlichkeit) und dem Worin (Bedingungen) genauer betrachtet, lässt er die Frage nach dem Wodurch bzw. Woher fallen, die das eigentliche philosophische Problem darstellt. Unter 4.1.-4.9. werde ich vertieft darauf eingehen.

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3.2. Das Problem der Entstehung überhaupt

Wirklichkeit, die das entstandene Ereignis hervorbrachte. Als hervor­ gebrachte Wirklichkeit heißt man dieses Ereignis die »Wirkung«. Was aber ist das Andere, wo ist es zu suchen und wie muss man seine Wirklichkeit denken? Darauf hat die philosophische Tradition drei prinzipiell mögliche Antworten gegeben:341 –







Entweder geht die Ursache ihrer Wirkung zeitlich voraus und geht in diese ihre Wirkung ganz oder teilweise über, dann liegt die vor allem in der Neuzeit dominierende, so genannte transitive oder transeunte, sprich hindurchgehende, zumeist mechanischdeterministisch gedachte Kausalitätsvorstellung vor; oder die Ursache besteht wesenhaft in ihrer Wirkung, lebt in dieser bzw. lebt als diese und formt ihre Wirkung als ihren direkten wesenhaften Seinsausdruck, dann liegt die so genannte immanente oder einwohnende Kausalitätsvorstellung vor, die für Aristoteles' Formbegriff und für A. Schopenhauers »Lebens­ wille« typisch ist und vor allem im Konzept des beseelten Leibes verbreitet ist; oder die Ursache geht überhaupt nicht in ihre Wirkung über, ist von wesenhaft anderer Art und erzeugt dieselbe aus souveräner Machtfülle, nicht von nichts, sondern von sich her, was sachge­ recht als transzendierende, d. h. die Wirkung übersteigende, Kausalitätsvorstellung bezeichnet werden kann und die etwa bei Platon, aber auch bei Aristoteles, I. Kant u. v. a. zu finden ist.342 Für alle drei Fälle gilt grundsätzlich, dass die Ursache erstens, verglichen mit ihrer Wirkung, nicht weniger an Seinsgehalt und Seinskraft haben kann, sondern mindestens gleichviel besitzen muss, weil andernfalls von nichts etwas würde, und dass sie zwei­ tens aktiv und dynamisch ist bzw. Aktivität und Dynamik ver­ mittelt.

341 Vgl. B. v. Brandenstein (1973, Bd. 3, 779ff.: Kausalität; 1983, Kap. 36: Kausalität). Vgl. außerdem zum Problem der Kausalität W. Stegmüller (1970a, 1–20). 342 Jede Ursache vom transzendenten Typus wirkt von sich her und aus eigener Wirkpotenz, womit das Kausalproblem, wie etwas scheinbar von nichts entsteht, abgewehrt ist. Diesem Typus sind zwei Sondertypen untergeordnet: zum einen jene Ursache, die zwar von sich, aber nicht aus oder in nichts, sondern aus und in einem Material wirkt, so in der Regel der Mensch, zum anderen jene Ursache, die von sich und aus bzw. in nichts ihre Wirkung setzt und, gleichsam über dem Nichts haltend, erhält, klassischerweise gedacht in der Gottesidee.

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

B. v. Brandenstein343 zeigt, dass außer den drei genannten Konzepten keine weiteren Varianten möglich sind bzw. gedacht werden können und überprüft in seinem Werk, welches der drei Kausalitätsmodelle widerspruchsfrei und denknotwendig ist. Er kommt dabei zu einem eindeutigen, aber auch überraschenden Ergebnis: Da sowohl die transeunte als auch die immanente Kausalität aufweisbar die reale Möglichkeit der – weiter oben als unmöglich erkannten – anfangs­ losen Wechselreihe implizieren, scheiden diese beiden als Realbe­ gründung von Entstehen, Werden und Veränderung aus, und es erweist sich die transzendente, auf Freiheit und Kreativität beruhende Kausalität als die einzig widerspruchsfreie und denkmögliche, mehr noch denknotwendige Kausalität. Echte Hervorbringung ist demnach nur selbsttätig, frei und bewusst, und also nur geistig möglich. Es folgt: Die Ursache ist stets seinsmächtiger als ihre Wirkung, weswe­ gen sie von einem höheren Seinsrang her eine Seinsrangdifferenz konstituiert, die von unten, von der Wirkung her, nicht überbrückbar ist. Wäre diese Differenz überbrückbar, wäre wieder die Möglichkeit der anfangslosen Wechselreihe, hier als unendliche Ursache-Wir­ kungskette, gegeben, was nicht möglich ist. Ergo: Die Ursache bringt ihre Wirkung niemals als realen Teil ihrer selbst hervor, sondern setzt sie sich souverän als seinsrangtiefere Wirkung gegenüber. Pantheis­ mus, Panentheismus und Emanatismus scheiden damit als Theorien des Werdens aus. B. v. Brandenstein zeigt in einem nächsten Schritt, dass nur zwei Kausalitäten innerhalb der drei Seinsränge möglich sind: Die oberste, erste, unbedingte Causa ist das Ursein der Gottheit, deren Wirkungsmacht unendlich und urfrei ist und die die Zweitursachen – die erschaffenen, insofern zeitlich bedingten, aber dennoch geistigen, physisch wirkmächtigen Wirkkräfte – erschafft. Diese Zweitursachen sind ihrerseits zwar in der Lage zu wirken, doch ihre Wirkungen selbst sind nur mehr passive Wirklichkeiten, die selbst nicht mehr aktiv wirken können. Letztere sind keine Ursachen, Causae, sind nur mehr Wirkungen, Objekte, Gegenstände, Werke. Mehr als diese drei Seinsränge und zwei Ursächlichkeiten sind ohne Verletzung des Wechselreihentheorems nicht möglich.

Vgl. B. v. Brandenstein (1957, Kap. 11: Das Kausalprinzip und seine metaphysischen Folgen, 75–143; 1966, Bd. 3, 67–85: Das Problem der Kausalität; 1973, 779ff.; 1983, Kap. 36: Kausalität).

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3.2. Das Problem der Entstehung überhaupt

Die Inkonsistenz des neuzeitlichen Kausalmodells besteht gene­ rell darin, dass das Wie der Naturgesetzlichkeit zum Wodurch ge­ macht wird.344 Auch der Theologe A. Kreiner345 folgt in seiner Theo­ dizee dieser positivistischen Auffassung und meint, dass nicht Gott direkt das Naturgeschehen bewirke, sondern dass er die Naturgesetze erschaffe, die als eigenständige Ursachen die Natur hervorbringen und aktiv gestalten.346 344 Klassisch formuliert dies z. B. M. Planck (1923) in seinem Vortrag Kausalgesetz und Willensfreiheit in Wege zur physikalischen Erkenntnis (1944, 112ff.): »Als Kau­ salität können wir ganz allgemein den gesetzlichen Zusammenhang im zeitlichen Ablauf der Ereignisse bezeichnen.« Doch schon in dem 1932 gehaltenen Vortrag Die Kausalität in der Natur (1944, 223ff.) widerspricht er und sagt, »dass das Kausalgesetz in seiner bisher üblichen Formulierung unmöglich allgemein durchgeführt werden kann: denn in seiner Anwendung auf die Welt der Atome hat es endgültig versagt.« Folgerichtig fährt er fort: »Daher findet sich ein jeder, der für den Sinn und die Bedeutung naturwissenschaftlicher Forschung Interesse besitzt, vor die dringende Aufgabe gestellt, das eigentliche Wesen der Naturgesetzlichkeit aufs Neue der Prü­ fung zu unterziehen und vor allem dem Begriff der Kausalität noch tiefer als bisher auf den Grund zu kommen.« Es ist seltsam und bezeichnend, dass die moderne bzw. postmoderne Philosophie hier nicht einmal mehr das Problem, geschweige denn die Aufgabe sieht, obwohl nahezu alles daran hängt, so neben dem Problem der Naturursachen auch das Freiheits- und Handlungsproblem, Probleme, die völlig neu behandelt werden müssen, wenn die Natur nicht vormodern als die direkte und alleinige Wirkung Gottes oder idealistisch, wie bei F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel, als Selbstausfaltung des Absoluten interpretiert werden soll. 345 Vgl. A. Kreiner (2005, 331ff.). 346 Hierauf beruht auch die Kritik M. Heideggers (1957) am »Satz vom Grund«, lateinisch: »nihil est sine ratione«, den er im Sinne eines Satzes von der Begründung, also wissenschaftstheoretisch auslegt: Um etwas als seiend zu behaupten, muss es begründet oder – wie M. Heidegger sagt – »sichergestellt und berechnet« werden können. Nach M. Heidegger beginnt dieser »rechnende und sicherstellende Zugriff« bei Platon (angeblich schon deswegen, weil er seine Aussagen zu begründen versucht) und findet seine konsequente und radikale Fortführung in der Neuzeit, die mittels mathematischer Berechnung die Natur zu »greifen und letztlich für die praktische Bemächtigung sicherzustellen« versucht. Hält diese Aussage, genauer betrachtet, einer Überprüfung stand? Ja, wenn unter »ratio« im »principium rationis« nur das mathematische Abhängigkeitsverhältnis von durch Naturgesetze verbundenen Wirkungsketten verstanden wird. Dass Letzteres für die neuzeitliche Wissenschaft bestimmend war, da sie das mathematisch formulierte Naturgesetz als reale Wirkur­ sache des Weltgeschehens betrachtet, kann kaum bestritten werden, aber nachweisbar trifft dies nicht auf Platon und die Antike zu. »ratio« oder gar »aitia« meint hier zum Ersten keineswegs nur ein Begründen seitens des Menschensubjektes, sondern ein objektives Seinsverhältnis, zum Zweiten bedeutet es nicht ein mathematisches Berechnungsgesetz, sondern ein seinslogisches, das heißt logisch-begrifflich erfassba­ res, Seins- und Wesensverhältnis (z. B. zwischen den Ideen und ihren Abbildern),

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Ein Naturgesetz bringt aber nichts hervor, es ist zu selbständiger Aktivität nicht fähig, sondern gibt nur das Wie eines Geschehens, die Art und Weise seines spezifischen Verlaufs an. Dass sich zwei Körper in der Weise des newtonschen Gravitationsgesetzes anziehen, beschreibt wohl das Wie dieser Anziehung – aber dass sie sich überhaupt anziehen, lässt sich durch das Naturgesetz nicht erklären, wie es auch naturwissenschaftlich nicht einsichtig zu machen ist, dass überhaupt eine Gravitation wirkt und überhaupt ein Gesetz gilt. Klar jedenfalls ist, dass bei der Annahme, ein Naturereignis habe notwendig ein anderes Naturereignis, das zeitlich vorausgeht, als Ursache zur Voraussetzung, es zwangsläufig folgt, dass diese Ursache-Wirkungskette erstens notwendig und zweitens anfangslos ist und damit Freiheit, Moral, Verantwortung in jeder Hinsicht verun­ möglicht. Das wurde bereits gezeigt und widerlegt. Da jedoch etwas, das entsteht, weder von sich noch von nichts kommen kann, andererseits nicht von etwas Gleichartigem, das zeit­ lich vorausgeht und in das Entstehende übergeht, verursacht worden sein kann, folgt, dass die Ursache von etwas Entstehendem nicht in dieses Entstehende übergeht, sondern dieses als seine Wirkung aus seiner seinsranghöheren Kraftfülle heraus wirkungsmächtig setzt und kreativ hervorbringt. Dabei verliert die Ursache nichts, vielmehr entfaltet sie sich als Wirkungszentrum und vermindert sich nicht. Eine Ursache, die frei wirkt und schöpferisch ist, kann ihr Wirken auch unterlassen, also wählen, sie ist wesenhaft bewusst und damit geistig. Wie für das transitive Kausalmodell kann auch für das imma­ nente Kausalmodell eine Inkonsistenz aufgezeigt werden: Es impli­ ziert, wie B. v. Brandenstein an den vielen angegebenen Stellen beweist und hier ebenfalls dargelegt wurde, die Möglichkeit der das gerade nicht berechnet, das vielmehr analytisch aufgedeckt (bzw. bei Platon »erinnert«) und in seinem Wesen geschaut werden muss. So ist bei Platon die Ursache bzw. der wirkende Grund für die werdenden Erscheinungen der Welt gerade nicht etwas Mathematisches, sondern ein wirkmächtiges, geistiges Prinzip, z. B. die Idee des Guten oder ein Demiurg, welches Prinzip die Welt ermöglicht und formt. »Grund« einseitig, wie M. Heidegger tut, auf subjektive Begründung und auf mathematische Bedingungs- oder Gesetzesverhältnisse einzuengen, ist sowohl sachlich als auch historisch falsch: Wohl gibt es mathematische Bestimmungsgründe für alles Seiende, aber es gibt darüber hinaus seinslogische, seinsformende Gründe und real wirkende, sprich kausal hervorbringende Gründe (»Kräfte«, »Mächte«), die sich grundsätzlich von den mathematisch-rechnenden Gründen (rationes mathematices) unterscheiden und für die Bemächtigung der Natur nicht oder nur in anderer Weise genutzt werden können.

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3.2. Das Problem der Entstehung überhaupt

anfangslosen Wechselreihe bzw. der anfangslosen Ursache-Wir­ kungskette und ist damit widerlegt. Die Wirkung einer Ursache kann daher nicht deren »Leib«, »Kleid« bzw. deren wesenhafte materielle Manifestation sein, wie es z. B. G. W. Leibniz347 im Anschluss an Aristoteles denkt. Da die Kausalität insofern eines der fundamentalsten Probleme der Philosophie darstellt, als es um die zentrale Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Entstehen, Werden, Bewegung und Veränderung überhaupt geht, reicht ihre Art der Lösung bis zu den letzten Seinsgründen zurück. Wenn Kausalität nur als frei-wirkende Hervorbringung möglich ist, dann können sowohl die Ur-Ursache des Seins, also der letzte Quellgrund allen Seins, wie bereits bei der Behandlung der Kantischen Antinomien dargelegt, als auch die zeitverbundenen Wirkkräfte des Kosmos nur als freie und bewusst tätige Faktoren gedacht werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Sicht der Welt im Angesicht der neuzeitlichen, weitgehend mechanistisch-physikalistischen Welt­ deutung revolutionär ist und eine radikale Umbildung sowohl der Natursicht als auch des Naturumganges verlangt. Die Natur ist auf dieser Folie weder eine deterministisch ablaufende Maschine noch ein blindes Zufallsprodukt, aber auch kein direktes Produkt des Absolu­ ten, sondern sie ist das Werk, die Schöpfung, das Wirkungsgebilde einer Vielheit von Wirkursachen, sprich prinzipiell intelligenter, sich in ihren Schöpfungen zeigender, ausdrückender und mitteilender Geistwesen, zu denen der Mensch als selbständige Naturkraft in Verwandtschaft steht. Nur die Polykausalität wird dem Kosmos, wie wir ihn kennen, gerecht. Keineswegs lebt der Mensch daher, wie etwa A. Camus im Der Mythos von Sisyphos (1974a) im Anschluss an B. Pascal (1623–62) meint, in einem toten, tauben, absurden Kosmos, der ihm nichts zu sagen hätte,348 vielmehr kann er dem so reichen und sinnigen Weltall, wie die moderne Bionik überzeugend lehrt,349 unabsehbar viel Wissen, Erkenntnis und Sinn ablauschen.350 Darüber hinaus Vgl. G. W. Leibniz (1966, 72 und 1966, 451ff. im Absatz 70): »Aus dem Gesagten ersieht man, dass jeder lebende Körper eine herrschende Entelechie hat [...]«. 348 Siehe dazu auch N. Lenau (1802–1850) in seinem Gedicht »Aus!«: »Das Men­ schenherz hat keine Stimme/Im finstern Rate der Natur. «. 349 Vgl. K. G. Blüchel (2005). 350 Dem Leben in seiner Fülle, Tiefe und Innigkeit näherstehende, native Völker und viele Künstler erfassen dies besser als die meisten Philosophen, so z. B. der

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

beweist der Umstand, dass der Mensch mit seinen physischen Kul­ turbildungen konsequent und sinnhaft auf den vormenschlichen Naturgrundlagen aufbaut, dass diese mit jenen kompatibel und somit im weitesten Sinne geistverwandt sind. All das wäre bei völliger Fremdheit zwischen Mensch und Natur, wie sie R. Descartes und I. Kant ansetzen, unmöglich.

3.3. Die Kausalität des Leidens: Getroffenheit, Betroffenheit und Selbstentwurf Da das Leiden entsteht, muss es hervorgebracht, in diesem Sinne verursacht werden. Wie schon in meiner Dissertation gezeigt, ver­ zahnen sich hier zwei Kausalitäten, eine externe und eine interne. Strenggenommen wird ein Zustand erst dadurch zum Leid, dass der Betroffene ein Widerfahrnis als Übel, als Leid, und zwar als sein Leid wahrnimmt, erlebt und bewertet. Das aber tut er, indem er sich subjektiv von einem Widerfahrnis getroffen fühlt und dieses Getroffenwerden – meist intuitiv-präreflexiv – negativ bewertet. Das ist die erste, externe Kausalität. Wo nichts widerfährt, kann an nichts gelitten werden, und sei es das bloße Dasein. Doch dieses Daranleiden ist ein Zweites, bei dem die Aktivität des Betroffenen ins Spiel kommt. Daher ist sie nicht extern, sondern vollzieht sich intern bzw. an der Grenze von intern und extern. Und wie das Leben bezeugt, kann der Mensch nicht nur an äuße­ ren Widerfahrnissen, sondern auch an sich selbst leiden, etwa an seiner Komplexität, Vergänglichkeit, Unvollkommenheit, an seiner Selbstundurchsichtigkeit und Verantwortlichkeit, kurz daran, dass er, wie E. Levinas351 sagt, an das Sein seiner Existenz bzw. an sein Leben deutsch-französische Künstler Walter Notz und seine »kosmische Kunst der Bewe­ gung, Berührung und Freude.« 351 Vgl. E. Levinas (2005, 9). Zu Recht betrachtet M. Henry (2017, 13–26) das Erdulden- und Tragenmüssen des Lebens als ein unumgängliches (Selbst-)Erleiden bzw. als Selbstaffizierung des Lebens – wir können als Erlebende nicht sein, ohne zu leben. Zu weit geht er aber, wenn er meint, Leben bedeute notwendig Leiden. Dazu wird es erst, wenn der Mensch sein Lebenmüssen als bedrückend und als Zwang, den er abschütteln will, erlebt und so sich gegen das Leiden – vergeblich – auflehnt, den Zwang also nicht abschütteln kann. Ohne die Unterscheidung von Erleiden (Affizierung, Widerfahrnis, Affliktion) und Leiden (pathos, Affekt) verwirrt sich eine jede Lebens-, Leidens- und Übelphilosophie, mithin eine jegliche Theodizee.

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3.3. Die Kausalität des Leidens: Getroffenheit, Betroffenheit und Selbstentwurf

als Erduldenmüssen des Lebens (M. Henry) gekettet ist. Das ist die zweite, die interne Kausalität. Sachlich die erste, gewissermaßen noch neutrale Kausalität, die zum Gesamtvorgang des Leidens gehört, ist das Widerfahren des Widerfahrnisses. Doch erst durch Erleben und Deuten desselben von Seiten des Erleidenden wird dieses Widerfahrnis zum Leid. Das be­ deutet alles andere als Willkür und subjektiven Relativismus, sondern offenbart eine fundamentale Selbst-Welt-Beziehung, in der sich eine Sinn- und Wertrelation von objektiver Sachhaltigkeit einstellt. Zwar kann der Betroffene prinzipiell alles, was es gibt und was er erfährt, zum Leid machen, auch das Glück, doch selbst dann drückt sich darin kein Zufall und keine Willkür aus, weil das Glück etwa in seiner Zerbrechlichkeit und Unverfügbarkeit erlebt wird. Letztlich erscheint einem Leidbetroffenen das als Übel, Unheil, Unglück und Leid, was ihm einen echten Seins- und damit elementaren Sinn- und Wert­ verlust bedeutet, z. B. den Verlust der körperlichen Unversehrtheit, den Ausfall einer intakten Körperfunktion, den Verlust einer Empfin­ dungsfähigkeit oder den Verlust einer seelischen Erlebnisregion, einer seelisch-geistigen Fähigkeit oder den Verlust einer menschlichen Beziehung, aber auch den Verlust von Arbeit, Besitz, Anerkennung, Einfluss, Macht, Ansehen usw. Auch ein Zuviel hat eine Mangelseite, etwa ein chronischer Schmerz oder eine Affektüberflutung, die zu Kontrollverlust und Erlebniseinschränkung führen. Wohl kann sich ein Mensch einen Verlust »einbilden« bzw. sich in einen solchen hineinsteigern, aber dann verlor er eben das Selbstund Lebensvertrauen, die Klarheit des Blicks und das Erduldenkönnen der Unbilden des Lebens, um im Gleichgewicht zu bleiben – und das ist ein Verlust, den der Betroffene nur nicht klar einordnen kann, sondern mit Scheinverlusten vermengt. Da der Mensch grundsätzlich zu sich, zur Natur und zur Mitwelt in einem Seins-, Sinn- und Wertverhältnis steht, darin ihm alles zum Guten wie zum Schlechten gereichen kann, ist er immer einer möglichen Affliktion ausgesetzt und kann Schaden nehmen; daher ist die Wirklichkeit nie neutral. Er­ kennt man gar, wie im vorigen Kapitel gezeigt, dass alle Wirklichkeit die Wirkung von geistigen Wesen ist, ist auch alle (vormenschliche) Wirklichkeit mit Sinn, Bedeutung und Wert aufgeladen, obgleich nicht mit menschspezifischem Sinn. Wie dem auch sei, im Leiden wird ein Wesen, das wesenhaft sinnund wertbezogen lebt, von einer sinnstörenden, oft sinnzerstörenden Macht getroffen, worauf es mit Betroffenheit und Leiden antwortet,

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

was wiederum nur auf dem Hintergrund eines meist implizit-unbe­ wussten bzw. nur teilbewussten Selbst-Welt-Entwurfes möglich ist. Denn alles Leiden impliziert ein »So soll es nicht sein, sondern anders«, also einen Seinsentwurf und damit eine bestimmte SelbstWelt-Beziehung.352 Hier kommt die Kausalität aus menschlicher Freiheit ins Spiel, da solch ein Selbst-Welt-Entwurf nicht mechanisch oder zufällig oder notwendig sein kann, sondern als Ausdruck einer Selbst-WeltGestaltung gedacht werden muss. Damit erhellt, dass Leid nicht allein von außen zugefügt werden kann, sondern von der Seins-, Sinn- und Wertstruktur, also vom Selbst-Welt-Entwurf des Betroffenen wesentlich mitbestimmt wird. Daher kann das, was für den einen ein Unheil ist, dem anderen zum Heil gereichen. Immer müssen der Gesamtkontext und die darin lebendigen Intentionalitäten herangezogen werden, in denen ein Mensch oder eine Menschengruppe stehen, anders lässt sich kein adäquates Verständnis für den Betroffenen gewinnen. Alles Übel vereinigt demnach eine objektive und eine subjektive Seite, und keine der beiden Seiten ist zufällig oder willkürlich bzw. hat selbst da, wo sie zufällig oder willkürlich zu sein scheint, eine tiefere Realitätsbedeutung, die dem Betroffenen oft unverfügbar ist. Auf dieses in der Tat schwierige Problem komme ich später im Kapitel 3.5.-3.7. zurück, hier genüge der Aufweis der Doppelschich­ tigkeit bzw. Doppelseitigkeit der Leidenskausalität: Widerfahren des Widerfahrnisses als erstes Kausalverhältnis (Affizierung und Afflik­ tion), und autoaffektiver Selbstvollzug im Leiden als zweite Causa auf dem Hintergrund eines Selbst-Welt-Entwurfes, in den wesent­ lich Empfänglichkeiten, Empfindlichkeiten, Wertungen, Bedürfnisse, Wünsche, Ängste, Sinnbezüge und Intentionalitäten eingehen. Erst diese kausale Zweiseitigkeit erklärt so extreme Leidenseinstellun­ gen wie die Buddhas bzw. der Stoiker auf der einen, der typischen Opferhaltung auf der anderen Seite. Während die ersten lehren, 352 Insofern es implizite bzw. unbewusste Unter- und Hintergründe all unserer spontanen Selbst-Welt-Entwürfe gibt, ja ganze Selbst-Welt-Entwürfe unbewusst mit im Spiel sind, so genannte implizite, z. B. zentralnervös, aber auch tiefenbewusst erfolgende Musterbildungen, kann das Leiden ein Mittel sein, diese unbewussten Entwürfe unserer präreflexiven Lebenswelt bewusst zu machen. Nur im Leiden erkennt der Mensch, dass er ein abgründiges, in sich noch dunkles Wesen ist, dessen Aufgabe es ist, in dieses dunkle Potential Licht zu bringen (vgl. den delphischen Spruch: »Erkenne dich selbst«).

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3.4. Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«)

dass letztlich alles Leiden vom Betroffenen selbst abhängt und durch einen geistigen Einstellungsakt verschwindet, bei den Stoikern durch Ataraxie (Gemütsruhe) und Apathie (Leidenschaftslosigkeit), d. h. durch ein inneres Sichnichtbetreffenlassen und eine Art affektiver Unberührbarkeit, bei Buddha durch ein Nichtwerten und Nichturtei­ len, empfindet sich der – oft anderweitig traumatisierte! – Mensch der Opferrolle als permanent betroffen, bedroht und ungerecht behan­ delt. Im dritten Teil der Philosophie des Leidens, der Ethik des Leidens, wird sich zeigen, dass beide Einstellungen einseitig sind: Während die eine Position Freiheit und Autonomie des Menschen überspannt, degradiert die andere Freiheit und Würde des Menschen zur Belanglosigkeit. Der Mensch darf und soll sich betreffen lassen, soll sich innerlich beteiligen und engagieren, soll auch werten, aber angemessen und maßvoll, z. B. indem er sich über Versklavung, Kinderarbeit, Sexualmissbrauch und Ausbeutung empört, Unrecht anprangert und Zivilcourage zeigt. Der Mensch ist sinn- und wertori­ entiert, mehr noch sinn- und wertgebunden und soll dazu stehen und sich nicht künstlich unabhängig machen. Andererseits darf die Einsicht in die Abhängigkeiten des Menschen nicht dazu führen, dass er seine Autonomie und Freiheit in einer Opferhaltung aufgibt, viel­ mehr gilt es, sich in bedrohlichen und entwürdigenden Situationen zu behaupten, abzugrenzen, sich zu distanzieren oder darüber zu stellen und manchmal auch sich zu entfernen. Der Mensch ist beides, auch ethisch: gebunden und frei, geprägt und initiativ, wertgezeichnet und wertschaffend.

3.4. Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«) Leiden ohne Freiheit ist unmöglich, weder im Menschen noch außer­ menschlich, doch handelt es sich immer um geschöpfliche, also werdende, begonnene, »endliche«, genauer, potentialunendliche Frei­ heit.353 Werden, sich entwickeln und entfalten kann sich nur, was nicht fertig, nicht total aktualisiert ist, was darin seinen Grund hat, dass solch einem Wesen ein dynamisch-unfertiger Status und ein Potential eignet, das kreativ-unerschöpflich ist. 353 Endliche Freiheit im echten, finiten (E) Sinne ist, wie gezeigt (siehe Kap. 2.1.-2.12.), ein Selbstwiderspruch und sachlich unmöglich.

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

»Das Psychische ist eine Großmacht, die alle Mächte der Erde um ein Vielfaches übersteigt. Die Aufklärung, welche die Natur und die menschlichen Institutionen entgöttert hat, hat den einen Gott des Schreckens, der in der Seele wohnt, übersehen. Gottesfurcht ist vor der Übermacht des Psychischen, wenn irgendwo, am Platz.«354

Solange dieses Potential, sprich diese Seinsentfaltbarkeit nicht aktua­ lisiert ist, lebt sie nur als dynamische Möglichkeit, schläft gleichsam und ist »dunkel«, ungelebt, unerkannt, eingeschlossen. Alles Seiende, das zugleich aktiv und werdend ist, trägt ein ungehobenes, unentfal­ tetes und dunkles Potential in sich, das noch geboren werden will. Es ist ein reales Noch-Nicht, ein ens abyssum, es liegt in Latenz, wie E. Bloch355 sagt, doch nicht passiv, sondern spannungsvoll, oft auch drängend. Wie bei einer Schwangerschaft will Geburt sein. Wo diese gehemmt wird und nicht gelingt, da leidet ein solches Wesen an sei­ nem Selbstsein, genauer, an seinem Nicht-Selbstseinkönnen, Nochnicht-Selbstseinkönnen mit allen Folgen der inneren Zerrissenheit, etwa mit Nervosität, Schlafstörung und Verlust der Selbstkontrolle. Da seine innerste Daseinsaufgabe darin besteht, sich zu ergreifen und sich zu aktualisieren – »sich zu gebären« –, scheitert ein Wesen an sich selbst, wo es diese Selbstergreifung, diese Freiheit zu sich nicht wagt oder daran gehindert wird. Es gibt kein geschöpfliches Werden ohne Wagnis: Der werdende Geist muss sich aufs Spiel setzen, nicht selten unter der Gefahr, sich zu vergreifen und sich zu schaden. Das aber bedeutet, er muss wagen, ins Dunkel hineinzugehen und hineinzugreifen, um seinen »Schatz« zu finden. Alle Märchen reden von diesem Wagnis und seinem »Gang zu den Müttern«.356 Gott muss dies nicht, ein Ding kann es nicht, allein den kreativen Zwischenwesen ist es auferlegt. Der gesamte Kosmos erweist sich, insofern er das Werk von Zweitursachen ist, als Wagnis, als Versuch und Irrtum, als Selbstentfaltung potential-aktiver Geistkraftwesen,

354 Siehe C. G. Jung (1983, 131f.). Als eines der tiefsten und radikalsten Sprach­ symbole bzw. Sprachgleichnisse, das von der Ungeheuerlichkeit des menschlichen Seinsabgrundes zeugt, darf das Shakespeare-Drama Macbeth gelten, in dem die entsetzlich-fraglichen und (selbst-)mörderischen Abgründe des Menschseins zum Vorschein kommen. 355 Vgl. E. Bloch (1974, bes. Kap. 15, 17, 18, 20, 54). 356 Vgl. K. Jaspers (1947, 840); P. Wust (1946); J. Herzog-Dürck (1960); P. Tour­ nier (1986).

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3.4. Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«)

als »aventure«.357 Nicht Gott braucht die Schöpfung, er ist der Immerschon-Entfaltete, Totalaktuale, Voll-Lebendige, doch die geistigen Geschöpfe brauchen sie, um zu sich und zueinander zu finden.358 Die gesamte sichtbare Schöpfung nimmt absurde und bizarre Züge an, wenn sie, wie naiverweise in vielen Religionen, teilweise auch im Christentum, als direktes Werk Gottes betrachtet wird.359 In diesem Fall wäre er der unmittelbare Verursacher von Übel und Leid, Irrtum und Sackgasse, Versuch und Verwirrung, Kampf und Schmerz, Fres­ sen und Gefressenwerden, Auf-, Ab- und Umbau, von Missbildung, Altern, Krankheit, Krebs, von Mord und Totschlag.360 Das ist sinn­ widrig, zumal er all dessen nicht bedarf. Darum muss die klassische Theodizee solange scheitern, wie sie Gott nicht nur als allmächtig, sondern als allwirksam betrachtet. Erst die Einbeziehung des Entwick­ lungsgedankens, bereinigt von der unhaltbaren Zufallshypothese des Darwinismus, kann das Theodizeeproblem, die Koexistenz von Gott 357 Auch in der Gegenwart gibt es Philosophen wie A. Platinga, die die Existenz von nichtmenschlichen Geistgeschöpfen für möglich oder sogar – im Rahmen einer konsistenten Theodizee – für nötig halten. Da sie jedoch nicht die notwendigen metaphysischen Voruntersuchungen anstellen, bleibt es bei bloß religionsphilosophi­ schen Vermutungen, so etwa bei A. Platinga (1974, 192), der den »Sturz der Engel« in Anspruch nimmt, um die Übel in der Natur »zweitursächlich« zu erklären, was doch allzu mythologisch ausfällt. Es widerstreitet dem empirisch erfassbaren Naturge­ schehen, seine Unvollkommenheiten und Dysteleologien durchgängig als Folge eines Abfalls nichtmenschlicher Geistgeschöpfe von Gott zu deuten, gibt es doch, wie z. B. E. Becher (1917) anhand der Pflanzengallen zeigte, sogar Fremddienlich-Zweckmäßiges in der Natur, wobei man allerdings nicht so weit gehen muss wie E. Becher, der darin eine Form der »Feindesliebe« sieht. Es ist auch möglich, dass die Pflanze als Wirt von dem Parasiten, was oft in der Natur vorkommt, gewaltsam umprogrammiert wird. Auch darin zeigt sich eine allerdings niemals allweise Intelligenz. 358 Bzw. Gott braucht die Schöpfung insofern, als er sich nur durch sie und damit durch das Mitschöpfen der Zweitursachen als Schöpfer realisiert! So gesehen, darf man überspitzt sogar sagen, dass erst durch die mitschaffenden Zweitursachen Gott als Schöpfer, jedoch selbstverständlich nicht als Gottheit (!) realisiert wird. 359 Auch K. Rahner (1965, 80f.) betont die metaphysische Regel, dass Gott den Zweitursachen das physische Wirken in der Welt überlässt, nicht nur, weil sonst alles Weltgeschehen ein Wunderwirken wäre, sondern weil damit auch alle geschöpfliche Freiheit aufgehoben würde. Gott bewirkt also, von Wundern abgesehen, nicht die empirisch-sichtbare Schöpfung, sondern deren Grundlagen, die Naturgeistkräfte, die Menschenseelen und die metaphysische Materie, an der diese Kräfte ihre Werke schaf­ fen. 360 Auch so ein Phänomen wie der funktionale Kannibalismus, sehr weit im Tierreich verbreitet, etwa bei den Heuschrecken, lässt sich schwerlich auf Gottes Weltwirken direkt zurückführen.

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

und Übel, Gott und Leid, Gott und dem Bösen einer Lösung zuführen. Der wesentlichste Baustein dafür ist die Einsicht, dass es Zweitursa­ chen – in Gestalt des Menschen und als verborgene Naturgeistkräfte – gibt und dass sie wesentlich seinspotential, seinsdunkel, wiewohl seinsgebärfähig und damit partiell frei und reifungsberufen sind.361 Mit den prägnanten Worten Proezas aus P. Claudels Der seidene Schuh: »Warum sollte ich das Tiefste in ihm schonen?« Da der Mensch in seinem geistig-schöpferischen Wesen nicht nur unausschöpflich (potentialunendlich, pU), ein Abgrund (homo abyssus), sondern auf das Unendliche (aU) hingeschaffen ist, aber im Vergänglichen (E) existiert, steigert sich bei ihm die existenzielle Seinsdiskrepanz bis ins Unerträgliche: »Der betrübliche und schmerzliche Widerspruch im Menschen liegt darin, dass er in seinen verborgenen, nicht enthüllten Tiefen ein unendliches Wesen ist, das nach dem Unendlichen strebt, ein Wesen, das nach Ewigkeit dürstet und das für die Ewigkeit geschaffen ist, das sich aber darauf beschränkt sieht, ein endliches und begrenztes, ein zeitliches und sterbliches Dasein zu führen [...] Ich sollte in mir

361 In der existenziellen und spirituellen Notwendigkeit, den Seinsabgrund der geisti­ gen Geschöpfe zur vollen Offenbarung zu bringen – vgl. dazu Jesu Lampengleichnis in Mk 4, 21-25 –, liegt der Grund, warum Gott die Bösen oft lange, ja nicht selten bis zum Punkt ihrer Selbstzerstörung gewähren lässt: »Jesus aber sprach: »Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen. Wenn nun der Satan den Satan austreibt, so muss er mit sich selbst uneins sein; wie kann dann sein Reich bestehen?« (Mt 12, 22-26). Nur so lässt sich verstehen, warum A. Hitler über 40 Attentate überlebte, da nur auf diesem Wege das letztliche Wesen des Bösen aufzudecken war, nämlich sich – in tiefstem Seins-, Lebens- und Selbsthass – selbst zu vernichten. Dieser Hass als »Wille zum Nichts« (K. Jaspers) entspringt nicht selten, wie I. Kershaw für den Fall Hitlers herausarbeitet, aus der quälend erlebten Erfahrung der bodenlosen Nichtigkeit und »Misslungenheit« (siehe B. v. Brandenstein 1948, 15–18) des eigenen Lebens, verbunden mit einer willensstarren Realitätsverleugnung, mehr noch mit der quasigöttlichen Erhebung des eigenen Willens über alle (!) Wirklichkeit und Werthaftigkeit. Darüber hinaus werden im Falle des Naziregimes Ressentiment, Lüge, Selbstbetrug, Feigheit und Todeskult offenbar, wenn sich etwa die nationalsozialisti­ schen Paladine (Himmler, Göring, Hess, Goebbels usw.), die den Kindern Tapferkeit und Gehorsam bis in den Tod predigen, am Ende der Verantwortung entziehen, untertauchen, verstellen oder um Gnade bitten. Die Bösen sind zwar nie banal, aber am Ende sehr oft jämmerlich. Kurzum: Wäre A. Hitler einem Attentat zum Opfer gefallen, hätte die Gefahr einer neuerlichen Dolchstoßlegende bestanden, durch die A. Hitler zum Märtyrer und zum größten Feldherrn aller Zeiten stilisiert worden wäre.

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3.5. Das Wesen des Übels und seine Ordnung

die ganze göttliche Welt tragen, und statt dessen trage ich in mir ein Nicht-Ich, eine tötende Objektivität.«362

3.5. Das Wesen des Übels und seine Ordnung An diesem Punkt angelangt, drängt sich die zentrale Fragestellung im Rahmen einer jeden Philosophie des Leidens, des Schlechten und des Bösen auf, die Frage nach der Existenz und dem Wesen des Übels. Dass es sich hierbei um etwas handelt, das alles andere als selbstverständlich ist, beweist die Tatsache, dass es Anschauungen gibt, die die Existenz des Übels prinzipiell oder weitgehend leugnen. Denker wie G. Bruno363, A. Shaftesbury und B. de Spinoza, aber auch die »Christian Science« der M. Eddy Baker,364 die im Übel nur eine Fehlinterpretation der an sich göttlichen, immer guten Wirklichkeit sehen, vertreten diesen radikalen ontologischen Optimismus.365 Nicht sehr weit von dieser Position entfernt liegt jene Philoso­ phie, die das Übel, wie z. B. im Fall des Stoikers Epiktet,366 ausschließ­ lich als subjektivistische Wertung einer an sich neutralen Wirklichkeit deutet, da sie davon ausgeht, dass alle vormenschliche bzw. vorani­ male Wirklichkeit sinn- und wertneutral sei. Beide Positionen sind erweisbar einseitig und ergänzungsbedürftig, was auf dem Hinter­ grund der bisherigen metaphysischen Ergebnisse nicht verwundert, da sich die gesamte Weltwirklichkeit als geistiges Schaffenswerk frei-bewusster und wertbezogener, allerdings endlicher Kräfte erwies. 362 Siehe N. Berdjajew (1951, 68f.), der mit seiner Materiefeindschaft allerdings zu einem gewissen gnostischen Dualismus neigt. Zum »homo abyssus« vgl. F. Ulrich (1961). 363 Vgl. die Theodizee G. Brunos in der Zusammenfassung von F. Billicsich (1952, 27–32). 364 Vgl. M. Eddie Baker (1910), Gründerin der Christian Science. 365 Aus der Perspektive Gottes bzw. aufs Ganze gesehen, das auch die Zukunft umfasst, haben sie durchaus Recht, da vom Ende der Zeit aus betrachtet, das Gott in sich vorbildlich und zeitlos weiß und wo sich alles zum endgültig Guten wendet, auch alles Schlechte überwunden wird. Aber auch diese Perspektive macht aus dem Schlechten als solchem, d. h. aus den Übeln von Leid, Schuld und Sünde, nichts in sich bzw. endgültig Gutes, selbst wenn das Schlechte eine Funktion für das gute Ganze hat. Vor allem das sittlich Schlechte, das Böse also, kann und darf niemals als bloße Unvollkommenheit, Stufe oder als neutraler oder positiver Teil im Ganzen betrachtet werden, wie das die genannten Denker, aber auch etwa G. W. F. Hegel u. a. tun. 366 Siehe Epiktet (1925, 27): »Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen über die Dinge.«

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Beginnen soll die Analyse des Übels jedoch von einer anderen Seite her. In der Phänomenologie des Leidens war dargelegt worden, dass der Akt des Leidens als subjektiver Vollzug ein Woran braucht, an dem er sich aktualisiert. Wer an nichts leidet, leidet nicht. Dieses Woran des Leidens wurde das Leid oder der Leidensgegenstand genannt, man könnte ihn auch als das subjektive Übel bezeichnen. Seine Konstitution verdankt sich der Intentionalität des Leidens, die sich nur insofern realisieren kann, als sie auf etwas erlebnismäßig-sinnhaft gerichtet ist, das den Betroffenen leiden lässt. Inhaltlich umfasst dieses Leid alles, also keineswegs nur Welt­ inhalte, Weltgegenstände oder Weltsituationen, sondern auch imagi­ native, imaginäre und subjektive Sachverhalte, ja das eigene Sein und Leben selbst. Die Intentionalität der subjektiven Akte kann reflexiv auf das Subjekt selbst gerichtet sein und z. B. sein Dasein, seine Gestimmtheit, seine Kontingenz oder seine Irrbarkeit meinen,367 sie kann in die Welt weisen, über die Welt hinausstreben, etwa zu den Quellen der Wirklichkeit, und schließlich ist sie fähig, ins Leere, ins Nichts zu zielen. Im Fall Gottes erreicht der intentionale Akt seinen Gegenstand nur meinend, nicht real, da Gott im Bewusstsein nicht bzw. nur als Vorstellung, die nicht Gott ist, setzbar ist.368 Das Nichts gar, ein Lieblingsthema der Heideggerschen Ontologie, ist wesenhaft unerreichbar, andernfalls wäre es etwas. So lässt sich sagen, dass irgendeine Wirklichkeit oder Wirklichkeitskomponente, was Phantasien und Wahninhalte miteinbezieht, durch den intentionalen Akt des Leidens zum Leid, Leidensgegenstand oder zum Leid-Übel wird. Was lässt sich nun von diesem selbst sagen? Worin besteht sein Wesen, seine Struktur, sein Gefüge?369 Das Subjekt ist, wie K. Jaspers (1947, 1. Teil, 2. Kap.: Existenz, 76ff.) immer wieder in Anlehnung an S. Kierkegaard betont, kein Weltgegenstand. Das genau ist aber die Sichtweise aller Naturalismen. 368 Auf der Gleichsetzung bzw. Verwechslung von subjektimmanenter Gottesidee und subjekttranszendenter Gottesrealität beruht die Unzulänglichkeit des ontologi­ schen Gottesbeweises. 369 Die hier vorgelegten Überlegungen sind unabhängig von Thomas v. Aquin (1985, 214–224) entstanden, stimmen aber mit seiner Analyse in der Summe der Theologie weitgehend überein. F. Billicsich (1. Band, 1955, 319–344) fasst die thomasische Übel­ lehre und die ihr entsprechende Theodizee in einem guten Überblick mit wörtlichen Zitaten zusammen. Drei wesentliche Unterschiede zur hier vorgelegten Theodizee seien nichtsdestotrotz genannt: 1. Aufgrund des relativ statischen Weltbildes von Thomas v. Aquin und der zu seiner Zeit fehlenden Kenntnis der evolutionären 367

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3.5. Das Wesen des Übels und seine Ordnung

Alles Leid ist eine Wirklichkeit, und zwar jene, von der sich der Betroffene – jedoch vergeblich – zu befreien sucht, und das heißt, er fühlt sich von einem Übel bedrängt, eingeschränkt, manchmal verletzt und beschädigt. Damit eignet einem jeden Leid ein dynamischer Unwert- und Unsinnscharakter: Der Leidende beweist durch sein Leiden an einem bestimmten Leid, dass diese leidvolle Wirklichkeit, obwohl sie ist, nicht sein soll. Das Leid stellt damit eine eigenartige Mischung aus einem bedrängenden Zuviel und einem entziehenden Zuwenig dar, meint also eine Unordnung, einen Mangel, allerdings einen Mangel mit dem Vorzeichen des Nichtseinsollenden, des Un­ wertes, was man im Allgemeinen Unannehmlichkeit, Beeinträchti­ gung, Störung oder Schaden nennt.370 Die Wertwidrigkeit gilt jedoch keineswegs für jeden Mangel, da es natürliche Mängel gibt, z. B. die Unfähigkeit des Menschen, aus eigener Kraft zu fliegen oder alles, was in seinem Leben geschah, zu erinnern.371 Der Leidmangel ist demnach anderer Natur, er ist gewissermaßen widernatürlich. Was heißt dies genauer? Vor allem, was meint hier »Natur«? Der Begriff »widernatürlich« will anzeigen, dass einem Seienden etwas fehlt bzw. abhandengekommen ist, ohne Dynamik des Kosmos, der Lebewesen und des Menschen mit seiner Kultur, war es ihm nicht möglich, den Läuterungs- und Reifungssinn der Schöpfung in seiner ganzen Tiefe auszuloten; 2. Da Thomas in seiner Kausallehre von der Immanenzkausalität des Aristoteles abhängt, so dass er z. B. Feuer als selbsttätig und damit als Ursache für Wärme betrachtet, konnte er das Wesen der Zweitursachen nicht klären, was, wie gezeigt werden soll, die Theodizee mit unlösbaren Aporien beschwert; 3. Gegen die Auffassung von Thomas, die Schöpfung sei nicht die beste aller möglichen Welten, da Gott unendlich viele bessere Welten denken kann und real auch hätte eine bessere als die bestehende schaffen können, ist erstens einzuwenden, dass jede von Gott nur gedachte Welt schon insofern weniger vollkommen als die bestehende ist, als diese selbständig-eigentätig ist und das Prinzip der Freiheit realisiert, während jene bloß in Gott gedachte Welt wesenhaft unselbständig-unfrei ist, und zweitens, dass Gott es seiner Vollkommenheit schuldet, die Welt, die er aus den unendlich vielen in seinem Bewusstsein auswählt, mit allen ihren Potenzen, Konflikten, Mängeln, Übeln und Reifungsmöglichkeiten als die bestmögliche zu erschaffen. Wie das konkret zu denken ist, wird an entsprechender Stelle diskutiert. 370 Siehe Augustinus in De civitate dei, XII, 1: »Malum nulla natura, sed contra naturam«. Das »contra« als Kraft und Fehlrichtung ist entscheidend! 371 Diese naturgegebenen Mängel bezeichnet G. W. Leibniz (1967, 194, Kap. 21) in seiner Theodizee nicht ganz glücklich als »metaphysische Übel«. Sie sind aber keine Übel, d. h. nichtseinsollende Mängel, wenigstens zunächst nicht, sondern wesenhafte Konstituenten kreatürlichen Daseins und natürliche Grenzen irdischen Lebens, die positiv Sinn, Grenze, Halt, Orientierung und Befriedigung geben; ähnlich vgl. N. Hoerster (2917, 15–19).

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

das es nicht sein kann, was es ist bzw. sein soll. Was aber gehört einem Leidenden zu? Alles das, was sein Leben ermöglicht und seinen Daseinssinn realisiert. Beispiele dazu: Zum leiblichen Sinn eines Menschen gehört die Befriedigung seiner basalen Vitalbedürfnisse wie Atmen, Trinken, Essen, Schlafen, Ausruhen und Bewegung. Zum psychisch-psychosozialen Sinn gehören die Bedürfnisse nach Geborgenheit, Sicherheit, Halt, Verständnis, Mitgefühl, Einfühlung, Förderung, Kommunikation, Bestätigung, Lieben, Geliebtwerden, Achtung und Gemeinschaftlichkeit. Und zum geistigen Sinn gehören die Bedürfnisse nach kreativer Betätigung, nach Erkenntnis, Bildung, innerem Wachstum, nach Selbstmacht (Selbstwirksamkeit), Orien­ tierung, Erkenntnis und nach Liebe. Bei diesen Bedürfnissen handelt es sich um Lebenswirklichkeiten, die mehrere Aspekte umfassen: Jedes Bedürfnis ist372 – – –

erstens eine das Subjekt objektiv, sprich seinshaft bestimmende Größe, die dadurch Orientierung gibt, dass sie anzeigt, was real gebraucht wird; zweitens eine Fähigkeit, etwas zu wollen und zu realisieren; und es ist drittens das Streben nach etwas, das lebenswert und damit wertvoll erscheint, aber noch nicht vorhanden oder erreicht ist.

Jedes Bedürfnis erscheint so als eine Wirklichkeit, die mehr Wirklich­ keit will bzw. solche Wirklichkeit will, ohne die das Leben an Wert, Sinn, Kraft und Perspektive verliert. Jedes Bedürfnis ist daher die Dreiheit von Potenz, Orientierung und Mangel. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Status des Leids bzw. des Übels besser fassen: Alles Leid bzw. Übel ist das Ergebnis des Zusammenpralls zweier Wirklichkeiten, die sich stören oder zerstö­ ren und dadurch einerseits ein Zuviel (an Konfrontation), andererseits ein Zuwenig (an Gleichgewicht und Integration) und drittens eine fehlende Passung nach sich ziehen, die alle drei in einem Sinn-WertBezug als Unwert erscheinen. Dabei kann das Übel einen direkten Mangel bedeuten, so etwa, wenn ein Mensch der Unterstützung, der Nahrung, der Arbeit, der Vitalität, des Lebenssinns usw. entbehrt oder es kann einen indirekten Mangel anzeigen, der durch ein Zuviel bzw. durch eine Unordnung bedingt ist. Ohne Sinn- und Wertbezug kann 372 Vgl. ausführlich dazu meine philosophische Dissertation (2009, 139ff.; Neuauf­ lage 2023).

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3.5. Das Wesen des Übels und seine Ordnung

kein Leid, kein Übel zustande kommen, und also hängt seine Kon­ stitution von der Existenz subjektiv-intentionaler Wirklichkeiten, von lebendigen und lebendig »meinenden« Wesen, die zugleich von objektiven, realen Bedürfnissen bestimmt werden, ab. Da Letztere wiederum ökologisch in eine umfassendere Wirklichkeit eingebunden sind, empfängt auch diese einen durchaus objektiven Wert- bzw. Unwert-, Sinn- bzw. Widersinncharakter, ist also keineswegs nur subjektiv bedeutsam. Während mit dem Leid eine wertwidrige Wirklichkeit mehr von der subjektiven Betroffenheitsseite bezeichnet wird, klingt im Begriff des Übels mehr die objektive Widerfahrnisseite an, im Grunde jedoch sind sie beide identisch. Ein Übel ohne jedes erlebende, wertende und an Bedürfnissen orientierte Subjekt ist unmöglich, und dennoch stellt es einen wirklichen Seinsmangel, einen Mangel, der nicht sein soll, also eine Beeinträchtigung dar. Damit erweist sich jedes Übel als Mangel, Minderung, Hemmung oder Schädigung von Leben, eine Hemmung, Störung oder Schädigung, die, wenn erlebt, Leid bedeutet. Im Leid wird der subjektive Bezug, der im »bloßen« Übel nur implizit da ist, explizit. Das Übel ist demnach ohne Bezug auf ein Erleben nicht möglich und setzt einen Sinnhorizont voraus. Wie weit dieser reicht, hängt von der Deutung des Seins bzw. des Kosmos überhaupt ab. Ist dieser prinzipiell sinn- und wertbezogen, wie die bisherige Analyse ergab, reicht die Möglichkeit des Übels so weit wie der Kosmos selbst. Wie aber muss der Kosmos gedacht werden, dass das Übel in ihm möglich ist? Ex negativo lässt sich Folgendes sagen: Angenommen, es gäbe kein Sein außer dem göttlich-zeitlosen Ursein, wäre das Übel unmög­ lich, da alles Übel nur als Ereignis innerhalb von Zeit und Werden auftreten kann. Gäbe es außer dem zeitlosen Ursein zwar eine Welt, aber nur eine rein statische Welt, könnte ebenfalls kein Übel eintreten, da dort, wo weder Affliktion noch Minderung vorkommen, das Übel unmöglich ist. Läge zwar eine dynamisch-werdende Welt vor, wäre diese jedoch nur das passive Spielzeug Gottes, bestünde ebenfalls kein Raum für das Übel, da Gott, wo er direkt wirkt, nicht mangelhaft wirkt und niemand da wäre, der leiden könnte. Daraus ist zu folgern, dass nur ein solches Sein, das erstens nichtgöttlich ist, das zweitens dynamisch ist und das drittens von einerseits sinn- und wertorientierten, andererseits bedürftigen und schließlich fehlbaren bzw. störbaren Subjek­

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

ten als Welt erlebt wird, für das Übel empfänglich, sozusagen übel- und damit leidfähig ist.

Diese Einsicht erlaubt umgekehrt die Schlussfolgerung, dass ein solches Sein, das entweder nur göttlich oder, wenn nichtgöttlich, rein statisch oder, wenn nichtgöttlich-dynamisch, subjektlos wäre, nur übelfrei sein könnte. Eine Welt dagegen, die das dynamisch-dramati­ sche Werk wechselwirkend-gegenstrebiger, bedürftiger, im Prinzip fehl-, stör- und verletzbarer Subjektkräfte (im zweiten Seinsrang) ist, kann nicht ohne Übel und Leid, Mangel und Schaden, Kampf, Widerstreit und Scheitern sein.373 Damit gilt: Das Übel ist der Preis des höheren Lebens, des Lebens von geschöpflichen Subjekten, die ihr Zusammenwirken und Zusammenleben in einem oft spielerisch-kreativen, oft agonalen Reifungsprozess erst suchen und in diesem Kampf um die rechte Form ringen müssen, bis es ihnen gelingt, ihr Wesensselbst, wohl erst nach langer Auseinandersetzung, zu finden.374

Um eine Wertwirklichkeit realisieren zu können, ist in einer pluralagonalen Welt von Subjekten, die sich selbst verwirklichen wollen und sollen, die Möglichkeit der Schadenszufügung, also des Übels und damit des Leids unausweichlich. Wer sich als Wert, als Aufgabe, als zu realisierendes Sein erlebt und diesem in einer »engen« Welt der Zeitknappheit, der Gegensätze und des Verfalls Raum verschaffen will, der wird den Zusammenstoß, die Konfrontation und damit die Störung nicht umgehen können.375 In Hinsicht der Theodizeeproblematik stellt sich damit nicht die Frage, warum Gott das Übel ermöglicht, zulässt oder mitbewirkt, sondern vielmehr ist zu fragen, warum Gott eine Welt der Nicht­ welt, eine dynamische Welt einer statischen Welt, eine plural-ago­ nale Welt einer monistischen Welt, eine Welt, die Seinswerte zu 373 Mit »Welt« ist hier alles gemeint, was nicht unmittelbar in oder bei Gott lebt. Weder in »seinem Reich« noch im »Paradies« sind Kampf, Übel und Leid möglich. 374 Dies gilt umso mehr, als ein Wesen desto verletzbarer und leidensfähiger ist, je größer seine Komplexität und je empfindungs- und erlebnisfähiger es ist, was mit sei­ nem späteren Auftritt in der Entwicklungsgeschichte korreliert (siehe Kap. 4.16.-4.18). 375 Zumal dann, wenn gesehen wird, dass kein Auf- und Umbau ohne Abbau, Hemmung und Zerstörung möglich ist. So kann sich der Säugling nur zur Person hin entwickeln, wenn er seine Instinkte hemmt; und so können nur dann neue Lebewesen entstehen, wenn sie andere verzehren und wenn ältere Lebewesen absterben. Zumal der verleiblichte Geist erwacht nur, wie M. Scheler betonte, durch das »Nein!«, das er den leiblichen Trieben und den Erwartungen der Anderen entgegensetzt, zu sich selbst und zu seiner einmaligen Individualität.

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3.5. Das Wesen des Übels und seine Ordnung

verwirklichen aufgerufen ist, einer solchen Welt, die ohne Seinsund Verwirklichungsanspruch ist, vorzieht. Soviel scheint klar: Nur eine dynamisch-werdende, selbständig agierende, plural-kämpfende und »höheres Sein« zu verwirklichen bestrebte Welt ist eine Welt, die sich auf das göttliche Vollsein beziehen, mehr an Sein aus sich heraus erzeugen und sich mit dem Göttlichen verbinden und vereinigen kann. Alle anderen Welten verharren gegenüber Gott passiv und sind ohne dynamischen Bezug zum Ursinn und Urwert des Seins! Damit aber sind sie weder vervollkommnungs- noch gottsuchens- bzw. gotteinigungsfähig; sie würden in sich »gottlos« bleiben. Ein Kosmos, der übel- und leidfähig, damit vervollkommnungs­ fähig sein soll, muss von seiner Kausalstruktur mindestens so, wie aufgezeigt, beschaffen sein; und da diese Struktur empirisch mit dem bekannten Kosmos übereinstimmt, lässt sich die Ordnung der möglichen Seinsübel untersuchen. Als Erstes ist zu sagen, dass die Übel keine bloßen Unvollkom­ menheiten sind, daher »metaphysische Übel«, wie sie G. W. Leibniz376 in seiner Theodizee angibt und wie sie von Augustinus gegen die Manichäer und von I. Kant abgelehnt werden, unmöglich sind.377 Vielmehr kann im Falle der Grundstruktur des Kosmos nur von natürlichen Mängeln oder Unvollkommenheiten gesprochen werden, so etwa von seiner Zeitlichkeit, Endlichkeit, seiner Polarität, seiner Siehe G. W. Leibniz (1967, EA 1710, 194ff., Kap. 21.). G. W. Leibniz geht in seiner Theodizee noch weiter, indem er aus den metaphysi­ schen Übeln als den natürlichen Grenzen der Geschöpfe das psychisch-moralische Übel, die Sünde, und aus diesem die physischen Übel als Strafe Gottes für eben diese Sünden ableitet, welchen als »Pönalismus« bezeichneten Standpunkt F. M. Voltaire am Beispiel der Zerstörung Lissabons durch ein Erdbeben 1756 als absurd und empörend entlarvt (vgl. F. Billicsich, 1952, 193–205). Aus den folgenden Gründen ist die Anschauung von Leibniz nicht haltbar: Erstens sind die metaphysischen Grenzen, wie schon Augustinus betont, keine Übel, sondern geben den natürlichen Seinsrahmen für kreatürliche Wesen ab und bezeugen so die Vollkommenheit der durch Gott geschaffenen Grundlagen der Schöpfung. Zweitens sind diese Grenzen zwar die notwendigen Bedingungen für die Sünde und die physischen Übel, reichen aber keineswegs zu, ihre Existenz zu begründen, was heißt, dass hierfür weitere Bedingungen erfüllt sein müssen. Und drittens lassen sich aus der Sünde weder die physischen Übel ableiten, noch ist die Sünde die zureichende Vorbedingung für das physische Übel, da es physische Übel gibt, die ohne schuldhaftes Zutun und dennoch aus guten Gründen geschehen, so bereits in der vormoralischen Tierwelt. Auch der Versuch, das physische Übel, wie das Augustinus, I. Kant u. a. tun, grundsätzlich als direkte Strafwirkung Gottes zu deuten (»Pönalismus«), ist erweisbar nicht haltbar. Davon im VII. Abschnitt mehr. 376

377

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Konfliktträchtigkeit, seinem Aufbau durch »Versuch und Irrtum« usw. Metaphysisch, d. h. in Hinblick auf seine Grundstruktur, ist der Kosmos als werdende Welt, wie auch Platon und Augustinus betonen, vollkommen, frei von Übeln, mangellos. Das heißt anders gewendet, dass zur Vollkommenheit des Kosmos auch Werden, Suchen und Ringen dazugehören, was erst dadurch zum Übel wird, dass ein Sub­ jekt entweder gegen die Grundordnung der Welt verstößt oder einen Wesenszug des Kosmos als abträglich bewertet und darunter leidet. Außerdem zeigte sich in den letzten Kapiteln, dass ein selbsttätig agie­ render, dynamisch-plural-agonaler, höheres Sein umkämpfender und zu erringen bestrebter Kosmos seinsmäßig höher steht, reicher und lebendiger ist als eine passiv-statische oder dynamische, aber unselb­ ständig-subjektlose Welt. Die natürlichen Mängel des Kosmos sind darum keine Übel, sondern schlimmstenfalls natürliche Unvollkom­ menheiten, die in anderer Hinsicht relative, eben weltseinsnatürliche Vollkommenheiten darstellen. Soweit der Kosmos von Gott kommt, und zwar direkt von ihm, kann er nur vollkommen (nicht unbedingt vollständig) und frei von Übel sein. Das Übel findet erst Eingang, wenn endliche Subjekte darin zu wirken und zu leiden beginnen. Welche Formen von Übel sind hier denkbar? Das hängt davon ab, wie die Ordnung der Welt metaphysisch und empirisch beschaffen ist. In dem, was bisher an »ordo mundi« erkannt wurde, sind solche Übel denkbar, bei denen es zu materiellen, leiblichen, psychischen, sozialen, geistigen, moralischen und spirituellen Störungen oder Beeinträchtigungen kommt. Es ist ein Übel, wenn ein zum Wohnen bestimmtes Haus abbrennt; es ist ein Übel, wenn ein Mensch, der gesund leben will, an Krebs erkrankt; es ist ein Übel, wenn eine Person unglücklich, ohne Lebenssinn, lebensüberdrüssig und verbit­ tert ist; es ist ein Übel, wenn sich Völker bekriegen; es ist ein Übel, wenn ein Gemälde zerstört wird, ein wissenschaftliches Problem unbefriedigend gelöst wird, die Philosophie ihren Daseinssinn ver­ liert; es ist ein Übel, wenn jemand lügt, stiehlt, betrügt, andere manipuliert, ausbeutet, mobbt oder auch nur gleichgültig die Welt an sich vorüberziehen lässt; es ist ein Übel, wenn Menschen auf kein höchstes Lebensgut bezogen sind und ein endliches Gut verehren und damit verabsolutieren. Bei allen diesen Übeln werden z. T. reparable, z. T. irreparable Schäden im leiblich-seelischen, sozialen, geistigen und spirituellen Leben gesetzt, die nicht von selbst, sondern durch menschliche oder nichtmenschliche, gezielte oder unbeabsichtigte, freie oder schicksal­

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3.6. Das Problem der »privatio boni«

hafte Aktionen entstehen. Kein Übel erfolgt zwar notwendig, doch sind viele Übel unvermeidlich, so etwa die durch Naturveränderungen bedingten Katastrophen. Es könnte scheinen, dass mit dieser Analyse die realen Bedingun­ gen der Möglichkeit des Übels in der Welt zureichend aufgedeckt sind. Dem ist nicht so. In der Hauptsache deshalb nicht, weil Existenz und Stellung der endlich-geschöpflichen Subjektivität, also der Zweit­ ursachen im Kosmos, noch nicht klar genug bestimmt worden sind. Wenn die Welt das intentionale, damit sinnhaft-geistige Werk solcher wirkfähigen und fehlbaren Geistwesen ist und diese ihrem Schaffens­ werk transzendent gegenüberstehen, dann wären sie im Falle der Widerfahrnisse eines Übels nicht unmittelbar (in ihrer Subjektivität), sondern direkt nur in ihren physischen Werken betroffen, so wie das Werk eines menschlichen Künstlers Schaden leiden kann, ohne dass dieser selbst direkt das Übel erleidet.378 Somit fragt es sich, ob der Fall denkbar ist, dass ein Subjekt in seinem Subjektsein, in seiner Innerlichkeit direkt affiziert und affligiert werden kann. Um dies zu klären, muss noch einmal das Problem der Kausalität und ihrer drei Seinsränge bedacht werden. Vorher jedoch sei die klassische Definiti­ on des Übels untersucht und ins Verhältnis zum bisher Erkannten gesetzt: Es handelt sich um das privatio-boni-Theorem.

3.6. Das Problem der »privatio boni« Wie schwer das Wesen des Übels zu fassen ist, beweist der lange geistige, bis in den modernen Thomismus reichende Kampf um sein Verhältnis zum Guten. Unter dem Namen »privatio boni,« wörtlich übersetzt mit »Beraubung des Guten«, versuchten Denker wie Plotin, Aristoteles, Boethius, Augustinus, Dionysius Areopagita, Thomas v. Aquin und G. W. Leibniz das Wesen des Übels zu bestimmen und damit das Theodizeeproblem zu lösen.379 Bei diesem Unternehmen zeigte sich, dass das Wesen des Übels auf diesem Wege nicht zurei­ 378 Transzendent heißt, dass sie als solche nicht in der physischen Welt bzw. in ihren Werken anwesen, sondern durch diese hindurchscheinen und zum Ausdruck kommen. Die Frage, wo sie existieren, ist daher ähnlich sinnlos wie die Frage, wo die Seele im Gehirn ist, oder die Frage, wo Gott existiert. 379 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei A. Kreiner (1995, 125ff.). R. Schön­ berger (1998) stellt in seinem Aufsatz die Geschichte der Privatio-boni-Problematik dar. Der Begriff »privatio« (griechisch: steresis) geht auf Aristoteles zurück, der damit

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

chend bestimmt werden kann, da die formale Wesensbestimmung des Übels als Beraubung des Guten keine Aussage darüber beinhal­ tet, warum, wie und wozu das Übel überhaupt entstand und im Weltgeschehen einen so großen Raum einnimmt. Nicht von ungefähr finden sich daher bei allen genannten Denkern Zusatzhypothesen zur Lösung der Theodizeeproblematik. Entscheidend bei der »privatio-boni-These« ist ihr ontologischer Ansatz: Sie setzt – so schon in der Antike und erst recht im Mittelalter – das Gute und das Sein gleich: Ens et bonum convertuntur. Alles Seiende ist, allein darum, weil es ist, gut und hat am Werthaften Anteil.380 Daraus folgt zwingend, dass das Übel nur als ein Mangel an Sein, als Abbruch, Beraubung, Störung oder Beschädigung des Seins bestehen und begriffen werden kann. Daraus folgerten jene Denker, dass das Übel »nichts« ist. Widerspricht dem aber nicht die Erfahrung? Haben die Übel der Welt nicht, wie A. Schopenhauer betont, eine ungeheure Macht und Wirksamkeit? Erdrücken sie nicht das Leben und zerstören es, mehr als anschaulich, Tag für Tag? Das Erste, was entgegnet werden muss, ist, dass das Übel in der Tat als ein Mangel, als ein »Schlechtes«, und zwar zugleich als ein Seins- und Wertmangel erlebt wird.381 Das Übel wird gerade nicht als Fülle, Harmonie, Zuwachs, Gewinn und Entfaltung erlebt, sondern als Mangel, Hemmung und Beeinträchtigung. Ein Mangel an Lebensfreude, etwa in einer Depression, eine Unterernährung, eine soziale Isolierung, eine Arbeitslosigkeit, eine Krankheit, eine politische Unterdrückung, ein Missverständnis und eine Demütigung – bei ihnen allen ermangelt ein konkret angebbares Seiendes, das zugleich als Wert erlebt wird, der sein soll: die Lebensfreude, die gute Ernährung, der soziale Kontakt, die Arbeit, die Gesundheit, der Respekt usw. Doch darf nicht übersehen werden, dass es sich nur um einen Mangel, nur um Privation, nicht um eine totale Privation handelt, sondern stets ist da ein Seiendes, dem etwas abgeht, was ihm zukommen sollte: der depressive Mensch, der unterernährte Mensch, das Fehlen einer Eigenschaft, die einem Dinge von Natur aus zukommt, bezeichnet. So bezeichnet er z. B. Blindheit in Met., V, 22 und X 4,1055b als eine steresis opseos. 380 Vgl. ähnlich Augustinus (1948, 17–26), Bekenntnisse, Buch VII; ähnlich Thomas v. Aquin (1985, 49f.), Summe der Theologie, 5. Untersuchung. 381 Im Gegensatz zum Übel und zum Bösen, in deren Wesen neben dem Mangel ein positives Moment besteht, meint das »Schlechte« im Sinne des Nur-Negativen einen bloßen Mangel, eine bloße Abwesenheit des Guten. Die Gegensätze gut-böse, gut-übel und gut-schlecht sind demnach nicht völlig identisch.

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3.6. Das Problem der »privatio boni«

der isolierte Mensch ist positiv ein Mensch (und nicht nichts), und er bleibt es bei allen Übelschäden. Die totale Privation wäre das Nichts, und das wird von jenen Denkern nicht als Übel bezeichnet; das betont auch Augustinus.382 Im Gegensatz zum bloß Negativen ist das Übel demnach nicht rein nichts, sondern ein Seiendes, aber kein volles, erfülltes, vollstän­ diges Seiendes, sondern ein solches Seiendes, das beeinträchtigt ist, das einen Schaden, d. h. einen Mangel, der nicht sein soll, erfahren hat. Damit wird die nächste Sinndimension des Übels berührt, die selten thematisiert wird: Das Übel muss entstehen, es muss durch den Vorgang der Beraubung (Beeinträchtigung, Schädigung) zum Schaden werden, und solche Schädigung ist ein dynamisch-kausaler Vorgang, der nicht von nichts, sondern von einem Seienden aktiv ins Spiel gebracht wird. Das Übel wird demnach nicht nur einem positiv Seienden angetan, es wird auch von einem positiv Seienden initiiert und vollzogen. Wenn ein Mensch einen anderen beleidigt, missversteht, quält, verletzt, dann ist die Beleidigung, das Missver­ ständnis etc. zwar das Übel, aber dieses Übel ist eingebettet in einen Ereigniszusammenhang, der das Seiende, das beeinträchtigt, und das Seiende, das geschädigt wird, umfasst. Wo kein verursachendes Sein und wo kein erleidendes Sein ist, da ist auch kein Übel möglich. Die Ursache eines Übels kann sehr verschiedener Natur sein, sie kann ein Mensch oder ein Naturereignis wie ein Erdbeben sein, doch wurde schon gezeigt, dass die Wertung eines Geschehens als Beeinträchtigung von der Seins- und Sinnstruktur, mehr noch von der wertenden Perspektive des Betroffenen abhängt: Objektiv mag die Unterernährung eines Menschen an seinem körperlichen Zustand abgelesen werden, was die Bestimmung einer leiblichen Seins- und Sinn- oder kurz Normstruktur voraussetzt, an der gemessen man zum Urteil »Unterernährung« gelangt. Ob dieser Mensch an diesem Übel leidet, ist damit nicht gesagt – kann er sich doch darein leidfrei ergeben haben. Ohne Bezug auf eine Normstruktur, die, logisch zwingend, eine Wertungsinstanz impliziert, die nicht notwendig der Betroffene sein muss, sind Urteile über Übel und Leiden in jedem Fall unmöglich. Damit offenbart sich eine komplexe Seins- und Sinnstruktur, die das Übel als Übel überhaupt möglich macht: Seiendes als Schadensur­ sache, Seiendes als Schadensempfänger, Seiendes als Wertungsinstanz und fehlendes Seiendes, das sein soll. 382

Vgl. Augustinus (1948, 17ff.).

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Besonders bei zwischenmenschlich-sittlichen Übeln zeigt sich die große Seinsmacht, die hier wirkt: Es ist nicht das Übel, das wirkt, sondern der Schadensverursacher, der Schadensempfänger und der Schadensbewerter sind es, die wirken. Vor allem der Scha­ densverursacher, also derjenige, der verletzt, täuscht, lügt, betrügt, quält, übervorteilt, intrigiert usw., ist eine wahre und damit positive Kraft, die mit ihrem Wirken allerdings intentional auf Negatives, Destruktives und Nichtseiendes bezogen ist, also auf Mangel und Schaden. Die Intentionalität im Übel ist daher nicht nichts, auch keine Privation, sie ist vielmehr eine wahre Kraft und Macht, doch ihr Ziel, ihre Richtung und ihr Ergebnis sind ein Mangel, ein Schaden, ein Schlechtes, ein Böses – kurz ein Nichtiges.383 Man kann auch so sagen: Im Übeltun wirken Kraft und Intelligenz, aber in verkehrte Richtung. Und da geschieht nun das Entscheidende: Das Schadenswirken fällt auf den Schädiger zurück, wenigstens auf Dauer. Denn wer zerstört, kann nichts aufbauen; und wer Übel tut, wird gemieden, isoliert, gebrandmarkt; er verliert, wenn er z. B. lügt und betrügt, das Vertrauen, also muss er es heimlichtun. Dann aber muss er sich verstellen, und schon gerät er in das Übel einer Selbstspaltung, die wiederum schwächt und ängstlich, misstrauisch und letztlich unglück­ lich macht. Außerdem plagt ihn das Gewissen, er wird innerlich zerrissen, nämlich von seinem besseren Selbst, das er zudem meistens zu unterdrücken versucht. Die größte »Strafe« eines Übelwollens, eines Vergehens und einer Sünde ist daher nicht die negative Folgewirkung, sondern dieses Übel­ wollen selbst. Denn es untergräbt den, der sich ihm verschreibt, höhlt 383 So bezeichnet K. Barth (1987, 172ff.) alles, was von Gott weggerichtet oder gegen ihn gerichtet ist, was also, wie K. Barth sagt, von »Gott verworfen« wird: »Das Nichtige ist das, was Gott nicht will. Nur davon lebt es, dass es das ist, was Gott nicht will [...] Die reale Entsprechung des göttlichen Nichtwollens ist das Nichtige.« Oder anders: Die reale Entsprechung des göttlichen Nichtwollens ist jener (geschöpfliche) Wille, der dem Nichtwollen Gottes entspricht. Insofern ist das »Nichtige« nicht rein nichts, sondern seiend, der Wille des Geschöpfes eben, aber ein Wille, der sich von Gott weg oder gegen ihn richtet. Da Gott aber das Sein schlechthin ist, ist jeder Wille, der sich von Gott abwendet, ein Wille, der sich dem totalen Nichts zuwendet, ohne allerdings das totale Nichts erreichen zu können. Dies wiederum zieht rückwirkend die »Nichtigung« des geschöpflichen Willens durch seine Ausrichtung auf das »Nichtige« nach sich: Indem sich das Geschöpf wirkmächtig von Gott abwendet und dem Bösen und Schlechten, also dem, was Gott nicht will, was er aber zulässt, zuwendet, schwächt und schädigt es sich selbst. Das ist das unvermeidliche Selbstgericht, dem sich niemand entziehen kann.

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3.6. Das Problem der »privatio boni«

ihn aus, zerrüttet ihn – zerrüttet also sein Sein, das zunächst und an sich gut ist, durch das Misstun aber reflexiv Schaden erleidet und eine tiefere Glückseligkeit verunmöglicht. Darum betont Platon im »Phaidon« mit Sokrates, dass es schlimmer ist, Übles zu tun als Übles zu erleiden.384 Man sieht: Alles Übel ist auf ein Sein bezogen, und zwar in vielfältiger Weise.385 Ein seinsloses Übel gibt es nicht, es ist immer ein Seiendes, das Übel schafft, ein Seiendes, das Übel erfährt, ein Seiendes, das das Übel als Übel, d. h. als nichtseinsollenden Seins­ mangel, als Seinsschaden, wertet und ein Seiendes, das sein soll. Damit ist klar, dass es weder ein wertfreies Sein noch einen seinslosen Wert gibt. Jedes Seiende ist rein seinsmäßig zu etwas in der Lage, »leistet« etwas, ist zu etwas gut (!) und hat damit einen seinshaften Wert: die Farben zum Gesehenwerden, die Töne zum Gehörtwerden, die mathematischen Formen zum Gemessen- und Errechnetwerden, die Energie zum Bewegtwerden, die Materie zum Trägersein, die Gefühle zur seelischen Belebung und intuitiven Orientierung, die Entscheidungen und Entschlüsse zur Durchsetzung von Vorhaben und die Gedanken zur Klärung und Festigung von Zusammenhängen. Umgekehrt kann nur Etwas wertvoll sein, einen Wert haben, nichts ist nicht werthaft. Die Freude, die Stärke, die Vitalität, die Kreativität, der Austausch, das Verständnis, das Mitgefühl, die Intelligenz, das Erdöl, das Holz, das Wasser usw. – alles das ist wertvoll, und es ist dies, indem es ist und einen bestimmten Seinsgehalt, eine bestimmte Seinsart und damit eine bestimmte Seinstauglichkeit besitzt. Die neuzeitliche Aufspaltung von Sein und Wert, die allerdings bis ins Mittelalter zurückreicht, erweist sich auf diesem Hintergrund als fataler Irrtum, dem auch A. Kreiner386 trotz seiner sonst so klaren und vernünftigen Argumentation unterliegt. Denn er behauptet, dass mit gleichem Recht wie das Übel als privatio boni, so das Gute als privatio mali definiert werden könne, und also die privato-boni-These nur ein »semantisches Manöver« (1995, 132) sei.387 So wird seine Auffassung verständlich, wonach es für die Theodizeeproblematik Siehe ähnlich Dionysios Areopagita in De Divinis Nominibus, 4.: »Gestraft zu werden ist nicht das Übel, sondern der Strafe wert zu werden.« 385 Und damit ist es, wie Thomas v. Aquin in der 48. Untersuchung der Summe der Theologie sagt, stets auf ein Gut bezogen. 386 Vgl. A. Kreiner (1995, 133). 387 Nimmt man die Aussage des Guten als privatio mali rein formallogisch, stimmt sie wieder, nämlich als doppelte Verneinung: Das Gute ist dann eine Negation der 384

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

irrelevant sei, ob das Übel privativer Natur sei oder nicht. Eine solche Aussage zeigt, dass er das Wesen des Übels verkennt. Wie soll es gehen, dass Menschen Übel und Beeinträchtigung als Verlust, Entbehrung und Störung erleben, wenn das Übel »nichts nimmt« und damit nicht-privativer Natur ist? Das ergibt keinen Sinn. Zwar hat A. Kreiner Recht, wenn er betont, dass mit dieser These Ursprung und Sinn des Übels nicht geklärt sind, doch dass das Übel ein Man­ gel ist, der nicht sein soll, also eine Beeinträchtigung darstellt, das aufzugeben würde bedeuten, alle Leiden der Welt für illusionär zu erklären. Ich weiß nicht, was A. Kreiner sagen würde, wenn ein Mensch willkürlich die Folter, das Vergasen der Juden, die Lüge, den Betrug usw. als nicht-privativ, und das heißt, als etwas Neutrales oder Gutes umdeuten würde. Das aber liegt in der Konsequenz seiner Interpretation der privatio-boni-These als eines semantischen Manövers und bloß sprachlichen Willkürverhaltens. In Wahrheit haben die großen Denker sehr schlicht und doch sehr tief in das Wesen des Seins hineingeschaut, wenn sie das Übel als eine ontologische Wertwidrigkeit auffassten.388 Außerdem haben sie die Wirklichkeit immer differenziert nach ihren Seinsrängen und Seinsgraden beurteilt, wenn sie von einer Ordnung der Übel sprachen. So kann der göttliche Seinsrang überhaupt kein Übel erleiden und tun, und der dritte Seinsrang der bloßen Dinge kann zwar Schaden erleiden und schlecht sein, aber er kann weder selbst direkt einen Schaden setzen, darum auch nicht böse sein, noch selbst leiden. Wirklich Übel leiden und Übel tun – und damit böse sein – kann nur der zweite Seinsrang der seelisch-geistigen Geschöpfe. Und sie sind es auch, die die bloß dinglichen Schäden als Übel bewerten: Ein von einem Erdbeben beschädigtes Haus kann nicht leiden und von seinem Übel wissen, das leisten die den Schaden erlebenden Subjekte. Ohne das Wissen von der Seinsrangordnung kann die Natur des Übels daher nicht verstanden werden. Negation, also eine Aufhebung des wertwidrigen Mangels, des Schadens. Doch auch dann wird der Schadensmangel nicht zu etwas Gutem, Seinshaftem, Wertvollem. 388 Siehe K. Barth (1987, 180): »Eben in diesem Sinne ist das Nichtige wirklich Privation: Raub an Gottes Ehre und Recht und zugleich Raub am Heil und am Recht des Geschöpfes.« Ein Raub aber ist nicht nichts, keine bloße Privation, sondern ist Tat, gerichtet, gewollt, durchgesetzt, also durch sich selbst beschädigt, durch sich selbst gerichtet, durch sich selbst dem Nichtigen überantwortet, also Sein mit Mangel, mit Schaden, selbst bewirkt und sich selbst zugefügt, nicht von Gott, der nur ermöglicht, trägt und zulässt, aber nicht für immer.

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3.7. Qualität und Quantität des Übels

Erst diese Zusammenhänge machen klar, dass Gott zwar für die Erschaffung einer Schöpfung, in der übelwollende und leidensfähige Geschöpfe vorkommen, verantwortlich ist, doch wirkt er nicht direkt irgendwelche Übel, sondern ermöglicht sie nur und »arbeitet« mit ihnen auf dem Hintergrund seiner Allwissenheit zur Vervollkomm­ nung der Schöpfung.389 Für hier und jetzt möge die Erkenntnis genügen, dass das Übel als privatio boni den Aufruf beinhaltet, seinsorientiert zu leben und zu agieren, und zwar deshalb, weil jedes Seiende, einschließlich jenes Seienden, das Schäden wirkt, Übles oder Böses tut, einen (beschränkten und einseitigen) Wert befasst.390 Darum darf einem Straftäter, etwa einem Mörder, nicht die Achtung seines nie ganz vergehenden Wertes als Geschöpf, d. h. seiner Würde, vorenthalten werden, da sie durch bewusstes Vergehen zwar beschädigt, aber durch kein noch so grausames Verhalten völlig aufgehoben wird. Und so darf auch in einem noch so beschädigten Ding nicht das »Restsein« mit seinem unaufhebbaren Wert verworfen werden, woraus folgt, dass in der privatio boni zwar ein Seinsund Wertmangel, der nicht sein soll, besteht, doch darf er das noch bestehende Seiende nicht so verdecken, dass dieses missachtet oder verworfen wird. Im Gegenteil soll es, falls das möglich ist, von jenem Makel gereinigt und wiederhergestellt werden.391

3.7. Qualität und Quantität des Übels In Übereinstimmung mit klassischen Philosophen wie Platon, Aristo­ teles, Boethius, Augustin und Thomas v. Aquin lässt sich zusammen­ fassend sagen: Obschon alles Schlechte, Böse und Leidvolle dieser Siehe K. Barth (1987, 174): »Es bleibt aber vor allem und noch viel mehr bei der Verantwortung, die Gott selbst damit übernommen hat, dass er den Menschen geschaffen und seinen Sündenfall nicht verhindert hat.« 390 Siehe ähnlich Thomas v. Aquin (1985, 216): »Übel kann Gut nicht völlig aufzeh­ ren«; ähnlich Boethius, Augustinus, Dionysios Areopagita u. a. 391 In diesem Sinne spricht das berühmte Jesus-Wort, Math. 13,24–43: »Da gingen die Knechte zum Gutsherrn und sagten: Herr, hast du nicht guten Weizen auf deinen Acker gesät? Woher kommt dann das Unkraut? Er antwortete: Das hat ein Feind von mir getan. Da sagten die Knechte zu ihm: Sollen wir gehen und es ausreißen? Er entgegnete: Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Lasst beides wachsen bis zur Ernte. Wenn dann die Zeit der Ernte da ist, werde ich zu den Arbeitern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündeln, um es zu verbrennen; den Weizen aber bringt in meine Scheune.« 389

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Welt mit Mangel, Entbehrung, Entfremdung und Missklang verbun­ den ist und damit eine »privatio boni« darstellt, so ist es niemals nur Mangel im Sinne der Abwesenheit des Guten, Rechten, Schönen und Angenehmen. Dies gilt umso mehr, als erstens nicht nichts, sondern etwas mangelt, sich zweitens der Mangel an etwas konstituiert und nicht an nichts, drittens jeder Mangel, insofern er entsteht, durch etwas erzeugt wird, und viertens in jedem nichtseinsollenden Mangel ein Streben nach (gutem, rechtem) Sein waltet. Reiner Mangel wäre totaler Mangel, wäre nichts; das totale Nichts ist aber, wie gesehen, keine privatio und an sich unmöglich. Wohl gibt es verschiedene Ausprägungen der Negativität des Mangels, aber stets treten sie im Rahmen einer Seinskonstellation auf. So mag es wie ein »reiner« Mangel anmuten, wenn jemand zu einem verabredeten Termin nicht kommt, er ist eben nicht da, aber dieses Nichtdasein ist in ein Seinsfeld eingebettet. Wenn darüber hinaus jemand an diesem Mangel leidet – und auch ein solches Leiden ist ein Übel oder besitzt ein Übelmoment –, so nimmt der Seinsgehalt erheblich insofern zu, als das »Leiden an« einen seelischen Akt, ein lebendiges, fühlbares Geschehen impliziert und z. B. als Trauer, Ärger, Schmerz oder Wut qualitativ-emotional gefüllt, sprich seinsgefüllt ist.392 Leid kann nicht nur »privatio boni« sein, wiewohl andererseits kein Leid ohne Mangel möglich ist, was bedeutet, dass die »privatioboni-These« zwar nicht unsinnig oder falsch ist, aber ergänzt und vertieft werden muss.393 Eine andere Problematik eröffnet die Frage nach Umfang, Menge und Quantität von Leid und Übel. Wie gesehen, gibt es zwei extreme Positionen: Die eine besagt, dass es überhaupt kein Leid gebe bzw. dass dies nur die Folge einer subjektiv-illusionären Bewertung sei, die sich verflüchtige, sobald man das Ganze in Betracht ziehe und vom 392 Das hebt vor allem A. Schopenhauer hervor (1947, Sämtliche Werke, Bd. 6, § 149, 309-310), wenn auch einseitig übertreibend: »Ich kenne demnach keine größere Absurdität, als die der meisten metaphysischen Systeme, welche das Übel für etwas Negatives erklären; während es gerade das Positive, das sich selbst fühlbar machende ist; hingegen das Gute, d. h. alles Glück und alle Befriedigung, ist das Negative, näm­ lich das bloße Aufheben des Wunsches und Endigen der Pein.« In Wahrheit ist das Übel immer beides, Positives und Negatives, und zweifellos ist auch eine Befriedi­ gung, z. B. ein Sättigungsgefühl, positiv fühlbar. Darüber hinaus beweist das Zitat, dass A. Schopenhauers Ethik an diesem Punkt hedonistisch und subjektivistisch ist, da er das Gute in Glück und Befriedigung aufgehen lässt, die objektive Schadhaftigkeit des Übels aber unterschlägt. 393 Vgl. G. Streminger (1992, 179ff.).

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3.7. Qualität und Quantität des Übels

göttlichen Standpunkt aus betrachte.394 Die andere besagt, alles sei Leid, sei des Übels und sei »wert, dass es zugrunde gehe«,395 eine Position, der A. Schopenhauer, der behauptet, dass das Übel das Gute wesentlich überwiege, sehr nahekommt.396 Was ist dazu zu sagen? Zum Ersten muss bemerkt werden, dass die Quantität sowohl des objektiven Übels als auch des subjektiven Leidens kaum real gemessen werden kann, weder des vergangenen noch des aktuellen und erst recht nicht des künftigen Übels. Ob am Ende der Zeiten das Negative oder das Positive überwiegt, kann bestenfalls vermutet werden. Andererseits gibt es gute Gründe, die gegen das Überwiegen des Schlechten und Bösen bzw. gegen den universal-kosmischen Sieg des Schlechten über das Gute sprechen, denn dies lässt sich aus der dargestellten Grundordnung des Kosmos erschließen. Hier möge folgende »empiristische« Argumentation genügen. Einmal angenommen, zu jeder Zeit und an jedem Ort über­ wöge das Schlechte, Üble, Dysfunktionale, Zweckwidrige und Böse, kurz das Negative das Gute, Angenehme, Nützliche, Passende und Funktionierende, kurz das Positive – was müsste erwartet werden? Wenn man als Beispiele den Straßenverkehr, die mediale Kommu­ nikation (z. B. der Post, des Internets, der elementaren Sprache), die leiblichen Funktionen und die Naturgesetze nimmt, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass etwa der Straßenverkehr in Kürze So etwa G. Bruno, B. de Spinoza und M. Eddie Baker, aber wohl auch G. W. Leibniz, der in seiner Theodizee dazu neigt, im Bösen – gemäß seinem »loi de continuite« – nur ein quantitativ minder Gutes zu sehen, womit er sich z. B. Augustinus entgegenstellt, der im Bösen eine Kraft erkennt, die sich bewusst Gott bzw. dem Guten widersetzt. Vgl. zu G. W. Leibnizens Lehre die ausgewogen-kritische Übersicht von F. Billicsich (1952, 111–171). 395 Siehe Mephisto im Faust (V. 1338–1344) von J. W. v. Goethe: »Ich bin der Geist der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles was entsteht, / Ist werth, daß es zu Grunde geht; / Drum besser wär's, daß nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element.« 396 In seinem Cholera-Buch (1832), das sich in A. Schopenhauers Nachlass (Bd. 4, I, 1985, 96) fand, zitiert er die eigenen, schon früh gewonnenen Überzeugungen: »In meinem 17ten Jahre [...] wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, war, dass diese Welt kein Werk eines alleingütigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Quaal sich zu weiden.« Spricht aus diesen Worten nicht der psychische Schatten von Enttäuschung und Verbitterung, der A. Schopenhauer sein Leben lang verfolgte und hier gnostizistische Dimensionen annimmt? 394

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

zusammenbrechen würde. Zwar geschehen jeden Tag viele Unfälle mit zahlreichen Folgeschäden – aber gegenüber dem, was täglich, stündlich, minütlich trotz der enormen Komplexität und Rasanz der Prozesse – hier des Verkehrs und seiner Regelung – »klappt«, also positiv funktioniert, macht das Negative nur einen kleinen Prozentteil aus. Das Gute, Nützliche und Zweckhaft-Funktionierende übersteigt bei weitem das Schlechte. Und Analoges gilt für den Leib, die Sprache, die Kommunikation und das Naturgeschehen. Wäre dem nicht so, wäre die Existenz der Warn- und Reparatursysteme, beginnend mit der DNS-Reparatur in der Zelle bis hin zum Rechtsstaatssystem, unverständlich. Gerade sie beweisen, dass es zwar viele Gefahren, Störungen und Schäden gibt, sie beweisen aber auch, dass diese wenigstens partiell verhinderbar und reparabel sind – und also das Gute überwiegt bzw. kraftvoll zu überwiegen strebt. Analoges gilt für das Angenehme und Lustvolle. Wo diese Qualitäten in einem Leben total fehlen, wird es unerträglich und auf Dauer inakzeptabel. Gewiss gibt es solche Fälle, auch nicht wenige, und solche Menschen müssen unvorstellbares Leid ertragen, so etwa chronisch Schmerzkranke oder Kranke, die kaum schlafen, aber sie bilden ebenso gewiss nicht die Mehrheit. Wäre dem so, würde sich die Menschheit auf Dauer wohl suizidieren. Schon aus dieser einfachen Erwägung heraus scheint es ganz unmöglich, dass das Schlechte und Dysfunktionale das Gute und Funktionale global und dauerhaft überwiegt. Zumindest die Welt des Lebendigen wäre bereits in ihrem Anfang gescheitert und untergegan­ gen, in Wahrheit aber auch die vorbiologische Welt, die ohne die Zuverlässigkeit ihres naturgesetzlich so fein abgestimmten Regelwer­ kes nicht bestehen könnte. Metaphysisch betrachtet, bedeutet dies, dass jene Kräfte, die am »guten Bau und Fortkommen« des Kosmos beteiligt sind – und das sind, wie erkannt, im Letzten die nur-gute Gottheit und die sich zum Guten durchringenden Naturgeistwesen (einschließlich der Menschen) –, überwiegen müssen bzw., geleitet durch die Ideale der Menschen- und Völkerrechte, das Gute oder Bes­ sere durchsetzen und mit einiger Wahrscheinlichkeit zum Sieg führen. Bedenkt man zudem, dass die Gottheit die Grundlagen des Kosmos so anlegte, dass sie nicht beschädigt werden können, sondern selbst das Schlechteste, Übelste und konsequent Böse mittragen, erweist sich der metaphysische Pessimismus als inkonsistente bzw. als theoretisch höchst unwahrscheinliche und praktisch unmögliche Weltanschau­ ung.

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3.8. Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen

3.8. Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen als eines Zwischen-, Konflikt-, Mängelund Universalwesens Wenn es Entstehen und Werden gibt, dann gibt es dynamische Real­ ursachen, d. h. solche Wirklichkeiten, die auf dynamisch-selbsttätige Weise reale Wirkungsgebilde setzen. Diese können nicht nur, wie bereits erkannt, die einem Weltzustand zeitlich vorausgehenden und in ihre Wirkungen übergehenden Ursachen sein, da man sonst in die Aporie der als unmöglich erkannten anfangslos-unendlichen Wech­ selreihe gerät. Die Ursache geht weder ganz noch teilweise in ihre Wirkung über, sondern steht souverän »über« ihr und bringt sie kraft ihrer Wirkungsmacht bzw. kraft ihrer freisetzenden, seinsintensiven, räumlich nicht ausgedehnten Wirkungsfülle hervor. Von dieser freien und bewussten, insofern notwendig geistigen Wirkursache muss mindestens gelten, dass sie selbst zwar wieder zeitlich-begonnen ist, wobei ausgeschlossen bleibt, dass sie nur end­ lich ist, also vergeht, da sie sonst in ihre Wirkung müsste übergehen können, was wieder die Möglichkeit der anfangslosen Wechselreihe heraufbeschwören würde. Also ist sie der Dauer nach zwar begonnen, aber, weil prinzipiell wirkfähig, an Seinsgehalt unerschöpflich und damit endlos, potentialunendlich, also »unsterblich«. Die Unvergäng­ lichkeit der geistigen Substanz der Zweitursachen erweist sich damit als notwendig inhärierendes Moment aller echten Ursachen, sprich aller echt tätigen, aus sich spontan wirkenden Wesen, was schon Platon erkannte und I. Kant wusste. Wäre solch eine Wirkursache wieder nur die Wirkung einer entsprechenden pU-Wirkursache, diese wieder die Wirkung einer solchen, entstünde erneut die anfangslose Wechselreihe, was nicht angeht. Also folgt, dass die Ursache der pU-Wirkursache, die ebenfalls nicht in ihre Wirkung (die pU-Wirkursache) übergehen darf, der Dauer nach keinen Anfang hat und damit zeitlos und ewig besteht. Damit erweist sie sich als identisch mit dem Seinsurgrund, mit Gott, der selbst keine Ursache mehr über bzw. außer sich hat; er allein gründet ganz in sich selbst, ist ein ens a se. Damit schließt sich das Kausalverhältnis ab, und man erkennt, dass nur zwei Arten von Wirkursachen möglich sind, die zeitlose, aktualunendliche (aU) Ur-Ursache der Gottheit und die begonne­ nen, auch als Vielheit möglichen pU-Zweitursachen der geistigen

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Geschöpfe, der Objekt-Subjekte, von denen als kosmischen Natur­ bildnern anzunehmen ist, dass sie und nicht direkt Gott das Weltge­ schehen hervorbringen.397 Die Wirkungen der Zweitursachen können nur mehr passiv sein und selbst nicht mehr direkt wirken, schaffen und handeln, bestenfalls im äußerlich-empirischen Sinne »wechselwirken«, da sonst, eben wenn sie selbsttätig wären, die Möglichkeit einer anfangslosen Wech­ selreihe impliziert wäre. Sowohl nach oben als auch nach unten besitzt die Kausalordnung also metaphysisch eine Grenze, einen Abschluss und damit einen klaren, festen und unerschütterlich-unverletzbaren Bau. Die Welt, der Kosmos, die Schöpfung, insofern sie empirisch »erscheint«, kann nur das im dritten Seinsrang stehende, geschaf­ fene, aufgebaute und bewegte Werk entweder der Zweitursachen oder der Erstursache sein. Zwischen diesen drei Seinsrängen sind andere nicht möglich. Ihre jeweilige Seinsdifferenz ist von unten nicht überbrückbar, dagegen von oben immer schon überbrückt, insofern der tiefere Seinsrang die geschaffene und erhaltene Wirkung des oberen Seinsrangs bzw. der oberen Seinsränge ist, die sich in ihren Wirkungen lebendig und geistig ausdrücken. Aus der Summe endlos vieler passiver Dinge lässt sich keine Geistkraft im zweiten Seinsrang, kein Ich, kein Geist, kein Subjekt aufbauen; und ebenso ist es unmöglich, aus der Summe endlos vieler Zweitursachen die Gottheit, die Erstursache des Seienden, »aufzuaddieren«.398 Der natürlichen Ordnung nach bewirkt der obere Seinsrang nur den direkt ihm unterstehenden nächsten Seinsrang, also der erste den zweiten, der zweite den dritten. Gott schafft in der Regel nicht den dritten Seinsrang, die physische Welt, hat er doch gerade des­ wegen den zweiten Seinsrang der geistig-geschöpflichen Wirkkräfte Dazu ausführlich in diesem Abschnitt und in Abschnitt IV. Von vielen Denkern wurden die drei Seinsränge grundsätzlich gesehen, meist aber nicht durchdringend geklärt. Ein treffendes und schönes Beispiel ist dagegen R. Eucken (1980, 342), der schreibt: »Über der äußeren Notwendigkeit und der Nützlichkeit der natürlichen und gesellschaftlichen Selbsterhaltung erhebt sich weltbauendes geistiges Schaffen und entwickelt Wahrheit, Schönheit und Recht, über ihm aber wölbt sich als letzter Abschluss ein Reich weltüberlegener Innerlichkeit und weltüberwindender Liebe; zum Gelingen des ganzen Lebens müssen diese verschiedenen Stufen in steter Beziehung bleiben und wechselwirkend einander ergänzen, müssen die niederen zu den höheren weiterstreben und diese sich auf sie zurückbeziehen, muss jede einzelne sowohl ihr Recht behaupten als ihre Schranke erkennen. Bei solchem Zusammenwirken gewinnt das Leben eine fortlaufende innere Bewegung und einen überquellenden Reichtum.« 397

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3.8. Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen

erschaffen, um diese im dritten Seinsrang, wo sie allein und frei wirken können, wirken zu lassen. Würde Gott die physische Welt direkt bewirken, würde er die Zweitursachen lahmlegen und in ihrer Existenz überflüssig machen.399 Das ergibt keinen Sinn. Vielmehr erschafft er geistige Wirkursachen, damit diese sich in ihrem Wirken entfalten und realisieren können. Der Kosmos ist daher deren direkter Schaffensausdruck und zeugt nicht unmittelbar von Gott selbst, das ist ein klassischer Kurzschluss fast aller, in dieser Hinsicht noch naiven Religionen und entsprechender Philosophien, die in die bekannten Aporien der gängigen Theodizeen führen. Auf unmittelbare Weise zeugen von Gott nur seine »Ebenbilder«, die freien, selbstbewussten und wirkmächtigen Zweitursachen, wozu der Mensch als reale Natur- und Kulturwirkungsmacht zählt. Die empirische Betrachtung des umgebenden Kosmos, die im nächsten Abschnitt vorgenommen wird, beweist, dass im Weltgeschehen eine Vielheit von dynamischen, gegensätzlichen, suchenden und probie­ renden, kämpfenden, sich fördernden und störenden Kräften am Werk ist und nicht eine einzige, zeitlos-vollkommene Kraft. Wirkte Gott unmittelbar die Schöpfung, würde er sie mit einem Schlag erschaffen, er bedürfte der Zeit, des Kampfes und des Versuchens nicht, während sich die Zweitursachen nur in der Zeit entfalten und nur in der Zeit ihr entstehendes, zeitlich dramatisch verfasstes Werk schaffen können. Hier waltet eine tiefe metaphysische Sinnentsprechung zwischen Kraft, Zeit und Aufgabe. So und nur so ergibt die räumliche Ausdeh­ nung der Welt ihren Sinn, bietet sie doch das extensive Raumfeld, in dem sich eine Vielheit von Wirkkräften begegnen, austauschen, miteinander schaffen und ringen kann. Gott braucht für sein Da- und Sosein weder Zeit noch Raum. Demgemäß entspricht es der Seinshöhe und Souveränität Gottes nicht, dass er den Zweitursachen in die Parade fährt, sondern sie ihrem Wesen gemäß frei wirken und schaffen lässt und sich auf seine ureigenste und einzig nur ihm zukommende Macht beschränkt, frei­ bewusstseinsfähige, sprich personale Geschöpfe zu erschaffen und in

399 Außerdem wäre in diesem Fall die ganze Natur ein ständiges »Wundergesche­ hen«. Die deistische Idee dagegen, Gott habe nur die Naturgesetze geschaffen, denen gemäß dann sich die Natur »selbst« entwickelt, ohne weiteres Wirken von Ursachen, ist unmöglich, da Naturgesetze selbst nicht wirken und da andernfalls die als unmöglich erkannte anfangslose Wechselreihe heraufbeschworen wird.

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Zeit und Raum sinnvoll zusammenzustellen.400 Da die Naturgesetze, wie erkannt, nichts anderes sind als die frei von den Zweitursachen gefundenen und befolgten Regeln ihres Weltverkehrs, stört Gott diese nicht, sondern achtet sie, obwohl er prinzipiell in der Lage ist, in die drittrangige Welt einzugreifen und die Naturgesetze aufzuheben oder zu modifizieren. Solches kommt nur ausnahmsweise vor und stellt ein echtes Wunder, eine direkte göttliche Welteinwirkung dar, die ihren besonderen Sinn hat. Auf diesem Hintergrund erscheinen Übel und Leid in einem neuen Licht. Da die geistig-geschöpflichen Wirkkräfte nicht direkt aufeinander, sondern über das Medium der räumlichen Weltmate­ rie miteinander kommunizieren, weil andernfalls das Kausalprinzip verletzt würde, und da sie nicht in ihre drittrangigen Wirkungsge­ bilde übergehen, sondern souverän »über« diesen stehen, allerdings 400 Diese Selbstbeschränkung bedeutet keineswegs eine Einschränkung von Gottes Allmacht, einen »Verzicht«, wie H. Jonas und W. Thiede (2007, 125ff.) in Anlehnung an die kabbalistische Idee der raumschaffenden »Gotteskontraktion« (»Tzimtzum« des Isaak Luria) meinen, sondern nur die Delegation von Wirksamkeit und Macht an die Zweitursachen in souveräner Zurückhaltung, ohne deren Mitwirkung die Theodizeeproblematik unlösbar bleibt. Wenn Gott begrenzt vielen Zweitursachen Freiheit und Macht in der Welt verleiht, dann ist er zwar nicht allwirksam, aber nach wie vor allmächtig, im Gegenteil, seine Allmacht erscheint umso größer und souve­ räner, als er nicht nur freie Wesen erschafft, sondern die damit delegierte und evtl. missbrauchte Macht in seinem Gesamtplan (erfolgreich) mitberücksichtigt. Es braucht also keine Selbstbegrenzung im Sinne einer sachlich unmöglichen Verendlichung bzw. »Kontraktion« Gottes, um die Theodizeeproblematik zu lösen. Von solcher Verendli­ chung muss die Vereinigung Gottes mit einem Menschen unterschieden werden. In ihr wird nicht Gott verendlicht, sondern der Kern eines Geschöpfes durchgöttlicht, also in gewisser Weise verunendlicht, verklärt. Dieser durchgöttlichte Subjektkern bleibt nicht verborgen, sondern durchstrahlt die gesamte Person, also auch den »bloßen« Menschen mit seiner Leiblichkeit und wird sichtbar. In diesem Sinne kann man von einer »Verendlichung des Göttlichen« sprechen, vielleicht auch von einer »Selbsterniedrigung Gottes«, einer Kenosis ins Geschöpfliche. Doch wesentlicher ist nach Paulus in Phil. 2,7, wo das Wort ekenosen (seiner selbst ledig werden) steht, das »Leerwerden des menschlichen Willens« und seine freie Hingabe an den göttlichen Willen, urbildlich von Jesus Christus im Garten Gethsemane durchlitten und vorge­ lebt. Diese Kenosis ist die Voraussetzung dafür, dass das Geschöpfliche im Sinne der Theosis ins Göttliche erhoben wird. W. Thiede betont mehr die Verendlichung und Selbsterniedrigung Gottes und sieht weniger die Hingabe des geschöpflichen Willens und seine Erhöhung in Gottes Wille. Die Kenosis in Sinne von W. Thiede lehnen Augustinus (1948, 37) und die katholische Lehre ab, die betonen, dass Gott zwar im »Fleisch«, also in Leib, Seele und Geist des Menschen Jesus einwohnt, sich aber nicht zu »Fleisch« verwandelt, also unmittelbar verendlicht wird, was unmöglich ist, da das anfangslos Unendliche sich keinen endlichen Anfang setzen kann.

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3.8. Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen

nicht räumlich, sondern ontologisch, können sie sich nicht direkt, sondern nur indirekt über ihre Wirkungen und Werke in der Welt beeinflussen. Wenn diese transzendenten Naturgeistkräfte überhaupt leiden, dann nur so, wie ein Künstler leidet, dessen Werk beschädigt wird; direkt können sie kein Leid erfahren. Diese direkte Einwirkung auf ein geistiges Wesen wäre nur durch Gott möglich, der aber keine Übel wirkt und nichts und niemanden direkt – um bloßen Leidens willen – leiden lässt. Das bedeutet aber keineswegs, dass die leibfrei-transzendenten Naturgeistkräfte nicht leiden könnten. Im Gegenteil! Da auch sie ihr Wesen, ihre Stellung und ihre Aufgabe im Kosmos finden und ihre Wirkungen und Werke im Materiefeld durch Kreativität, Versuch, Kampf und Irrtum erst schaffen müssen, sind auch sie prinzipiell dem Zweifel und Irrtum, dem Fehlgriff und der Abirrung ausgesetzt. Verfehlen sie sich gar selbst oder lehnen sich gegen ihren Herrn, den Schöpfergott, und seine Schöpfungsordnung auf, ist echtes seelisch-geistiges Leiden unvermeidlich. Im letzten Fall ist das Leid allerdings selbstverursacht und damit ein Schuldleid, eine Sünde. Im anderen Falle ist es dagegen der geistigen Geschöpflichkeit der Naturgeistkräfte, ihres Suchens und Experimentierens geschuldet. In keinem Falle aber leiden sie, die nicht inkarniert sind, direkt leiblich. Nicht so beim Menschen. Zwar lehrt die Selbsterfahrung, dass auch er im Kern eine Ursache, eine Wirkmacht, mehr noch eine Natur- und Kulturkraft im zweiten Seinsrang ist, die heute den gesamten Erdball physisch umgestaltet, doch steht er mit seinem Wirken nicht transzendent über der Welt, sondern lebt unmittelbar immanent in ihr, nämlich als leiblich-leibhaftiges, »inkarniertes« Wesen. Damit ist er direkt dem Weltwirken anderer Kräfte ausge­ setzt, und daher kann er Übel erfahren und kann leiden wie kein anderes Wesen in diesem Kosmos. Während die Wirkungsgebilde der transzendenten Zweitursachen zwar beschädigt werden können (wie ein dingliches Kunstwerk), können sie, da sie passive Wirkungen sind, nicht wirklich, d. h. innerlich und seelisch, leiden. Auch ein beschädigtes menschliches Gemälde leidet nicht innerlich, sondern höchstens indirekt ihr Schöpfer. Anders im Fall des Menschen: Da er in seiner beseelten Leiblichkeit allen Unbilden und Gefahren des Weltgeschehens direkt ausgesetzt ist, kann sein Leib von allen Übeln getroffen werden und dadurch seelisches Leiden nach sich ziehen. Zwar muss er nicht im Sinne echter Notwendigkeit leiden, da der Leidensvollzug von ihm selbst, seiner Wahrnehmung und seiner Bewertung der Lage abhängt und daher unterbleiben kann. So gibt

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

es durchaus Menschen, die schwerste körperliche Verstümmelungen oder Krankheiten erleiden, aber, etwa weil völlig ergeben, nicht daran innerlich leiden. Das ist jedoch die Ausnahme, und zumeist lassen leibliche Versehrung, Schmerz, Verletzung, Krankheit und Unwohl­ sein im Leib den Menschen nicht ungerührt. Wie der Mensch an sich selbst erfährt, wurzelt diese besondere Leidensfähigkeit des Menschen einzig und allein in seiner besonderen Seinsverfassung, in seiner leiblichen Weltimmanenz, die für den Menschen, seit er existiert und sich seiner bewusst ist, das größte Seinsrätsel darstellt. Alle Völker, besonders die »einfachen«, indige­ nen, vertreten nicht von ungefähr die Überzeugung, dass ihr Dasein nicht, wie bei den Tieren, naturgewachsen ist, sondern sich einem geheimnisvollen Seinsereignis, einer Seinsrevolution verdankt, die auf verhüllte, oft mit einem Vergehen verbundene Weise ein geistigpersonales Wesen in die materiell-organische Welt verschlug. Wie aus der Theorie der drei Seinsränge und der Kausalität hervorgeht, ahnen sie etwas Richtiges, das nur von allzu naiven, mythologischen, animistischen und anthropomorphistischen Zutaten gereinigt werden muss. Denn in der Tat ist der Mensch nicht nur ein physisches Mängelwesen, wie A. Gehlen401 betont, sondern, wie K. Lorenz402 und viele andere herausstellen, ein potential universales, für die Meisterung aller Lebenslagen geeignetes Lebewesen, das mittels seiner leiblichen Flexibilität, seiner ingeniösen Phantasie und seines analytischen Geistes schöpferisch wirken und alle physischen Mängel überkompensieren kann. Im Menschen – und, wie es scheint, einzig in ihm – als dem metaphysischen Zwischenwesen schlechthin bilden der zweite und dritte Seinsrang eine reale, unauflösliche Synthese, die eine Zweiheit in Einheit darstellt und die vielen Spannungen, Imbalancen und Konflikte verständlich macht, die das menschliche Leben kennzeichnen und die Quelle zahlloser Leiden und der Sehn­ sucht ist, diese Zweieinheit von zweitem und drittem Seinsrang im ersten Seinsrang der Gottheit aufzuheben. Somit erweist sich der Mensch in einem noch viel tieferen Sinne, als die Tradition dachte, als mikrokosmische Zusammenfassung des Makrokosmos. Dass dies zu leben einer Überforderung nahekommt, verwundert nicht und lässt Vgl. A. Gehlen (1944, 31). Vgl. K. Lorenz (1943, 105–127). K. Lorenz spricht vom Menschen als einem »Spezialisten für das Unspezialisiertsein«; I. Eibl-Eibesfeldt von ihm (1997, 821) als einem »Generalisten«; ähnlich M. Landmann (1982, 148ff.); B. v. Brandenstein (1947). 401

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3.9. Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden

das Versagen, Scheitern und Leiden fast als ein natürliches Anrecht des Menschen erscheinen.403

3.9. Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden Da die Differenz zwischen zwei Seinsrängen vom unteren Seinsrang her nicht überbrückbar ist, kann sich der Mensch keine adäquate Vorstellung vom zeitlosen und absolut intensiven Ursein, dem er sein Dasein verdankt, machen. Begrifflich lassen sich jedoch einige Verhältnisbeziehungen zwischen dem ersten und zweiten Seinsrang durchaus nachzeichnen, so dass ein gewisses Verständnis im Horizont menschlichen Denkens möglich ist. Einerseits steht dem Menschen das Ursein insofern nahe, als es ihn hervorgebracht hat, trägt und ihn mit bestimmten Daseinsauf­ gaben in eine bestimmte Zeit an einen bestimmten Ort stellt.404 Andererseits ist die Gottheit dem Geschöpf ob ihrer gewaltigen Größe und Intensität unerreichbar fern. Um dennoch die Vorstellung an die­ sen Abstand heranzuführen, soll ein Vergleich versucht werden, der auf einer Analogie beruht und dadurch die relative Differenz abbildet. Dabei soll nicht die Kraft- und Machtintensität zwischen Schöpfer und Geschöpf verglichen werden, sondern deren Bewusstseinsraum. Im Falle Gottes ist dieser unendlich reich und unendlich weit, umfasst er doch z. B. alle mathematischen Dimensionen, Größen und Men­ gen, die unendlich sind, worin alle möglichen Universen, ebenfalls unendlich viele, als gegenständliche »Ideenkomplexe« enthalten sind. Demgegenüber ist der Bewusstseinsraum des Menschengeistes po­ tentialunendlich, kann also prinzipiell endlos erweitert werden, was Vgl. zum »überforderten Menschen« T. Fuchs, S. Micali, L. Iwer (2018). Da die Menschen seinsmäßig einen Anfang haben, also aus Nichts, aber vom Ursein gesetzt wurden und selbst endlich sind, ist der Abstand zu diesem »Nichts« immer endlich bzw. potentialunendlich. Dagegen ist der Abstand zur Gottheit unend­ lich, woraus folgt, dass alles zeitliche Sein, bildlich gesprochen, am Rand des Nichts hängt, vom Absoluten gehalten und getragen. Wohl sind die Menschen zum Leben im Göttlich-Unendlichen berufen, aber für sich betrachtet sind sie »fast nichts« (Augus­ tinus). Wollte man eine Veranschaulichung dafür geben, so eignete sich vielleicht das Gemälde von Leonardo da Vinci, »Salvator mundi«, dafür, das Christus-Gott zeigt, wie er das Universum als Kristallkugel mit den darin leuchtenden Fixsternen in seiner Linken hält. Um die Relation Gott-Universum allerdings genau anzugeben, müsste die Kugel unendlich klein sein – dann aber wäre sie unsichtbar. 403

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

allerdings aufgrund der Leibabhängigkeit des Bewusstseins und sei­ nes Todes limitiert ist, und hat als übernatürliche Grenzgröße einen unendlichen Ausschnitt von Gottes Bewusstsein und seinem gegen­ ständlichen Inhalt, der aUaU ist. Stellt man das reale physikalische Universum und den Bewusst­ seinsraum Gottes einander gegenüber und identifiziert Letzteren mit einer endlich großen Fläche, etwa von Fenstergröße – wie groß ist dann das reale Universum darin? Es ist kein endlicher Ausschnitt jener Fläche, z. B. ein Quadratzentimeter, sondern unendlich kleiner, nämlich so groß wie ein reiner mathematischer Punk (oder wenige Punkte). Das bedeutet, dass das bekannte gigantisch große Univer­ sum in jener Fläche, die den Bewusstseinsraum Gottes repräsentiert, nicht vorkommt, also gewissermaßen ein Nichts ist. Selbst wenn man dieses Punktuniversum endlos mit weiteren Punkten vermehren und vergrößern würde, tauchte es nicht in jener Fläche als realer Flächenausschnitt auf, so unendlich viel kleiner ist es. Erst unendlich viele (aU) Punkte (1/aU) zusammen – also aU x 1/aU – würden eine endliche Strecke, nämlich 1 ergeben. Der Geist Gottes umfasst jedoch viel mehr, genauer, unendlich viele und unendlich große Universen. B. v. Brandenstein405 kann in seiner philosophischen Mathematik die genaue Anzahl der Bewusstseinsobjekte Gottes angeben: Es sind unendlich viele in unendlich vielen Dimensionen, also aU hoch aU bzw. aU in seiner eigenen Potenz. Da das reale Universum keine einzige dieser unendlich vielen Dimensionen – auch keinen endlichen Teil davon – füllt, macht es nur einen unendlich kleinen Teil davon aus und erweist sich so als verschwindend gering, als »nichtshaft«.406 Wenn man sich diese ungeheure Differenz deutlich zu Bewusst­ sein bringt, dann stellen sich viele Fragen anders dar, und es wird klar, dass Gott erstens dieses Universum in keiner Weise braucht, etwa um in seiner angeblichen Einsamkeit mit jemandem kommunizieren zu können, und zweitens durch das All in seiner Fülle nicht das

Vgl. B. v. Brandenstein (1970, Kap. 295, 298ff.). Das reale Universum ist E3 bzw., da in alle drei Raumrichtungen expandierend, 3 pU . Das ist ein endlich sich ins Endlose ausdehnender Raum, der das Endliche immer nur um Endliches erweitert, daher nie aU wird. Der dreidimensionale Raum in Gottes Bewusstsein ist dagegen aU3, sprich ein unendlicher Teil seines aUaU, also unendlichdimensionalen Bewusstseinsfeldes. Dieser aU3-Raum ist aktualunendlich in die drei Raumdimensionen erstreckt und passt als Bruchteil des aUaU Bewusstseinsfeldes, gemäß (aUaU)/(aU3) = x, aUaU-3mal in dieses Bewusstseinsfeld hinein. 405

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3.9. Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden

Mindeste gewinnt.407 Das ist deswegen so, weil das Unendliche nicht vergrößerbar ist, das Universum dagegen wohl. Im Ganzen ist das Universum darum dem Nichts »unendlich« näher als Gott, sowohl was seine Größe als auch was seine intensive Seinskraft betrifft. Gott hat es nicht schaffen müssen, es ist total kontingent und daher gleichsam »nichtsdurchsetzt«. Wer dies erfasst, der versteht, warum eine Welt, in der Gott keinen vom Menschen bewusst eingeräumten Platz hat, unweigerlich dem Nichts in allen seinen Formen, vor allem in der Form der Selbstzerstörung zutreibt. Dass die Menschheits­ geschichte zum bluttriefenden Schlachthaus und zur himmelschrei­ enden Folterbank geworden ist, kann nur denjenigen verwundern, der naiverweise meint, der Mensch oder überhaupt die sekundären Geistgeschöpfe könnten ohne oder außerhalb Gottes wirklich Gutes schaffen. Das Gegenteil ist der Fall: Von Gott abgewendet, müssen sie sich bekriegen und mit aller Grausamkeit traktieren, müssen sich belügen und betrügen, müssen sich rücksichtslos gegenseitig ausstechen und müssen sich einander zur endlosen Qual werden. Dafür mag Auschwitz als Realsymbol stehen, dessen Realisierung nicht von ungefähr von gottlosen, gotthassenden oder gottvergessen­ den Menschen durchgeführt wurde. Die Tragik ist, dass das Nichts, das an sich nichts vermag, insofern zum »aktiven Nichts« wird und dämonische Gestalt annimmt, als es in die Verfügung geistiger Wesen gerät.408 Dieses Nichts stellt sich sofort da ein, wo das göttliche Leben hinausgedrängt und verleugnet wird, als ein Zeichen jenes tiefsten Sinnzusammenhanges, dass sich Leben grausam quälen und zerstören muss, wo es den Kontakt zum Urquell des Lebens verliert. Leben gegen Leben ist eben Selbstzerfleischung und Todessucht, ja Todeslust pur. Indirekt wird dadurch die Wahrheit bestätigt, dass die beste aller möglichen Welten die gotterfüllte Welt, die schlechteste aller Welten die gottlose, darum sich selbst zerstörende Welt ist. Sollte Letzteres In der Hinsicht, dass Gott erst durch die Schöpfung zum Schöpfer wird, »braucht« er auch die Schöpfung. Denn ohne die Schöpfung könnte er kein Schöpfer sein. Daher »braucht« er auch die Menschen bzw. alle Geistgeschöpfe, weil sein Schöpfertum erst durch unser Mitschaffen manifest wird. Insofern »schaffen« wir durch unser Mittun und Mitwirken Gott selbst zwar nicht als Gott, aber als Schöpfer von wirkfähigen Geschöpfen mit. 408 Dieses »Nichts« ist nicht mit dem Nichts in Hegels Ontologie zu verwechseln, das dort dem Sein schlechthin als ein Quasi-Etwas gegenübersteht (vgl. erstes Kapitel der Wissenschaft der Logik). 407

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im kosmischen Ausmaß eintreten, hätte sich trotzdem insofern das Bestmögliche, sprich die Wahrheit eingestellt, als Leben außerhalb Gottes nichts, in ihm alles ist. Da aber Gott nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort spricht, kann er jederzeit die radikale Selbstzerstörung der Schöpfung wenden und das »alte Jerusalem«, das den endlichen Subjekten als jenes Experiment und jener Selbstver­ such gewährt wurde, total autonom zu sein, in ein »Neues Jerusalem« verwandeln, allerdings nicht gegen die Freiheit, sondern nur mit der Freiheit der Geschöpfe. Und in Wahrheit hat sich bereits die Mehrheit der geistigen Geschöpfe, vormenschlich wie menschlich, für das »Leben Gottes« entschieden: Am »Neuen Jerusalem« wird schon längst, schon seit vormenschlichen Urzeiten gebaut. Der unendliche Abstand zwischen Kosmos und Schöpfer eröffnet in Hinsicht der Theodizeeproblematik die Erkenntnis, dass zum einen die Welt, weil sie fast ein Nichts ist, im Angesicht Gottes (fast) nicht ins Gewicht fällt, selbst mit ihren vielen Schlechtigkeiten nicht, so auch der Mensch,409 zum anderen, was noch bedeutsamer ist, dass Gott noch »unendlich viel Spielraum«, genauer, aUaU Weltenmög­ lichkeiten besitzt, um die zeitliche Schöpfung zu vervollkommnen und aus ihrer Vergänglichkeit und sittlichen Gebrochenheit »in sein Reich«, sprich in die Vollendung seines inneren Lebens zu heben, was mit allen gutwilligen und umkehrbereiten Geschöpfen (und ihren Werken), da Gott nicht unter seinen vollkommensten Möglichkeiten bleiben kann, geschehen wird. Schließlich muss bedacht werden, dass der unendliche Abstand zwischen Gott und Kosmos ein unendliches Bewusstsein von Seiten Gottes erfordert, damit der Kosmos überhaupt gesehen wird. Ohne den unendlichen Tiefen- bzw. Höhenblick Gottes und seine unendlich sich erbarmende Liebe würde Gott aus seiner Unendlichkeit nicht bis zum endlichen Kosmos vordringen, so dass dieser mit seinen Zweitursachen ungesehen und ungeliebt bliebe. Wer Gott nur endlich (E) oder potentialunendlich (pU) denkt, stürzt Gott und mit ihm die Welt ins Nichts; wer ihm Allmacht und Allwissen abspricht, aber die Unendlichkeit lässt, trennt ihn unüberbrückbar von einer hoffnungslos verlorenen Welt. 409 Das ist die »Lösung« der Theodizee im Buch Hiob 38,4 des Alten Testamentes: »Wo warst du, als ich die Erde gründete? Haben sich dir des Todes Tore aufgetan oder hast du gesehen die Tore der Finsternis?«, »Kannst du die Bande der sieben Sterne zusammenbinden oder das Band des Orion lösen?« Gott überzeugt hier nicht mit Einsicht und Liebe, sondern mit purer Übermacht, die nichts als Unterwerfung fordert.

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3.9. Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden

Die Rolle des Leidens besteht an diesem Punkt darin, sowohl den Abstand des Geschöpfes zu Gott als auch seine Abhängigkeit von ihm bewusst zu machen: Die Menschen sind, was ihr letztgültiges Glück betrifft, radikal und unumgänglich auf ihn angewiesen. Alles Leiden ist zugleich Ferne von Gott und Hindrang zu Gott, denn jeder dynamische Mangel sucht die Fülle. Die Selbständigkeit der Subjekte ist, wenn verabsolutiert, nichts, aber alles, wenn sie ihre Abhängigkeit vom Ursein frei annimmt und daraus Halt, Bezogenheit und Geborgenheit schöpft. Warum Gott allerdings diesen »Umweg des Leidens« für seine Schöpfung wählt, ist damit noch nicht geklärt. Der hier vorgelegte Vergleich beruht auf einer quasi-räumlichen Verhältnisbeziehung zwischen Schöpfer und Welt. Ein anderer Ver­ gleich könnte sich auf die Dauer- bzw. Zeitstruktur stützen, also auf das Verhältnis der zeitlosen Ewigkeitsdauer Gottes und der Ebzw. pU-Zeitdauer der Welt. Dieser Vergleich ist weniger leicht zu veranschaulichen, da die Zeitlosigkeit der Gottheit in jeder Hinsicht unvorstellbar und nicht zu vergegenwärtigen ist.410 Gott ist so fun­ damental und radikal bei sich, dass ein Werden, ein Herausgehen aus sich unmöglich ist (daher keine Emanation!). Die Welt dagegen ent­ faltet und findet sich nur, indem sie sich von ihren Anfängen entfernt — Selbstentfernung und Selbstentfremdung sind ein Grundkonstituens der Selbstfindung der Schöpfung. Darum kann die Schöpfung dem Ursein der Gottheit nichts hinzugeben – sie ist »überflüssig« und könnte nicht sein. Ihre Zeitgebundenheit entfernt sie so unendlich von Gott, dass es einem Wunder gleichkommt, dass sie überhaupt bestehen kann. Nur in ekstatischen Augenblicken der erfüllten Liebe, der glückhaften Vollendung eines Werkes, der mystischen Ekstase und der inneren Realisierung und Anteilnahme an den Urmächten der lauteren Wahrheit, der lichten Güte und der reinen, heiligen Schönheit, wo rein geistig das Zeitliche aufgehoben wird und das Ewige in das zerstreute Dasein hineinleuchtet, da erfährt das Geschöpf etwas von jener göttlichen Dauer, dem nunc stans, jener Dauer, die Unheil und Ungeheuerlichkeit des Zeitseins begreifen lässt und nicht wenige Denker wie die indischen Theosophen, Parmenides, B. de Spinoza und A. Einstein dazu brachten, Zeit überhaupt als Illusion zu denken. 410 G. Mahler (1860–1911) versucht dies am Ende des symphonischen Zyklus Das Lied von der Erde (1907–1908) in ergreifender Weise. Doch auch da handelt es sich nur um ein Analogon der Zeitlosigkeit in der Zeit, nicht um die Zeitlosigkeit selbst.

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Und doch lehrt die Zeitlichkeit der Schöpfung in anderer Hinsicht eine neue Perspektive: Da die Welt gestern und heute nicht die beste aller möglichen Welten sein kann, sonst hätte sie sich nicht wei­ ter entwickeln können und müssen, kann sie ihre Vollendung ausschließlich in der Zukunft erreichen und nur dort zur besten aller möglichen Welten werden. Das gelingt wiederum nicht in der Zeit, da sonst eine noch bessere Welt möglich wäre, sondern allein dadurch, dass sie von Gott zu einem bestimmten, aber verborgenen geschicht­ lichen Kairos in die Ewigkeit erhoben und gleichsam aus der Zeit her­ ausgenommen wird. Findet dies statt, erhält die Theodizeeproble­ matik eine tiefgreifende Wendung. Im Vergleich des gesamten zeitlichen und darin leid- und übelvollen Schöpfungsverlaufes mit seiner Vollendung in der »endlosen« Ewigkeit wird die ganze, wesentlich endliche Zeitdauer der Schöpfung – immerhin wahrscheinlich um die 13–15 Milliarden Jahre – gleichsam zu nichts, zu einem Vorspiel, zu einer »blassen Erinnerung«, die von der »am Ende der Zeiten« erreichten Fülle des Seins nahezu ausgelöscht wird und erlebnismäßig allen Last- und Dunkelcharakter verliert. Ihre Funktion besteht dann »nur noch« darin, jenen dunklen Hintergrund abzugeben, von dem sich das Leben im reinen Sein unendlich strahlend und beseligend abhebt.

3.10. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: Weltveräußerung und Weltausgesetztheit des Menschen Nicht erst das Leib-Seele-Problem, schon die Leiblichkeit des Men­ schen weist zwei Gesichter auf: Sie ist zugleich größte Selbstverständ­ lichkeit und größtes Rätsel. Was ist das, der Leib? Was heißt das, leiblich sein, was, einen Leib haben? Wie kann es sein, dass dieser Leib, anscheinend »nur« ein ausgedehnter physikalischer Körper, lebt, mehr noch, dem individualen Bewusstsein vorweg lebt, sinnhaft lebt, manchmal auch gegen es lebt und schließlich sich im Selbstsein der menschlichen Person erlebt, spürt und weiß, sich an sich selbst freut und leidet, sich erinnert und vorausschaut? Und wie kann sich der Mensch von diesem Leib, mit dem er doch »identisch« zu sein scheint, distanzieren, ihn führen, lenken, benutzen, ja knechten und mit ihm in die Welt hineinwirken?

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3.10. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens

Immer wieder taucht die Leiblichkeit in der Philosophie­ geschichte als Problem auf, doch nie trat sie so in den Vordergrund wie im 18., 19. und 20. Jahrhundert, beginnend mit G. Hamann, K. C. F. Krause, A. Schopenhauer und F. Nietzsche. Diese Wende hat mit dem Ende der Vorherrschaft der idealistisch-intellektualistischen Grundorientierung der abendländischen Philosophie, die ein Erbe der antiken Griechen war, und ihrer Ablösung durch die naturalistischen, am Organischen und Materiellen orientierten Menschenwissenschaf­ ten im 19. Jahrhundert zu tun. Trotzdem blieb der Leib ein Rätsel,411 das durch die philosophische Metaphysik und Phänomenologie zwar differenzierter und umfassender beschrieben wurde, aber in seinen Seinsgründen nicht aufgeklärt werden konnte.412 Man wurde sich nicht einmal darin einig, inwieweit das, was der Mensch als Leib erlebt und empfindet, mit dem identisch ist, was der Leib »an sich« bzw. verglichen mit dem physikalisch-organischen »Leib-Körper« ist. Während innerhalb der Phänomenologie die Schule M. Schelers von Identität ausgeht, setzt die Schule N. Hartmanns und mit ihm die Wissenschaftstheoretiker im Allgemeinen (und in der Nachfolge I. Kants) eine Differenz an, die zwischen dem erlebten Phänomen »Leib« (Erscheinung) und der »Realität« Leib (Ding an sich) unter­ scheidet. Was ist dazu zu sagen? Zunächst ist erkenntnistheoretisch festzuhalten, dass der Mensch nur dadurch von seinem Leib weiß, dass er ihn erlebt bzw. ihn in Bezug auf die Leiblichkeit im Modus des Empfindens spürt. Man könnte auch sagen: Der Leib erscheint als empfunden-empfindender, qualitativ-lebendiger Raumkörper. Erleben bzw. empfindendes Erle­ ben ist aber eine Art Bewusstsein, Bewusstseinsvollzug, dessen Inhalt zunächst die leiblich-qualitativen Empfindungen wie Wärme, Kälte, Spannung, Druck, Düfte, Geräusche, Klänge, Farben, Jucken, Schmer­ zen, Hunger, Durst, Unlust- und Lustempfindungen sind. Damit ist der Leib wie alle Erfahrung erkenntnistheoretisch ein »Phänomen«, ein »Bewusstseinsinhalt«, Erlebtes, kein an sich seiendes Ding und keine unmittelbar materiell-objektive Wirklichkeit.413 Vgl. B. Waldenfels (2000, 14). Vgl. von phänomenologischer Seite her T. Fuchs (2000). 413 Praktisch ist der Leib ein direktes Verhalten-Sein zur Welt (»être-au-monde« gemäß M. Merleau-Ponty, 1945), und eben damit schon als Phänomen ein reales, auf die Welt bezogenes und nicht nur phänomenales Medium zwischen dem Subjekt und der Welt. So ist er selbst auch ein Weltseiendes, materiell und immateriell zugleich. 411

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Von dieser phänomenalen Seite her teilt er alle Eigenheiten psy­ chischer Gegenstandsbildung: Er wird vom Erlebenden gemäß des­ sen innerer Struktur, sprich gemäß den Erlebens-, Wahrnehmungsund Denkkategorien aktiv erfasst und »konstruiert« bzw. besser »rekonstruiert«, nachgestaltet, zunächst praktisch ergriffen, aisthe­ tisch mittels der Zeit- und Raumanschauung intuitiv mitgestaltet und schließlich kognitiv mittels der logischen Begriffskategorien des Subjektes diskursiv begriffen. Hierin liegt die unvermeidliche Perspektivik der Leibwahrnehmung: Auch den Leib sieht das Subjekt immer aus der Ichperspektive, sprich aus einer Zentrierung heraus, so dass etwa seine Räumlichkeit nicht euklidisch-allseitig, sondern perspektivisch-einseitig »verzerrt« gestaltet und gesehen wird. Es ist klar, dass der Leib, wenn er nicht nur als Phantasieobjekt gelten soll, so nicht in der physischen Wirklichkeit besteht: Hier muss er gleichwertig in alle Raumdimensionen ohne Vorzug einer Perspek­ tive gedacht werden, und zwar nicht nur als bloß physikalischer Körper, sondern auch als biologisch organisierter und biologisch emp­ findender Leib. Das aber bedeutet, dass der erlebte Leib unmöglich mit dem (praktisch) »gelebten« Leib voll identisch ist, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Leib nicht nur intrapsychisch, etwa als bloße Phantasie – wie etwa im Traum –, sondern auch physisch real, an sich, heißt als physikalisch-chemisch-organismisches Ding besteht, das – im Gegensatz zum erlebten Leib – auch von Anderen wahrgenommen werden kann. Diese Annahme wird durch viele Wahrnehmungstäuschungen und Experimente bestätigt: Der subjektive Leib ist nur partiell mit dem objektiven Leib identisch. Denn wie ein Anderer meinen Leib – nicht nur meinen physikalischen Körper!414 – sieht, riecht, hört und tastet, weicht u. U. erheblich von meiner leiblichen Selbstwahr­ nehmung ab. Hierbei spielt eine entscheidende Rolle, dass der Leib Die recht künstlich anmutende Unterscheidung von Leib als nur interozeptiv empfundenem Körper und Körper als nur von außen gesehenem »Leib«, die H. Schmitz (Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990, 132) vornimmt und die etwa von B. Waldenfels (2000, 280ff.) abgelehnt wird, halte ich für wenig plausibel und folge ihr daher nicht. Sowohl der gesehene, gehörte, gerochene, getastete eigene Leib als auch der gesehene, gehörte, getastete, gerochene menschliche Körper eines Anderen ist nicht nur Körper, sondern Leib. Ein nur-Körper ist der Leib für den Physiker und Chemiker, aber auch das nicht ganz, da selbst die molekulare Struktur des Organismus gleichsam sinnlich-empfindungshaft durchflutet ist und von dem leiblich Empfindungshaften objektiv mitgestaltet wird. 414

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3.10. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens

nicht nur durch objektiv-intersubjektive Qualitäten wie die Hautfarbe und die Hautwärme, sondern auch durch unvermittelbar-subjektive Qualitäten bestimmt ist. Niemand kann meinen Schmerz, meinen Hunger, meine Müdigkeit empfinden, das ist nicht kommunikabel, obschon sich diese Qualia durchaus im Leib ausdrücken und indirekt wahrgenommen und durch Resonanz und Empathie nachempfunden werden können.415 Das leitet zur Frage über, was der Leib überhaupt ist, wenigstens insoweit er dem Menschen erscheint? In meiner Leidensphänomenologie habe ich folgende Seinskom­ ponenten des Leibes unterschieden: Als erstes erscheint er in seinen Sinnesqualitäten, sprich mit seiner gesamten Empfindungswelt, was E. Husserl »Empfindnisse« nennt. Schon diese »Welt« ist weitläufig und sinnreich geordnet, und zwar weitgehend wirklichkeitsverbun­ den.416 So gibt es zum einen exterozeptiv-weltbezogene, phänomenal an den Dingen »hängende« Sinnesempfindungen wie die Farben, die Töne und die Düfte, zum anderen interozeptiv-leibinnenbezogene Sinnesempfindungen ohne außerleibliches Korrelat wie Schmerz, Jucken, Hunger, Durst, Müdigkeit, Wollust, Wärme-Kälte und drit­ tens intermediäre, die Grenze zwischen Leib und Umwelt angebende Sinnesqualitäten, so die intersubjektiv-miterlebbaren Tast- und Tem­ peraturempfindungen. Schon das bildet viel von der objektiven Rea­ lität ab. Unter den interozeptiv-leibständigen Qualitätsempfindungen lassen sich die »allgemeinen«, leibglobalen, über den gesamten Leib ausgedehnten Vitalempfindungen wie die Frische, die Kraft, die Erschöpfung und die Müdigkeit von den Lokalempfindungen, etwa einem Jucken oder Stechen unterscheiden. Schließlich gibt es eine Gruppe von Empfindungen, die das triebhaft-bedürftige Streben im Leib erfahrbar machen: die an die Instinkte gebundenen Drang- oder Triebempfindungen, so die Atem-, Durst-, Hunger-, Ausscheidungs-, Schlaf- und Wollustempfindungen, in denen sich ein leibliches Bedür­ 415 Vgl. zur verkörperten Empathie und Intersubjektivität die differenzierte und umfassende Studie von T. Breyer (2015). 416 Aus dieser Sicht erweist sich die These I. Kants vom Chaos bzw. der primär ungeordneten Vielheit der Empfindungswelt als nicht belegbare Hypothese, mit der I. Kant die Transzendentalität von Raum und Zeit, allerdings völlig hypothetisch, zu begründen sucht. In Wahrheit weist das Empfindungsleben schon primär einen hohen, durchaus objektiven Grad an Ordnung auf. Sowohl die klare und sinnige Zuordnung der Qualia zu bestimmten objektiven Sinnesorganen (Auge-Farbe, OhrKlang) als auch die intrinsische Ordnung der Qualia (Farbenkreis, Obertonreihe etc.) belegen dies.

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fen kundgibt. Auch dies spiegelt wichtige, auf die Natur und auf die Intersubjektivität bezogene Realitätsverhältnisse wider. Eine weitere, interessante Differenz betrifft die Nähe und Ferne im Raum: Farb- und Tonempfindungen können die Tiefe des Raums vermitteln, Duft, Geschmack und Getast die Nähe der Dinge. Und schließlich zeigen die Farbqualitäten eher die Zweidimensionalität, die Duft-, Geschmacks- und Getastqualitäten eher die Dreidimensio­ nalität des Raumes an, während die Töne in sich raumlos sind und die Zeitlichkeit wiedergeben, was für Sprache und Musik wichtig ist. Das sind längst nicht alle Leistungen, die die Sinnesempfindungen erfüllen – es gibt noch solche, die eher von der Oberfläche, andere die eher vom Inneren der Dinge Kunde geben u. a. m. –, doch soll dies genügen, um die Lehre von der bloßen Subjektivität der Empfin­ dungswelt, wie sie in der Neuzeit seit Galilei zur Vormacht kam, infrage zu stellen.417 Ohne diese Sinnesqualitäten wüsste der Mensch weder etwas vom Leib noch etwas von der Welt, wie alle jene Kranken beweisen, denen ein Sinneskanal verschlossen ist, vor allem wenn dies seit der Geburt der Fall ist. An diesen Sinnesqualitäten oder Empfindnissen hängen weitere, nicht-sinnliche, nicht empfundene, sondern anschauliche Eigenschaf­ ten, so vor allem die quantitativ-gestaltlichen Eigenschaften der Räumlichkeit, Zeitlichkeit, der Rhythmik und der zahlen- und men­ genhaften Gliederung. Sie, die nicht primär empfunden, sondern primär erschaut und angeschaut werden, sind zur Orientierung in Leib und Welt unentbehrlich, von ihnen bekommt der Mensch die Ordnungen und Gesetze der Natur vermittelt, ohne die er nichts handhaben, abschätzen, gewichten, bemessen und berechnen könnte. Darüber hinaus gestalten sie die »Plastizität« der Dinge mit und zeigen deren Harmonie, Einheitlichkeit und Eleganz, letztlich ihre gestaltliche Schönheit und ihren gestaltlichen Reiz. Doch schon die Qualitäten – die Farben, Töne, Düfte usw. – empfindet der Mensch 417 Welche Behauptung umso irriger ist, als der Mensch erweisbar die Sinnesqua­ litäten originär-subjekthaft nicht erzeugen kann: Ein blind Geborener kann sich nicht aus eigener Kraft Farben erschaffen, und also können Farben nicht seine rein subjektiv-bewusstseinsmäßigen Erzeugnisse sein. Entweder werden sie in der optisch gesunden Wahrnehmung von den wahrgenommenen Dingen oder vom Leib oder von beiden (in einer komplizierten Gestaltungssynthese) gegeben. Dinge und Leib sind beide nicht nur subjektiv beliebige Schaffungen des Geistes, sondern werden rezeptiv wahrgenommen.

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als schön, als seelisch gehalt- und ausdrucksvoll. Und in der Tat müssen sie, wenn der Kosmos, wie oben ermittelt, als das Werk von geistigen Potenzen erkannt ist, als Ausdruck seelisch-geistiger Wesen verstanden werden. Während die sinnlich-empfundenen und die quantitativ-gestalt­ lich-angeschauten Eigenschaften noch qualitativ gefüllt bzw. quantitativ anschaulich sind, sind die begrifflich zu erfassenden Eigenschaften der Gegenstandswelt (einschließlich des Leibes) unsinnlich-unanschaulich, »abstrakt«, »formal«, »geistig« und gehö­ ren dennoch zur Seinsstruktur des Leibes und der sinnlichen Welt: Das sind die sachlogisch-zusammenhangsartigen Bestimmungen, die »Formen«, logischen Beziehungsfiguren und Zusammenhangsnetze in den Dingen, die der Mensch begrifflich zu erfassen sucht. Alles, was in logische Urteile gesetzt werden kann, gehört hierher, etwa, wenn man sagt: Der menschliche Leib ist ein Wirbeltier-, Säuger- und Primatenorganismus; er ist abhängig von diesen und jenen Umwelt­ bedingungen; seine inneren Funktionen sind so und so aufeinander bezogen usw. Ohne diese formale Seite könnten der Leib und über ihn die Welt nicht verstanden, ihre logische Wechselwirkung und Einheit nicht erfasst werden, so dass die funktionalen Bezüge im Leib selbst und zur Umwelt dunkel blieben. Mit ihnen ordnet sich das Leben und erhält durch allen Wandel hindurch Festigkeit, Klarheit und Bestand. Diese drei Eigenschaftsgruppen reichen aber nicht aus, um den realen Leib zu bestimmen, was dadurch bewiesen wird, dass auch der geträumte oder phantasierte Leib damit vollauf beschrieben werden kann. Zum echten, realen Leib kommt seine Selbständigkeit, sein physisches An-sich-Sein, seine relative Unabhängigkeit vom Erleben, seine partielle Autonomie gegenüber dem Bewusstsein und damit seine Erfahrbarkeit durch Andere, also seine Intersubjektivität hinzu, und das beinhaltet drei weitere Momente: Jeder reale Leib – – –

ist organisierte, physikalisch-chemisch-biologische Materie, was bedeutet, dass auch der Körper einer Amöbe ein empfindsamer Leib ist; wird energetisch »betrieben«, »aufgeladen«, bewegt, oft sogar relativ autonom und unabhängig vom Wollen und Wünschen des Subjekts; und jeder Leib wird als ganzer in der realen Raumzeit erweis­ bar durch ein nicht direkt wahrnehmbares, das Weltwirken und die Intersubjektivität ermöglichendes, daher eigenständiges,

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»substanziales« Medium, die »metaphysische Materie«, gestützt und getragen.418 Der geträumte Leib, der vom subjektiv erlebten realen Leib in kei­ ner Weise unterschieden sein muss, besitzt die drei letztgenannten Seinsaspekte nicht: Er ist weder physikalisch-chemisch-biologisch organisiert noch durch echte physische Energie aufgeladen, noch wird er durch die metaphysische Materie gestützt. Im Gegenteil, das Medium, das den geträumten Leib trägt und sogar erzeugt, ist das Traumbewusstsein. Allein die Existenz des geträumten Leibes widerlegt so die Sche­ lersche Position der Identität von phänomenalem und physisch-ansich-bestehendem Leib. Das Kriterium der Widerständigkeit reicht entgegen M. Schelers Position nicht aus, den geträumten vom realen Leib zu differenzieren, da auch der geträumte Leib im Zusammenhang mit Widerständen, Hemmungen, Verletzungen und Schmerzen erlebt werden kann. An diese Grundstruktur der Leiblichkeit lässt sich die Frage richten, woher sie kommt und wie sie wodurch aufgebaut wird. Eines ist klar: Es ist nicht das Erleben, das Bewusstsein, der »Geist« des Menschen, der die erlebte Leiblichkeit originär konstruiert, »macht« oder erzeugt, wie das beim geträumten Leib der Fall ist und wie das idealistische Philosophien unterstellen. Das wird dadurch bewiesen, dass ein Blindgeborener nicht in der Lage ist, Farben zu erzeugen, ein Taubgeborener nicht in der Lage, Töne zu hören usw. Zweifellos wird die Leiblichkeit mit all ihren Eigenschaften dem Wahrnehmen­ den, der sie rezeptiv entgegennimmt, gegeben – aber von wem und wie? Obschon der Erlebende sie aktiv – und keineswegs, wie der Sensualismus meint, rein passiv wie in Wachs – aufnimmt und in diesem Sinne »rekonstruiert« (mit- und nachbildet), so konstruiert er sie keineswegs originär. Damit drängt sich erneut die Frage auf, wer oder was die Farben, Töne, Gerüche, die Hunger-, Durst- und Wollustempfindungem erzeugt? Es ist klar, dass diese Kausalfrage phänomenologisch und naturwissenschaftlich-neurobiologisch nicht beantwortet werden kann, und sie wird auch meistens umgangen oder ganz unzureichend beantwortet. Zwar sind das Nervensystem, 418 Siehe B. v. Brandenstein (1966, 261ff.), der die logisch-ontologische Notwendig­ keit der Materie als substanziales Medium für das Weltwirken und die Intersubjekti­ vität erweist. Im Kapitel 1.4. wurde das Problem der Materie als selbständigen Trägers dynamischer Weltgestaltungen erörtert und an die »Amme« Platons erinnert.

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das Gehirn, der Leib und das »Unbewusste« an der »Phänomenali­ sierung des Leibes« beteiligt, aber reicht dies zur Erklärung aus? Erweisbar nicht. Das erste Problem, das sich stellt, ist die Frage, was der erlebte Leib und der Leib, der physisch auch dann besteht, wenn er nicht erlebt wird, so im Tiefschlaf, was diese beiden Leiber gemeinsam haben? Sind sie beide zeiträumlich bestimmt oder nicht? Finden sich an beiden die Empfindungsqualitäten oder nicht? Bekanntlich hat die philosophische Tradition das Erste bejaht, das Letzte verneint, so in der Lockeschen Unterscheidung der primären oder objektiven mathematischen und der sekundären, angeblich rein subjektiven sinnlichen Gegenstandsqualitäten, doch war diese Unterscheidung keineswegs genügend durchdacht. Wenn der reale Leib nicht nur, wie die Gegenüberstellung zum geträumten Leib beweist, ein Produkt des Bewusstseins und überhaupt des Erlebens ist, und zwar mit allen seine Eigenschaften, auch mit seinen sinnesqualitativen, dann müssen auch diese aus der realen Welt stammen. Darauf wird erwidert, dass dies wohl stimme, aber nur auf den Leib zutreffe: Nicht die realen Weltdinge seien farbig, schwer, duften so und so, sondern das erzeuge der reale Leib, vor allem das Zentralnervensystem. Nun hat allerdings noch niemand zeigen können, wie ein Nervennetzwerk Farben, Töne, Gerüche etc. erzeugt. Wenn zugegeben wird, dass physische Realitäten wie Nerven, Moleküle etc. Sinnesqualitäten hervorbringen können, dann besteht keine prinzipielle Schwierig­ keit, sie vorher schon der realen Welt zuzuschreiben. Auch wäre es rätselhaft, wie eine farblose, tonlose, qualitativ leere und rein energetisch-zeiträumliche Welt von der ebenfalls qualitativ leeren biologischen Materie des Nervensystems in erlebte Sinnesqualitäten soll umgesetzt werden können. Schließlich ist es wenig konsequent, der realen Welt die subjektiv wahrnehmbaren Eigenschaften von Zeit und Raum zuzugestehen, also hier einen Transfer von Objektivität in Subjektivität zuzulassen, während dies im Falle der Sinnesqualitäten, die durchaus als weltständig erlebt werden, verneint wird.419 Das ist 419 Und in der Tat gibt es Philosophen wie I. Kant und Neurobiologen wie G. Roth, die dazu tendieren, die gesamte Erscheinungsgestalt von Leib und Welt als subjektiv und rein konstruiert anzusehen, allerdings im Falle G. Roths nicht vom Ich, sondern vom Gehirn, was zu einem Selbstwiderspruch führt, so dass der objektiven Welt, den Dingen an sich, die sie nicht leugnen, keine der bekannten Eigenschaften, also auch die Räumlichkeit und Zeitlichkeit nicht zukommen. Wie diese Denker in solchem Falle überhaupt von einer objektiven Welt reden können, bleibt dann allerdings

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umso widersinniger, als die Raumzeiteigenschaften der Welt an und mit den Sinnesqualitäten vermittelt werden. Sinnestäuschungen, die oft ins Feld geführt werden, gibt es nicht nur bei den Sinnesqualitäten, sondern ebenso bei geometrischen und logischen Gegenstandsbe­ stimmungen. Es besteht daher kein zureichender Grund, die einen Eigenschaften – die Sinnesqualitäten – für nur-subjektiv, die anderen, die raum-zeitlichen, für objektiv-subjektiv zu halten.420 Fragt man sich nach der Bedingung der Möglichkeit der Sinnes­ qualitäten, ist eine Aufklärung der Sachlage möglich, wenn gemäß dem recht gefassten Kausalprinzip erkannt wird, dass die Sinnes­ empfindungen schöpferisch gesetzte Gehaltsqualitäten sind, die ihr Dasein ranghöheren, setzungsfähigen Wirkkräften verdanken, die gemäß dem oben dargelegten Kausalprinzip nur geistige, physisch wirkfähige Realitäten sein können. Würde man annehmen, dass Farb-, Ton-, überhaupt qualitative Gehalte von anderen gleichrangi­ gen Gehalten, also wieder von Farben, sonstigen Empfindungen usw. oder gar von Nervenzellen, Leibesfunktionen, Sinnesreizen, physikalischen Energien etc. verursacht würden, geriete man in einen infiniten Regress, also in eine anfangslos-unendliche Ursache-Wir­ kungskette. Da diese, wie erkannt, sachlich unmöglich ist, können weder der Leib als ganzer noch das Gehirn noch irgendwelche Reize die zureichenden Ursachen, sondern höchstens Bedingungen bzw. Konditionalursachen der Sinnesqualitäten sein, vielmehr jene Wirk­ kräfte, die überhaupt das Universum organisch-sinnhaft aufbauen, »schmücken« es gleichsam mit den Sinnesqualitäten aus. Der Kosmos ist keine nur abstrakte, graue, tote, farb- und tonlose Energie- und Gesetzeswüste, sondern ein anschaulich lebendiges, »buntes« Werk geistiger Wirkwesen, die sich darin ausdrücken und ihre kreativen Möglichkeiten realisieren. Damit kommt der Mensch in den Blick, der nicht nur einen Leib hat, den er gleichsam von außen führt, sondern der sein Leib ist, ihm unauflösbar einwohnt und ihn »von innen«, aus seinem seelisch-geistigen Zentrum heraus erlebt, erleidet, lenkt und gestal­ rätselhaft. Die erkenntnistheoretische Konsequenz ist ein radikaler Solipsismus, die eigenartigerweise von den Konstruktivisten (Maturana, Roth etc.) nicht gesehen wird. 420 Da verhielt sich I. Kant konsequenter, der dem objektiven Gegenstand bzw. Ding an sich alle Eigenschaften, also auch die zeiträumlichen absprach und sie für nur subjektiv erklärte. Das führt in andere Aporien, die vor allem die Kommunikation und die praktische Weltgestaltung betreffen, die ohne »adäquatio rei et intellectus« unmöglich werden.

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tet, umfasst und umhüllt. Diese Einwohnung ist alles andere als selbstverständlich. Schon auf einfacher, etwa magisch-mythischer Bewusstseinsstufe kommt der Mensch auf die Idee, das personale Seelenprinzip sei durch göttliche Wirkung in den Leib eingepflanzt oder eingehaucht worden.421 Wäre die »Seele« tatsächlich rein natural dem Leib entwachsen, hätte sich solch eine Vorstellung kaum ausbil­ den können. Irgendwie scheint schon der frühe Mensch zu fühlen, dass er »Bürger zweier Welten« (I. Kant) ist bzw. ein Prinzip in ihm lebt, das nicht (nur) von dieser Welt ist (Platon, Aristoteles, Christen­ tum, G. W. Leibniz, I. Kant). Das wird dadurch unterstrichen, dass er sich zunehmend in seinem individuellen und kollektiven Leben vom rein Leiblichen, Stofflichen und Biologischen zu emanzipieren sucht. Schließlich gestaltet er seinen Leib wie ein Kunstwerk und tut ihm regelrecht Gewalt an, um ihn seinen Vorstellungen gemäß umzubilden. Heute geht das so weit, dass man die natürlichen Altersund Verfallsprozesse aufhalten, gar aufheben will – ein deutlicher Hinweis auf die »Nicht- oder Übernatürlichkeit« des Menschen. Dieses im Menschen erwachende Freiheits- und Emanzipations­ prinzip tritt sehr früh in der Menschheitsgeschichte bzw. im indivi­ duellen Leben auf und offenbart sich z. B. darin, dass die tierischen Instinkthandlungen zurückgedrängt und in einigen Fällen aufgehoben werden. Der Mensch will nicht nur von der Natur geführt werden, er will sich selbst führen, und zwar schon das Kleinkind, etwa das Einjährige. Im Augenblick, wo der Mensch in seinem Leib erwacht, will und soll das Bewusstsein, das nicht nur intellektuell, sondern auch praktisch und emotional verstanden werden muss, zur Vorherrschaft über die Triebe und Instinkte gelangen – wie sollte das möglich sein, wenn das Bewusstsein, wie die Neurobiologen behaupten, nur die passive Spiegelung der Gehirntätigkeit wäre? In Wahrheit ist das Bewusstsein eine Kraft ohnegleichen und beherbergt einen Willen, der vor allem sich selbst will und dieses »Selbst« in der Welt auszudrü­ cken und durchzusetzen sucht. Darin liegt zwar auch die Quelle des Egoismus, vieler Neurosen und Krankheiten, Konflikte und Kriege, doch ohne dieses Selbst könnte der Mensch nicht Mensch sein. Der Mensch erwacht im Leib, und zwar gemäß einer gewissen Ordnung. Zuerst spürt er sich unmittelbar im Sinne der lebendigen 421 Auf einem sehr schönen Dokument der Aztekenkultur, dem Codex FejervaryMayer, Merseyside Country Museum, Liverpool, sieht man, wie zwei Götter einem Totenschädel eine sonnenähnliche Seele einpflanzen. Vgl. G. Lanczkowski (1989, 39).

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Autoaffektion und lebt ganz naiv auf die Welt zu, und da vornehmlich auf seinesgleichen, auf den wichtigen Anderen.422 Erst sekundär kommt die Dingwelt in seinen Blick. Das ist die bekannte SelbstWelt-Matrix, die zwar nicht völlig unterschiedslos, aber recht »sym­ biotisch« strukturiert ist. Nach und nach beginnt sich der Mensch differenzierter zu spüren, sich zu erkunden und zu erproben, und weiß schließlich um sich, wenn auch erst unmittelbar emotional, nämlich im präreflexiven Selbstgewahrsein, dann praktisch im Selbstführen und erst später kognitiv im konzeptuell-reflexiven Selbstbegreifen. Sein Selbst mit seiner einmaligen Identität wird mehr und mehr bewusst und will sich selbst bestimmen und formen. Offenbar eignet dem Bewusstsein des Menschen ein mächtiger Drang zum Selbst­ bewusstsein. Woher kommt das? Aus den Instinkten? Aus dem Leib? Wenn man zugibt, dass das Bewusstsein eine echte Causa, eine Wirkkraft, ein Handlungszentrum und nicht nur ein kontemplativer Spiegel ist, was kaum geleugnet werden kann, da es Gedanken, Phantasien, Erinnerungen, Wünsche, Entschlüsse, Entscheidungen, Handlungen, Begriffe, Konzepte, Ideen und Utopien hervorbringt, dann scheint es unmöglich, es aus der physischen Welt abzuleiten. Keine Wirkungspotenz kann aus bloßen Wirkungen, d. h. aus Wirk­ lichkeiten im dritten Seinsrang, hervorgehen. Wohl ist der Leib der Ort des Erwachens, auch das Medium zur Welt, das Antlitz und die beste Maske (F. Nietzsche), die den Menschen zugleich enthüllt und verhüllt, gewiss auch die unmittelbarste Wohnung des Selbstseins, aber er ist nicht der originäre Akteur bzw. ist dies nur in beschränkter Weise, nur in Hinsicht der Trieb- und Instinktwelt. Die gesamte Welt der Phantasien, des Gefühls, des Geistes und der Kultur ist ein Werk des Bewusstseins (mit seinen unbewussten Tiefengründen), nicht der Physis, die »nur« als Wohnung, Medium, Anreiz und Werkzeug in ihren Grenzen mitwirkt. So ist es z. B. unmöglich, die Welt der idealen mathematischen und logischen Größen und die Welt der idealen ethischen, ästhetischen und praktischen Werte – wie die Naturalisten wollen – aus der Leiblichkeit abzuleiten bzw. zu erklären, auch wenn

422 Dieses Spüren ist zwar kein hochstufiges Reflektieren, impliziert aber wie das Selbstgewahren ein Selbstverhältnis, einen Selbstbezug und damit etwas unmittelbar Rückbezügliches. Vgl. den Begriff der Autoaffektion bei M. Henry (1992). Vgl. auch meine Arbeit Selbststruktur, Selbst und Narzissmus. Versuch einer Fundamentalanalyse (2020, 220–250).

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der – in sich schon so geistreich gebaute und schön gestaltete – Leib zu diesen Werten zweifellos Bedeutendes beisteuert.423 Damit eröffnen sich zwei neue Aspekte der menschlichen Exis­ tenz: Dadurch, dass das menschliche Erleben unmittelbar dem Leib einwohnt, ist es radikal ins Physische entäußert, wodurch der Mensch erlebnismäßig allen Gefahren der Welt ausgesetzt ist.424 Dadurch aber, dass er als personales, seelisch-geistiges Prinzip im Leib, geweckt durch die wichtigen Mitmenschen, erwacht, ist er ande­ rerseits aufgerufen, den bloß tierischen Leib zu vermenschlichen, seelisch und geistig zu durchdringen und zu gestalten, zunächst in Ausdruck, Bewegung und Gestik, dann durch Spiel, Kleidung, Bema­ lung und Schmuck, schließlich durch tiefgreifende Verformungen des Leibes. Allein durch den Menschen kommt das personale, sprich individual-psychische Prinzip in die Welt, obschon die Welt bereits vormenschlich, vor allem in den Lebewesen Seelisches und Geistiges ausdrückt, aber doch nur aspektiv und nie total. Vormenschlich erfährt man in der Natur nur »Gattungsgeistiges«, nichts individuell Perso­ nales, aber Seelisch-Geistiges durchaus.425 Da das Prinzip Freiheit wesenhaft an das geistige Individuum geknüpft ist, denn nur ein solches kann wirklich »selbst« handeln, bleibt ein Kollektiv wie eine Tierart wesenhaft gebunden, gebunden an seine Instinkte und an seine Umweltnische, in die es passt. Der Mensch dagegen sprengt allen Umweltbezug und beginnt, die Welt zu erobern, zu formen, auszubeuten und nach seinem Willen und seiner Vorstellung umzubauen. Darin liegt eine große Gefahr, die sich zur Selbstgefährdung auswachsen kann, doch muss man sie verstehen, um ihr recht begegnen zu können. Wer den Menschen nur als »Natur« begreift, versteht ihn erstens nicht – denn wie sollte Natur sich selbst zerstören können? – und kann ihm zweitens nicht gerecht werden, und das heißt, sein wahres Anliegen verstehen und dadurch sinn- und maßvoll lenken. Vgl. die ähnliche Kritik von P. Wust (1925, 25ff.). Diese Ver- oder Entäußerung setzt das menschliche Erleben bzw. Ich an die äußerste Außenheit oder Oberflächenhaftigkeit des Seins und verlangt einerseits deren seelisch-geistige Durchdringung, so vor allem im seelischen, der Kommunika­ tion dienenden Ausdrucksgebaren und provoziert andererseits die Suche nach der eigenen Innerlichkeit und Tiefe des Menschenwesens. 425 Vgl. ähnlich P. Wust (1925, 28); H. André (1931); F. Buytendijk (1958); H. Plessner (1981); B. v. Brandenstein (1947, 579). Schon Aristoteles und G. W. F. Hegel erkann­ ten, dass das Lebensprinzip in der vormenschlichen Natur nicht individual-personal ist, sondern auf eine »Artseele« verweist. Ähnlich auch E. Becher (1949). 423

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Metaphysisch betrachtet, stellt sich der Mensch als ein eigenarti­ ges Doppelrangwesen dar, in dem der zweite und der dritte Seinsrang, personales Seelenprinzip, gattungspsychische Leiblichkeit und physi­ kalische Körperlichkeit zu einer engsten, obschon nicht unproblemati­ schen und gewiss nicht einsinnigen Einheit verschmolzen sind. Wie es dazu kam, und wer oder was dies bewirkte, liegt im Dunkel und schlägt sich als der endlose Streit um das Körper-Leib-Seele-Geist-Problem nieder. Gemäß dem Kausalprinzip lässt sich sagen: Diese Einheit kann nicht das Werk rein naturaler bzw. drittrangiger Prozesse sein; und auch ein Wesen im zweiten Seinsrang, also ein geistiges Geschöpf, ist zu solch einer rangübergreifenden Syntheseleistung nicht in der Lage. Wohl kann es im dritten Seinsrang wirken, kann Gedanken, Ideen, Phantasien, Entschlüsse, Wünsche, Handlungen und Werke hervorbringen und sich in der Welt sichtbar damit ausdrücken, aber es kann sich nicht mit ihnen rangübergreifend vereinigen und sich selbst echt drittrangig machen. Wie B. v. Brandenstein426 erweist, ist dazu nur die Urkraft im ersten Seinsrang, die Gottheit, in der Lage, und daher ist sie es, die zwar nicht den Leib (direkt) erschafft, aber das personale Prinzip mit dem Leib innigst vereinigt und so die beiden unteren Ränge übergreift und gleichsam »verschweißt«. Warum Gott dies tut, wird im nächsten Abschnitt bei der Betrachtung des Naturaufbaues ersichtlich: Erst mit dem Menschen und seiner radikalen Entäußerung im Weltsein wird das kosmische Sein personalisiert, d. h. geistig individualisiert und transparent, womit die biologisch organisierte Materie ein intim-per­ sönliches und innerliches Gepräge erhält. Vor allem erscheint mit dem Menschen das Prinzip der Freiheit in der Welt, das wiederum die Grundlage für die Prinzipien Selbstbestimmung, Selbstgestaltung, Würde, Verantwortung, Achtung, Austausch, Gespräch und Liebe enthält, allerdings deren Schattenseiten wie Willkür, Rücksichtslosig­ keit, Egoismus, Verantwortungslosigkeit, Würdelosigkeit, Isolation, Missachtung und Hass miteinkauft. Wer die echte Freiheit in der Welt will, und die ist nur im zweiten geschöpflichen Seinsrang möglich, der kann sie nur um den Preis ihrer dunklen Möglichkeiten haben. So gesehen, muss ein Großteil von Übel und Leid als »Nebenwirkung« und Folge des Wunders der Freiheit, der Kreativität, der grenzenlosen Phantasie, auch der leib­ lich fast grenzenlosen physischen Ausdrucks- und Wirkungsmacht 426

Vgl. B. v. Brandenstein (1966, 427ff.).

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3.11. Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch

gesehen werden. Wohl hätte Gott eine Welt frei von eigenständigen Geschöpfen oder nur mit solchen freien Geschöpfen erschaffen können, von denen er wusste, dass sie ihre Freiheit nicht irrtümlich, willkürlich, fehlerhaft oder missbräuchlich gebrauchen würden. Da aber eine jegliche geschöpfliche Freiheit prinzipiell endlich, also nicht allwissend und allmächtig ist, hätte er diese Freiheit vor sich selbst schützen, sie also kontrollieren, einschränken und bewahren müssen und wäre so zum Tyrannen des innersten Selbstlebens geworden. Von echter Freiheit, die sich um den Preis des Irrtums und des Missbrauchs erprobt und die sich zeitlich entwickelt und reift, könnte keine Rede sein: Sie wäre von Gott nicht freigelassen worden. Schon im Paradies der jüdischen Genesiserzählung treten geisti­ ge Geschöpfe auf, die echt frei und für ihr Handeln verantwortlich sind. Wohl sind ihnen explizit Grenzen gesetzt, aber sie sind soweit freigelassen, dass sie diese Grenzen überschreiten können, allerdings nicht folgenlos. Je mehr Freiheit Gott seinem Geschöpf zutraut, ein desto größeres Risiko geht er zwar ein, dass diese Freiheit fehlgeht, aber eine umso größere Möglichkeit erwächst, dass Schöpfer und Geschöpf einander (fast) auf Augenhöhe begegnen. Der urfreie Gott will als Gegenüber – um es überspitzt zu sagen – ein so frei wie möglich agierendes Geschöpf und riskiert dabei die Verirrung, den Aufstand, die Rebellion, mehr noch den Abfall.427 Dass es wiederholt zu solchen Abfallbewegungen kommt, beweist, dass die geschöpfliche Freiheit nicht urfrei, also urgut ist und, um urfrei zu werden, in Gott eingehen muss. Dieser will die Menschen so frei wie möglich, doch kann es der labile Mensch nur mit seiner Hilfe werden.

3.11. Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch Da die Leiblichkeit für die Reinkarnationstheorie und ihre Deutung des Leidens eine entscheidende Rolle spielt, die Reinkarnations­ idee außerdem weltweit das Leben einer großen Anzahl Menschen bestimmt, soll das Verhältnis beider im Anschluss an das Leibkapitel kritisch geprüft werden.428 Zum Menschen als dem Rebell Gottes vgl. E. Brunner (1958). Vgl. die zusammenfassende Kritik bei A. Kreiner (2005, 155ff.). Hinweisen möchte ich außerdem auf M. v. Brueck (2007, 283ff.), der einige schwerwiegende Argumente gegen die Reinkarnation anführt, durch die ihre inneren Widersprüche 427

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Religionspsychologisch steht außer Frage, dass die Hauptmo­ tive für das Aufkommen der Wiederverkörperungs- bzw. Seelenwan­ derungslehre, die nicht nur im Hinduismus und Buddhismus, sondern auch bei den Orphikern, den Pythagoreern, Platon und Plotin, G. E. Lessing und R. Steiner zu finden ist, erstens die Angst des geis­ tigen Individuums vor der radikalen Vernichtung durch den Tod und zweitens die irritierende Tatsache der ungleichen Verteilung von Leid und Glück, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der Welt sind, wohinter letztlich das Bedürfnis nach einer vollständigen Rechts- und Glücksherstellung steht.429 Warum muss, so fragen viele, ein Kind, kaum geboren, schweres Unglück, eine Behinderung, eine Krankheit, herzlose oder gewalttätige Eltern, gar einen frühen tragischen Tod erleiden? Solches Leid erklärt die Reinkarnationslehre, indem sie voraussetzt, dass die Menschen schon ein- oder vielemal in vorigen Leben gelebt haben, dass sie für ihre Taten, Unterlassungen und ihre Folgen verantwortlich sind und dass diese Taten und Unterlassungen als »Karma« auf ihre Verursacher im Sinne der Vergeltung zurück­ fallen. Letzteres bedeutet, dass die Summe aller Handlungen und Unterlassungen eines Individuums die nächste Existenzform, die der sittlichen Qualität dieser Summe entspricht, fixiert und gleichsam »auswählt«. Diese »Auswahl« nimmt weder das betroffene Subjekt noch eine übergeordnete geistige Macht vor, etwa ein Gott, sondern sie stellt sich »automatisch« ein, gesetzmäßig, und zwar so bestimmt, dass das betroffene Subjekt dazu nicht selbst Stellung beziehen kann. Man hat es hier, wie zu sehen, mit einer Vergeltungslogik und Vergeltungsethik zu tun, die eine einfache Zuordnung impliziert: So genannte gute Taten und Unterlassungen werden im nächsten Leben durch eine wertvollere Inkarnation bzw. durch glücklichere Lebensumstände – letztlich ein entsprechendes Leib-Umwelt-Ver­ hältnis – belohnt,430 so genannte schlechte Taten und Unterlassungen werden im nächsten Leben dagegen durch eine schlechtere Inkarna­ offenbar werden. Ich stimme darin überein und füge im Folgenden weitere wichtige Überlegungen hinzu. 429 Vgl. H. Zander (1999). Die beiden genannten Motive charakterisieren, was die Reinkarnation betrifft, in typischer Weise die pessimistische Denkweise auf dem indischen Subkontinent, während seit der Aufklärungszeit in Europa der Reinkarna­ tionsgedanke mit dem Fortschrittsgedanken verknüpft und optimistisch ausgelegt wurde, so z. B. bei G. E. Lessing (1780) in seiner Schrift Die Erziehung des Menschen­ geschlechtes. 430 Schon hier fragt sich, warum z. B. die Inkarnation als Mensch besser und glück­ licher sein soll als die Inkarnation in einem Tier? Oder die in einen Waran als die

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tion und unglücklichere Lebensumstände bestraft. Die Vergeltung arbeitet demnach mit hedonistischen bzw. eudämonistischen Mit­ teln, nicht mit einer geistigen Läuterung. Was dahinter steht, sind Konzepte der Bewusstmachung, der Abschreckung, der Korrektur und der Reinigung. Denn derjenige, der weiß, was ihm »blüht«, wenn er sich vergeht, der wird sein Handeln – so die Annahme – vorzeitig bedenken bzw. sein Handeln, wenn er sich vergangen hat, bereuen, korrigieren und wiedergutmachen, allerdings nicht, weil die Handlung an sich unrecht ist, sondern weil ihm Strafe droht, also Schmerz, Nachteil, Leid, kurz Verlust an Lust und Glück. Hier liegt die Form einer eudämonistischen »Folgen-Vermeidungs-Ethik« vor, die – im abendländischen Raum – etwa von Epikur vertreten wird, während die Stoa (und ähnlich B. de Spinoza) das Gegenteil lehrt und hervorhebt, dass sich Gesinnung und Handlung durch ihren inneren Wert bzw. Unwert selbst richten. Welche Grundsätze impliziert die Karma-Theorie genauer? 1.

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Erstens ist der Mensch ein Handlungswesen, das frei von sich her ein Geschehen initiieren kann und daher für sein Handeln verantwortlich ist. Diese Freiheit geht aber nicht so weit, dass sich der Mensch zu seinem bisherigen Gesamtkarma stellen und sich von einer eventuellen (Fehl-)Richtung im Sinne einer echten Metanoia abwenden könnte. Darin deutet sich eine fun­ damentale Inkonsistenz der Reinkarnationslehre an, auf die ich bald eingehe.431 Zweitens werden die guten und schlechten Taten und Unterlas­ sungen nach dem Tode von einem außerleiblich-immateriellen Träger, einer selbständig-substanzialen Wirklichkeit weiter ge­ tragen, die man »Seele« (atman) nennt. Darin liegt, dass Seele und Leib trennbar und zwei fundamental verschiedene Wirklich­ keiten sind, deren Verhältnis nicht nur allgemein kontingent ist, sondern so vage, dass einer menschlichen Seele z. B. auch ein niederer Tierleib zufallen kann. Drittens gibt es real gültige und wirklichkeitswirksame Werte, Normen, Tugenden bzw. Unwerte und Untugenden, die sich im Rahmen des karmischen Vergeltungsgesetzes auswirken. Diese Auswirkung geschieht unerbittlich, unausweichlich, gleichsam

schlimmste Form der Inkarnation bewertet wird? Hier spielen offensichtlich spezifisch kulturelle Einflüsse eine große Rolle. 431 Meta-Noia meint eine geistig-sittliche Umwendung oder Umkehr.

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wie ein Naturgesetz. In diesen Auswirkungsmechanismus kann der Träger, das betroffene Subjekt, nicht eingreifen; hier ist er bloßes Objekt. Das »Subjekt« dieses Mechanismus ist das Karmagesetz, eine Art sittliche Abrechnungskausalität, die blindautomatisch und doch absolut genau und unerbittlich »sehend« wirkt. Woher diese Kausalität kommt, wo sie besteht und wie sie in die leben­ digen Subjekte einwirkt, bleibt dunkel. Sie ist gleichsam ein übergeordnetes, universal sittliches Seinsgesetz, analog etwa der griechischen Ananke oder Moira. Und schließlich kehrt der Verursacher seiner Handlungen und Unterlassungen nach dem Tod gemäß seinem Verhalten in einem »entsprechenden« neuen Leib und Leben, zu anderer Zeit und an anderem Ort wieder, ohne dass er darauf Einfluss nehmen oder davon wissen kann. Was allerdings »entsprechend« ist und sein soll, wird sich als höchst problematisch erweisen.

Hier fragt sich zweierlei: Leistet diese Theorie, was sie verspricht, nämlich eine Erklärung für die großenteils unverständliche Verteilung von Glück und Unglück, Recht und Unrecht bzw. die künftige Durch­ setzung einer umfassenden Gerechtigkeit? Und zweitens: Ist diese Theorie in sich – also logisch, weiter gegenüber den Tatsachen, also empirisch – konsistent oder verstößt sie gegen die bisher erkannten metaphysischen Grundsätze? Am Anfang mögen folgende, mehr praktisch-ethische Über­ legungen stehen: Kann jedes Leid, z. B. eine entsetzliche Folter, die Vergasung der Juden in Auschwitz oder die Vergewaltigung eines Kindes, durch irgendein angeblich vorangegangenes Vergehen der Opfer, also der Juden, der Kinder und der Gefolterten gerechtfertigt werden? Ist Strafe überhaupt eine ethisch akzeptable Antwort auf eine Untat? Man nehme an, A. Hitler würde heute wiedergeboren – wie sollten sich seine Vergehen »ausgleichen«, durch welches Karma »wiedergutmachen« lassen? Dadurch, dass er selbst vergast oder zu einem Unberührbaren oder einem Waran würde? Lässt sich überhaupt durch ein auferlegtes Leid sühnen, was er getan hat? Und wem hilft es, wenn nun er leidet, etwa gefoltert oder vergast würde, wenn er als Unberührbarer inkarniert wäre?

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Offensichtlich liegt hier eine Vergeltungs- und Rachelogik vor, die im Grunde unplausibel und ethisch höchst anfechtbar ist.432 Denn ein Unrecht wird nicht dadurch gesühnt, dass mit Schadenszufügung – und nichts anderes ist Strafe zunächst – geantwortet wird. Der einzig ethisch sinnvolle »Ausgleich« wäre im aufrichtigen Versuch einer Wiedergutmachung zu sehen, die zum mindesten eine Ent­ schuldigung bzw. Bitte um Vergebung beinhaltete. Eine Vergeltung durch Schadenszufügung dagegen begeht ihrerseits wieder nur ein Unrecht, das bekanntlich eher zur Verbitterung als zur Verbesserung des Täters führt. Letzteres trifft umso mehr zu, als der Täter im Rahmen der Karmatheorie von seinem früheren Leben nichts weiß und sich ent­ weder nicht oder nur vage berichtigen kann. Wie soll A. Hitler, heute wiedergeboren, seine Untaten bereuen können, wenn er keine Erinnerung daran hat? Und warum hat er keine Erinnerung, da er doch irgendwie »derselbe« ist? Müsste aus seinem Unterbewusstsein, in dem als Karma alle bisherigen Leben gespeichert sind, nicht sein früheres Leben in Träumen, Neurosen, Gewissensbissen und Störungen auftauchen? Müsste A. Hitler, wenn man streng nach der Vergeltungslogik ginge, heute nicht erleiden, was er vielen Tausenden seiner Opfer zugefügt hat? Geht das aber überhaupt und ergibt es irgendeinen Sinn? Umgekehrt folgt aus dieser Logik, dass auch A. Hitlers Opfer ihr entsetzliches Leid nur deswegen erfahren haben, weil sie in ihren früheren Leben übel gehandelt haben! Was für eine Vorstellung! Wo führt das hin? Doch wohl ins Bodenlose, philosophisch in einen unendlichen Regress, der im Kapitel 2.3. als inkonsistent erkannt wurde. Nein, die ethisch adäquate Antwort auf ein Vergehen ist seine bewusste Sühnung durch möglichst angemessene Wiedergut­ machung, und genau das leistet die Reinkarnationstheorie nicht. Jede Moral, die auf Strafe nur im Sinne einer Ausgleichung durch Leid- und Schadenszufügung, sprich auf Vergeltung beruht, ist im Grunde, da sie Schlechtes nicht vermindert, sondern vermehrt, unethisch. »Strafe« darf nur erfolgen, wenn sie nicht einem Rache- bzw. Vergeltungsmotiv entspringt und wenn sie als Sicherungs­ maßnahme bei Selbst- und Fremdgefährdung, zur Besinnung und therapeutischen Selbstberichtigung und im Sinne echter Reue und Wiedergutmachung eingesetzt wird, z. B. als Entschädigung. Selbst für heutige Rechtsstaaten ist das noch Utopie. Im Alten Testsament mischen sich beide »Strafkonzepte«, doch es scheint der »Vergel­ tungsgedanke« noch zu überwiegen, der erst im Neuen Testament weitgehend, doch auch da nicht völlig überwunden wird. 432

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Damit nicht genug, steht sie vor zwei unlösbaren Missverhält­ nissen: Zum einen gibt es Vergehen, die so monströs sind, dass eine »sinnvolle Strafe« dafür kaum vorstellbar ist; und zum anderen gibt es Leiden, so ungeheuerlich, dass entsprechende Missetaten schwerlich vorauszusetzen sind. Überhaupt müssten schwerste Vergehen mit schwersten Leiden, also Folter mindestens mit Folter, Vergewaltigung mit Vergewaltigung usw. karmisch beantwortet werden, was ethisch unerträglich ist, zu Absurditäten führt und die Leidensspirale nur antreibt, statt sie zu beenden. Letztlich stehen hinter dieser Vergel­ tungsethik nicht die Kräfte der Liebe, des Erbarmens, der Versöhnung und Verzeihung, sondern die Mächte der Angst, des Neids, des Ressentiments, der Rache und des Hasses, denn alle Vergeltung ist (sittlich fromm verpackte) Schädigung und Zerstörung. Das zweite Problem stellt sich mit der Wertfrage: Wer bestimmt überhaupt, was ein Vergehen ist und was nicht, was gute, was schlechte Handlungen sind? Ist das immer so eindeutig und zu allen Zeiten gleich? Aus der Sicht des Vorgesetzten macht sich ein Angestellter, der sich im Rahmen einer patriarchalischen Gesellschaft gegen unfaire Bevormundung auflehnt, strafbar, während derselbe Angestellte in einer demokratischen Gesellschaft Achtung verdient. Im Falle der Reinkarnationslehre liegt aber eine Theorie vor, die die historische Bedingtheit von Gesellschaftsstrukturen ausklammert, was vielleicht eine ihrer Funktionen ist, und so »über einen Kamm schert«. Kann jedoch ein Mensch, der unter den Römern ein »Un­ recht« beging, das heute vielleicht sogar als Zivilcourage angesehen würde, für dasselbe, nun unter ganz anderen Zeit- und Kulturver­ hältnissen wiedergeboren, zur Rechenschaft gezogen werden? Dies scheint höchst fragwürdig und eine nichtannehmbare Abstraktion von der zeitbedingten Moral einer Gesellschaft zu sein, zumal von der sehr kulturbedingten Moral des indischen Kastensystems. Noch tiefer reichen die Probleme der Identität und der Freiheit.433 Wenn man z. B. in der Anthroposophie, die die Reinkarnation lehrt, hört, dass J. W. v. Goethe Moses gewesen sein soll oder Annie Besant 433 Das Problem der Identität lässt sich nur einer Lösung annähern, wenn geklärt ist, ob die Psyche überhaupt eine eigenständige, sich selbst bestimmende, damit freie und substanziale Realität ist. Wenn sie das nicht ist, wie der Buddhismus lehrt, dann wird der Reinkarnationslehre der Boden entzogen. Entsprechend muss der Buddhismus Zusatzhypothesen konstruieren, um einen »Stoff« zu haben, der sich irgendwie über die Inkarnationen hinweg erhält und das Karmagesetz trägt. Damit hebt er aber im Kern seine anatta-Lehre auf.

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Giordano Bruno oder R. Steiner Johannes der Täufer, dann wird damit die leib-seelische, geistig-kulturale und soziale Einmaligkeit des Menschen tiefgreifend verletzt. Die genannten Menschen sind so grundverschiedene Wesen, dass ihre angebliche Identität mehr als konstruiert erscheint. Dies gilt umso mehr, als es Zusatzhypothesen braucht, um erstens die Identität dieser Wesen über Zeit, Kultur und Epochen hinweg zu erhalten, um zweitens ihre Verschiedenheit zu begründen und um drittens zu erklären, wieso sie ihre frühere Exis­ tenz nicht erinnern bzw. nicht wenigstens unbewusst auf ihre früheren Fähigkeiten zurückgreifen können. Wer in das reine Gesichtchen eines Neugeborenen schaut, kann schwerlich akzeptieren, dass dieses »Seelchen« durch zahllose, vielleicht sogar unendlich viele Vorleben (regressio ad infinitum!) belastet und beschwert sein soll. In den Tiefenschichten dieses Menschen müsste dies ein psychologisches und sittliches Chaos erzeugen, das jeden Neubeginn lähmt. Damit wird das Problem des menschlichen Seelenaufbaues be­ rührt. Die Reinkarnationslehre vertritt hier eine im Letzten unklare, ambivalente und widersprüchliche Auffassung: Zum einen beginnt jedes Leben neu, zum anderen ist jedes Leben gemäß der Reinkarnati­ onslehre uralt, bei Annahme der Anfangslosigkeit der Welt unendlich alt. Dem widerspricht das Faktum sowohl der individuellen als auch der kollektiven Bewusstwerdung und ihrer inneren Entfaltungsord­ nung. Die zeitlich sich entwickelnde Psyche stellt nämlich einen zunehmenden Erwachungs- und Differenzierungsprozess dar, der zum einen irreversibel ist, zum anderen nach bestimmten psychischen Gesetzmäßigkeiten verläuft. So durchlebt jeder Mensch als Kind eine archaische, dann eine magisch-mythische Bewusstseinsepoche, die von der mental-rationalen Bewusstseinsstufe abgelöst wird.434 Die Reinkarnationstheorie setzt sich über diese Verhältnisse hinweg und unterstellt, eine Seele könnte ihre schon erreichten Stufen wie­ der verlieren. Das ist psychologisch höchst unwahrscheinlich: Hätte meine Seele z. B. im vorigen Leben schon die rationale Bewusst­ seinsstufe erreicht, könnte ich jetzt, als Kleinkind, nur durch eine massive Gewalteinwirkung wieder auf die magische Bewusstseins­ stufe zurückgeschlagen werden. Die bloße Verkörperung wäre dazu nicht in der Lage, da sich das Seelenprinzip als Ganzes im Leib reali­

Vgl. J. Gebsers Bewusstseinsstufen: archaisch, magisch, mythisch, mental-ratio­ nal, integral (1992).

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siert. Geistontologisch zeigt sich hier eine tiefe Unausgeglichenheit der Reinkarnationslehre. Ein anderes Problem bildet die individuelle Freiheit. Wie bereits gesehen, wird sie von der Reinkarnationslehre vorausgesetzt; ohne Freiheit verlöre sie jeden Sinn. Andererseits ist diese Freiheit nicht absolut, sondern durch das Karmagesetz gebunden, sogar so sehr gebunden, dass sie nicht dazu eigens Stellung beziehen kann. Schon dies ist problematisch, mag aber noch hingehen, auch wenn letztlich unklar bleibt, woher das Karmagesetz rührt und wie es in die Seelen wirkt. Im Hinduismus scheint es göttlichen Ursprungs zu sein, im Buddhismus, der ursprünglich alles Göttliche ausklammert, fehlt eine Ursprungsrealität für das Karmagesetz, was seine Konsistenz erheblich schwächt.435 Weitaus heikler ist die mit der Reinkarnationslehre verknüpfte Annahme, dass die Seele gemäß ihrem bisher angehäuften Karma in einen entsprechenden Leib versenkt wird bzw. sich sogar selbst, wie die Anthroposophen lehren, einen solchen Leib auswählt.436 Im letzten Fall entsteht ein direkter Widerspruch: Wenn die Seele freiwil­ lig einen Leib wählt und sich mit ihm aus freien Stücken verbindet, dann kann sie logischerweise nicht von diesem Leib zwangsmäßig gebunden werden. Genau diese willkürlich nicht aufhebbare Leibge­ bundenheit lehrt aber die Erfahrung. Es ist also unmöglich, dass die Seele sich selbst einen Leib aussucht und sich mit ihm vereinigt. Hier braucht es eine höhere Macht, die die Einheit erzwingt. Aber wer oder was? Das Karmagesetz ist an sich blind, ist nur ein Gesetz, gemäß dem, aber nicht durch das etwas geschieht. Wer oder was zwingt also die Seele in ein genau ihren sittlichen Taten entsprechendes leibliches Schicksal? Und was heißt hier überhaupt »entsprechend«? Wie kann einem bestimmten sittlichen Bewusstseinsstand ein leib­ lich-geschichtlich-soziales oder gar ein vormenschliches Dasein ent­ sprechen? Werden hier nicht Äpfel mit Birnen verglichen? Welchem Maß an Sünde, z. B. Lüge, Betrug, Rücksichtslosigkeit entspricht welches Maß an Krankheit, Armut, Leid bzw. welche physikalische oder biologische Seinsweise? Das mutet willkürlich an und lässt sich, da es sich um zwei verschiedene Kategorialdimensionen handelt, sachlich nicht bestimmen. Die Reinkarnationslehre begeht hier einen Vgl. G. Hierzenberger (2003); M. Eliade (1995); H. v. Glasenapp (1963, 53ff.); H. P. Hasenfratz (1994, 19f., 78f.); Bhagavad-Gita (1961, 102ff.). 436 Vgl. R. Steiner (2003). 435

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Kategorienfehler und verwirrt dadurch mehr, als dass sie aufklärt.437 Vor allem lässt sie die Frage offen, wer oder was die Seele mit dem Leib (immer wieder) vereinigt. Aus den in dieser Arbeit durchgeführten metaphysischen Untersuchungen wurde bereits klar, dass dazu weder der Leib noch die Seele selbst in der Lage sind – nur Gott könnte das, aber macht er dies immer wieder, ohne Anfang und Ende und auf so willkürliche Weise? Hiermit wird der metaphysisch wundeste Punkt der Reinkarna­ tionslehre, der von ihren Vertretern nicht gesehen wird, berührt: die Frage nach dem Anfang. Wenn das Karmagesetz im Sinne einer deterministischen Kausalität verstanden wird, impliziert es, da eine Verkörperung notwendig eine andere voraussetzt, die Annahme einer anfangslosen Kausalkette, also eine anfangslos-unendliche Anzahl von Wiederverkörperungen. Dadurch wird das ursprünglich zu lösende Problem, die ungerechte Verteilung von Glück und Leid, nur in eine unendliche Vergangenheit verschoben und nicht geklärt. Andererseits wurde gezeigt, dass eine solche Kausalkette in sich unmöglich ist – die Reihe der kosmischen Gebilde muss in der Zeit einen ersten Anfang gehabt haben. Die Reinkarnationslehre impliziert also, wenn auch versteckt, eine unbehebbare Inkonsistenz, durch die sie aufgehoben wird. Damit im engen Zusammenhang steht die Frage, woher die sittlichen Unterschiede zwischen den Seelen kommen. Hat die Reihe der Reinkarnationen keinen Anfang, bleiben die sittlichen Differen­ zen im Dunkeln. Hat dagegen irgendeine transzendente göttliche Macht die Seelen ursprünglich geschaffen, ergeben sich zwei denkbare Möglichkeiten: Wenn alle Seelen anfänglich sittlich neutral geschaf­ fen wurden, was die göttliche Gerechtigkeit verlangt, dann müssten die späteren sittlichen Unterschiede allein durch äußere Umstände erklärt werden, für die die Betroffenen nicht, sondern wieder die Gottheit verantwortlich wäre, wodurch das Problem nicht behoben, sondern nur durch ein anderes ersetzt wird. Wurden die Seelen im Uranfang sittlich ungleich geschaffen, wären sie dafür nicht, sondern Gott wäre dafür verantwortlich zu machen. Wie man es wendet, die Reinkarnationslehre leistet nicht, was sie verspricht, im Gegenteil verschleiert sie durch komplizierte Konstruktionen die Sachlage. Ziemlich den gleichen Kategorienfehler fanden wir in der Hiobparabel: Gott antwortet auf ein sittliches Problem mit der Aufbietung all seiner Naturmacht, ein Problem, das bei I. Kant wiederkehrt, wenn er die Unverhältnismäßigkeit von sittlicher Rechtschaffenheit und empirischem Glück in dieser Welt thematisiert.

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Die entscheidende Klippe liegt jedoch beim Karma-Freiheitspro­ blem. Wenn die Seele wirklich frei und vom Karmagesetz nicht total determiniert ist, dann ist sie auch frei, sich einen Leib zu wählen oder nicht. Wenn sie aber frei ist, wieso sollte sie sich dann, vor allem, wenn sie sittlich verroht ist, einen »schlechten« Leib, etwa eine tierische Existenz bzw. eine schlechte Lebenslage wählen? Ist sie aber in dieser Hinsicht nicht frei und wird durch das Karmagesetz gezwungen, impliziert dies, wie gesehen, die unvermeidliche Annahme einer anfangslosen Kausal- bzw. Wiederverkörperungsreihe, die die Frei­ heit aufhebt. Damit wird nicht nur das Problem verschoben, sondern der ganze Ansatz gerät in eine metaphysische Unmöglichkeit, eben die Anfangslosigkeit einer sukzessiven Wechsel- und Kausalreihe. Darüber hinaus impliziert eine anfangslose, damit real unendliche Wiederverkörperungsreihe ein real unendliches Maß an Leiden, das wesenhaft nie aufgehoben und ausgeglichen werden kann. Damit führt sich das Karmagesetz selbst ad absurdum. Von den vielen Unausgeglichenheiten und Widersprüchen, in die sich die Reinkarnationslehre verstrickt, müssen wenigstens drei weitere genannt werden. Erstens: Wenn gemäß dem Karmagesetz gute Taten gute Lebensbedingungen nach sich ziehen, schlechte Taten dagegen schlechte, dann sollte man erwarten, dass die guten Lebens­ bedingungen auf längere Sicht eher wieder zu guten Taten führen, schlechte Lebensbedingungen eher zu schlechten. Wäre dem nicht so, verlöre das Karmagesetz seinen Sinn. Wenn also jene Zuordnung zutrifft, dann entstünde im einen Fall zwangsläufig eine Aufwärts-, im anderen Fall zwangsläufig eine Abwärtsdynamik, und beide Prozesse liefen endlos auseinander, so dass (nach endloser Zeit) zwei Extreme dastünden: ganz gute und ganz schlechte Menschen. Da diese Vertei­ lung in der Erfahrung nicht angetroffen wird, leistet das Karmagesetz nicht, was es verspricht, und muss in Zweifel gezogen werden. Das andere Problem stellt sich, wenn man das Bevölkerungs­ wachstum der Menschheit in den Blick nimmt. Seit Beginn der indus­ triellen Revolution steigt die Zahl der Menschen fast exponentiell an. Auf dem Hintergrund der Reinkarnationslehre fragt sich, woher alle diese Seelen kommen. Logischerweise kann ihre Herkunft nicht allein mit der Wiederverkörperung früherer Seelen erklärt werden. Also wurden sie entweder neu geschaffen oder »parkten« seit Urzeiten im Jenseits. Beides schwächt die Reinkarnationstheorie erheblich und setzt sie der Beliebigkeit aus. Auch fragt sich, wer oder was so viele neue Seelen in so kurzer Zeit erschafft? Das aber bedeutete, dass heute

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z. B. Menschen leben, die Wiederverkörperungen darstellen, und andere leben, die keine sind. Im ersten Fall würde das Karmagesetz gelten, im zweiten wirkte dagegen ein Schöpfer. Diese metaphysische Zweideutigkeit ist kaum akzeptabel.438 Schließlich und endlich ist eine Frage aufzuwerfen, die gewisser­ maßen ins Herz des Karmagesetzes trifft. Wenn es stimmt, dass alles Übel im Letzten die »gerechte« und unumgängliche Folge von Fehl­ handlungen ist (was auch die Christen Leibniz und Kant meinen!), dann stünden auch die Schadenswirkungen aller Fehlhandlungen, also das Übel und Leid, das jemand durch das Fehlverhalten eines Anderen erleidet, unter dem Karmagesetz, was heißt, dass derjenige, der scheinbar ungerechterweise ein Übel erfährt, in Wahrheit dies Übel verdient, nämlich als Ausgleichswirkung früheren eigenen Ver­ gehens. Daraus folgt, dass es erstens überhaupt kein ungerechtes und unverdientes Leid gibt – was schon für sich skandalös, aber logisch nicht selbstwidersprüchlich ist – und dass zweitens überhaupt kein Leid als Ausgleich für irgendein Vergehen fungieren kann. Warum? Weil jedes, irgendein Unrecht ausgleichende Leid Zeichen und Folge eines bisher noch unbekannten Vergehens wäre. Was Wiederherstel­ lung von Gerechtigkeit und Sühnung sein soll, wäre im Gegenteil Aufforderung, nach neuen Vergehen zu fahnden, womit das Karma­ gesetz nicht zur Ruhe, zum Ende, zur wahren Gerechtigkeit gelangen kann, sondern Quelle endlosen Leidens wäre und die Situation einer metaphysischen Paranoia, eines unüberwindlichen Urmisstrauens erzeugte. Kurzum: Wenn Leid und Unglück laut Karmagesetz der Ausgleich für Unrecht und Vergehen ist, dann setzt jedes neue Aus­ gleichsleid logisch notwendig ein neues Vergehen voraus, womit dieses ins Unendliche geht, und ein echter Ausgleich unmöglich wird. Das aber bedeutet das intellektuelle Todesurteil für das Karmagesetz: Es sind die eigenen logischen Voraussetzungen des Karmagedankens, die ihn ad absurdum führen. Wie zu sehen, verstrickt sich die gesamte Reinkarnationslehre in zahllose Ungereimtheiten und Widersprüche, die mehr Unheil Auch der Versuch, dieses Quantitätsproblem durch den Rückgriff auf die Tiere zu lösen, also auf die Annahme, manche Menschenseelen seien in Tierkörpern gebunden, mutet nicht nur phantastisch an, sondern verschiebt das Problem auf ein anderes Feld. Im Übrigen lassen sich keine Grenzen angeben, wo Tieren Seelen zugesprochen werden, und entsprechend müssten die Einzeller und niederen Tiere Seelen haben, die dem Karmagesetz unterstehen. In welche Unstimmigkeiten das führt, muss hier nicht dargelegt werden. 438

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

anrichten als aufklären und beheben helfen. Da sie mit Angst, Vergel­ tung, Rache, Aufrechnung, Ressentiment, Hass und Neid arbeitet, fördert sie eher die schlechten als die guten Kräfte im Menschen. Das ist kein Trost für all das ungerechte Leid in dieser Welt, im Gegenteil wird das Leid unnötigerweise vermehrt (ja sogar verunendlicht), und es wäre besser, von dieser Weltanschauung zu lassen und theorielos das Rätsel des Leides hinzunehmen. Dann gälte es, das Nichtwissen und die scheinbare Ungerechtigkeit der Welteinrichtung zu ertragen bzw., so gut es geht, praktisch zu korrigieren, statt sich einer illusio­ nären Theorie zu verschreiben, die offensichtlich dazu da ist, die bohrenden Fragen, die das Weltübel aufdrängt, zum Schweigen zu bringen und die Angst vor Schuld und Strafe zu betäuben. Und trotzdem: Zwei Motive, von denen die ReinkarnationsKarma-Lehre getragen und bewegt wird, haben Bestand: Erstens die Erkenntnis, dass diese Welt so nicht in Ordnung ist und einer fundamentalen Revision, vor allem in sittlicher Hinsicht bedarf; und zweitens die Einsicht, dass eine schlechte Gesinnung bzw. ein schlech­ tes Verhalten »gerichtet«, das heißt: »berichtigt«, werden muss. Wie schon Sokrates, die Stoa, Augustinus, B. de Spinoza und viele andere, jedoch nicht I. Kant erkannten, richtet sich ein Vergehen durch sich selbst als wertwidrig, seinsmangelhaft, »unwahr« und »hässlich«, fällt unmittelbar auf den Täter zurück und bedarf daher im Kern keiner äußeren zusätzlichen Bestrafung. Und weiter gilt, dass jedes Vergehen bzw. überhaupt jedes Verhalten in seinen Folgen – wenn auch nicht notwendig – auf sich zurückwirkt, etwa dadurch, dass ein z. B. miss­ mutig-böswilliger Mensch von seinen Mitmenschen gemieden wird. Im Letzten steht hinter der Karmalehre die brennende Sehnsucht, dass die Welt im Ganzen gut sei bzw. gut werde, was aber nur durch eine entsprechende »letzte«, heißt »höchste«, also allmächtige, allgütige und allweise Instanz, die auch Macht über die Vergangenheit hat, in einer letztgültigen »Zurechtrückung« und Wieder-Gut-Machung – gemeinhin »Endgericht« genannt – geleistet werden kann.439

439 An diesem Punkt versagen alle utopistischen Philosophien, z. B. die von K. Marx und E. Bloch, da sie das »Reich des ewigen Friedens« bestenfalls für die letzten Generationen erwarten können, während alle Menschen, die zuvor im Unrecht leben und sterben mussten, die Betrogenen bleiben. Sollte auch die letzte Generation sterben müssen, wäre auch für sie jene Utopie reine Illusion und mehr »Opium fürs Volk« als jede Religion. Da dem irdischen Leben spätestens im Feuersturm der solaren Supernova oder im Wärmetod des Weltalls unabwendbar der Exitus droht, gibt es

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3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste

3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste Die Leiblichkeit trägt ein Janusgesicht: Sie setzt die Menschen nicht nur direkt der Welt und ihren Wirkungen, ob angenehm oder unange­ nehm, förderlich oder schädlich, aus, sie ist auch an der Schaffung einer »inneren Tiefe«, eines »inneren Auslandes«, des so genannten Unbewussten beteiligt. Hierfür ist der Grund darin zu suchen, dass der Mensch nur das erleben und bewusst haben kann, was der Leib ermöglicht und mitträgt. Dies aber hat nicht nur Grenzen, sondern unterliegt erheblichen Schwankungen, man denke etwa an die Müdigkeit, die ein leibliches Phänomen ist (und letztlich auf einen physischen Energiemangel zurückgeht) und das Wahrnehmen, Denken, Wollen und Fühlen beeinflusst. Im Grenzfall erlischt das Bewusstsein wie etwa in Ohnmacht, Koma und Tod, wenn der Leib ein bestimmtes Erleben nicht mehr mittragen kann. Von großer praktischer Bedeutung ist die Erkenntnis, dass die »Initiative« eines solchen Grenzerlebens sowohl vom Leib als auch vom Erleben ausgehen kann. Das will besagen, dass die Grenzerfah­ rung eines seelisch-geistigen Nicht-Könnens primär leiblich oder primär seelisch bedingt sein kann. Wenn z. B. eine Gehirnentzün­ dung vorliegt, die das Denken beeinträchtigt, dann wird hier die Grenze des Bewusstseinslebens primär leiblich gezogen; wenn sich ein Mensch dagegen geistig überanstrengt oder von einer psychischen Störung an die Grenze des Erlebbaren getrieben wird wie im Falle einer Zwangserkrankung oder einer Angststörung, dann geht der primäre Impuls von der psychischen Sphäre des Subjekts aus und erzeugt eine Grenz-, Leid- und Notsituation. In diesem Fall will der Mensch etwas, was psychisch und leiblich nicht möglich ist. Kurzum: Der Leib ist ein vermittelndes Medium zwischen der sinnlich vermittelten, »hellen« Außenwelt und einer »dunklen«, unmittelbar nicht einsehbaren Innenwelt, ein Medium, das sowohl gegenüber der Vermittlung der Außenwelt als auch gegenüber der Vermittlung der psychischen Tiefenwelt seine Schranken hat, darum überfordert werden und versagen kann.

für weltimmanente Utopien kein realistisches »Prinzip Hoffnung«, so stark auch die gegenteiligen Wünsche des Menschen sein mögen.

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Die Tatsache, dass der Leib ein inner-psychisches Geschehen nicht mittragen und damit erlebnismäßig verhindern kann, bedeutet aber keineswegs, dass es jenes innere Geschehen nicht gibt. Hier tut sich eines der größten seelischen Rätsel auf: das so genannte Unbewusste. Die alltägliche Erfahrung lehrt, dass vieles ins Bewusst­ sein eintritt, was nicht primär in diesem entstanden, sondern bloß in dieses »eingegeben« worden ist: Gedanken, Gefühle, ganze Sprachund Bildsequenzen, Erinnerungsketten, Handlungsfolgen, ja ganze »Dramen«, Musikstücke, mathematische Formeln, kompliziert und sinnhaft gebaute Träume, unbewusst-intentionale Fehlleistungen, Gewohnheiten, schöpferische Einfälle und Intuitionen können »aus dem Unbewussten« spontan und ohne bewusstes Zutun aufsteigen und beweisen damit, dass dieses Unbewusste nicht leer, sondern belebt, nicht passiv, sondern aktiv, nicht nur rezeptiv, sondern kreativ, nicht nur chaotisch, sondern strukturiert, nicht nur blind, sondern – klassisch wie bei sinnvollen Fehlleistungen – intentional-sehend, nicht nur solipsistisch, sondern kommunikativ ist.440 Des Weiteren verfügt das Unbewusste, wie etwa die Tableaubzw. Panoramaerlebnisse bezeugen, über ein anscheinend das gesam­ te bisherige Leben umfassendes »Lebensgedächtnis« und offenbart manchmal die Fähigkeit, zukünftige Entwicklungen, Chancen und Gefahren vorauszuahnen und zu antizipieren.441 All dies zeigt, dass es ein echtes, selbständig-eigentätiges seelisch-geistiges Leben »unterhalb« der Schwelle des Normalbewusstseins gibt, und zeigt außerdem, dass das Unbewusste sinnhaft und intentional auf den Betroffenen, seine Lebensgeschichte und seine Umwelt bezogen, also keineswegs, wie S. Freud meint, blind, chaotisch und bloß triebhaft ist. Die oft anzutreffende innere Ordnung und lebensgeschichtliche Sinngerichtetheit etwa von Träumen (vgl. Wandruszka, 2008), aber auch von psychopathologischen Phänomenen wie Fehlleistungen, 440 Während S. Freud (1970a) das Wirken des Unbewussten »ungeistig« deutet, sehen andere Psychologen und Philosophen wie E. Fromm, C. G. Jung (1965), V. Frankl (1988) und B. v. Brandenstein (1975, 75ff.) darin neben der biologischen Schicht geistige Aktivitäten am Werk. Vgl. meine Arbeit Der Traum und sein Ursprung. Eine neue Anthropologie des Unbewussten (2008), die die komplexe Verschränkung von biologischen, sozialen und geistig-personalen Faktoren im Unbewussten nachzuwei­ sen versucht. 441 Diese Panoramaerlebnisse treten meist in lebensgefährlichen Situationen auf und präsentieren dem Bewusstsein eines Menschen in Sekunden große Teile seines Lebens, weitgehend ohne sein Zutun. Ähnliches bestätigen die Ergebnisse tiefer Hypnose. Vgl. H. Driesch (1926, 158–197).

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3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste

unbewusstem Abwehrverhalten, Halluzinationen und Wahngebilden widerlegen die Chaos- und Triebtheorie des Unbewussten. Viel eher weisen sie darauf hin, dass das Unbewusste erstens in sich orientiert, zweitens intentional auf das Individuum, seine Lebensgeschichte und seine aktuelle Lebenssituation bezogen ist, drittens relativ autonom agiert, also nicht nur passiv etwas widerspiegelt, sondern aktiv gestal­ tet, und viertens eher von psychischen bzw. psychosozialen Motiven als von bloß leiblichen Reizen und Triebspannungen beeinflusst wird, also eher psychisch-personaler als körperlich-leiblicher Natur ist, obschon physiologisch-biologische Faktoren stets mitwirken und manchmal auch vorherrschen. Wenn dem so ist, dann heißt dies in der Konsequenz, dass es ein seelisches Leben gibt, mit dem das menschliche »Oberbewusstsein« zwar innigst verbunden ist, das aber sowohl das Normalbewusstsein als auch die Leibsphäre transzendiert und daher die Quelle von Irri­ tationen und Verwerfungen sein kann, die sich letztlich als Störungen der Kohärenz der Erlebenseinheit und der Identität des Subjektes manifestieren. Die Einheit des Menschen als Subjektwesen muss daher wegen der ungeheuren Fülle an Eindrücken, Irritationen und Reizen ständig erneuert, vertieft, differenziert und erweitert werden, sie ist kein Selbstläufer und nichts Statisches. Da diese Einheit stän­ dig »unter Beschuss steht«, und zwar sowohl von außen als auch von innen, ist der Mensch ein hochproblematisches, konfliktuöses, prekäres und labiles Wesen. Und so kann das »Unbewusste« als relativ autonome Wirkgröße sowohl Leiden erzeugen, indem es das Normalbewusstsein überflutet wie in Affektentgleisungen, Panikat­ tacken, bei Zwangsimpulsen, Halluzinationen und Wahnideen, als auch Leiden erzeugen, indem es sich entzieht und den Erlebensstrom unterbricht. Viele Künstler berichten von solchen schöpferischen Stillständen, die sehr quälend sein können, man denke an die Jahre R. M. Rilkes vor der Abfassung seiner Duineser Elegien, aber auch psy­ chisch Kranke wie im Fall der Borderlinestörung oder der Depression beschreiben solche leidvollen Leere- und Lähmungszustände, wo das, was sonst selbstverständlich da ist und einfach »kommt«, nämlich die »Eigenströmung des psychischen Lebens«, erliegt. Das keineswegs krankhafte »Black-out-Phänomen« gehört ebenfalls hierher. All dies unterstreicht, dass der Mensch in seiner kleinen psychi­ schen Welt vom ständigen Zustrom aus dem Unbewussten abhängt und darauf nur bedingten Einfluss hat. Schon die Tatsache, dass er morgens in sein Bewusstsein hinein erwacht, ist keine Leistung des

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Normalbewusstseins, das sich nicht selbst erzeugen kann, sondern stellt eine Synthese des bewusstseinskonstitutiven »Unbewussten«, besser Tiefenbewusstseins dar. Das sollte hellhörig machen und die Frage aufwerfen, was »unbewusst« hier überhaupt meinen kann. Und da wird klar, dass dieses Unbewusste unmöglich in sich unbewusst ist – denn etwas radikal Bewusstloses kann nicht sinnhaft, kreativ und intentional wirken –, sondern dass es nur mir, meinem psychophysi­ schen Normalbewusstsein unbewusst im Sinne von unbekannt und direkt nicht anschaulich ist. Das Unbewusste ist demnach ein Relati­ onsbegriff, kein Substanzbegriff, als solcher wäre er direkt selbstwi­ dersprüchlich. All dies zeigt weiter, dass das menschliche Bewusstsein »von Gnaden des Unbewussten« lebt, was in der Regel so reibungslos vonstattengeht, dass der Mensch es für selbstverständlich hält und nicht weiter reflektiert. Wie von selbst werden nämlich Normalund Tiefenbewusstsein aktiv koordiniert und sinnhaft aufeinander bezogen. Unstrittig ist daran das phänomenale Bewusstsein beteiligt, etwa indem der Betreffende aus dem Strom der Bewusstseinsinhalte auswählt, manches unterdrückt, anderes herbeizieht, des Weiteren feinfühlig in sich hineinspürt und leiseste Botschaften aus dem Unbe­ wussten wahrnimmt oder umgekehrt – wie in der Hypnose – Bot­ schaften »hinabsendet« oder im Rahmen einer Tiefenentspannung eine imaginative Reise unternimmt und die »Antwort aus der Tiefe« abwartet. Indirekt kann man durchaus mit seinem Unbewussten kommunizieren, sogar bestimmte Träume anregen, um Hilfe bitten usw. Aus all dem und vielem anderem (vgl. B. Wandruszka, 2008) erhellt, dass das Unbewusste – – –

erstens eine dynamische, zweitens eine gedächtnisbildende, sinnhaft bezogene, z. T. sinn­ haft, manchmal aber auch sinnverzerrend agierende und drittens eine schöpferische Potenz ist.

Diese Wirklichkeit ist jedoch nicht abstrakt-allgemeiner oder aper­ sonaler Art, sondern weist die Züge der Meinhaftigkeit, des jeweiligen Menschenich auf. Wohl gibt es im Unbewussten Strukturen und Prozesse, die allen Menschen gemein sind, worauf C. G. Jungs Arche­ typenlehre zu Recht hinweist, doch ist jedes Unbewusste einzigartig individuell bis in seine Pathologie hinein. Aus diesen und anderen

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3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste

Gründen kann daher B. v. Brandenstein442 zeigen, dass dieses Unbe­ wusste eine spezifisch menschliche Größe ist, die bei den Tieren nicht vorkommt und mit der Verleiblichung des Bewusstseins zu tun hat. Denn da das Bewusstsein eine wesenhaft pU-überendliche (weder E noch aU) Seinsgestalt ist, kann es sich mit seiner poten­ tialunendlichen Unerschöpflichkeit im wesenhaft endlichen Leib nicht total, sondern nur partiell bzw. fragmentarisch manifestieren. Das wiederum impliziert notwendig, dass ein großer, genauer, der weitaus größere Teil des Bewusstseins nicht verleiblicht ist, sondern über den Leib hinausreicht, also eine metaphysische Region sui generis konstituiert: Hier deutet sich eine ontologische Selbstgeschiedenheit an, die unüberwindbar ist und die Menschen nicht zur vollen Selbst­ einheit und Selbstfindung kommen lässt. B. v. Brandenstein spricht in seiner Anthropologie (1947, 389–413) daher von der »anthropolo­ gischen Ichspaltung«. Da jene Tiefenregion des Bewusstseins nicht an den Leib gebun­ den ist, muss sie dessen Grenzen, Schwankungen und Störungen nicht erleiden, im Gegenteil ist sie ganz bei sich selbst und ganz ihrer selbst habhaft, weshalb B. v. Brandenstein sie »Vollbewusstsein« nennt.443 Zwar ist auch dieses zeitgebunden und entwickelt sich, aber es schläft nicht und geht sich nicht verloren. Außerdem kennt es keine Vergangenheit wie das psychophysische Menschenbewusstsein, son­ dern trägt alles jemals Erlebte in wachsender Gegenwart mit in seine Zukunft hinein. So integriert es seine Lebenszeit in einer ständigen Gegenwartssynthese, worauf die Tatsache hinweist, dass selbst die frühesten Kindheitserfahrungen in der Psyche bewahrt werden und lebendig am Selbst mitwirken, also nicht vergehen.444 Der Mensch bleibt immer jung; das »göttliche Kind« – seine ursprünglichste seelische Schicht – geht nicht verloren und kann immer wieder die Quelle tiefster Seinsfühlung sein. Damit erhellt, dass der Mensch in seinem Erdenleben sich selbst wesenhaft Aufgabe ist, zu Leistendes, nie fertig. Die anthropologische Ich-Spaltung zwingt ihn zur fortgesetzten Selbstsuche, Selbstausein­ andersetzung und Selbstgestaltung und treibt ihn an, das ganze Selbst, ohne ein endgültiges Ziel erreichen zu können, in die Welt zu bringen. So »soll« und will der Mensch, soweit dies geht, ganz 442 443 444

Vgl. B. v. Brandenstein (1966, G. Das Vollbewusstsein, 153–161). Siehe B. v. Brandenstein (1966, G., 153ff.). Das sieht auch E. Rothacker (1969) gut.

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im Leib erwachen und dadurch den Leib vergeistigen, beseelen und personalisieren.445 Metaphysisch gesprochen, heißt dies, den zweiten Seinsrang in den dritten Seinsrang einführen, diesen, der wesentlich extensiv, äußerlich, disparat ist, durch jenen verinnerlichen, bündeln und gleichsam »verdichten«, also auch im Leib einen seiner selbst bewussten Ichkern ausbilden.446 Bis zum Tode bleibt diese Aufgabe bestehen, und in dieser Zeit ist sie nicht zu vollenden, da der persön­ liche Geist überendlich-pU ist und nicht ganz im Leib aufgehen kann, zumal der Leib mit dem Altern immer ungeeigneter für diese Aufgabe wird und schließlich zerfällt. Wirklich erwachen tun die Menschen erst mit dem Tode, denn dann erwachen sie in ihren pU-Seinskern, in ihr Vollbewusstsein hinein, wo sie ihres gesamten Lebens in einer intuitiven Überschau angesichtig werden und vor das erste »Gericht«, das Selbstgericht, zu stehen kommen. Das Leiden erhält in diesem Gefüge seinen genauen Platz. Als pU-Wesen ist der Mensch in seinem innersten Seinsbestand unfertig und kann nicht zuendekommen. Da alles Potentialunendliche wesen­ haft auf das Aktualunendliche hingeordnet ist, kann der Mensch seine Vollendung aus eigener Kraft nicht erreichen. Das macht das Urleid, aber auch die Urhoffnung des Menschen (und überhaupt aller Geistgeschöpfe) aus, und darin liegt die Quelle seiner »natürli­ chen Religiosität«. Darüber hinaus stellt der Mensch die einzigartige Synthese eines extensiven Gebildes, des Leibes, mit einem intensiven Dynamismus, der »Seele«, des persönlichen Geistes dar, eine Synthese, der fast der Charakter des »Unmöglichen«, des »Wundersamen«, des »Unvor­ denklichen« eignet und die den zutiefst polar-gespannten, prekären und labilen Seinsstand des Menschen bedingt. Der Mensch ist zum Leiden, mehr noch zum Scheitern geboren und in gewissem Sinne sogar berufen. Leiden meint hier allerdings immer auch: Ringen, nicht-Aufgeben, Sichaufraffen, neuen Anlauf wagen und so beweisen, dass es etwas »Unzerstörbares« im Menschen gibt, etwas, das gegen die totale Nichtigung aufbegehrt und für eine »andere Dimension des Seins« Zeugnis ablegt.447 »Soll« im Sinne des »Eigenanrufs«, wie ihn M. Heidegger (1927, § 56) für das »Gewissen« konzipiert. 446 Diesen Prozess nennt B. v. Brandenstein (1954, 102–120) »Kernigung«. 447 Siehe F. Kafka bei K. Dietzfelbinger (1987, 132): »Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl 445

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3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste

Konkreter fordert die anthropologische Ich-Spaltung zur ständi­ gen Neubesinnung und Neuintegration auf: Wo Es war, soll Ich wer­ den, sagt S. Freud,448 und das heißt, dass der Mensch sein Bewusstsein vertiefen und erweitern soll, also alles, was im Unbewussten schlum­ mert, nur potential-unentfaltet da oder, wenn aktualisiert, verdrängt ist, ins Bewusstsein zu heben und persönlich anzueignen aufgerufen ist. Alles Ungelebte, Unfertige, Ungelöste, Konfliktuöse, Unversöhn­ te, Abgespaltene und Ängstlich-Verdrängte strebt zur Annahme, Bearbeitung, Lösung und Integration und lässt daher den Menschen nicht in Ruhe. Solange dies nicht gelungen ist, bleiben Symptome, Zeichen des Unerlösten und ungelebten Lebens, das leben will. Psychotherapie baut auf diesem Urgegensatz zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, das ein »Vollbewusstsein« ist, auf und sucht die Vermittlung, Verbindung und Versöhnung zwischen beiden. Wohl wäre eine Welt ohne ein solches E-pU-Zwischenwesen leidfreier und im Grunde völlig leidfrei, da reine E-Wesen nicht leiden können, aber sie wäre auch weniger lebendig, nicht innig, geistig, kreativ, nicht suchend, kämpfend, schaffend, Lösungen findend, und vor allem wäre sie ohne Zug zum Unendlichen. Nur ein pU-Wesen kann Sinn und Gott suchen. Das Leiden ist hier der Preis des höheren und höchsten Lebens. Wie die Not, so macht auch das Leiden nicht nur erfinderisch, sondern vor allem »finderisch«. Ohne den Leib gäbe es also das »Unbewusste« nicht, darum ist er die Scheide- und Verbindungswand sowohl zur Außenwelt als auch zur inneren Tiefenwelt. Da er die Reize von außen wie von innen nur selektiv durchlässt, stellt er einen physiologisch durchaus nachweisbaren Filter dar, der schützt und dessen Beschädigung – wie beim ADHS oder bei der Schizophrenie, aber auch bei der post­ traumatischen Belastungsstörung und der schweren Schlafstörung – Leiden nach sich zieht, die mit dem Leben oft kaum vereinbar sind und der therapeutischen Hilfe bedürfen. Der Mensch lebt mit seinem Bewusstsein auf schmalem Grat (wie auf einer »Rasierklinge«), und jederzeit kann er nach der einen oder anderen Seite abrutschen und sich sowohl im Außen als auch im Innen verlieren. Der Leib muss das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott.« 448 Vgl. S. Freud (1933a, 86), Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW 15.

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

viel ertragen, von außen wie von innen her, und letztlich wird er von der Härte des Lebens zerrieben. In der begrenzten Zeit, in der er das persönlich-geistige Leben des Menschen trägt, ermöglicht er es dem Menschen, sein Eigensein in die Welt zu gebären. Wo dies misslingt, erleidet der Mensch einen Selbstverlust, der zu den schwersten Leiden gehört, die bekannt sind. Erst der »Glanz dieser Perle«, die gleichsam der innere Genius des Menschen ist, gibt dem Leben seinen Sinn, seine Schönheit und seine Würde, die auch die Nacht des Todes überstrahlt.449

3.13. Das Weltwechselwirken und das Leiden: Pluralität, Antagonismus und Dissonanz der metaphysischen Grundkräfte des Kosmos und die »Kraftspezialisierungstheorie«450 Die Welt bietet sich gemäß dem heute gültigen physikalischen Welt­ bild als ein Ganzes dar, in dem alles mit allem zusammenhängt und zeitlich gemeinsam voranschreitet. Aber ihre Einheit ist nur eine Verbundeinheit, keine innere bzw. einsinnig-monistische Einheit. Die Behauptung, die Welt bestehe im Letzten nur aus Stoff oder aus Geist oder werde nur von einem Gesetz regiert, widerspricht der Empirie und ist eine Wunschprojektion des Menschen, der es nur schwer erträgt, dass sich ihm das Ganze entzieht und nicht auf einen Nenner bringen lässt. Sowohl räumlich und zeitlich als auch strukturell zeigt die Welt extensiven und pluralen Charakter, und rein physikalisch strebt sie im Rahmen des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes, der die universelle Entropiezunahme besagt, die totale Expansion bzw. Zerstreuung und damit den Abbau aller höheren Ordnungsstrukturen an. Eine Weltgeist- oder Gaiatheorie scheitert an diesen Tatsachen. Zumindest was die Lebewesenwelt betrifft, und da im Besonde­ ren die Menschen, ist die Pluralität von eigenständig wirkfähigen Subjekten sinnvoll nicht bestreitbar, doch genau betrachtet, reicht 449 Vgl. das »Perlenlied« im Thomas-Evangelium, das ich in ein Drama umge­ setzt habe. 450 Vgl. zur Kraftspezialisierungstheorie im Folgenden und bei B. v. Brandenstein (1966, 288–377).

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3.13. Das Weltwechselwirken und das Leiden

das Agonale und Polare bis zu den einfachsten physikalischen Phäno­ menen hinab.451 So ist der Kosmos in seiner physikalischen Totalität das Ergebnis des Urgegensatzes von zentripetaler Gravitation und zentrifugaler Wärmekraft.452 Daher war der Versuch A. Einsteins, alle physikalischen Erscheinungen, so auch die »dunkle Energie«, auf die Gravitation zurückzuführen, von vorneherein fragwürdig und lässt sich sachlich nicht halten. Polare Gegensatzpaare finden sich auf allen Ebenen des Kosmos bis hinauf zum Menschen mit den Gegensätzen Mensch-Tier, Indivi­ duum-Gemeinschaft, Mann-Frau, Person-Ding, Geschöpf-Schöpfer. Es scheint, dass der Polarität im Sinne des positiven Gegensatzes eine entscheidende Rolle im Weltgeschehen zukommt. Denn alle Polarität bedeutet, wie auch F. Brentano hervorhebt, Spannung, Konkurrenz, Rivalität, aber auch Ergänzung und stellt einen fundamentalen Bewe­ gungs- und Entwicklungsanreiz dar.453 Gäbe es keine Polarität, gäbe es z. B. nur die Gravitation oder nur die Fugitation, hätten sich keine komplexeren Systeme wie Galaxien, Sonnensysteme, Planeten, Ökosysteme und Lebewesen entwickeln können. Zum kontinuierlichen Aufbau von Strukturen, wie sie die bio­ logische Evolution am eindrücklichsten aufweist, bedarf es der Mode­ rierung, z. B. in Form der Abkühlung heißer Stoffe, der Hemmung und Begrenzung der physikalisch-chemischen Kräfte und der Len­ kung ihrer Energien. In der Photosynthese der Pflanzen etwa gelingt es einem Lebewesen, atomare – hier sogar elektronische – Energien in kleinsten Portionen zu dirigieren und für die Stoffwechselabläufe zu 451 Was manche Autoren dazu bewegt, das antinomische bzw. tragisch selbstzerstöre­ rische Moment im gesamten Weltlauf zu verorten, so z. B. J. Bernhart (1917) in seinem tiefsinnigen Buch Die Tragik des Weltlaufs. 452 Ich werde diese teilchenfreie physikalische Kraft, die innerhalb der modernen Physik – von wenigen Ausnahmen abgesehen wie I. Prigogine (1990, 111) – nicht als Grundkraft gesehen wird, »Fugitation« nennen. Sie ist mit der Wärme-, Energieund Expansionskraft identisch und sorgt für die permanente und wohl auch rotierende Ausweitung des Weltalls. Vieles spricht dafür, dass sie der »dunklen Energie« zugrun­ de liegt. 453 Siehe F. Brentano (1929, 246) in seinem Buch Vom Dasein Gottes: »Und der Prozess des Kampfes selbst [...] ist eine der vornehmsten Vollkommenheiten des Ganzen. Das gegenseitige Wirken und Leiden aller Dinge macht ja erst die Welt zur Welt und gibt ihr wie Einheit, so Entwicklung. Und diese wird umso grossartiger, je tiefer die umwandelnde Kraft bis in das innerste Wesen der Dinge greift.« In seinem Buch Dialektik des Geistes (1928) zeichnet auch P. Wust das Dasein geradezu als einen dramatischen Kosmos von Polaritäten.

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

nutzen454 – eine höhere Seinsstufe greift hier steuernd und gestaltend in eine niedrigere ein.455 Gleichzeitig sind alle kosmischen Prozesse äußeren Störein­ flüssen ausgesetzt. Da alle, auch die vorbiologischen Gebilde, zur Expansion, zur möglichst großen Raumgewinnung neigen, muss es zwangsläufig zu Kollisionen kommen, so schon zwischen Galaxien, Sternen und Planeten, erst recht auf so engem Raum wie der Erde, wo Milliarden von Lebewesen ihr Lebensrecht durchzusetzen versuchen. Hier kommt es zu regelrechten Verdrängungs- und Vernichtungs­ kämpfen (die kaum Gott selbst direkt bewirkt). Dies zeitigt auf der Erde nicht nur polare Gegensätzlichkeit, sondern Antagonismen, die sich bedrängen, stören und zerstören, die um die Ressourcen der Welt, Raum und Zeit eingeschlossen, konkurrieren und rivalisieren.456 Wenn dem so ist, fragt sich, welches die dynamischen Quellen, die realen und real-wirksamen Ermöglichungsgründe dieser Anta­ gonismen sind? Die philosophische Tradition neigt bis ins 20ste Jahrhundert dazu, aus der unleugbaren Vielfalt der Welt und ihrer ebenso wenig leugbaren immanenten logischen und mathematischen Ordnung, also ihrer »immanenten Vernunft«, direkt auf nur einen Weltgrund zu schließen, der sowohl die Einheit des Ganzen als auch seine Geordnetheit fundiert, also selbst Vernunft, letzlich absolute Vernunft ist.457

Man spricht von Elektronentransport, vgl. H. W. Heldt/B. Piechulla (2008). Eine Tatsache, die die Schichtenlehre N. Hartmanns (1964), die den »Eingriff« einer höheren Schicht in eine tiefere nicht, sondern nur den Aufbau auf der tieferen zulässt, fragwürdig macht. 456 Je weiter die Evolution fortschreitet und je komplexere Gebilde sie zeitigt, desto größer wird das Problem des zunehmenden Ressourcenverbrauches und damit die Notwendigkeit, Ressourcen zu schonen und zu recyclen. Schon die niedersten Lebewesen (Bakterien) bemühen sich um die Beseitigung von »Abfall« und zersetzen organisches Material in anorganische Stoffe, um den Neuaufbau von Organismen zu ermöglichen. Man kann von einer Tendenz in der Welt der Lebewesen sprechen, die Natur von Fäulnisstoffen zu reinigen. 457 Vgl. zum direkten Schluss von der Welt auf eine absolute Vernunft H. Lotze (1923, 32); ähnlich J. Hessen (1962, 259ff.). Andere Denker wie Jesaja (»Heerscharen«, Himmel im Plural), Platon, Aristoteles, Philon, Paulus, Plotin, G. W. Leibniz, I. Kant, W. James, B. v. Brandenstein und A. Platinga folgen diesem Weg nicht und setzen zwischen das Ursein Gottes und den dritten Rang der Weltdinge noch eine geistig-intelligible Zwischenschicht, deren Natur allerdings oft dunkel bleibt. Was W. James (1914) betrifft, sieht er klar die Pluralität aktiver Prinzipien im Kosmos, schließt aber seltsamerweise von ihr auf eine Gottheit, die endlich und begrenzt ist. 454

455

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3.13. Das Weltwechselwirken und das Leiden

Dieser Schluss ist, auch wenn er im Letzten, wie gesehen, richtig ist, voreilig, übergeht er doch wesentliche Weltphänomene und führt in Inkonsistenzen hinein. Das bisherige Scheitern der Lösungsver­ suche für das Theodizeeproblem wurzelt in der selten hinterfragten Annahme, der absolute Weltgrund bewirke und gestalte den gegebe­ nen Kosmos unmittelbar an jedem Punkt und sei daher, was dann rich­ tig wäre, für alle Unzulänglichkeiten, Fehler, Missbildungen, Sackgas­ sen, für Schmerz, Leid, Kampf, Versuch und Irrtum, Scheitern, Not, Grausamkeit, Missverständnis, Gemeinheit, Hass und Sinnmangel in der Welt verantwortlich.458 Da dies mit dem Wesen Gottes unverein­ bar ist, muss dieser Schluss als voreilig zurückgewiesen werden. Hat man dagegen die drei Seinsränge im Blick, wird die Fragwürdigkeit des direkten Überganges vom ersten zum dritten Seinsrang und damit das Überspringen des zweiten Seinsranges der Zweitursachen deutlich.459 Da Gott für seine Selbstkonstitution nichts Zeitliches benötigt, ist er in seiner ewigen Dauer wesenhaft vollendet, und entsprechend stellte ein bloß dinglich-passiver Kosmos, frei von Geistwesen, eine überflüssige Spielerei dar, die Gott nicht braucht.460 Erkennt man dagegen, dass Gott in der Lage ist, Geistgeschöpfe zu erschaffen, die wesenhaft in der Zeist stehen, also veränderliche, trotzdem endlos entfaltbare, demnach unvergängliche »Substanzen« sind und den vormenschlichen Naturaufbau in einem Zeithorizont bewirken, wird die Zeit zu einer wesentlichen Komponente des Weltgeschehens, da nur in einem solchen »Werderaum« zeitliche Wesen zu sich selbst finden, sich sukzessiv entfalten und miteinan­

458 Auch in manchen theologischen Versuchen, das Theodizeeproblem zu meistern, z. B. bei W. Thiede (2007), begegnet man diesem Dilemma. Mit Konstruktionen wie der »Selbstbeschränkung Gottes«, der »Zeitlichkeit Gottes«, dem »leidenden Gott«, dem »ohnmächtigen Gott«, »dem werdenden Gott«, dem sich als Anderes, etwa als Natur entgegensetzenden Gott (Hegel) usw. soll dann gelöst werden, was so nicht lösbar ist. Dagegen zeigen diese Versuche der »Verendlichung Gottes«, wo die Lösung liegt: bei der Einführung nichtmenschlicher, endlicher Subjekte ins Naturgeschehen. 459 Vgl. die »Kraftspezialisierungstheorie« von B. v. Brandenstein (1966, 288–377) in seinem 3. Band der Grundlegung der Philosophie, die ich weiter unten konkret ausführen werde. 460 Andeutungen von schöpferischen Zweitursachen, die zwischen Gottheit und Welt stehen, gibt es bei Jesaja (»Heerscharen«), Platon, Aristoteles, Philon, Paulus, dann im Rahmen der problematischen Emanationslehre bei Plotin, Proklos, vor allem aber bei Avicenna, später auch bei I. Kant, E. Becher u. a. Vgl. etwa Avicenna (1977/1980, IX 2, 49–87).

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

der mit ihren Werk- bzw. Naturbildungen um ihre Verwirklichung ringen können.461 Im Menschen erscheint schließlich ein Vertreter dieses zweiten Seinsranges selbst auf dem empirischen Plan und wird seiner leib­ haften Geschöpflichkeit in der Selbstreflexion unmittelbar bewusst. Allerdings wäre es höchst seltsam, wenn die Menschen die einzigen Exemplare von Zweitursachen im Kosmos wären. Wäre dem so, hätte Gott über Jahrmilliarden einen geistlosen Kosmos bewirkt, um dann sehr spät den Menschen zu erschaffen und als Mitspieler mitten hinein in den an sich blind-passiven Kosmos zu setzen. Viel natürlicher ist entsprechend dem oben dargelegten Kausalprinzip die Annahme, dass der Mensch, wie das von naturnahen und polytheis­ tischen Kulturen immer geahnt wurde, zu einer »geistigen Familie« gehört und, in den Worten I. Kants, ein Bürger zweier Welten ist. Das aber bedeutet, dass der phänomenale Kosmos das Werk vieler, aufeinander aufbauender und miteinander interagierender Schöpfer­ kräfte darstellt.462 Im Unterschied zum Menschen bleiben diese aber in ihrem zweiten Seinsrang und erscheinen nicht im materiell-physischen Sein, sind also nicht verleiblicht, sondern stehen ontologisch »über« ihren Wirkungen und Werken und drücken sich darin sinnträchtig, lebendig und konstant aus, was zur Täuschung einer »immanenten Kausalität« verführt. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Betrachtung der Kosmos ein ganz anderes Gesicht erhält, und die Leid- bzw. Theo­ dizeefrage von vielen metaphysischen Widersprüchen befreit wird. Auch die »schöpferische Ökologie« erhält erst in diesem Rahmen eine tragfähige ontologische Grundlage und könnte die Menschen auf ein neues kosmisches Bewusstsein heben. Schließlich und endlich erlaubt die Metaphysik der Zweitursachen die Reformulierung des Problems Unter »Substanz« wird hier nicht wie in der Tradition von Aristoteles, B. de Spinoza bis I. Kant eine unveränderliche Substanz verstanden, die es nur einmal als das Absolute, als Gott geben kann, sondern solche Wesen, die aus sich selbst, also selbständig wirken können, aber nicht unbedingt ewig-unveränderlich, sondern zeit­ lich-zeitbildend-zeitsammelnd konstituiert sind. Diese Selbständigkeit ist insofern relativ, als sie Abhängigkeit von der absoluten Substanz impliziert. Abhängigkeit und (relative) Selbständigkeit schließen sich demnach keineswegs absolut aus (vgl. G. W. Leibniz, N. Hartmann, B. v. Brandenstein). 462 Auch hochdifferenzierte Philosophien und Religionen wissen, wenn auch meist noch nicht genügend geklärt, um solche »Naturgeistkräfte«, z. B. Jesaja, Platon, Aristoteles, Philon, aber auch I. Kant und das Christentum (Paulus), C. F. v. Weizsäcker und A. Platinga. 461

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3.14. Leiden als unvermeidbare Folge der Unfertigkeit

der »Konstanz der Arten«: Nicht die empirischen Naturbildungen, zumal die Lebewesen, sind, wie die moderne Biologie zu Recht betont, konstant, sondern diejenigen Wirkursachen, durch die sie geschaffen und ineinander umgebildet werden. Zu all dem passt die Tatsache, dass im Kosmos Bewegung und Konfrontation, Konkurrenz und Verdrängung, Kampf und Zerstö­ rung, Ressourcenerschöpfung und Platzmangel herrschen. Vor uns ersteht das Bild eines dramatischen, den ganzen Kosmos durchwal­ tenden Lebenskampfes, in dem es primär nicht um Ausgleich und Frieden, sondern um Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung geht. Wo aber viele sind, und vor allem viele verschiedene Potenzen aufeinandertreffen, da können Konflikte nicht ausbleiben. Positiv gewendet, sind es gerade Konflikte, Grenzerfahrungen, Leid und Not, die die Rekrutierung ungehobener und unentfalteter Ressourcen und Fähigkeiten provozieren, so dass der Grundsatz aufgestellt werden kann, dass in einer leidfreien Welt ein geringer, in einer leidfähigen Welt dagegen ein großer Anreiz und Antrieb zum Lernen besteht.463 Aufgabe, Ungenügen, Kampf, Leid, Unglück und Not drängen alle Geistkräfte, zumal den Menschen, das Beste aus sich herauszuholen, gemäß der Sentenz von Meister Eckhart: »Das schnellste Tier, das euch zur Vollkommenheit trägt, ist das Leiden.«464

3.14. Leiden als unvermeidbare Folge der Unfertigkeit, Unreife, Prozessualität, Pluralität und Agonalität der Wirklichkeit; die Widerlegung der stoischen Theodizee So sei an dieser Stelle zusammengefasst, was sich von der Welt und ihrem Aufbau bisher erschließen ließ: Da sie im Werden begriffen ist, muss sie einen ersten Anfang haben. Weder besteht die Zeit – wie I. Kant meint, als leere – vor dem entstehend-werdenden Sein noch besteht sie daneben, und also darf sie nicht substanzialisiert Vgl. Aischylos im Drama Agamemnon, Vers 177: »Durch Leiden lernen«; »Denn zur Weisheit leitet uns Zeus und heiligt als Gesetz, dass in Leiden Lehre wohne.« Hinter der berühmten Sentenz des Heraklit, »Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, steht ebenfalls der Gedanke, dass Differenz, Diskrepanz, Konfrontation und Konflikt das Potential zur Weiterentwicklung aktivieren. 464 Siehe Meister Eckhart (1996, 27). 463

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

werden. Vielmehr bezeichnet sie den gestaltlichen Sukzessions- und Daueraspekt alles wandelbar-veränderlichen Seins. Analog gibt es keine räumliche Ausdehnung ohne ein Seiendes, das ausgedehnt ist. Während der Raum jedoch die simultane Extension anzeigt, spiegelt die Zeit die sukzessive Extension wider. Beides sind spezifische Quantitätsaspekte des veränderlichen Seins, daher lassen sie sich auch messen und berechnen, weiter abstrahieren und für sich – unabhängig von der Empirie nach inneren, apriorisch-geometrischen Gesetzmäßigkeiten – weiterbehandeln und -entwickeln. Die Anfänglichkeit der Welt setzt, wie streng logisch ermittelt werden konnte, notwendig einen Seinsgrund voraus, der selbst nicht wandelbar ist. Dieser muss, da die Welt dynamisch ist, selbst aktiv, dynamisch und tätig sein, was bedeutet, dass er fähig ist, Anderes zu setzen. Insofern er anfangslos und tätig ist, kann er nur sich selbst bestimmen und durch Anderes nicht (direkt) bestimmt werden.465 Das wiederum impliziert ein aktiv-selbstbezügliches und damit be­ wusstes Verhältnis, also Selbstbewusstsein. Das Ursein ist nur als Geist, als Person denkbar, und als solches will es die Welt, denkt sie, hält sie und belebt sie, vor allem dadurch, dass sie aus ihrer Ewigkeit und unendlichen Seinsfülle heraus die Zukunft mit ihren Aspekten der Offenheit, Ungewissheit und Unsicherheit ermöglicht. Für das hier in Betracht kommende Anliegen ist die Erkenntnis entscheidend, dass zwischen dem ersten Seinsrang des Urseins und dem dritten Seinsrang der bloßen Dinge in der raumzeitlichen Welt ein zweiter Seinsrang möglich ist, der nämlich von Objekt-Subjekten, von Zweitursachen, also von Geschöpfen, die zwar erschaffen wurden, aber selbst agieren können. Sie sind ihrer Seinsfülle und Seinsdauer nach weder aU noch E, sondern pU, potentialunendlich, also uner­ schöpflich und unvergänglich, dennoch in ihrer Selbstrealisation an die Zeit gebunden. Ohne diese ontologische Zwischenschicht bliebe das gesamte Universum rätselhaft, absurd und bloß ein sinnloses Spielzeug Gottes; und ohne diese Zwischenschicht lässt sich weder die Leid- noch die Theodizeefrage lösen.466 Zumindest im Menschen erfährt sich das Ich als ein solches Ob­ jekt-Subjekt, und entsprechend ist es nicht nur möglich, sondern auch 465 Unmittelbar oder direkt kann kein endliches Seiendes das Sein der Gottheit bestimmen, aber mittelbar durchaus, zumal sie die »Anfrage« (z. B. in Form einer Bitte) voraussieht. 466 Bei vielen »Theodizeeautoren« wird sie nicht einmal erwogen, so bei G. Stremin­ ger, A. Kreiner, O. Marquard, R. Swinburne u. a.

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3.14. Leiden als unvermeidbare Folge der Unfertigkeit

wirklich. Wenn man zudem erkennt, dass die empirische Wirklichkeit nicht nur zeitlich und prozessual verfasst ist, sondern alle Anzeichen von Auf-, Um- und Abbau, von einer Schichtenstruktur, von Polaritä­ ten, von pluralen Sinn- und Wirkquellen, von Unreife, Konkurrenz, Rivalität, Kampf, Abgrenzung, Durchsetzung, Konflikt, Selbstbe­ hauptung, Verdrängung, Ressourcenverbrauch, Missbildung, Zerstö­ rung und Recycling bietet (wenigstens in der Lebewesenwelt), dann lässt sich ernstlich kein metaphysischer Monismus vertreten, wie man ihn etwa bei B. de Spinoza vorfindet, jedoch auch kein Dualismus, etwa zwischen nur guten und nur bösen Mächten, sondern vielmehr ist ein metaphysischer Pluralismus von Wirkkräften gefordert, die diesen Kosmos hervorbringen und in komplexer Weise aufbauen, grundsätzlich also positive, gute Wesen sind. Da sich zeigte, dass die neuzeitliche Kausalvorstellung nur eine Bedingungs- und Gesetzeskausalität (causa conditionalis et regula­ ris) darstellt, die zwar das Wie und das Worin eines Geschehens beschreibt, aber nicht das Dass und Wodurch, und da weiter erkannt wurde, dass alle echte Wirk- und Hervorbringungskausalität (causa effizienz) nur von der Art sein kann, dass die Ursache nicht in ihre Wirkung übergeht, weil sonst die als unmöglich erkannte anfangslose Wechselreihe bestehen können müsste, sondern sich aus bewusster Kraftfülle rangtiefer ein echt Anderes als ihr geistig gestaltetes, seelisch ausdrucksvolles Werk gegenübersetzt, ist gesichert, dass der Kosmos nicht das sinnlose Gebilde blinder mechanischer oder sonstiger physikalischer, aber auch nicht halbpsychoider, zwitterhaftvitalistischer »Kräfte« ist, sondern von materiell wirkfähigen geisti­ gen Potenzen bewirkt wird.467 Diese Potenzen können, obschon sie ungeheuer mächtige Wesen sind, ihr Wirk- und Gestaltungspotential nur in der Zeit realisieren und tun dies auch in einem äonenlan­ gen Weltprozess. Nicht Gott bewirkt und gestaltet unmittelbar die Welt, sondern er ermächtigt schöpferische Wesen zum Bau des Kosmos. Das übersteigt zwar bei weitem das menschliche Vorstellungsvermögen, ist aber Jede Wirkkausalität muss, um zu wirken, etwas hervorbringen können. Eine unkreative Wirkursächlichkeit ist ein »hölzernes Eisen«. Wenn Aristoteles die Effi­ zienzkausalität nur als äußerliche Anstoß- bzw. Bewegungskausalität fasst, dann verfehlt er ihr Wesen und verbleibt in rein empiristischer Deutung. Dagegen gilt: Wer oder was wirkt, bringt hervor. Im Übrigen muss auch ein Bewegungsanstoß einen Impuls hervorbringen oder wenigstens übertragen, was ohne (kreative) Schaffenskraft nicht denkbar ist. 467

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das einzig akzeptable Denkergebnis im recht gefassten Kausalbegriff. Gott ist also allmächtig, aber nicht allwirksam, weil er Macht dele­ giert. Und die über der Natur stehenden Geistwesen, einschließlich des in die Natur eingesenkten Menschengeistes, sind zeitlich begin­ nende Schöpferkräfte, die in Potentialität und Unreife beginnen, um aus diesem »Rohzustand« heraus in einem zumeist mühsamen, konfliktreichen und leidvollen, aber auch spielerischen, souveränen und genussvollen Prozess zur Reife zu gelangen.468 Wie später noch differenzierter dargelegt wird, treten diese »Naturgeistkräfte« in einer bestimmten Ordnung im Weltverlauf auf, keineswegs ist ihr Wirken beliebig, launisch und chaotisch, wie dies von esoterischen Weltanschauungen, so etwa von der Anthropo­ sophie oder alten Mythologien, imaginiert wird.469 Der wichtigste Befund besteht in der Einsicht, dass diese Objekt-Subjekte bzw. geistigen Geschöpfe wesenhaft unfertig sind und mit ihrer Schöpfer­ tätigkeit allein aus sich heraus nicht zum Ende kommen – sie sind wesentlich unerschöpflich. Das bedeutet, dass ihnen das endlose »Gebären ihrer selbst« auferlegt ist. Immer ist da ein unausschöpfli­ ches Dunkel, ein Noch-Nicht, ein eingehüllter Seinsabgrund, der nur durch entschiedene und unaufhörliche Selbstverwirklichung erhellt werden kann. Was in diesem inneren Abgrund alles verborgen ist, an Gutem wie Fragwürdigem, ist apriori nicht auszumachen und stellt eine unaufhebbare Quelle von Unwissenheit, Unsicherheit, Angst, Fragen, Zweifel, Suchen, aber auch Überraschung, Staunen, Experi­

468 Es ist auffällig und bezeichnend, dass viele Theodizeekritiker wie P. Bayle, D. Hume und G. Streminger den so fundamental wichtigen Aspekt des Reifungscharak­ ters von Welt, Geist und Freiheit unterschlagen und dann Gott vorhalten, dass er nicht sogleich rein gute und doch freie Geschöpfe geschaffen habe. Gewiss hätte er das tun können, aber der Übergang von der Unreife zur Reife, zumal in die Hände der Betroffenen selbst gelegt, scheint einem eigenständigen und seinen Fortschritt integrierenden Weltprozess angemessener zu sein als einer Welt, die der Entwicklung nicht bedarf. In jedem Falle bildet sich darin eine größere Weltfülle ab. Zeit wird so zu einem Medium subjektiver Reifung und Selbstzerstörung. 469 Der Kraftbegriff in der Physik erweist sich als uneigentlicher, da die Physik kein echtes Kraftwirken feststellen kann, sondern nur Bedingungs- und Gestaltungs­ zusammenhänge, Randbedingungen und Gesetzmäßigkeiten in einem dynamischen, das heißt bewegten, Geschehen beschreibt. Echte Kräfte sind wegen ihres Kraft- und Wirkwesens empirisch nicht direkt zugänglich, wiewohl sie sich empirisch ausdrü­ cken, sondern können nur indirekt über die regressive Analyse erschlossen werden.

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ment und Selbsterziehung dar.470 Daraus erhellt, dass die unmittelbar empirisch nicht zugänglichen schöpferischen Quellen des kosmischen Seins, zu denen auch der menschliche Geist zählt, selbst die tiefsten Leidensquellen sind. Das ist das Erste. Zum Zweiten können sich diese Potenzen nur im Weltwechsel­ wirken entfalten, ihr Potential und ihre spezifische Begabung in echter Interaktion realisieren und so ihre einmaligen Wirkgebilde wie Felder, Atome, Moleküle, Organismen und Kulturwerke schaffen. Dieses Wechselwirken ist ohne ein Aufeinanderwirken, ohne Konfrontation, wohl auch ohne Konkurrenz, Rivalität, Verdrängung, Störung, Hem­ mung und Verwirrung nicht möglich. So sehr die kosmischen Prozesse aufeinander abgestimmt sind, und das haben nicht von ungefähr viele großen Geister in der Menschheitsgeschichte und heute die moderne Physik mit ihrem »Feinabstimmungstheorem« festgestellt, so zeigt das Weltall doch auch Unvollkommenheiten, Verwerfungen, Inkompatibilitäten, Zweckwidrigkeiten und Verirrungen. Den größ­ ten Bruch stellt der Mensch dabei zwischen der vormenschlichen und der menschlichen Welt fest: Wenn B. Pascal und A. Camus vom Schweigen des Weltalls sprechen, von seiner kalten absurden Gleichgültigkeit gegenüber allem Menschlichen, so sehen sie zwar das Ganze allzu einseitig, doch nicht völlig falsch. Die leidvolle Tatsache der Naturkatastrophen, die Tausende von Menschen hin­ wegraffen, beweist zur Genüge, dass der Kosmos und die menschliche Lebenswelt nicht aufeinander abgestimmt sind – so weit geht die prästabilierte Harmonie von G. W. Leibniz offensichtlich nicht. Und schon in der vormenschlichen Vergangenheit wurde das Leben auf der Erde mehrmals fast gänzlich durch extraterrestrische Katastrophen ausgelöscht, was sich in der Zukunft durchaus wiederholen kann. Noch tiefer betrachtet, gibt es schon in der vorbiologischen Natur Anzeichen von gewaltigen Kämpfen, die darauf hinweisen, dass die Natur keineswegs immer so stabil war, wie sie heute erscheint, sondern dass sich wohl auch die Naturgesetze erst »einpendeln« und stabilisieren mussten. Wie dem auch sei, in jedem Fall müssen die Ein historisches Beispiel bietet das deutsche Volk, das schon kurz nach der Katastrophe von »Drittem Reich« und Zweitem Weltkrieg seine physische, politische und moralische Erschöpfung überwand und – zwar mit Hilfe, aber doch aus eigenem Lebenswillen – seinen staatlich-wirtschaftlichen Wiederaufbau schaffte und eine neue kulturelle Blüte heraufführte. Aus rein endlichen Kraftquellen heraus wäre das kaum möglich gewesen. 470

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Lebewesen und besonders die Menschen die Sicherheit ihrer Existenz unter außerordentlichen Mühen und mit größtem Erfindungsgeist den physischen Naturgewalten abringen, und letztlich bleiben diese doch unüberwindlich und lassen sich nur durch Anpassung einiger­ maßen kontrollieren gemäß dem berühmten Satz des Francis Bacon: »Natura enim non nisi parendo vincitur« (Die Natur lässt sich nur dadurch beherrschen, dass wir ihr gehorchen).471 Kurzum: Der Kosmos ist die prekäre und »dramatisch-wogende« Einheitsgestalt einer teils agonistischen, teils antagonistischen Plura­ lität von erst unreifen, dann immer mehr reifenden, im Materiellen wirkenden, im Wesen geistigen und sich geistig bzw. symbolisch ausdrückenden Kraftfaktoren,472 die nicht immer harmonisch zusam­ menwirken und daher viele Diskrepanzen, Brüche, Verwerfungen, Zweckwidrigkeiten und bei den Lebewesen Verletzung, Krankheit und Missbildung, Leid, Schmerz und Not erzeugen.473 Viele Denker haben den dynamisch-pluralen und agonistischantagonistischen Charakter der Weltwirklichkeit gesehen, so etwa Heraklit, Platon, Aristoteles, Augustinus, R. Descartes, G. W. Leibniz, I. Kant, G. W. F. Hegel, A. N. Whitehead u. v. a. Manche, so vor allem die mittelalterlichen Philosophen, waren sich auch der drei Seinsränge im Wirklichkeitsaufbau klar bewusst und haben das deutlich formu­ liert (z. B. J. Scotus Eriugena),474 doch lässt sich diese Überzeugung schon bei Platon und Aristoteles, später bei R. Descartes, G. W. Siehe F. Bacon (1620, Novum Organon, Buch 1, Aphorismus 3). In deutscher Übersetzung: F. Bacon (1962, 41), Das neue Organon/Novum Organon, Manfred Buhr (Hrsg.), Berlin [Akademie Verlag]. 472 Vgl. hierzu die tiefe und differenzierte Lehre der symbolischen Kulturanthropo­ logie von Georg Baudler (1989), die auch in der Natur das Geistige symbolisch ausgedrückt sieht. 473 Auch K. Koreck (2019, 68–73) erkennt die Pluralität in der Natur und macht sie an der Eigenwertigkeit der Naturgebilde, besonders der vormenschlichen Lebewe­ sen fest. 474 In seinem Werk De Divisione Naturae (1865, 439–1022) unterscheidet Johannes Scotus Eriugena im 9. Jahrhundert die ungeschaffen-schaffende Natur bzw. Gott (natura naturans, non naturata), die geschaffen-nichtschaffende Natur der physischen Einzeldinge (natura naturata, non-naturans) und dazwischen die geschaffen-schaffen­ den Intelligenzen (natura naturata, naturans), die identisch mit Platons »Ideen« und mit Aristoteles' Sterngeistern sind. In einem Egressus gehen die Seinsstufungen im Sinne von Plotins Emanation von oben nach unten auseinander hervor und kehren als Regressus in die Gottheit der totalen Ruhe und Unterschiedslosigkeit zurück (dann natura non-naturata, non-naturans). Die Anleihen an Plotin bedingen den Panentheismus Eriugenas. 471

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Leibniz, I. Kant, M. Scheler u. a. finden. Oft handelte es sich allerdings mehr um eine Ahnung oder Vermutung als um eine klar ermittelte Einsicht. Diese wird dadurch erschwert, dass die Wirkkräfte des Universums (außer im Fall des Menschen) nicht unmittelbar erfahr­ bar sind: Nur ihre komplex miteinander verflochtenen Wirkungen und Werke, deren Ausdruckswert wahrnehmbar ist, sind bekannt und müssen durch ein geschultes »goetheanisches« Schauen, in dem Beschreibung, Intuition, Analyse und Einfühlung zusammengehen, erfasst werden.475 Da die neuzeitliche Wissenschaft ausschließlich auf die logisch­ mathematischen Zusammenhänge der Natur konzentriert war und außerdem den folgenschweren Fehler beging, die mathematischen Verhältnisse der Naturgesetze für real wirkende Naturursachen zu halten, schließlich und endlich jedes Organ für die seelisch-geistige Sinnbestimmtheit des kosmischen Naturgeschehens verlor, daher alle entsprechenden Einstellungen, die allerdings oft sehr naiv und phantastisch waren, diffamierte, musste es zu einer fundamentalen Verkennung und »Entzauberung« (M. Weber) der kosmischen Wirk­ lichkeit kommen, so dass sie am Ende entweder als blinde Maschine oder als sinnloser Zufall erschien.476 Dass ein so sinnbezogenes Wesen, wie es der Mensch ist, in einer solchen Welt auftritt und auftreten kann, wurde so zu einem widervernünftigen Seinsrätsel und zwang die Wissenschaft, auch den Menschen, so weit wie mög­ lich, reduktionistisch zu betrachten. Freiheit, Würde, Kreativität, Phantasie, Geist und Kultur wurden nur als nützliche, nicht eigenwer­ tige Überlebensstrategien im Kampf ums Dasein gedeutet. Warum aber Lebewesen überhaupt überleben und ihre spezifische Eigenart im Lebenskampf durchsetzen und erhalten wollen, das können die 475 In vorbildlicher Weise tun dies innerhalb der Naturwissenschaft A. Portmann und E.-M. Kranich (1929–2007). 476 Gerechterweise muss man darauf hinweisen, dass Judentum und Christentum aufgrund ihrer (Über-)Betonung des einen einzigen Gottes der Dämonisierung der Natur und ihrer Wirkkräfte Vorschub leisteten. Um den Polytheismus vollständig zu überwinden und damit aller Götzenanbetung den Garaus zu machen, schüttete man das »Kind mit dem Bade aus« und neigte dazu, alle nicht-göttlichen Naturgeistkräfte zu verteufeln. Richtig daran ist der unerbittliche Wille, keine geschöpfliche Kraft auf die Stufe Gottes zu stellen, wie das der moderne Polytheismus wieder versucht (vgl. H. Dreyfus, S. D. Kelly: Alles, was leuchtet, 2014). Falsch daran ist, die Natur zu dämonisieren oder eine jede geschöpfliche Geistigkeit in oder über dem Naturgesche­ hen abzuleugnen. Letztlich wurde dadurch die »entseelte und entgeistete« Natur dem neuzeitlichen Gewaltzugriff der Technik preisgegeben.

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Naturwissenschaften bis heute nicht erklären, sondern rekurrieren auf »egoistische Gene« und ähnlich phantastische Konzepte. Eine genauere Betrachtung der Naturwirklichkeit kommt zu einem anderen Ergebnis. Dabei können die reichen Erträge der Natur­ wissenschaft, insbesondere der Evolutionstheorie, vollauf gewürdigt werden, ja es wird sich zeigen, dass das Theodizeeproblem ohne sie nicht gelöst werden kann. Da der philosophischen Vergangenheit die evolutionäre Sicht des Kosmos fehlte, fehlte ein entscheidendes Glied in der Kette der Argumente. Nur bedarf die darwinistische Theorie der Erklärungsgründe der Evolution – nicht der empirischen Gestaltenfolge! – einer tiefgreifenden Umbildung, da zufällige Muta­ tion, umweltbedingte Selektion und Populationsstatistik allein nur sehr beschränkt gewisse Anpassungsleistungen, aber keine neuen schöpferischen Gestaltbildungen erklären können. Im Abschnitt IV soll das konkret ausgeführt werden. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, Stellung zur stoischen Theodizee zu beziehen, die aufgrund ihrer großen geistesgeschicht­ lichen Bedeutung paradigmatisch für alle Formen der monistischen Metaphysik stehen mag. Wie W. Windelband477 zu Recht betont, be­ finden sich alle monistischen Welterklärungsversuche im Angesicht von Übel, Leid und Bösem in einer weitaus schwierigeren Lage als nichtmonistische Lehren, zu denen etwa die platonische und die aristotelische Philosophie zählt. Wohl sieht die Stoa das Problem, doch findet sie nur zwei Wege, mit dem Übel in der angeblich »göttlich vollkommenen Welt« zurechtzukommen: Entweder leugnet sie die dysteleologischen Tatsachen oder sie rechtfertigt sie als unerlässliche Mittel bzw. Nebenerfolge im Zweckzusammenhang des Ganzen.478 W. Windelband fasst Seite 167 zusammen: »Ihre psychologischen und ethischen Theorien erlaubten die Behaup­ tung, dass, was ein physisches Übel genannt wird, an sich gar nicht ein Siehe W. Windelband (1957, 166ff.). Wie viele Autoren, so etwa F. Billicsich (1955), W. Sparn (1980), W. SchmidtBiggemann (1988), C.-F. Geyer (1992) und H.-G. Janßen (1989) zu Recht betonen, besteht die Eigenart der Antike und damit ihre spezifische Differenz zum Christentum gerade darin, dass sie den Kosmos für vollkommen und für göttlich hält, was J. Assmann (2003, 164) treffend »Kosmotheismus« nennt. Genau dadurch gerät sie in den Zugzwang, das Übel in der Welt für nicht-seiend, für scheinhaft oder als bloße Privation wegzuerklären. Im Besondern gilt dies für die Stoa, aber nicht nur, sondern auch für den letzten großen Vertreter antiken Denkens, für Plotin und seine »Kosmodizee«. Vgl. J. Halfwassen (2004, 98ff.) und F. Billicsich (1955, 98–186). 477

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solches sei, sondern erst durch die Zustimmung des Menschen dazu werde; wenn daher Krankheiten und ähnliches durch die Notwendig­ keit des Naturverlaufs herbeigeführt werden, so sei es nur die Schuld der Menschen, die daraus ein Übel mache; wie denn auch vielfach nur der falsche Gebrauch, den der törichte Mensch von allen Dingen macht, diese schädlich werden lässt (Seneca, qu. nat., V, 18,4), während sie an sich entweder gleichgültig oder gar förderlich sind.«

Ersichtlich kann dieses Argument bei aller begrenzten Richtigkeit keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, da sich die Frage stellt, wie in einer angeblich vollkommenen und übelfreien Welt ein Wesen möglich sein soll, das einerseits zu dieser Welt als realer Teil gehört, andererseits erstens die Neigung hat, ein Weltgeschehen als schädlich zu bewerten, und zweitens zum falschen Gebrauch der Lebensumstände in der Lage ist, was beides zweifelsohne zutrifft. Offensichtlich wäre hier zumindest der Mensch bzw. seine »Torheit« ein objektives Übel und damit eine objektive Unvollkommenheit des Kosmos. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob z. B. eine Erkrankung, die das menschliche Denk- oder Sprachvermögen beschädigt, eine Enzephalitis etwa, wirklich nur eine neutrale oder sogar förderliche Weltgegebenheit und also kein physisches Übel ist, über die sich der Weise erhebt. Wie zu sehen, überspannt die stoische Philosophie hier ihren Autonomie- und Souveränitätsanspruch und verkennt die Ausgelie­ fertheit des Menschen an die Welt. Wenn der Mensch ein Teil des Kosmos ist und ein Recht hat, sich darin mit seinen Eigenheiten und Fähigkeiten zu entfalten, dann kann man nicht daran vorbeisehen, dass der Kosmos wenig Rücksicht auf den Menschen nimmt und ständig seine besondere Seinsweise bedroht. Nichtsdestotrotz betont die Stoa zu Recht, dass im Menschen die Potenz vorliegt, Welter­ eignisse, die an sich unbedenklich sind, mit Negativität aufzuladen oder zu dämonisieren oder gute, förderliche Verhältnisse in üble Verhältnisse, die schädlich sind, zu verkehren. Das beweist aber erneut, dass der Kosmos störanfällig und kontingent, jedenfalls nicht absolut vollkommen ist. Die Stoa gerät so mit ihrer Auffassung, dass im Kosmos alle Vorgänge mit Notwendigkeit und perfekt ablaufen, in einen Selbstwiderspruch, an dem sie scheitert. Von einer anderen Seite lassen sich die physischen Übel damit verteidigen,

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»dass sie, wie dies z. B. Chrysipp von den Krankheiten zu zeigen suchte (Gell., N.A., VII, 1, 7ff.), die unerlässlichen Folgen an sich zweckmä­ ßiger Natureinrichtungen sind, die im Übrigen ihre Absicht nicht verfehlen. In Sonderheit aber wohnt ihnen die moralische Bedeutung inne, dass sie zum Teil als bessernde Strafe der Vorsehung (Plut., Stoic. rep., 35, 1), zum Teil auch als nützlicher Anlass zur Übung sittlicher Kräfte (Marc. Aurel, VIII, 35) dienen.«479

Dass physische Übel die Sittlichkeit herausfordern und zur Verede­ lung anspornen können, ist gewiss richtig; sie können aber auch die Sittlichkeit verletzen und untergraben. Problematisch ist die auch von G. W. Leibniz und I. Kant vorgenommene Instrumentalisierung der Übel als bessernde Strafe der Vorsehung, was bestenfalls als hy­ pothetische Deutung durchgelassen werden kann. In den Abschnitten VI und VII wird eingehend die Unmöglichkeit behandelt, dass Gott direkt Übel um ihrer selbst willen bzw. als Vergeltungsstrafe zufügt. Dagegen ist es sicherlich richtig, dass viele »Übel« die unerlässli­ chen Folgen an sich zweckmäßiger Natureinrichtungen sind, so z. B. Wachstumsschmerzen, Alterserscheinungen, Geburtsrisiken, Zahn­ wechsel, pubertäre Nöte, die Menopause usw. Doch auch dadurch wird ihr Übelcharakter in Bezug auf Lebewesen und Menschen nicht aufgehoben, sondern vielmehr unterstrichen, dass auf der Erde als einem realen Ausschnitt des Kosmos nicht alles harmonisch und ideal gefügt ist (um dem Wohlleben zu dienen), sondern prekär, labil, brü­ chig und konfliktuös, trotzdem in Grenzen harmonisierbar ist. So mag z. B. der Abort eines lebensunfähigen Embryos das konsequente und insofern »richtige« Ergebnis einer radioaktiven Strahlenbelastung sein, und man mag so weit gehen und behaupten, dass das »Leben« hier in weisem Bedacht früh fallen lässt, was, wenn es überlebte, nur sich selbst und Anderen eine Last wäre. Dennoch bleibt der Misston unauslöschbar, dass hier etwas zerstört wurde, was von seiner Anlage und Dynamik her hatte leben und sich entfalten wollen. Und unterstellt man dem Kosmos, wie die Stoa tut, eine göttliche Vernunft, müsste man erst recht erwarten, dass die Kräfte vorhanden sind, einen solchen beschädigten Embryo zu heilen, zumal es in der Natur sehr potente Regenerations- und Restitutionsvorgänge gibt. Genau dies offenbart, dass sowohl die Heilungskraft als auch die Hei­ lungsintelligenz der Natur nicht unendlich, sondern begrenzt, nicht unbedingt, sondern bedingt und also weder göttlich noch vollkommen 479

Siehe W. Windelband (1957, 167).

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ist. Damit fällt das stoische Axiom, wonach Gott und Natur identisch sind und der Kosmos vollkommen ist. »Wenn so die äußeren Übel hauptsächlich durch den Hinweis auf ihre ethische Zweckmäßigkeit gerechtfertigt wurden, so erschien es für die Stoiker umso dringender, erwies sich aber auch umso schwieriger, das moralische Übel, die Sünde, begreiflich zu machen. Hier war die negative Ausflucht ganz unmöglich; denn die Realität der Schlechtig­ keit bei der großen Mehrzahl der Menschen war der Gegenstand der beliebtesten Deklamationen in der stoischen Moralpredigt selbst. Hier war also der Kernpunkt der ganzen Theodicee: zu zeigen, wie in der Welt, welche das Erzeugnis einer göttlichen Vernunft ist, das Vernunftwidrige in den Trieben, Gesinnungen und Handlungen der vernunftbegabten Wesen möglich sei. Hier griffen die Stoiker deshalb zu ganz allgemeinen Wendungen: sie wiesen darauf hin, wie die Voll­ kommenheit des Ganzen diejenige aller einzelnen Teile nicht nur ein­ schließe, sondern ausschließe (Plut. Stoic., rep., 44, 6) und begründeten in dieser Weise, dass Gott notwendig auch die Unvollkommenheit und Schlechtigkeit des Menschen habe zulassen müssen. Insbesondere aber betonten sie, dass erst durch den Gegensatz zum Bösen das Gute als solches zustande komme: gäbe es keine Sünde und Torheit, so gäbe es auch keine Tugend und Weisheit (ibid., 36, 1).«480

Auch diese Argumente können nicht zufrieden stellen, zumal in voreiliger Weise Unvollkommenheit und Schlechtigkeit gleichgesetzt werden. Gewiss ist der Mensch, wie alles Kosmische, unvollkommen, aber damit nicht notwendig schlecht. Niemand kann alles gleich gut, doch er kann sich der Schlechtigkeit enthalten und soll dies auch. Zwar stimmt es, dass Gott keine absolut vollkommene Welt schaffen kann, eben weil die Welt notwendig endlich ist und – gemessen an der Unendlichkeit Gottes – nur einen kleinen Ausschnitt des möglichen Seins darstellt.481 Daraus folgt aber nicht, dass Gott die Schlechtigkeit des Menschen habe zulassen müssen, im Gegenteil hätte er durchaus eine Welt schaffen können, in der nur gute und trotzdem endlich-einseitige Menschen auftreten. Warum er die Schlechtigkeit zulässt, muss daher einen anderen Grund haben, den es noch aufzudecken gilt. Dass aber die Welt als Siehe W. Windelband (1957, 167). Das betont später G. W. Leibniz wieder und nennt dies unglücklicherweise ein »metaphysisches Übel«, obwohl es, rein sachlich gesehen, weder ein Übel noch ein Leid ist, sondern eine natürliche Endlichkeit, an der der Mensch zwar oft leidet, aber nicht leiden muss. 480

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ganze vollkommen sei, kann schon deswegen nicht sein, weil sie sich bewegt, entwickelt, umwandelt, zerstört, wieder aufbaut – jedenfalls nicht fertig ist, was sie sein müsste, wenn sie vollkommen wäre. Und schließlich das Letzte: Wohl mag es stimmen, dass das Gute leuchtender hervortritt, wenn es sich gegen den dunklen Hintergrund des Bösen abhebt, aber daraus zu folgern, dass ohne das Böse das Gute nicht möglich sei, ist voreilig und insofern selbstwidersprüchlich, als alle Ethik und Religion, auch die der Stoa, davon ausgeht, dass das Böse abnehmen und überwunden werden kann und also das Gute einstens triumphiert oder wenigstens triumphieren soll. Doch schon vor diesem endgültigen Triumph gibt es zahllose gute Taten, die ohne jeglichen Bezug zu Schlechtigkeit und Bosheit zustande kommen und für sich, ohne Zusammenhang mit Bösem und Leid, geschätzt werden. Indirekt bestätigen die Stoiker diese Wahrheit, wenn sie zu bedenken geben, »dass die ewige Vorsehung schließlich auch das Böse zum Guten wende und in ihm nur ein scheinbar widerstrebendes Mittel zur Erfüllung ihrer höchsten Zwecke habe.«482

Das Böse könnte nicht zum Guten gewendet werden, wenn es not­ wendige Bedingung des Guten wäre, woraus folgt, dass das Böse im Letzten kontingent ist. Dass es aber nur scheinbar widerstrebe, wider­ legen alltägliche Praxis und Erfahrung schon damit, dass es viel Mühe kostet, Schlechtes und Böses bei sich und in der Welt zum Guten zu wenden, mehr noch belegen sie, dass das Böse eine »positive«, sprich seinshaltige Macht ist, die wirklich und nicht nur scheinbar widerstrebt, und daher mit viel Einsatz, Geduld und Seinsvertrauen zur Umkehr bewegt werden muss. In der Überschau erhält man das Fazit, dass eine monistische Welttheorie, zumal in optimistisch-harmonistischer Form, unverein­ bar mit den Tatsachen des Leides, des Bösen, des Zweckwidrigen und des Schlechten ist. Vollends inkonsistent wird sie, wenn sie, wie z. B. im Falle I. Kants, einerseits den empirischen Weltlauf deterministisch

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Siehe W. Windelband (1957, 168).

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3.15. Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt vorzieht

auslegt, andererseits dem Menschen zur Begründung des Bösen die Freiheit zuspricht.483

3.15. Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt, eine werdende einer fertigen Welt, eine werdendselbsttätige einer werdend-passiven, eine personale einer nicht-personalen Welt vorzieht Da durch die bisherige Analyse einige Fundamente für ein metaphy­ sisches Weltbild gelegt worden sind, kann ein erster Versuch gewagt werden, das Theodizeeproblem anzugehen. Am Anfang steht die Erkenntnis, dass ein ens a se, ein schlecht­ hinniges Sein als die notwendige und streng ermittelbare Seinsvor­ aussetzung allen zeitlichen Seins, mithin des Kosmos überhaupt exis­ tiert. Dieses anfangslose Ursein ist erweisbar unzeitlich, ungeworden, ewig, ist absolute Kraft, unendliche Seinsfülle, reines Bewusstsein, ist also Person und damit Gott. Als solcher umfasst er den größtmögli­ chen gegenständlichen Bewusstseinsinhalt.484 Der reale, in der Zeit sich dynamisch entfaltende und selbständig agierende Kosmos, der wesentlich E, bestenfalls pU ist, ist daher kein realer Teil von Gottes Urwirklichkeit, im Gegenteil ist er gewis­ sermaßen ein »Fast-Nichts« und steht im Seinsrang unendlich unter ihr. Das Grundverhältnis zwischen Gott und Universum basiert dabei auf Freiheit: Gott hat die Welt nicht erschaffen müssen, sie ist weder an sich nötig noch für ihn nötig, demnach radikal kontingent, vielmehr ist sie reine Gabe, Ausdruck der voraussetzungslosen und »selbstlosen« Gebefreudigkeit Gottes. Wenn man überhaupt von einem Motiv sprechen will, das Gott bei der Erschaffung der Welt 483 Allerdings spricht I. Kant dem Menschen die Freiheit nur in »transzendentaler Hinsicht«, nicht als einem empirischen Wesen zu. Als leibhaftes Wesen sei er unfrei. Nur ist die Frage, wie ein empirisch vollständig determiniertes Wesen von einer transempirischen, nicht erfahrbaren Freiheit überhaupt wissen kann? Und weiter: Wie ein empirisch völlig determiniertes Wesen in der empirischen Welt soll »frei« und verantwortlich handeln können? Bei I. Kant ist der Mensch unheilbar in zwei Hälften zerrissen. 484 Weiter oben wurde dieser Bewusstseinsinhalt quantitativ als aUaU bestimmt. Vgl. dazu B. v. Brandenstein (1970), Grundlegung der Philosophie, Bd. 2, Kapitel 289 und 295 und (1966, 466–477), Grundlegung der Philosophie, Bd. 3.

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geleitet haben mag, dann ist es seine Seins-, Kraft-, Weisheits- und Liebesfülle selbst und sonst nichts: Er ist so unendlich reich, und er kann so unendlich leicht alles geben, dass er es eben tut. Solch eine Gabe ergibt unendlich viel mehr Sinn, wenn es einen Empfänger gibt, der lebendiges Geschöpf und nicht totes Ding ist, als wenn dieser fehlte. Da sich Gott nicht selbst erschaffen kann (und muss), erschafft er Geschöpfe, die, obschon ihm nicht ebenbürtig, schaffenden Willen, erkennenden Verstand und liebendes Gefühl haben und deswegen sein Ebenbild als personale Geistwesen sind. Es leuchtet ein, dass Vermutungen wie die, Gott habe die Welt geschaffen, um nicht allein zu sein, um sich anbeten zu lassen, um seine Allmacht zu beweisen usw., in das Reich anthropomorpher Projektionen gehören; sie haben mit der Erhabenheit und Souveränität Gottes nichts zu tun.485 Somit gilt, dass Gott die Welt nicht hat erschaffen müssen, sondern frei darin war: Die Welt ist das Werk reiner Freiheit, durchdringender Weisheit und unumschränkter Liebe. Wenn dem so ist, und Gott ein selbstbewusstes, unendlich mächtiges Wesen ist, dann darf man davon ausgehen, dass er über eine unendlich große und tiefe Intelligenz verfügt. Es kann nicht sein, dass er sich bei der Welterschaffung »nichts gedacht« habe. Im Gegenteil, sein unendlicher Geist hat alle Möglichkeiten bis ins Unendliche bereits vorbedacht und berücksichtigt. Darin müssen auch Leid, Übel und Böses ihren Grund, ihre Stellung, ihren Sinn und ihre Überwindungsmöglichkeit erhalten. Dass der Mensch dies nicht voll erfassen kann, ist Ausdruck der Begrenztheit der menschlichen Intelligenz, daher keineswegs ein objektiver Mangel des Seins. Wohl Auch die Deutung J. Hessens (1962, 350) geht trotz all ihrer Tiefe und ihrem Anliegen, den Evolutionspantheismus G. W. F. Hegels, M. Schelers u. a. abzuwehren, fehl: »Gott braucht die Welt nicht zur Vollendung, wohl aber zur Offenbarung seines Wesens.« In Wahrheit braucht Gott die Welt in überhaupt keiner Hinsicht, auch nicht zu seiner Offenbarung. Denn er ist sich selbst durch und durch offenbar und wird sich seines Wesens nicht erst im Spiegel seiner Geschöpfe bekannt, was ein klassisch idealistischer Gedanke ist. Sobald man von »Brauchen« spricht, trägt man unweigerlich ein Bedürfnis, einen Mangel, eine Sehnsucht, ein Verlangen und damit Zeit, Werden, Unvollkommenheit, Unruhe, Leid und Kampf in Gott hinein, wo dies alles nicht existiert. Selbst bei J. Hessen meint man, Hegelsches Erbe nachklingen zu hören, das lehrt, dass Gott erst im Anderen der Natur und schließlich im Menschen seiner selbst gewahr wird. Das Motiv für Gottes Handeln kann nur innertrinitarischen Ursprungs sein und der Fülle der Liebe entspringen. Nur insofern Gott Schöpfer sein will, »braucht« er die Schöpfung und vor allem die schöpferischen Potenzen, durch deren Wirken und Schaffen Gott als freigiebeig-liebender Schöpfer, nicht jedoch als Gott überhaupt (mit-)realisiert und manifestiert wird. 485

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3.15. Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt vorzieht

gilt es, alles daranzusetzen, Leid, Unrecht und Not, so gut und rasch es geht, praktisch zu minimieren. Dem sind aber Grenzen gesetzt, wie die Naturkatastrophen zu allen Zeiten beweisen. Keine Hilfepraxis der Welt kann ein erschlagenes Kind oder einen Ermordeten ins Leben zurückbringen, kein therapeutischer Einsatz eine schwer traumatisie­ rende Vergewaltigung ungeschehen machen oder vollständig heilen. Rein praktisch ist daher die Frage nach dem Leid nicht zu bewältigen, da es in dieser Welt immer Unschuldige geben wird, die furchtbares Leid erfahren. Eine adäquate Bewältigung des Leidens muss daher über das Praktische hinausgehen und spirituelle Wege beschreiten. Wenn Gott die Welt aus überquellender Liebe erschaffen hat und die Erschaffung der Welt hätte unterlassen können, warum schuf er sie dann überhaupt? Hat das Dasein der Welt einen Vorzug gegenüber ihrem Nichtsein, zumal Gott auf sie in keiner Weise angewiesen ist? Die natürlichste Antwort kann nur die sein, dass die Erschaffung des Kosmos der beste Ausdruck seiner Kreativität, Kraft, Intelligenz und Liebe ist, und dass es Gott daran liegt, seine unendlichen Mög­ lichkeiten in allen Seinsrängen und auf allen Stufen und Graden der Wirklichkeit zu realisieren. Zwar hat er schon in seinem Bewusstsein alle möglichen Welten erschaffen, und das sind unendlich viele, doch handelt es sich bei diesen nur um unselbständige Produkte seines Geistes, um rein ideelle Gegenstände, um »Ideenkosmen«, nicht um selbständig-dynamische Wirklichkeiten. Genau das aber ist der Sinn: eine Welt zu erschaffen, die aus eigener Seinskraft zu bestehen vermag und selbst zu agieren befähigt ist, wiewohl nicht unabhängig von ihm. Es liegt auf der Hand, dass nur im Rahmen einer solchen selbständigen Wirklichkeit die Polarität von Gut- und Bösewollen, ja überhaupt der »Kosmos der Sündhaftigkeit«, wie er etwa von F. Dostojewskij ausgefaltet wird, manifest werden kann. Somit kann im nächsten Schritt gefragt werden, warum Gott eine unfertig-werdende Welt für besser hält als eine fertig-endliche Welt? Beide lassen sich als real und selbständig denken, doch während diese mit ihrem Beginn endet und bestenfalls endlos-unverändert weiterbe­ steht, ist jene entwicklungs- und wandlungsfähig. Soviel ist klar: Eine fertig-endliche Welt ist eine wesenhaft passiv-untätige Welt, während eine unfertig-werdende Welt selbsttätig sein könnte. Letzteres gilt wiederum nur, wenn Gott nicht selbst jegliche Veränderung der werdenden Welt bewirkt. Andernfalls wäre solch eine prozessuale Welt wesentlich passiv. Wären beide Welttypen tatsächlich ohne eigene Wirkprinzipien, wären beide also nur das passive Werk Gottes,

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

dann müsste Gott die fertige der unfertig-werdenden vorziehen. Denn als unendliches Wesen bedarf er nicht der zeitlichen Erstreckung, um etwas zum Abschluss und zur Vollendung zu bringen – dies könnte er mit einer einzigen Setzung erreichen. Eine unfertigwerdende, rein passive Welt ergäbe also überhaupt keinen Sinn, sie wäre geradezu sinn- und gottwidrig. Doch auch eine fertig-werdelose, zwar sogleich vollendete, aber in sich rein passive Welt stellt eine sinnlose Verdop­ pelung dar: Denn Gott hat sie in seinem ewigen unendlichen Bewusst­ sein schon von Ewigkeit her (zusammen mit allen anderen, unendlich vielen Welten) gedacht, so dass ihre Realisierung als selbständige, aber passive Welt gegenüber einer bloß gedachten keinen Zugewinn brächte. Ihre Erschaffung muss man daher fallen lassen, sie ergibt keinen Sinn. Wenn Gott überhaupt eine Welt erschafft (und das muss, wie gesagt, nicht sein), dann ergibt nur eine solche Welt einen metaphy­ sisch akzeptablen Sinn, die erstens nicht endlich-fertig und zweitens nicht passiv ist, sondern eigene weltimmanente Wirkprinzipien, Ur­ sachen und Schöpferkräfte aufweist. Besitzt sie solche, ist sie eo ipso unfertig und im Werden begriffen, da erschaffene Wirkkräfte wesenhaft anfänglich, »gebürtlich« sind und nur zeitlich wirken und sich entfalten können. Eine solche Welt ist aber notwendigerweise selbständig, da ein echtes kausales Wirken, wie gesehen, Selbstsein, Selbstbestimmen und Selbstwirksamkeit, also Freiheit und mit der Freiheit Selbständigkeit, also Können und Macht impliziert. Eine dy­ namisch-selbsttätige Welt ist darum substanzial; sie besitzt wesenhaft selbständige und selbstwirksame Wirkzentren. Auf der anderen Seite wird diese »Größe« eines selbständigen Weltseins mit gewissen Schattenseiten erkauft: Eine zeitlich gebun­ dene Wirkkraft birgt einen potenzialen Seinsgrund, der erstens dun­ kel ist und nie ganz aus eigener Kraft erhellt werden kann, der zweitens unerschöpflich ist, also nie zur Ruhe und Erfüllung gelangt, der drittens nur durch mühsame, oft leidvolle Selbstgeburt nach und nach zu sich selbst findet, und der viertens wesenhaft einseitig ist und daher unabdingbar der Ergänzung bedarf, also anderer pU Kräfte, die das haben, was jene nicht hat und umgekehrt. Das aber führt, wenn es zu Begegnung, Beziehung und Interaktion dieser Zweitursachen kommt, zu Auseinandersetzungen, Missverständnis­ sen, Selbstbehauptungskämpfen, Abgrenzungen, Verweigerungen, Rückzügen, kurzum zu allerlei Leiden.

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3.15. Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt vorzieht

Hierauf ließe sich entgegnen, dass Gott eine solche Welt hätte schaffen können, in der die selbsttätigen Prinzipien, also die über oder hinter der Natur stehenden Geistwesen einschließlich des Men­ schen, jeden Kampf vermeiden, sich durchgehend achten, aufeinander Rücksicht nehmen und nur in Güte und Frieden miteinander leben. Gewiss, das könnte Gott, durchaus. Aber wäre das die in jeder Hinsicht bessere Welt? Insofern wäre sie besser, als sie frei von allem Bösem, Schlechten und allem Übel wäre. Aber sie wäre schon in der Hinsicht weniger vollkommen, als in ihr die vielen Seinsabstufungen und Seinsgrade bis hinunter zum Nichts fehlen würden. Eine solche Welt erschiene recht blass und »leichtgewichtig«, in ihr müsste um kein Gut gekämpft werden; irgendwelche Opfer für höhere Ziele würden nicht gefordert; echte Treue zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte müsste, da nie geprüft, nicht entwickelt werden; Mut und Tapferkeit wären überflüssig; Vertrauen würde keiner Belastung ausgesetzt und würde in seiner Redlichkeit bzw. Unredlichkeit nicht offenbar. Auf der Bühne des Lebens spielte sich kein Drama ab, sondern ein »braver Spaziergang«, eine »ewige Siesta«. Vor allem würde der pU-überend­ liche Seinsabgrund der geschöpflichen Geister nicht gefordert, sich zu zeigen, dieser bliebe dunkel, unerhellt, ein ewiges Seinsvergessen. Und schließlich gilt als Wichtigstes: Nur werdende, suchende Geister erstreben die Gottheit, wollen dorthin zurück, woher sie entstanden sind; fertige Wesen genügen sich selbst und würden niemals die Sehnsucht nach Gott fühlen und die Notwendigkeit der Vereinigung mit ihm zur Behebung ihrer metaphysischen Bedürftigkeit erfahren. Kurzum: Erst Konfrontation, Kampf, Entbehrung, Herausforde­ rung, Entfremdung, Not und Leid zwingen die schöpferischen Wesen, alles nur Mögliche an Phantasie, Inventionskraft, Intelligenz, Wage­ mut, Opferkraft und Vertrauensbereitschaft aus sich herauszuholen. Und erst der Friedens- und Versöhnungswille – wie sollte der erstar­ ken in einem spannungslos und konfliktfrei dahinwallenden »Kosmos von Lemuren«? Um mit einem Bild zu reden: Welcher Dramatiker wird mehr geschätzt: Sophokles oder Aristophanes, Shakespeare oder Goldoni, Schiller oder Kotzebue, Dostojewskij oder Ostrowskij? Die Frage scheint töricht, und doch borden nicht zufällig die Dramen der erstgenannten nur so von Leid, Grausamkeit, Torheit, Missverständ­ nis und Bosheit über, während die zweitgenannten eine komische oder brave Welt darstellen. Wo jedoch zeigt sich mehr von der Tiefe des Geistes, von Intensität, Genialität, wo mehr an Reinheit des Gefühls, Lauterkeit des Gedankens, wo beweist sich die Größe der Tat, der

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Opferbereitschaft, der Leiderduldung, der Hingabe und Ergebung? Wohl kaum in den Dramen und Romanen der Zweitgenannten. Gott aber ist der größte Dramatiker, und die Welt das größtmögliche, viel­ schichtigste, umkämpfteste, tiefste, schauerlichste und ergreifendste Drama, das sich denken lässt, zumal es längst nicht abgeschlossen ist und seinen Abschluss, der frei von allen Scheußlichkeiten sein wird, verhüllt. Wie aber, wenn in diesem Drama nicht nur die gewaltigsten Energien und Stoffballungen aufeinanderprallen und zu kosmischen Explosionen führen, sondern Geistwesen wie im Falle der menschli­ chen Epiphanie selbst erscheinen, leibhaftig, wirk- und leidmächtig? Im Angesicht der Existenz des Menschen stellt sich somit die Frage, warum Gott eine in gewissen Weltgebilden – den Primaten­ leibern – personalisierte Welt einer apersonalen, sonst durchaus dynamisch-selbsttätigen Welt vorzieht? Die Antwort liegt auf der Hand und wurde oft gegeben: Ein Organismus, der Selbstbewusstsein hat, steht im Rang essenziell höher als ein solcher ohne Selbstbe­ wusstsein, ohne »Innesein«, ohne individuell-geistige Freiheit, ohne kreativen Intellekt und ohne Liebesfähigkeit. Noch tiefer reicht die Er­ kenntnis, dass im Menschen genau jenes Seinsprinzip manifest wird, das hinter allem gegenständlichen Weltsein steht und sich, genauer besehen, darin zu offenbaren trachtet: das ungegenständlich-inständ­ liche Prinzip des subjektiven Geistes, des geschöpflichen Wesens im zweiten Seinsrang, das Objekt-Subjekt. Da die letzten Seinsquellen der Welt personaler Natur sind und zuhöchst in der Urperson Gottes gründen, strebt alle noch so dunkel-materielle Welt der Offenbarung dieser Seinsquellen zu, deren bisher letzte und höchste Stufe im Falle des Menschen die Beseelung eines artspezifisch-tierischen Leiborga­ nismus mit einem individualen Geistgeschöpf ist. Noch höher stünde nur jenes »Weltding«, in dem die Urperson Gottes selbst manifest würde, ein Gedanke, den fast alle Hochkulturen ausgebildet haben, etwa in der Vergöttlichung ihrer Heroen und Gottkönige und in der Idee des Mystikers. Hier findet die tiefsinnige Konzeption der deutschen Idealisten, wonach die Natur erst im Menschen zu sich selbst komme, ihre Bestätigung. Die Welt ohne den Menschen ist ein »Nur-Objekt«, im Menschen dagegen erklimmt sie den Gipfel der obschon nicht, wie die Idealisten meinten, aktualunendlichen, so doch endlich-potentialunendlichen Subjektivität. Wenn Gott dies geplant und gefügt haben sollte, dann hat er sich für die Realisierung höherrangigen Seins entschieden, und man versteht, warum er eine personalisierte Welt einer apersonalen vorzieht.

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3.16. Hiobs Theodizee und ihr Ungenügen

Diesem höchstmöglichen Realisierungszweck des Weltgeschehens entspricht ein zu zahlender Preis, der kaum überbietbar ist: Um ein Stück lebendig organisierter Materie zu personalisieren, muss der »Nachteil« hingenommen werden, dass dieses personale Sein an diese Materie gebunden, von ihr abhängig und von ihr eingeschränkt wird, mit ihr verletzt und krank werden, an ihr in Leid und Not geraten kann und schließlich mit ihr altert, verfällt und stirbt. Der Preis für die – hiesig nur zeitweise erreichbare – Verinnerlichung und Vergeistigung des physischen Seins sind Leid und Sterben des Geistes, nicht des Geistes überhaupt, sondern des verleiblichten, inkarnierten Geistes, der »Seele«, des psychophysischen Menschenbewusstseins. Anders lässt sich der Höhengrat des Weltgebäudes nicht erreichen. Wenn sowohl die innere Sinnstruktur als auch die Sinndynamik der kosmi­ schen Evolution im nächsten Abschnitt konkret aufgehellt sind, dann wird sich dieser Zusammenhang klarer vor Augen stellen. Mithin offen ist schließlich die Frage, wie und warum es zum »Abstieg« des personalen Prinzips in die apersonale Materie gekommen ist. Im Abschnitt IV und V wird diese Frage untersucht.

3.16. Hiobs Theodizee und ihr Ungenügen Wie so viele große Kunstwerke – das Gilgamesch-Epos, die Odyssee, der Ödipus Rex, die göttliche Komödie, Don Quijote, Faust u. v. a. m. –, wird auch das Buch Hiob von einer bestimmten Theodizee getragen. Das erste ihrer Elemente wurde bereits kritisch beleuchtet, die Erwartung Hiobs, dass ein gerechtes, gottfrommes und men­ schenfreundliches Leben leidfrei sein müsse. Diese Einstellung muss – auch für damalige jüdische Begriffe! – als naiv und weltfremd bezeichnet werden, da sie die existenziell fundamentale Gebrochen­ heit des menschlichen Daseins, um die das jüdische Denken sehr wohl weiß, verkennt. Das zweite Element besteht in einer Art Gleichsetzung von irdischer und göttlicher Welt, da der Dichter des Hiobbuches davon ausgeht, dass Gott Jahwe der direkte Schöpfer und Bewirker der Natur ist und seine Souveränität und Hoheit vorzüglich in ihren

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Gewalten ausdrückt.486 Zusammen mit dem ersten Element seiner Theodizee müsste – im Sinne Hiobs – konsequent folgen, dass Gott die Naturgewalten auch nur so einsetzt, wie es dem sittlichen Rechtsempfinden entspricht. Da Hiob mit dieser Erwartung scheitert, wird er an seinem Gottesbild irre und rechtet mit Gott, ohne allerdings sein Gottesbild zu ändern bzw. wirklich »aus Jahwe selbst in das unbekannte Kanaan auszuziehen«.487 Trotz der eindeutigen, im Verlauf der jüdischen Religionsge­ schichte zunehmenden Entnaturalisierung des israelitischen Gottes­ bildes, das Jahwe als souveränen Schöpfer über alles Naturhaftzeitlich-Geschöpfliche stellt und scharf von den altorientalischen Naturgottheiten absetzt, wirkt hier noch mythisches Erbe nach, das Gott und Naturgewalt mehr oder weniger gleichsetzt bzw. noch nicht genügend differenziert.488 Diese Vermutung wird durch den späteren Auftritt Gottes im Buch Hiob bestätigt: Dort überwältigt Jahwe seinen Knecht Hiob mit den Schrecken der Naturgewalten, mit Donner, Blitz und Sturm und weist ihn herrscherlich, fast despotisch, auf jeden Fall ziemlich autoritär zurecht.489 Hier unterscheidet sich der Gott der Juden wenig von Zeus oder Wotan, von Marduk oder vom kananäi­ schen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott Baal, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass auch der israelitische Glaube altorientalischsemitischen Ursprunges ist und sich in ständiger Auseinandersetzung 486 Vgl. O. Eißfeldt (1931, 8–9), Vom Werden der biblischen Gottesanschauung und ihrem Ringen mit dem Gottesgedanken der griechischen Philosophie, worin dieser Aspekt bestätigt und um die geschichtliche Dimension des hebräischen Gottes(-bil­ des) Jahwe, mit der sich diese Religion immer deutlicher von den altorientalischen Naturgottheiten absetzt, erweitert wird. 487 Siehe E. Bloch (1973b, 1457), Das Prinzip Hoffnung, dritter Band. 488 Religionsgeschichtlich handelt es sich um Überreste der Gottesvorstellung des israelitischen Volkes aus seiner Wanderungszeit auf dem Sinai, als es dem Vulkangott der Keniter begegnete und sich, allerdings bald in tiefgreifender Veränderung, zu eigen machte. Vgl. conträr: Gott im sanften Wind (1. Kön 19,12: ). 489 Tiefer betrachtet, kündigt sich hier die Ahnung an, dass der Gott-Mensch-Abstand über alle Maßen geht, so dass nicht nur das Hadern mit Gott, sondern bereits die Existenz des Menschen im unmittelbaren Angesicht des Unendlichen nahezu als ein Nichts erscheint (vgl. oben III.8). – Das autoritäre Gottesbild allerdings geht weit in die Geschichte zurück, auch in der hebräischen Bibel, und wird gewaltig Epoche machen, so bei Paulus (Gott liebt den Lügner Jakob und hasst den Tölpel Esau, Gefäße des Zorns), so bei Augustinus ab 397 n. Chr. (allwirksamer Gott, massa damnata, völlig ohnmächtiger Wille, biologisch weitergegebene Erbsünde, unwiderstehliche Gnade), so bei Luther und vielen anderen zum großen Schaden der Botschaft Jesu und seines Christentums.

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3.16. Hiobs Theodizee und ihr Ungenügen

mit seinen mythischen Wurzeln und seinem mythischen Umfeld her­ ausgebildet hat.490 Da aber die Natur keine Rücksicht auf das sittliche Verhalten nimmt, sondern Gute wie Schlechte mal begünstigt, mal ins Unglück schleudert, muss ein Gottesbild Risse bekommen, das den Kosmos zum Wesen Gottes rechnet, sei es als seinen verlängerten Arm, sein Kleid, seinen »Leib« oder wie bei G. W. F. Hegel als von Trümmern und Leichen gepflasterten Weg, auf dem der Weltgeist zu sich selbst kommt. Die Gleichsetzung von Gott und Natur hat zudem zur Folge, dass sowohl die schreckenerregende Undurchschaubarkeit bzw. Will­ kür als auch der eisern-gnadenlose Schicksalsablauf der Natur auf Gott übertragen werden und dieser selbst, wie das Kapitel 23 des Hiobbuches beweist, undurchschaubar, willkürlich, angsterregend und deterministisch erscheint. Es mutet daher heroisch, verwegen und fast absurd an, dass Hiob sich trotzdem verteidigen und gegenüber einem scheinbar vernunftlosen Gott gute Gründe (!) für seine Lebens­ führung und sein Recht auf ein glückliches Leben vorbringen will. Die Analysen dieser Arbeit zeigen dagegen, dass die (teilweise) Gleichsetzung Gottes mit der Natur bzw. ihre direkte Kausalität verabschiedet werden muss. Hält man daran fest, ist das Theodizee­ problem unlösbar, und man verfängt sich in heillose Widersprüche. Wie gesehen, ermöglicht ein vernünftiger Gott den Kosmos, genauer, schafft seine Grundlagen und Grundkräfte, vor allem die metaphysi­ sche Materie als das vermittelnde Medium des Weltwechselwirkens und die geistigen Wirkursachen, die geschöpflichen Schöpfer des Naturgeschehens, zu denen auch der Mensch zählt. Denn es ist nicht Gott, sondern es sind jene Zweitursachen (»Naturgeistkräfte«) und diese Menschen, die am Medium der räumlich-extensiven Mate­ rie den Kosmos mit allen seinen Unvollkommenheiten, Brüchen und Tragödien aufbauen. Erst auf diesem Hintergrund findet das physisch und sittlich Unvollkommene, finden aleatorisch-statisti­ sche Prozesse,491 Naturkatastrophen, Zweckwidrig-Unnützes, Dege­ nerativ-Pathologisches, finden Unglück, Kampf, »trial and error«, 490 Vgl. W. Eichrodt (1968, 111). Charakteristisch für die alttestamentliche Gottesvor­ stellung ist allerdings, dass Jahwe nicht in der Schöpfung bzw. der Natur aufgeht, sondern sich zunehmend von ihr differenziert und souverän über sie erhebt. Vgl. dazu T. Hieke (2014, 24f.). 491 Zum Beispiel die unvorhersehbar-unberechenbare Fluchtbewegung der Thom­ son-Gazelle oder die Schwarmformationen von Fischen und Vögeln, aber auch Pro­ teinsynthesen in der Zelle u. v. m. Vgl. P. M. Driver (1988).

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

Entwicklungsumwege, wenig lebenstaugliche Überspezialisierungen, über- und unteroptimale Lösungen, Rudimente, Missbildungen, Ata­ vismen und das ganze Arsenal des Bösen plausiblen Eingang in das Weltgeschehen.492 Wären Gott und Natur (teil-)identisch bzw. in direkter Kausalität, wäre der Mensch darin fehl am Platz, mehr noch, er wäre als selbständige Realität unmöglich. Denn als das Stück Natur, das er auch ist, wäre er dann selbst unmittelbar gotthaft, göttlich, und es könnte keine Differenz zur Natur und damit kein wirkliches Leid geben. Aber auch Gott wäre, wenn er mit der Natur (teil-)identisch wäre bzw. eine kausale Einheit bildete, unvollkommen, unfertig und fehleranfällig. Da beides, wie erwiesen, unhaltbar ist, können Gott, Natur und Mensch nicht identisch sein, nicht einmal partiell. Was die Hiob-Legende selbst betrifft, legt sich kulturpsycho­ logisch die Vermutung nahe, dass in diesem Dokument einige Züge des patriarchalischen Vaterbildes jener Zeit auf Gott projiziert wer­ den.493 Wie der Anfang des Buches, die berühmte Wette zwischen Gott und Satan, beweist, hätte die Möglichkeit zur Zeichnung eines verständnisvolleren und kommunikativeren Gottesbildes bestanden. Da Gott durch seinen Engel Satan, den Ankläger, die Treue Hiobs prüft, hätte er konsequenterweise am Ende des Buches seinen Knecht Hiob über den Hintergrund der vielen Leiden aufklären müssen und 492 Vgl. P. Overhage (1964, 172–191); vgl. B. v. Brandenstein (1947, 15–57). Beson­ ders interessant sind die Phänomene des Atavismus oder »Rückschlages« und des Rudiments, also des geschichtlichen Überbleibsels oder Restes früherer, jetzt nicht mehr funktionsgebundener, daher nutzloser, desorganisierter oder steckengebliebe­ ner Organe, z. B. der verkümmerten Augen der Höhlenfische, der Flügel des Straußes, der Hinterbeine der Wale, noch mehr der embryonalen Rudimente, die nie ins volle Funktionsstadium eintreten oder nur kurzzeitig funktionieren, dann aber wieder aufgelöst werden, z. B. die embryonal angelegten, dann wieder vergehenden Zähne der Bartenwale, Schildkröten usw., alles Phänomene, die im Falle unmittelbar göttli­ cher Kausalität widersinnig, ja widergöttlich wären. Zur Belegung der evolutionären Geschichtlichkeit organischer Strukturen verweist A. Portmann (2008) auf das inter­ essante Phänomen des nur zwischenzeitlichen, an sich funktionslosen Verschlusses von Augen und Ohren bei höheren Säugetieren in der Embryonalphase, der als »mit­ geschlepptes« Überbleibsel früherer und damals zweckhafter Organisationsformen von primitiveren Säugern allerdings durchaus seinen vollen Sinn erhält. Metaphysisch sind dies Indizien sowohl für die Pluralität von sinngerichteten Organisationsfaktoren als auch Hinweise, dass nicht Gott selbst dies alles, was offensichtlich besser gemacht werden könnte, direkt wirkt. Vgl. P. Overhage (1963, 29–30). 493 Nicht von ungefähr bedeutet der Gottesname »El«, der oft in der jüdischen Bibel verwendet wird, unter anderem »Gott der Väter«, »Gott meines Vaters«; vgl. W. Eichrodt (1968, 111f.).

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3.17. Theodizee zweiter Teil

ihn dafür loben können, dass er (z. B. im Gegensatz zu seiner Frau) Gott in der Drangsal treu geblieben ist. Doch nicht ein Gott des Verständnisses, der Weisheit, des Mitgefühls und der Intelligenz, sondern ein Gott des puren Herrschaftsanspruches und Machtwillens verlangt hier vom Menschen blinde und kleinmütige Unterwerfung. Entsprechend gibt Hiob, von Schrecken gelähmt, seinen Wunsch nach Aufklärung, Verständnis und Gerechtigkeit auf. Der Mensch soll nicht denken, fragen und verstehen, sondern gehorchen, hinneh­ men, »schlucken«. Diese Gottesvorstellung erdrückt den Menschen, wird seiner geistigen Würde nicht gerecht und bleibt weit hinter dem wahren Gott zurück, der durch Liebe, Sanftmut und Einsicht, auch durch Konsequenz und Strenge, nicht jedoch durch Angst und Schrecken überzeugen will. So bleibt der tiefere Sinn von Hiobs Prüfung ungenutzt.

3.17. Theodizee zweiter Teil Mit den Ergebnissen des letzten Abschnittes kommt diese Arbeit in der Theodizeefrage ein großes Stück weiter. Zum ersten wurde erkannt, dass eine Welt vollkommener ist, die nicht nur das passive »Puppenspiel« Gottes ist, sondern von eigenständigen, damit partiell freien und bewussten, aber auch der Zeit, Entwicklung und Reifung unterworfenen Wesen, also Geistkräften im zweiten, geschöpflichkreatürlichen Seinsrang aufgebaut wird, die teils miteinander und teils gegeneinander wirken und somit allerlei Kämpfe und Konflikte in das Weltgeschehen hineintragen. Zweitens wurde ermittelt, dass jene Welt vollkommener ist, in der der personale Geist, das Ich, selbst erscheint, um von ihm immer mehr durchseelt und durchgeistigt zu werden, auch wenn »in der Tiefe«, »im Unbewussten« ein nie voll aktualisierbarer Rest an Geistentfaltung bestehen bleibt. In eminenter Weise eignet diese Aufgabe dem Menschen. Für dieses gewaltige Ziel ist ein hoher Preis zu zahlen und als frei zu übernehmendes Opfer zu erbringen: das »In-der-Welt-Sein« unter Hinnahme von Gottferne und Weltpreisgegebenheit, von Selbstver­ lust und Todverfallenheit und damit unter Hinnahme von zahllosen Übeln und Leiden. Gott hat die Welt nicht erschaffen müssen; auch hätte er eine tote, geistlose Welt hervorbringen können; und gewiss hätte er den Menschengeist nicht in die Welt hineinschicken müssen. So hätte er zwar das Leid vermieden, aber mehr noch hätte er dadurch

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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit

die Möglichkeit der seelischen Verlebendigung und Durchgeistigung, mehr noch die Möglichkeit der inneren Durchgöttlichung und Ver­ göttlichung der Welt, wie sie im gottähnlich werdenden Menschen erstrebt und erreicht wird, verhindert. Da alles Leid vorläufig und übergänglich ist, jene Vergöttlichung aber, wenn sie gelingt, ewig nicht vergeht, sollte auf der Hand liegen, welche Welt die vollkomme­ nere und welche die unvollkommenere ist.

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IV. Natur und Leiden: Die Verinnerlichung der Natur durch das Leiden im veräußerten Geist

4.1. Naturgeschehen und Kausalität; Zuständigkeit und Grenzen der Naturwissenschaft Alles tiefere Verstehen der Wirklichkeit hängt am Problem der Kau­ salität, denn so, wie der Mensch das Phänomen des Entstehens, Werdens und Vergehens deutet, so deutet er die letzten Quellen von Sein und Leben. Obwohl in den vorangegangenen Abschnitten diese Frage eingehend behandelt wurde, muss im Zusammenhang der Naturphilosophie des Leidens, der Frage also, wie das Leiden in das Naturganze zu stellen ist, auf die Kausalproblematik noch einmal rekurriert werden. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Voraussetzung, dass nicht nur menschliches Erleben, sondern auch die »objektive«, von der Wahrnehmung unabhängige Welt zeitlich verfasst ist. Wo dies geleugnet wird, da stellt sich in Bezug auf die Natur die Kausalfrage nicht, allerdings um den Preis, dass der Mensch außerhalb der Natur zu stehen kommt. Im anderen Fall bleibt das Problem, wie etwas, das erst nicht ist, dann ist, das also entsteht, den Übergang vom Nichts ins Sein leisten soll. Schon das Kleinkind wundert sich darüber und will hartnäckig wissen, woher und warum die Dinge entstehen. Die Frage ist nicht nur berechtigt, sie drängt sich geradezu auf und beweist auf diese Weise ein intuitives Wissen von der Nichtnotwendigkeit und »Zufälligkeit« (Kontingenz) allen werdenden Seins. Entstünde nämlich alles, was wird, notwendig, könnte demnach nicht nicht oder nicht anders sein und würde vom Menschen in diesem Nichtandersseinkönnen erfühlt oder erkannt, würden die Fragen »Woher?«, »Warum?«, »Wodurch?« und »Wozu?« nicht spontan aufkommen können, mithin wäre das Fragen selbst nicht-kontingent, sondern notwendig, nicht frei und verlöre sein grundlegend offenes Fragewesen. An diesem Punkt drängen sich zwei philosophische Grund­ gedanken auf, von denen der eine so alt ist wie das Denken des

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IV. Natur und Leiden

Menschen, der andere von D. Hume (1711–1776) in die Diskussion geworfen wurde. Der erste Gedanke, gewissermaßen die »urkausale Einsicht«, besagt: Das, was entsteht, kann nicht von nichts kommen, sondern bedarf, um zu sein, eines zureichenden Grundes bzw. über­ haupt eines anderen Seins, von dem her es entstehen kann. Oder anders: Das, was entsteht, kann sich nicht selbst erzeugen und damit sich »dem Sein nach« nicht selbst begründen, womit es über sich hinaus auf Anderes, durch das es ins Sein gesetzt wird, verweist. Würde es sich nämlich selbst erzeugen, müsste es da sein, bevor es überhaupt ist, was widersinnig ist; wäre es aber schon da, müsste es sich nicht mehr erzeugen – eine Selbstverursachung im Sinne der Selbsthervorbringung ist demnach selbstwidersprüchlich und damit sachlich unmöglich.494 Entgegen D. Hume,495 der meint, bei diesem Denkgesetz han­ dele es sich um eine durch Gewohnheit entstandene und daher nur wahrscheinlich gültige Regel, besteht I. Kant496 zu Recht darauf, dass es sich um ein notwendiges Vernunftgesetz handelt. Demgegenüber täuscht sich seinerseits I. Kant, wenn er dieses Kausalgesetz für apriorisch erkennbar hält und es zudem mit einer naturgesetzlich geregelten Aufeinanderfolge von Zuständen gleichsetzt.497 Hier steht das Recht wieder auf der Seite von D. Hume, der erkannte, dass die bloße Sukzession – und geschehe sie auch nach einer Regel – noch kein Kausalverhältnis, sondern nur ein probabilistisches Konditional­ verhältnis begründet.498 Daher kann sich das Konzept der Autopoiesis nur auf die Selbstgestaltung und nicht auf die unmögliche Selbsthervorbringung beziehen, was zur Konsequenz hat, dass alle Selbstorganisationstheorien das Entscheidende im Naturgeschehen nicht erklären, die Tatsache nämlich, dass etwas entsteht. Vgl. dazu E. Jantsch (1982). Die Theoreme, die das zu erklären versuchen, etwa die »Fulguration« (K. Lorenz) und die »Emergenz«, beschreiben nur, erklären aber nichts. 495 Vgl. D. Hume (1748, 7. Kap.). 496 Vgl. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 23). 497 Selbstverständlich liegt dieses Denkgesetz als Struktur im Denken vor aller Erfahrung vor und gilt deswegen unabhängig von einer konkreten Erfahrung, doch kann es nur in oder nach der Erfahrung erkannt werden, eben dann, wenn die Erfahrung von etwas, das entsteht, gemacht wird. Ontologisch besteht und gilt es apriori, epistemologisch ist es nur aposteriori zugänglich und gilt dann empirisch und transempirisch. 498 Präziser gesagt, wird in einem Sukzessionsverhältnis der spätere Zustand durch den vorangehenden zwar bedingt (man könnte also von Konditionalkausalität spre­ chen), aber nicht im Sinne einer Effizienzkausalität durch ihn hervorgebracht, jeden­ falls wäre das bestenfalls eine Hypothese und ließe sich rein naturwissenschaftlich 494

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4.1. Naturgeschehen und Kausalität

Kurzum: Wie D. Hume richtig sieht, ist aus der Tatsache, dass eine Sache einer anderen, ein Zustand einem anderen folgt, nur die Sukzession abzulesen, etwa auch, dass die vorangehende Sache die folgende (partiell) bedingt und regelhaft mit ihr verbunden ist, aber nicht, dass die vorangehende die folgende (notwendig) verursache und hervorbringe. So behält D. Hume gegenüber I. Kant Recht, der diesen Gedanken ablehnt und an der Sukzessionskausalität oder transitiven Kausalität festhält, die meint, der zeitlich vorangehende Zustand (der ganzen materiellen Welt) sei die vollständige, also auch hervorbringende Ursache für den nachfolgenden Zustand (der ganzen materiellen Welt). Dass I. Kant hierin irrt, beweist schon die Tatsache, dass Kausa­ lität ganz anders gedacht werden kann und historisch auch gedacht wurde, dass also die transitive Kausalität keineswegs – wie er meint – apriori evident ist, sondern bewiesen werden muss. Das unterlässt er und hält dies, weil es sich um ein metaphysisches Problem handelt, für unmöglich. Andererseits behält er gegenüber D. Hume insofern Recht, als die Kausalfrage keineswegs nur ein psychologisches Bedürf­ nis bzw. eine psychologische Gewohnheit zum Ausdruck bringt, son­ dern in der Sache selbst liegt: Wo etwas entsteht, da sagt die Vernunft nicht nur aus Gewohnheit, dass es dafür einen zureichenden Seins­ grund geben müsse, sondern aus der Notwendigkeit der Sachlage heraus. Die Frage ist nur, ob der zureichende, also hervorbringende Seinsgrund im zeitlich vorangehenden Zustand – evtl. auch in der gesamten vorangehenden empirischen Welt – liegt, wie I. Kant und wie die gesamte neuzeitliche Naturwissenschaft meinen, oder nicht. Wer kann diese Frage aufklären? Die Naturwissenschaft meinte, sie sei dafür zuständig. Genau das ist der entscheidende epistemo­ logische Irrtum. Da alle »erotische« empirische Wissenschaft auf Beobachtung, Deskription und Analyse beruht, kann sie nur konditio­ nale und gesetzmäßige Zusammenhänge analysieren und erfassen.499 nicht verifizieren. Philosophisch wurde oben in Abschnitt I. und II. gezeigt, dass es sich anders verhält: Das Frühere kann das Folgende nicht hervorbringen, nur bedingen und mit ihm in gesetzlichen Verhältnissen stehen. 499 Diese Einsicht, dass die Naturwissenschaft nur konditional-gesetzliche Verhält­ nisse, nicht aber Ursache-Wirkungszusammenhänge erfasst, drückt sich im HempelOppenheim-Modell aus. Schon G. Berkeley, D. Hume und E. Mach, später B. Russell u. a. erkannten diesen Fehlschluss der Naturwissenschaft, der bei vielen Philosophen zu finden ist, die den transeunten Kausalbegriff ungeprüft voraussetzen. Vgl. dazu die differenzierte Kritik H. Schnädelbachs (2013, 143ff.).

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IV. Natur und Leiden

So kann sie z. B. feststellen, dass ein Apfel vom Baum fällt, dass es dafür gewisse Vorbedingungen gab, etwa die Reifung der Frucht, die Jahreszeit, den Windeinfluss usw., und dass der Bewegungsablauf in bestimmter, konstanter und wiederholbarer Weise, also gesetzmäßig erfolgt. Keineswegs kann die Naturwissenschaft die Fragen beantwor­ ten, warum überhaupt der Apfel fällt und warum das Gesetz, das sich als Gravitationsgesetz beschreiben lässt, überhaupt gilt und so gilt, wie es gilt. Mehr noch, sie kann nicht einmal erweisen, dass das Gesetz notwendig und allgemein gilt, sondern kann nur hypothetisch annehmen, dass es überall im Universum anzutreffen ist. Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, heißt das keineswegs, das müsse notwendig so sein. I. Kant glaubte dies, führte es allerdings auf die menschlichen Denkformen zurück, meinte also, die Vernunft müsse das notwendig so denken, gleichgültig wie es sich in der objektiven Realität verhalte. Das ist keineswegs der Fall, denn man kann sehr wohl denken, dass die Naturgesetze nur frei gewählte oder willkürlich oder zufällig entstandene Regeln sind, die nicht gelten oder ganz anders beschaffen sein könnten. Damit ist klar, dass die Naturwissenschaft wesenhaft nicht in der Lage ist, die Kausalfrage zu klären: Wer oder was dasjenige, was entsteht, hervorbringt, kann sie naturgemäß nicht feststellen, sie kann nur beschreiben, worin dies geschieht, das heißt unter welchen empirischen Bedingungen (causa conditionalis), und wie, das heißt nach welchen empirischen Gesetzmäßigkeiten (causa regularis).500 Um das noch klarer zu machen, sei dies an einem Beispiel veran­ schaulicht: Man nehme an, zwei Kugeln lägen auf einem Billardtisch, von denen die eine so in Bewegung gesetzt wird, dass sie auf die andere, ruhende zuläuft und diese schließlich in einer Weise trifft, dass Letztere in Bewegung gerät. Die Physik kann beschreiben, was hier vorgegangen ist: Sowohl die empirischen Bedingungen als auch die Gesetzmäßigkeit, also das Worin und das Wie des Vorgangs kann sie aufzeigen. Aber kann sie die Frage beantworten, woher 500 In entsprechender Weise definiert C. F. v. Weizsäcker (1954, 55) konsequent: »Kausale Erklärung ist Verknüpfung der Vorgänge durch mathematische Naturgesetze [...] Als Naturgesetz bezeichnen wir eine Struktur des Geschehens, die unter gegebe­ nen Bedingungen immer und überall auftritt.« Damit ist klar, dass die Kausalität der Physiker nur die konditionale und die naturgesetzliche Kausalität meint, also das Worin und Wie eines Geschehens angibt und nicht das wirkende Warum aufklärt. Das kann sie auch nicht, da die wirkende, echt hervorbringende Ursache nicht im Felde der empirischen Beobachtung liegt.

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4.1. Naturgeschehen und Kausalität

der bewegende Impuls letztlich kam und wie der Übergang des Bewe­ gungsimpulses von der einen auf die andere Kugel erfolgte? Kann sie entscheiden, ob die erste Kugel ihren Impuls auf die zweite übertrug oder die zweite den Impuls von der ersten übernahm oder ob beides zugleich stattfand oder nichts davon, sondern eine andere, bislang nicht feststellbare Instanz den Impulsübertrag bewerkstelligte? Sie kann hier offensichtlich keine Entscheidung fällen, da die Art und Weise des Impulsübertrages empirisch nicht darstellbar ist. Sie kann nur sagen: Wenn die eine Kugel die andere anstößt, bewegt sich Letztere so und so weiter – das ist aber nur ein Konditional-, kein Kausalzusammenhang! Dass überhaupt ein Impuls entsteht, dass er übertragen wird und letztlich wie, kann sie nicht aufklären, das bleibt dunkel und ist empirisch nicht entscheidbar. Damit ist klar, dass sie über die »wahre Ursache«, also über den impulshervorbringenden und -übertragenden Grund nichts sagen kann. Die Naturwissenschaft ist dafür nicht geeignet und hat sich hier unwissenderweise eine Kompetenz angemaßt, die ihr nicht zusteht.501 Aus der bisherigen philosophischen Kausalanalyse erhellt, dass die hervorbringende oder generative Ursache von etwas, das entsteht, unmöglich die zeitlich frühere Wirklichkeitskonstellation sein kann. Der Grund war, dass bei entsprechender Annahme die Möglichkeit einer anfangslosen Wechselreihe (regressio in infinitum) impliziert ist. Da eine solche als denk- und seinsunmöglich festgestellt wurde, kann die Kausalität transitiv-sukzessiv nicht erfolgen oder anders: Die Ursache kann weder ganz noch teilweise in ihre Wirkung über­ gehen, sondern befindet sich gegenüber ihrer Wirkung in einem prinzipiell anderen Seinsrang. Danach ist die Ursache niemals nur endlich möglich, sondern entweder mindestens potentialunendlich, also zwar zeitlich wirkend, aber unerschöpflich, überendlich, jedoch nicht aktualunendlich oder sie ist aktualunendlich-zeitlos. Andere als diese zwei Klassen von Ursachen, »Kräften« bzw. Wirkgründen sind nicht möglich, woraus folgt, dass die realen Wirkgründe der Natur nicht endliche Energien oder Konstellationen, erst recht nicht bloße Bedingungen und Gesetze, sondern als schaffende Kräfte schöpferische, freie, geistige und damit empirisch verborgene und unzugängliche Wesenheiten sind. Nur im Falle des eigenen Ichs ist 501 Siehe N. Hartmann (1933, 310): »Denn hier liegt die Grenze des Mathematischen. Keine Naturwissenschaft kann sagen, was Raum oder Zeit ist, was Energie, was Wirken und Bewirktwerden ist.«

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der menschlichen Wahrnehmung eine real wirkende, schaffende und echt hervorbringende Ursache direkt – nämlich im Selbsterleben – zugänglich, im Falle der Natur sind die entsprechenden Wirkkräfte aus dem empirischen Wirkungszusammenhang entweder ausdrucks­ haft zu »erschauen« oder nur logisch zu erschließen.502 Und da wurde deutlich, dass diese Wirkkräfte naturwirksame, durchsetzungsfähige und machtvolle Wesenheiten, sprich geistig-kraftvoller Art sein müs­ sen, die den Kosmos als ihr Werk sukzessive aufbauen, umbauen und abbauen. Wie sie das tun, mit welchem Sinn und zu welchem Zweck, kann nur mehr empirisch aus dem realen Naturaufbau erkannt werden – darauf soll in den nächsten Kapiteln eingegangen werden.

4.2. Das gebrochene Weltbild der Neuzeit503 Wenn man die europäische Neuzeit den Epochen des Mittelalters und des Altertums gegenüberstellt, dann fällt als bezeichnendes Charakteristikum die fundamentale Verschiedenheit ihrer Weltan­ schauungen auf: Während das Weltbild von Mittelalter und Altertum insgesamt einheitlich ist, zerfällt das Weltbild der Neuzeit in zwei anscheinend unvereinbare Teile. Auf der einen Seite steht das zwar naive, aber nicht auszulöschende Weltbild des Alltagsmenschen, das selbst der kritische Wissenschaftler, wenn er mit seiner sinnlichen Lebenswelt praktisch umgeht, als gegeben hinnimmt. Diese Welt ist bewegt, bunt, farbig, tönt, duftet, schmeckt, ist leicht und schwer, hart und weich, hell und dunkel, hat lebendige, ausdrucksvolle Gestalten, wird von sinnreichen Zusammenhängen durchzogen und offenbart immer neues Leben, scheint endlos schöpferisch zu sein und lebt aus dem leib-seelischen und geistigen Austausch. Auf der anderen Seite hat sich die neuzeitliche Wissenschaft ein Bild von der Welt gemacht, Was da vom Menschen erlebt wird, eben sein Kraft- und Wirkwesen, kann nur als selbständig, d. h. substanzial, gedacht werden. Insofern wird einzig hier ein »Ding an sich« im Kantischen Sinne erfahrbar. Oder anders: Phänomen und Ding an sich sind in diesem Falle identisch. 503 Zum Thema vgl. die bedeutsamen Aufsätze von A. Portmann (1964, 7–47: Welterleben und Weltwissen), sowie ders. (1964, 51–66: Naturauffassung und Men­ schenbild); vgl. B. v. Brandenstein (1957, 127–132: Die zwei Bilder der Außenwelt und ihre sachliche Wohlverbundenheit, in: Vom Sinn der Philosophie und ihrer Geschichte), sowie ders. (1976, 92–96: Das Problem der Sinnesqualitäten, in: Logik und Ontologie); ders. (1979c, 79-85). 502

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4.2. Das gebrochene Weltbild der Neuzeit

in dem alles farblos und grau, stumm und tonlos, ohne Sinn und Zweck, ein fast gespenstisch anmutender gigantischer Energiestrom ist, der durch Naturgesetze, die mathematisch fassbar und formulier­ bar sind – angeblich wie ein Uhrwerk, wie eine Maschine oder/und wie ein Zufallsgenerator –, in eherne Bahnen gezwungen wird, die keine Rücksicht auf den Menschen nehmen und ihm das Gefühl der Verlorenheit und unheimlichen Fremdheit in einem kalten, wüsten und sinnlosen All vermitteln. Neuzeitliche Denker von B. Pascal über die französischen Materialisten, F. Nietzsche bis B. Russell, A. Camus, J. Monod, J.-P. Sartre, M. Heidegger, H. Blumenberg und H. Jonas bringen dieses »nihilistische« Lebensgefühl beredt zum Ausdruck.504 Das Aufkommen dieses Dualismus zweier anscheinend dispara­ ter Weltbilder war kultur- und wissenschaftsgeschichtlich unvermeid­ lich und verdankt sich der Energetisierung und Mathematisierung, also der Verwissenschaftlichung der neuzeitlichen Weltauffassung. Möglich wurde dies, weil einerseits die Welt ein dynamisches und zugleich mathematisch hochstrukturiertes, keineswegs ein – wie noch Antike und Mittelalter dachten – statisches Gebilde ist, zum anderen, weil der menschliche Geist im Unterschied zum tierischen Bewusst­ sein abstrahieren, verallgemeinern, induzieren und deduzieren kann und damit in der Lage ist, mathematische Strukturen aus der Welt herauszusehen, von der Welt zu trennen und für sich selbst, also unabhängig von weiterer Erfahrung, zu behandeln.505 Die praktische Anwendbarkeit der so gewonnenen abstrakten Erkenntnisse erwies sich als so erfolgreich, dass erstens die Idee aufkam, der Mensch könne die Natur vollständig beherrschen, und zweitens der Drang entstand, das alltäglich-lebensweltliche Weltbild der »bunten, gestal­ ten- und sinnreichen Sinne« als bloß subjektive und wissenschaftlich belanglose Erscheinung in den Hintergrund zu schieben. Da aber die sinnliche Welt nie ganz auszuschalten ist, denn niemand lebt in einer rein mathematischen Welt, standen Naturwissenschaft und Philosophie vor einem Problem, das sie bis heute nicht zu lösen ver­ mochten und das ein geistiges Skandalon darstellt, das ein peinliches 504 H. Blumenberg (1988) und H. Jonas (1997, 345–372) arbeiten die kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergründe dieser Epochenwende, einerseits die kosmischreligiösen Verlusterfahrungen an antiker und mittelalterlicher Geborgenheit und (autoritäter) Sinnstiftung, andererseits den Leib-Seele- und Geist-Welt-Dualismus des mechanistischen Weltbildes der Neuzeit heraus. 505 Im erkenntnistheoretischen Abschnitt sprach ich unter 1.12.5 vom »sekundä­ ren Apriori«.

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intellektuelles Unvermögen des neuzeitlichen Menschen offenbart und ein tief wühlendes Unbehagen erzeugt.506 Betrachtet man die klassischen modernen Lösungsversuche, etwa die von J. Locke und I. Kant, so imponiert eine große Hilflosigkeit und Künstlichkeit gegenüber dem Problem. J. Locke führte die in der Renaissance einsetzende Spaltung der Weltbilder weiter und fixierte sie, indem er die mathematische Seite der Wirklichkeit als primäre Welteigenschaften bezeichnete und der objektiven Naturwirklichkeit zusprach und die sinnliche Seite der Naturerfahrung als sekundäre Qualitäten bezeichnete und dem Subjekt und seiner »inneren Subjek­ tivität« zuschob.507 Noch weiter ging I. Kant, der auch die primären Qualitäten, also die mathematischen und logischen Seiten der Wirk­ lichkeit – in seiner Begrifflichkeit die Formen der Anschauung, Raum und Zeit, außerdem die Kategorien des Verstandes (vor allem Sub­ stanzialität und Kausalität) – ganz von der Naturwirklichkeit trennte, allein dem »transzendentalen« Subjekt zuordnete und die »Außen­ welt«, also die reale Naturwirklichkeit für unerkennbar erklärte. Hier war alles, was von der Natur gewusst werden kann, »subjektive Kon­ struktion« geworden, ein Prozess, der von J. G. Fichte (1762–1814) konsequent zu Ende geführt wurde, indem er sagte: Wenn das »Ding an sich« und damit die reale Welt, wie I. Kant meint, unerkennbar ist, dann kann man auch nicht wissen, dass es existiert – und also lässt man dieses »Ding an sich selbst« am besten fallen.508 Und in der Tat ist I. Kants Position selbstwidersprüchlich, lehrt er doch, dass das Ding an sich die Sinne affiziere und die Sinnesqualitäten, allerdings auf rätselhafte Weise, verursache – und also lehrt er, dass das Ding an sich immerhin in seiner prinzipiellen Existenz und des Weiteren in seiner Affizierungskausalität erkennbar sei. Dann dürfte er es aber nicht für unerkennbar erklären. So aber wurden Natur und Welt zu gespenstisch-unheimlichen, im Menschen eine psychotische Weltangst auslösenden Schemen.509 Warum I. Kant den Weg J. G. Fichtes nicht mitging, liegt auf der Hand: Als Realist war er zu nüchtern, um einen so radikal Vgl. Das Unbehagen in der Modernität von L. B. Berger (1987) und das berühmte Buch S. Freuds (1970), Das Unbehagen in der Kultur. 507 Die Ebene dieser »inneren Subjektivität« ist bei J. Locke wohl das Bewusstsein. Es ist aber auch möglich, die Sinnesqualitäten, wie das T. Fuchs (2017, 50–59) tut, als Produkt des Leibes zu deuten. 508 Vgl. J. G. Fichte (1979, 198). 509 So z. B. bei Heinrich von Kleist. 506

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4.2. Das gebrochene Weltbild der Neuzeit

idealistischen, letztendlich solipsistischen Weg zu beschreiten. Wenn es nämlich wirklich zuträfe, dass mein Ich – allerdings nicht das empirische, sondern das transzendental-unbewusste – die ganze sinnliche Welt in mente erzeugen würde, dann gäbe es außer mir nichts, ich wäre in mir eingeschlossen und mit mir selbst allein; Kommunikation mit Anderen wäre nicht nur nicht möglich, sondern überflüssig. Ich wäre der Schöpfer der ganzen, so ungeheuer reichen und tief geordneten, aber auch rätselhaften und undurchschaubaren Welt. Wenn heutige Neurobiologen wieder solch einen radikalen Konstruktivismus predigen, merken sie nicht, in welches Dilemma sie geraten: in den Widersinn des ontologischen Idealismus bzw. des erkenntnistheoretischen Solipsismus (solus ipse = das Selbst allein), der zugleich Intersubjektivität ausschließt und beansprucht. Wer aber hat nun Recht: J. Locke oder I. Kant oder keiner von beiden? Das erste, was festzuhalten ist, ist das sinnliche Wahrnehmungs­ zeugnis selbst in seiner unmittelbaren, sich aufdrängenden Phänome­ nalität: Dieses spricht von einer selbständigen, »objektiven« bzw. intersubjektiven Welt mit objektiven, an den Dingen selbst bestehen­ den Eigenschaften, etwa den Sinnesqualitäten, den räumlich-zeitlichmengenhaften Gestaltaspekten, den Bewegungsenergien und den sachlogischen Zusammenhangsstrukturen. Diesem Zeugnis gemäß erlebt der Mensch die physische Welt als farbig, duftig, schwer, leicht, tönend, schmeckend, als bewegt und geordnet, auch sinnesqualitativ hochgeordnet, weiter als zeiträumlich strukturiert und von begrifflich erfassbaren, formhaften Wesenszusammenhängen durchzogen, so dass sie technisch und praktisch erfolgreich behandelt und bewältigt werden kann. Damit zusammenhängend, ist zweitens anzumerken: So auto­ nom die Mathematisierung der Welt sein mag, sie geht stets von der sinnlichen Welt aus, setzt diese voraus und bezieht sich, wenn sie praktisch wird, wie etwa in Experiment und Technik, auf diese sinnlich-sinnreiche Welt zurück. Niemals kann sie sich davon lösen, und jeder Versuch, das zu tun, muss scheitern.510 Drittens ist zu sagen, dass der Mensch die mathematischen Ausgangsdaten, vor allem die Naturgesetze mittels der Sinneswahr­ nehmung aus der sinnlich-realen Welt und keineswegs rein apriorisch gewinnt. I. Kants Behauptung, die Naturgesetze seien letztlich aprio­ 510 So lautet die Hauptargumentation bei E. Husserl (1977, EA 1935) in seiner späten Krisis-Schrift.

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rische Produkte des Geistes, ist schon rein empirisch nicht zu halten. Wohl kann der Forscher, wenn er die mathematisch-quantitative Seite von der sinnlichen Seite der Wirklichkeit abgelesen hat, selbige Seite unabhängig von der Empirie weiter behandeln und gleichsam sekundär-apriorisch nach rein mathematisch immanenten Regeln kombinieren und konstruieren, doch zum einen kann er das nicht primär, zum anderen muss er die von der Naturwirklichkeit abgenom­ menen und dann unabhängig konstruierten Mathematisierungen, um ihren Wahrheitsgehalt bezüglich der physikalischen Gegebenheiten zu bestimmen, wieder an die sinnlich-reale Welt zurückbinden und dort überprüfen. Ein primäres Erkenntnis-Apriori der Naturgesetze, wie es I. Kant für möglich hielt, ist eine Fiktion. Viertens beweist eine unvoreingenommene Phänomenologie der sinnlichen Erfahrung, dass die mathematisch-logisch-energeti­ schen Seiten der Naturwirklichkeit keineswegs, wie J. Locke meint, primär sind, sondern mit und an den sinnlichen Qualitäten erschei­ nen. Primär sind also, wenigstens phänomenologisch, die Sinnesqua­ litäten, sie geben der Wahrnehmung z. B. die geometrischen und zeitlichen Aspekte der empirischen Wirklichkeit: Verschwinden die Sinnesqualitäten bzw. sind nicht verfügbar wie etwa bei einem blind Geborenen die Farben, so verschwinden auch alle daran »hängenden« mathematisch-logischen Zusammenhänge. Es sind demnach die Sin­ nesqualitäten, die der Wahrnehmung die mathematisch-quantitative Seite der Wirklichkeit vermitteln; sie sind »primär«. Damit fällt fünftens die Theorie, wonach im Wahrnehmungspro­ zess die »primären Qualitäten« der quantitativen Naturbestimmun­ gen angeblich durch irgendeinen rätselhaften, bisher nicht gefunde­ nen Apparat, etwa im Nervensystem, in die sekundären Qualitäten der Sinne (Farben, Töne, Düfte etc.) transformiert würden. Es ist unverständlich, wie das gehen soll, da jener rätselhafte Apparat gemäß der Voraussetzung selbst ein Gebilde der Natur und damit ausschließ­ lich mathematisch-energetisch strukturiert wäre. Wie aber soll rein Mathematisch-Energetisches all die vielen Farben, Töne etc. hervor­ bringen? Und wie soll jener Apparat in unglaublich feiner und stabiler Weise Mathematisches und Sinnesqualitatives einander zuordnen, so streng und zuverlässig, dass der Mensch praktisch erfolgreich in die Welt eingreift und sie gestalten kann, z. B. dadurch, dass eine Rakete auf den Mond geschossen wird? Da dieser Apparat nur als Teil des Zentralnervensystems gedacht werden kann, wäre er außerdem dem Alterungsprozess unterworfen und müsste Instabilitäten in jener

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4.2. Das gebrochene Weltbild der Neuzeit

Zuordnung von Quantität und Qualität aufweisen. Das ist aber nicht der Fall. Zur wissenschaftstheoretischen Infragestellung dieses Theorems genügt es, dass dieser Transformationsapparat bisher nie gefunden wurde und Qualität und Quantität immer zusammen und ineins auftreten. Kurzum: Die mathematische Welt wird durch den Leib nicht in die sinnliche Welt transformiert, sondern sie wird mit dieser mitgegeben, beide Welten bilden demnach eine innigste Einheit, so dass man sagen darf: Es gibt keine sinnlichen Qualitäten ohne Raum­ zeitstrukturen, und es gibt keine Raumzeitstrukturen ohne sinnliche Qualitäten. Eine Farbe ist mindestens zweidimensional ausgedehnt, ein Ton zeitlich-eindimensional, eine Druckempfindung zugleich dynamisch-zeitlich und dreidimensional bestimmt. Umgekehrt gibt es keine unsinnliche Räumlichkeit oder Zeitlichkeit, jedenfalls primär nicht, sondern zuerst sind auch sie sinnlich »durchtränkt«, sind etwa farbig ausgedehnt und klingen in der Zeit. Sechstens wird behauptet, die sinnlichen Qualitäten seien rein subjektiv und unterlägen der Irrtumsmöglichkeit, während die mathematischen Qualitäten wie Bewegung, Energie, Raum, Zeit, Zahlenmäßigkeit objektiv und irrtumsfrei seien. Das ist nachweislich falsch. Sinnestäuschungen gibt es in beiden Bereichen, und objek­ tiv sind beide insofern, als sie als Eigenschaften der realen Welt erscheinen, wie sie beide insofern subjektiv sind, als sie vom wahr­ nehmenden Subjekt aktiv aufgenommen und nachgestaltet werden. Die Lockesche Trennung erweist sich, da sie auf ungenauer Beobach­ tung und inkonsequenter Schlussfolgerung beruht, als künstlich und unhaltbar. Entweder man macht es wie I. Kant und J. G. Fichte und reduziert die gesamte Weltwahrnehmung mit allen ihren sinnlichen, energetischen, logischen und mathematischen Aspekten auf die spon­ tane Produktivität des Subjektes (mit der Folge des ontologischen Idealismus und erkenntnistheoretischen Solipsismus), so dass von der Welt nichts mehr übrig bleibt, auch kein unerkennbares Ding an sich, oder man vertraut der lebensweltlichen Weltwahrnehmung und gibt zu, dass sie realitätsverbunden, damit auch praxisrelevant ist und wenigstens in Annäherung ein ganzheitliches und differenziertes Bild von der Natur widerspiegelt, ein Bild, zu dem die Sinnesqualitä­ ten, die Energiequanten, die logischen Beziehungsgefüge und die mathematischen, also geometrisch-räumlichen, arithmetischen und zeitlich-rhythmischen Aspekte gehören.

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Tut man dies – wie neuerdings M. Gabriel mit seinem »neuen Realismus« -, fällt siebtens das lebensspaltende, bei R. Descartes klassisch formulierte Diktum, wonach die sinnliche Erscheinungswelt subjektiv, innerlich (seelisch) und sinnhaft, die reale Welt objektiv, äußerlich und sinnlos (mechanisch) sei. Diese Behauptung ist unbe­ gründet und scheitert an der Einsicht, dass die Welt, selbst wenn sie nur aus Energien und mathematischen Strukturen bestünde, im höchsten Grad geordnet, also geistig und damit sinnhaft gestaltet ist. Gehören doch gerade die mathematischen Bestimmungen der Wirklichkeit, wie Pythagoras und Platon sahen, zu den sinntiefsten und sinnreichsten Strukturen des Seins. Man bedenke in dieser Hinsicht nur den ungeheuer intelligenten, komplexen, sinnvollen und elegant-schönen Aufbau des Atomkerns mit seinen Quarks und Gluonen, um zu begreifen, wie absurd es ist, diesen Aufbau als sinnund geistlos zu bezeichnen. Wäre all dies sinnlos, fragte sich, wie das offensichtlich sinnverbundene Wahrnehmen und Denken des Men­ schen solche Strukturen und Zusammenhänge überhaupt erkennen und darauf die eigene Wissenschafts- und Kulturwelt aufbauen kann? Dass der Mensch von der Welt wissen kann, vor allem, dass er in der Welt handeln und sich mittels der Weltdinge wie über ein Medium kommunikativ austauschen kann, setzt logisch notwendig voraus, dass das Wahrnehmen und Denken, vor allem in Form des Ausdrucks­ verhaltens und der Sprache mit der Weltstruktur kompatibel ist, also philosophisch gesprochen, wie etwa N. Hartmann und B. v. Branden­ stein betonen, unter denselben logisch-ontologischen Grundkategorien steht. Weder richtet sich das Denken nur nach den Dingen, wie die Sensualisten und Positivisten meinen, noch richten sich die Dinge nur nach dem Denken, wie I. Kant, alle Konstruktivisten und Idealisten meinen, sondern beide – Wahrnehmen, Denken und Welt – teilen dieselben Grundstrukturen des Seins, seine qualitative Bestimmtheit und Fülle, seine Zeitlichkeit und Räumlichkeit, seine Quantifizierbar­ keit, die logische Kohärenz und Konsistenz und seine dynamische, auf agierende Kräfte weisende, von Energien ermöglichte Bewegtheit. Anders wäre eine Begegnung von Denken und Welt und wäre damit Kommunikation von Denken zu Denken unmöglich. Hier liegt denn auch die große Berechtigung des Pragmatismus. Die Spaltung der Welt in eine subjektiv-sinnliche und in eine objektiv-räumlich-zeitlich-energetische Halbwelt geht demnach nicht an. So wie die subjektive Erscheinungswelt raum-zeitlich struk­ turiert ist, so ist anzunehmen, dass auch die objektiv-reale Welt

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4.2. Das gebrochene Weltbild der Neuzeit

qualitativ bestimmt ist. Wenn man, wie heute üblich, die Kausie­ rung der Sinnesqualitäten dem Leib bzw. dem Gehirn zuordnet, gewinnt man nichts gegenüber dem Wahrnehmungserlebnis, das besagt, dass die objektive Welt auch qualitativ, also etwa farbig etc., mitbestimmt ist.511 Im Gegenteil, die Sachlage kompliziert sich bis zum Widersinn, da man gezwungen ist, einen letztlich physischen und damit nur quantitativ-energetisch bestimmten Apparat anzuneh­ men, der auf geheimnisvolle Weise Qualia hervorbringt. Hat man durch eine ontologische Analyse – vor allem des qualitativen Seins – erkannt, dass alle Wirklichkeit aus qualitativen, formal-logischen und mathematischen Aspekten komponiert ist, erhellt, dass die objektiv physische Realität nicht qualitätslos sein kann. Denn wo nichts ist, was räumlich und zeitlich ausgedehnt ist, da sind auch kein Raum und keine Zeit. Man braucht also einen Gehalt, eine Qualität, die Raum und Zeit füllt. Was eignet sich dazu besser als das Qualitative, das in der Sinneswahrnehmung an den Dingen als Qualia erlebt wird, verbunden mit den qualitativen Energien des Weltalls, die durch reale physische Wechselwirkung, sei es im Welthandeln, sei es im Experiment, erfahren werden? Dies bedeutet jedoch nicht, dass in der Sinneswahrnehmung die Welt nur passiv und 1 zu 1 abgebildet wird. Zweifellos gestalten Organismus und Psyche die Wahrnehmung aktiv mit, und zweifellos greifen sie zuweilen »plastizierend« ein, etwa, wenn der optische Wahrnehmungsapparat in einer Zimmerecke eine schattige Kante produziert, die physikalisch erweisbar dort nicht besteht, oder zwei parallele Eisenbahnlinien aufeinanderzulaufen sieht oder die Angst eines Kindes im Wald bedrohliche Gestalten wahrnimmt. Aber gerade die scheinbar willkürlich-subjektive Aktivität des ersten Beispiels beweist die Existenz einer selbständigen und qualitativ bestimmten Welt. Denn diese »Sinnestäuschung«, die der optische Apparat pro­ Wäre der Leib die Primärursache der weltbezogenen Sinnesqualitäten (Farben, Töne, Düfte etc.), würde das Wahrnehmungserlebnis erstens »ganz unphänomeno­ logisch« und ohne Grund als Täuschung abgestempelt, eben weil dies von der »Weltständigkeit« bzw. der Objektivität der Sinnesqualitäten spricht; zweitens würde eine sinnliche Realität, die der Leib in sich als Empfindniseinheit ist, zur Ursache von Sinnesqualitäten, was in einen selbstwidersprüchlichen Regressus in infinitum führt; und drittens müsste angenommen werden, dass der Leib, der selbst auch ein »physisches Ding der Welt« ist, die unterstelltermaßen völlig qualitätslose Realität in nicht nur leibliche, sondern auch bewusstseinsmäßig erlebbare Qualitäten wie Farben etc. umsetzt, was einer »Zauberei« gleichkommt und nur ein Rätsel durch ein anderes ersetzt. 511

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IV. Natur und Leiden

duziert, hat insofern einen tieferen Sinn, als sie die bessere Orien­ tierung des Organismus im Raum ermöglicht bzw., wie im zweiten Beispiel, Raumerfahrung überhaupt möglich macht. Wie sollte das aber gelingen, wenn es entweder keine selbständige physische Wirk­ lichkeit gäbe oder eine physische Wirklichkeit ohne Raum- und Zeitbestimmung oder eine Realität, die nur aus reiner Geometrie bestünde und weder Kanten noch Farben noch Schatten aufwiese? Wäre dem so und hätte J. Locke mit seinem Subjektivismus der Sinnesqualitäten Recht, fiele dieses Diktum auch auf den Leib zurück, der doch wohl ein »Weltding« ist, und machte aus ihm ein qualitäts­ loses, also farbloses, tonloses, letztlich »fleischloses« mathematisches Raumgebilde. Die Menschen befänden sich dann in einer qualitativen Scheinwelt und kommunizierten, was direkt selbstwidersprüchlich ist, über eine rein quantitative, qualitätslos-sinnlose Raumzeitwirk­ lichkeit ihre qualitativen und sinnbestimmten Innenwelten, von de­ nen man gleichzeitig annimmt, sie seien die sinnreichen Produkte der sinnlosen Energien und Naturgesetze. Das mutet nicht sehr konsis­ tent und kohärent an und muss vor dem Gerichtshof der Vernunft als »theoretische Chimäre« verworfen werden. Die Neuzeit hat das Weltbild außerordentlich bereichert, präzi­ siert und vertieft; sie hat sich von autoritären Sinnvorgaben befreit und hat vor allem die Menschenwürde entdeckt. Sie hat das Weltbild aber auch gespalten, und bis zum heutigen Tag gelingt ihr nicht die heilsame Synthese. Recht betrachtet, lässt sich das Sein der Welt nicht als fundamental gespalten, disparat und inkompatibel denken, eine solche Philosophie, die im Rahmen der Naturwissenschaft einen Wahrheitsanspruch hegt, hebt sich selbst auf. Die Welt ist eine Einheit, umfänglich wie strukturell, und der Mensch fällt aus ihr nicht prinzipiell heraus, auch nicht mit seinem Selbstbewusstsein, seinem Denken und seinem Leib. Im Gegenteil entwickelt er sowohl seine leiblichen als auch seine geistigen Fähigkeiten in der Welt und bildet sie in Wechselwirkung und Auseinandersetzung mit der Welt aus. Dieser Gedanke, den heute mit Nachdruck die Naturalisten der biologischen Erkenntnistheorie vertreten, ergibt nur Sinn, wenn eine »Berührung« zwischen Erleben und Welt, Denken und Natur möglich ist, eine Berührung, die impliziert, dass die Grundstrukturen beider Bereiche kompatibel sind und »ausgetauscht« werden können, und zwar nicht nur die mathematischen Eigenschaften, sondern auch

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4.3. Das Problem des Seelisch-Geistigen

die qualitativen, logischen und dynamisch-energetischen.512 Mehr noch: Wie eine neue realistische Metaphysik zeigen kann, befinden sich Mensch und Welt in einem gemeinsamen Sinnhorizont, der die Fremdheiten, Bedrohungen und Brüche zwar nicht zum Verschwin­ den bringt, aber auf eine höhere Sinnebene hebt, wo sie fruchtbar gemacht werden können. Wären beide Welten ontologisch bzw. seinsstrukturell völlig disparat, wie R. Descartes, J. Locke und I. Kant meinen, hätten sie sich nicht mit- und aneinander entwickeln und nicht aufeinander so fein – bei allen sonstigen Diskrepanzen – abstimmen können, wie sie es tun, und der Mensch wäre ein sehender Blindgänger in einer Welt, die diesen Sehenden blind hervorbrachte.

4.3. Das Problem des Seelisch-Geistigen und das Leiden in der vormenschlichen Natur »Es wäre denkbar, dass die Natur das Erzeugnis eines unbegreiflichen Einverständnisses unendlich verschiedener Wesen ist, das wunderbare Band der Geisterwelt, der Vereinigungs- und Berührungspunkt unzäh­ liger Wesen.« (Novalis, 1983, 40)

Die moderne Naturwissenschaft, einschließlich der Biologie, betrach­ tet das Naturgeschehen wesentlich von außen und führt die reiche Gestaltenbildung anorganischer und organischer Prozesse auf Zufall und Gesetz, im Fall der Organismen auf Mutation und Selektion zurück.513 Innere gestaltbildende oder geistige Faktoren lehnt sie als un- und vorwissenschaftlich ab. Dagegen spricht jedoch nicht nur der Augenschein, dagegen spricht auch eine tiefere Besinnung auf die Vgl. etwa R. Riedl (1987). Eine Ausnahme bildet der Biologe A. Weber (2007), der in seinem Buch Alles fühlt den Seelenausdruck, das Empfinden und die Gegenseitigkeit alles Lebendigen in der direkten intuitiven Begegnung mit dem Lebendigen, aber auch wissenschaftlich diskursiv zu begründen sucht. Er stützt sich dabei u. a. auf das von L. Margulis entdeckte, in der Natur weit verbreitete Phänomen der Lebenssymbiose verschiede­ ner Arten. Metaphysisch betrachtet, vertritt er eine Art modernen Aristotelismus, der den Grund bzw. die Ursache eines Lebewesens nicht in äußerem Zufall und starrer Mechanik, sondern in einem immanenten schöpferischen Prinzip sieht, das den Organismus – ja alle Naturgebilde – von innen heraus belebt und entfaltet: »Ökosysteme sind Liebesprozesse«. G. W. Leibniz und F. W. J. Schelling hatten eine ähnliche Naturphilosophie vertreten. 512

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IV. Natur und Leiden

Frage, was Zufall und Gesetz ihrem Wesen nach sind und was sie zu leisten vermögen. Die Klärung der Kausalitätsproblematik zeigte, dass Gesetze zur Erklärung der Seinsdynamik und Seinsordnung nicht hinreichen; und dass am Ende der Zufall all dies leisten soll, mutet schon auf den ersten Blick unglaubwürdig an. Darauf komme ich in den nächsten Kapiteln zurück. Gegen das moderne, letztlich mechanistische Bild von der Natur sprechen die luzide Ordnung, der Phantasiereichtum, der seelische Ausdruck, die mentalen Vorgänge und die intersub­ jektive Kommunikation, die schon bei vormenschlichen Lebewesen beobachtet werden können, nicht zuletzt der Ausdruck von Affekten und Gefühlen – von Schmerz und Lust, Angst und Mut, Trauer und Freude, Qual, Sehnsucht, Ärger, Neid, Hilflosigkeit, Scham und Verzweiflung, Güte und Liebe. Die gesamte Bandbreite des Leidens deutet sich hier an.514 Wenn die Wesensanalyse des Leidens, wie bisher entwickelt, zutrifft, dann impliziert das vormenschliche Ausdrucksgeschehen notwendig die volle Existenz eines Subjektes, also eines selbsttätigen Prinzips im zweiten Seinsrang. Da sich im Tier die Subjektivität nicht bis zur Selbstreflexion erhebt bzw. – etwa bei Schimpansen und Ra­ benvögeln – nur andeutet, wird den Lebewesen von der Wissenschaft das Subjektsein im vollen Sinne eher abgesprochen. Man hält sie für unreflektierte und unfreie Exemplare ihrer Gattung. Wie aber soll man sich ein subjektives, d. h. selbsttätiges, Prinzip denken, das unfrei und ohne Selbstbezug ist? Das ist erweisbar inkonsistent, weswegen sich die Frage, wie das Seelische im Tier zu denken sei, erneut auf­ drängt und eine andere als die klassische Lösung verlangt. Die Psyche des Tieres nur als »halbe oder bewusstlose Subjektivität«, »Psychoid« oder als mehr oder weniger geglückte Vorstufe des Menschen zu fassen, befriedigt nicht und widerspricht dem Wesen von Subjektivität und Psychizität überhaupt.

514 Gerade in diesen psychischen Ausdrucksphänomenen liegt ein weiteres Argument gegen den Pantheismus bzw. gegen die These, Gott selbst bewirke unmittelbar und ausschließlich die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten: Wäre dem so, müsste man die Affekte des Schmerzes, der Wut, der Angst, der Trauer, der Scham, der Gier usw., die vormenschlich angetroffen werden, Gott selbst zusprechen, was absurd ist. Da auch G. W. Leibniz (1967, 235, Kap. 134) in seiner Theodizee meinte, die Naturgesetze und die davon bestimmten Naturgebilde seien unmittelbar von Gott verursacht, verstrickt sich seine Theodizee an diesem Punkte in kaum lösbare Schwierigkeiten.

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4.3. Das Problem des Seelisch-Geistigen

Betrachtet man Kunstwerke, Puppenspiele oder, noch zeitge­ mäßer, Kinofilme, wird niemand bestreiten, dass sie echte physischdingliche Weltgebilde sind und zugleich ein reiches und lebendiges Seelengeschehen zum Ausdruck bringen. Und das tun sie, obwohl sie als solche »tot«, unlebendig, bloße Dinge sind. Niemand käme auf die Idee, einem Gemälde von Picasso, einer theatralischen Puppe oder einem Filmstreifen eine echte eigene Seele, ein Ich oder ein eigenstän­ diges subjektives Prinzip zuzuschreiben. Das Seelische drückt sich in ihnen nur aus, lebt durch sie hindurch, aber lebt nicht als solches in ihnen. So sehr man Picasso in seinen Werken erkennen mag, stellen sie doch nur Medien seiner Ichheit dar. Diese selbst ist nur in seinem Leib inkarniert, nicht in den Werken. Doch auch im Leib ist der Mensch, wie bereits gezeigt, nie total inkarniert, das beweisen die Gedächtnisforschungen, die zeigen, dass zwar im »Unbewussten« des Menschen alles jemals Erlebte aufbewahrt und ständig – zumeist realitätsgerecht – umgestaltet wird, aber dem bewussten Ich nicht voll verfügbar ist, sondern unwillkürlich und in begrenztem, dadurch sinnvollem Ausmaß »zufließt«. Wäre alles jemals Erlebte simultan im Bewusstsein präsent, würde der Organismus überfordert und desintegrieren. In manchen Psychosen manifestieren sich solche Überflutungszustände des Unbewussten und stürzen den Betroffenen in Selbst- und Weltverlust. Es gibt demnach ein lebensdienliches Vergessen und Verdrängen, was beweist, dass die totale Inkarnation des seelisch-geistigen Lebens mit der leiblichen Existenz nicht vereinbar ist. Diesem empirischen Tatbestand entspricht die metaphysische Analyse der Subjektivität: Da sich zeigte, dass die Psyche im zweiten, wesentlich unerschöpfli­ chen Seinsrang steht, kann sie im wesenhaft endlichen Leib niemals ganz zur Darstellung kommen. Will man den Lebewesen ein psychi­ sches Prinzip zusprechen, gilt jener Zusammenhang auch von ihnen: Das Seelische kann sich nur partiell in den Organismen offenbaren. Da nun aber den Tieren die letzte subjektive Individualität, eben in Form der freien und selbstbewussten Selbstbestimmung abgeht, kann nur ein vernünftiger Schluss gezogen werden: Das psychische Prinzip ist in den Tieren nicht wie beim Menschen selbst anwesend, sondern drückt sich in ihnen nur aus. Oder anders: In ihren Leibern ist das seelische Prinzip, das subjektive Innesein nicht unmittelbar selbst anwesend, sondern steht gleichsam dahinter und zeigt sich darin nur mittelbar. Wo und wie ist dann das tierische Seelenprinzip zu denken?

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IV. Natur und Leiden

Das Kausalprinzip hat darauf die Antwort gegeben: Jenes dyna­ misch-schöpferische Prinzip, das ein Lebewesen gestaltet, führt und belebt, steht ontologisch »über« dem Organismus und ist diesem gegenüber wesenhaft transzendent. Trifft dies zu, lösen sich die Schwierigkeiten, und man ist nicht genötigt, den hybriden, logisch unmöglichen Begriff einer selbsttätig-unfreien und halbbewusst-re­ flexionsunfähigen Subjektivität zu bilden, sondern erkennt, dass die Subjektivität zwar durch die Lebewesen – wie ein Künstler durch sein Werk – hindurchwirkt, doch nicht in ihnen selbst anwesend ist und daher nicht voll zum Ausdruck kommt. Damit ist erstens die Subjek­ tivität in ihrem Wesen erwiesen und gesichert und bleibt an ihr selbst als tätig-bewusstes Prinzip erhalten; und zweitens erhält man eine stimmige Erklärung für alle Formen unvollständiger Subjektivität im Leben der Pflanzen, Tiere und Menschen: Da sich die Subjektivität grundsätzlich nie vollständig in den Grenzen des Leibes manifestieren kann, auch beim Menschen nicht, sind alle Formen der Offenbarung des Subjektiven bis hin zur Auslöschung des subjektiven Erlebens im Koma möglich. Im Falle der vormenschlichen Lebewesen offenbart sich also nicht das subjektive Prinzip selbst, sondern zeigen sich nur seine »Funktionen«, etwa das Wahrnehmen, Erinnern, Aufmerken, Wün­ schen, Wollen, Sichfreuen usw. in leibhaftiger Gestalt – das in sich freie und vollbewusste Subjekt bleibt verhüllt und verborgen im transzendenten Hintergrund. Dieser Zusammenhang wird durch die Empirie bestätigt: Die Tiere erscheinen eher als unfreie, instinktge­ führte, wenn auch nicht völlig instinktfixierte, sondern oft lernfähige und findige Exemplare ihrer Art bzw. Gattung, deren ganzes Sein apersonal ist und dem Ganzen der Gattung unterworfen ist. Das aber bedeutet, dass die Individuation beim Tier nicht bis zur Aktualisie­ rung der Subjektivität, also der individualen Person gelangt, sondern »gattungsmäßig« bleibt. Dies geht soweit, dass sich ein Lebewesen wie der Wurm, obwohl in zwei Teile zertrennt, sich zu zwei neuen Organismen ergänzt und weiterlebt. Hier anzunehmen, dass ein volles Seelen- bzw. Subjektivitätsprinzip real zweigeteilt würde, ver­ kennt das Wesen desselben. Echte selbständige Eigenaktivität hat ein Zentrum, das wesentlich unteilbar ist. Und ein solches Zentrum besitzt das Tier nicht bzw. drückt es bestenfalls aus. Der Mensch

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4.3. Das Problem des Seelisch-Geistigen

dagegen kann dieses Zentrum in sich erleben, als Ich, als Person, als selbsttätiges, selbstbewusstes und prinzipiell unteilbares Selbst.515 Betrachtet man das Problem des Seelisch-Geistigen in der Natur auf diesem Hintergrund, erscheint die gesamte kosmische Evolution als nichts anderes denn als der sich intensivierende Selbstausdruck subjektiver Geistkräfte in immer komplexer organisierten Weltkörpern, den organismischen Leibern. Dabei kommt in natürlicher Weise jenes Gesetz zum Tragen, wonach in höher organisierten, sprich differen­ zierteren und straffer zusammengefassten Körpern das Prinzip der »Selbstheit«, der Subjektivität immer klarer und reiner durchdringt. Da dieses Prinzip erst im Menschen voll manifest wird und da das Leiden in seiner eigensten Struktur streng an das Wesen der vollen Subjektivität gebunden ist, wird auch erst im Menschen Leiden im echten und vollen, sprich innerlich-selbsthaften Sinne möglich. Tiere drücken Leiden zwar aus, doch sie leiden nicht bzw. leiden nicht direkt, eben weil das Prinzip des Leidens – die selbsthafte Subjektivität – in ihren Leibern nicht anwesend, nicht inkarniert ist. Die wahre creatio patiens, das echte leidende Geschöpf ist der Mensch, er allein. In dieser Sicht wird der Darwinismus einerseits voll bestätigt, andererseits entschieden überwunden. Er hat Recht, wenn er die Reihe der Lebewesen als eine genealogisch sich auseinander ent­ wickelnde Historie betrachtet: Die komplexeren Wesen bauen auf den einfacheren Wesen auf, transformieren und integrieren sie in einem zeitlichen Entwicklungsgang. Doch seine Erklärungsprinzi­ pien, zumal die zufällige Mutation und der umweltbedingte Selek­ tionsdruck, die so genannte »natürliche Zuchtwahl«, können nicht befriedigen. Zwar wirken beide Prinzipien, doch sie reichen nicht hin, den konsequenten, nie abbrechenden, Jahrmillionen überdauernden Aufbau- und Umbauprozess des Lebens (und der vororganischen Welt) verständlich zu machen. Nicht von ungefähr sieht sich der moderne Darwinismus gezwungen, seine Zufallstheorie durch allerlei Zusatzhypothesen einzuschränken, was den Zufall immer »unzufäl­ liger« werden lässt. Doch gerade moderne Genetik und Epigenetik beweisen immer entschiedener, dass die Veränderungen am Erbgut

515 So genannte »Persönlichkeitsspaltungen« können psychologisch und neurobiolo­ gisch erklärt und müssen nicht ontologisiert, d. h. als Vielheit verschiedener Personen gedeutet, werden.

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hochselektiv und organismusspezifisch sind.516 Wenn Bakterien von Antibiotika bedroht werden, dann nimmt ihre genetische Mutations­ rate zu, doch interessanterweise nur an solchen Teilen des Genoms, die nicht im Zusammenhang mit der Struktur, dem Bau und den Lebensfunktionen dieses Einzellers stehen. Offensichtlich versucht dieses Lebewesen, die Wahrscheinlichkeit, ein Antidot gegen das Gift zu finden, zu steigern, ohne seine Gesamtgestalt zu gefährden. Zudem tauschen manche Bakterien das angefertigte Antidot – oft ein Enzym, das die Antibiotika zersetzt – untereinander als so genannte Plasmide gezielt aus. Ist das bloßer Zufall? Experimente dagegen, die die Fruchtfliegen einer Strahlung aussetzen, die mit einer hohen Rate von genetischen Veränderungen einhergeht, erzeugen zwar viele »Mutanten«, doch handelt es sich in allen Fällen um »Krüppel«, Chimären bzw. verstümmelte, unfruchtbare Wesen, die keine wirklich neuen Gestalt- und Funktionseigenschaften im Sinne einer neuen Lebewesenart aufweisen.517

Vgl. B. Kegel (2009). Der Autor zeigt, dass das Wirken der Gene wesentlich vom Gesamtorganismus und seinem Umweltbezug abhängt, also letztlich von sys­ temischen, sei es biologischen, sei es sozialen Sinnbestimmungen »epigenetisch« bzw. durch Verhalten und Symbole »postgenetisch« gestaltet wird. Phänomene wie Parallelmutationen und die so genannte »Pleiotropie« – Kontrolle mehrerer phäno­ typischer Merkmale durch ein Gen – belegen dies schon auf der untersten molekularen Ebene. Die Trennung von Materie und Geist, Leib und Seele, Erklären und Verstehen wird damit hinfällig. Schon die Materie, zumal die biologisch organisierte, ist von seelisch-geistigen Sinnbestimmungen durchsetzt und wird von ihnen geregelt. Vgl. ähnlich E. Jablonka/M. J. Lamb (2017) und P. Spork (2009). 517 Hier wird das Zufallsprinzip, das auf der Gleichwahrscheinlichkeit, damit letztlich auf dem Seinsurprinzip der Gleichheit, also des Fehlens eines Vorzugs beruht, in seinem Wesen offenbar: Die Bestrahlung des Genoms kann unmöglich aufbauend wirken, da sie jeden Fortschritt mit gleicher Wahrscheinlichkeit wieder zerstört, zumal die Weltraumstrahlung unaufhörlich in dichter Weise einwirkt. Da ein Organismus, je komplexer er ist, desto störanfälliger wird, steigt mit seiner Komplexität notwendig die Unzufälligkeit seiner Entstehung, Erhaltung und Weiterentwicklung. Dies bedeutet, dass mit der Evolution das Zufallsprinzip immer unwahrscheinlicher, man muss sagen, unmöglicher wird. Eine blinde und ungezielte Bombardierung des Genoms, das ungeheuer komplex strukturiert ist, kann nur destruktiv wirken – das wäre, als schösse man mit der Pistole in einen Computer mit der Erwartung, dass er dadurch ein neues Programm entwickelte. Bedenkt man schließlich, dass, wie heute klar ist, genetische Veränderungen, die physiognomisch relevant werden, nicht oder nur sehr selten singulär, sondern komplex sind, dass also mehrere Gene zugleich und aufeinander abgestimmt mutieren müssen, damit z. B. ein neues Organ entsteht oder ein altes verbessert wird, wird die Zufallstheorie vollends absurd und sachlich hinfällig. 516

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4.4. Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit

Schließlich sei an das ungeheuer komplexe und präzis funktio­ nierende Reparatursystem erinnert, das Abweichungen im Genom sofort ausmerzt und daher sehr konservativ und veränderungsresistent agiert.518 Hier kommt zweifellos eine »innere Kraft« bzw. ein sinnvoll gestaltender Lebenswille zum Vorschein, ohne den das Leben kaum überleben würde. Abgesehen von diesen empirischen Daten, genügt die philo­ sophische Besinnung auf das Wesen des Zufalls, um die Kausalität des Darwinismus zu widerlegen.519 Aus anderen Blickwinkeln werden auch die folgenden Kapitel die Zufallshypothese der darwinistischen Biologie infrage stellen und eine Alternative anbieten.

4.4. Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit Die Hauptstütze für die Vorherrschaft des neuzeitlichen Kausalitäts­ modells und seiner Vorstellung von der transitiv-deterministischen Ursache-Wirkungskette ist die revolutionäre Entdeckung der Natur­ gesetzlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert. Die Erkenntnis ihrer Rolle im Naturgeschehen war so überwältigend, dass sie fast als göttlich betrachtet wurde und die Frage nach ihrem wirklichen Wesen weit­ gehend verstellte.520 Um diese Selbstverständlichkeit aufzubrechen, 518 Der Konservativismus des genetischen Reparatursystems widerstreitet der Muta­ tionstheorie darwinscher Provinienz insofern, als dieses System nicht vorauswissen kann, ob eine Mutation auf der phänotypischen Ebene einen Vorteil, einen Nachteil oder eine Indifferenz nach sich zieht. Stimmt dies, dann wird es auf der genetischen Ebene unterschiedslos jede angeblich zufällige Mutation rückgängig zu machen ver­ suchen, was eine Weiterentwicklung der Lebewesen verunmöglicht. Oder umgekehrt: Nur wenn es eine Zusatzinformation oder Zusatzregelung im Zellkern gibt, die im Falle einer prospektiv günstigen Mutation die Reparatur hemmt bzw. selegiert, nur dann kann es zur Nutzung des Vorteils auf phänotypischer Ebene kommen. Man kann hier auch vom »Problem der Anlage« sprechen, die bei ihrer Entstehung noch funktionslos ist und erst im Phänotyp ihre Funktion erhalten kann, die dann – also viel später! – unter den Selektionsdruck gerät. 519 Vgl. B. v. Brandenstein (1965a, 98–100: Über den Grund der Zufallswahrschein­ lichkeit); ders. (1965a, 264–270: Kausalität oder Akausalität im naturwissenschaft­ lichen Weltbild). 520 In der Tat schlossen die meisten Philosophen im Rahmen des so genannten phy­ sikotheologischen Gottesbeweises aus der Ordnung der Natur auf Gott, verkannten allerdings, dass dieser Schluss, wie I. Kant zu Recht kritisiert, voreilig ist, weil schon

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soll die provokante Frage gestellt werden, ob es Naturgesetze über­ haupt gibt? Diese Frage klingt lächerlich, doch ist sie es mitnichten. Wenn man z. B. das Gravitationsgesetz betrachtet, wie es I. Newton als mathematische Gleichung (F = g (m1 x m2)/r2) gefasst hat, dann steht außer Frage, dass es so, wie es da formuliert ist, in der Natur nicht vorzufinden ist. Alles, was beobachtet und gemessen werden kann, sind nur schwankende Annäherungen an dieses Gesetz; in seiner Reinheit bzw. mathematischen Absolutheit wird es nirgends angetroffen. Das wusste man zwar immer schon, hat es aber entwe­ der auf die Ungenauigkeit der Messapparate bzw. der Sinnesorgane zurückgeführt oder später als »Randbedingung« ein- oder besser ausgeklammert. Dies geht jedoch an den Tatsachen vorbei, die eine klare und folgenreiche Sprache sprechen: Messwerte, die man in Bezug auf ein Naturgesetz erhebt, streuen, wenn die Messung fein genug ist, um die Idealität eines rein mathematisch formulierten Naturgesetzes, und keineswegs haben sie immer ein und denselben konstant absoluten Wert. Wer daher die »Randbedingungen« und die Tatsache des »streuenden Gesetzes« ausklammert, löscht die gesamte Problematik aus. Dem Phänomen der Streuung begegnet man bei allen Naturge­ setzen, gleich auf welcher Ebene. Nicht nur physikalische, son­ dern auch chemische, biologische, psychologische und soziologische Gesetze bzw. Gesetzmäßigkeiten streuen und schwanken um einen idealen Wert, der sich zwar als rein mathematische Gleichung for­ mulieren lässt, der aber in der Realität höchstens durchgangsmäßig realisiert wird. So schwanken z. B. die Geschwindigkeit des Lidrefle­ xes oder die Größe eines Leberenzymwertes oder ein radioaktiver Zerfall innerhalb gewisser Breiten, entsprechend sind sie nicht abso­ lut konstant. Dennoch ist die Streuungsbreite keineswegs beliebig oder sub­ jektiv, sondern bleibt objektiv auf den Idealwert als auf eine unsicht­ ein nichtgöttlicher, obschon ungeheuer mächtiger Weltbaumeister oder Demiurg für das kreative und intelligente Zustandekommen der Naturordnung ausreichen würde, was die Unmöglichkeit der von I. Kant zu Recht kritisierten Versuche, aus der bloßen Welterfahrung eine Theodizee abzuleiten, bedeutet. Vgl. hierzu erhellend M. Enders (2011), Gott und die Übel in dieser Welt. Zum Projekt einer philosophischen Rechtfertigung Gottes (Theodizee) bei Leibniz und Kant. Sowohl D. Hume (1779, Teil X-XII) als auch I. Kant erkennen nüchtern die Mängel im Kosmos und vermeiden daher jenen Kurzschluss.

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4.4. Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit

bare, dennoch »irgendwie« wirksame Richtgröße bezogen.521 Alle konkreten Werte eines Naturgeschehens oszillieren um das Naturgesetz als seine ideale, aber keineswegs nur menschlich erfundene »innere« Größe, gleich wie groß die Streubreite ist.522 Dabei gilt die übergeord­ nete Regel, dass die Streubreite bzw. die Variabilität mit der »Höhe« des Naturgesetzes zunimmt, will heißen: Je fundamentaler ein Natur­ gesetz ist, desto eindeutiger, starrer, stabiler, unvariabler ist es auch bzw. umgekehrt: Je später eine Naturgesetzlichkeit in der kosmischen Evolution auftritt, und das gilt vor allem für die biologischen, psy­ chologischen und soziologischen Gesetzmäßigkeiten, desto »freier«, variabler, instabiler und flexibler wird sie. Darin offenbart sich ein tiefer Sinn, der schon angedeutet wurde und der sich wiederholt bestätigen wird: Die gesamte Evolution realisiert, wie F. A. Kipp523 herausgearbeitet hat, eine zunehmende Emanzipation ihrer jeweils jüngsten Gebilde von ihrer Umweltab­ hängigkeit und fördert damit einen Individuations- und Verinner­ lichungsprozess, der im Selbstbesitz der geistigen Person seinen Gipfelpunkt erreicht. Hier möge jedoch vorerst die Erkenntnis genügen, dass es das Naturgesetz als absolut festgelegte mathematische Größe in der Natur nicht gibt, sondern dass es sich um eine idealisierte Abs­ traktion handelt, die der menschliche Geist aus dem oszillierenden Naturgeschehen erschließt. Dass sich die Oszillationen auf dieses Idealgesetz beziehen, beweist dessen Objektivität, nur fragt sich, wodurch und wie diese Objektivität verbürgt wird, wenn sie weder im Menschengeist noch im konkreten Naturgeschehen fundiert ist? Die Antwort gibt das recht gefasste Kausalprinzip: Die Naturge­ setze stellen, wie schon mehrfach dargelegt, nichts anderes dar als die frei durch die geistigen Naturkräfte gesetzten Regelungen, deren konkrete Realisierung im Naturgeschehen das Naturgesetz immer nur annähern. In seiner idealen Reinform existiert es weder im Natur­ geschehen noch ursprünglich im Menschengeist, sondern im Geist der Naturgeistwesen – sie sind also, wie G. W. Leibniz als einer der wenigen klar erkannte – geistiger Natur. Da der Mensch in durchaus Sie ist also nicht, wie D. Hume meinte, nur eine Folge menschlicher Gewohnheit. Von den neusten physikalischen Theorien nähert sich die Stringtheorie am meis­ ten der Oszillationstheorie an. Obwohl jedoch jede Naturkraft bzw. jedes Naturgesetz als bestimmte Oszillation beschrieben werden kann, bedeutet dies keineswegs, dass alle Naturkräfte auf eine einzige Oszillationfigur reduziert werden könnten. 523 Vgl. F. A. Kipp (1948) und (1991). 521

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analoger Weise »Gesetze« und Regelungen seines konkreten biopsy­ chosozialen Lebens mental entwirft, die in ihrer Umsetzung in der Realität, etwa bei der Verkehrsregelung, nie ideal gelten, sondern bloß angenähert werden und trotzdem die physische Realität gestalten, fällt er aus der Natur keineswegs heraus, sondern fügt sich in sie konsequent und stimmig ein. Dieser Sachverhalt wird auch von der modernen Physik bestätigt, vor allem von der Quantenmechanik W. Heisenbergs und anderer Physiker (N. Bohr, L. de Broglie, E. Schrödinger, W. Pauli, P. Dirac, C. F. v. Weizsäcker), die den Oszillations- und Wahrscheinlichkeitscha­ rakter der Naturprozesse und ihrer Gesetze klar herausstellen.524 Viele Phänomene wie z. B. das Tunnelphänomen von Quanten, die Wellenfunktion aller Materie (ihr Oszillieren um Wahrscheinlich­ keitswerte), überhaupt der »Unbestimmtheitscharakter« der Natur, verlieren damit ihre Rätselhaftigkeit und werden durchsichtig. Im Raum »verschmierte« Elektronen stellen, so betrachtet, nichts ande­ res dar als bestimmte Energiefelder, deren Ort und Geschwindigkeit im Zeitverlauf schwankt, aber nicht völlig beliebig, sondern »pro­ babilistisch« um gewisse Werte (»Quantenzahlen«) oszilliert, was letztlich im Indeterminismus des regelhaften Wirkens der freien Naturgeistkräfte fundiert ist. Mit diesen Klärungen enthüllt das Naturgesetz sein Gesicht: Es ist nur idealrealistisch zu verstehen, sprich als eine Größe, die geisti­ gen Ursprungs ist und in die physische Natur, vermittelt durch das aktive Wirken der Naturgeistkräfte, regelnd eingreift, ohne sich darin mathematisch genau zu manifestieren. Wie ein Magnet »bindet« es die Naturprozesse und lässt sie um seine ideale Größe oszillieren. Ideal aber ist es nur dadurch, dass es das Produkt einer Geistigkeit ist, die »hinter« der Natur steht und diese schafft, bildet und gestal­ tet. Leugnet man diese Geistigkeit, bleibt das Naturgesetz – sein idealer Charakter und die näherungsweise Oszillation der realen Vorgänge um seine jeweilige Wertgröße – rätselhaft. So aber wird 524 Man spricht hier von der »Kopenhagener Deutung« der Natur, die von M. Planck und A. Einstein, die in Bezug auf die Natur noch klassisch deterministisch eingestellt waren, abgelehnt, jedoch von John Stewart Bell 1964 mathematisch bewiesen wurde. Die Substanzontologie des Aristoteles ist daher, was das Naturgeschehen betrifft, hinfällig geworden. Substanziell bzw. »an-und-für-sich« sind die Geistkräfte im 2. Seinsrang, einschließlich des Menschen-Ich, jedoch nicht die Naturprozesse; diese sind die unselbständigen Wirkungen von jenen an der selbständigen metaphysischen Materie und können beliebig transformiert werden.

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4.5. Die Oszillationstheorie und das Leiden

es verständlich und verliert allen blinden und angeblich zwangsläufigdeterministischen, etwa mechanistischen oder zufälligen Charakter. Im Gegenteil offenbart sich darin eine tiefe, ästhetisch faszinierende Sinnhaftigkeit, die dem neuzeitlichen Geist selten, so etwa in dem großen Astronomen Johannes Kepler aufgegangen, ist. Bei aller Tiefe und Größe dieser Sinnhaftigkeit beweist die Theorie der Oszillation, dass ihre Quelle nicht, wie noch I. Newton, G. W. Leibniz und I. Kant meinten, direkt die Gottheit ist, die die Naturgesetze, wenn sie deren Ursache wäre, mit absolut genauer Bestimmtheit und ohne alles probabilistische Schwanken realisieren könnte, sondern dass hier eine zwar hohe, aber doch nur »endliche«, besser potentialunendliche Geistigkeit, und zwar in plural-agonaler Weise, am Werk ist.

4.5. Die Oszillationstheorie und das Leiden Die veränderte Sicht der modernen Naturwissenschaft auf die Natur­ gesetzlichkeit eröffnet ein neues Verständnis für die Weltwirklichkeit und die Stellung des Leidübels darin. Hier sind mehrere Aspekte zu unterscheiden. Die Streuung der konkreten Realitätsprozesse um idealreale Gesetzesgrößen zieht als erstes eine »natürliche Ungenau­ igkeit« und damit eine gewisse natürliche Chaotik im Naturgeschehen nach sich. Obgleich diese Chaotik, die von der modernen Chaosfor­ schung festgestellt wurde und mit der Wahrscheinlichkeitsmathema­ tik bewältigt werden kann, nur in gewissen Grenzen auftritt und gewiss nicht total strukturlos ist, so ermöglicht sie doch eine gewisse Unsicherheit und Ungewissheit, damit eine gewisse Unberechenbar­ keit und Unbeherrschbarkeit von Naturvorgängen. Vor allem schafft sie die Möglichkeit von solchen Abweichungen, die, wenn sie sich, etwa im Rahmen positiver Rückkopplungen, akkumulieren, zu Ent­ gleisungen und Kollisionen und damit in der Folge zu Katastrophen, Unglücksfällen, Störungen, Krankheiten, Schädigungen und also zu Übel und Leid führen. Dieser Umstand gilt für die höheren bioche­ mischen, biologischen, psychologischen und soziologischen Gesetz­ mäßigkeiten mehr als für die niedrigen, fundamentalen Gesetze der Physik und Chemie. Denn die Streuung ist bei jenen größer und variabler und damit sind die von ihnen geregelten Prozesse labiler. Das findet man vielfach bestätigt, so z. B. im Falle des Altwerdens von Organismen: Hier werden mit den Jahren die Regelungsprozesse langsamer, schwerfälliger und ungenauer und führen z. B. zu Krebs,

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IV. Natur und Leiden

Diabetes und Bluthochdruck. Aber schon das Wachstum von Kristal­ len erfolgt selten ungestört und makellos, vielmehr kommt es zu allerlei Abweichungen, die durch die ständige äußere Einflussnahme bedingt ist. Analog schwanken die Umlaufbahnen und -zeiten von Planeten, so dass es zu Kollisionen kommen kann. Vor allem in der Welt der Lebewesen wird die Naturgesetzlichkeit immer offener, heißt freier, variabler, kreativer, damit schwankender, unberechen­ barer, vielfältiger, antagonistischer und »gesetzloser«. Kollisionen, Unfälle, Entgleisungen, Störungen und Krankheiten sind die unver­ meidliche Folge. Leidfrei könnte eine solche Schöpfung nur sein, wenn sie gesetzlich strenger geregelt würde – dann aber wäre sie nicht lernfähig, wäre unkreativ, festgelegt, zeigte keine Entwicklung und Variabilität. Leben wäre unmöglich. Das ist der erste Aspekt der Oszillation, der oberflächlich als Unvollkommenheit betrachtet werden kann, doch keineswegs be­ trachtet werden muss. Tiefer gesehen, ermöglicht sie die Vielfalt, die Variabilität, Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit, die Entwicklung und Erneuerung aller kosmischen Gestaltungen. Besonders deutlich lehren dies die Organismen. Würden sie nicht altern und sterben, wären Veränderung, Anpassung, Entwicklung, Verjüngung und Er­ neuerung unmöglich, und das Leben stürbe aus, indem es sich selbst in seinen alterslos-unsterblichen, aber starren Formen erdrückte und aufzehrte. Erst dadurch, dass die Alten sterben, wird Platz frei für neue Schöpfungen, für Experimente und noch nicht gehobene Möglichkei­ ten, aber auch für Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen. Was demnach als Unvollkommenheit imponiert, eben die keineswegs eindeutige Einhaltung der Naturgesetze, erweist sich, tiefer gesehen, als neue Vollkommenheit, als kosmische Weisheit, die dem All die Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln, zu entfalten, seine Möglichkei­ ten auszuprobieren und sich immer wieder neu zu erfinden. Auf dem Hintergrund der metaphysischen Erkenntnis der drei Seinsränge erhellt, dass nur ein solches »schwankes Universum« das adäquate Betätigungs- und Selbstrealisierungsfeld für die Geist­ geschöpfe im zweiten Seinsrang bietet. Eine absolut streng festgelegte Naturgesetzlichkeit ließe der Kreativität keinen Raum und hätte das organische Leben und die Freiheit des Menschengeistes verhindert. Damit wird die Spaltung der Welt in zwei Reiche, wie sie I. Kant durchgeführt hatte, hinfällig: Hätte I. Kant wirklich damit Recht, dass die Natur kausal total determiniert, der Mensch als Geistwesen aber frei ist, dann könnte der Mensch sich niemals in seinem Leib und

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4.6. Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution

in seiner natürlichen Umwelt realisieren. Da der Mensch leibhaft ist und durch den Leib hindurch seine Umwelt gestaltet, impliziert die Annahme seiner (begrenzten) Freiheit notwendig die Annahme der Bestimmbarkeit, also der nicht totalen Determiniertheit der Natur und der Leiblichkeit. Die Erkenntnis, dass die Natur das Werk freier Geistgeschöpfe ist, bestätigt und untermauert diesen Zusammenhang und hebt die inkonsistente Zwei-Reiche-Lehre, die das Sein in ein Reich der Freiheit (leibfreie, transzendenal-unerkennbare Subjektivität) und in ein Reich der Notwendigkeit (Natur, Leib) spaltet, auf.

4.6. Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte Ohne die Lehre von den Zweitursachen lassen sich Aufbau und Dynamik des kosmischen Geschehens nicht verstehen. Wie bereits ermittelt, sind unter den drei möglichen Seinsrängen nur die Zweitur­ sachen leidensfähig und so folgt, dass das Leiden sowohl in der Natur als auch in der Menschenwelt keinen ontologisch bestimmbaren Platz besäße, wenn es keine Zweitursachen, keine geschöpflichen Schöpfer bzw. keine naturbildenden Geistkräfte im zweiten Seinsrang gäbe. Denn weder kann Gott noch können die bloßen Dinge leiden, sondern nur entstandene, selbstbestimmungsfähige Objekt-Subjekte sind in der Lage, ihr eigenes Sein als Mangel, Grenze, Ohnmacht, Not, als Unterwegsseins, Entwicklungsaufgabe, als Verirrung und Täuschung, als Schuld und Sühne zu erleben. Der ontologisch-metaphysische Ort des Leidens ist demnach der zweite Seinsrang. Diese Erkenntnis ist so zentral, dass ohne sie die Möglichkeit jeglicher Patho- und Theodizee (und damit dieser Arbeit) zusam­ menbrechen würde. Wer die Zweitursachen verneint, verneint die Möglichkeit von Leid und Übel in diesem Kosmos; das eine setzt das andere notwendig voraus. Viele Denker, so etwa Jesaja, der Autor von »Weisheit« 13,1–9, Platon, Aristoteles, Philon, Paulus, G. W. Leibniz, I. Kant, E. Becher, A. Wenzl, C. F. v. Weizsäcker525 und B. C. F. v. Weizsäcker (1995, 342–366) sieht in der vor allem mathematischen Strukturiertheit/Geformtheit und damit geistigen Erfassbarkeit der Materie zu Recht ein Indiz für ihre Geistabkünftigkeit und deutet in seinem aufschlussreichen Aufsatz »Materie, Energie, Information« die platonischen Ideen nicht als bloß formale Be­ griffe, sondern – ganz im Sinne Platons – als Kräfte oder Mächte, die sich selbst wissen 525

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IV. Natur und Leiden

v. Brandenstein haben dies erkannt, und auch die katholische Kirche besitzt eine Lehre von den Zweitursachen, doch ist diese Problematik kaum jemals bis auf den Grund durchdacht worden, weswegen sie heute in Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie keine Rolle spielt.526 Das ist fatal, letztlich deswegen, weil dadurch auch das menschliche Leben, das wesentlich »zweitursächlich« ist, in diesem Kosmos ort- und sinnlos wird. Gegen den Ausschluss der Zweitursächlichkeit spricht, dass ein »Seinsaufbau von unten« mit dem recht gefassten Kausalprinzip kollidiert: Nicht aus einfacheren Gebilden und Organismen entstehen durch Zufall oder Notwendigkeit komplexere Wesen, erst recht nicht die menschliche Person, sondern das komplexere Gebilde wird zwar auf den einfacheren aufgebaut, aber von geistigen Naturkräften, in diesem Sinne von oben her, analog dem Bau eines Hauses durch Architekten, Ingenieure und Handwerker.527 Wie alles andere im Kosmos ist auch der menschliche Leib als Primatenleib das Aufbauergebnis dieses Wirkens über Jahrmillionen hinweg, während der menschliche Personenkern, das Ich, das Selbst, der freie und vernünftige Wille direkt von Gott stammt, da nur er fähig ist, Zweitursachen zu erschaffen. Damit wird der Punkt erreicht, wo der konkrete Aufbau des physischen Kosmos und seine Grund­ prinzipien ermittelt werden können. B. v. Brandenstein hat diesen und aktiv die Welt formen, prägen und in Gesetzen regeln. Diese Vorstellung entsprä­ che in etwa dem Begriff der Zweitursachen und könnte als wissenschaftlich tragfähige Grundlage für eine Lehre vom Geistigen in der Natur (so ein nicht veröffentlichter, aber öffentlich gehaltener Aufsatz von mir), also für eine philosophische Daimonologie im guten und sachlichen Sinne dienen. 526 In der Bibel wird oft von »Göttern« gesprochen, die Gott regiert, obschon die israelitische Religion, um sich von anderen altorientalischen Religionen abzugrenzen, eine jegliche »Theogonie« und jeden Götterkampf ablehnt. Vgl. dazu W. Eichrodt (1974, Teil 2/3, 60–74). Sachlich ist eine Synthese zwischen Monotheismus und »Polytheismus« durchaus möglich, ja geboten, wenn unter den »Göttern« von Gott frei erschaffene Geistgeschöpfe, die am Aufbau der Natur mitwirken, verstanden werden, die nicht neben, sondern »unter« Gott stehen. Vgl. zum Problem der Sekundärursachen/Naturgeistkräfte und zum möglichen Vorwurf eines »modernen anthropomorphistischen Animismus« B. v. Brandenstein (1979c, 85-86). 527 Der naturalistische, etwa darwinistische Evolutionismus und die Ontologie von N. Hartmann (1964) lassen die Kausalfrage im Dunkeln und sehen daher den Seinsaufbau nur von unten, weswegen sie die Herkunft des Komplexeren aus dem Einfacheren bzw., bei N. Hartmann, des Novum der höheren Seinsstufe gegenüber der früheren niedrigeren nicht erklären können. Vgl. kritisch zum »Aufbau des Seins von unten« B. v. Brandenstein (1983, 47–53).

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Teil der Naturphilosophie in seiner Metaphysik528 als »Kraftspeziali­ sierungstheorie«, N. Hartmann als nicht-metaphysische »Schichten­ theorie«529 bezeichnet. Der Ausdruck »Kraftspezialisierung« meint, dass geistige Kräfte ihre Wirkungen (und selbstverständlich nicht sich selbst) in immer spezifischerer Weise so auf- und ineinander bauen, dass der Existenzraum dieser Wirkungsgebilde, je komplexer sie werden, desto enger, kleiner, dafür jedoch immer freier, indivi­ dueller, umweltunabhängiger, kommunikativer und an Ausdruck reicher wird.530 Von Aristoteles über F. W. J. Schelling bis N. Hartmann, E. Be­ cher, B. v. Brandenstein, E. Rothacker, H. Jonas und P. Overhage zieht sich die naturphilosophische Überzeugung hindurch, dass die gesam­ te Wirklichkeit nicht monolithisch, sondern in Schichten geordnet ist. Klassischerweise wird die anorganische Sphäre von der pflanzlichen, tierischen und menschlichen Sphäre unterschieden, wobei die zeitlich spätere auf der zeitlich früheren aufbaut. Auf diese Weise erweist sich einerseits die frühere Schicht als die grundlegendere, die spätere als die abhängige, andererseits zeigt sich die frühere als die einfachere, die spätere als die komplexere. Mit wachsender Komplexität bzw. Komplexierung nimmt jedoch nicht nur die Abhängigkeit, sondern auch die Beweglichkeit und Selbständigkeit der Gebilde zu, und mit dieser Beweglichkeit der

Siehe B. v. Brandenstein (1966, 288ff.; 1955, 104–148). Siehe N. Hartmann (1964). 530 In der Regel geht mit der Einengung des Wirkungsfeldes eine zunehmende Spezialisierung einher, die vor allem bei den Lebewesen dadurch charakterisiert ist, dass zwar der Grundbauplan weitgehend und über Jahrmillionen (!) bewahrt wird, was die Zufallstheorie empfindlich infrage stellt, die äußere Gestaltung dagegen viel­ fältiger, reicher, anpassungsfreudiger, individueller und ausdrucksstärker wird. Dieser Tatsache wird das Ordnungssystem der Lebewesen gerecht, indem es die Rassen in die Arten, die Arten in die Gattungen, die Gattungen in die Familien, die Familien in die Ordnungen, die Ordnungen in die Klassen und die Klassen in die Stämme eingliedert. Dieses dem angeblichen Zufall der Mutationen entgegenstehende Gesetz, das die grundlegenden Baupläne des Lebens bewahrt, nennt W. Troll (1951, 385) »Enkapsis«/Einschachtelung. Ähnliches meint K. Beurlen (1949, 76), wenn er von der »progressiven Reduktion der Evolutionsbreite«, E. D. Cope (1904), wenn er vom »Gesetz des Nichtspezialisierens«, das alles Leben charakterisiere, spricht. Innerhalb der fundamentalen Baupläne dagegen zeigt sich eine grenzenlose Diversifikation und Variation der Organe, Funktionen und Proportionen, so dass W. Troll vom »Gesetz der variablen Proportionen« spricht, mit denen das Leben experimentiere und spiele, ohne die Grundlagen anzugreifen. 528

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innere und äußere Freiheitsgrad.531 Während Atome kaum spontane Eigentätigkeit offenbaren (immerhin ist die innere Organisation des Atoms, vor allem der Quarks und Gluonen intrinsisch und spontan, also nicht mechanisch von außen gesteuert), erhebt sich die Pflanze über die Erde und entwickelt über das Anorganische hinausgehende Stoffumsätze, Gestalten, Funktionen und Zwecke. Andererseits bleibt sie direkt an das Anorganische gebunden, anschaulich in ihrem Wur­ zelwerk, das Mineralien und Wasser assimiliert, damit sich die Pflan­ ze davon ernähren kann. Von dieser Erdgebundenheit emanzipiert sich der tierische Organismus in langer Reihe in zunehmender Weise: Er schließt sich von der anorganischen Umwelt ab, zentriert und zen­ tralisiert sich (besonders mit dem Nervensystem) und entwickelt ei­ nerseits eigenständige Sinnesorgane, andererseits ein Muskelsystem, mit dem er sich weitgehend frei bewegen kann. Seine Gliedmaßen geraten zusehends unter den Leib und erheben denselben über die Erde. Am Ende richtet sich der gesamte Organismus bei den Men­ schenaffen und Affenmenschen auf. Der Freiheitsgrad im Organismus selbst und gegenüber der Umwelt nimmt zu und mit ihm die Indivi­ duation. Das wiederum beinhaltet eine wachsende Innerlichkeit, die sich mit entsprechend gestalteten Ausdrucksorganen – A. Portmann spricht vom »Darstellungswert« der tierischen Körperoberfläche – darlebt, mitteilt und, recht besehen, bereits mit den einfachsten Orga­ nismen beginnt.532 Seelisches Innenleben und soziale Kommunika­ Vgl. P. Overhage (1964, 192–219). Diesen »biologischen Aufstieg«, der bis heute selbstverständlich nur in der Richtung zum Menschen geschieht, sehen ähnlich viele andere Biologen, z. B. F. A. Kipp, L. v. Bertalanffy, K. Beurlen, H. Conrad-Martius, V. Franz, C. v. Economo, F. Schuh, H. Quiring, M. Jenken, A. Portmann, P. Teilhard de Chardin, H. Jonas u. v. a. 532 In Anlehnung an Thomas v. Aquin (1225–1274) und sein philosophisches Hauptwerk Summa contra Gentiles entwickeln der Biologe H. André (1956) und der Philosoph R. L. Fetz (1975) eine beeindruckende Seinslehre der Innerlichkeit bzw. der zunehmenden kosmischen Verinnerlichung. Die Grenze dieser Theorie liegt in der aristotelischen Form-Materie- bzw. Substanz-Akzidenz-Auffassung, deren Inkonsis­ tenz z. B. J. Hessen (1955b, 82–140), N. Hartmann (1964) und B. v. Brandenstein (1966, 103–128) deutlich aufzeigen. Durchgreifend kann erst eine geklärte Kausal­ theorie das Problem lösen, die sich fragt, ob sich die Ursache sukzessiv-transeunt vor ihrer Wirkung, immanent in ihrer Wirkung – so bei Aristoteles, Thomas v. Aquin, H. André und R. L. Fetz – oder transzendent über ihrer Wirkung befindet und ob sie geistiger oder materieller Natur oder irgendwie beides ist. Vgl. dazu passend A. Portmann (1953, 187–197: Die Selbstdarstellung der Tiere). Vgl. anders N. Hartmann (1964, 35ff.), der das Organische vom Seelischen deshalb so radikal absetzt, weil er den seelischen Ausdrucksgehalt des organischen Lebens übersieht. 531

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4.6. Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution

tion weiten sich ins Grenzenlose aus und erreichen im Menschen mit seiner Selbstbewusstwerdung, inneren Selbsthabe und seiner schier explodierenden Kommunikation einen neuartigen Höhepunkt.533 Diese Aufbauordnung wurde in der Geschichte der Philosophie früh gesehen, nicht nur in Griechenland, sondern auch in Indien und Palästina (vgl. Thora, Genesis!), und zweifellos eignet ihr ein hohes Maß an Realitätsverbundenheit. Andererseits mutet sie relativ primitiv an und muss korrigiert, verfeinert, präzisiert und vertieft werden. So stellt etwa die Pflanzenwelt keine Schicht dar, auf der das tierische Leben einfach aufbauen würde, im Gegenteil entwickeln sich beide Sphären von Anbeginn parallel und in vielfältiger inniger Wech­ selwirkung, man denke an die Bestäubung von Blütenpflanzen durch Insekten. Immerhin jedoch können die Tiere nicht ohne Pflanzen leben, während ein Großteil der Pflanzen auf Tiere nicht angewiesen ist. Wieder anders erfolgt der Aufbau des menschlichen Lebens, insbesondere seiner Kulturwelt auf der organischen Welt, ein Aufbau, der im Wesentlichen durch technische Erfindungen vermittelt wird. Was die Beschreibung der Aufbauordnung der Natur betrifft, sind also naturwissenschaftliche Fortschritte gefordert, und genau zu diesen kam es im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte, explosionsartig seit Beginn der Neuzeit in Europa.534 Diesen »furor realis« nennt P. Sloterdijk535 die »Apokalypse des Realen« und meint damit nichts anderes als den antimetaphysischen Naturalismus bzw. Positivismus, der »alles Obere vom Unteren her« erklärt und im 19. Jahrhundert

Wie die Erfahrung beweist, zeigen schon einfachste Organismen Such-, Flucht- und Kommunikationsbewegungen, die ohne psychische Kategorien nicht beschrieben werden können. An dieser Stelle eignet seinem Schichtenmodell ein Mangel. 533 Vgl. J. Bauer (2005, 165ff.), der betont, dass die »kommunikative Spiegelung«, also das intersubjektive Mit- und Nacherleben bis zu Empathie und gestischer Nach­ ahmung für die Weitergestaltung der Evolution wohl schon früh einen entscheidenden Faktor darstellt, der die darwinistische, extrem egoistische und nur auf Kampf und Ver­ nichtung gestützte Deutung relativiert. Bedenkt man, wie weit die zwischenartliche Zusammenarbeit gehen kann, lässt sich der Darwinismus in seiner Extremform nicht halten. Vgl. ähnlich L. Margulis (1999) und E. Jablonka/M. J. Lamb (2017). 534 Eine reiche und tiefe Schichtenontologie liefert N. Hartmann (1964, 35ff.), die hier nicht im Einzelnen dargelegt werden kann. So unterscheidet er zutreffend zwischen Überformungs- und Überbauungsverhältnissen. Während das organische Leben die anorganischen Stoffe real in sich inkorporiert, das heißt »überformt«, integriert das psychische Leben die organischen Stoffe nicht als solche, sondern repräsentiert sie als »geistiges Bild«, womit der Organismus psychisch nur »überbaut« wird. 535 Siehe P. Sloterdijk (2016, 101–114).

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seinen Höhepunkt erreicht, im 20. Jahrhundert in die Krise gerät und im 21. Jahrhundert einer Überwindung zusteuert. Auf einem anderen Blatt steht die Frage nach den Wirk- und Erklärungsprinzipien des Naturaufbaus. Die Wissenschaft befindet sich hier in den Kinderschuhen, und, wie oben nachgewiesen, kann sie das Problem, das sich vor allem mit der Kausalfrage stellt, nicht lösen. Obgleich sich die Philosophie heute nicht viel zutraut, ist sie an diesem Punkt gefordert, in die Tiefe der Wirklichkeitsbildung vorzudringen. Und sie kann mehr leisten, als sie selbst vermutet.536 Betrachtet man das kosmische Geschehen im Ganzen, fallen gewisse universale Symmetrien, Polaritäten und ebenso gewisse uni­ versale Asymmetrien ins Auge.537 Die größte Asymmetrie wird dabei durch die Zeit gesetzt: Der Kosmos hat begonnen und entfaltet sich in der Zeit, und zwar so, dass an die Stelle eines vergehenden Zustandes ein neuer, ein entstehender Zustand tritt, also sukzessiv und unstetig wie eine Art Pulsation. Das bedeutet, dass der vergehende Zustand völlig verschwindet bzw. im entstehenden aufgeht. Damit erweist sich eine zirkuläre Auffassung vom Kosmos als genauso unhaltbar wie die Auffassung von einem »Zeitpfeil« im Sinne einer simulta­ nen Erhaltung aller vergangenen Weltzustände. Vor allem aber eine (ewige) Wiederkehr der Welt ist unmöglich, zumal ihre Idee auf einer unangemessenen Übertragung räumlicher Vorstellungen, so des Kreises, auf zeitliche Verhältnisse beruht. Während im Falle der Kreisziehung der Anfang erhalten bleibt, so dass das Ende wieder in ihn einmünden kann, existiert der zeitliche Anfang des Kosmos nicht mehr, und also ist der Wiedereintritt eines möglichen Endes des Kosmos in seinen Anfang unmöglich. Zudem ist fraglich, ob der Kosmos ein Ende hat und gar ein solches, das dem Anfang gleicht.538 Dagegen spricht vieles, z. B. das Entropiegesetz. Doch selbst wenn der Anfang des Kosmos irgendwie erhalten bliebe und sein Ende wieder daran ansetzen könnte, würde 536 Bezüglich der Kausalproblematik legt D. v. Wachter (2009) einen neuen, vielver­ sprechenden Versuch vor. 537 Viele Wissenschaftler, vor allem unter den Physikern neigen dazu, die kosmischen Symmetrien zu verabsolutieren und die vielen Asymmetrien zu unterschätzen. Dies führt nicht selten zu voreiligen – physikalisch, mathematisch und logisch inkonsisten­ ten – Deduktionen, etwa der, es müsse wegen der Antimaterie ein zweites Universum neben dem unsrigen geben. So z. B. H. Schmitt (1966). 538 Volle Identität ist, wie sie F. Nietzsche in seinem Also sprach Zarathustra mit der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« dachte, unmöglich, da schon rein mathematisch das Zweite immer anders ist als das Erste bzw. jenes von diesem bedingt ist.

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es sich um einen Neuanfang handeln und keineswegs um ein echtes Zurücksinken in die Vergangenheit. Etwas Späteres kann nicht zum Früheren werden, das ist ein Selbstwiderspruch, der den Begriff des Späteren bzw. der Sukzession direkt zerstört. Es gibt kein zeitliches Kreisen, sondern nur ein zeitliches Weitergehen, das höchstens ähn­ liche Gestaltungen in zyklischer Weise, etwa analog den Jahreszeiten wiederholt. Diese Asymmetrie gilt unaufhebbar. Daran knüpfen sich weitreichende metaphysische Folgerungen an. Doch nicht nur innerhalb der Zeit besteht eine Asymmetrie, sondern auch gegenüber einer anderen kosmischen Grundgröße: ge­ genüber dem Raum. Denn während die Zeit durch Aufeinanderfolge und Nacheinander bestimmt ist, gehört zum Wesen des Raums die Simultaneität extensiver Raumstellen. Bewegung ist dann die innige und dennoch gespannte Einheit von Raum und Zeit, von Zeit im Raum und Raum in der Zeit. Während das Räumliche eher die As­ pekte Ruhe, Statik, Struktur, Gleichzeitigkeit, Einheit, Getragenheit und Umfassung vertritt, steht das Zeitliche für Ungleichzeitigkeit, Werden, Unruhe, Dynamik, Aufbruch, Bewegung, Zielorientierung, Auflösung, Vergänglichkeit, Veränderung und Verlust. Die konkrete Dynamik des Kosmos bringt über seine Räumlich­ keit eine neue und fundamentale Symmetrie hervor, nämlich in Form seiner relativ gleichmäßigen Expansion. Es scheint so, als dehne sich das All von einem Punkt in alle drei räumlichen Richtungen allmäh­ lich aus (und kreist dabei vielleicht als Ganzes noch, analog den Gala­ xien). Sowohl zeitlich als auch räumlich strebt das Universum nach Vergrößerung, und tendenziell ist sein Fluchtpunkt das Unendliche, das es allerdings weder als Raum- noch als Zeitgeschehen erreicht. Diese »innere Intention« offenbart ein Kraft- und Sinngeschehen, das auf die Aktivität von überendlichen Wirkfaktoren schließen lässt, die das All bewegen und aufbauen. Und so verhält es sich auch, wie die philosophische Ermittlung der Kausalität in den vorigen Kapiteln ergab. Die kosmische Evolution zeigt aber nicht nur Aufbau, sondern auch vielfältigen Um- und Abbau.539 Mehr noch beweist die genaue Betrachtung, dass neuartige Aufbauordnungen bzw. neue Schichtun­ gen nur dadurch realisiert werden, dass ein stabiler Abbau stattfindet. So ist das organische Leben erst dadurch möglich geworden, dass das Sonnensystem bzw. der Planet Erde abkühlte, und so kann sich 539

H. Kessler (Hrsg., 2000).

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ein Tier nur dadurch erhalten, dass es Pflanzen oder andere Tiere zerstört.540 Und selbst der Mensch kann nur überleben, wenn er sich die Ressourcen der Natur zu Nutzen macht und letztlich vernichtet bzw. nur teilweise verbraucht, teilweise bewahrt und wiederherstellt. Dieses Prinzip lässt sich als das symmetrische Prinzip des ständi­ gen Gebens und Nehmens, des fortgesetzten Stoffaustausches und Stoffersatzes bestimmen. Was von vielen in der organischen Welt allzu anthropomorph als grausames Fressen- und Gefressenwerden gedeutet wird, offenbart sich für einen tieferen Blick als ständiges Geben und Nehmen, letztlich sogar als Tausch- und Austausch-, ja – noch tiefer erkannt – als wahres Opferungs- und Liebesgeschehen.541 Mit der zeitlichen Asymmetrie hängt eine doppelte materielle Asymmetrie eng zusammen, die zu einer besonderen Zeitstruktur des Kosmos führt und die sich im zweiten thermodynamischen Hauptsatz niederschlägt. Nach diesem so genannten Entropiegesetz nimmt die­ jenige Energie, die zu Energiefluss, Arbeit und Aufbau komplexerer Systeme verwendet werden kann, mit der Zeit im gesamten Kosmos konstant und konsequent ab, so dass sich ein Endzustand abzeichnet, in dem alle Energie so gleichmäßig verteilt ist, dass kein Spannungs­ zustand mehr aufgebaut werden und damit kein Energiefluss mehr zustande kommen kann; Arbeit kann dann nicht mehr geleistet werden.542 Mit diesem Wärmetod schwindet alle »Wärme« im Tod der Kälte, die aber nie den Nullpunkt nach Kelvin erreicht, was bedeutet, dass sich stets etwas bewegt. Während das All an seinem Anfang den heißestmöglichen Zustand aufweist, weist es an seinem Ende den kältestmöglichen Zustand auf. 540 Vgl. D. S. Peters (2000, 27–37). Als ein Abbauphänomen kann auch die Tatsache gedeutet werden, dass in der wohl anfänglichen Polarität von Materie und Antimaterie das Bestehen der Antimaterie massiv eingeschränkt bzw. aufgehoben wurde, und der Kosmos sich überwiegend im Sinne der »positiven Materie« entfaltet. 541 Auch in der Ontogenese, also der Individualentwicklung finden ständig Auf-, Ab- und Umbauprozesse statt, so z. B. im redundant angelegten Säuglingsgehirn, das schon früh viele neuronalen Verknüpfungen abbaut, die nicht gebraucht werden. In der Pubertät findet schließlich ein tiefgreifender Umbau des Gehirns und überhaupt des ganzen Körpers statt. Vgl. G. Hüther (2009). 542 Indem C. F. v. Weizsäcker (1954, 31ff.) den Zusammenhang von Zeit, Entropie und Wahrscheinlichkeit erläutert, zeigt er auf, dass das Universum einen Anfang haben muss und auf den finalen Zustand des Wärmetodes zugeht, einen Zustand, der mit Entstehen, Werden und Vergehen, mit Kampf und Leben unvereinbar ist. Hier ist alles Ruhe, gleichsam als Ausdruck eines »Nirwana«, eines endgültigen Angekommenseins und Friedens. Am Ende verabschiedet sich das Leben aus diesem Kosmos (und geht in einen anderen, immateriellen Kosmos über).

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Diese fundamentale Asymmetrie bedingt das für alles Leben entscheidende Naturgesetz, dass komplexere Systeme, die schon mit den einfachsten Molekülen anheben, nur in einem gemäßigt-mitt­ leren Entropiebereich entstehen und erhalten werden können. Weder das All am Anfang noch das All am Ende ist mit höherkomplexen Gebilden vereinbar. Diesem Grundsatz entspricht die Stellung der Lebewesen, insbesondere des Menschen, die sich in etwa gleich weit von den kleinsten kosmischen Gebilden (Photonen, Elektronen, Quarks, Gluonen) und den größten kosmischen Körpern (Sonnen, Sonnensystemen, Galaxien, Galaxienhaufen) befinden. Alles andere als zufällig, zeigt sich hier eine weitere kosmi­ sche Asymmetrie: Würde sich der Kosmos ausschließlich gemäß dem Entropiegesetz verhalten, würde also nur dieses Gesetz bis ins Kleinste gelten, wäre der Aufbau komplexer Systeme, vor allem, wenn dieser Aufbau konsequent und über lange Zeit erfolgen soll, unmöglich. Entsprechend der Einschränkung dieser Asymmetrie hat sich jedoch sowohl die anorganische Welt der Moleküle als auch die organische der Organismen über Milliarden Jahre in jenem mittleren Zeitraum des Kosmos entwickelt, den man den temperierten Zustand des Kosmos nennen kann, was Wirkfaktoren voraussetzt, die zwar das Entropiegesetz nicht im Ganzen aufheben, aber im lokalen Bereich konterkarieren können.543 543 Gemäß I. Prigogine (1998) tritt die anti-entropische Anomalie bereits auf der Stufe von chemischen Prozessen auf. Ohne sie wären inhomogen-organische Prozesse unmöglich, die offene Systeme mit ständigem Energieumsatz zur Aufrechterhaltung von Ungleichgewichten darstellen. Ordnung und stabile Strukturen werden hier fern vom (entropischen) Gleichgewichtszustand aktiv und gegen den Entropiedruck durch einen Energiefluss aufrechterhalten, weswegen I. Prigogine sie inhomogen bzw. »dissipativ«/zerstreut nennt, welche Bezeichnung nicht ganz glücklich ist, wenn man bedenkt, dass durch den gesteuerten Energiefluss (!) höhere Ordnung erst aufgebaut und erhalten wird. Ständig aufrechterhaltene »Unordnung«, gewissermaßen »flie­ ßende Unordnung« bzw. fließende Zerstreuung (»dissipatives Chaos«) ermöglichen und kennzeichnen auf diese Weise organische Systeme und ermöglichen Leben. Daher kann I. Prigogine (1998, 23) so weit gehen und behaupten: »Im Gleichgewicht ist die Materie blind, in gleichgewichtsfernen Zuständen beginnt sie wahrzunehmen.« Als einen Hauptgrund für die Dissipation sieht I. Prigogine die Unumkehrbarkeit der Zeit an, ohne die die Selbstorganisation von Lebewesen unmöglich wäre. Das meint aber nichts anderes als Geschichtlichkeit mit der grundlegenden Möglichkeit des Auftauchens von »Ereignissen«, die nicht durch Gesetze, sondern nur »narrativ« erfasst werden können und spontane Neuerungen im Weltgeschehen darstellen. Damit erhält schon die Physik ein übergesetzlich-geschichtliches Moment: Anorgani­ sche, organische und menschliche Natur rücken so näher zusammen. Philosophisch

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Diese Asymmetrie ist grundlegend und beweist, dass der Kos­ mos nicht nur durch physikalische Wirkkräfte erbaut wird: Schon die chemischen, erst recht die biologischen Erscheinungen als »neue Ereignisse« fern vom entropischen Gleichgewichtszustand können nur durch »Zusatzfaktoren« erklärt werden, eben solche, die einem System Energie zuführen und damit die innere Energie (Enthalpie) erhöhen, diese innere Energie binden und, solange der Organismus besteht, erhalten, um daraus neue Strukturen zu erbauen. Rein phy­ sikalisch wäre das nicht zu verstehen. Damit wird der Kern der »Kraftspezialisierungstheorie«, wie sie B. v. Brandenstein544 in seiner Metaphysik entwickelt, berührt: Sie besagt, dass im Verlauf der kosmischen Evolution immer neue zweit­ ursächliche, also geistige Kraftarten auftauchen, die ihre Wirkungen in harmonisch-passender Weise auf den vorangehenden Gebilden aufbauen, wodurch erstens komplexere Einheiten und zweitens neue Qualitäten, Gesetzmäßigkeiten und Verhaltensweisen entstehen. Ein Atom hat ganz andere Eigenschaften als ein Photon; ein Molekül ganz andere als ein Atom; eine Zelle ganz andere Eigenschaften als ein Molekülkomplex; ein Organismus ganz andere als eine Zelle; ein Schwarm ganz andere als ein einzelner Organismus. In diesem Grundsatz gründet die so genannte Emergenztheorie, die allerdings nur das Dass, Wie, Wo und Wielange der neu »auftau­ chenden« Naturgebilde und Naturqualitäten beschreibt, nicht jedoch ihr Wodurch und Woher zu erklären vermag. Das gelingt erst dem geklärten und bis auf seine Gründe durchdachten Kausalprinzip. Im Zusammenhang mit diesem Komplexierungsprozess, der nicht überall im Kosmos gleich abläuft, sondern nach heutiger Kennt­ nis nur auf der Erde bis zum Leben und da wieder nur bis zum menschlichen Dasein geführt hat, treten bestimmte Gesetzmäßigkei­ ten in Kraft, die von großer Bedeutung sind.545 Die erste Regel wurde schon genannt: Je fundamentaler und damit älter ein physisches Gebilde ist, desto einfacher ist es strukturiert bzw. kritisch muss darauf hingewiesen werden, dass gerade die spontane Neuerung durch die Wahrscheinlichkeits- und Chaostheorie nicht genügend erklärt werden kann; hier bedarf es kreativer und sinnhaft aufbauender Potenzen. 544 Siehe B. v. Brandenstein (1966, Bd. 3, 288ff.). 545 So gibt es viele Entwicklunsglinien der Organismen, die sich eher langsam ent­ wickeln und dann bis heute auf einem Niveau stehen bleiben, z. B. solche bradytelische Formen wie der Quastenflosser, andere, die aussterben, andere, die sich anscheinend zurückentwickeln. Vgl. P. Overhage (1964, 161ff.).

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umgekehrt: Je abkünftiger und jünger es ist, desto komplexer kann es gebaut sein.546 Die zweite Regel bindet sich streng an die erste und besagt: Je fundamentaler eine kosmische Erscheinung, desto universaler ist sie. Oder umgekehrt: Je abkünftiger ein kosmisches Gebilde ist, desto lokaler, desto stärker ist es in der Regel räumlich und zeitlich einge­ grenzt. Während die Gravitationskraft nach heutigem Wissen im gesamten Universum wirkt, wirkt die Photosynthese nur so weit, wie die Pflanzen reichen. Die Größe des Wirkungs- und Geltungskreises eines kosmischen Gebildes ist eine direkte Funktion seiner Stellung im Schichtenbau der Welt. Im Falle der menschlichen Seele wirkt nur noch ein geistiger Kraftfaktor auf ein einziges physisches Gebilde, auf den Leib. Die dritte Regel schließlich vermittelt zwischen der ersten und zweiten: Nur da, wo die fundamentaleren Kraftwirkungen gemä­ ßigt auftreten, können komplexere Kraftwirkungen ansetzen und aufgebaut werden: Ein Molekül zerfällt, wenn es beliebig erhitzt wird; ein Organismus wird zerstört, wenn alle möglichen Substanzen in ihn eindringen. Mäßigung und Abgrenzung werden hier bedeutsam. Das bringt eine neue Asymmetrie ins Spiel, die als vierte Regel angesprochen werden kann: Je weiter die kosmische Evolution fort­ schreitet, desto verdichteter, feinteiliger, innerlich differenzierter ist die Struktur eines Gebildes, was, wenn man dies extrapoliert, bedeu­ tete, dass die Evolution einem Organismus zustrebt, der an Inten­ sität oder Innerlichkeit nicht mehr zu überbieten ist. Unüberbietbar wäre aber nur solch ein Wesen, das keine weitere räumliche und strukturelle Verdichtung mehr zuließe. Mit dem im Kern unräum­ lichen menschlichen Geist ist diese Grenze, die nicht überschritten werden kann (und eigentlich schon jenseits jener Extrapolation liegt), erreicht. Dagegen sind in ihm strukturelle »Verdichtungen« durchaus noch möglich, die sich etwa als zunehmend geistig-kulturelle Dif­ ferenzierungs-, Integrations-, Verinnerlichungs- und Bewusstwer­ dungsprozesse manifestieren. Hier an diesem Punkt werden Potential und Sinn des kosmischen Komplexierungsgeschehens sichtbar: Je dichter, intensiver, differen­ zierter, komplexer und integrierter ein Gebilde wird, desto intrinsisch reicher wird es, damit umso innerlicher, selbsthafter, »seelischer« und 546 Vgl. zu den zwölf kosmischen Regeln bei B. v. Brandenstein (1979a, 94–98) und (1979b, 185–253).

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»geistiger«. Schon ein Amöbeneinzeller, der von Trieben, Bedürfnis­ sen und Instinkten gelenkt wird, weist eine Innerlichkeit auf, die auf der Molekülebene nicht angetroffen wird.547 Und doch sind weder Molekül noch Atom und voratomare Physis ganz ohne Intensivität, ganz ohne innerlichen Ausdruck. Nur darf nicht die anthropomorphe Elle angelegt, vielmehr muss die vormenschliche Natur aus ihrem Eigensein heraus betrachtet werden. Mit der Zunahme der Komplexität verbindet sich Weiteres, nämlich die zunehmende Vulnerabilität der kosmischen Gebilde. Je höher ein Wesen steht, desto angreifbarer und verletzbarer, desto weniger resistent ist es, und desto mehr Sicherungs- und Schutzsys­ teme braucht es, um zu bestehen. Die Bildung von Zellmembran und Zellwand, von Haut, Fell, Panzern, Federkleid, Schuppen usw. belegt dies eindrücklich. An dieser Gesetzmäßigkeit der fünften Regel liegt es, dass komplexere Wesen zeitlich befristet existieren. Während die Gravitation oder die elektromagnetischen Felder »unsterblich« sind, zerfallen Photonen, Elektronen, Atome, Moleküle und Organismen, und zwar umso früher und rascher, je höher sie in der Komplexie­ rungsreihe stehen. Bei den Organismen nimmt dieses Zeitgesetz eine neue und bedeutsame Gestalt an: das Altern und den Tod. Doch erst dieses Altern eröffnet die Möglichkeit (und Notwendigkeit) der Fort­ pflanzung, der man in der anorganischen Sphäre nicht begegnet. Den Untergang gibt es schon vororganisch, da auch Moleküle vergehen und verschwinden, doch das Altern deutet sich höchstens nur an, so etwa beim radioaktiven Zerfall oder bei der Eintrübung eines Edelstei­ nes. Seine volle Gestalt erreicht der Alterungsprozess erst im geordnet ablaufenden, sinnhaft gesteuerten, keineswegs zufälligen oder nur mechanischen Um- und Abbauprozess des alternden Organismus. Würde der Organismus nicht altern und sterben, wäre neues, kreativanpassungsfähiges Leben unmöglich. Allein schon der ökologische Raum wäre bald so dicht besetzt, dass neues Leben darin keinen Platz mehr fände. Altern und Tod dienen also dem Leben und ermöglichen seinen Weiterbestand, seine Verjüngung, seine Erneuerung und da­ mit wieder sein Überleben. Keineswegs ist der Tod, wie S. Freud, M. Heidegger und andere – allzu positivistisch – behaupten, das Ziel 547 Nur wenige Philosophen der Neuzeit wie E. Becher, A. Wenzl, H. Jonas (1973) und B. v. Brandenstein besaßen den offenen Blick, auch in einfachen Lebewesen »Innerliches« zu gewahren. »Innerlichkeit« aber impliziert gemäß diesen Denkern sowohl »bedürftige Freiheit« als auch »Sorge um sich selbst«.

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des Lebens, sondern – wie es J. W. v. Goethe sah – sein genialstes Mittel der Selbsterhaltung und der Weiterentwicklung.548 Dabei ist zu betonen, dass nur das Individuum vom Tod betroffen wird, was beweist, dass in der vormenschlichen Lebewesenwelt die Art bzw. die Gattung über das einzelne Wesen herrscht und es in ihren Dienst nimmt. Erst beim Menschen erhebt sich das Individuum auf die gleiche Stufe wie die Gattung, so dass es nicht mehr ohne Weiteres bereit ist, sich dieser zu opfern. Nicht von ungefähr ist das eine der tiefsten Quellen menschlicher Konflikte, Übel und Leiden. Die Aufgipfelung des Individuums zum nicht relativierten personalen Wert, allgemein Würde genannt, wird mit dem Preis der interpersonalen Rivalitäten und der innerartlichen Grausamkeiten und Kriege bezahlt. Eine weitere wichtige Grundstruktur benennt die sechste Regel: die Polarität. Sie durchzieht das gesamte All, sowohl zeitlich als auch räumlich, und manifestiert sich in stärkster Form in der orga­ nismischen Geschlechterpolarität.549 Vielleicht dürfen aber schon vororganische Bildungen wie Gravitation und Fugitation, wie die gegensätzlichen elektrischen Ladungen oder das Säure-Basen-Ver­ hältnis in der Chemie unter dem Gesichtspunkt der Polarität gesehen werden.550 Hier hilft nur die konkrete empirische Forschung weiter. Entscheidend ist, dass es sich beim polaren Gegensatz weder um einen negativen noch um einen logischen, sondern um einen positiv-mate­ rialen Gegensatz handelt. Was heißt dies? Der logische Gegensatz oder die kontradiktorische Kontrarietät ist der Selbstwiderspruch, die contradictio in adjecto:551 In ihrem Falle wird ein und dasselbe vom selben Sachverhalt in selber Hinsicht im selben Augenblick bejaht und verneint. Zum Beispiel: Etwas existiert jetzt und existiert jetzt nicht. Oder: Das All hat einen Anfang und hat keinen Anfang. Es ist klar, dass dieser logische Gegensatz nur im Denken besteht – im Sein ist er unmöglich, da können nur die 548 Vgl. J. W. v. Goethe (1998, 45ff.), Die Natur (Fragment), veröffentlicht 1783 im Tiefurter Journal, in: Hamburger Werke, Ausgabe in 14 Bänden, dtv, Band 13, Naturwissenschaftliche Schriften I). 549 Wie weiter oben beschrieben, stellen bereits Raum und Zeit eine Polarität dar, aber auch Materie und Antimaterie, Entstehen und Vergehen, Expansion und Kontraktion, Wärme und Kälte, Aufbau und Abbau usw. 550 Auch das Raum-Zeit-Verhältnis kann polar beschrieben werden, nämlich als der positive Gegensatz von Simultaneität und Sukzessivität, von Statisch-Beharrendem und Wandelbarem. 551 Zur logischen Problematik des Gegensatzes vgl. A. Arnauld und P. Nicole (1994, 108ff.).

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Bejahung oder die Verneinung gelten, nicht beides zugleich. Er ist also eine reine »Denkgröße«. Der negative Gegensatz oder die negative Kontrarietät stellt da­ gegen einem Positivum einen Mangel gegenüber: »Er beherrscht die griechische Sprache, sie nicht«, »Sie ist wahrhaftig, er lügt.« Dieser Gegensatz ist zugleich im Sein und im Denken verankert, Letzteres vor allem deshalb, weil er durch einen Vergleich gebildet wird. Im Gegensatz dazu stehen sich im Falle des positiven oder oppo­ sitionellen Gegensatzes zwei positive Realitäten gegenüber: Himmel und Erde, Luft und Wasser, Intuition und Diskursivität, Verstand und Gefühl, Wachen und Schlafen, Sprechen und Hören, Geben und Nehmen, Einheit und Vielheit, Kreativität und Tradition, Mann und Frau usw. Ergänzen sich die positiv einander entgegengesetzten Realitäten zu einer umfassenderen Einheit bzw. sind dazu in der Lage, spricht man vom polaren Gegensatz. Diese Differenz ist immer ein positiver, nie ein negativer und schon gar kein kontradiktorischer Gegensatz. Der Ergänzungsgegensatz von Mann und Frau gehört hierher. Um eine weitere Nuance ist der agonale oder dialektische Gegen­ satz bestimmt: Hier stehen sich zwei Kräfte gegenüber, die sich anein­ ander im konstruktiven Sinne messen und den jeweiligen Gegner zu überwinden trachten. Der griechische Ringkampf und der moderne Sport gehören hierher. Bekommt der agonale Gegensatz ein feindselig-destruktives – im Sport unfaires – Moment, hat man den adversären Gegensatz vor sich: In seinem Fall stehen sich zwar zwei positive, evtl. polare oder auch dialektische Gegensätze einander gegenüber, doch weder in einem neutralen noch in einem ergänzenden, sondern in einem feindselig sich bekämpfenden Verhältnis. Ziel ist die Entmachtung, Verletzung oder Vernichtung des Gegners, der zum Feind gestempelt wird. Im Falle der Vernichtung liegt ein »mörderischer« bzw. extinkti­ ver Gegensatz vor. Leider werden diese Gegensatzformen immer wieder vermischt und dadurch verzerrt, so etwa, wenn das Verhältnis von Mann und Frau als negativer Gegensatz (gut-böse, vernünftig-unvernünftig) oder prinzipiell adversärer Gegensatz aufgefasst wird. G. W. F. Hegel ging so weit, den logischen Gegensatz, der mit dem logisch-kon­ tradiktorischen Selbstwiderspruch identisch ist, als positiv-polaren Gegensatz zu behandeln, wodurch seine gesamte Lehre von Sein und Denken in eine Schieflage gerät.

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Am Anfang des kosmischen Werdens steht ein positiver Gegen­ satz, der bis heute in entscheidendem Maße formbildend ist und in der modernen Physik nicht als echter Gegensatz zu Bewusstsein kommt: der Gegensatz von zentripetaler Schwerkraft und von zen­ trifugaler Expansiv- oder Wärmekraft, lateinisch: von Gravitation und – wie ich es positiv nennen möchte – »Fugitation«.552 Denn nach allgemeiner Auffassung der Wissenschaftsgemeinde bestand das Universum zunächst aus reiner thermischer Energie, noch ohne alle Partikel und Struktur, die sich unter der Einwirkung der Gra­ vitation zunehmend so zusammenballte, dass ein kritischer Punkt erreicht wurde, an dem sich die Energie so sehr erhitzte, dass sie schließlich explodierte und auseinanderstob. Diese Expansionskraft (Fugitation) ist mit der Wärmekraft identisch und steht hinter den Phänomenen der Brownschen Molekularbewegung, der kosmischen Hintergrundstrahlung und der zahllosen entropiebildenden Prozesse. Daher sind alle Versuche, das gesamte kosmische Werden auf eine einzige Kraft zurückzuführen, wie es A. Einstein wollte, nämlich nur auf die Gravitation, zum Scheitern verurteilt.553 Wäre Letzteres der Fall gewesen, wäre es nicht zur Expansion des Weltalls gekommen, weil die zentripetale Gravitation alle Materie zusammenhält und konzentriert. Andererseits hätte sich ohne die Gravitation die Energie nicht so zusammengeballt, dass sie explodiert, und zumindest die späteren Strukturbildungen der Materie im Kleinen wie im Großen, bei den Atomen wie bei den Galaxien, wären ohne die Einwirkung der Gravitation nicht zustande gekommen. Dagegen erklärt sich sowohl die expansive Dynamik als auch die Strukturbildung des Kos­ mos zwanglos, wenn man das gespannte, wechselvoll-dynamische und gleichsam dramatische Zusammenspiel der zwei Grundkräfte 552 Die Bezeichnung und Beschreibung der zentrifugalen Wärmekraft als Trägheits­ kraft ist insofern unglücklich und ungenügend, als dadurch der positive Aspekt dieser Kraft untergeht. Die Trägheit als solche ist überhaupt keine Kraft, sondern die natürliche Folge einer positiv-energetischen Expansionstendenz. 553 Auch C. F. v. Weizsäcker (1954, 61) spricht von zwei kosmischen Hauptkräften, der Gravitation und der Zentrifugalkraft, und er meint, die Zentrifugalkraft sei eine Folge der unvermeidlichen Rotation des kosmischen Urnebels. Darauf ist zu sagen, dass zwar eine jegliche Rotation zentrifugale Kräfte erzeugt, doch ist anzunehmen, dass die allererste Zentrifugalbewegung die Folge der Urwärme des Kosmos ist, da jede Form der Energie gemäß den thermodynamischen Hauptsätzen zu expandieren strebt und sich schon bei geringsten quantenphysikalischen Abweichungen von den radialen Vektoren zu drehen beginnt. Die Rotation scheint daher eher eine Folge der Fugitation zu sein.

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Gravitation und Wärmekraft in Anschlag nimmt. Während die eine Kraft für Struktur, Dichte, Festigkeit, Konstanz und Zusammenhang steht, steht die andere für Dynamik, Veränderung, Expansion, Auf­ lösung und Energiefortpflanzung. Wird die Wärmekraft nicht als eigenständige und fundamentale Naturkraft gesehen, was heute der Fall ist, bleibt das kosmische Geschehen unverständlich.554 Daran leidet die heutige Physik, die sich in mathematische Spekulationen, manchmal schlimmer als jede Metaphysik versteigt und den Kontakt zur physikalischen Wirklichkeit verliert. Die Schwierigkeiten und Inkonsistenzen der Relativitätstheorie, die Probleme der dunklen Energie und Materie, die Beschleunigung der kosmischen Expansion u. a. m. kann sie auf diesem Weg, der eine Sackgasse ist, nicht lösen. Wenn entsprechend dem neu ermittelten transzendenten Kau­ salmodell klargestellt ist, dass alle empirischen Wirkungen und Gebilde auf geistige Wesen zurückgehen, fragt sich, was sich in den physikalischen Tatsachen der Gravitation und Fugitation ausdrückt. Da mit der Zentripetalität der Gravitation Festigkeit, Ballung und Kraft einhergehen, und da in der Expansivität der Wärmekraft Dyna­ mik, Bewegung und Zerstreuung dominieren, darf man unter der 554 Mit der expansiven Fugitation als real physikalischer, allerdings teilchenfreier Kraft in einem entsprechenden Energiefeld (»Inflatron«) wird das »Hubblesche Ge­ setz« verständlich, wonach sich die Galaxien mit zunehmender Entfernung immer schneller bewegen und voneinander entfernen. Man könnte dies so deuten, dass mit dem zunehmenden Abstand vom heute bloß virtuellen Zentrum des Universums die Gravitation relativ schwächer, die Fugitation relativ stärker wird oder einfach zu dominieren beginnt. Anscheinend begann die Dominanz der »dunklen Energie«, also der Fugitation über die Gravitation, vor acht Milliarden Jahren. Anerkennt man dies, ist man nicht mehr auf die Annahme einer teilchengebundenen »dunklen Energie« angewiesen, die auf geheimnisvolle Weise die zunehmend geschwindere Expansion verursacht und gleichsam – von außerhalb des Universums bzw. um das Universum herumgelegen – das All auseinanderzieht. Zusammen mit der Gravitation der neuentdeckten schwarzen Löcher, besonders in den Spiralnebeln, könnte dies zusätzlich das Problem der »dunklen Materie«, etwa die »zu große« Rotationsgeschwindigkeit der Spiralnebel einer einfachen Lösung zuführen. Denkt man das »fugitative Szenario« sachlogisch weiter, ist zu erwarten, dass die Wirkung der Gravitation mit der Expansion des Weltalls gegen Null geht, so dass die Fugitation völlig frei zur Auswirkung kommt und sich dann nicht mehr weiter wie zurzeit beschleunigt, sondern ein konstantes Geschwindigkeitsniveau erreicht. Da die meta­ physische Materie nicht aktualunendlich sein kann, sondern höchstwahrscheinlich endlich ist, also auch nicht pU endlos erweiterbar, müsste das Weltall irgendwann eine Grenze erreichen, die es nicht mehr überschreitet. Ob es dort zum Stillstand kommt oder gleichsam »zurückprallt« und sich wieder kontrahiert, ist bei der jetzigen Kenntnis der Verhältnisse schwer zu entscheiden.

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erwiesenen Annahme der Geistigkeit der dynamischen Naturursa­ chen den hermeneutischen Schluss wagen, dass in der Gravitation eher das Willens- und Baumoment des Geistes, in der Expansitivät eher das Gefühls- und Vermittlungsmoment der geistigen Wesenhei­ ten zum Ausdruck kommt. Auf Wärmekraft und Gravitation bauen die nächsten physika­ lischen Kräfte auf, so vor allem einerseits die elektromagnetischen Feldkräfte, wozu auch das Licht, die Gamma- und die Radarstrahlung zählen, und andererseits die atomaren Kräfte, also die schwache und die starke Wechselwirkung im Atomkern. Die starke besorgt den Zusammenhalt des Atomkerns, die schwache steuert den radio­ aktiven Zerfall. Über die Elektronenschalen vermittelt die schwache elektromagnetische Kraft die chemischen Molekülbindungen, doch gibt es sie als reine Feldkraft bereits vor und außerhalb der Atome und Moleküle, eben als reines Energiefeld, was beweist, dass die atomaren Kräfte auf den elektromagnetischen aufbauen. Gemäß der Weinberg-Salam-Theorie lassen sich die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkungskraft als elektroschwache Wechselwir­ kung zusammenfassen. Da Wärmekraft und Gravitation keine gegen­ sätzlichen Ladungszustände aufweisen, können sie unmöglich mit den elektromagnetischen, immer ladungspolaren, anziehend-absto­ ßenden Kräften vereinigt werden. Hier bleiben Wesensunterschiede, denen ein tiefer Ordnungssinn entspricht: Während die Wärmekraft keine Anziehung, sondern nur Dissipation und die Gravitation nur Anziehung bewirkt, stehen die elektromagnetischen Kräfte als anzie­ hend-abstoßende Kräfte dazwischen und vermitteln und verfeinern auf diese Weise die kosmischen Prozesse und Gestaltbildungen. Ohne sie, die im mittleren Größenbereich angesiedelt sind, wäre die gesamte Welt der Moleküle und Organismen, die zwischen der teil­ chenfreien Wärmekraft, die am unteren Ende des Kosmos wirkt, und der teilchenfreien Gravitation, die am oberen Ende des Kosmos, auf der Ebene der Sterne und Galaxien wirkt, unmöglich. Die elektrischpolaren Kräfte sind demnach sinnvoll zwischen zwei in sich apolare, doch gegeneinander polare Grundkräfte der Natur eingespannt und vermitteln vom Atom bis zur modernen Informationstechnik eine reiche, feine und lichtgeschwindigkeitsschnelle Welt des Energie-, Signal- und Zeichenaustausches. In Hinsicht der Informationsvermittlung erweisen sich dagegen die Wärme- und die Gravitationskraft als zu träge und zu schwach. Dafür weitgehend ungeeignet, liegt ihre kosmische Funktion im

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»Nähren« (thermische Energie) und »Tragen« (Gravitation) des Gan­ zen. Geistig-hermeneutisch betrachtet, könnte in der Wärmekraft eher die Gefühlsseite, in der Gravitation eher die Willensseite und in den elektromagnetischen Kräften eher die Verstandesseite des Geistes (Ver­ mittlung von Information) zum Ausdruck kommen. Während ohne die Letztere die heutige Informationskultur unmöglich wäre, wären ohne die beiden anderen das anorganische Sein und das organische Leben unmöglich. Wer offen für die hermeneutische Dimension der vormenschlichen Welt ist, der kann hier eine große und tiefe Weisheit und eine Art – nicht leibnizisch verstandener, vielmehr offener – »prästabilierter Harmonie« erahnen. Auf den voratomar-physikalischen Kraftwirkungen – der Ther­ moenergie (Fugitation), der Gravitation und den elektromagnetischen Feldkräften – bauen die atomar-molekularen Gebilde auf, die im chemischen Periodensystem eine grandiose Grundordnung der Stoffe und Substanzen entfalten. Der Ort, wo sie entstehen, sind die kos­ mischen Nebel und vor allem die Sterne und Planeten, während sie im interstellaren Raum – im Gegensatz zu den voratomaren Kraftwirkungen – nicht vorkommen. Mit ihnen hat sich das All von seiner reinen Energie- und Strahlungsstufe entkoppelt und sich so die Möglichkeit der Stoffkombination und Stoffumwandlung eröffnet. Die Individualität der Stofflichkeit und damit die schier endlose Vielfalt des materiellen Seins zeichnet jetzt das Gesicht des Alls. Der ursprünglich reine Energiezustand des Kosmos hat sich dagegen als sehr schwache Hintergrundstrahlung erhalten. Es mutet wie eine glückliche Fügung an, dass auf dem Plane­ ten Erde nahezu alle chemischen Stoffe, meist sogar in reichlichem Maße vorkommen. Die gesamte moderne Technik, etwa in Form der Kunststoffchemie und Materialtechnik, wäre unmöglich ohne diese Fülle und Bandbreite der Materialität – man denke an die »seltenen Erden«. An dieser Stelle ist es unmöglich, die komplexe Ordnungsstruktur der chemischen Welt, an deren unterer Grenze das Wasserstoffatom, an deren oberer Grenze das DNS-Molekül steht, nachzuzeichnen. Offensichtlich aber vermittelt die Welt der Chemie zwischen den voratomaren und den biologischen Gebilden und impo­ niert überhaupt durch ihren ungeheuren Stoffwechsel-, d. h. Auf-, Abund Umbaucharakter. Es ist geradezu eine Lust der Verwandlung, der Metamorphose, die hier zum Vorschein kommt und – hermeneutisch betrachtet – als Ausdruck einer großartigen Phantasiekraft gedeutet werden darf.

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Innerhalb dieser chemischen Welt treibt die Kraftspezialisierung ihr Werk immer weiter voran, sie bildet aus einfachsten nach und nach die komplexesten Moleküle, so dass es möglich wird, elementartragende und sehr stabile von komplexen und instabilen Gebilden zu unterscheiden. Auch das Gesetz der Polarität wirkt sich vielfach aus, etwa in Form metallischer und nichtmetallischer, saurer und basischer, gasförmiger und fester Elemente. Überhaupt wird für den Aufbau der höheren Strukturen des Kosmos das Phänomen des Aggregatzustandes bedeutsam: Gasförmige, flüssige und feste Zustände mit ihren Zwischenzuständen der Superfluidität, der Plas­ tizität und Elastizität geben der Materie ein lebendiges Antlitz und machen das höhere, zunächst biologische, dann noetische Leben möglich.555 Schließlich und endlich erweist sich die chemische Welt als so variabel, dass sie von den Lebewesen und vom Menschen, der das Periodensystem der Elemente künstlich weiterbaut, in nahezu endlosen Variationen von Stoffen erweitert werden kann. An dieser Stelle muss auf ein Phänomen hingewiesen werden, das selten bemerkt wird und eine siebte Regel aufzustellen erlaubt. Es scheint nämlich die Möglichkeit zu bestehen, dass eine höhere Strukturschicht eine tiefere in ihren Dienst nimmt und partiell umbil­ det. So tritt auf der chemischen Stufe der Atome und Moleküle die voratomar-elektromagnetische Kraft in neuer und an die Atome gebundener Gestalt, nämlich als schwache Wechselwirkung und als chemische Molekülbindungskraft wieder auf und wird zur Bildung der Atome und Moleküle in Dienst genommen. Analoges trifft man auf der biologischen Seinsstufe an: Zellen und Organismen nehmen physikalische und chemische Kraftwirkungen in Dienst und nutzen sie zu biologischen Zwecken, so z. B. beim Aufbau der DNS, bei der Photosynthese und der ATP-(Adenotriphosphat)-Bildung, also der spezifisch biologischen Energiegewinnung. Hier werden von den Organismen Elektronen von ihren Atomkernen getrennt und ener­ Eine Sonderform bilden die Phänomene »Nebel« (Dunst, Dampf) und »Rauch«. Der Nebel ist ein gasartiges Gebilde, das aus Flüssigkeitstropfen, der Rauch ein gasartiges Gebilde, das aus festen Teilchen zusammengesetzt ist. Eine Ausnahmeer­ scheinung bildet das Feuer, das nur als Transformationsgebilde fassbar ist: Unter hoher Energiebildung gehen feste oder flüssige Stoffe in einen gasförmig-leuchtenden Zustand, die »Flamme«, über. Bleibt das Feuer auf den festen bzw. flüssigen Zustand beschränkt, heißt es Glut, im gasförmigen Zustand heißt es Flamme. Insofern hier eine Energie- und Stoffströmung stattfindet, realisiert sich auch der flüssige Aggregat­ zustand. Die leuchtend-flammende Gasbildung kann direkt aus dem erhitzten festen Körper oder über eine Art Verflüssigungszustand erfolgen. 555

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getisch ausgenutzt! Auch der Mensch führt diese Gesetzmäßigkeit weiter und stellt ältere Kraftwirkungen und Organismen in seinen Dienst, mit der nicht seltenen Folge, dass diese Wesen eine tiefgrei­ fende Umbildung wie im Falle der Züchtung erfahren. Aus all dem erhellt, dass die Schichten und Stufen der Natur grundsätzlich durchlässig und nicht »substantiell« (als ewige Wesen­ heiten) hart voneinander getrennt sind, woraus folgt, dass sie in ihrer Seinsmodalität nicht grundsätzlich verschieden sein können. I. Kant und N. Hartmann behaupteten genau dies und ordneten der physikalischen Welt die Modalität der Notwendigkeit, der mensch­ lichen Welt die Freiheit zu. Wäre dem so, könnten die Lebewesen und der Mensch nicht auf der anorganischen Welt aufbauen, diese nicht durchdringen und für sich nutzen. Wie erkannt, herrscht in der Natur jedoch weder reine Notwendigkeit noch reine Willkür, sondern hoch geregelte, schichtenspezifische Freiheit. Was gestuft ist, ist die Freiheit, vom Urknall bis heute, und zwar in der Weise, dass ihr Regelungsgrad mit der Zeit bzw. Komplexität abnimmt und mehr Offenheit, Beweglichkeit und Freiheitsgrade zulässt. Doch auch das Wasserstoffatom ist ein frei geschaffenes und gestaltetes Werk von geistigen Naturkräften, in dem sich Kraft, Sinn, Intelligenz und Phantasie auswirken. Da nichts in der Natur ohne Gestalt, ohne Funktion, ohne Bewegungsdynamik und ohne Zusammenhang ist, kann es nicht ohne gestaltenden Grund, also ohne Sinn und tätige Sinnquelle sein. Auf der Welt der Atome und Moleküle, die schon für sich neue und höhere Komplexeinheiten darstellen, bauen in einem neuen Schritt weitere Einheitsbildungen auf: die lebendigen Zellen.556 Ihr Hauptmerkmal ist die Abgrenzung nach außen, wodurch zwangsläu­ fig eine (räumliche) Innenwelt und eine Außenwelt, damit aber auch die Gegensätze von »selbst« und »anders«, »eigen« und »fremd«, »Freund« und »Feind« und schließlich die Phänomene »Grenze«, Vgl. zum Thema der klassisch-darwinistisch bzw. neodarwinistisch gedeuteten Evolution: E. Mayr (1967, Artbegriff und Evolution); D. J. Futuyama (1990, Evoluti­ onsbiologie); H. Meier (1992, Die Herausforderung der Evolutionsbiologie); E. Mayr (2005, Das ist Evolution); S. P. Thoms (2005, Ursprung des Lebens); V. Storch, U. Welsch, M. Wink (2007, Evolutionsbiologie); U. Kutschera (2008, Evolutionsbiologie); A. Lange (2012, Darwins Erbe im Umbau. Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie); von nicht-darwinistischer Seite vgl. P. Osterhage (1964) und neuerdings vor allem E. Jablonka/M. J. Lamb (2017, 119–124), die empirisch die Nichtzufälligkeit vieler Mutationen und epigenetischer Prozesse nachweisen. 556

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»Schwelle«, »Durchlässigkeit«, »Übergang«, »Abwehr« und »Aus­ tausch« entstehen. Da die Zelle als Innenwelt nur dann einen Sinn ergibt, wenn sie sich als Ganzes und in ihrer »Innenwelt« (milieu interne) zu erhalten sucht, verknüpft sich mit ihrem Dasein funda­ mental so etwas wie »Lebenswille«, »Seinsbedürfnis« und Selbster­ haltungstrieb (co-natus), also eine wesentlich seelische Größe, ohne die die Zelle weder Bestand hat noch gedacht werden kann.557 Ob es bereits vor den Zellen »Leben« im organischen Sinne, also »leben­ dige Großmoleküle« gab, ist nicht bekannt. Dass die zellenlosen Viren vor den Zellen bestanden, ist insofern unwahrscheinlich, als ihre Vermehrung vom Befall und von der Indienstnahme zellulärer Organismen abhängt. Aber es wäre denkbar, dass virenähnliche Organisationen schon vorher da waren und ihre Vermehrung auf anderen Wegen erreichten. Damit ist ein entscheidendes Kriterium genannt, das organisches Leben von anorganischer Organisation unterscheidet: die Vermeh­ rung. Wachstum, das ebenfalls typisch für Lebewesen ist, gibt es auch auf vororganischer Stufe: Kristalle wachsen, gewisse Moleküle kön­ nen wachsen. Aber die Vermehrung im Sinne der Selbstvermehrung, die wiederum zunächst nur als Selbstteilung möglich ist, scheint an die neue Organisationsform der Zelle geknüpft zu sein: Sie in der Tat kann sich in zwei Zellen zerteilen, die dann zu ursprünglicher Größe – allerdings nicht immer – anwachsen. In der Verbindung von Selbstteilung und Selbstwachstum, die als Autopoiesis bezeichnet werden kann, hat man die einfachste Form der Selbstbewegung vor sich, die für alles organische Leben charakteristisch ist und ein deutliches Zeichen für den Freiheitszuwachs ist, der hier fast wie mit einem Sprung stattfindet.

Und in der Tat muss der Zellorganismus sein »milieu interne«, wie C. Bernard 1865 hervorhob, gegen eine aus seiner Perspektive chaotisch-tosende und höchst ge­ fährliche Umwelt in einem stabilen inneren Gleichgewicht halten, das »Homöostase« (W. B. Cannon), »offen-dynamisches Fließgleichgewicht« (L. v. Bertalanffy) oder »Homöodynamik« genannt wird. Darin spiegelt sich ein Aufwand an Kraft und kybernetisch regelnder Intelligenz wider, der in seiner außerordentlichen Hartnäckig­ keit, Zuverlässigkeit und Durchsetzungsfähigkeit nur unzufällig als Ausdruck eines »vernünftigen Willens« gedacht werden kann. So wirkt die Grenzbildung identitäts­ stiftend, angefangen beim allereinfachsten Einzeller, der bar aller Intentionalität und damit bar allen Erlebens bzw. Bewusstseins nicht gedacht werden kann. Dieser empirische und hermeneutisch gedeutete Befund entspricht dem in den vorigen Kapiteln ermittelten Kausalprinzip. 557

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Entscheidend für diese Selbstbewegung ist, dass sie gelenkt, geordnet und zielhaft (teleonom) ist. Die Zielhaftigkeit wiederum steht in einem offensichtlichen Zweckzusammenhang, in dessen Rahmen gewisse Stoffe, Lagen und Verhältnisse für die Befriedi­ gung bestimmter Interessen und Bedürfnisse genutzt werden. Dabei kommt es zum Austausch spezifischer Stoffe, die aufgenommen, assimiliert, transformiert und ausgeschieden werden, was man Stoff­ wechsel nennt. Organisches Leben will vor allem sich erhalten, sich vermehren und sich ausbreiten, und um diese Ziele zu erreichen, muss es seinen Stoffwechsel mit Energie, also mit Nahrung und Flüssigkeit versorgen, muss also »rauben«, muss gewisse Lebensräume erobern, muss Gefahren abwehren und Feinde besiegen. In all dem offenbart sich ein enormer Zuwachs an Aktivität, Kampfbereitschaft und an Aggressivität. Und in der Tat ist alles Leben auf der Erde, auch das höhere und höchste, seinem Wesen nach »gierig«, räuberisch und schmarotzend. Das ist nichts »Schlimmes« bzw. »Böses«, sondern das ist seine Natur, die anders nicht realisiert werden kann. Damit sich die Selbstbewegung der Lebewesen sinnvoll aktuali­ sieren kann, bedarf es zweier Instrumente: einerseits eines Systems von Bewegungsorganen, andererseits eines Systems von Wahrneh­ mungs- oder Sinnesorganen. Beides entwickelt das Leben sehr früh, schon auf der Stufe der Einzeller, und sucht es hier bis zur äußers­ ten Differenzierung, so etwa bei dem mit einem Sinnesfleck und einer Fortbewegungsgeißel ausgerüsteten Augentierchen Euglena viridis – einer einzelligen Grünalge – auszugestalten. Das aber heißt, dass schon das Leben auf der Einzellerstufe durch Bewegung etwas erreichen und durch Rezeptionsorgane seine Umwelt erkennen will. Nimmt man hinzu, dass jeder Einzeller Feinde oder feindliche Umstände flieht und sich von günstigen und förderlichen Situationen anziehen lässt, also auf der Verhaltensebene so etwas wie attraktive und aversive Affektkorrelate, nämlich die der Angst und des Wun­ sches zeigt, kann wenig Zweifel bestehen, dass die Natur hier nicht nur eine neue Organisationsstufe erklimmt, sondern dass hier eine neue Geistigkeit zum Ausdruck kommt, nämlich jene, der es angele­ gen ist, die seelisch-geistigen Funktionen des geschöpflichen Geistes selbst sichtbar werden zu lassen, Funktionen wie Willensstrebung, Wunsch, Angst und Wahrnehmung, sogar, wenn man die Funktion des Erbgutes hinzunimmt, Gedächtnis und Identitätswahrung über die veränderliche Zeit hinweg.

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Es ist sehr aufschlussreich, dass das Leben auf der Stufe der Einzeller zu seiner Entwicklung viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als der gesamte übrige Evolutionsprozess benötigt. Die ersten Einzeller, die kernlosen Blaualgen (Prokaryonten), erscheinen im Archaikum und sind 3500 Millionen Jahre alt, während die ersten Vielzeller (Metazoen) erst im Jungpräkambrium um 600 Millionen v. Chr. auftauchen. Warum ist das so? Hier lässt sich ein neues, weiteres kosmisches Grundgesetz, die achte Regel, herauslesen, die wie folgt formuliert werden kann:558 Im Verlauf der kosmischen Evolution wird immer wieder beson­ dere Sorgfalt auf die Schaffung der Fundamente gelegt, weil sie alles Weitere, was noch kommt, treu und zuverlässig tragen muss. Man denke sich den Fall, die Wesensstruktur des Einzellers (oder gewisser Moleküle) würde plötzlich instabil und beliebig. Dann bräche mit einem Mal die gesamte Welt der Organismen zusammen und zerfiele. In allen Phasen des kosmischen Prozesses haben die Zeiten, währe