Philosophie der Natur: Abriß der speziellen Kategorienlehre [2015 Reprint Edition] 9783111248646, 9783111626697

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Philosophie der Natur: Abriß der speziellen Kategorienlehre [2015 Reprint Edition]
 9783111248646, 9783111626697

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Erster Teil. Dimensionale Kategorien
I. Abschnitt. Dimensionen Der realen Belt
1. Kapitel. Stellung von Raum und Zeit als Kategorien
2. Kapitel. Die Kantische Raum- und Zeitlehre
3. Kapitel. Realzeit und Anschauungszeit
4. Kapitel. Ausdehnung und extensive Größe
II. Abschnitt. Kategorialanalyse des Raumes
5. Kapitel. Der geometrische Raum
6. Kapitel. Der Realraum
7. Kapitel. Die Räumlichkeit der Stege
8. Kapitel. Der Anschauungsraum
9. Kapitel. Die Räumlichkeit des Anschauungsfeldes
III. Abschnitt. Kategorialanalyse der Zeit
10. Kapitel. Problemansätze der Zeitanalyse
11. Kapitel. Die Realzeit
12. Kapitel. Die Zeitlichkeit der Realprozesse
13. Kapitel. Die Zeitmodi höherer Ordnung
14. Kapitel. Die Anschauungszeit
15. Kapitel. Die Zeitlichkeit des Anschauungszeit
IV. Abschnitt. Das Raum Zeitsystem der Natur
16. Kapitel. Kosmologische Raumzeitlichkeit
17. Kapitel. Die Kategorie der Bewegung
18. Kapitel. Spekulative Relativismen des Raumes und der Zeit
Zweiter Teil. Kosmologische Kategorien
I. Abschnitt. Das Werden und die Beharrung
19. Kapitel. Das Realverhältnis
20. Kapitel. Das Werden und der Naturprozeß
21. Kapitel. Modalanalyse des Prozesses
22. Kapitel. Die Substantialität
23. Kapitel. Die Beharrung und das Beharrende
24. Kapitel. Abwandlungen der Beharrung
25. Kapitel. Die Zuständlichkeit
II. Abschnitt. Die Kausalität
26. Kapitel. Die kausale Determinationsform
27. Kapitel. Zur Metaphysik der Verursachung
28. Kapitel. Komplexes Bewirken und Einmaligkeit
29. Kapitel. Psychophysische Kausalität
30. Kapitel. Die Aufweisbarkeit de» Kausalzusammenhanges
31. Kapitel. Kausalität als Bewußtseinskategorie
III. Abschnitt. Naturgesetzlichkeit und Wechselwirkung
32. Kapitel. Der Prozeß und seine Gesetze
33. Kapitel. Das Naturgesetz und seine mathematische Struktur
34. Kapitel. Klassische und statistische Gesetzlichkeit
35. Kapitel. Naturgesetzlichkeit als Erkenntniskategorie
36. Kapitel. Die Wechselwirkung
37. Kapitel. Komplexes Bewirken
IV. Abschnitt. Natürliche Gefüge und Gleichgewichte
38. Kapitel. Das dynamische Gefüge
39. Kapitel. Innere Dynamik und Stabilität der Gefüge
40. Kapitel. Zentraldetermination
41. Kapitel. Der Stufenbau der Natur
42. Kapitel. Dynamische Sanzheitsdetermination
43. Kapitel. Dynamisches Gleichgewicht
44. Kapitel. Selektivität der Gleichgewichte
Dritter Teil Organologisdje Kategorien
I. Abschnitt Das organische Gefüge
45. Kapitel. Aufgabe und Einteilung
46. Kapitel. Das Individuum
47. Kapitel. Der formbildende Prozeß
48. Kapitel. Das Widerspiel der Prozesse
49. Kapitel. Formgefüge und Prozeßgefüge
50. Kapitel. Die organische Selbstregulation
II. Abschnitt. Das überindividuelle Leben
51. Kapitel. Das Leben der Art
52. Kapitel. Die Wiederbildung des Individuums
53. Kapitel. Tod und Zeugung
54. Kapitel. Die Variabilität
55. Kapitel. Die Regulation des Artlebens
III. Abschnitt. Die Phylogenese
56. Kapitel. Die Wartung
57. Kapitel. Die Zweckmäßigkeit
58. Kapitel. Organische Selektion
59. Kapitel. Die Mutation
60. Kapitel. Ursprüngliche Formbildung
IV. Abschnitt Organische Determination
61. Kapitel. Da organische Gleichgewicht
62. Kapitel. Der Lebensprozeß
63. Kapitel. Der nexus organicus
64. Kapitel. Die Artgesetzlichkeit

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N i c o l a i H a r t m a n n : Philosophie der N atur

Philosophie der TTatur 2l briß bec fp egl eilen ß a t e g o c i e n t e r t e

von

TUcolm f)actmann

M alter de Grurjter L as vöv als das wandernde lund im Werden beharrende) Jetzt versteht lKav. 13 g).

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H a r t m a n n . Philosophie der Natur

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beisammen, sondern in die Mannigfaltigkeit der einander ablösenden Jetztpunkte auseinandergezogen ist (vgl. Kap. 12 b). Das Beisammensein in jedem Jetzt ist somit nichts Geringeres als die Aufhebung der auseinanderreißenden Funktion der Zeit. Diese zeitliche Identität der Substanz mit sich selbst in der Vielheit der Prozeßstadien ist nicht ohne inneren Widerstreit faßbar. Parmenides konnte sie auch nur festhalten, indem er den Prozeß preisgab. Unbegrenzte Dauer widerspricht dem Gesetz des Prozesies, welches besagt, daß nichts Reales unvergänglich ist. Diese Antinomie wird freilich hinfällig, wenn man die Absolutheit der Beharrung fallen läßt (wie Punkt 5 oben es aus­ spricht). Zunächst aber ist doch zu fragen, was das rätselhafte Jdentischbleiben der Substanz überhaupt kategorial bedeutet. Hier ist nun einzusetzen, w as die Analyse der Realzeit ergeben hat. Die „Dauer" als Modus der Zeitlichkeit bedeutet nicht das Verharren im Zeit­ punkte, sondern gerade das Durchlaufen der Zeitpunke. W as an den Zeit­ punkt gefesselt ist, das vergeht mit ihm, denn die Zeitpunkte entgleiten aus dem Jetzt in die Vergangenheit,' das Jetzt aber rückt im Zeitstrom vor, es wandert in Richtung auf die Zukunft. Dauer ist das Mitgehen mit dem vorrückenden Jetzt, das Verharren im Jetzt oder die Erhaltung in ihm. R ur so gibt es in der Zeit ein reales Bleiben (vgl. Kap. 13b). Ewige Dauer also wäre hiernach das unbegrenzte und unaufhebbare Mitgehen eines Seienden mit dem „wandernden Jetzt", und insofern das Bleiben oder die ewige Beharrung im Jetzt. Die Sleatische Bestimmung des ewigen „Jetztseins" würde sich also an ihr erfüllen, zugleich aber auch das im obigen Punkt 1. geforderte Sein in der Zeit. Denn das Beharren im Jetzt ist ein Jn-der-Zeit-Sein, ist sempiternitas, nicht aetemitas. Auf diese Weise ergibt sich ein besierer S inn des „Widerstehens" der Substanz im Prozeß. Der Prozeß folgt dem Zeitfluß, seine Stadien werden von ihm mitgeführt. Die Substanz dagegen folgt ihm nicht. Gleich­ wohl befolgt sie das Gesetz der Zeit, und zwar, indem sie der entgegen­ gesetzten Relativbewegung des Jetzt folgt. D as heißt es, daß sie im Jetzt beharrt. Sie widersteht nur dem Vergehen, widerstreitet also nur dem Gesetz des Prozesses, nicht dem der Zeit. Das ist wichtig. Dem Gesetz der Zeit kann nichts Reales widerstehen. Dem Gesetz des Prozesses aber widersteht in seinen beschränkten Grenzen alles, w as Dauer hat, und wenn es auch nur eine kleine Zeitspanne währt. Is t doch der Prozeß selbst dasjenige, was am sichtbarsten Dauer hat. Die Substanz dehnt die Dauer nur ins Unbegrenzte aus. Aber ein Widerstehen im Prozeß überhaupt ist auch die kürzeste Dauer genau so gut wie die längste. Substanz ist das, was sich durch den Prozeß nicht aus dem Jetzt verdrängen läßt, also w as im wandernden Jetzt sich festhält.

Es bewährt sich hier, was in der Zeitanalyse ausgemacht wurde: nicht die Zeit vernichtet und nicht sie „zeitigt". Beides tut nur der Prozeß. Die Zeit „verdrängt" nichts aus dem Jetzt, ihr Fluß ist neutral. Der Lauf des Werdens in der Zeit ist es, der alles Gewordene wieder verdrängt. E r ist es, der ewig nachdrängt mit neuem Werdenden. E r macht es, daß alles Reale sich überhaupt so hart drängt. W as aber sich im Jetzt erhält, widersteht ihm.

b. Synthese von Substrat und Beharrung. Das Quantitative in der Substanz

Im Neukantianismus mühte man sich darum, die Substanz als bloße Beharrung zu verstehen. I h r Wesen schien dann in einem Gesetz auszu­ gehen, das man in Analogie zum ersten Newtonschen Axiom der Mechanik als „Gesetz der Beharrung" zu fassen suchte. W as man damit zu erreichen hoffte, war die Ausschaltung der anbeten Seite der Substanz, des Substrates. Substrate konnte ein radikaler Idealism us nicht akzeptieren, am wenigsten in Form der M aterie; die Kategorien der N atur mußten in den Momenten der Form, des Gesetzes und der Relation aufgehen. Nun aber hat die Analyse der Relationskategorie gezeigt, daß alle Relation relativ auf Substrate ist, weil sie sonst bloße Relation von Relationen wäre, was einen unendlichen Regressus ergibt. Letzten Endes sind es dann Rela­ tionen von nichts, und folglich auch gar keine echten Relationen mehr (vgl. Aufbau, Kap. 24 b, 28 a). Es geht eben nicht ohne ein Beharrendes ab. Wenn man bloß nach Erhaltung fragte, konnte man freilich auch mit der „Form" antworten, wie einst die Aristotelische Metaphysik es tat, die aber daneben die M aterie als zweite A rt der Substanz festhielt. M an erschöpft den S inn der Sub­ stanz nicht, wenn man so einseitig fragt. Es bleibt die Frage übrig, „was" sich denn erhält. Darauf kann man nur mit einem Substrat antworten. W as sich in Form und Relation auflöst, oder gar in Gesetzlichkeit, ist ein in sich Komplexes, Zusammengesetztes. Hier aber ist nach dem Nicht­ zusammengesetzten gefragt, also nach dem in jene Momente nicht Auflös­ baren. Damit rückt der Substratcharakter der Substanz in den Vorder­ grund. Substratcharaktere gibt es an vielen Kategorien. Sie sind uns noch zuletzt an Raum und Zeit begegnet, sofern ihre Dimensionen Substrate extensiver Größe sind. I n der Substanz tritt das Substratmoment um vieles mehr verstärkt und verdichtet auf. Freilich ist es hier ebenfalls Träger quantitativer Bestimmung, aber keineswegs bloß in dimensio­ nalem Sinne. Dieses verdichtete und gleichsam vergröberte Substrat­ moment ist es, was die Philosophie im Prinzip der „M aterie" zu fassen

suchte. Diese Fassung ist maßgeblich geblieben, obschon die inhaltlichen Deutungen der M aterie nicht lange bei einem dinglich gedachten Stossprinzip stehen bleiben konnten. Denn die „M aterie" erfüllte noch zwei andere Forderungen der Substanz: M aterie ist in aller Ausdrücklichkeit nur dm niederen Schichten des Realen eigen, und sie ist quantitativ exakt faßbar. Von hier aus erst wird es durchsichtig, wie merkwürdig die Verbindung von Beharrung und Substrat in der Substanz ist. I n der Beharrung ver­ bindet sich die Identität mit einem Modus der Zeitlichkeit, der Dauer. D as Substrat dagegen ist nicht ein bloßes Korrelat der Beharrung; das Beharrende als solches braucht ja gar nicht Substrat zu sein, es kann an sich auch ein Form- oder Relationsmoment sein. Wie hätte sich sonst die Lehre von den „substantiellen Formen" so lange und hartnäckig halten können? Substrat, allgemein genommen, ist eine Fundamentalkategorie, ihr kategorialer Gegensatz ist die Relation; und nach dem Gesetz der Ele­ mentargegensätze involvieren diese beiden einander, stehen also in Korrela­ tion (Aufbau, Kap. 28 a, d). Wo es also reale Relationen gibt (d. h. Realverhältnisie im Sinne von Kap. 19), da muß es auch irgendein reales Substrat geben. Dieses Moment des realen Substrates ist es, was hinter den alten Be­ griffen „M aterie" oder „Stoff" steht. Es bildet eine neue, durchaus ein­ zigartige Abwandlung der Substratkategorie neben den leichteren und gleichsam schwebenden Substratmomenten in den dimensionalen Kate­ gorien. Denn Zeit und Raum find wohl Realkategorien, aber doch nur Spielräume realen Seins. Bei der Substanz dagegen handelt es sich um das physisch Reale selbst, das sich in jenen Realdimenfionen entfaltet, und zwar um dasjenige Moment dieses Realen, das aller Formung, Relation, Quantitätsbestimmtheit und Veränderung zugrunde liegt. Wobei wiederum das Zugrundeliegen nicht im Jdentischbleiben allein besteht, sondern ebenso in der Unbestimmtheit und unbegrenzten Bestimmbarkeit durch Formmomente, also in den bekannten Prädikaten der Formlosigkeit und Formbarkeit. Damm verdichtet sich in der Substanz der Substratcharakter so sehr wie sonst in keiner Realkategorie. Und von hier aus ist es zu verstehen, daß man in der Metaphysik Substrat und Substanz überall dort voll­ kommen miteinander verwechselt hat, wo man die Seite der Identität und der Beharrung aus den Augen verlor. So geschah es in gewissen Formen des M aterialism us — im extremen Gegensatz zu jenen idealisti­ schen Theorien, die über der Beharrung das Substrat ganz aus den Augen verloren. Auf beide Arten ist das Wesen der Substanz nicht zu fasten. Denn dieses Wesen besteht in der Synthese der beiden an sich heterogenen Momente: der zeitlichen Identität im Prozeß und des unauflöslichen Un­ bestimmten, der Beharrung und des Substrats.

D as wird sehr einleuchtend an der quantitativen Seite der Substanz. Diese gehört zunächst ganz dem Substratmoment an. Das ist merkwürdig, weil sie die rationale Seite der Substanz ist, der Substratcharakter aber als das Unbestimmte in ihr gerade die irrationale Seite ausmacht. Hier aber muß man sich erinnern, daß dieses Verhältnis an allem mathematisch Faßbaren wiederkehrt. S tets liegt ein Substrat zugrunde, das Träger der quantitativen Bestimmung ist; und meist ist es ein bloß dimensionales. Solche Substrate quantitativer Verhältnisse lösen sich ihrerseits niemals in Q uantität auf, sondern bleiben unerfaßt und unaufgelöst in ihnen bestehen. Die mathematische Bestimmung des physisch Realen fußt überall schon auf einem gänzlich unmathematischen Etw as und bekommt von diesem her erst ihren physikalischen Sinn. Dasselbe gilt auch vom Substratmoment in der Substanz. Die Menge der Masse läßt sich messen, und die Menge der Energie läßt sich nicht weniger messen. Gerade das Unerkennbare in der Substanz ist Träger der rationalen Bestimmtheit und des am besten Erkennbaren in ihr. D as Substrat ist eben nicht selbst Q uantität, sondern nur ihr Träger (das, „wovon" es Q uantität gibt). D as spricht sich denn auch in aller Klarheit in den Formulierungen aus, die man von physikalischer Seite der Sub­ stanz gegeben hat: die M aterie in der W elt „kann weder vermehrt noch vermindert werden"; so hat es noch K ant verstanden. Und später, als die Energie an die Stelle der M aterie trat, behauptete man dasselbe von der Energie. D as aber bedeutet, daß man die Beharrung selbst als eine quanti­ tative verstand. Damit schließt sich der K reis: die Beharrung selbst ist jetzt nicht nur die des Substrates, sondern auch die seiner Q uantität. Die beiden kategorialen Momente der Substanz scheinen unter dem Gesichts­ punkt der Q uantität vereinigt.

c. Kritik traditioneller Substanzvrädikate. Relativität der Substanz I n Wirklichkeit ist es natürlich keineswegs die Quantitätsbestimmung, was Beharrung und Substrat aneinander bindet. Die Bindung ist viel­ mehr eine innere: Beharrung kann nur das Beharren eines .b eh arren ­ den" sein, und dieses kann im Falle der Substanz kein Form- oder Rela­ tionsmoment sein, weil es ja gerade im Wechsel der Formen und Re­ lationen beharren soll. (Es bleibt also nur übrig, daß es ein Substrat ist. Sieht man näher zu, so findet man, daß dieses auch das einzige nicht abweisbare Argument für eigentliche, d. h. substrathaste Substantialität ist. Demgegenüber ist die quantitative Erhaltung ein mehr äußeres Folge­ moment. Und das ist insofern kategorial wichtig, als auf diese Weise mit

der Aushebung der quantitativ absoluten Beharrung (des identischblei­ benden Gesamtquantums in der W elt) noch nicht alle Substantialität über­ haupt aufgehoben zu sein braucht. Auf Grund dieser Feststellungen kann man das in sich selbst schwer faßbare Wesen der Substanz weiter zu bestimmen suchen, und zwar wiederum auf dem Umwege über die Negation aller Bestimmungen, welche die Metaphysik ihr angehängt hat. Bon diesen Bestimmungen seien hier fünf herausgehoben, die sich der Kritik darbieten, weil sie auch in manchen heutigen Fassungen der Substanz fortleben. Die Substanz, so meinte man, könne nur „eine" sein, sie müsie un­ endlich, unteilbar und allgemein sein. M an meinte damit lauter auszeich­ nende Bestimmungen, durch die man sie über alles sonstige Seiende er­ heben wollte, gegen die also alles übrige Seiende zum Akzidentellen her­ abgesetzt werden sollte. Die Krone setzte man der Substanz durch das Prädikat der Absolutheit auf, womit man die Unbedingtheit und das völlige Aufstchgestelltsein, die aseitas meinte. Allgemeiner Anerkennung haben sich diese Bestimmungen zu keiner Zeit erfreut. Denn sie hingen schon an einer bestimmten Auffasiung der Substanz und haben in der Neuzeit den pantheistischen Substanzbegriff ergeben. I n diesem wurde zuletzt die metaphysisch konstruktive Tendenz greifbar. Aber unwillkürlich sprang sie auch auf andere Faffungen der Substanz über. 1. Die Substanz ist ihrem Wesen nach kein Singular. E s kann sehr wohl numerische Vielheit und Verschiedenheit der Substanzen geben, und zwar gleichgültig, ob man sie sich atomistisch oder monadologisch oder nach A rt der alten Entelechienlehre denkt. Ebenso könnten auch nach Grund­ sätzen der neuzeitlichen Physik Substanzen verschiedener A rt nebenein­ ander bestehen, etwa die Kraft neben der Materie, oder auch die Energie neben der Materie. Ob dem so ist oder nicht, läßt sich aus dem Wesen der Substanz durchaus nicht entnehmen. Nur empirische Forschung kann dar­ über entscheiden. 2. Die Substanz braucht nicht unendlich zu sein. Hinter der Unendlich­ keitsforderung steht seit sehr alter Zeit die Vorstellung» die Substanz könnte sich sonst einmal erschöpfen,' dieser Gedanke wurde von den S p ä­ teren schon dem Anaximander zugeschrieben. D as hat natürlich nur Sinn, wenn die Substanz sich „verbraucht", also einer Vernichtung von innen her unterliegt. I n dieser Vorstellung also fehlt der Beharrungsgedanke. Erkennt man die Beharrung als Wesensmoment an, so leistet eine end­ liche Substanz dasselbe wie eine unendliche. Das leuchtet auch an dem Prinzip des sich erhaltenden Quantum s ohne weiteres ein.

3. Die Substanz ist durchaus teilbar. Daß man ihr Unteilbarkeit zu­ schrieb, beruhte auf Verwechselung von Substanz und Element (letzteres als kleinste Einheit verstanden). I n bezug auf die materielle Substanz konnte hier sogar die Streitfrage entstehen, ob fie ins Unendliche teilbar sei oder nicht. Leibniz vertrat in strenger Konsequenz das erstere, sprach dafür aber der M aterie die Substantialität ab; die Unteilbarkeit sprang auf die immaterielle Substanz über. Diese aber hatte keinen Substrat­ charakter, war also gar nicht Substanz im eigentlichen und kategorialen Sinn. 4. Die Substanz ist nicht allgemein. Das Prädikat der Allgemeinheit stammt teils von den „Formsubstanzen" her, die keine Substanzen find, teils von der Formlostgkeit und Unbestimmtheit des Substrates, sofern dessen Teile sich qualitativ nicht unterscheiden. Beides ist verfehlt. Denn in der Teilung der Substanz (etwa als M aterie) ist auch ohne qualitative Differenzierung und sonstige Bestimmungen jeder Teil schon rein als Teil ein anderer. Das war ja gerade der alte Gedanke der Individuation durch die Materie. Die Form war das Gemeinsame, die M aterie das Trennende,' durch fie sollte jedes Ding ein D ieses da" sein, unvertauschbar mit anderen Dingen. Denn es war ja Formung eines anderen Stückes M aterie. Freilich genügte das nicht zur wirklichen Individualität (Aufbau, Kap. 37 a, b). Aber die bloß numerische Einzigkeit in der Sphäre des Dinglichen konnte sehr wohl darauf beruhen. Und selbst abgesehen von der Frage, wie weit solch ein Jndividuationsprinzip tragfähig ist, wird hieran doch klar, daß Substanz nicht durch Allgemeinheit, sondern noch eher durch das Gegenteil von Allgemeinheit charakterisierbar ist. 5. Substanz braucht kein Absolutum zu sein, selbst dann nicht, wenn ihr absolute Beharrung zukommen sollte. Die Definition Spinozas, die seiner Zeit so selbstverständlich klang, datz man nach einer Begründung gar nicht fragte: per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur", ist falsch. M an kann natürlich ein solches erdachtes Urwefen „Substanz" nennen; aber mit dem wirklichen, im physischen Phänomen­ bereich verwurzelten Problem eines beharrenden Substrates hat das nichts zu tun. D as in se esse mag zutreffen — wenn man es nämlich im Sinne der aseitas deutet, was bei Verbindung mit der causa sui wohl un­ vermeidlich ist — aber es folgt nicht aus dem kategorialen Wesen der Substanz; Leibniz konnte seine Substanzen mit gleichem Recht als „ge­ schaffen" ansehen, was zwar ein Wunder ist, aber kein größeres als die Aseität. Und was das per se concipi anlangt, so ist es notorisch unzu­ treffend, denn gerade erfaßt wird die Substanz nur vom Sekundären und Abhängigen her. I n der Sprache der Scholastik, sie wird „von den Akzidentien her" erfaßt, in der des 17. Jahrhunderts „von den modi her", jedenfalls also nicht per se, sondern per aliud.

D as allein Wichtige hierbei ist wohl, daß Substanz nicht ohne Re­ lationen zu etwas bestehen kann, also nicht „absolut" (abgelöst seiend), bah sie vielmehr nur relativ auf etwas gleichfalls Seiendes das ist, w as sie ist. D as liegt schon in ihrem Terminus: das sub besagt, daß sie ein .Harunter-Stehendes" ist (sub-stans), also einem anderen als sie selbst zugrunde liegt. S ie ist somit ihrem Wesen nach Glied einer Relation. Reißt man sie aus der Relation heraus, so bleibt vielleicht ein Seiendes anderer A rt übrig, aber nicht ein „Subsistierendes". Insofern hatte K ant Recht, sie unter die Relationskategorien einzureihen. Sie geht zwar in dieser Relation nicht auf, und insofern hatte K ant auch wieder Unrecht. Aber sie kann doch nicht außer ihr bestehen. Die Substanz steht eben nicht anders da als die anderen Kategorien auch: nicht ohne die unaufhebbare Bezogenheit auf das Toncretum, das auf ihr beruht. S ie hat kein Sein neben ihrem Prinzipsein: daran ändert auch der verdichtete Substratcharakter in ihr nichts; gerade vom Substrat konnte die Analyse ja zeigen, daß es strenges Korrelat seines Gegensatzes, der Relation ist. Die Substanz ist zwar etwas an sich Seiendes, aber nicht ein „für sich Seiendes". I n der Sprache der Alten: sie ist kein xcopioröv. Es ist merkwürdig genug, daß Aristoteles das nicht gesehen hat, sondern der otio-fa das abgelöste Bestehen zusprach. Diese R elativität der Substanz auf ihr ontisches Gegenteil ist von größter Bedeutung. S ie besagt an sich weder, daß die Beharrung eine relative, noch daß der Substratcharakter ein relativer sei. Aber sie erstreckt sich, sobald von anderer Problemseite her eine Erschütterung der Absolut­ heit einsetzt, mittelbar auch auf die Beharrung a ls solche und auf den Substratcharakter. Beides wird noch zu zeigen fein.

d. Realität der sog. Akridentien. Wirkungsverhältnis der Substan»

Der Abbau der spekulativen Prädikate ist nicht Abbau der Substanz. Eher scheint es, daß die ontologische Synthesis ihres Begriffs damit erst beginnt. Freilich steht die Sache nicht so einfach, daß für jede gestrichene Bestimmung sogleich eine neue eingeführt werden könnte. Wohl aber rücken damit die beiden kategorialen Momente, die Beharrung und das Substrat, immer greifbarer in die zentrale Stellung. Das wird noch deut­ licher, wenn man den Abbau erst einmal zu Ende führt. 1. Da ist z.B . die Korrelation „Substanz — Akzidenz". Auch sie ist nicht ohne Schiefheit, denn ihre Glieder find ungleichwertig. Dasselbe gilt auch von „Subsistenz und Jnhärenz", einem Gegensatz, mit dem man jene Schiefheit auszugleichen suchte. Beide Begriffspaare erwecken die Vor­ stellung, als wäre außer der Substanz alles in der W elt unwichtig, sekun-

dar, bloß anhängend oder nicht int vollen Sinne seiend. D as „Akzidens" spiegelt außerdem noch die Zufälligkeit vor und greift damit unrecht­ mäßigerweise auf das Determinationsproblem über, das im Substanzverhältnis noch gar nichts zu suchen hat. Diese ganze Korrelation ist dem sekundären, aber der Anschauung ge­ läufigen Verhältnis von Ding und Eigenschaft entnommen. Und in der T at sind es die „Dinge", die einst in der Aristotelischen Metaphysik zu Substanzen erhoben waren (in der dritten A rt der oöctIcc dem ativoXov). Das aber hat sich am wenigsten als haltbar erwiesen; Dinge find zu­ sammengesetzte Gebilde von teilweise sehr begrenzter S tabilität und be­ dürfen ihrerseits der Substanz zu ihrem Aufbau; Eigenschaften aber sind nicht einmal etwas Reales, sondern nur Erscheinungsweisen bestimmter Realverhältnisie (Kap. 20 c). W as an der Korrelation haltbar ist, beschränkt sich auf das TrägerVerhältnis. Als Träger von Seinsbestimmungen aber ist die Substanz vielmehr Substrat. W as also in dem Verhältnis „Substanz — Akzidens" reell ist, geht in dem fundamentaleren Verhältnis von Substrat und Relation auf. 2. Als besonders irreführend hat sich in diesem Zusammenhange die Ansicht erwiesen, daß nur die Substanz eigentlich seiend sei. Dies würde, da es sich hier ausschließlich um reales Sein handelt, geradezu bedeuten, daß nicht nur die Eigenschaften, Relationen und Zustände (Akzidentien), sondern auch das Werden irreal wäre. S o entsprach es allerdings der alten Entgegensetzung von Sein und Werden, deren Schiefheit oben auf­ gezeigt wurde (Kap. 20 b). Die Analyse des Prozesses konnte das Gegen­ teil erweisen, daß vielmehr gerade das Werden, der Prozeß, die Verände­ rung eminent real sind, ja daß sie die charakteristische Seinsform des Realen ausmachen. Das hat sich an der Substanz als dem Beharrenden nicht aufgehoben, sondern erst recht bestätigt. Denn auch die Substanz be­ h a u t nur „im" Prozeß, besteht also nur relativ auf ihn und ist ohne ihn nichtig: sie ist das, was sich im Prozeß selbst gegen ihn durchsetzt. W as man einst als das Akzidentelle bezeichnete, ist um nichts weniger seiend als das Substantielle. Am Seinscharakter des Realen macht es keinen Unterschied aus, ob etwas zugrunde liegt oder getragen wird, ob es beharrt oder flüchtig wechselt, ob es Relation oder Relatum ist (vgl. Grundlegung, Kap. 5 b). Das sollte schon daraus einleuchten, daß die Substanz relativ auf das ist, was auf ihr beruht. Ist das Getragene nicht real, so auch nicht das Tragende. 3. Die Substanz ist nicht der Einwirkung enthoben. Auch das ist lange «erkannt worden, und zwar am meisten in der Metaphysik der Neuzeit. „Die Substanz erleidet keine Wirkung", dieser Satz gehört eng zusammen

mit jenen Attributen der Einheit, Unteilbarkeit, Unendlichkeit» Absolut­ heit, durch die man die Substanz über das empirische Realverhältnis hin­ auszuheben suchte. Linen Teil dieser Attribute lehnte Leibniz ab, andere behielt er bei, so die Unteilbarkeit der Monade und ihr Entrücktsein aus dem Wirkungszusammenhang. Das letztere aber machte die Seinsweise der Substanz sehr schwierig. Denn wenn die Monade nicht Wirkungen er­ leiden konnte, so konnte sie auch ihrerseits nicht wirken. Die reale Welt wurde auf diese Weise atomisiert, die fehlende Einheit des Ganzen mutzte in ein utopisches Präformations-System (prästabilierte Harmonie) ver­ legt werden, und der Weltprozetz mit seinem Folgezusammenhang mutzte sich innerhalb der Monaden abspielen. Es w ar kein Rückfall in mechanistisch-atomistische Weltanschauung, wenn die Nachfolger alle diese Konsequenzen preisgaben, das Wirken und das Leiden der Substanz wiederherstellten und damit zur Einheit des Weltzusammenhanges zurückkehrten. D as vielmehr war eine kategoriale Notwendigkeit. Und erst mit dieser Rückkehr wurde das Feld frei für eine ontologisch haltbare Fassung der Substanz. Die Monadenlehre w ar der letzte jener rationalistischen Versuche, die Substanz ins Ilberphyfische zu steigern, vielleicht der grotzartigste von allen, aber dennoch ein spekulativer und verfehlter. Die Substanz besteht nicht isoliert für sich. W äre sie der Einwirkung enthoben, so wäre sie auch dem Realverhältnis enthoben, also auch der Veränderung von Realoerhältnissen; ohne Substanz aber sind die Ver­ hältnisse keine Realverhältnisse, und das Dimensionssystem, in dem sie spielen, ist kein solches der realen Welt, Raum und Zeit find keine Real­ kategorien. Wohin diese Konsequenz führt, ist wohlbekannt: sie setzt die N atur zur Erscheinung herab und entwertet damit die Erundschicht der realen Welt. Nun aber ist die Substanz vielmehr ein zentrales Naturproblem. Das Reale an ihr ist, datz sie dasjenige ist, was in den mannigfachen Wirkungszusammenhängen das sich Verändemde ist (vgl. Kap. 22 o), nämlich das allein der Veränderung Fähige. Und wenn die Wissenschaft lehrt, datz Veränderung wesentlich auf Wirkung und Gegenwirkung be­ ruht, so mutz die Substanz wirken und Wirkung erfahren können. D as gehört freilich schon in den Problemzusammenhang einer anderen Kategorie hinein, den der Kausalität. Aber so eng ist eben die Kohärenz der kosmologischen Kategorien, datz man die eine nicht ohne die andern behandeln kann. Das wird noch um vieles klarer, wenn man das Ringen der Physik selbst um den Faktor der Beharrung in den Naturprozessen mit hineinzieht.

e. Materie, Kraft, Energie. Dynamische Substanz und Entropie Lange Zeit hat in der Naturwissenschaft die M aterie als alleinige Substanz gegolten. Das ist verständlich, weil man damit, wennschon nicht beim Wahrnehmbaren, so doch bei einer gewissen Analogie des W ahr­ nehmbaren blieb. Der Sache nach besteht kein Grund, weshalb Substanz durchaus M aterie sein sollte. Früh hat man versucht, den Raum an die Stelle der M aterie zu setzen. So geschah es im Platonischen „Timaios", so in Descartes' Metaphysik. Das Affirmative dieser Versuche war nicht zu halten, denn physische Substanz mutzte etwas „im" Raume sein, konnte also nicht selbst Raum sein. Aber sie zeigen doch, datz überhaupt auch anderes als M aterie ein beharrendes Substrat sein kann. E s wurde schon oben gezeigt: Substanz kann M aterie sein, kann aber auch etwas anderes sein. J a , sie braucht gar nicht eine zu sein; es kann auch mehrerlei Substanz nebeneinander bestehen, und nicht nur neben­ einander. sondern auch mannigfach ineinandergreifend. Insofern war der Gedanke einer Prozetzsubstanz neben der Stoffsubstanz nicht von der Hand zu weisen. Entscheiden können darüber keine apriorischen Gründe, sondern nur empirische Einsichten. Darauf eben kommt es an, was sich im Haus­ halt der Naturvorgänge als behartlich erweist. Der alte Gedanke einer empirisch aufweisbaren formlosen Stoff­ substanz hat der kategorialen Analyse nicht standgehalten. Der Prozetz der Einsicht ging hier den Weg, die letzten angenommenen Einheiten immer wieder aufzulösen. Die Atome, die einst als Letztes galten, haben sich als zusammengesetzt erwiesen, und zwar aus Einheiten, von denen es nicht feststeht, ob sie selbst wiederum materiellen Charakter haben. Aber man kann auch anders, kann direkt dynamisch analysieren. Die Frage ist dann: was wissen w ir eigentlich von der M aterie? Das stoff­ liche Substrat als solches ist nicht gegeben, wir haben nur seine Autzerungen, und auf Grund ihrer supponieren w ir das Substrat. Die Äuße­ rungen aber erfahren wir als Kräfte. Solcher Kräfte nun gibt es drei: den Widerstand, die Trägheit und die Schwerkraft. Die erstere dieser Kräfte ist in der Physik als Undurchdringlichkeit bekannt, die dritte geht auf Gravitation zurück; die Trägheit aber ist der ersteren insofern ver­ wandt, als sie auch die Form eines Widerstandes hat, des Widerstandes nämlich, den der Bewegungszustand eines Körpers seiner Änderung ent­ gegensetzt. Damit stimmt es überein, datz die Physik die Masse durch ihre Schwere und Trägheit mitzt. Kant hat auf Grund der Undurchdringlichkeit und der Schwere den Versuch gemacht, die M aterie ganz in das Widerspiel zweier Erundkräfte, der Attraktion und Repulsion aufzulösen (die Träg­ heit kam dabei freilich zu kurz). Danach ist die Undurchdringlichkeit eine

Folgeerscheinung der Repulfivkraft, während die Schwere auf Attraktion beruht. Ein materieller Körper läßt sich eben auffasien als eine bestimmte Anordnung dieser Kräfte im Raume, wobei der innere Zusammenhalt auf Anziehung, die Oberflächenbestimmtheit, Elastizität usw. auf Ab­ stoßung beruht. M an kann es dahingestellt sein lasten, ob eine solche Auflösung der M aterie in K raft einer genaueren Prüfung standhält. Daß die Trägheit darin nicht aufgeht, ist ein empfindlicher M angel; gerade die Trägheit stellt ja am unmittelbarsten die .B eharrung" dar. Im m erhin ist der Ver­ such bemerkenswert, weil er die Substanz in ein anderes Substrat hinein­ verlegt. An die Stelle des Stoffes tritt die Kraft. Der Kraftbegriff selbst ist nun auch aus anderen Gründen nicht ge­ eignet, den Materiebegriff ganz abzulösen. Weder das Substratmoment noch das Beharrungsmoment lasten sich in ihm unterbringen. Die K raft als solche „erhält" sich nicht, sondern verbraucht sich in ihrer Leistung; es entstehen zwar stets neue Kräfte, aber an dem Übergang der alten in sie ist die Id entität des Subsistierenden nicht greifbar. E s läßt sich der K raft wohl ein Substratcharakter zuschreiben, aber er wird in ihr selbst nicht faß­ bar. überall wo in den älteren Theorien dieser Charakter in ihr erblickt und a ls Beharrungsmoment beansprucht wurde — wie z. B. schon bei Leibniz —, da tendierte der Gedanke auch bereits über den engeren K raft­ begriff hinaus. Und als im 19. Jahrhundert die Erhaltungsphänomene in den dynamischen Zusammenhängen immer greifbarer wurden, ging man zum Energiebegriff über. Äußerlich unterscheidet sich die Energie von der Kraft nur durch die andere quantitative Fastung. Aber dahinter birgt sich ein innerer Wesens­ unterschied. Denn die Q uantität ist auf ein Substrat bezogen, und das Substrat ist ein anderes. Nicht als bestände nach der neuen Auffastung die Energie irgendwie „neben" der Kraft. E s ist vielmehr das substratartige Moment im Wechsel der Kräfte und Kraftverhältniste selbst, das im Energiebegriff faßbar wird. Darum ließ sich sogar der hergebrachte K raft­ begriff ausschalten und durch den Energiebegriff ersetzen. F ür die Physik ist das zunächst nur eine Frage der Zweckmäßigkeit, bezogen auf die mög­ lichst allseitige und mathematisch einheitliche Fastung der Phänomene. Ontologisch gesehen aber ist der Schritt ein viel größerer: an der Energie ließ sich das Moment der Beharrung ohne Schwierigkeit greifen, ja, es bildet den eigentlichen Grundzug in ihr. Die Energie ist das, was im Wechsel der Vorgänge sich erhält. Sie ist die dynamisch verstandene Substanz. M it dem Satz von der Erhaltung der Energie kommt man im Sub­ stanzproblem der Beharrung des Prozestes wieder näher. Denn die S eins­ art der Energie ist wesentlich eine prozestuale: Energie besteht recht eigentlich int Umsatz, im Übergang, im Vorgang. Sie ist die dynamische

Innenseite des Prozesses, und darum ist fie in der geleisteten Arbeit quantitativ fahbar. Die Substanz erweist sich so zwar nicht als der Prozeß selbst, wohl aber als das, was im Prozeß beharrt, das dynamische Sub­ strat, das durch alle Teilprozesie und ihre Phasen hindurchgeht und in den verschiedenen Erscheinungsformen sich abwandelt. D as Phänomen der potentiellen Energie widerstreitet dem nicht. E s macht im Gegenteil die Erhaltung erst vollständig. Wo der Prozeß in einen relativ stabilen Zustand übergeht, da erhält sich die Energie in der Spannung, im Gefälle; bildet doch z. B. die bloße Entfernung der Masten im W eltraum ein gravitatives Gefälle, das als bewegender Faktor auch auf die größten Abstände nicht ganz verschwindet. Überhaupt ist der Unterschied von potentieller und kinetischer Energie ein relativer. Und gerade an dem Moment der Beharrung, d. h. am Eharakter der Energie als dynamischer Substanz, zieht er keine Grenze. Wohl aber gibt es etwas anderes, was der Erhaltung der Energie eine Grenze setzt: das Gesetz der Entropie. M an hat dieses Gesetz zum zweiten Axiom der Thermodynamik gemacht, denn es betrifft die Tendenz der Wärmeenergie zum allgemeinen Ausgleich — zu einem Zustande also, in dem alle Gefälle verschwinden und damit zugleich die kinetische Energie selbst sich aufhebt. D as bedeutet, daß es unter den Formen der Energie eine gibt, in der die Energie sich gleichsam verläuft und zur Ruhe kommt. Entropie bedeutet zwar keine Zerstörung oder Vernichtung von Energie, wohl aber eine Neutralisierung, in der keine Transformation mehr statt­ findet. E s steht hier nicht zur Untersuchung, inwieweit das Sichverlaufen ein endgültiges ist. Darüber kann auch die Physik nur hypothetische Aussagen machen. Wichtig im ontologischen Sinne ist nur, daß auch die Energie dem Postulat einer absoluten Substanz nicht in jeder Hinsicht genügt. f. Das Zureichen relativ beharrender Substrate im Weltprozeh

Die Substanz ist eine charakteristisch kosmologische Kategorie: sie ist, soweit es sie überhaupt gibt, nur der anorganischen N atur eigen; schon in der organischen ist sie nur noch mittelbar (an den niederen Aufbauelementen) vertreten, und in den höheren Seinsschichten verschwindet sie endgültig. Alle Übertragung „nach oben hin" hat sich bei ihr als irrig er­ wiesen. I n der anorganischen N atur aber find es nur zwei Substrate, die ihrer Artung nach Substanz sein können, die M aterie und die Energie. Und von diesen beiden hat sich gezeigt, daß fie zwar Beharrung haben, aber nicht absolute Beharrung. Die M aterie im Weltraum ist bei hohen Temperaturen der Auflösung in Strahlung ausgesetzt. An den großen leuchtenden Gasmasten, den Fixsternen, läßt sich die Abnahme der Maste durch Ausstrahlung sogar annähernd berechnen. Die Energie aber ist

wenigstens der Entropie ausgesetzt, auch ihre Erhaltung ist in bezug auf den Prozeß, den sie trägt, eine bedingte. Beide also behalten einen Rest von Fragwürdigkeit. Bedenkt man nun, daß der S inn der Substanz doch gerade die Absolut­ heit sein sollte — denn auf das Jdentischbleibende im allgemeinen Werden ging doch die Frage —, so scheint es nun vielmehr, daß es eigentliche Substanz in der W elt vielleicht gar nicht gibt. Oder, wenn man dieses Resultat vorsichtiger faßt: entweder missen wir immer noch nicht um das absolut Beharrende, oder es gibt keines. Im letzteren Falle bleibt nur die relative Substanz übrig. Die letzten Substrate des Raturprozesies, die wir fassen können, hätten auch dann wohl hochgradige Konstanz; aber ihr Widerstand gegen den Prozeß wäre nur ein begrenzter. Und, wenn sie dem Vergehen unterliegen, so dürften sie wohl auch entstanden sein. Is t nun damit der Sinn der Substanz überhaupt erledigt? Und wenn nicht, was bleibt dann eigentlich übrig von den hochfliegenden Erw ar­ tungen. die sich einst an den Substanzbegriff geheftet haben? Das sind zwei ganz verschiedene Fragen. Auf die erste ist zu antworten: der S inn der Substanz ist damit keineswegs erledigt; auf die zweite aber: von den hohen Erwartungen bleibt freilich nichts übrig. E s bleibt davon nicht nur darum nichts übrig, weil sich absolut be­ harrliche Substrate der Veränderung nicht nachweisen lassen, sondern auch weil solche Substrate, wenn sie sich nachweisen ließen, dem erträumten Sehnsuchtsbilde des „Unvergänglichen" ja ganz und gar nicht entsprächen. W as hilft es dem Menschen, wenn die M aterie behaut oder die Energie sich im Weltprozeß erhält? Das ganze» nüchtern kosmologisch gewordene Substanzproblem hat mit jener pathetischen Flucht vor der Vergänglich­ keit, von der einst die spekulativen Substanztheorien ausgingen, so gut wie nichts mehr zu tun. I n seiner Lösung, soweit das Resultat eine solche ist, sind Fragerichtung und Pathos des einstigen Ausganges vollkommen verschwunden und vergessen. Und was in ihnen reell war, bedarf einer ganz anderen Beantwortung, als die Kategorien des Kosmos sie geben können. Antwort kann hier nur aus einer Analyse der Sinn- und W ert­ gehalte kommen, um deren Erhaltung und Entfaltung es dem Menschen zu tun ist. Diese aber unterliegen einer ganz anderen Gesetzlichkeit, und ihre Erhaltung, soweit sie reicht, ist jedenfalls nicht die eines beharrenden Substrats. Der Blick für das kosmologische Substanzproblem aber wird gerade erst frei, wenn die romantischen Substanzvorstellungen mitsamt den an ihnen hängenden spekulativen Hoffnungen endgültig ausgeschaltet sind. Es muß Klarheit darüber sein, daß eine Welt, in der weder die M aterie noch die Energie, noch sonst irgendein Substrat „absolut" behaute, um nichts geringer wäre als eine solche, in der etwas absolut Beharrendes zugrunde liegt.

Sodann aber ist zu fragen, ob denn eigentlich ein Grund bestand, w ar­ um in der kosmischen Welt durchaus ein absolut Beharrendes zugrunde liegen müßte. Das einzige durchsichtige Beweisstück, das in dieser Richtung zielte, lag in der Dialektik der Veränderung. Von dieser aber hat sich gezeigt, daß der Beweis nicht schlüssig ist. E s bedarf für die Veränderung wohl eines beharrenden Substrates, aber keineswegs eines absolut be­ harrenden. Denn wer wollte entscheiden, ob es neben der Veränderung nicht auch eigentliches Entstehen und Vergehen gibt? Hält man diese Dinge zusammen, so leuchtet ein, daß den N atur­ phänomenen, soweit wir sie übersehen, auch „relativ beharrende" Substrate genügen. Und solche lassen sich sehr wohl nachweisen — und zwar ebenso­ sehr in Richtung auf ein dynamisches wie in Richtung auf ein stoffliches Substrat. Hier stimmen also die Resultate durchaus zu den Phänomenen. Wer mehr beweisen wollte, würde zuviel beweisen, und damit würde er in Wahrheit nichts beweisen. E s ist durchaus nicht nötig, den Substanzgedanken deswegen gleich ganz zu relativieren. Allerdings kann man alle relativ stabilen Gebilde — von den Protonen und Energiequanten aufwärts bis zu den großen kosmischen Systemen — für Substanzen im relativierten Sinne erklären; ja, man kann dasselbe auch mit Dingen, Lebewesen und Personen machen, denn eine gewisie Konstanz haben ja auch sie. Aber damit ist nichts ge­ wonnen, und man müßte dann schon für M aterie und Energie einen neuen kategorialen Begriff einführen, um das in einem viel strengeren Sinne Erhaltungsmächtige gebührend auszuzeichnen. Die Begriffsverschiebung liefe also auf ein bloßes Wortgeplänkel hinaus. E s behält deswegen einen guten Sinn, die Synthese von Substrat und Beharrung, wie sie int Substanzprinzip enthalten ist, den letzten faßbaren Substraten des Naturprozeffes vorzubehalten, obgleich auch ihre Behar­ rung vielleicht keine absolute ist.

24. Kapitel. Abwandlungen der Beharrung a. Beharrung ohne Substrat und Subsistenz Eine Wiederkehr der Substanzkategorie in den höheren Seinsschichten gibt es nicht. Richt wenigstens, wenn man Substanz im strengen Sinne als Synthese von Beharrung und Substrat versteht. Darum kann man auch nicht von einer Abwandlung der Substanz sprechen. Wohl aber gibt es eine Abwandlung der Beharrung, also des einen Momentes der Synthese. Denn nicht alle Beharrung in der Welt ist die eines Substrates, und nicht alles Beharrende ist Substanz.

M an könnte nun, und zwar gerade aus diesem Grunde, die Wiederkehr der Beharrung und ihre Abwandlung in den Seinsschichten hier aus dem Spiele lassen. Denn in der Tat gehört sie nicht mehr zum engeren und eigentlichen Substanzproblem. Doch spielt die Abwandlung der Beharrung ohne Substrat und ohne die Form der Subsistenz im Aufbau der realen Welt, und selbst in dem engeren der Natur, eine beträchtliche Rolle. Und La Beharrung nun einmal eines der Grundmomente der Substanz ist, so ist doch bei dieser Kategorie der Ort, die weiteren Erscheinungsformen des Beharrens in die Betrachtung einzubeziehen. M an kann die Frage dieser Abwandlung auch so formulieren: was gibt es anher der Substanz noch an Beharrendem in der W elt? Diese Frage hat in zwiefachem S inn hohes Jnteresie, erstens, weil die Substanz sich als eine bloß relativ beharrende erwiesen hat, und zweitens, weil ihre Be­ harrung nicht das Ausschauen des Menschen nach Erhaltung des ihm Wich­ tigen und Wertvollen befriedigt. Es ist nun freilich nicht ausgemacht, dah ein solches Postulat Erfüllung finden mühte. Wenn aber Wertgehalt und Sinnerfüllung sich im Schichtenreich der Welt nach oben hin verdichten — w as anzunehmen wir ja Grund genug haben — und andererseits Ab­ wandlungsformen der Beharrung in den höheren Schichten auftreten, so liegt es doch auch ohne spekulative Annahmen nahe, in den höheren Formen der Beharrung nach einem Bleibenden zu suchen, das vielleicht in gewisien Grenzen wirklich jenem Postulat entspricht. E s ist durchaus nicht so, dah die Betrachtung damit zu den metaphysi­ schen Gesichtspunkten des alten Substanzproblems zurückkehrt. Wohl aber kommt der berechtigte S in n der Fragen, die halb verstanden und einseitig gesteigert in ihm steckten, auf diese Weise wieder zu seinem Recht — indem die Fragen selbst auf ihr legitimes M äh zurückgebracht und einem gereisteren Wissen um die Grenzen ihrer Lösbarkeit kritisch angepaht werden. S ie können hier natürlich nicht im vollen Umfange verfolgt werden. Doch fallt auch ohnedies genügend Auskunft für sie ab. Eines aber muh zum Voraus in aller Bestimmtheit ausgesprochen werden: absolute Beharrung gibt es in den höheren Schichten des Realen ebensowenig wie im Kosmos, ja noch weniger als dort. M it der M aterie und vollends mit der Energie kann sich der rein zeitlichen Dauerhaftigkeit nach schwerlich etwas in der Welt messen. D as aber ändert nichts daran, dah die höheren Erhaltungsformen die für den Menschen ungleich ge­ wichtigeren und inhaltlich reicheren sind. Selbstverständlich überschreitet diese Betrachtung das Problemfeld der Naturphilosophie. Das ist bei keiner Naturkategorie zu vermeiden, die nach oben hin wiederkehrt und überhaupt Abwandlungen zeigt. Die Kategorialanalyse kann eben das Naturproblem nicht so vollständig isolieren, wie es dem Bedürfnis einer strengen Systematik genehm wäre. Und das

hat [ein Gutes. E s fällt von diesen Durchblicken durch das Schichtenreich, die sich von einzelnen Kategorien aus ergeben, immer wieder unerwartet reiches Licht auf die Naturverhaltnisse zurück. Denn erst, indem diese mit analogen Seinsformen höherer Ordnung vergleichbar werden, läßt ihre eigene Besonderheit sich zureichend würdigen.

h. Beharrung und Erhaltung. Subsistenz, Trägheit und Konsistenz

Es gibt in der Welt noch andere Erhaltung als die durch Substanz. S ie ist nicht Beharrung im engeren Sinne, denn es liegt in ihr kein unzerstörbares Substrat zugrunde. E s handelt sich dabei überhaupt nicht um die Erhaltung von etwas ontisch Prim ärem und Elementarem, sondern gerade um die der höheren und getragenen Gebilde, und zwar durch schaf­ fende und hervorbringende Mächte, die dafür sorgen, daß im Bergehen des Einzelgebildes immer wieder Gebilde der gleichen A rt entstehen. Der Effekt ist, daß im unausgesetzten Entstehen und Vergehen der Einzelfälle ihr Typus sich erhält und im größeren Ganzen die Mannigfaltigkeit des Seienden die gleiche bleibt. W ir haben es also mit zwei Hauptformen der Erhaltung zu tun: 1. mit der eigentlichen Beharrung, bei der die Erhaltung an der Trägheit eines Substrats hängt, während die geformten Gebilde wechseln; und 2. mit der Erhaltung ohne Substrat, bei der im Prozeß immer wieder die gleichgeformten Gebilde auftreten. Im Gegensatz zur „Subsistenz" kann man diese A rt der Erhaltung als „Konsistenz" bezeichnen; an die Stelle der „Substanz" als der unveränderten Grundlage, tritt die „Konstanz" der Form, als die stetige Wiederkehr des Getragenen und Ausruhenden. Im antiken Gedanken der „substantiellen Form" war diese zweite A rt der Erhaltung klar erkannt. W as man mit ihr meinte, war eben die identisch bleibende Formung wechselnder Einzelfälle. Der Fehler w ar nur, daß man die Form als etwas Subsistierendes verstand, oder gar ihr ein von den Fällen abgelöstes Bestehen gab. Daß man ihre Konstanz für eine absolute hielt, ist demgegenüber der weit geringere Fehler. Eigentliche Subsistenz gibt es, wie gesagt, nur auf der niedersten Stufe des Realen. Zwei kategoriale Momente zeichnen sie aus. Das eine ist der quantitative Eharakter der Erhaltung, denn es ist die „Menge" des Substrats, die sich erhält (wennschon nur relativ). Das andere Moment ist die Passivität der Erhaltung. Das ist es, was den engeren S in n der Beharrung ausmacht: die Resistenz eines Substrats gegen seine Vernichtung, sein Widerstehen im Prozeß, das wir als „Trägheit" der Masse, Erhaltung der Bewegungsgröße oder der lebendigen Kraft kennen. Das Fortbestehen der Energie in ihrem Umsatz, verstanden in dem prägnanten Sinne ihrer Erhaltung im f f r a i t m o n n , Philosophie der Natur

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„wandernden Jetzt", beruht darauf, daß sie, einmal vorhanden, nicht von selbst verschwinden kann; genau so wie die Dauer der Materie, wenn sie einmal da ist, sich nicht verflüchtigen kann. I n beiden Fällen hat die Erhaltung die Form der Trägheit. Die Beharrung des Subsistierenden hat hiernach unverkennbar einen Einschlag des Negativen, ein Moment des Nichtkönnens. Und dieses eben ist es, was wir an ihr als Passivität oder Trägheit bezeichnen. Ganz anders die höheren Formen der Erhaltung. Hier ist es überall eine aktiv formgebende Instanz, die im Spiele ist, eine so oder so deter­ minierende Macht. Denn nicht ein undifferenziertes Etwas erhält sich hier, während das Differenzierte zugrunde geht, sondern gerade die besondere Bestimmtheit, die Struktur, das höhere, getragene, vielfach bedingte Ganze. Und weil differenzierte Struktur die unvergleichlich höhere Labilität hat und von tausend ständig wechselnden Faktoren in Abhängigkeit steht, so bedeutet ihre Erhaltung ein Sich-Durchsetzen gegen ganz andere Bedrohtheit und Anfälligkeit. Das ist überhaupt der wurzelhafte Unterschied zwischen Substanz und Konsistenz: durch jene erhält sich nur das Formlose und das der S eins­ höhe nach Nichtige, durch diese aber erhält sich das Hochgeformte, das allein Träger von Wert- und Sinnkomponenten in der realen W elt ist. Die besonderen Formen der Konsistenz sind mannigfaltig und zeigen in jeder Seinsschicht wieder ein anderes Gesicht. Sie fangen schon inner­ halb der anorganischen Natur an, wo sie am deutlichsten in der Konstanz der Naturgesetze greifbar find. Sie steigern sich bedeutend im Reich des Organischen, denn hier geht es um die Erhaltung des Lebens im ständigen Zerfall seiner Träger, ja sogar gegen deren natürlichen Tod. Und sie er­ reichen ihre Höhe im seelischen und geistigen Leben, gerade dort also, wo die Bedingtheit und die Gefährdung am größten ist. c. Die Tyvik der Abläufe und die organische Formkonstanz

Die erste und loseste dieser Erhaltungsformen ist die der Gesetzlichkeit. Sie ist in gewissen Grenzen allen Schichten des Realen gemeinsam, aber in sehr verschiedenem Grade. Eine wahrhaft beherrschende Rolle spielt sie in der anorganischen Natur, ebendort also, wo auch die Substanz zu Hause ist. Und das Eigenartige ist, wie sich in dieser Seinsschicht die zwei grund­ verschiedenen Beharrungsformen begegnen und überlagern. Denn die Naturgesetzlichkeit ist bereits wesentlich auf die quantitativ beharrenden Substrate der Naturvorgänge bezogen. Sie selbst ist nicht quantitative Erhaltung, obgleich das Quantitative in ihr eine wesentliche Rolle spielt, sondern von ganz anderer Art. Die Naturgesetzlichkeit ist nämlich das Allgemeine in den Abläufen der P rozesie, ihre Typik, gleichsam ihr Festhalten an den eingefahrenen Geleisen.

W as sich so erhält, ist also die Form des Prozesses. Die Erundgestalt, das Schema des Geschehens kehrt wieder. Aber diese A rt der Erhaltung ist unvollständig: sie besteht nicht in strenger Formidentität, sondern nur in genäherter. Über den Formtypus der Abläufe ist die Besonderheit der Fälle gelagert, die ihn verschleiert. Denn gerade die Konstanz der Gesetze macht es, daß unter anderen Bedingungen der Ablauf des Prozesses sich anders gestaltet; der Bedingungen aber sind viele, und ihre Kollokation ist immer wieder eine andere. Und selbst, wo es sich um eine lange Reihe von Fällen handelt, welche die auffälligste Übereinstimmung zeigen, bedarf es doch nur einer leisen Änderung der Umstände, um abweichende Verläufe her­ vorzubringen. Die Form der Erhaltung in der Gesetzlichkeit steht in einer Hinsicht der Beharrung der Substrate noch ganz nahe. Auch in ihr ist etwas vom Charakter der Trägheit, wie ja schon das Bild vom eingefahrenen Geleise es ausspricht. Sie ist zwar nicht Substanz, sondern durchaus Formkonstanz, aber doch nur eine solche des allgemeinen Schemas: sie ist kein aktives Hervortreiben, sondern passives Treiben im Geleise. D as ist zwar nur ein Bild, aber es zeigt doch deutlich die Zwischenstellung dieser Erhaltungs­ form (vgl. das Nähere hierzu unten Kap. 32). Ganz anders steht es im Reich des Organischen. Hier subsistiert nichts mehr, es gibt keinen Lebensstoff und keine Lebensenergie, nicht jedenfalls nach A rt der vitalistisch vorgestellten Lebenskraft. Die tragenden Elemente, dem Stoff, wie der Energie nach, wechseln ständig. W as sich erhält, ist das getragene Ganze, das Sekundäre, Abhängige, das hochkomplexe Gefüge, das „Leben". Und wie erhält sich das Leben, da doch der Organismus der ständigen Auflösung ausgesetzt ist? E s erhält sich durch seine eigene Aktivität, indem es das Verlorene ständig wiederbildet. So geschieht es innerhalb des Individuums durch Assimilieren aufgenommenen Stoffes, d. h. durch selbst­ tätige Angleichung und Herausbildung des Stoffes zur eigenen höheren Form. Und im Leben der Arten geschieht dasselbe durch die Reproduktion der Individuen: das Leben setzt dem Tode des Individuums die E r­ zeugung neuer Individuen entgegen, und was sich in diesem Wechsel der jeweiligen Lebensträger erhält, ist die nächst höhere Einheit, das S tam ­ mesleben (das der „A rt"). Za, man kann über diesen zwei Stufen orga­ nischer Erhaltung noch eine dritte erblicken. Denn auch das Leben der Art, obgleich es den natürlichen Tod nicht kennt, kann doch bei veränderten Lebensbedingungen zugrunde gehen. Aber auch dem setzt das Leben eine innere Aktivität entgegen: die Umbildung der Art, sowie auch die Neu­ bildung von niederen Stufen aus. Die Beweglichkeit des Arttypus selbst, die zunächst wie ein Mangel an Erhaltung aussieht, erweist sich als ein weiterer Modus der Lebenserhaltung, und zwar wiederum an der nächst­ höheren Einheit.

Der Lebensprozeß verläuft in einem ständigen Widerspiel von Verlust und Gewinn, und zwar mehrfach gestaffelt nach der Größenordnung der Lebenseinheit. Auf jeder Stufe geschieht die Erhaltung durch den Aus­ gleich des Verlustes, indem der Lebensprozeß selbst den Ersatz beschafft. Und zwar tut er das aktiv durch Neuschöpfung, er setzt der Formauflösung die Neubildung entgegen und stellt dadurch ein inneres Gleichgewicht der Prozesse her, das er zugleich zweckmäßig reguliert. Und feine Erhaltung besteht in der Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichts. Hiervon wird unten bei den organologifchen Kategorien ausführlich zu handeln fein. An dieser Stelle möge das Gesagte als Andeutung ge­ nügen. Denn nur auf den einen Punkt kommt es hier an, daß diese A rt Erhaltung etwas ganz und gar anderes ist als die Beharrung eines Substrates; aber auch etwas anderes als bloße Gesetzlichkeit oder die Formtypik der Abläufe. Denn sie beruht auf einer Spontaneität des Lebendigen, auf seiner Fähigkeit, sich selbst zu überschreiten, sich über den eigenen Untergang hinaus in anderen Individuen fortzusetzen. Diese Fähigkeit der Selbsttranszendenz hat nur das Lebendige. Vergleicht man den Organismus mit Dingen und physischen Systemen, so ergibt sich das merkwürdige Verhältnis, daß er, der das um vieles abhängigere und zerstörbarere Gebilde ist, doch die höhere Erhaltungsfähig­ keit hat. Der Maßstab, der hier anzulegen ist, darf freilich nicht einfach als ein solcher der zeitlichen Dauer gefaßt werden. Denn die Erhaltung des Lebens hängt auch an der Fortdauer physischer Bedingungen. Die Überlegenheit liegt vielmehr in der A rt der Erhaltung: die anorganischen Gebilde erzeugen sich nicht von sich aus wieder, sie entstehen einfach, wo sich die Bedingungen zusammenfinden, aus denen sie hervorgehen; nur der Organismus bildet sich spontan wieder. I n diesem Sinne erweist sich an ihm die Konsistenz stärker als die Subsistenz.

d. Erhaltung des Ich und der moralischen Person

Aber es gibt noch höhere Formen der Erhaltung. Eine der merkwürdig­ sten ist die des Ich, die allem Seelenleben zugrunde liegt. Sie überschreitet zwar die Lebensdauer des Individuum s nicht, ist also insofern eng be­ grenzt; aber auch die begrenzte Dauer, die immerhin ein ganzes Menschen­ leben mit seinen mannigfaltigen Wandlungen umfaßt, ist schon ein so großes Wunder, daß die philosophischen Theorien immer wieder nach Erklärungen dafür gesucht haben. M an hat denn auch oft genug meta­ physische Deutungen versucht, hat der Seele Substantialität zusprechen zu müsien gemeint und daraus Unsterblichkeitsschlüsse gezogen. Von der Schiefheit solcher Konsequenzen ist schon die Rede gewesen (Kap. 22 k); sie mögen deshalb hier aus dem Spiele bleiben. D as Wunder wird aber

nicht geringer, wenn man sich in den Grenzen des durch die seelischen Phänomene Gegebenen hält und sich dabei klar macht, daß es nicht Subsistenz ist, was hier vorliegt. Das Ich ist nicht Substanz, aber es hat Konstanz im Wandel seiner Zustände, Akte und Inhalte. Es ist nicht wahr, daß das Bewußtsein bloß im Erlebnisstrome besteht, wie in neuerer Zeit immer wieder behauptet worden ist; wenn das wahr wäre, so könnten die vielen Erlebnisse und Vorstellungen gar nicht die eines und desselben Subjekts sein. J a , die Id entität des Ich ist sogar schon Voraussetzung einheitlicher Geschehnisvorstellungen, denn diese umfassen schon eine zeitlich auseinandergezogene Mannigfaltigkeit des Gegebenen, setzen also Beziehung des gegenwärtig Gegebenen auf früher Erfahrenes voraus. Die Einheit der Apperzeption, wenn auch nur einer empirischen, ist die erste ihrer Bedingungen. Und zwar ist diese zeitlich übergreifende Einheit nicht etwa ein bloßer Be­ ziehungspunkt, den man sich allenfalls auch ideell denken könnte, auch nicht ein Pol, ein Zentrum, ja nicht einmal eine Tiefenschicht (die ja dann unbewußt wäre), sondern durchaus umfasiende Einheit, und folglich viel­ mehr das Ganze. Wie aber ist es möglich, daß das Ganze des Bewußtseins identisch bleibt, während alles inhaltlich Greifbare in ihm unausgesetzt wechselt? Durch den Leib geschieht das nicht, würde auch nicht genügen, selbst wenn die Erhaltung seiner Form und seines Lebens die des Bewußtseins mit umfaßte. Auch auf eine bestimmte Bewußtseinsfunktion wie die des Gedächtnisies, die hier freilich eine wichtige Rolle spielt, läßt sich nicht alles abwälzen. Das Gedächtnis setzt vielmehr das Jdentischbleiben des Ich schon voraus und ist überdies selbst ein großes Rätsel; denn die E r­ innerung ist ja nicht bloße Aufbewahrung, sie nimmt den Weg der Wieder­ bildung des In h a lts durch die Vorstellung. Diese Funktion geht also nicht in einer bloßen Bewußtseinsgesetzlichkeit auf, wie die Asioziationstheorie lehrte. Und die physiologische Deutung versagt vollends. Vielmehr setzt hier eine ganz neue Form des Sichselbsterhaltens ein, die sich auch von der organischen unterscheidet. Denn das Fortbestehen des Ich im Wechsel seiner Zustände und In h a lte hat weder die Funktions­ weise der Reproduktion, noch auch die der Regulation eines Gleichgewichts. Sie ist vielmehr aktives Festhalten an sich, ein Sich-Durchsetzen als Einheit gegen das eigene Zerfließen im Erlebnisstrome. Das ist auf den niederen Stufen des Bewußtseins schwer zu fassen, nimmt aber auf den höheren die Form eines Sich-felbst-Bejahens und -Anerkennens an, und zwar gerade int tatsächlichen Andersgewordensein. Hier ist die Identität des Ich sogar in seine Freiheit gestellt. Denn als moralische Person kann das Ich sich auch von sich lossagen; es kann übernommene Verpflichtung abwälzen, kann seine Taten, die in seine Entscheidung gestellt waren, verleugnen.

Damit gibt es seine Identität preis. E s kann aber auch sich zu seinen Taten bekennen, verwirkte Schuld auf sich nehmen, Zugesagtes einhalten, zu seinem W orte stehen, und zwar auch dann, wenn es unter veränderten Umständen nicht mehr dasselbe will. Dieses Phänomen besagt nichts Geringeres als ein aktives Sich-Jdentischsetzen, ein spontanes „Sich mit sich selbst Identifizieren". Auf dieser Fähigkeit beruht die Identität der moralischen Person. Sie besteht in der Macht, die das Bewußtsein über sich selbst hat, für sich einzustehen und gutzusagen. Aber diese Macht mutz ausgeübt und im Vollzüge verwirklicht werden. Von selbst fällt dem Menschen die Erhaltung der eigenen Person nicht in den Schoß. Und je nachdem, ob er die Kraft der Identifizierung aufbringt oder nicht, also sich selbst treu bleibt oder untreu wird, gilt er auch der fremden Person als verläßliche Einheit oder als ein zerfallen­ des Etwas im flüchtigen Spiel der Geschehnisse. Der beharrende Mensch ist der nicht in der Flucht des Erlebens Aufgehende. Sein Bewußtsein ist mehr als Strom wechselnder Vorstellungen, Reaktionen und Antriebe. e. Die Erbaltungsformen des geistigen Seins

Zeitlich von ganz anderer Größenordnung und wiederum anders der A rt nach gestaltet sich die Erhaltung der Einheiten geistigen Lebens in der Geschichte. Die Gemeinschaftsform und das Recht, der Lebensstil und der künstlerische Geschmack, die M oral eines Volkes, sein Wissen und seine Sprache sind nicht vom Einzelnen erschaffen, können auch von ihm nicht aufgehoben oder durch etwas anderes ersetzt werden, wennschon er in seinen Grenzen vielleicht an ihrer ständigen Fortbildung das (einige tut. W as ein völkischer Geist aus sich gemacht hat, erhält sich geschichtlich über den Wechsel der Individuen und Generationen hinweg. Es ist darin zwar bedingt durch die Vererbung der Anlage, beruht aber nicht auf ihr allein, auch nicht auf bloßer Wiederbildung der Individuen — wie es ja auch inhaltlich im Bewußtsein des Einzelnen nicht aufgeht —, sondern auf einer besonderen Form des Ilbergebens und llbernehmens.die vom gemein­ samen geistigen Leben selbst als einer geschlossenen Ganzheit her be­ stimmt wird. Der den Individuen gemeinsame geschichtliche Geist ist eine eminent erhaltungsfähige Einheit. Er ist zwar getragen von den Individuen, besteht nicht neben oder über ihnen, sondern durchaus nur in ihnen; und als getragener ist er denn auch dem Sein nach abhängig von ihnen, hält aber nichtsdestoweniger die Individuen in straffer inhaltlicher Abhängig­ keit von sich. Denn jedes Individuum muß, um erst einmal auf die Höhe seiner Zeit zu kommen, ihn übernehmen und dazu einen langen Prozeß ‘) Vgl. hierzu wie zum folgenden „Das Problem des Geistigen Seins", Berlin 1932 (2. Stuft. 1949), insonderheit die Kapitel 18—25, sowie 46—49.

der Bildung durchmachen. Es muß in ihn hineinwachsen, mutz an sein Niveau heranwachsen. Dieser Prozeß nimmt je nach den Eeistesgebieten verschiedene Form an; er steigert sich vom bloßen Nachahmen in der Über­ nahme der Muttersprache und des äußeren Lebensstiles über das bewußte Lernen auf den Wissensgebieten bis zu mühsam erringbarer Erfahrung und innerer Auseinandersetzung mit dem Bestehenden in dem Gebiete von Recht und M oral. Bei dieser A rt der Erhaltung sieht man nun besonders deutlich, wie sie an der Autonomie des höheren und getragenen Gefüges als an einer überindividuellen Ganzheit hängt. Dieses Gefüge ist von den Einzelper­ sonen insofern abhängig, als es ohne sie als Träger gar nicht bestehen kann, übt aber gleichwohl über sie eine bestimmende Macht aus, denn es formt sie geistig und bestimmt die Grundrichtungen ihres Verhaltens, ihres Empfindens und Wertens. Der Einzelne kann sich gegen diese Macht wohl auflehnen, aber doch stets nur in bestimmter Hinsicht und auf be­ stimmtem Lebensgebiet; er kann nicht auf der ganzen Linie in Opposition gegen sie leben. Denn damit würde er sich von aller Menschengemeinschaft ausschließen. Der geschichtliche Gemeingeist, solange er in einem Volke lebendig ist, bildet eine ganz eigene Form einer getragenen höheren Einheitssphäre, die von sich aus die tragenden Elemente determinativ überformt. Seine Eigen­ gesetzlichkeit ist ein schlagendes Beispiel jener Synthese von Autonomie und Abhängigkeit, die im Schichtenreich der W elt durchgehend die höhere Seinsform auszeichnet (vgl. Aufbau, Kap. 59 und 60). Hegel, der das Phänomen des geschichtlichen Geistes zuerst klar erkannte, beging den ver­ hängnisvollen Fehler, den „objektiven Geist" als Substanz zu deuten. Da­ mit machte er seine Entdeckung zweideutig und beschwor berechtigte Ab­ lehnung herauf. Der Fehler war ein rein kategorialer. Denn mit Sub­ sistenz hat diese A rt Erhaltung nichts gemein: nichts liegt hier „zugrunde", was nach A rt eines Substrates in träger Passivität beharren könnte. Das Umgekehrte ist der Fall: der geschichtliche Geist erhält sich int wandernden Jetzt, indem er das Entstehen und Vergehen der geistigen Individuen in seine eigene Seinsform aufnimmt und sich in immer neuen Trägern ver­ wirklicht. — Die Formen der Erhaltung im Reiche des Geistes sind damit nicht erschöpft. Noch eine besonders eigenartige sei hier erwähnt: die erstaun­ liche Konstanz, mit der sich gewisse Geistesprodukte geschichtlich erhalten, auch wenn der geschichtlich lebende Geist, dem sie entsprangen, längst geschwunden ist. So ist es mit Schriftwerken, mit Kunstwerken aller Art, ja sogar mit einzelnen Inhalten dieser Werke, z.B . mit gewissen dich­ terischen Gestalten. Die Frage ist, wie solche Gebilde sich erhalten, wie sie nicht nur Generationen, sondern auch die Völker und ihre Schicksale über­ dauern.

Die Antwort ist nicht leicht zu geben und kann hier nur angedeutet werden. Beim geschichtlich lebenden Geiste kann diese Erhaltung nicht liegen, denn er gerade ändert sich, während die Eeisteswerke bestehen bleiben. I n dem materiellen Träger der äußeren Gestaltung allein kann sie auch nicht liegen. Denn die räumliche Formung des M armors, die Schriftzüge auf dem Pergament, die Farbflecken auf der Leinwand sind gar nicht der geistige Gehalt der Werke. Sie lassen ihn nur erscheinen, und auch das nur einem Auge, das in sehr bestimmter Weise zu sehen weiß. Das Kunstwerk besteht überhaupt nur für den Verstehenden; sein dingliches Dasein ist nur das Äußere. D as eigentliche Innere, das w ir meinen, wenn wir es richtig a ls Eeisteswerk nehmen, hat eine eigentüm­ lich schwebende Seinsweise, getragen von der dinglichen Form einerseits, vom auffassenden Geiste andererseits, und doch zu beiden in Gegensatz stehend. Und ebenso schwebend ist auch seine Erhaltung. Der adäquat Auf­ fassende ist keineswegs immer vorhanden, taucht aber wohl geschichtlich immer wieder auf; und wenn er auftaucht, erscheint ihm auch immer wieder der geistige Gehalt des Werkes. E s ist eine Erhaltung über die geschichtliche Diskontinuität hinweg, ein immer neues Wiederfinden, Wiederentdecken und Wiedererkennen. Wahrscheinlich gibt es noch mancherlei Arten der substratlosen E r­ haltung. Gewiß aber ist, daß gerade die höheren Gebilde in der Welt sich nicht durch Subststenz erhalten, sondern durch eine Konsistenz, die sie selbst aufbringen. Sie führen nicht den Kampf gegen das Vergehen als solches, das wäre ein ungleicher Kampf, in dem sie schnell erliegen müßten; sie nehmen vielmehr den Prozeß in ihre eigene Seinsweise auf und regu­ lieren ihn von innen heraus so, daß er selbst zum Erneuerungsprozeß wird. D as macht sich schon innerhalb der anorganischen N atur geltend, in der es doch die beharrenden Substrate gibt. M an sieht es daran, daß sich die höheren Naturkategorien nicht um ein „Zugrundeliegendes" gruppieren — wie noch die romantische Naturphilosophie der Idealisten meinte —, sondern um die höheren komplexen Gefüge.

f. Die Substanz als Bewußtseinskategorie

Ein besonderes Kapitel bildet noch die Rolle der Substanz als Kate­ gorie der Erkenntnis und überhaupt des Eegenstandsbewußtseins, be­ sonders auf dessen niederen Stufen. W ir haben gesehen, daß eigentliche Subsistenz auf gewisse physische Substrate beschränkt bleibt und auch da keine absolute ist. D as menschliche Bewußtsein macht von ihr einen weit ausgiebigeren Gebrauch, als das Seiende rechtfertigen würde. Die An-

schauung, das Erleben, die Vorstellung neigen dazu, alles für Substanzen zu halten, was nur irgendeinen einigermaßen konstanten Zusammenhalt in sich zeigt. Schon die Wahrnehmung beginnt damit, indem sie die Träger sinnlich gegebener Eigenschaften, die Dinge, für Substanzen nimmt. Aber auch das frühe wissenschaftliche Denken verfährt nicht viel anders: es substantialisiert die empirischen Stoffe, die Lebewesen und Personen, und zwar im Gegensatz zu Verhältnissen, Zusammenhängen und Geschehnissen. Die letzteren alle erscheinen ihm als Akzidentien. Die Aristotelische und scholastische Auffassung der Substanz wurzelt noch ganz in dieser populären Anschauungsweise. So gesehen ist die Substanz eine charakteristische Anschauungskategorie, aber freilich ohne die nötige „objektive Gültigkeit". D as langsamer arbeitende kritische Denken löst diese Substantialisierungen Schritt für Schritt auf — zuerst die Verdinglichung, sodann die Verstofflichung und den empirischen Stoffbegriff überhaupt (indem sie in den „Stoffen" vielfache Formmomente entdeckt), zuletzt die Substanzvorstellung im Begriff der höheren Gebilde, des Organismus, der Seele u. a. nt., die alle des substrathaften Kernes entbehren. Die Anschauung hat deswegen nicht auf der ganzen Linie Unrecht. Sie hat z. ÜB. Recht, soweit sie die bloß relative Beharrung der empiri­ schen Gebilde meint. Und in der T at meint sie naiverweise nicht viel mehr; die begrenzte Erfahrung und die Sprache mit ihren gewohnten Substanti­ vierungen geben ihr Recht, obgleich das meiste, was sie dabei im Auge hat, bloß relativ konstante Zustände sind. Doch ist es schwer, hier eine Grenze anzugeben, von der ab sie etwas mehr meint und beharrliche Substrate supponiert. Denn durchaus Unrecht hat sie, sobald sie diese Grenze überschreitet, sobald sie also auch nur die empirische Dauer der Gebilde, an die sie sich hält, für absolute Beharrung nimmt. Und das tut sie unbesehen, wenn auch nicht ausdrücklich, schon weit diesseits aller bewußten Deutung und Annahme. Darum erscheint die Substantialisierung der Elemente, der Atome, der Seele in den frühen Theorien so harmlos und überzeugend, und darum ist es so schwer, ihr auf den Grund zu leuchten. Die Substanz als Anfchauungs- und Vorstellungskategorie ist eben von vornherein eine hybride Kategorie. D as will besagen: sie hat im unkriti­ schen Bewußtsein die Tendenz, sich auf alles zu erstrecken und alles in ihrem Sinne aufzufassen, was nur irgend als geschlossenes Gebilde von gewisser Dauer erscheint. Solcher hybrider (d. h. wirklich „übermütiger") Kategorien gibt es im Bereich der Anschauung und Vorstellung nicht wenige. D as bekannteste Beispiel dafür ist die Finalität. Die Substantialisierung der Dinge ist eine

genaue Parallele zur Teleologifierung der Naturprozesse. Der große Unterschied ist nur, daß im letzteren Falle die untergeschobene Kategorie ontologisch eine solche von weit höherer Seinsordnung ist, während die Substanz von den niedersten Ordnungen des Seienden auf die höheren übertragen wird. Der hybride Gebrauch der Substanzkategorie ist insofern unschuldiger als der des Finalnexus, und seine geschichtlichen Folgen find nicht von gleich katastrophalem Ausmaße. Eine bestimmende Rolle spielt hierbei die V ariabilität des Zeitflusses in der Anschauung (Kap. 15 c): an den Dingen scheint die Zeit „stillzu­ stehen". W ir sehen den Prozeß nicht, dem sie unterworfen sind, oder wir beachten ihn doch nicht; und das genügt schon, sie als Substanzen erscheinen zu lassen. Im übrigen aber ist es bei der Substanz umgekehrt wie bei der Zeit: dort ist die Anschauungskategorie relativiert, während die Realzeit ihren Gleichschritt unbeirrt durchhält; die Subsistenz dagegen wird von der Anschauung absolut gemacht, während sie im Sein überall bloß eine relative ist. — Erst recht hybrid ist natürlich die Substanz im spekulativen Derstandesgebrauch, d. h. bei ihrer Übertragung auf jene metaphysischen Gegenstände — Seele, Gott, Absolutum —, von denen erst ein sehr spätes kritisches Denken sie wieder hat ablösen können. Zwei Fehler stecken in solcher Übertragung: 1. dem Hochkomplexen wird die Trägheit der Materie zugeschrieben, und 2. dem Zeitlosen und bloß Jdeenhaften wird die Realexistenz in der Zeit zugeschrieben. Darum ist der S treit um die Substanz in der Neuzeit so unübersichtlich und lang­ wierig. Auch für die kritischen Tendenzen war es nicht leicht, hier das rechte M aß einzuhalten. M an denke z. B. an Berkeleys Kritik der Sub­ stanz, die gerade nach der falschen Seite zielte; sie ging gegen die materielle Substanz als gegen das „allgemeine Ding" und suchte dieses als nonsens zu erweisen. Gerade in Richtung auf die M aterie aber hat die Subsistenz ihren berechtigten kategorialen O rt. M an konnte aus idealistischen Grün­ den ihre Existenz bestreiten, aber nicht aus kategorialen Gründen ihre Möglichkeit und ihren Begriff. Erw ägt man nun die durchgehende Tendenz des Bewußtseins zur Über­ spannung der Substanzkategorie — von der Wahrnehmung aufwärts bis in das spekulative Denken hinein —, so fragt man sich doch, woran das eigentlich liegt. Insonderheit fällt hierbei auf, daß ja nicht nur alles, was „Dauer" zeigt, sondern auch vieles, was nur einen einigermaßen be­ herrschenden Einheitstypus hat, zur Substantialisierung verführt: die Pflanze, das Tier, der Mensch, das Ich, also die Lebenseinheit und die Bewußtseinseinheit. Dabei weiß doch auch das naivste Bewußtsein sehr wohl um die Verletzlichkeit und Vergänglichkeit dieser Einheiten.

Die Antwort dürfte diese sein: es fehlt der Anschauung an einer pas­ senden Kategorie, die Einheit zu fassen, deren Bestehen sie richtig heraus­ spürt. Darum greift sie zur Nächstliegenden Auskunft, zu der eines „behar­ rend Zugrundeliegenden". So entsteht die Vorstellung von Dingsubstanzen, der Lebenssubstanz» der Seelensubftanz, ja der Geistsubstanz. Daß diese Auskunft auf die genannten Einheitstypen gar nicht zutrifft, kommt nicht zum Bewußtsein, weil Konsequenzen von der Anschauung gar nicht gezogen werden. Der Fehler ist ein grundlegender, kategorialer, er hat die Form einer Inversion des Freiheitsgesetzes: die niedere Kategorie wird dem höheren Gebilde beigelegt, das Fundamentalsein (Subsistieren) auf Hochkomplexe Gebilde übertragen (vgl. Aufbau, Kap. 59 c, d). Aber die Anschauung weiß nicht, was sie tut. Sie kennt die Gesetze des kategorialen W eltbaus nicht. Fehlt es also der Anschauung an der passenden Kategorie, so muß sich auch angeben lassen, welches die fehlende Kategorie ist. Das nun dürfte durch die obige Darlegung eindeutig beantwortet sein: es fehlt der An­ schauung die Kategorie der Konsistenz, sie hat keine Vorstellung von einer Erhaltung des komplexen Gebildes durch dessen eigene Aktivität; freilich hat sie auch kein Wissen um die mannigfache Bedingtheit, Labilität und F ragilität der höheren Gebilde. Darum nimmt sie deren Konstanz für Substanz. Der Gedanke spontaner Selbsttranszendenz liegt ihr himmelfern, und zwar auch beim Organismus, wo er eigentlich erfahrungsgemäß nahe­ liegen sollte. Es ist eben einfacher, selbst die Artform zu substantialisieren als der erstaunlichen Einrichtung der sich immer erneuernden Formbildungsprozesse nachzugehen. Die Anschauung greift nach der einfachsten Auskunft. Und sie bleibt, wie die Geschichte zeigt, noch auf ihren höheren Stufen — als weltanschauliche Theorie — so lange dabei stehen, bis die Überfülle neu erschauter Phänomene sie gewaltsam von da vertreibt.

25. Kapitel. Die Zuständlichkeit

a. Subsistenz und Zustand Es wurde an seiner Stelle gesagt, daß die Kategorie des Zustandes in den engsten Zusammenhang mit der des Prozesses gehört. Zwei Gründe aber bestanden, sie zurückzustellen. Erstens steht auch die Substanz in demselben engen Zusammenhang mit dem Prozeß, und zweitens ist in der philosophischen Tradition der Zustand meist in Beziehung auf die Sub­ stanz gesehen worden, als „ihr" Zustand.

I m letzteren Sinne ist die Zuständlichkeit fast durchgehend in der älteren Metaphysik gefatzt worden. Diese Fassung ist wohlbekannt in den Begriffen desirLSo;, der affectio und des modus. S ie drücken das aus, was zwar „an" der Substanz auftritt, aber nicht zu ihrem „Wesen" zählt und darum an ihr wechselt. Im 17. Jahrhundert hat man sich viel Mühe gegeben, die affectiones dennoch aus der Substanz selbst zu verstehen und womöglich als ihre notwendige Folge aufzufasien. Dabei aber wurde der Unterschied von den „Attributen" ein relativer, wodurch wiederum die intendierte aeterna essentia substantiae verflüchtigt wurde. Auf diesem Wege war nicht vorwärtszukommen. Der Fehler aber lag. nicht beim Begriff des Zustandes, sondem bei dem der Substanz. Von ihr aus mutzten die Zustände Akzidentien sein, also ihr äutzerlich und zufällige Aber wie konnten sie ihr zufällig sein, wenn man Substanz als das ver­ stand, was keine Einwirkung von außen erfährt? Dazu kommt ein weiteres. Zustände kann es ja auch geben, wo keine Substanz zugrunde liegt, und wenn in der W elt nichts ist, was absolut beharrt. Das find dann freilich keine Affektionen oder Modi, denn es sind keine Ahidentien. Dafür aber sind es Zustände eines Menschen, eines Lebewesens, eines Dinges, ja auch Zustände der Welt. D as ist ein un­ mittelbar dem Leben entnommener Zustandsbegriff, der aber vollkommen einwandfrei ist, weil er nichts als einen jeweiligen Stand der Dinge, Umstände oder Verhältnisse ausdrückt. Für ihn ist es offenbar ganz gleich­ gültig, ob eine Substanz vorhanden ist, als „deren" Zustand er gelten kann, oder nicht. J a , es ist für ihn auch gleichgültig, ob er überhaupt Zu­ stand „von etwas" ist, was wie ein einheitlicher Träger zugrunde liegt oder nicht, und zwar auch dann, wenn das Zugrundeliegende selbst ein ver­ gängliches Gebilde ist, wie Dinge, Tiere oder Menschen es sind. Zustände haften zwar stets an etwas, aber durchaus nicht notwendig an irgendwie geschlossenen Gebilden. Im Menschenleben hat jede Sachlage, jede Situation, mit der wir es zu tun haben, die kategoriale Form des Zustandes; und in solchen Fällen wissen wir sehr wohl, daß es nicht viel S inn hat, zu fragen, „wessen" Zustand es sei. Der Zustand in diesem Sinne teilt sich vielmehr allen Personen und Dingen mit, die in ihn ein­ bezogen sind, und ist insofern auch „ihr" Zustand, geht aber darin nicht auf. Der Zustand ist gemeinsam. Und so flüchtig er sein mag, er ordnet sich in bestimmtem Sinne doch seinen Trägern über, auch wenn diese von überlegener Konstanz find. M an erinnere sich hier der Kategorie des Realverhältnisses, mit der die Reihe der engeren Naturkategorien begann. W as wir im Leben Q uali­ täten nennen, wurzelt ontisch in Realverhältnissen; was die alte Substanzmetaphysik modi oder affectiones nannte und stets als Akzidentien ver­ stand, ist in Wirklichkeit Realverhältnis; was die Anschauung als jeweilige

Sachlage oder Situation bezeichnet, ist wiederum Realverhältnis, nur daß im letzteren Falle das Verhältnis ein weiter ausgesponnenes Geflecht von Umständen ausmacht. I n der Zeit Christian Wolfs nannte man so etwas treffend die jeweilige collocatio. Natürlich ist Kollokation nur ein räum ­ liches Bild für Verhältnisse, die auch in ganz anderen Dimensionen spielen können. Aber das will wenig besagen, denn die meisten philosophischen Begriffe sind räumliche Bilder. Zustand im kategorialen Sinne ist jedes Realverhältnis der Gleich­ zeitigkeit, einerlei in welcher Breite man es nimmt, wenn es nur einen bestimmten „Stand der Dinge" ausmacht, der zu bestimmter Zeit besteht. M e stabil er ist, wie lange er anhält, macht dabei grundsätzlich keinen Unterschied aus. Wohl aber ist für ihn maßgebend, daß er an das simul­ tane Zusammentreffen gebunden bleibt, mit jeder Veränderung seiner Teilmomente aber sich selbst ändert, also ein anderer Zustand wird. Solche Veränderung spielt sich in dem Zeitmodus der Sukzession ab und gehört in die Kategorie des Prozesses. N ur die in der Gleichzeitigkeit eines bestimmten Jetzt zusammengeschlossene Mannigfaltigkeit von Realverhält­ nissen bildet einen Zustand.

b. Prozeh und Zustand

Damit kommen wir auf das kategoriale Wesen der Zuständlichkeit. E s ist nicht im Gegensatz zur Substanz zu suchen, sondern im Gegensatz zum Prozeß, zur Veränderung, zum Werden. E s gilt nun diesen Gegensatz richtig zu fasten. E s ist nicht so, daß der Zustand, weil er in einem „Stand" der Dinge besteht, die Stillegung des Prozesses voraussetzte, so etwa, daß in der realen Welt Prozeß und Zu­ stand abwechseln müßten. So entspräche es freilich einer weitverbreiteten Auffassung, die auch in der Metaphysik ihre Vertreter hat: solange der Prozeß läuft, gibt es keinen Zustand, und solange der Zustand dauert, läuft der Prozeß nicht. So kann es wohl in gewissen Teilverhältnissen aus­ sehen, denn freilich gibt es stationäre Zustände, die bestimmte Arten des Prozesses ausschließen. Im Ganzen der W elt kann es so nicht zugehen, weil der Weltprozeß nicht aufzuhalten ist; ganz zu schweigen davon, daß es ja auch anhaltende Prozeßzustände gibt, z. B. Bewegungszustände, die a ls solche besonders greifbar werden, wenn die Bewegung eine gleich­ förmige, oder auch nur genähert gleichförmige ist. D as primäre Verhältnis ist eben ein anderes. Prozeß und Zustand stehen in einem strengen Korrelationsverhältnis, und zwar nicht in dem des Alternierens (Abwechselns), sondern in dem des unlösbaren Ent­ haltenseins ineinander. Der Zustand verhält stch zum Ablauf des P ro ­ zesses einfach wie die Sim ultaneität zur Sukzession. Jeder Schnitt, den

wir quer zur Zeit durch das Geschehen legen, jedes „Stadium" des P ro ­ zesses also, hat die Form eines Zustandes. Denn in jedem Zeitabschnitt gibt es eine ganz bestimmte Kollokation dessen, was im Flusse be­ griffen ist. Die einzelne Kollokation selbst wiederum zeigt stets die Form einer bestimmten Anordnung, und zwar in anderen Dimensionen als derjenigen des Zeitfluffes. Diese Dimensionen — und es sind nicht die räumlichen allein — stehen alle senkrecht auf der Zeitdimension (vgl. Kap. 16 b und e). W as in ihnen beisammen ist, das besteht simultan, llnd dieses simultane Beisammensein ist deswegen gleichgültig dagegen, ob es flüchtig oder von einer gewissen Dauer ist. Zustände können auch sehr beharrlich {ein; das bedeutet nur, daß der Prozeß, in dem sie einander ablösen, ein langsamer ist. Aber alle Maßstäbe von schnell und langsam sind will­ kürlich und hängen am Vergleich mit anderen Prozessen, ja meist sogar an der subjektiven Auffassungsgeschwindigkeit int Wechsel der Bilder des Erlebnisstromes. Darum gibt es ontologisch keinen grundsätzlichen Unter­ schied flüchtiger und beharrlicher Zustände. Die Anschauung erblickt hier einen schroffen Gegensatz; sie eben neigt stets zu der Auffassung, daß Prozeß und Zustand alternieren. Real ist die Zuständlichkeit der Prozeßstadien überall dieselbe, wie verschieden auch das Tempo des Wechsels sein mag. Don hier aus kann man den Prozeß selbst ohne Schwierigkeit als den Wechsel der Zustände verstehen; genauer vielleicht noch: als die zeitliche Reihe der sich ablösenden Zustände. Das paßt genau zu den oben ge­ troffenen Bestimmungen, wonach der Prozeß in jedem Augenblick im' Querschnitt das Bild eines Simultanzusammenhanges zeigt. Die inein­ ander übergehenden Stadien des Prozesses sind eben die Zustände. Ob sie kontinuierlich gleitend ineinander übergehen wie bei der räumlichen Bewegung oder in Sprüngen wie beim Energieumsatz, macht hierbei n u r einen sekundären Unterschied aus. Aber auch damit ist das Verhältnis von Prozeß und Zustand nicht erschöpft. E s gilt hier noch mit einer anderen Denkgewohnheit zu brechen. Rach gewohnter Ansicht sind Zustände etwas Stabiles, Beharrendes, Prozesse aber fließend, flüchtig, vergänglich. Das Bewußtsein neigt dazu, den Zuständen einen Seinsvorzug einzuräumen, wobei es sie dann freilich leicht substantialisiert; den Prozeß aber versteht es als bloßen Übergang zwischen ihnen. Das alte Vorurteil, nur das Stillstehende habe eigentliches Sein, bestätigt diese Auffassung und spitzt sie zu. I n Wirklichkeit ist das Verhältnis das umgekehrte: gerade der Zu­ stand ist das eminent Vergängliche, das flüchtige Augenblicksstadium des Prozesses. Der Prozeß dagegen überdauert ihn, er geht weiter. Er be­ h a u t im Kommen und Gehen der Zustände.

Der Prozeß eben besteht im Wechsel der Zustände, er ist ihr Zer­ fließen und ihr übergehen ineinander. Und weil dieses übergehen Dauer hat, so beharrt er im Vergehen der Zustände. Der Zustand dagegen be­ steht im Simultanschnitt des Prozesses. Und weil der Schnitt an den einmaligen, nicht wiederkehrenden Augenblick gebunden ist, so muß er nach dem Gesetz der Zeit mit dem Augenblick in die Vergangenheit ver­ sinken. Der Prozeß erhält sich im „wandernden Jetzt", weil immer neue Zustände in die Gegenwart einrücken, und zwar genau so lange, als dieses geschieht. Der Zustand dagegen entweicht aus dem wandernden Jetzt, weil er an seine Zeitstelle gebunden ist und mit dem „flüchtigen Jetzt" versinkt (Kap. 13 g).

c. Dauerzustände und Gleichgewichtszustände

Diese Dinge dürfen nicht dahin mißverstanden werden, als müßte alle Zuständlichkeit etwas ungreifbar Flüchtiges sein, gleichsam seinem Wesen nach das nur momentan Aufblitzende und sofort wieder Verschwindende. E s wurde schon gesagt: alles Flüchtigsein ist relativ, genau so wie alle Dauer relativ ist — auf den Maßstab, den wir anlegen. Und einen ab­ soluten Maßstab der Zeit gibt es nicht. Ein Zustand, als reale Kollokation verstanden, kann sehr wohl auch eine gewisse S tabilität haben. E r kann z. B., indem vielerlei Teilzustände wechseln, sich im Fortlaufen des Prozesses als Eesamtzustand länger oder kürzer halten. E r nimmt dann im Gegensatz zum Wechsel jener Teil­ zustände den Charakter des Dauerzustandes an. Auch können gewisse Prozesse so langsam vor sich gehen, daß ihre Stadien im Verhältnis zu anderen Prozessen einen relativen Ruhezustand ergeben. So ist es z. B . mit dem Abkühlungsprozeß der Erde und der durchschnittlichen Tem­ peraturkonstanz auf der Erdoberfläche. Oder es kann im Widerspiel be­ stimmter Prozesse eine Gleichgewichtslage eintreten, zu der die Schwan­ kungen immer wieder zurückpendeln. I n diesem Falle ist der Eesamtprozeß eines Systems so geartet, daß er immer wieder zum selben Aus­ gleichszustand zurückkehrt. Ein bekanntes Beispiel ist das Strahlungs­ gleichgewicht in der Photosphäre der Sonne, welches sich mit geringen Schwankungen über gewaltige Zeiträume hin erhält,' und die Theorie lehrt, daß in den tieferen Schichten der Sonne bei höherer Temperatur und höherem Strahlungsdruck ähnlich stabile Gleichgewichte vorhanden sein müssen. Es gibt auch Gleichgewichte viel einfacherer Art, die deswegen nicht weniger konstante Zustände bilden. Don dieser A rt ist z.B . die aufs äußerste ausgeglichene Ruhelage der Ozeane auf der Erde. Diese ist ein erstaunliches Phänomen, wenn man bedenkt, wie beweglich das flüssige

Element ist, und mit welcher Geschwindigkeit der Erdkörper mitsamt den großen Wasserbecken sich dreht und dazu noch seine Bahnbewegung von etwa 30 km pro Sekunde einhält. Der leiseste Anstoß müßte die Niede­ rungen der Kontinente überfluten und alles Leben darauf zerstören. Aber die Jahrtausende vergehen, und außer geringen Schwankungen liegen die Meeresspiegel so konstant still, als befänden sie sich in wirk­ lichem Stillstand. Freilich, das geschieht, weil keine nennenswerten Beschleunigungskräfte in der nächsten Umgebung der Erde auftreten, und insofern ist die Ruhelage des Wassers nicht erstaunlich. Aber das Erstaun­ liche ist vielmehr eben die Abgeschirmtheit gegen störende Kräfte. Dauerzustände im Sinne solcher Gleichgewichte gibt es im Kleinen wie im Großen überall. Man kann sie im Gegensatz zu den flüchtigen Prozeßstadien als Zustände im engeren Sinne verstehen. Und so treten sie denn noch einmal in einen anderen Gegensatz zum Prozeß. Dieser Gegen­ satz aber beruht auf ihrer Stabilität, d. h. auf einer Form der Beharrung. Dadurch kommt es, das solche „Zustände", wo sie mit einem greifbaren Gebilde als Träger verbunden sind, wie das bei Dingen oder Personen der F all ist, äußerlich große Ähnlichkeit mit Substanzen zeigen. Von der Anschauung werden sie dann auch vorwiegend für Substanzen genommen. I n W ahrheit besteht die kategoriale Verwandtschaft nicht zwischen Zu­ stand und Subsistenz, sondern zwischen Zustand und Konsistenz (Kap. 24 b und f). Denn es fehlt das Substratmoment. Der Unterschied von eigent­ licher Konsistenz aber liegt nur darin, daß es sich bei Dauerzuständen nicht um geschlossene Gebilde zu handeln braucht. Tatsächlich aber ist das meiste, w as wir im Leben für Substanz nehmen, bloß relativ konstanter Zustand. Dieses Resultat ist nicht wenig merkwürdig. Zuerst zeigte sich, daß die große Maste besten, was man jahrhundertelang als Akzidentien be­ zeichnete, den Charakter des Zustandes hat; und jetzt zeigt sich, daß auch das meiste, was man für Substanz hielt, nur Zustandest. D as ist kein Zufall. Die Substanz ist im Alltagsbewußtsein eine hybride Kategorie, und von ihrem Komplementärstück, dem Akzidens, gilt eben deswegen das gleiche. Beide haben in der realen W elt nur eng begrenzte Geltung. Das weite Feld von Erscheinungen, die man unter diesem Gegensatz zu fasten suchte, untersteht in Wahrheit ganz anderen Realkategorien. Von diesen wurde oben die getragene Konsistenz aufgezeigt. Und jetzt zeigt sich, daß ein vielleicht noch weiterer Bereich des scheinbar Substantiellen unter die Kategorie der Zuständlichkeit fällt. d. Die Zuständlichkeit als Bewubtseinskategorie

Uber die Zuständlichkeit als Anschauungskategorie bleibt hiernach nicht viel zu sagen. Fast auf allen Bewutztseinsstufen drängt sich die Substanz

vor; und wie der kategoriale Charakter der Konsistenz von ihr verdrängt und nahezu ganz zugedeckt wird, so in gewissen Grenzen auch der des Zustandes. Freilich nur in gewissen Grenzen. Denn auf der anderen Seite neigt die Anschauung zur alternativen Auffasiung des Berhältnisies von Prozeß und Zustand. Die Folge ist, daß sie den Zustand als Stillstand absolut nimmt und die Dominanz der durchgehenden Prozesse ignoriert. Dasselbe gilt von den dynamischen Gleichgewichtszuständen, die sie nicht als solche durchschaut und deswegen fälschlich für Ruhezustände nimmt. W as die Anschauung auf der einen Seite der Zuständlichkeit entreißt, fügt sie ihr auf der anderen hinzu. Sie übertreibt nicht eigentlich die Rolle des Zustandes, aber sie verschiebt sie, und zwar zugunsten der Substanz und zuungunsten der Prozesse. Der Grund ist, daß sie sich an die scheinbare S tabilität allein hält und nicht bis auf das innere Verhältnis von Prozeß und Zustand durchdringt. Am wenigsten durchschaut sie den schwebenden Charakter der Dauerzustände. Teils bemerkt sie diese Zustände gar nicht, weil sie das Gewohnte find. Das gilt z. B. von vielen sozialen Zuständen, in denen man lebt, obschon diese an Bedingungen hängen, die geschichtlich nichts weniger als konstant sind. E s gilt noch mehr von den allgemeinen physischen Lebensbedingungen, vom festen Boden, auf den wir treten, vom Vorhandensein der Lust, die wir atmen, vom Lichte und von den klima­ tischen Verhältnissen, an die wir angepaßt find. Es gehört schon Reflexion dazu, oder auch die Erfahrung einer einschneidenden Änderung, damit w ir solche Faktoren eines Dauerzustandes erfassen; und ihr Getragensein von größeren physischen Zusammenhängen geht überhaupt erst dem wissen­ schaftlichen Denken auf. M it diesem erst setzt das Begreifen ein, daß es lauter verlangsamte Prozeßphasen sind. Ebenso fehlt es der Anschauung am Wissen, daß viele lebenswichtige Zustandsmomente selbst Prozeßform haben, daß sie Bewegungszuständ« find und im Beharren von Prozessen bestehen. Den gleichförmigen oder in gleichbleibender Periodizität verlaufenden Prozeß empfinden wir als Zustand, am meisten wenn wir selbst in ihm stehen. Das eigene Leben ist zweifellos ein Prozeß, aber wir empfinden es als Zustand, nennen es unser „Dasein" oder unsere „Existenz" und meinen damit den für den Menschen, solange er lebt, grundlegenden inneren Stand der Dinge. D as nämliche gilt für die Mehrzahl der empirischen Zustände. So ist uns das Spazierengehen ein Zustand, desgleichen das Fahren im Eisen­ bahnwagen, die Anstrengung der Arbeit, die Erholung von ihr usf. Ohne Frage hat alles das auch tatsächlich seine zuständliche Seite. W as dem unmittelbaren Bewußtsein so leicht entgeht, ist nur, daß es prozessuale Zustände find, d. h. solche, die im Andauern von Prozessen bestehen. H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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Vollends versagt die Anschauung, wo es um ein ganzes System von Prozessen geht, die sich gegenseitig im Gleichgewicht halten und da­ durch das Beharren eines Gleichgewichts ausmachen. D as letztere ist bei allen dynamischen und organischen Gefügen der Fall. Gefüge haben ihr Inneres und ihr Äußeres; jenes liegt im Ineinandergreifen der Prozesse, dieses in der Zuständlichkeit des auf ihnen beruhenden Gebildes. Die An­ schauung hält sich an das Äußere. F ü r sie genügt das Beharren des Zustandes. Wie begrenzt und wie bedingt dieses Beharren ist, danach fragt erst das begreifende Eindringen.

II. Abschnitt

jö \t Kausalität 26. Kapitel. Die kausale Determinationsform a. Zeitliche Ordnungsfolge und Abhängigkeit

Die Kategoriengruppe des Werdens und der Beharrung setzt an Determinationsformen nur wenig voraus. Die allgemeine kategoriale Determination waltet hier natürlich, wie überall, vom Prinzip zum Eoncretum, indem sie den bekannten „vertikalen" Typus der Abhängig­ keit zeigt. Daneben gibt es die formale Determination des irreversiblen und gleichförmigen Zeitflusses, der innerhalb des Konkreten verläuft und die gemeinsame Richtung und Geschwindigkeit der Abläufe bestimmt (Kap. 13 f). Diese zweite Determination läuft also quer zur ersten und kann unter Festhaltung des alten Bildes bereits eine „horizontale" genannt werden. Sie enthält aber noch keinerlei inhaltliche Bestimmung. Sie ist daher auch meist übersehen worden. Inhaltlich also ist der Realprozeß durch die erste Kategoriengruppe noch völlig unbestimmt. I n seinem Wesen liegt nur, daß fortlaufend neue Stadien oder Zustände auftreten, um sich in der Zeitfolge aneinander­ zureihen. Auf einen bestimmten Zustand in bestimmter Zeit könnte hier­ nach ein beliebiger anderer Zustand folgen, ohne daß eine Regel oder ein inhaltlicher Zusammenhang herrschte. Das weitere Geschehen wäre vom früheren aus durchaus zufällig; und ein Voraussehen weiteren Geschehens wäre unmöglich.

S o sind nun die wirklichen Realprozesse nicht beschaffen. Im alltäg­ lichen Leben schon spielt die Voraussicht des nächsten Künftigen eine breitd Rolle. Und wenn sie im menschlichen Verstände auch beschränkt sein mag, ohne sie wäre doch kein praktisches Verhalten, Planen, Handeln möglich. Vollends auf den Gebieten exakter Naturerkenntnis nimmt sie selbst sehr exakten und über weite Zeitstrecken vorgreifenden Charakter an. Die hoch­ synthetische Arbeit der Technik hängt ganz und gar an ihr; und bekannt­ lich lassen sich selbst ihre Fehlerquellen aufdecken und zum voraus auf gewisse Grenzen einschränken. E s mutz also eine lineare Determinationsform im Realprozeß walten, die das zeitlich Spätere auch inhaltlich durch das Frühere bestimmt. Das ist das Minimum an fortlaufender Bestimmung und Abhängigkeit, das durch die Phänomene gefordert ist: eine Determinationsform, also, welche dem Zeitflusse folgt, rechtläufig mit ihm geht und eine erste inhaltliche Ordnungsfolge in den Prozeß hineinbringt. Diese Determinationsform ist die Kausalität. Sie ist, wie sich noch zeigen wird, nicht die einzige, die hier waltet. Aber sie ist die fü r den Naturprozeß grundlegende, und sie bleibt für alle weiteren Formen der Abhängigkeit die erste Voraussetzung. Die Kausalität ist also dieses, daß die Reihe der Zustände im Prozeß nicht beliebig aufeinanderfolgt, sondern in bestimmter Reihenordnung, wobei im Sinne der Zeitfolge ein Zustand vom anderen abhängig ist bzw. einer den andern „hervorbringt". Der frühere Zustand ist „Ursache", der spätere ist „Wirkung"; jener bringt hervor, dieser wird hervorgebracht. Nimmt man nun hinzu, daß jede Ursache selbst schon Wirkung früherer Ursachen, jede Wirkung selbst wiederum Ursache weiterer Wirkungen ist, so ergibt sich anstatt des zweigliedrigen Bestimmungsverhältnisies das fort­ laufende, die lineare Reihenform, wie sie dem zeitlichen Fortlaufen des Prozesses entspricht. Diese Form ist die ,^ausalreihe" oder der „Kausal­ nexus". D as erscheint überaus einfach. Aber es ist vielerlei dabei zu beachten. Vor allem, man verwechsele Ursache und Wirkung nicht mit Grund und Folge; desgleichen nicht mit dem Fundamentalkategorienpaar: Deter­ mination und Dependenz. Vom letzteren ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung eine Spezialform, eine seiner Abwandlungen im Schichtenreich, und zwar diejenige, die auf der niedersten Stufe des Realen den Prozeß fortlaufend linear bestimmt (vgl. Aufbau, Kap. 31 c, d). Denn der Determinationsformen gibt es viele, und nicht alle laufen linear in Form einer Reihe fort, geschweige denn einer an den Zeitfluß gebundenen und in ihm rechtläufig fortschreitenden Reihe. W as aber Grund und Folge anlangt, so kann man deren Begriffe leicht so weit fassen (wie meist geschehen), daß Ursache und Wirkung auch

unter ihnen als Spezialfall erscheinen. Doch schwankt hier der Sprach­ gebrauch. Jedenfalls aber gibt es Grund und Folge auch außerhalb des Realprozesses, im Gedankenzusammenhang z.B . als logische Konsequenz, im idealen Sein, ja selbst im Finalverhältnis, wenn es etwa um die „Gründe" einer Handlungsweise geht. D as letztere zählt schon zu den höheren Formen der Realdetermination; und in diese Formen spielt das Kausalverhältnis bereits als überformte Grundlage hinein; aber es ist allgemeiner als ste und geht darum in ihnen nicht auf. Den aufgezählten Momenten der Kausalität — der linearen Reihen­ form, der Rechtläufigkeit in der Zeit und dem fortlaufenden Hervor­ bringen — mutz gleich an dieser Stelle noch die Irreversibilität angefügt werden. S ie ist eigentlich in der Rechtläufigkeit schon enthalten, denn die Richtung der zeitlichen Sukzession und des Prozesses ist selbst irreversibel. Der Unterschied ist nur, daß bei der Zeit und beim Prozeß niemand die Reversibilität annimmt, beim Kausalnexus aber sich leicht ein falsches Bild unterschiebt. Das liegt vor allem an der weit verbreiteten Vermen­ gung mit dem Finalnexus, die in der älteren Metaphysik allgemein ist; sprach man doch geradezu von „Zweckursächen" (causae finales), w as kategorial betrachtet ein Widerspruch in sich ist. Roch die Theorien des 19. Jahrhunderts sind in diesem Punkte unsauber. Davon wird noch zu handeln sein. Verbreitet ist auch die Meinung, daß Kausalität sich nicht nur auf die zeitliche Folge der Zustände beziehe, sondern auch auf das Gleich­ zeitige. D as ist mit Vorsicht aufzunehmen. Zustände können Dauer haben, und von zwei dauernden Zuständen kann der eine Ursache des anderen fein. Dieses Verhältnis besteht z. V. an der Kugel, die auf dem Kissen ausruhend ein Grübchen macht: das Grübchen ist Wirkung, das Aufruhen Ursache. Indessen liegt hier, streng genommen, schon ein anderes Ver­ hältnis vor, das der Wechselwirkung. Denn auch das Ausruhen der Kugel ist schon in demselben Sinne Wirkung wie das eingedrückte Grübchen; feine Ursache liegt im Widerstände des Kissens gegen das Gewicht der Kugel. Dieses Wechselverhältnis des Simultanen kehrt in unzähligen Varianten wieder; es ist allen statischen Kollokationen eigen, begleitet aber ebenso durchgehend die dynamischen Phänomene, auch diejenigen, die ausgesprochene Prozeßform haben, wie z.B . die Bewegung des Geschosses int Medium der Luft und den von ihm selbst erzeugten Luft­ widerstand. Wohin man dieses Verhältnis rechnen will, ist eine Frage der Ein­ teilung und der kategorialen Begriffsbildung. Rechnet man es zur Kau­ salität, so muß man deren Begriff erweitern; dann muß man aber für die zeitlich lineare Kausalität einen anderen, engeren Begriff einführen. Ablösen lassen sich die Kategorien voneinander ja überhaupt nur in der

Abstraktion; ihre Kohärenz int Realen ist nicht aufhebbar. Aber unter­ scheiden mutz man ste trotzdem. Der Einfachheit wegen hält sich der hier eingeführte Kausalitätsbegriff an das engere Phänomen der zeitlich linearen Reihe von Ursachen und Wirkungen. Auch dieses eben ist schon genügend komplex in sich. D as ent­ sprechende Simultanverhältnis bleibt der Wechselwirkung vorbehalten.

b. D as Kausalgesetz und die Realnotwendigkeit der Kausalfolge

Die lineare Kausalabhängigkeit geht nicht von Ding zu Ding, wie öfters die älteren Theorien es hingestellt haben. Das W ort „Ursache" erweist sich in dieser Hinsicht als irreführend. Gerade um eine „Sache" handelt es sich nicht. Die Ursache kann wohl an „Dingen" hängen, aber nicht in ihnen bestehen. Ursachen und Wirkungen find weder Dinge noch Substanzen, noch überhaupt irgendwie kompakte Gebilde, sondern Realverhältnisie, Kollokationen, Zustände, Prozeßstadien. Richt die Sonne ist die Ursache des Frühlings, sondern ihr Höhersteigen von Tag zu Tag, oder kosmologisch ausgedrückt, die fortschreitende Zuwendung der nörd­ lichen Erdhalbkugel zu ihr; was denn wiederum seine Ursache in der Bahnbewegung der Erde hat. Hier hängen durchweg Verhältnisse an Ver­ hältnissen, ein „Stand der Dinge" hängt am andern, nicht ein Ding am anderen. Run ist aber ein „Stand der Dinge" nicht etwas in sich Einfaches. E s hat die Form einer Kollokation von Umständen. Das gilt grundsätzlich von allen Zuständen, welche die Reihe der Prozeßstadien bilden, auch bei scheinbar einfachen Prozessen. Kollokationen, als simultane Sachlagen im nicht bloß räumlichen Sinne verstanden (Äop. 25 a ), find selbst Gefüge von Realverhältnissen, deren Mannigfaltigkeit sich je nach dem Aus­ schnitt der realen Welt, die sie umfassen, steigert. Ursachen find also auch nicht vereinzelte Seinsmomente, sondern bestehen in einer M annigfaltig­ keit von Momenten, die in einer simultanen Kollokation zum Gefüge ver­ bunden find. Und dasselbe gilt für die Wirkung; auch sie ist eine Mannigfaltigkeit von Momenten, zum Gefüge verbunden in einer simul­ tanen Kollokation. Daß solche Gefüge hochkomplex, flüchtig, einmalig und in ihrer Totalität ungreifbar sein können, ändert hieran nichts. Dieses Gesamtbild muß man im Auge behalten, wenn man an die Kausalanalyse herantritt. Denn hiermit erst beginnt die Eigenart kausaler Determination sich zu zeigen. D as Wesentliche hierbei ist nämlich, daß jedem Moment der Ursache ein Moment der Wirkung entspricht, und um­ gekehrt. Rennt man nun diese Momente Teilursachen und Teilwirkungen, die ganzen Kollokationen aber Gesamtursachen und Eesamtwirkung, so gilt der Satz: jede Teilursache, obgleich sie nicht isoliert für sich deter-

ruiniert, bringt doch ihre bestimmte Teilwirkung hervor, und die geringste Verschiebung im Bestände der Eesamtursache bedeutet eine entsprechende Verschiebung im Bestände der Gesamtwirkung. Auf diesem inneren Verhältnis beruht der bekannte Satz: gleiche Ur­ sachen — gleiche Wirkungen. Ob es vollkommen gleiche Gesamtursachen im Weltgeschehen gibt — d. h. eine Wiederkehr der bis ins Letzte iden­ tischen Kollokation —, ist damit keineswegs entschieden. Der Satz sagt nur, daß, „wenn" es solche Wiederkehr der Ursachen gibt, auch die W ir­ kungen wiederkehren müssen. M an tu t deswegen gut, dem ersten Satze einen zweiten ebenso wich­ tigen, nur meist nicht ebenso beachteten Satz anzufügen: verschiedene Ur­ sachen — verschiedene Wirkungen. W as dahin zu verstehen ist, daß auch die geringste Andersheit einer Teilursache schon genügt, um die Teil­ wirkung und mit ihr die Gesamtwirkung anders ausfallen zu lassen. Und hierbei ist zu beachten, daß gelegentlich an sehr geringer Andersheit der Ursache eine sehr bedeutende Abweichung der Wirkung hängen kann. Die Teilursachen determinieren ja nicht für sich, sondern nur im Zusammen­ hange; im Zusammenhang der Teilwirkungen aber kann z.B . durch einen geringen Uberschuß gerade die Grenze eines dynamischen Gleichgewichts überschritten werden, was dann die Auflösung eines ganzen Gefüges bedeuten kann. D as bekannte Phänomen „kleine Ursachen — große Wirkungen" wird also durch die obigen Sätze keineswegs ausgeschlossen oder für Schein erklärt. (Es bedeutet am Gesamtverhältnis aber nur einen Teilaspekt: nämlich den Aspekt einer Gesamtwirkung von der Teilursache aus, was natürlich nicht der vollen Kausalabhängigkeit entspricht. Zwei Dinge ergeben sich hieraus: 1. daß im Kausalverhältnis eine totale Determination steckt, bei der im späteren Zustande vom früheren aus nichts unbestimmt bleibt; und 2. daß dieses Verhältnis einen Eesetzescharakter hat. Der ist in den beiden angeführten Sätzen bereits ent­ halten. M an kann ihn aber noch allgemeiner aussprechen, und dann nimmt er die strenge Form einer Modalbestimmung an: die Wirkung ist auf Grund der Ursache notwendig, und zwar realnotwendig: sie kann nicht ausbleiben, wenn die Ursache vorhanden ist, und sie kann auch nicht anders ausfallen, als sie auf Grund der Teilmomente ihrer Gesamtursache aus­ fällt. Sie ist also realnotwendig sowohl dem Dasein als auch dem Sosein nach. W as den letzten Zusatz anlangt, so ist er nicht selbstverständlich. Kant z. B. hat im Kausalzusammenhang, wie überhaupt bei seinen „dynamischen Grundsätzen", zu einseitig das Dasein betont. D as erweckt den Anschein, als wäre das Gehaltliche und Strukturelle weniger wichtig.

W as offenbar betn Sinn des Kausalgesetzes widerstreitet. Freilich, a priori einsehen läßt sich oft nur das Dasein der Ursache; zur Erkenntnis ihrer besonderen inhaltlichen Struktur gehört Erfahrung und Eesetzeskenntnis. Aber es handelt sich hier nicht um Erkenntnis, geschweige denn um bloß apriorische, wie bei Kant, sondern um das Seinsverhältnis, d. h. um den von aller Erkennbarkeit unabhängigen und gegen sie gleichgültigen Kau­ salzusammenhang selbst, sowie um seinen ontischen Eesetzescharakter. Im Reiche des Seienden find außerdem Dasein und Sofern überhaupt nicht voneinander zu trennen. Sie gehören als Seinsmomente fest zuein­ ander. J a , sie decken sich im Realzusammenhange der Welt dergestalt, daß immer das Dasein des einen zugleich das Sosein eines anderen ist, und umgekehrt. Schon aus diesem Grunde können sie im Kausalzusammenhange nicht getrennt auftreten (vgl. Grundlegung, Kap. 19). Und natürlich ist nicht nur eine beliebige, sondern nur die bis in alle Teilmomente bestimmte Ursache als reale Eesamtursache anzusehen, auf Grund deren die bestimmte Eesamtwirkung realnotwendig ist. Dasselbe gilt natürlich auch von jeder Teilursache und von jeder Teilwirkung. Im Ganzen wie im Teil hängt das Bewirken ebensosehr am Sosein wie am Dasein. Ein W ort der Erklärung verlangt auch der Modaltypus der „Real­ notwendigkeit" selbst, der dem Hervorgehen der Wirkung aus der Ursache eignet. E r steht im Gegensatz zur bloßen Wesensnotwendigkeit, die als solche überhaupt keine Realfolge bedeutet und in der Realsphäre stets nur ein Teilmoment der Notwendigkeit bildet. Die Modalanalyse hat es gelehrt: was realnotwendig ist, beruht auf einer vollständig geschlossenen Kette von Realbedingungen, die einzeln für sich genommen nichts ermög­ lichen, zusammen aber den zureichenden Realgrund der Sache ausmachen. Dieses Schema nun paßt offenbar genau auf die Determinationsweise der Kausalität. Die Kette der Bedingungen ist in der Kollokation der Teilursachen vertreten, die Gesamtursache entspricht ihrer Totalität, und die Dependenz der Teilwirkungen macht den Zusammenhang zu einem geschlossenen und notwendigen (vgl. M . u. W. Kap. 20; auch Kap. 19 b, c). Es gibt wohl noch andere Formen der Realnotwendigkeit als die kausale. Die kausale ist nur die einfachste und elementarste. Die anderen sind um vieles komplizierter und weit weniger allgemein, überdies setzen sie alle die kausale Form der Realnotwendigkeit schon voraus.

c. Die Kausalreibe, der Kausalnexus und der Kausalprozeh Wie die Substanz nicht in einem Gesetz der Beharrung aufgeht, so geht auch die Kausalität nicht in einem Gesetz der notwendigen Folge auf. Freilich fink» die beiden Kategorien ungleich, auch gerade in dieser Hin­ sicht: daß bei der Substanz ein Gesetz nicht zureicht, liegt auf der Hand,

weil es sich ja um ein Substrat handelt; was aber kann bei der Kausalität mehr herausspringen als ein Gesetz? Kausalität ist doch nur ein Ver­ hältnis, eine teilte Relationskategorie, und das Verhältnis hat die Form einer Abhängigkeit. Insofern wiederum ist sie Determinationskategorie. Sollten Relation und Determination nicht in Gesetzlichkeit aufgehen? D as ist es nun gerade, was hier so oft übersehen worden ist. Die kategorialen Momente der Relation und Determination (bzw. Abhängig­ keit) gehen durchaus in keinem Gesetz auf. Das Gesetz kann wohl die be­ sondere A rt der Relation und der Abhängigkeit fassen, nicht aber sie selbst ausfüllen oder ersetzen. Das Realverhältnis zwischen Ursache und Wirkung ist ein Letztes, nicht weiter auflösbares Grundmoment. Roch mehr gilt das von der bestimmenden Funktion der Ursache, und am meisten vielleicht von dem Modalitätsmoment der Notwendigkeit. Denn Kausalnotwendig­ keit ist eine ganz andere als die Gesetzesnotwendigkeit,' sie ist, wie alle Realnotwendigkeit, in jedem Falle eine andere, während das Gesetz bloß die Notwendigkeit der Allgemeinheit hat. Aber selbst mit diesen drei Momenten — mit dem Gesetzesmoment find es bereits vier — ist das Wesen der Kausalität nicht erschöpft. W as noch hinzukommt, ist das eigentlich Produktive in ihr, das „Hervor­ bringen" als solches. Denn, was die Zeit nicht kann, das „Zeitigen", das vermag der Kausalprozeß. Und da weiter das Kausalverhältnis in ihm nicht einfach ein zweigliedriges ist, sondern ein in der Sukzession der Prozeßstadien (Zustände) selbst reihenhast fortlaufendes, so nimmt es die von allen anderen Kategorien sich eindeutig abhebende Form des fortlaufenden Hervorbringens an. Dam it zeigt sich die andere Seite der Kausalität. S ie ist charakteri­ siert durch zwei Momente: den Kausalnexus und die auf ihm beruhende Kausalreihe. Der Tharatter der Reihe besteht darin, daß jede Wirkung wieder Ursache weiterer Wirkungen, jede Ursache aber schon Wirkung früherer Ursachen ist. Dieses lineare Geflecht reißt nicht ab; es führt von vermag der Kausalprozeß. Und da weiter das Kausalverhältnis in ihm infinitum. Der Tharakter des Nexus aber besteht im fortlaufenden Her­ vorbringen selbst. Der Kausalnexus ist nichts anderes als das Deter­ minieren, das von jedem Prozetzstadium ausgeht und die Dependenz des nachfolgenden Stadiums ausmacht. E r besteht also im fortlaufenden Her­ vorbringen und Hervorgebrachtwerden. An ihm recht eigentlich wird auch der Richtungssinn der Kausalreihe, sowie seine Irreversibilität greifbar. Die Kausalreihe, zusammen mit ihrer Jnnenstruktur, dem Kausal­ nexus, ist offenbar weit entfernt, ein bloßes Gesetz zu sein. S ie ist viel­ mehr der Prozeß selbst, dem das Gesetz gilt, nicht zwar sofern er überhaupt abläuft, wohl aber sofern er sich fortlaufend weiter determiniert. Denn das Hervorbringen von immer neuen Zuständen macht ja offenbar den

Prozeß aus; es hält ihn im Gange, läßt ihn weiterlaufen. Und das besagt: es läßt ihn „bauern". Der Kausalnexus ist somit die innere, dynamische Seite des Prozesses selbst — diejenige Seite also, die fich vom bloßen Zeitflusse, vom Wechsel der Stadien und von der Substanz aus nicht fassen ließ. Der Realprozeß bedarf einer solchen dynamischen Innenseite; anders wäre fein Fortlaufen nicht verständlich. Und offenbar muß fie die Form einer durchgehenden Determination haben. Daß diese gerade Kausalität sein muß, ist damit nicht gesagt. Und es wird sich zeigen, daß es noch andere Formen linearer Prozeßdetermination gibt. I n diesem Sinne läßt sich nunmehr auch der Prozeß selbst als Kausalprozeß bezeichnen. Damit ist die produktive oder schöpferische Seite des Naturprozesses sichtbar geworden. E s wurde oben gezeigt, wie das Mo­ ment des Hervorbringens oder „Zeitigens" nicht der Zeit zukommt, ebenso wie das des Vernichtens ihr nicht zukommt. Beides kommt viel­ mehr dem in ihr verlausenden Realprozeß zu. Aber auch im bloßen Ab­ laufen des Prozesses ist das Hervorbringen noch nicht greifbar, denn es ist in ihm schon vorausgesetzt. Erst an der Dynamik des Ablaufs wird es greifbar. Diese Dynamik aber ist die Kausalität, sofern man sie als den fortlaufenden Kausalnexus versteht: die Verursachung selbst ist die dyna­ mische Instanz des „Zeitigens". M an sieht, in der Kausalreihe ist es auch mit der bloßen Ordnungs­ folge nicht getan. Kausalität ist nicht bloß Anordnung der Zustände in der Zeit, auch nicht ihre bloße Aufeinanderfolge, sondern ihr Folgen „aus" einander, d.h. ihr Auftreten selbst mit aller Besonderung, die ihnen eignet, ihr Kommen und Gehen selbst in der Ordnungsfolge. Die Kausalreihe als Prozeßform ist eben das Entstehen und Vergehen der Zustände selbst, sofern in ihrem Wechsel jedesmal Bestimmtes au s Be­ stimmtem entsteht. W ill man hierbei auch noch die dynamische Seite des Hervorbringens ins Licht rücken, so muß man sagen: fie ist die determinative Macht, welche die Zustände entstehen und vergehen läßt.

d. Das Verschwinden der Ursache in die Wirkung. Der schöpferische Prozeb

Die Kehrseite alles Hervorbringens ist die Vernichtung. W as bedeutet nun das für das Kausalverhältnis selbst? Am Wesen des Prozesses wurde bereits klar, daß die Zustände, die seine Stadien ausmachen, sich nicht erhalten, sondern ineinander über­ gehen, so daß stets der eine in den anderen verschwindet. W as sich erhält, ist nur der Prozeß selbst. E r aber besteht gerade im Kommen und Gehen der Zustände.

Das übertragt sich nun auf den reihenhasten Kausalnexus, in welchem diese selben Zustände Ursachen und Wirkungen sind — und zwar letzteres als die in sich mannigfaltigen Kollokationen von Teilmomenten. D araus folgt: was im Kausalprozetz sich erhält, sind weder die Ursachen, noch die Wirkungen, sondern durchaus nur das fortlaufende Hervorbringen, das von Zustand zu Zustand sich weitergebende Verursachen und Bewirken selbst. Wichtig ist das vor allem in Hinblick auf die Ursachen. Die Ursache ist nicht, wie man wohl gemeint hat, das Sich-Erhaltende. Sie ist das in die Wirkung Verschwindende. Sie geht nicht in der Weise in die Wirkung über, daß sie mit in sie einginge, sondem in der Weise, daß sie im Be­ wirken sich verbraucht und vergeht; genau so wie sie im Vergehen früherer Ursachen aus diesen hervorgegangen ist. Und dem entspricht es nun genau, daß auch die Wirkung nicht etwas ist, was schon latent in der Ursache enthalten war, vielmehr etwas, was erst neu entsteht. Kurz kann man dieses ganze Verhältnis so aussprechen: die Wirkung entsteht erst im Vergehen der Ursache; das Verschwinden der Ursache in die Wirkung und das Hervorgehen der Wirkung aus ihr sind ein und der­ selbe Vorgang. Auf diese Weise ist der Kausalprozetz in der T at der eminent schöpfe­ rische Prozeh. Da kein Zustand sich in chm erhält, tritt immer Neues an die Stelle des Alten, und der Aspekt des Ganzen ist die Buntheit un­ erschöpflichen Andersseins. Das entspricht freilich nicht der bekannten Vor­ stellung vom „mechanisch-sterilen Prozeß", die man gerne mit dem kau­ salen Ablauf verbindet, und gegen die man dann meist geneigt ist, die „Entwickelung" als schöpferischen Prozeß auszuspielen. E s entspricht auch nicht der alten Vorstellung der causa immanens, auf die man einst alles Gewicht legte und der man in vielerlei Verkleidungen noch in heutigen Theorien begegnet. E s mutz daher nach diesen beiden Seiten Stellung genommen werden. 1. M an unterschied in der Hochscholastik die causa transiens von der causa immanens, und zwar als die vergängliche von der unvergänglichen und im Werden sich erhaltenden Ursache. Unter der letzteren verstand man die substantielle Form, die als inneres bewegendes Prinzip galt. Die erstere dagegen sollte in den äußeren Umständen bestehen, die in dem von jener bewegten Formungsprozetz mitwirken. Die causa transiens also war die zeitliche und in die Wirkung verschwindende Ursache, darum aber nach jener Ausfasiung eine bloß akzesiorische oder Mitursache (das ouvaf-nov der Alten). M an sieht, hier galt die eigentliche „Ursache" im heutigen Sinne als Nebensache, die zeitlose Form aber, die in Wahrheit nicht

kausal, sondern als Prinzip determiniert, als Hauptsache. E s w ar also, streng genommen, gar kein eigentliches Kausalverhältnis, das man im Sinne hatte, und der Begriff der causa w ar kein eigentlicher Ursachen­ begriff. Tatsächltch subsumierte man ja unter causa sogar den Zweck und ver­ stand ihn sodann als causa finalis. Setzte man diese nun auch noch mit der causa efficiens gleich, die ihrerseits die Form der causa immanens hatte, so schloß sich das Gesamtbild von selbst zur allgemeinen Teleologie der Prozesse zusammen. Eleichsetzungen dieser A rt sind es, die der mittelalterlichen Physik den Weg versperrt haben. Erst mit ihrer Auflösung im neuzeitlichen Denken kommt es zu einem tragfähigen Kausalitätsbegriff. Der Begriff der causa immanens bildete sich von Grund aus um, die substantiellen Formen ver­ schwanden, und was an determinierender Instanz „immanenter" A rt übrigblieb, w ar das Naturgesetz. Aber man nannte es nun nicht mehr Ursache, sondern behielt diesen Terminus der causa transiens vor. Eine Quelle unabsehbarer Verwechselungen und Fehler wurde damit aus der W elt geschafft. „Ursache" im neuen und strengen Sinne des Wortes ist nur, was als jeweilige Kollokation von Realfaktoren in der Zeit, im Realprozeß und im fortlaufenden Nexus selbst enthalten ist; dasjenige also, was, indem es etwas bewirkt, in seine Wirkung verschwindet, selbst aber ebenso als Wirkung verschwindender Ursachen entstanden ist. Ursache also ist nur die causa transiens. Aber sie ist es nicht als Nebensache, sondern als das Eigentliche, ja als das Ganze der Realursache. Denn auch alle Teil­ ursachen, welche die Eesamtursache ausmachen, haben denselben Charakter der causa transiens. Es bleibt nichts neben ihnen, was noch als Ursache mitbestimmend wäre. E s gibt keine causa immanens. 2. Von hier aus erst kann man den produktiven Charakter des Kausalprozesies richtig fasten. Es ist immer wieder dagegen geltend gemacht worden, die Wirkung müste doch irgendwie schon in der Ursache enthalten sein, anders könne sie aus ihr nicht hervorgehen. Hierbei nun liegt deutlich ein Rest der alten Vorstellung von causa immanens zugrunde: die „Form­ ursachen" waren eben als Präform ation des Bewirkten gemeint. Und weil das Hervorgehen als solches ja überhaupt eine geheimnisvolle Angelegen­ heit ist, meinte man, ihm damit am besten gerecht zu werden, daß man das Resultat des Prozesses in seinem Anfangsstadium schon vorbe­ stehen ließ. M an bedachte dabei nicht, daß es im Kausalprozeß ein Anfangs- und Endstadium nicht gibt, daß alle Grenzen hier willkürlich von der Be­ trachtung gesetzte sind, daß der Prozeß aus der unendlichen Reihe kommt und in sie weitergeht. Das macht den Präformationsgedanken hier voll-

kommen illusorisch: wie weit zurück sollte denn die Wirkung, die zu be­ stimmter Zeit auftritt, schon in den früheren Stadien des Prozesses ent­ halten gewesen sein? Und da die Folge der kommenden auch eine unend­ liche ist, sollten da etwa die unendlich vielen nacheinander auftretenden und sofort wieder verschwindenden Wirkungen alle in einem einzelnen früheren Stadium enthalten gewesen sein? Und nun gar in allen, also in unendlich vielen? D as ist offenbar ein Nonsens, geboren aus der unbesehenen Übertragung einer von Anbeginn schiefen Anschauung auf ein weit über sie hinaus gereiftes Problemstadium. Im wirklichen Kausalverhältnis ist nichts von Präform ation. D as Hervorgehen der Wirkung aus der Ursache ist echtes Entstehen, nicht ein bloßes Anslichtkommen eines schon Vorhanden­ gewesenen. Der Kausalnexus ist nicht „Entwickelung", in ihm wickelt sich nichts aus, was eingewickelt schon vorbestanden hätte. E s ist ein kategorialer Irrtu m , wenn man kausale Abläufe im N atur­ geschehen als „Entwickelungen" bezeichnet: die wichtigste Eigentümlichkeit ihres Wesens, die Produktivität, wird dabei verkannt. M an macht sich nicht klar, daß „Entwickelung" als solche nicht schöpferisch ist, daß das bekannte Schlagwort „schöpferische Evolution" ein Widerspruch in sich selbst ist. Ein Prozeß ist entweder bloße Auswickelung eines Vorbestehenden oder echtes Hervorbringen eines Neuen, aber nicht beides ineins. Im Kausalprozest ist das Bewirken echtes Hervorbringen. E r ist schöpferischer Prozeß. Also ist er nicht Entwickelung. Hier gilt es von Grund aus umzulernen. Im m er wieder kann man es hören, daß kausales Geschehen „mechanisch" sei, womit dann natürlich etwas schematisch Maschinelles und Unproduktives gemeint ist. Ein solcher Begriff des Mechanischen paßt hier ganz und gar nicht her. Naturprozesse sind keine maschinellen Prozesse, sie arbeiten nicht nach dem Schema und find durch Bilder solcher Art nicht darstellbar. S ie find vielmehr Kausal­ prozesse. Aber die Ursache ist deswegen doch auch nicht die „Potenz" der Wirkung und diese nicht „Aktus" der Ursache. I n der Wirkung ist nicht das Vergangene gegenwärtig und in der Ursache nicht das Künftige. D as eben bedeutet das „Verschwinden" der Ursache in die Wirkung und das Hervorgehen der Wirkung aus ihr. Die Entwickelung gerade ist steril. Die Verursachung ist produktiv.

e. Die Unerkennbarkeit des Hervorbringens

Die Verirrung derjenigen Theorien, die der Kausalität ein Entwicke­ lungsschema gaben, ist der Tendenz nach wohlverständlich. Sie wollten das Hervorbringen selbst erklären, in dem die Verursachung besteht. Sie woll­ ten zeigen, wie überhaupt irgendein Zustand den andern bewirken kann.

Denn da die Kausalreihe eine in sich heterogene Reihe ist, also Ursache und Wirkung einander sehr unähnlich sein können, so ist das an ihnen selbst nicht einzusehen. M an kann das Bewirken in seinen besonderen Formen zwar weit­ gehend empirisch erforschen, und man stößt dann auf besondere Kräfte und besondere Gesetze; aber Kräfte wie Gesetze haben das Kausalverhältnis schon zur Voraussetzung. M an kann also mit ihnen das Bewirken selbst nicht erklären, man kann nur seine besondere A rt in besonderer Sachlage verständlich machen. K ant hatte völlig Recht, wenn er der Kausalität die apriorische Durchschaubarkeit absprach. „Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne, wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein ent­ gegengesetzter im anderen folgen könne, davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff" »)• D as betrifft offenbar genau das Hervorbringen als solches. M an mache sich nun aber klar: a priori ist es nicht erkennbar, alles aposteriorische Erkennen erstreckt sich aber nur auf seine Besonderungen und setzt es selbst schon voraus. D as heißt doch nichts anderes, als daß das Hervorbringen selbst unerkennbar ist. An sich ist daran gar nichts zu verwundern. Es gibt ja auch an anderen Kategorien genug des Unerkennbaren. Am Raume, an der Zeit, an der Substanz sind uns solche irrationale Problemreste begegnet; es wäre eher zu verwundern, wenn es am Kausalverhältnis keinen geben sollte. Anders, wenn Kausalität bloß ein Gesetz wäre. Aber gerade im Gesetz geht sie nicht auf; als Folge, als Reihe, a ls fortschreitendes Hervorbringen ist sie weit mehr als ein Gesetz. Also haben wir in dem Unerkennbaren ein Stück ihres Wesens anzuerkennen, mit dem wir rechnen müssen. Nun betrifft dieses Unerkennbare aber gerade den Kernpunkt, den eigentlichen „Nexus" im Kausalverhältnis. Darum ist es verständlich, wenn wir immer wieder Versuchen begegnen, ihm eine Deutung zu geben, die das Unbegreifliche begreiflich zu machen sucht. Ist doch Kausalität als Erkenntniskategorie selbst das wichtigste M ittel zum Begreifen von N atur­ vorgängen. Unwillkürlich meint man, da müsse doch zum mindesten sie selbst begreiflich sein. D as aber ist ein Fehlschluß. Alles Begreifen ist nur möglich auf Grund von etwas, was man voraussetzt. W ird nun immer eines durch ein anderes begriffen, so muß der regressus des Begreifens notwendig irgendwo auf Unbegriffenes zurückführen. Denn in infinitum kann er im endlichen Verstands nicht gehen. Die ersten Voraussetzungen find deswegen stets entweder Annahmen oder in sich evident. I n beiden Fällen aber bleiben sie unbegriffen. i) Kritik d. r. Vernunft (2. Auf!.), 2. Analogie d. Erfahrung, 6.252.

E s ist somit kein Widerspruch, wenn durch den Kausalnexus das N atur­ geschehen begreifbar wird, der innere Kern dieses Nexus selbst aber unbe­ greifbar bleibt. Dasselbe gilt von der Mehrzahl der Seinsprinzipien. D ar­ um ist es ebenso abwegig, Theorien zu konstruieren, die das produktive Hervorbringen als solches erklären sollen. Auch wenn man das Geheimnis des Bewirkens mit einer solchen Theorie träfe, würde man doch das Rätsel damit nur verschieben. Die Deutung des Kausalnexus als Entwickelung trifft überdies das Geheimnis auch gar nicht, denn sie macht aus der causa transiens eine causa immanens und verkennt damit die charakteristische Eigenart der anfangs- und endlosen Reihe. M an will zeigen, wie die Ursache es macht, eine Wirkung hervorzubringen, man nimmt dazu die Wirkung vorweg in die Ursache hinein, bedenkt aber nicht, daß sie dann ja gar nicht hervor­ gebracht werden kann, weil sie vielmehr schon da ist. Solch eine Erklärung ist das Gegenteil davon, was sie zu sein vorgibt: die vollkommene Auf­ hebung des Hervorbringens, also die Vernichtung des Kausalnexus. Die Anerkennung eines Unerkennbaren im Kausalnexus ist von ent­ scheidender Wichtigkeit überall dort, wo es sich um die Grenzen seiner Reichweite im Schichtenbau handelt. Es ist oft geltend gemacht worden, Kausalität dürfe nur angenommen werden, wo das Bewirken begreiflich sei. Und dementsprechend hat man ihr Schranken gezogen (vgl. unten Kap. 29 d). Diese Schranken sind alle hinfällig. Begreiflich ist das Be­ wirken als solches nirgends, auch dort nicht, wo kein Mensch den Kausal­ zusammenhang bezweifeln kann. Und selbst, wenn dem nicht so wäre, so lassen sich doch aus bloßen Erkennbarkeitsgrenzen niemals Schlüsie auf Seinsgrenzen ziehen. Andererseits ist das Hervorbringen nicht einmal das einzige Irra tio ­ nale im Kausalnexus. Die Prozetzstadien, die kausal verbunden sind, liegen gemeinhin nicht in greifbarer Eeschiedenheit (Diskretion) zeitlich ausein­ ander, sondern bilden eine fortlaufende Kette, die entweder ein echtes Eontinuum ist, wie bei den mechanischen Bewegungsabläufen, oder in so minimalen Sprüngen fortschreitet, daß man diese nur auf komplizierten Umwegen erschließen kann (so in den Mikroprozessen des Energieumsatzes). I m einen wie im anderen Falle liegt die Unerkennbarkeit des genaueren Verlaufs, als des von Augenblick zu Augenblick sich fortsetzenden Be­ wirkens, klar zutage. W ir haben also keinen Grund, die Unerkennbarkeit des Hervorbringens in Abrede zu stellen. Sie ist ohnehin nur eine von mehreren Irratio n ali­ täten, die im Kausalnexus stecken.

27. Kapitel. Zur Metaphysik der Verursachung a. Kausalverhältnis und Finalverhältnis

M an sieht aus dem Gesagten, daß es metaphysische Problemhinter­ gründe im Kausalverhältnis gibt. Zwei von ihnen sind soeben berührt worden, zwei weitere sind aus der Kritik der reinen Vernunft bekannt: die Antinomie der ersten Ursache und das Humesche Problem der objek­ tiven R ealität des Bewirkens. Jene ist ein kosmologisches, dieses ein er­ kenntnistheoretisches Problem. Beide gehören in einen späteren Zu­ sammenhang. Darüber hinaus gibt es noch einen geschichtlich älteren Streitpunkt, der den Kausalnexus jahrhundertelang verdunkelt hat: sein Verhältnis zum Finalnexus. Von Aristoteles bis auf Hegel zieht sich in vielen Abwand­ lungen der Gedanke hin, daß hinter dem Verhältnis von Ursache und Wirkung das zeitlich und determinativ umgekehrte Verhältnis von M ittel und Zweck stehe. Selbst Leibniz, der hierin keineswegs blindlings der Tradition folgte, hat diese Anschauung in seine Metaphysik aufgenommen. Und obwohl die exakte Wisienschaft sich rechtzeitig davon losgesagt hat, finden wir doch noch im Ausgange des 19. Jahrhunderts namhafte Denker, die sie nachdrücklich verteidigt haben. Ein Heer von ungeklärten Voraussetzungen und Mißverständnissen steckt in dieser Auffasiung. Stillschweigend legte man zumeist die Vor­ stellung der causa immanens zugrunde, die sich so leicht als causa finalis deuten ließ; und meist war sie mit dem Denkschema der Formsubstanz ver­ bunden. Damit ließ sich dann weiter das vertraute Bild einer allwaltenden Vorsehung verbinden, die nach Art des handelnden Menschen Zwecke setzt und verwirklicht. Dieser Anthropomorphismus wiederum täuschte eine wunderbar einfache Lösung der weltanschaulichen Rätselfragen vor. Konnte doch auf diese Weise der Weltprozeß gleich von der niedersten Seinsstufe aus auf sinnvolle Ziele hin angelegt zu fein scheinen. Aber auch wenn man von diesen Atavismen absieht, so fehlte doch eine klare Vorstellung der kategorialen Form sowohl des einen wie des an­ deren Nexus. Vor allem sah man int Finalnexus bloß die Umkehrung des Kausalnexus, also die Determination durch das in der Zeitfolge spätere Stadium, wodurch der Prozeß nicht die Form des Vorwärtsdrängens, sondern die des Eezogenwerdens bekam. Als ziehende Instanz steht dann der Zweck da, die Reihe der M ittel aber, durch die er sich verwirklicht, ist von ihm aus bestimmt Da nun der Zweck zunächst das noch ungewordene Zukünftige ist, muß der Prozeß rückläufig vom Zukünftigen her determiniert sein. Weil es aber den Zuständen selbst nicht anzusehen ist, ob sie bloß Ursachen Wnftiger Wirkungen oder M ittel künftiger Zwecke

find, so schien es, daß jede Ursache fich ebensogut a ls M ittel, jede Wirkung ebensogut als Zweck ausfafien liefe. D as aber heifet, dafe jeder eindeuttg determinierte Prozefe sich ebensogut final wie kausal deuten liefe. Und da ferner die spekulativen Wunschziele der Weltanschauung der Finaldeter­ mination den Vorzug gaben, so gelangte man auf diese Weise ohne eigent­ liche Aufhebung der Kausalzusammenhänge zur allgemeinen Teleologie der Prozesse. Diese Rechnung konnte nur aufzugehen scheinen, solange man im F inal­ verhältnis blofe die Umkehrung des Kausalverhältnifies sah, d. h. solange man nicht fragte, wie denn eigentlich das Künftige (der Zweck) vor seiner Realisation vorbestehen und im Gegenwärtigen (dem M ittel) angelegt sein könne. Auf den Tatsachenkreis, aus dem allein her man ein solches Vorbestehen und Angelegtsein kannte, durfte man sich nicht berufen; denn beides kannte man nur vom menschlichen Wollen und Handeln her. Das Bewufetsein ist in der Anschauungszeit frei beweglich, es kann vorgreifen und kann rückläufig vom vorgesteckten Ziele aus M ittel wählen.. Der wirk­ liche Finalnexus eben hat diese dreifache Gestalt: das Vorsetzen des Zweckes, die Rückdeterminatton der M ittel und die zeitlich rechtläufige Verwirklichung des Zweckes durch die M ittel. E r ist also nicht einfach Um­ kehrung des Kausalnexus, sondern eine um vieles höhere und komplizier­ tere Determinationsform»). Wo aber ist in den Naturprozessen ein Bewufetsein oder auch nur eine dem Bewufetsein funktional gleichgeordnete Instanz, welche imstande wäre, Zwecke in die Zukunft hinaus zu setzen und von ihnen aus rück­ läufig M ittel zu wählen? M an kann natürlich eine solche Instanz an­ nehmen, sei es in Form eines göttlichen Jntelletts oder einer Weltver­ nunft; und das ist es, was die spekulative Metaphysik tatsächlich immer wieder skrupellos getan hat. Aber durch Phänomene ist solch eine An­ nahme nicht zu rechtfertigen, und die erkenntnistheoretische Kritik hat sie längst als unhaltbar erwiesen. Zu dieser Aporie kommen weitere. R ur noch eine von ihnen sei ange­ führt; es ist dieselbe, die uns schon bei der Entwickelungsoorstellung be­ gegnete. Einen Zweck kann nur ein begrenzter Vorgang haben, der einen Anfang hat, von dem aus, und ein Ende, in welches der Zweck gesetzt ist. Der natürliche Kausalprozefe aber hat keinen greifbaren Anfang und kein Ende; man kann in ihm Episoden unterscheiden, aber die Erenzsetzungen bleiben willkürlich, der Prozefe geht über alle Grenzen hinweg weiter. E r hat also offenbar kein Endstadium, das inhaltlich die Rolle eines Zweckes spielen könnte. ») Vgl. zur Stellung des Finalnerus» sowie überhauvt zum Folgenden: Ethik (3. Aufl. Berlin 1949) Kap. 20 c—e; M. u.W. Kap. 34 c, 6; Aufbau, Kav. 31c, 60 e, 61c,d.

Die Inversion des Kausalverhältnisies in ein Finalverhältnis ist offenkundig kategorial falsch. Die Ursache bringt nicht deswegen die W ir­ kung hervor, weil diese schon als „Zweck" in ihr steckte. D as Bewirken ist nicht auf ein „Endstadium" ( t & o s ) gerichtet, weil es gar kein Ende hat. Der Kausalprozeß hat wohl stets eine inhaltlich bestimmte „Rich­ tung", aber sie besteht nicht in einem Festgelegtsein auf etwas, w as heraus­ kommen soll. E s ist in ihm nicht auf etwas „abgesehen" oder „angelegt". F ü r Absicht und Anlage fehlt in ihm das Organ. Er ist in seiner Rich­ tung neutral, indifferent, „blind", nur bestimmt durch die jeweilige Kollo­ kation der Teilursachen, wie sie sich gerade im Strom der Prozesie zu einer Eesamtursache zusammengefunden haben.

b. Kategoriale Überformbarkeit des Kausalnexus

Diese Neutralität des Kausalnexus, seine Gleichgültigkeit dagegen, was im Prozeß „herauskommt", ist von allergrößter Folgenschwere, und zwar keineswegs bloß für die Naturprozesse, sondern auch für die Stellung des Menschen in der Welt, für seine Aktivität und sein Ethos. W ären die Naturprozesie auf Zwecke hin angelegt, so könnte der Mensch sie nicht als M ittel für seine Zwecke auswerten; es würden dann Zwecke mit Zwecken in Kollision geraten. Das aber macht gerade die eigenartig überlegene Stellung des Menschen aus, daß er Naturprozesie — so weit er sie begreift und zu nutzen weiß — als M ittel vor seine Zwecke spannen und für sie arbeiten lassen kann. Denn der Mensch ist es, der des Zwecksetzens und Seligierens der M ittel mächtig ist: er hat das einzigartige Organ dafür, das Bewußtsein, mit dem er dem Zeitfluß vorgreifen und rückläufig gegen ihn vom Späteren zum Früheren hin determinieren kann. E r eben ist der finalen Determination mächtig. Aber er teilt diese Macht nicht mit der bewußtlosen Natur. Sie ist sein Vorzug. Und nur so hat er die Überlegenheit. Dasselbe gilt von den Willensentscheidungen des Menschen, sofern sie frei und verantwortlich sind. I n einer durchgehend final determinierten W elt wären sie nicht möglich. Da wäre über den Kopf des Menschen hin­ weg schon vorbestimmt, was geschehen müßte, und aller Wille wäre ohn­ mächtig. Die determinierenden Faktoren wären in jedem Augenblick ein geschlossenes System, dem sich nichts mehr einfügen ließe. Denn jede Kol­ lokation von Realfaktoren wäre durch ein Endstadium, den Zweck, zum voraus bestimmt. Ist die W elt aber bloß kausal determiniert, so sind die determinierenden Faktoren im Einzelstadium des Prozesses bloß ein offenes System, das beliebig weitere — auch höhere — Determinanten aufnimmt, deren Wirkungen dann in der Eesamtwirkung enthalten find H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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und vom fortlaufenden Prozeß weitergegeben werden. Darum gibt es im Kausalprozeß keine Vorbestimmung und keine Festlegung auf bestimmte Resultate. Diese weittragenden Konsequenzen können hier nicht ausgeführt wer­ den. Dafür muß auf anderweitige Durchführung verwiesen werden (vgl. Ethik. Kap. 69—71). Soviel aber kann schon au s dem Gesagten einleuchten, daß die wichtigsten Vorbedingungen für eine durchgreifende Bereinigung der alten Streitfragen, die das Ethos des Menschen, seine Stellung in der W elt und seine Freiheit betreffen, nicht ohne die Vorarbeit einer genauen Kategorialanalyse des Kausalnexus und nicht ohne radikale Aufhebung aller Vermengung mit offenen oder verkappten Finaloorstellungen mög­ lich ist. Die Kausalität ist die niederste und einfachste Grundform des linearen Realnexus, ein Minimum an reihenhaft fortschreitender Determination. Darum ist sie ohne Grenzen von höheren Determinationsformen überform­ bar. Sie verhält sich zu diesen wie eine passive Materie, setzt ihnen keinen Widerstand entgegen. Und so geht sie tatsächlich a ls kategoriales Element in den organischen Nexus, in den Finalnexus und in die bewußte I n itia ­ tive des Wollens ein. Es kann eben auf jeder Seinsstufe noch ganz anderes au s ihr werden, wo und wie immer Determinationen höherer A rt in sie hinein spielen. Aber dieses Verhältnis unterliegt dem kategorialen Grundgesetz und läßt sich nicht umkehren: von jenen höheren Formen des Realnexus liegt keine ihr zugrunde, und keine von ihnen darf ihr als eine latent in ihr wirksame angedichtet werden. Zugrunde liegt nur sie ihnen allen. Denn zugrunde liegen kann nur das Einfache, Neutrale und llberformbare — dem Komplexen und Hochdifferenzierten; nicht aber umgekehrt dieses jenem. D as haben die kategorialen Schichtungs- und Dependenzgesetze eindeutig gezeigt (vgl. Aufbau, Kap. 51—61). D as Verhältnis der Kausalität zur F inalität ist hierfür ein einleuchtendes Beispiel, denn der Finalnexus ist in seinem dritten Gliede (der Verwirklichung des Zweckes) teiltet Kausalprozeß. Aber erkennbar ist das nur, wenn man sich von der ganzen Reihe der spekulativen Vorurteile frei macht und sich streng an die kategorialen Strukturen der beiden Determinationsformen hält. c. Pluralität der Teilmöglichkeiten und Einheit der Realmöglichkeit

Die Prozeßkategorie war der Modalanalyse zugänglich. Der Kausal­ nexus ist die Determinationsform des Naturprozesies. Durch ihn kommt inhaltliche Reihenordnung, Abhängigkeit und Realnotwendigkeit in den Prozeß hinein. E s fragt sich nun, ob diese durch ihn neu hineingekommenen Momente sich am Ende auch auf modalem W ege näher bestimmen lassen.

Am Prozeß zeigte sich, daß in jedem Gegenwartspunkte das aus der Zukunft Anrückende eine P lu ralität von „Möglichkeiten" enthält, von denen int Fortschreiten sich stets nur eine verwirklicht. Damit hing die sukzessive Ausschaltung der übrigen Möglichkeiten und der ständig sich ver­ engernde Kreis des Möglichen zusammen, was inhaltlich ein progressives Anwachsen der Bestimmtheit bedeutet. Denn jene vielen „Möglichkeiten", die ursprünglich offenstehen, find nur sehr allgemein umrissen, unbestimmte Chancen (Kap. 21b). E s zeigte sich, daß sie weder Wesensmöglichkeiten noch etwa gar Realmöglichkeiten sind, sondern bloße Teilmöglichkeiten, die überhaupt nur im Vorhanden­ sein einzelner Realbedingungen bestehen. Zur Realmöglichkeit aber ist die Vollständigkeit der Realbedingungen das unerläßliche Erfordernis. Hierbei bleibt die Frage offen, wo denn im Fortschreiten des Prozesies die übrigen Bedingungen herkommen, welche die Realmöglichkeit voll­ machen und die Vielheit der Teilmöglichkeiten ausschalten. Diese Frage ist identisch mit der anderen, was für eine Instanz denn aus der Vielzahl der unbestimmten Teilmöglichkeiten die eine Realmöglichkeit heraushebt. Wenn man hier mit dem „Zufall" antwortet, so bedeutet das, daß der Verlauf des Prozesies ein undeterminierter ist, daß also keine Bestimmung der späteren Stadien durch die früheren stattfindet. Das würde die Aus­ hebung des Kausalnexus bedeuten. Hiernach läßt sich nun sehr genau angeben, was der Kausalnexus modal bedeutet, und was eigentlich durch ihn in die zeitliche Folge der Zustände, d.h. in den Prozeß als solchen, hineinkommt: der Kausalnexus ist dieses, daß von einem bestimmten Prozeßstadium aus in W ahrheit nicht vielerlei Verschiedenes möglich ist, also auch keine P lu ralität von „Möglich­ keiten" besteht, sondern stets nur eine, und daß diese eine Möglichkeit eben diejenige ist, die sich im weiteren Verlauf des Prozesies ver­ wirklicht. M an kann dieses die modale Definition des Kausalnexus nennen. E s dürfte die einzige sein, die sich in solcher Allgemeinheit geben läßt. Sie bedeutet aber nichts Geringeres, als daß die fehlenden Bedin­ gungen der Realmöglichkeit tatsächlich doch schon im früheren Prozeßstadium enthalten sein müssen. Anders wäre die Möglichkeit ja keine vollständige. Ein solches Enthaltensein ist nun keineswegs widersprechend, obgleich es wahr ist, daß in den folgenden Prozeßstadien noch weitere Realbedin­ gungen hinzutreten, so daß die Reihe der Bedingungen sich erst nach und nach auffüllt. Denn diese hinzutretenden Realbedingungen können doch auch nur auf Grund weiter zurückliegender Bedingungen wirklich werden,'

die letzteren also müssen doch im früheren Prozetzstadium mit enthalten sein. Und wenn man die Kollokation von Realfaktoren im früheren Stadium genügend „breit" versteht — d. h. ein genügend großes Bündel von Teilprozessen in den Simultanschnitt einbezieht — so müssen sie alle sich auch wirklich in ihm auffinden lassen. Dieses Enthaltensein sämtlicher Teilbedingungen im früheren Prozeß­ stadium macht die Eigenart der Determinationsweise im Kausalnexus aus. D as deckt sich genau mit der früher getroffenen Bestimmung, daß in der Gesamtursache alle Teilursachen beisammen und zur Einheit einer Kollokation verbunden sind; wie denn auch in der Eesamtwirkung die Mannigfaltigkeit der Teilwirkungen ihnen entspricht (Kap. 26 b). Selbst­ verständlich bedeutet das nicht, daß der menschliche Verstand die ganze Fülle der Teilbedingungen jederzeit aufzeigen könnte. Der Verstand ist endlich, und sein kausales Durchschauen reicht stets nur bis auf die nächsten und greifbarsten Bedingungen. Auch die Wissenschaft faßt nicht die ganze Breite der Kollokationen, sie vereinfacht vielmehr für ihre Zwecke den besonderen F all und faßt schließlich nur das Allgemeine, das sich in ihm birgt. Aber der Kausalnexus ist Realkategorie und als solche nicht auf das Begreifen angewiesen. Der determinative Realzusammenhang der Prozeßstadien besteht unabhängig vom Erkennen. Von hier aus kann man gleich einen Schritt weitergehen. Die Modal­ analyse hat dargetan, daß alles, was realmöglich ist, ebendamit auch real­ notwendig ist. Dieses Gesetz — das Realgesetz der Notwendigkeit — besagt, daß derselbe Komplex von Bedingungen, der etwas realmöglich macht, wenn er einmal vollzählig beisammen ist, es auch zugleich realnotwendig macht. Oder anders ausgedrückt: wenn alle Bedingungen der Möglichkeit einer Sache bis zur letzten vorhanden sind, kann die Sache nicht mehr ausbleiben. Dieses Nichtausbleibenkönnen ist die Realnotwendigkeit (vgl. M. u. W., Kap. 19,20; desgleichen zum modalen Vau des Prozesses ebenda Kap. 31.32). Setzt man dieses Gesetz hier ein und verbindet es mit dem Ausge­ schlossensein aller Teilmöglichkeiten bis auf die eine, die wirklich wird, so kann man der Kausalität eine noch kürzere, aber gleichwohl sehr genaue Modaldefinition geben: sie ist diejenige Determinationsform des Realprozesses, nach der alles, was in ihm realmöglich wird, auch notwendig geschieht. Diese Notwendigkeit im Wesen der Kausalfolge ist es, was Gesamt­ ursache mit Eesamtwirkung, Teilursache mit Teilwirkung verbindet. Denn im Zusammenhang der aufeinanderfolgenden Kollokationen bedeutet die Realnotwendigkeit eben dieses, daß etwas anderes als das, was tatsächlich folgt, auch nicht folgen kann.

d. Der Sinn der Kausalnotwendigkeit. Grenzen der Unabwendbarkeit

Zum Wesen dieser Notwendigkeit gehört auch ihre negative Seite, ihre innere Begrenzung. Daß die Wirkung mit all ihren Teilmomenten in straffer Folge aus der Ursache hervorgeht, bedeutet durchaus nur ein Gebundensein an sämtliche Teilmomente der Ursache, keineswegs aber ein Festgelegtsein auf ein bestimmtes Resultat. Eine Instanz, die solche FestIcflung vollziehen könnte, fehlt dem Kausalnexus. E r ist bei aller Not­ wendigkeit der Folge doch gleichgültig gegen das, was durch ihn zustande­ kommt. D as ist von Wichtigkeit im Hinblick auf die höheren Determinations­ formen, die sich über ihm erheben. E s ist die Kehrseite jener V erform ­ barkeit, von der oben die Rede war. Es kann zwar keine Macht der Welt eine der Kausalkomponenten aufheben, wohl aber kann es Mächte geben, die von sich aus neue Komponenten hinzufügen. Und da die llrsachenkomplexe in den Realkollokationen keine geschlossenen Systeme sind, son­ dern jede hinzutretende Komponente widerstandslos aufnehmen, so kann die inhaltliche Richtung des Geschehens sehr wohl umgelenkt werden. E s geht dann einfach etwas anderes aus der veränderten Eesamtursache hervor, und zwar mit derselben Realnotwendigkeit. D as Hineinspielen überkausaler Faktoren in den Prozeß hebt also die Kausalnotwendigkeit nicht auf, kann aber sehr wohl den Prozeß dirigieren, das von sich aus Unabwendbare abwenden, das im ungestörten Kausalablauf niemals Zu­ standekommende zustandekommen lasten. Gäbe es in der Welt nur die physischen Prozeste, so wäre dieser Vor­ behalt überflüssig; die Kausalnotwendigkeit würde dann unbegrenzt herr­ schen und einen allgemeinen Kausaldeterminismus ausmachen. Nun gibt es aber höhere Seinsschichten, und jede hat ihre besonderen, höheren Determinationsformen. Und von diesen gilt das Gesetz der kategorialen Freiheit, daß sie die niedere Determination zwar nicht aufheben, wohl aber über ihr autonom walten und dadurch auch ihr neue Determinanten hinzu­ fügen können. Sie bilden eben ein kategoriales Novum mit eigenen R eal­ bedingungen der Möglichkeit und eigener Realnotwendigkeit. Das ändert die Sachlage wesentlich. Denn der Kausalnexus ist neutral, er läßt sich jede bestimmende Komponente aufzwingen, die seinen Bestand nicht aufhebt. Dadurch ist er überformbar und in gewissen Grenzen lenkbar. M it dem beliebten deterministischen Begriff der Unabwendbarkeit muß man daher bei der Kausalität vorsichtig sein. Versteht man darunter ein schicksalartiges Vorgezeichnetsein des aus der Zukunft Anrückenden, so ist die Kausalfolge keineswegs unabwendbar. Denn vorgezeichnet ist in ihr

nichts. Versteht man aber darunter das unaufhaltsame Hereinbrechen dessen, was durch menschliche Voraussicht und begrenzte Macht des Ein­ greifens wirklich nicht abzuwenden war, so besteht der Ausdruck zu Recht. Aber auch dann bezeichnet er nicht ein „Schicksal", sondern einfach die Gleichgültigkeit des Naturgeschehens gegen menschliches Wollen und Können. Auf Grund eines vorliegenden, durch keinerlei Eingriff beeinflußten Ursachenkomplexes ist das Anrückende in der T at unabwendbar. Ist eine determinierende Instanz höherer Ordnung vorhanden und gelingt ihr das Eingreifen, so tritt ein neuer Realfaktor hinzu» und das Anrückende ist sehr wohl ablenkbar. So gesehen, stellt stch der Kausalnexus mitsamt seiner Notwendigkeit als ein sehr harmloser Determinationstypus dar. Und das reimt sich damit, daß er der elementarste und einfachste Determinations­ typus, gleichsam nur das Minimum eines solchen ist. Von hier aus sieht man, daß auch die P lu ralitä t der Teilmöglichkeiten trotz der seligierenden Funktion der Kausalabhängigkeit doch einen ge­ wissen S inn behält. Die Teilmöglichkeiten haben ja ein durchaus reales Bestehen, sie sind nur keine Realmöglichkeiten. Von einem unvollständigen Bedingungskomplex aus gibt es stets divergierende Möglichkeiten. Und die Ausschaltung aller bis auf die eine ist identisch mit dem Hinzutreten der noch fehlenden Bedingungen. Ebenso bleibt am Kreis der Möglichkeiten das Engerwerden in Kraft. E s entspricht dem Anwachsen des Bedingungskomplexes im Fortgange des Prozesses. Denn eben dieses Anwachsen unterliegt ja derselben Kausal­ folge. Nimmt man das Anwachsen als ein kausalnotwendiges mit hinein, so ist in der T at die eine Möglichkeit, die sich verwirklicht, auch von vorn­ herein die einzige und somit zugleich die eines Notwendigen. Sofern aber der sich auffüllende Bedingungskomplex bis zuletzt „offen" bleibt und grundsätzlich dem Hinzutreten anderweitiger Faktoren (höherer Deter­ mination) ausgesetzt bleibt, gibt es auch bis zuletzt keine „einzige Möglich­ keit", sondern mehr als eine. Und erst mit dem Wirklichwerden der einen werden die anderen ausgeschaltet. Die totale Determination eines vollständigen Bedingungskomplexes — «Iso einer Eesamtursache im strengen Sinne — gibt es stets nur im Ganzen des Weltprozesses, wenn man diesen in seiner vollen, vieldimen­ sionalen „Breite" versteht; in jedem Schnitt quer zur Zeit sind dann aber auch alle Determinanten höherer Ordnung einbezogen, sofern solche vor­ handen sind. Reine Kausaldetermination — ohne alles Hineinspielen höherer Determination — waltet nur in den Naturabläufen. I n der Lebenssphäre des Menschen, wo er wirkt und experimentiert, gibt es nur gemischte Determination.

M an kann also auch sagen: die Nichtgeschlossenheit der Determinanten* komplexe im ungestörten Naturgeschehen besteht zwar wirklich „bis zuletzt" (bis zum Einrücken in die Gegenwart), aber sie besteht nicht für den kau­ salen Naturablauf selbst, sondern nur für reale Mächte höherer Ordnung. S ie besteht also jedenfalls für den Menschen. Denn sie besteht nur relativ auf das mögliche Einsetzen außerkausaler Determinanten. Und streng ge­ nommen besteht dann auch die P lu ralitä t der Möglichkeiten in jeder Phase des Prozesses nur in bezug auf ein solches Einsetzen. I n sich selbst ist kein Prozeßstadium vieldeutig; von jedem als einer vollständigen Kollokation aus gibt es nur eine Möglichkeit. I n sich ist Kausaldetermination jeder­ zeit eine vollständige. N ur nach außen — oder richtiger „nach oben" — ist sie nicht geschlossen.

e. Das Verhältnis der Kausalität zur Substanz

Ein besonderes Kapitel bildet die Stellung der Kausalität zur Sub­ stanz. Da jene den Prozeß bestimmt, diese aber ihm zugrunde liegt, so mutz sich ihr Verhältnis näher bestimmen lassen. Der blotze Gegensatz von Veränderung und'B eharrung reicht hier offenbar nicht zu, auch wenn man die Beharrung der Substanz kritisch als eine relative versteht. Denn die Substanz geht in der Beharrung so wenig auf wie die Kausalfolge im Kausalgesetz. Sie ist beharrendes Substrat, wie diese der fortlaufende Nexus ist. Die älteren Auffassungen haben hier alle vorwiegend den Gegensatz gesehen. Da verstand man unter Substanz das unberührt zugrunde liegende Tiefenwesen, das ungreifbare Etwas, an dessen Oberfläche blotz die Akzidentien ein plätscherndes Wellenspiel bilden. I n der Kausalität aber sah man bloß das Ordnungsprinzip dieses Wellenspiels: sie konnte sich also nur auf die Akzidentien beziehen, die Substanz blieb ihr entzogen. D a aber die Substanz doch den Akzidentien „zugrunde liegen" sollte, so mußten diese auch von ihr in Abhängigkeit stehen. Und weil nun doch der Kausalnexus selbst eine durchgehende Abhängigkeit ausmacht, so mußte offenbar die Reihe der Akzidentien zweierlei verschiedener Determination unterliegen: der Determination durch die Substanz, deren „Äußerungen" sie sind, und der Determination durch einander in der Zeitfolge. Die letz­ tere mußte die kausale sein. Die eine also kam aus dem dunklen „Inneren der N atur", gleichsam von dem unbekannten Ungeheuer der Tiefe, die andere vollzog sich im Lichte der Erscheinungen und führte aus dem unbe­ kannten Schoße der Vergangenheit in den ebenso unbekannten der Zu­ kunft. I h r kam die Form der Suhession und des Prozesses zu.

Das ist nun ein unnütz kompliziertes Schema. Bon zweierlei Deter­ mination ist an den Naturprozessen nichts zu verspüren, nicht jedenfalls von so heterogener Art. Auch ist die Substanz nicht ein verborgenes Tiefen­ wesen. Von der M aterie könnte man das allenfalls gelten lassen, aber M aterie hat sich als auflösbar erwiesen,' und die Energie ist ganz und gar im Prozeß enthalten, entfaltet sich in ihm, setzt sich in ihm um. Aber auch noch diesseits des Energiegedankens zeigte sich, daß das im Prozeß Beharrende in erster Linie der Prozeß selbst ist: er erhält sich, indem die Zustände entstehen und vergehen. Und das reimt sich nun sehr einfach damit, daß der Kausalnexus das im Prozeß sich immer fortsetzende Hervor­ bringen ist. Dieses Hervorbringen eben macht die innere Dynamik des Prozesses aus. Und vollends durchsichtig wird das Verhältnis, wenn man hinzufügt, daß diese Dynamik die im Fortschreiten des Prozesses sich erhaltende ist. I n diesem neuen Schema fällt die Substanz als verborgenes Tiefen­ wesen jenseits des Prozesses einfach weg. Die Substanz ist jetzt ganz in den Prozeß hineingenommen. Sie ist jetzt das „in ihm selbst Beharrende", die dynamisch verstandene Substanz, sie ist dasjenige, dessen Trägheit die Bewegung fortlaufen läßt. Das aber heißt: Substanz und Kausalität sind kategoriale Momente eines und desselben als Prozeß sich fortsetzenden Ilbergehens. Sie charakterisieren nur verschiedene Seiten des Prozesses. Die Substanz ist das Moment der Beharrung in ihm, die Kausalität das der Determination. Aber die Beharrung besteht wesentlich im sukzessiven Sich-Fortsetzen der Determination, und diese wiederum ist selbst eine im Prozeß beharrende. Is t also die Substanz Energie, so besteht sie unlösbar ineins gebunden mit dem Kausalnexus und ist von ihm getragen. Beide sind ganz in den Prozeß hinein aufgehoben und in ihm beschlossen. Von der Substanz könnte man sagen, sie sei in ihn aufgelöst. Denn Energie besteht wesentlich im Umsatz, und wo sie gebunden ist, da besteht sie doch im Gefälle, in der Spannung fort, die ihrerseits nur eine Ubergangsform ist. Also kausal ausgedrückt: sie besteht in der Wirkung. Und da Verursachen und Bewirken ein und derselbe Vorgang ist, so kann man auch sagen: sie besteht im Verursachen. Ob ich sage „Die Substanz erhält sich int Wechsel der Zustände", oder „jede Teilursache wirkt sich unaufhaltsam in den zeitlich nachfolgenden Prozeßstadien aus" — das ist zwar der Aussage nach sehr Verschiedenes, drückt aber denselben Sachverhalt aus. Der Unterschied liegt nur im Aspekt. Die Substanz, dynamisch verstanden, besteht im unaufhaltsamen F ort­ wirken. I h r Erhaltungsmodus ist nichts anderes als das Sichfortsetzen der Prozeßdynamik: ihre Beharrung ist identisch mit dem Verschwinden der Ursache in die Wirkung und dem Hervorgehen der Wirkung au s ihr.

I h r Aufgelöstsein in den Prozeß bedeutet ihr kausales Sich-Entlangwälzen durch die Reihe der einander sukzessiv produzierenden Kollokationen, in welcher der Ablauf des Weltgeschehens besteht. Die Beharrung der Substanz ist darum nicht etwas neben oder hinter dem Kausalstrom der Realvorgänge, sondern geht ganz in diesem auf. Und ebenso kann man sagen, daß die Notwendigkeit des Kausalzusammen­ hanges nicht etwas neben der Beharrung der Substanz ist, sondern durch­ aus identisch mit ihr. D as Wesen dieser Notwendigkeit ist eben, daß die Dynamik bes Prozesses nirgends abreißt, daß auf jedes A notwendig ein B folgt, niemals aber nichts folgt. D as zutreffende Bild des unaufhaltsamen kausalen Folgens ist das eines fortgesetzten Schiebens» Stoßens und Drängens, gleichgültig, blind, ohne ziehende Macht auf der anderen Seite, ohne eigene Lenkung, aber ebendaher lenkbar. D as Bild ist freilich selbst schon ein kausales; man kann eben den Kausalstrom nicht durch andere Bilder als die von ihm selbst hergenommenen verbildlichen. E s gibt nichts außer ihm, was ihm ver­ gleichbar wäre. E r ist ein kategorial Letztes und Einfachstes, ist also in allem, was ihm gleicht, schon enthalten. E r selbst aber gibt in jedem beobachtbaren Teilprozeß ein anschauliches Bild seines allgemeinen Wesens. Aus demselben Grunde ist auch das Sich-Entlangwälzen durch die Prozeßstadien das dem Sachverhalt am nächsten kommende und nicht überbietbare Bild der dynamisch sich erhaltenden Substanz.

f. Die fortlaufend verschobene Identität von Ursache und Wirkung

D as alles wird noch einleuchtender, wenn man den Dualismus der für die Sachlage viel zu groben Kausalbegriffe, die Zweiheit von „Ursache und Wirkung" fallen läßt. Es fällt damit auch die Vorstellung des wie ein Drittes zwischen ihnen bestehenden Verhältnisies. Diese Begriffe sind ja nur der substantivierte Ausdruck für die Momente eines in sich einheit­ lichen Ganzen. Sie können nicht, was häufig geschieht, wie selbständig Seiendes gegeneinander ausgespielt werden. Ih re Verselbständigung stammt aus jener veralteten Kausaloorstellung, nach der die Ursache sub­ stantiell gedacht w ar und a ls causa immanens selbst in der Wirkung be­ stehen bleiben sollte. Im wirklichen Kausalnexus gibt es nur die causa transiens. Und bei dieser sagt es schon das W ort, daß sie nur im über­ gehen besteht. Verursachen und Bewirken ist ein und dasselbe. „Ursache und W ir­ kung", als Zustände verstanden, find nur scheinbare Grenzstadien einer Betrachtungsweise, die einen bestimmten Abschnitt des Prozesses heraus­ greift. Wirkliche Erenzstadien kennt die Kausalreihe nicht. E s gibt darum

im Kausalnexus keine zwei Reihen — eine der Ursachen und eine der W ir­ kungen —, sondern nur eine. 2 n dieser einen Reihe sind alle Ursachen zugleich Wirkungen und alle Wirkungen zugleich Ursachen. S ie find es selbstverständlich nicht wechselseitig voneinander; die Reihenordnung der Determination läuft ja irreversibel in Richtung der zeitlichen Sukzession fort. S ie sind vielmehr gerade durch diese eindeutig rechtläufige Reihen­ ordnung zur Einheit „einer" Reihe gebunden; sie find es speziell durch das ungehemmte Weiterlaufen der Reihe: jede Ursache ist hier schon Wirkung früherer Ursachen, und jede Wirkung ist ihrerseits Ursache weiterer Wirkungen. Blickt man also auf das Ganze der Reihe hin, so ist die Reihe der Ursachen identisch mit der Reihe der Wirkungen. E s gilt nur, den S inn dieser Id en tität genau festzuhalten. Denn die einzelne Ursache ist natür­ lich keineswegs identisch mit ihrer Wirkung. Wohl aber ist jede Ursache inhaltsidentisch (dieselbe Kollokation) mit der Wirkung einer früheren Ursache, und jede Wirkung mit der Ursache einer späteren Wirkung. Im Ganzen der Reihe also ist die Kette der Wirkungen nur um ein Glied verschoben gegen die Kette der Ursachen. E s handelt sich daher um eine „fortlaufend verschobene Identität" der Ursachen und Wirkungen im Ganzen der Reihe»). W as bei alledem vom Gegensatz zwischen Ursache und Wirkung übrig bleibt, ist der Richtungsunterschied der Verschiebung. Dieser ist identisch mit der irreversiblen Rechtläufigkeit des Kausalstromes in der Zeit; iden­ tisch also mit der eindeutig gerichteten Dynamik des beharrlich fortschrei­ tenden Bewirkens. I n jedem besonderen Bewirken zu bestimmter Zeit bleibt das Bewirkende unvertauschbar mit dem Bewirkten. So entspricht es dem allgemeinen Gesetz der Fundamenalkategorien Determination und Dependenz. Das Determinieren des einen ist das Dependieren des andern, aber das determinans ist nicht das dependens und bleibt unvertauschbar ein anderes. Eine Grenze findet die verschobene Identität nur in den Erenzstadien der Reihe. Diese aber fallen als solche überhaupt aus ihr heraus, denn die Kausalreihe hat grundsätzlich keine Grenzen. I n der Metaphysik aber spielt das Problem des „ersten Gliedes" insofern eine Rolle, als an einem solchen das Gesetz der Reihe sich aufhebt. Ein „erstes Glied" einer Kausalreihe ist eine Ursache, die nicht W ir­ kung einer früheren Ursache ist. Und sofern man ein solches annehmen zu müssen meint, ist sein Begriff ein in sich widerstreitender. Der Wider­ streit ist bekannt in der Form von K ants dritter Antinomie. Diese Anti*) Diese Form der fortlaufend verschobenen Identität ist ontologisch auch an anderen Typen kategorialer Reihenordnung bekannt. Vgl. das Verhältnis von Dasein und Sofern, Grundlegung Kap. 19.

nomie ist im Grunde eine rein kosmologische, nicht also eine solche der „Freiheit" — eher könnte man sie eine solche der Zufälligkeit nennen —, sondern eine Antinomie des ersten Gliedes der Kette. Sie fällt zusammen mit der dynamisch verstandenen Antinomie des Weltanfangs. Wie diese ontologisch zu behandeln ist, gehört nicht mehr in das kategoriale Kau­ salitätsproblem, sondern in das allgemeinere der Notwendigkeit und der Realdetermination überhaupt, sowie in das des Widerstreits (Realrepugnanz). E s ist nicht, wie K ant meinte, ausgemacht, daß aller Wider­ streit in der realen Welt sich „lösen" mutzte. E r könnte auch selbst ontisch real sein, und dann mutzte schon die Tendenz, ihn zu lösen, eine Verken­ nung der Sachlage sein (vgl. M. u.W . Kap. 27; Aufbau, Kap. 32). M an darf die fortlaufend verschobene Identität nicht überschätzen. Sie gilt nicht der einzelnen Ursache, sondern nur dem Ganzen der Reihe. Sie macht das Continuum der Reihenglieder nicht „homogen", die Zustände nicht gleich, hebt nichts von der inhaltlichen Verschiedenheit der einander hervorbringenden Prozetzstadien auf. Und am wenigsten verträgt sie sich mit der traditionellen Vorstellung der causa immanens. Weder erhält sich die Ursache in ihrer Wirkung, noch war diese in der Ursache schon enthalten. Alle Erhaltung im Kausalnexus beschränkt sich auf die llnaufhaltsamkeit des Fortwirkens, und alle Identität darauf, datz jede W ir­ kung wieder Ursache von etwas ist. Jede andere Deutung ist ein Mitzverstehen der Sachlage.

28. Kapitel. Komplexes Bewirken und Einmaligkeit a. Irrationalität der wirklichen causa efficiens W as wir im Leben als Ursachen erkennen, find stets bloß Teilursachen. E s können sehr wohl auch einmal die wichtigsten Bestandstücke einer Eesamtursache sein und für engere Sicht zur kausalen Beurteilung des Ge­ schehens zureichen. Auf weitere Sicht aber reichen sie nicht zu. W as für praktisch nahe Zwecke genügt, erweist sich schon in der Wisienschast als lückenhaft. Ontologisch vollends ist es falsch. E s gibt in Wirklichkeit weder isolierte Ursachen noch isolierte Kausal­ reihen. E s gibt nur die Verflechtung der Kausalreihen, und diese ist stets hochkomplex, dem Menschen unübersehbar. E s gibt letzten Endes nur den allumfassenden Kausalprozetz des Weltgeschehens — zum mindesten des Naturgeschehens —, in dem zu jeder Zeit alles miteinander zusammen­ hängt, auch das scheinbar Ferne und Zusammenhanglose. Ursache im strengen Sinne ist stets nur die im Ganzen des Weltprozesses verwurzelte Gesamtursache.

Die Eesamtursache wiederum ist nicht einfach Summe der Teilursachen, obschon sie aus solchen zusammengesetzt ist. Die Zusammensetzung selbst ist eben mehr als eine Summe. S ie ist ein Geflecht, ein Gefüge, wennschon ein flüchtiges, — eine Totalität, in der die Teilmomente ihrerseits schon eigenartig verbunden sind. Diese Verbundenheit ist eine simultane und hat ihren Grund darin, daß die Glieder in dem einen umfassenden Real­ zusammenhang gemeinsam entstanden sind: sie bringen die Eigenart ihrer Verbundenheit aus ihrer kausalen Entstehung mit. Aber sie sind stets anders verbunden als die entsprechenden Momente der Gesamtwirkung. Denn auch die entstehenden Querverbindungen gehören mit zur Jn h altsbeftimmtheit der Wirkung und sind als deren Momente keineswegs in der Ursache enthalten. Auch sie sind int Eesamtprozeß immer wieder andere und andere. M an kann dieses Verhältnis auch im Notwendigkeitsmodus der Kausalfolge wiedererkennen. Die Realmöglichkeit umfaßt die T otalität der Bedingungen: diese selbe Totalität aber ist zugleich zureichend, das Realmögliche auch realnotwendig zu machen. Oder kausal ausgedrückt: erst das Beisammensein aller Komponenten einer Eesamtursache läßt die Wirkung aus ihr hervorgehen; dann aber geht sie auch unaufhaltsam und in strenger Folge aus ihr hervor. D as bedeutet: nur die Eesamtursache ist überhaupt wirklich hervor­ bringende Ursache (causa efficiens), die Teilursache für sich ist es nicht. W ir aber kennen die Eesamtursache niemals, können sie erkennend nicht erreichen, weil sie sich für unseren Blick in dem uferlosen Realzusammen­ hang der sich kreuzenden Kausalreihen verliert. Sie ist irrational durch ihre Komplexheit, ebenso wie sie irrational durch die Unendlichkeit ihrer Herkunft ist. I n Wirklichkeit rechnen wir stets nur mit der Teilursache, nicht also mit der wirklich hervorbringenden Ursache. Darum ist unser kausales Erkennen so unsicher und so eng begrenzt. D as gilt auch von der wissenschaftlichen Erkenntnis. Auch sie arbeitet, streng genommen, nur Teilursachen, oder doch begrenzte Komplexe von solchen, heraus. Hierbei aber kommt ihr eine andere Eigenart der Kausal­ zusammenhänge zu Hilfe. Es lassen sich im Felde der exakten Wissen­ schaften meist gewisse Bündel von Kausalfäden isolieren, die entweder schon in der N atur oder im bewußt angestellten Experiment relativ „ab­ geschlossene Systeme" bilden. Diese Systeme find so zu verstehen, daß in ihnen einzelne Teilursachen den Ablauf des Prozesses vorwiegend be­ stimmen, die übrigen Komponenten aber sich für bestimmte llntersuchungszwecke vernachlässigen lassen. I n dieser Möglichkeit der Isolation wurzelt alle Vorausberechenbarkeit der Raturvorgange, aber auch deren natür­ liche Grenze. Denn alle Abgeschlossenheit ganzer Stränge im Geflecht der

28. Kap. Komplexes Bewirken und Einmaligkeit

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Kausalfäden und alle Isolierbarkeit der Abhängigkeit einzelner TeilWirkungen von einzelnen Teilursachen ist nur eine relative. Von gewissen Grenzen ab machen sich die vernachlässigten Faktoren wieder geltend.

b. Der scheinbare modus deficiens und der affirmative Tharakter aller Kausalfaktoren

An dieser llnvollständigkeit der Kausalerkenntnis liegt es, daß die Teilursachen uns in positive und negative zu zerfallen scheinen. Wenn eine erwartete Wirkung ausbleibt, so sprechen w ir von „fehlenden Bedin­ gungen", und wir haben dann den Eindruck, als wirkte sich das Fehlende ebenso wie das Vorhandene in der Eesamtwirkung aus. D as ist eine spezifisch menschliche Anschauungsweise. Sie hängt an isolierten und verselbständigten Teilursachen, sie sucht aus diesen wie aus Bausteinen ein Bild der Gesamtursache zusammenzusetzen. Im realen Kausalzusammenhang herrscht ein anderes Gesetz: alle Bedingungen, die in einer Eesamtursache zusammenwirken, sind durchaus affirmativ. Sie sind durchweg „effektive" Faktoren von entsprechenden Momenten der Gesamtwirkung. Es gibt keine negativen Kausalfaktoren. Oder in der Älteren Vegriffssprache: es gibt keinen modus deficiens unter den Kom­ ponenten der causa efficiens. E s gibt also auch nicht eigentlich „fehlende" Kausalmomente. E s gibt freilich solche ursächliche Momente, die etwas Bestimmtes „verhindern". Aber das Verhindern ist nicht das Negieren von etwas, w as schon vorgezeichnet wäre. E s gibt im Kausalgeflecht nichts Vorgezeich­ netes; es gibt durchaus nur das, was eben zustandekommt, und zwar in T>et gemeinsamen Auswirkung sämtlicher llrsachenmomente zustande­ kommt. Za, es ist schon irreführend, zu sagen, etwas Bestimmtes komme nicht zustande. Denn auch zur Bestimmtheit kommt im Kausalzusammen­ hang nur, was tatsächlich bewirkt wird, nicht aber etwas, was nicht be­ wirkt wird. I n W ahrheit ist es vielmehr so, daß beim vermeintlichen f e h le n " -eines bestimmten Teilfaktors der Ursache einfach etwas anderes bewirkt wird, als wir erwarteten. Und dieses andere ist keineswegs negativ. Des-gleichen ist von ihm aus gesehen das „Fehlen" jenes Faktors gar kein Hehlen, sondern einfach ein Anderssein eines Faktors der Gesamtursache — anders nämlich, als man meinte. Im Meinen also bestand der Fehler. N ur subjektiv gesehen und nur in bezug auf etwas, was herauskommen sollte, kann es ein Fehlen von Bedingungen geben. Im natürlichen Realprozetz aber „fehlt" gar nichts. Lenn in ihm gibt es nichts, was herauskommen „sollte". D as eben macht

ja den in voller Komplexheit verstandenen Kausalnexus aus, daß im Realprozeß jederzeit nur das geschieht, dessen sämtliche Bedingungen im vorausgehenden Prozeßstadium beisammen sind. Wo es keinen modus deficiens gibt, da ist Vollständigkeit. Gibt es kein Fehlen von Teilursachen im fortlaufenden Prozeß des Bewirkens, so muß der Satz gelten: alle realen llrsachenkomplexe sind absolut voll­ ständig. S ie enthalten keine Lücken. Dieses Gesetz, das auf den ersten Blick etwas gewagt aussehen könnte, besagt im Grunde etwas ganz Einfaches, fast Selbstverständliches. Gäbe es im Kausalnexus ein Angelegtsein auf bestimmte Resultate wie im Finalnexus, da wäre es freilich etwas Großes darum, daß sich für diese auch immer alle nötigen Bedingungen zusammenfinden. Eben das aber gibt es in ihm nicht. Der Kausalnexus läuft gleichgültig gegen das, was herauskommt, ab. Oder vielmehr umgekehrt: es kommt in ihm immer nur das zustande, wofür sämtliche Bedingungen sich zusammenfinden. D aran ist nichts sonderlich Erstaunliches. Und darum müssen, rückwärts gesehen, in ihm alle llrsachenkomplexe tatsächlich eintretender Wirkungen absolut vollständig sein. Nur dem Bewußtsein ist das nicht selbstverständlich, weil es die wirklichen llrsachenzusammenhänge nur unvollständig durchschaut und deshalb fortgesetzt andere Wirkungen erwartet. F ü r die erwarteten Wirkungen „fehlt" es dann in der T at an Bedingungen; aber im Kausalprozeß selbst gibt es nichts Erwartetes, also auch nichts, wofür etwas fehlen könnte. Wenn man bedenkt, daß es sich hierbei für den Menschen auch um die erwarteten und nichterwarteten Wirkungen seiner eigenen Taten handelt, so ist leicht zu ermessen, wie weit hierin die Täuschung geht und welche eminent praktischen Konsequenzen die indifferente Struktur der Kausal­ folge hat. Denn welchen Ursprungs die Ursachen find, dagegen ist der Kausalnexus gleichgültig. I n diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß es im Bereich des Realen überhaupt nicht ein schlechthin Negatives gibt, sondern höchstens ein relativ Negatives, bezogen auf die Ganzheit bestimmter Ge­ bilde. Der durchgehend affirmative Eharakter der Kausalfaktoren — und mit ihm das Gesetz der Vollständigkeit — ist also nur ein Spezialfall eines allgemeineren ontologischen Gesetzes. Wo nicht ein Gebilde von objektivem Einheitstypus gestört ist, da gibt es im Realen nur das Anderssein, und das ist etwas durchaus Positives. Der negative Einschlag darin besteht dann nur für das Bewußtsein, das irrtümlich mit etwas anderem gerechnet hatte. Die Theorie vom „seienden Nichtsein" als einem Seinsprinzip, die seit Platon immer wieder aufgetaucht ist, kann nicht als eine ontologische gelten. Und dasselbe gilt von Hegels „Macht des Nega­ tiven".

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c. Zweierlei Unendlichkeit der Kausalreihe. Stetiges und svrunghaftes Bewirken

Kausalität gehört nicht notwendig zum Prozeß. Sie ist ein kategorial neues Moment ihm gegenüber. Der Prozeß könnte auch andere Z u­ sammenhangsformen haben; z. B. er könnte das sich ablösende Auftreten und Verschwinden von Akzidentien einer Substanz sein, die nur von dieser, nicht voneinander abhängen. Und wenn er schon reihenhaft lineare Determination enthält, so könnte diese an sich auch eine finale sein, wie man ja in der T at so lange geglaubt hat. Wohl aber macht die Kausal­ struktur den Prozeß erst voll und ganz zu dem, was er in den Naturvorgängen ist. So hängt, wie sich schon zeigte, das Nichtabreißenkönnen an ihr, und damit die extensive Unendlichkeit, die auf dieAntimonie des Anfangs der Kausalkette hinausführt. Ebenso hängt an ihr die innere Unendlichkeit der Kontinuität. Denn zwischen zwei willkürlich gewählten Prozeßstadien A und B gibt es stets noch eine Feinstruktur, und letzten Endes eine Jnfinitesimalstruktur des stetigen Überganges, in dem jeder Schnitt wiederum zugleich Ursache und Wirkung (im Sinne der verschobenen Identität) ist. Diese Kontinuität wird auch durch die sprunghaft verlaufenden P ro ­ zesse nicht aufgehoben. Denn was w ir einen „Sprung" nennen, ist nicht ein zeitlich punktueller Vorgang; auch er muß seine Dauer haben und eine Reihe von Stadien umfassen, ob nun menschliche Methoden des E r­ fassens dem folgen können oder nicht. F ü r solche Vorgänge wie einen Schuß, eine Explosion, einen plötzlich eintretenden Riß (bei überbean­ spruchter Zugfestigkeit des M aterials) ist das von der Theorie längst erwiesen. Eine Grenze der Kontinuität könnte man allenfalls in den Prozessen des Energieumsatzes erblicken. I n der Feinstruktur der Teilvorgänge, aus denen sich diese zusammensetzen, erfolgt die Energieabgabe nur in be­ stimmten „Quanten" oder deren M ultiplen. Die Energie ist atomifiert und mit ihr ist der Prozeß atomifiert. Also müßte dasselbe auch vom Kausalnexus gelten. Aber erstens ist alle Feststellung „letzter" Elemente eine relative: man weiß eben doch nie, ob es „letzte" sind. Und zweitens gilt von diesen Sprüngen der Kleinvorgänge doch grundsätzlich dasselbe wie von denen der großen Vorgänge: sie sind nur im Vergleich zu anderen Verläufen zeitlich punktuell, in Wirklichkeit brauchen auch sie Zeit; und dieser Zeitfaktor macht sie selbst wiederum zu einem kontinuierlichen Übergang. N ur die menschlichen Auffassungsmethoden reichen da nicht heran. Aber in den Realprozessen kommt es ja nicht auf jemandes Auf­ fassung an. Sie verlaufen gleichgültig dagegen.

Zwischen gleichmäßig stetigen und sprunghaften Prozessen ist also in dieser Hinsicht kein kategorialer Unterschied. D as Continuum des Bewirkens geht in beiden ununterbrochen durch. Folglich hat die Kausalreihe grundsätzlich beide Arten der Unendlichkeit an sich, die extensive des un­ endlichen Fortganges und die infinitesimale der unendlichen Teilbarkeit. Und wie die erstere so führt auch die letztere auf eine Antinomie hinaus (K ants zweite Antinomie). Und von dieser gilt dann dasselbe wie von der ersten Antinomie: sie könnte „reell" sein und einen wirklichen W ider­ streit ankündigen. D as Bewußtsein aber faßt weder die eine noch die andere Unendlich­ keit, es sei denn bloß in der Abstraktion. I n beiden Richtungen steht es vor unübersteigbaren Grenzen des Begreifens.

d. Zufälligkeit und Notwendigkeit im kausalen Geschehen

Die determinative Reihe des Kausalnexus zeigt in jedem Schnitt die totale Bindung nach rückwärts wie nach vorwärts, von Ursache zu Ursache hinauf wie von Wirkung zu Wirkung hinab im Strome des zeit­ lichen Geschehens. I n dieser doppelseitigen Bindung ist der kosmische Gesamtprozeß zur Einheit gebunden. E s wurde schon oben gezeigt, warum diese durchgehende Determination keinen Determinismus bildet: der Kausalnexus ist Lberformbar, lenkbar, offen und läßt höherer Deter­ mination unbegrenzt Spielraum. Er läßt also auch der Freiheit Spiel­ raum,- denn Freiheit ist nicht Unbestimmtheit, sondern das Einsetzen höherer bestimmender Instanzen. Wie aber steht es im Bereiche seines W altens mit dem „Zufall"? Versteht man unter dem Zufälligen ein urfachloses Geschehen — also ein kausal Zufälliges —, so ist dieses durch den Kausalzusammenhang ebenso ausgeschlossen wie ein wirkungsloses Geschehen. D as eine wie das andere bedeutet ein Abreißen der Kette, das eine nach rückwärts, das andere nach vorwärts. Jenes wäre Wirkung ohne Ursache, dieses Ursache ohne Wirkung. Beides widerstreitet dem Kausalitätsgesetz und ist in einer kausal determinierten Seinsschicht nicht möglich. E s gibt also den Zufall in diesem Sinne nicht. Dieses sich klar zu machen ist wichtig, besonders im Gegensatz zur Mög­ lichkeit der Freiheit. Denn hier wurzelt ein altes Borurteil, das Freiheit und Zufälligkeit fälschlich miteinander in Verbindung bringt. Um dieses Vorurteils willen haben ernste Denker der Kausalität ihren Herrschafts­ bereich bestritten, sich in einen Indeterm inism us geflüchtet, der die strenge Gesetzlichkeit des Nexus aufhob. D arin stecken zwei Voraussetzungsfehler. Denn einmal bildet der Kausalnexus gar keinen Determinismus, auch

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wenn er lückenlos alles durchzieht. Sodann aber ist auch Freiheit nicht ein Negativum, könnte also in bloßer Durchbrechung des Kausalnexus gar nicht bestehen, selbst wenn eine solche möglich wäre. Wohl aber ist der Zufall etwas rein Negatives. Und eben darum ist er unmöglich. Denn im Kausalnexus gibt es, wie sich zeigen lieh, nichts Negatives, keinen modus deficiens, weder an den Wirkungen, noch an den Ursachen. Freiheit und Zufälligkeit sind, determinativ gesehen, nicht nur nicht dasselbe, sondern geradezu das Gegenteil voneinander. Freiheit bedeutet das Hinzutreten anderweitiger (höherer) Determinationsfaktoren, Zufälligkeit die Aufhebung bestehender Faktoren, oder überhaupt das Fehlen von solchen. Freiheit ist ein P lu s, Zufälligkeit ein M inus an Determination. D as erstere ist im Kausalnexus möglich, wennschon es durch ihn selbst nicht zustande kommt; das letztere ist in ihm nicht möglich, auch wenn eine höhere Instanz es noch so sehr fordern sollte. Denn die niedere Kategorie ist die stärkere, in diesem Falle also die Kausalität, und ihr kann keine höhere Instanz etwas abhandeln. N ur hinzufügen kann sie das ihre. D as aber ergibt keinen Zufall. M an muß sich hierbei freilich vor den Äquivokationen der Zufälligkeit zu hüten wissen. D as Gesagte gilt natürlich nur vom ontologisch Zufäl­ ligen. Im Leben nennen wir .zufällig" alles, was nicht von uns vor­ gesehen oder bezweckt war. I n diesem Sinne ist natürlich alles kausale Geschehen zufällig, und wenn es noch so sehr unabwendbar aus seinen Ursachen hervorgeht. Zufälligkeit, so verstanden, widerstreitet der Kausal­ notwendigkeit nicht. Alles, was als Wirkung zustande kommt, „ergibt sich" eben doch erst aus der Ursachenkette, es „kommt zusammen" (convenit), wie es sich gerade trifft (contingit). Dieses Sich-Zusammenfinden ohne P lan , S in n und Zweck ist mit den alten Termini convenientia und contingentia gemeint. Viel unerfreuliches Mißverstehen läßt sich vermeiden, wenn man sich dieses klar macht. I n gewissem Sinne ist eben im Kausalnexus alles zu­ fällig, und wiederum in gewissem Sinne ist alles in ihm notwendig. Die Zufälligkeit in ihm ist nur keine Realzufälligkeit (genau so wie die P lu ralitä t der Möglichkeiten im Prozeß nicht Realmöglichkeit ist). Es kann aus einer bestimmten Kollokation der Ursachen immer nur eine ein­ zige Wirkung sich „ergeben" (contingere), aber das Ergebnis ist nicht ein vorgezeichnetes. D as contingere enthält eben selbst die necessitas, und diese wiederum ist eine bloß zusammen gekommene, d. h. kontingente. Darum widerstreiten sich contingentia und necessitas im Kausalnexus nicht. Sie sind bloß Kehrseiten eines und desselben Verhältnisses. Aber das gilt natürlich nur, soweit das Gesamtgeschehen wirklich bloß kausal determiniert ist. Sobald sich höhere Determinationsformen mit Hinein­ mengen, wird das Verhältnis ein anderes. ö f l t l m a n n , Philosophie der Natur

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D as Zufällige im Sinne der contingentia ist also nicht das Unberechen­ bare oder gar Unbegreifliche. E s wäre vielmehr für einen unendlichen Verstand restlos durchschaubar und sogar voraussagbar. Denn von jedem Schnitt der Kausalreihe aus ist grundsätzlich die ganze Reihe — vorw ärts wie rückwärts — erschließbar. Davon ist freilich der menschliche Verstand sehr weit entfernt. Aber die Grenzen, die ihm gezogen find, lasten ihm doch auch beträchtlichen Spielraum,' und so kommt es, daß er im Gegen­ standsfelde der bloß kausalen Determinatton mit seinem wistenschaftlichen exakten Rückschließen und Vorausberechnen doch recht weit kommen kann. Allerdings gehört dazu noch eine andere Bedingung, die genaue K enntnis der besonderen Gesetze, unter denen die Abläufe stehen. Diese Gesetze setzen zwar den Kausalzusammenhang schon voraus, sind aber nicht mit ihm identisch, sondern fallen unter eine andere Kategone.

e. Die Individualität des Kausalnexus

W äre die Kausalität nichts anderes als ein Gesetz, so müßte sie den Charakter eines bloß Allgemeinen haben und darin aufgehen. Dagegen wurde schon gezeigt, daß weder die Reihe als solche noch ihr Continuum noch vollends die Dynamik und das Hervorbringen darin aufgeht. Dazu aber kommt nun eine viel radikalere Überlegung. Der Kausalnexus muß nämlich vielmehr durchaus individuell sein. E r muß es schon deswegen, weil er ein Realverhältnis ist und reale Ursachen mit realen Wirkungen verknüpft. Denn alles Reale ist einmalig und wiederholt sich nicht. Bedenkt man nun, daß der Kausalnexus in der Dynamik des Hervorbringens besteht, so bedeutet seine Individualität, daß das Hervorbttngen selbst von F all zu Fall ein anderes ist. W as sich ja auch damit reimt, daß es fortgesetzt Neues und Neues hervorbringt. D as schließt natürlich nicht aus, daß Gesetzlichkeit im Kausalprozeß enthalten ist; er verträgt sich auch mit sehr besonderer und verzweigter Gesetzlichkeit. Tatsächlich ist ja auch der Kausalnexus die Voraussetzung der Prozeßgesetzlichkeit. Aber er selbst ist etwas anderes. Wie der Prozeß nicht identisch ist mit den Gesetzen, nach denen er verläuft, so auch der Kausalnexus; und wie jener in einmaligen Verläufen besteht, so auch dieser im einmaligen Bewirken, obgleich es beiden nicht an Gesetzlichkeit fehlt. M an muß sich hier des Verhältnistes zwischen den elementaren Qualitätskategorien Allgemeinheit und Individualität erinnern (vgl. Aufbau, Kap. 37 c, d ) : diese beiden bestehen nicht getrennt nebeneinander in der einen Welt, so etwa, daß von den Dingen oder Eeschehnisten das

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eine allgemein, das andere individuell wäre. Sondern ein und dasselbe Reale ist zugleich allgemein und individuell, und zwar in der Weise, daß alle seine Einzelzüge an unzähligen anderen Fällen wiederkehren, also allgemein find, ihre Kombination als Ganzes aber einmalig ist und in genau derselben Weise nicht wiederkehrt. Eine andere Individualität gibt es nicht. Aber auch eine andere Allgemeinheit gibt es in der realen W elt nicht. Setzt man dieses kategoriale Verhältnis in das kausale Geschehen ein, so ergibt sich: im Kausalnexus — auch wenn er ins Unendliche fort­ läuft — kehrt die vollständige Bestimmtheit eines Ablaufs niemals wieder. Alle Einzelmomente mögen sich fortlaufend wiederholen und darin fester Gleichartigkeit (Gesetzlichkeit) unterliegen; mit der vollen Bestimmt­ heit des besonderen Verlaufes ist es dennoch etwas anderes. Sie hängt an der Besonderheit des Ursachenkomplexes in der einmaligen Kollokation, und diese erstreckt sich auf die ganze „Breite" des Realzusammenhanges. Die Kollokation mag ein zweites M al der ersten ähnlich sein, identisch kann sie mit ihr nicht sein, weil sie an einer anderen Stelle des einen Realzusammenhanges steht, in den alles eingeordnet ist, und diese andere Stelle schon eine Andersheit an ihr selbst ausmacht. W as einmal int Kausalnexus auftritt und wieder verschwindet, das verschwindet unwieder­ bringlich auf immer. Die Unterschiede freilich mögen an gewissen Prozetzformen minimal und vielleicht für uns ungreifbar sein, ja wohl auch für menschliche Gesichtspunkte sehr unbedeutend. Das ändert ontologisch nichts an ihrem Vorhandensein und hebt die Einmaligkeit nicht auf'). E s gibt also im kausalen Naturgeschehen wohl Gleichartigkeit, und zwar durchgehende; ja es gibt in ihm die notwendige ewige Wiederkehr typischer Abläufe. Aber weder deckt sie sich mit der vollständigen deter­ minativen Bestimmtheit des Einzelprozesies, noch geht dessen besondere Geformtheit in ihr auf. Darum gilt der Satz: alles, was geschieht, geschieht nur einmal. *) Die Liebhaber der „ewigen Wiederkehr" gehen hierbei nicht einmal ganz leer au s: nur das Besondere in seiner Eigenart kehrt nicht wieder, der Typus der Gebilde, Abläufe und Situationen dafür um so mehr. Es gilt also, die Wiederkehr in sinnvoller Weise dort zu suchen, wo sie ist. — Im übrigen kann man sich mit etwas Mathematik leicht klarmachen, warum keine Aussicht auf Wiederkehr der besonderen Gestalten und Geschehnisse besteht. Wiederkehr im Kausalgeschehen haftet an den Kollokationen, denn nur bet gleicher Kollokation kann der gleiche Ablauf einsetzen. Nun ist aber die Menge möglicher Kolloka­ tionen im Weltzusammenhang ein Unendliches von höherer Mächtigkeit — nach der Mengenlehre ein solches vom Typus „f“ (Anzahl möglicher Funktionen in der Ebene) —, die der Schnitte in der Zeit aber ein Unendliches niederer Mächtigkeit (Typus „c“, Anzahl der Punkte im Kontinuum). Also können sich die Kollokationen in der Zeit nicht genau inhaltsgleich wiederholen, die Wahr­ scheinlichkeit dafür wird = O. Und also auch die Abläufe nicht.

W ir sagen im Leben wohl, daß es „wieder geschieht", meinen aber im Emst nicht die vollständige Deckung. W ir wissen sehr wohl, daß es nicht nur ein zweites Geschehen ist, sondem auch daß inhaltlich etwas anderes geschieht. E s decken sich eben in W ahrheit doch nur gewisse Züge, auf die wir aus Jnteresiegründen gerade Gewicht legen. W ir sind im Leben gewohnt, uns an das Wiederkehrende zu halten; dieses scheint uns das Wesentliche; und für Zwecke des Menschen, praktische wie theoretische, ist es meist auch das Wesentliche. Der Mensch ist an den kleinen Unterschieden uninteressiert, das Individuelle liegt ihm höchstens bei seinesgleichen am Herzen. Dazu kommt, daß das Erkennen sich notwendig an das relativ Allgemeine halten muß, schon um der Abbreviatur willen, die es gestattet. Eigentliche Individualität ist weitgehend unerkennbar, weil die überfülle der Momente in ihr nicht übersehbar ist. Daß wir im Leben und in der Wisienschaft über das In d i­ viduelle hinwegsehen, obgleich wir es in der Unwiederbringlichkeit der Lebenssituationen greifbar vor Augen haben, liegt am Mangel der Unter­ scheidung. D as W ort „Nichts Neues unter der Sonne" ist typischer Ausdmck des oberflächlichen Blickes. Dieser Blick haftet ganz an den bequem faßbaren und überall sich zuerst aufdrängenden Zügen des Gewohnten. B is zum Unterscheidenden dringt er nicht vor. D as Resultat dieser Überlegungen läßt sich in folgenden drei Punkten zusammenfassen: 1. Der Wettprozeß mitsamt seiner Kausaldetermination ist ein einziger, und alles, was in ihm geschieht, ist einzig. E r selbst wiederholt sich nicht, und in ihm kann sich nichts wiederholen, weder im gleichzeitigen P arallel­ laufen, noch nacheinander. 2. I m Eefamtprozeß des Weltgeschehens gleichen zwar die Teil­ ursachen einander immer wieder, desgleichen die Teilwirkungen. Aber keine Gesamtursache gleicht einer anderen vollständig, und desgleichen keine Eesamtwirkung einer anderen. Damm gleicht auch kein kausales Hervorbringen dem anderen — denn nur die Eesamtursache bringt hemor (ist causa efficiens) und keine Ablaufskurve eines Prozesses deckt sich ganz mit der eines anderen. 3. Sofern das kausale Fortwirken im Weltprozeß das Sich-Entlangwälzen einer dynamischen Substanz durch das Tontinuum der Zeit ist, ergibt sich hieraus, daß die Auflösung der Substanz in den Prozeß zugleich ihre Auflösung in die Individualität ausmacht.

29. Kapitel. Psychophysische Kausalität a. Abwandlungen des Bewirtens

Grenzen im negativen Sinne hat der Kausalnexus nicht. Die Reihe des Bewirkens und Bewirktwerdens ist unendlich. Wohl aber gibt es hier die Grenze im positiven Sinne. Sie tritt überall da auf, wo Determination höherer Ordnung einsetzt. D as gilt freilich nicht von beliebigen Formen anderweitiger Determination. Schon im Bereich des kosmischen Seins tauchen solche auf (Naturgesetzlichkeit, Wechselwirkung u. a. in.); diese begrenzen den Kausalnexus nicht, ja sie überformen ihn nicht einmal, sie ergänzen bloß die Realdetermination derselben Prozesse und Gebilde nach anderer Seite. Sie verbinden sich also einfach mit ihm, ohne sein Gesicht zu verändern. Ganz anders ist es mit den Determinationsformen höherer Ordnung. Erst wo diese auftreten und sich mit ihm verbinden, kann man von Abwandlung des Kausalnexus sprechen. Denn von ihnen, zumal wenn sie auch Reihencharakter tragen, wird der Kausalnexus „Lberformt". Und dafür gibt es nun ein weites Feld kombinierter Determination in den höheren Seinsschichten. Denn der Kausalnexus bleibt nicht auf seine Ursprungsschicht beschränkt (wie etwa die Substanz, von deren Momenten nur die Beharrung eine Abwandlung zeigt), sondern greift auch auf die höheren Schichten über und geht bis in die höchsten durch. Er gleicht darin nicht dem Raume, der mit dem Organischen abbricht, sondern der Zeit, die allem Realen gemeinsam ist. Denn ohne Zweifel ist der organische Prozeß auch kausal determiniert, nicht freilich „bloß" kausal und nicht ohne Überformung, aber eben doch „auch" kausal. Davon wird bei den organologischen Kategorien noch zu handeln sein. Aber ebensosehr gibt es auch eine psychische Kausalität, denn ein Akt löst den anderen aus, ein Borstellungsinhalt involviert oder verdrängt den anderen im Bewußtsein. Auch im Bereich des Wollens und der Handlung kennen wir Phänomene offenkundiger Kausalfolge,' wäre dem nicht so, wie könnte da die Selbstbestimmung des Willens überhaupt ein Problem sein? Sie ist ein Problem, und zwar ein abgründiges, weil der Freiheit ein uferloses Geflecht von durchaus kausal wirkenden „M o­ tiven" entgegensteht, welches sie nicht aufkommen zu lassen scheint. Und wiederum gibt es im Bereich des geschichtlichen Geschehens ein noch viel greifbareres Geflecht kausaler Determinationsfäden. Die geschichtlichen Situationen, die Röte und Konflikte int Leben eines Volkes „wirken" sich aus. S ie sind gewiß nicht das einzige Bewegende, aber sie stehen wirksam im Hintergründe, wo immer der Menschengeist schaffend die Initiative

ergreift. Und ohne sie stünde er nicht vor immer neuen Aufgaben. Denn wie er der Nöte Herr wird, darin h at er mancherlei Freiheit; aber wie sie über ihn kommen, darüber hat er zumeist keine Macht. Sie kommen eben als Kausalfolgen unbekannter Ursachen. E s handelt sich also hier um eine reichhaltige Abwandlung des Kausal­ nexus in den höheren Seinsschichten. Diese Abwandlung zu verfolgen, würde sich mit der Kategorialanalyse sämtlicher höherer Determinations­ formen decken; dabei ließe sich dann der Einschlag des Kausalnexus in ihrem Determknationsfelde mit einiger Genauigkeit ausgrenzen. Denn als untergeordnetes kategoriales Moment findet er fich überall wieder. Ein Beispiel dieser A rt haben wir am Finalnexus bereits vor Augen ge­ habt. Eine Grenze solcher Analyse ist grundsätzlich nur dort gezogen, wo w ir — wie beim Organischen — den höheren Determinationstypus nicht genügend kennen. Eine solche Untersuchung kann an dieser Stelle nicht geführt werden. S ie würde einen beträchtlichen Teil der ganzen Kategorienlehre aus­ machen. Doch gibt es ein engeres Problem, das hiermit in genauem Zu­ sammenhang steht. An ihm hängt ein wohlbekanntes Interesse der tra ­ ditionellen Metaphysik und zugleich eine höchst aktuelle Frage der heutigen Philosophie. E s ist die Frage nach dem Bestehen — und selbst nach der grundsätzlichen Möglichkeit — einer psychophysischen Kausalität.

b. Das Überbauunosverhiiltnis als Grenze und das Geulincxsche Axiom

K ann der Kausalnexus über eine solche Schichtendistanz hinweg­ greifen? Kann er aus einer Schicht in die andere hinein wirksam sein? K ann er es auch dort, wo das Verhältnis der Schichten ein Ilberbauungsverhältnis ist, wo also wesentliche Kategorien der niederen Schicht abbrechen und die Gefüge der letzteren nicht als Bausteine („M aterie") in die höheren mit eingehen? Von diesen Fragen ist die letzte die entscheidende. Denn das Grenzverhältnis seelischen und or­ ganischen Seins ist ein llberbauungsverhältnis. M it der bloßen Wiederkehr des Kausalnexus in der höheren Schicht lasten sich solche Fragen nicht beantworten. I n der höheren Schicht könnte fa ein in sich geschlostener Kausalzusammenhang herrschen, ohne daß er in den der niederen Schicht oder dieser in ihn direkt hineinspielte. Aus der Tatsache der Abwandlung ist asto hier eine Entscheidung nicht zu ent­ nehmen. I n der höheren Schicht ist der Nexus schon Lberformt, und viel­ leicht waltet er dort „nur" in der llberformtheit. Dabei ließe sich dann sehr wohl denken, daß jede Seinsschicht ihren Gesamtprozeß und ihre Ge­ samtdetermination für sich hätte, aber in keinem unmittelbaren Kausal-

Zusammenhang mit den niederen oder höheren stünde. Besonders schwer ins Gewicht fällt das in bezug auf die niedere Schicht, weil die höhere ja in jedem Falle von ihr getragen und insofern abhängig ist. Tatsächlich ist es nicht möglich, die kausale Isolierung der Schichten so weit zu treiben. E s behauptet denn auch schwerlich jemand im Ernst die kausale Unabhängigkeit des Organischen von der unbelebten N atur oder die Unabhängigkeit des geschichtlichen Geschehens von geographischen, klimatischen und ethnologischen „Ursachen". Hier liegt das Hineinspielen der schlichten Naturverhältnisse mitsamt ihrer Kausalität geradezu greif­ bar vor Augen. M an kann höchstens darum streiten, wie große Bedeutung ihnen zukommt. Wohl aber ist etwas Derartiges immer wieder für das Reich des Seelischen und des personalen Geistes behauptet worden, und zwar in bezug auf die niedere Schicht, die des Organischen. Denn hier liegt ein besonderes kategoriales Verhältnis der Schichten vor, das ihren Ab­ stand bis zur äußersten Heterogeneität zu vergrößern scheint: das vielumstrittene psychophystsche Verhältnis. I m 17. Jahrhundert spitzte sich dieses Problem unheilvoll zu, nachdem Descartes Leib und Seele in zwei substantiell heterogene Seinsbereiche, extensio und cogitatio, verwiesen hatte. Descartes selbst ließ zwar die kausale Verbindung zwischen den Seinsbereichen noch bestehen. Aber schon Eeulincx verwarf sie als unmöglich, weil ste unbegreiflich sei: man ver­ steht es, wie Dinge aufeinander wirken, desgleichen wie Vorstellungen (ideae) aufeinander wirken, nicht aber, wie Dinge auf Vorstellungen oder Vorstellungen auf Dinge wirken sollten. Über allem Zweifel steht diesem Rationalisten der Satz: „Wovon du nicht einstehst, wie es ge­ schehen kann, das geschieht auch nicht" (quod nescis quomodo fiat, id non fit). E r gab diesem Satz den großen Namen eines axioma inconcussae veritatis. Nach diesem Axiom ergibt sich: Dinge der Außenwelt bewirken keine Vorstellungen in der Seele und Vorstellungen wirken nicht auf Dinge. Auf die Zeitgenoffen hat diese ungeheuerliche Konsequenz, die das Menschenwesen mittendurch schnitt und die Teile zusammenhanglos machte, selbst wie ein Axiom gewirkt. Der menschliche Gedanke schien dagegen machtlos. Spinoza griff zum llniversalmittel aller philosophischen R a t­ losigkeit, zum Pantheism us, setzte die Substanzen zu Attributen herab und suchte das Bewirken zwischen ihnen durch P arallelität ihrer „Modi" zu ersetzen. Leibniz strich die extensive Substanz ganz, ließ nur die kogitative übrig, nahm aber auch ihr die Wirkung auf ihresgleichen, so daß selbst die „Repräsentation der W elt" in ihr nur auf prästabilierter H ar­ monie beruhen konnte. Erst die Denker des 18. Jahrhunderts find davon wieder abgewichen. M an konnte doch der Wahrnehmung und dem afttoen

Tun nicht den Boden entziehen. Denn Wahrnehmung, wenn sie wirkliche Dinge erfaßt, muß doch von ihnen her verursacht fein; und das zweck­ geleitete Tun, wenn es wirklich etwas in der Welt der Dinge ausrichtet, muß doch auf diese einwirken können. M an durchbrach damit wohl das Geulincxsche Axiom, aber man über­ wand es nicht. Darum hat der psychophysische Parallelism us noch im 19. Jahrhundert ein Nachspiel gehabt, das eigenartig skeptisch anmutete und im Grunde nichts als der Verzicht auf eine tragfähige Theorie war. Auch das sind heute vergangene Dinge, die Psychologie hat sich längst auf reellere Fragen besonnen. Aber eine ontologische Lösung des Problems steht immer noch aus. Und außerdem: man fragt sich doch: was konnte dem Axiom des Eeulincx solche Geltung in seiner Zeit verschaffen? D as rationalistische Vorurteil allein macht es ja nicht. W arum find denn die­ selben Rationalisten in anderer Hinsicht so viel mehr konziliant, versöhn­ lich, zu Inkonsequenzen geneigt gewesen? Die Antwort liegt in ihrer Auffassung des Verursachens und Bewirkens. S ie hielten den Kausalzusammenhang selbst für eine streng rationale Angelegenheit. Sie meinten: weil man durch ihn so große Dinge be­ greiflich machen konnte, wie es im Felde der neuen Naturwisienschast gelungen war, so müsse auch er selbst zum mindesten durchgehend begreif­ bar sein. Dann aber durfte man ihn dort nicht gelten lassen, wo er nicht begreiflich war. Und wo erschien er denn unbegreiflich? Die Antwort war: überall da, wo er Heterogenes miteinander verbinden sollte. D as eigentliche Vorurteil also war ein inhaltlich-ontologisches, die Kausalität könne nur zwischen ontisch Homogenem walten; Ursache und Wirkung müßten kategorial gleichartig sein. Die Konsequenz also ist in aller Buchstäblichkeit der oben gezeichnete Aspekt: es gibt den Kausalnexus nur innerhalb der einzelnen Seinsschichten, in jeder bildet er eine geschlosiene Sphäre, über die er nicht hinausgreift. Nach dieser Ansicht gibt es physische Kausalität und psychische Kausali­ tät, aber keine psychophysische. Denn über die Grenzen ihrer Seinsschicht hinaus reicht keine von beiden. c. Aufhebung des Vorurteils. Heterogeneität aller Kausalreihen

W as man für unmöglich hielt, war also die in sich heterogene Kausal­ reihe. D as Richtige daran war, daß hier in der T at etwas unbegriffen blieb. Die Grenze der Räumlichkeit — und mit ihr die der dynamischen, oder wie man es damals sah, der materiellen Substantialität — trennt das Psychische vom Physischen. M an fragte also: wie kann ein Kausalprozeß, etwa der der Wahrnehmung, im Räumlichen beginnen und im

llnräumlichen weiterlaufen? Oder auch umgekehrt, wie es im Handeln sein müßte? E s müßte ja dann die Ursache räumlich-materiell sein, die Wirkung aber unräumlich und immateriell; und ebenso umgekehrt. W as läßt sich dagegen sagen? Zunächst wohl dieses: es brauchte ja nicht so zu sein, daß physische Ursachen in ihrem Bereich ohne Wirkung blieben, wofür dann im Seelischen die Wirkung aufträte. D as wäre freilich mit der Dynamik des Bewirkens schwer zu vereinigen. Die dyna­ misch-räumlichen Ursachen können ja vielmehr unbegrenzt ihre dynamisch­ räumlichen Wirkungen haben und ebenso die unräumlichen Ursachen im seelischen Geschehen ihre unräumlichen Wirkungen. D as schließt nicht aus, daß diese wie jene auch noch eine ihnen heterogene Wirkung haben könnten, jene eine seelische neben der physischen, diese eine physische neben der seelischen. So etwas müßte man nach dem Gesetz der Beteiligung aller Realfaktoren in der jeweiligen Kollokation zur Einheit einer Gesamtwirkung eigentlich von vornherein für notwendig halten. Denn der Mensch mit seinem Seelenleben steht nun einmal mitten drin im Realzusammenhang, er gehört auch mit seiner Innensphäre zu ihm. Und vollends müßten doch innerhalb seiner als eines ontisch geschichteten Wesens physische und psychische Komponenten jederzeit in jeder inneren Kollokation miteinander verbunden sein. Gibt es also überhaupt eine so enge Verbundenheit heterogener Seinsschichten wie die des Leiblichen und Seelischen im Menschenwesen, so ist es von vornherein nicht glaubhaft, daß die beiderseitigen Prozesie und Prozeßgefüge einander nicht auch kausal beeinflusien sollten. Hier steht überhaupt nichts im Wege, als die kategoriale Heterogeneität der Schichten. Und ob diese eine Grenze des Bewirkens ausmachen kann, steht doch erst in Frage. F ü r viele Beurteiler hat hier die Furcht vor dem M aterialism us mitgespielt: man witterte eine Mechanisierung des Seelischen, einen Determinismus „von unten her", Vernichtung der Frei­ heit u. a. m. Unnötige Besorgnis! Die niederen Kategorien erschöpfen das höhere Sein niemals, auch wenn sie noch so weit in seinen Bereich hineinragen. S ie lasten ihm weiten Spielraum, gefährden keine Auto­ nomie, auch dann nicht, wenn es sich um Determinationskategorien han­ delt (vgl. Aufbau, Kap. 58,59). Sie reichen eben an die höhere Struktur gar nicht heran. Die höheren Determinationsformen des Seelischen werden vom Kausal­ nexus nicht beeinträchtigt» ja nicht einmal eingeschränkt, sondern nur unterbaut. Denn sie setzen ihn voraus. Die in Frage stehenden seelischen Prozeste, in erster Linie also die Empfindungsprozeste, werden ja auch von den physischen Ursachen nicht einfach hervorgebracht, nicht entfernt wenigstens von ihnen allein. Sie werden von ihnen nur ausgelöst. Dazu

gehört eine ganze Apparatur spezifischer Art, die das Bewußtsein mit­ bringt. Empfindung hat also ihren weitausladenden Ursachenkomplex im Seelischen selbst, und der „von Außen" kommende Reiz ist nur eine Teil­ ursache. Ohne das innere Kausalgefüge löst er nichts aus. Dafür gibt es genügend Tatsachenbelege. Die Eigenart des Bewirkens selbst braucht hierbei keineswegs eine physische zu sein. S ie kann es auch gar nicht sein, weil es ein raumlos-immaterielles Wirken ist. Demselben Vorurteil und derselben blinden Furcht vor dem M ateria­ lism us kommt auf der anderen Seite die falsche Vorstellung vom Kausal­ nexus entgegen. Weil das Kausalitätsprinzip einst vor 300 Jahren zuerst in der Mechanik sich durchrang, ist das Odium an ihm hängen geblieben, als sei es selbst etwas Mechanisches und deswegen allem höheren Sein unangemessen. M an kann auch heute noch namhafte Fachleute in diesem Sinne summarisch von „mechanischer Kausalität" sprechen hören, als wäre es ausgemacht, daß es keine andere und allgemeinere Kausalität gäbe. Dem ist leicht zu begegnen, und das Nötige dazu wurde schon oben gesagt: der Kausalnexus geht kategorial nachweislich durch alle Seinsschichten, unbeschadet der höheren Determinationsformen, von denen er in den höheren Schichten überformt wird; es gibt nicht nur eine physisch-dyna­ mische, sondern auch eine organische, psychische und geschichtliche Kausalität, und gewiß noch mancherlei speziellere Abwandlungen, die alle mit Mecha­ nism us nichts mehr zu tun haben. E s wäre wohl an der Zeit, daß die gedankenlose Rede von „mechanischer Kausalität" endlich aufhörte. Dem M aterialism us zu begegnen gibt es ganz andere, legitime M ittel. M it illegitimen setzt man sich nur ins Unrecht. — Die entscheidende Überlegung im psycho-physischen Problem ist indessen noch eine andere. Die Heterogeneität der Reihe ist nämlich weit entfernt, bloß an den Schichtendistanzen aufzutreten. Auch innerhalb der physischen Kausalreihen ist ohnehin die Wirkung der Ursache nicht durchaus homo­ gen. R ur kategorial ist sie dort von derselben Art. Aber das schließt ander­ weitige Heterogeneität nicht aus. Kausalreihen sind überhaupt — im Gegensatz etwa zu den mathematischen Reihen — in sich heterogene Reihen. M an kann aus dem bloßen Reihencharakter niemals die besondere A rt der Wirkung entnehmen; man kann sie nur auf Grund umfassender Kennt­ nis der besonderen Gesetze erschließen, und auch das stets nur in gewissen Grenzen; zur Gesetzeskenntnis aber gehört ein breiter Erfahrungsboden. D as Bewirken selbst indessen — das Hervorbringen als solches — wird dabei nicht durchschaut, sondern vorausgesetzt. Es bleibt unerkennbar (vgl. Kap. 26 e). Ist nun aber alles Bewirken mit einem Einschlag von Heterogeneität behaftet, warum sollte da die Berschiedenartigkeit von Ursache und W ir­ kung nicht auch noch einen Schritt weiter gehen können, nämlich bis über

die Grenze der kategorialen Gleichartigkeit hinaus? Durch das Wesen des Bewirken«., soweit wir es eben durchschauen, ist hier keinerlei Schranke gezogen. Und weiter: bleibt das Geheimnis des Hervorbringens doch einmal überhaupt im Dunkel, was will es da schließlich besagen, wenn wir „nicht verstehen können", wie Physisches auf Psychisches wirkt! E s ist dieselbe Unbegreiflichkeit hier wie innerhalb des Physischen und innerhalb des Psychischen. Gesteigert ist sie nur durch die kategoriale Verschiedenheit. W ir verstehen ja im Grunde den regulären physischen Kausalnexus um nichts besser. N ur das Gewöhntsein täuscht uns Begreiflichkeit vor. Aber dort nimmt niemand daran Anstoß. Und zwar mit Recht: Unbegreiflichkeit hebt das S ein des Unbegreiflichen nicht auf. Grenzen des Begreifens find keine Seinsgrenzen. W ie groß der Einschlag der Heterogeneität von Ursache und Wirkung ist, macht offenbar prinzipiell keinen Unterschied aus. Vollends wieviel oder wiewenig wir vom eigentlichen Verursachen begreifen, das ändert am Bewirken selbst, wo und wie immer es stattfindet, nichts. D as ist nun in aller Form die Aufhebung des Eeulincxschen Axioms. Wovon w ir nicht begreifen, wie es geschehen könnte, das kann deswegen doch sehr wohl geschehen. D as Axiom w ar das große Vorurteil des R atio­ nalismus. Christian Wolf, Crusius, Baumgarten, K ant — letzterer in seiner Lehre von der Affektion — hatten vollkommen Recht, es stillschwei­ gend fallen zu lassen. So weit darf der Mensch in seinem Dernunfthochmut nicht gehen, daß er nichts gelten läßt, was er nicht begreift. d. Spekulative Voraussetzungen, Hintergründe und Feblschlüsie

D as psychophysische Verhältnis braucht, wenn es schon ein kausales ist, deswegen doch kein „rein" kausales zu sein. E s können und müssen hier noch andere Determinationsformen hineinspielen; handelt es sich doch nicht um die einfache lineare, sondern schon um organisch Lberformte Kau­ salität. Die physiologischen Prozesse sind ja selbst keine bloß physischen mehr. Die Determinationsform spezifisch organischer A rt können w ir frei­ lich nicht durchschauen. Aber daß sie den Kausalnexus irgendwie überformt, läßt sich nicht wohl bezweifeln. Soviel wissen wir immerhin, daß es sich im Sinnesapparat um Eesamtwirkungen der organischen Gefüge a ls solcher handelt, sofern diese auf sehr bestimmte Reaktivität hin angelegt find. N ur so ist es möglich, daß minimale Reize sehr bedeutende und gänzlich anders geartete W ir­ kungen seelischer A rt nach sich ziehen. Hier w ar von Anbeginn ein Fehler in den Überlegungen zum psychophysischen V erhältnis: es w ar verfehlt, die Kausalität allein für alles aufkommen zu lassen; verfehlt auch, das

kategoriale V erhältnis direkt zwischen ihr und einer seelischen Determina­ tion zu suchen. Zwischengeschaltet ist eben doch die organische Form des Nexus. M an verkannte sie, weil man sie nicht kannte. D as ist begreiflich, aber es ist nicht zu rechtfertigen. S tellt man das natürliche Verhältnis im Sinne der sich überlagernden Schichten wieder her, so ist alle Furcht vor Mechanisierung des Seelischen fehl am Platze. Schon der organische Prozeß, der ja hier das eigentliche Gegenglied zum seelischen Vorgang ist, geht in „mechanischer" Kausal­ bestimmtheit nicht auf. F ür das psycho-physische Verhältnis genügt es vollkommen, daß überhaupt nur gewisse Kausalmomente vom Physischen her m it hindurchgehen: ob sie direkt oder indirekt hindurchgehen» ändert daran nichts. Darüber hinaus kann die weitgehendste Eigendetermination des Seelischen bestehen. Vielleicht hätte das alte Vorurteil gegen psycho-physische Kausalität sich niemals so festsetzen können, wenn es nicht eine mächtige Stütze am Bewußtseinsidealismus gefunden hätte. Nach dieser Theorie ist das Bewußt­ sein allein real, die übrige Welt aber nur „seine Welt", nur Erscheinung, oder gar nur Vorstellung. Nach dieser Auffassung gibt es eine selbständige Außenwelt gar nicht, von der die Reize herstammen könnten, oder auf die menschliches Tun sich erstrecken könnte. Damit wurde das ganze psycho­ physische Problem ein Scheinproblem. Vergeblich warnten die Weiseren vor solcher Spekulation. Im Lager des Idealism us ruhte man nicht, bis die eigenen schwindelerregenden Systembauten von selbst zusammen­ brachen. Diese Exzesse sind anderweitig genügend ad absurdum geführt worden, sie mögen hier auf sich beruhen. K lar sein muß man sich nur darüber, daß ein beträchtlicher Teil der Argumente gegen die psychophysische Kausalität seine Prämissen aus der Werkstatt der Systembaumeister bezog. Denn diese sahen ihre Voraussetzungen ebensogut für Axiome an, wie einst die Rationalisten den Geulincxschen Satz. Diesem kritiklosen Getue gegenüber steht ein überwältigendes M aterial von Tatsachen, die eindeutig auf psychophysische Kausalität Hinweisen. Auf der ganzen Linie des Erlebens erfahren wir die ständige Einwirkung der Außenwelt auf das Seelenleben und umgekehrt. Und zwar erleben w ir sie tellweise in größerem Realitätsgewicht als die Einwirkung von Dingen auf Dinge, Zuständen auf Zustände der Außenwelt. Denn sie ist uns in vielen Fällen in dem direkten Modus des Betroffenseins gegeben (vgl. Grundlegung, Kap. 27—34). Dahin gehört die Abhängigkeit des Seelenzustandes vom Leibzustand sowie die umgekehrte — ein unerschöpfliches Feld alltäglicher, aber auch streng wissenschaftlich-kritischer (medizinischer) Erfahrung. Dahin gehört die

Abhängigkeit der Wahrnehmung vom Dasein (genauer vom „Nahsein") der Dinge, die Abhängigkeit des Erlebens vom äußeren Geschehen, in ge­ wissen Grenzen aber auch die Abhängigkeit bestimmter Geschehnisse von unserem Wollen und Begehren. Nicht anders ist es mit der Abhängigkeit der Personen von Personen vermöge ihres eigenen Verhaltens zueinander und zur umgebenden W elt; und nicht zuletzt auch die innerpersonale Ab­ hängigkeit in der gegebenen Einheit des leibseelischen Wesens. Denn diese Einheit ist uns in einer gewissen Unabhängigkeit vom äußeren Erfahren gegeben. Wenn das alles Schein sein sollte, dann müßte der Schein erklärt werden. J a , ihn zu erklären wäre dann wohl die zentrale Aufgabe der Philosophie. Denn er geht einheitlsch durch eine unabsehbare M annig­ faltigkeit von Phänomenen gleichartig hindurch und ist in ihnen unauf­ hebbar. Ih n zu erklären aber machen jene hochfliegenden Theorien noch nicht einmal einen Ansatz. Sie schieben einfach die Beweislast dem Gegner zu, ihren Schwindelhypothesen zuliebe. Sie tun alle so, als müßten die Phänomene erst gerechtfertigt, die Tatsachen erst bewiesen werden. E s ist wohl nicht zu viel verlangt, daß man demgegenüber an der gesunden methodischen Regel festhalte: die Beweislast fällt unter allen Umständen der Theorie zu, die Phänomene bedürfen keines Beweises; Phänomene dagegen müssen erklärt werden, und zwar auch wenn fie Scheinphänomene sein sollten. „Gegen Phänomene streiten" ist Torheit der Theorie. Nun zeigen int Falle des Leib-Seele-Verhältnisses die P häno­ mene auf der ganzen Linie eindeutig die Wirkung des Heterogenen auf Heterogenes an. Also muß man an solcher Wirkung festhalten, solange nicht andere Phänomene ihr offen widerstreiten. Kommt dann aber noch hinzu, daß auch die scheinbar homogene physi­ kalische Kausalität bereits Momente der Heterogeneität enthält, so ent­ fällt jeder vernünftige Grund, die Grenzscheide der Seinsschichten zu einer Schranke des Kausalverhältniffes zu machen. e. Zeitlichkeit und Prozeh als kateooriale Bedingungen der Kausalität

I n der T at: welcher Grad von Heterogeneität würde denn eigentlich genügen, um die Kausaloerbündenheit wirklich auszuschließen? Doch offenbar nur ein solcher Grad, der die inneren kategorialen Be­ dingungen des Kausalverhältniffes selbst überschreitet. Damit freilich müßte die Verbindung sich aufheben. Welches sind also die inneren kate­ gorialen Bedingungen des Kausalverhältniffes? W ir sind ihnen Stück für Stück begegnet. E s find außer einigen Fun­ damentalkategorien, die in der Kausalreihe wiederkehren (Eontinuum, Reihe, Determination, Notwendigkeit u. a. tn.) vor allem die Realzeit und

der Prozeß; daneben auch das Realverhältnis, die Beharrung und der Zustand. Nicht aber gehört der Realraum dazu, und ebensowenig das Substratmoment der Substantialität. Eine wirklich unübersteigbare Schranke würde also dem Durchgehen der Kausalverknüpfung erst dort erwachsen, wo die aufgezählten kategorialen Bedingungen nur noch auf die Ursache, nicht aber auf die Wirkung zu­ träfen — oder auch umgekehrt nur auf die Wirkung, nicht aber auf die Ursache. Dann eben könnte jene nicht mehr Ursache, diese nicht mehr Wirkung sein. M an überlege aber nun unparteiisch, welche von diesen Bedingungen denn im Übergange vom Physischen zum Psychischen aufgehoben sein sollte. Offenbar keine einzige. Bon den Fundamentalkategorien ist das selbstverständlich. Vor allem aber trifft es auf die Zeit und den Prozeß zu: beide sind dem leiblichen und dem seelischen Sein gemeinsam. Und das­ selbe trifft für das Realverhältnis, die Beharrung (in den höheren For­ men der Erhaltung) und die Zuständlichkeit zu. W as im Reich des Seelischen wirklich abbricht, ist die Räumlichkeit. Und mit ihr bricht auch die besondere Form der räumlich-dynamischen Sub­ stanz ab, d. h. speziell deren Substratkomponente, einerlei ob man sie nach alter Schule als M aterie oder nach neuer als Energie versteht. J a , es bricht hier noch manches mehr ab, z.B . die mathematisch-quantitative Bestimmtheit und die durch sie mitbestimmte Eigenart der physischen Ge­ setzlichkeit. Aber aus der vorausgegangenen Analyse des Kausalnexus (Kap. 26—28) hat sich eindeutig ergeben, daß keines dieser hier ab­ brechenden Momente zu den kategorialen Bedingungen des Kausalnexus gehört. F ü r die Naturgesetzlichkeit wird das noch näher nachzuweisen sein (vgl. unten Kap. 33). F ür die übrigen Momente ist es bereits einsichtig geworden. Tatsächlich aber genügt es, wenn man sich hierbei an die Kate­ gorie des Raumes hält; die anderen hängen ohnehin mit ihr zu­ sammen. Eines ist hiernach, klar: wäre die Kausalabhängigkeit an die Räumlich­ keit ebenso fest gebunden wie an die Zeitlichkeit, so könnte sie sich in das Reich des Seelischen nicht yineinerstrecken. Sie würde an seiner Schwelle zugleich m it dem Raume (sowie mit der Materie und der dynamischen Substanz) zurückbleiben. Aber die Kausalität ist nicht an Räumlichkeit gebunden, sondern lediglich an die Zeitlichkeit. Sie verbindet das zeitlich Aufeinanderfolgende, gleichgültig gegen den Unterschied des Räumlichen und Raumlosen. Und eben damit wird noch ein Zweites klar: wäre das Reich des Seelischen nicht ein realzeitliches, bestünde es nicht in Vorgängen, die „Zeit brauchen", also in ihrer Weise Dauer haben, und gäbe es in ihm keine Simultanschnitte, die als innere Zustände Kollokationen bilden, so

könnte es in ihm auch keine kausale Verknüpfung geben. E s wäre ein zeit- und prozeßloses Gefüge, und in ein solches hinein können Ursachen nicht wirken. Denn das Bewirken ist selbst ein zeitlich-prozessualer Vor­ gang. Dafür wäre aber dann kein Spielfeld vorhanden. M an darf ferner nicht vergessen hinzuzufügen, daß es in diesem Falle auch keine innerpsychische Kausalität geben könnte. Es könnte dann also auch nicht Seelisches von Seelischem verursacht sein; wo keine Sukzession ist, kann auch nicht Späteres durch Früheres hervorgebracht sein. E s gäbe dann gar kein Späteres und Früheres. 2m Neukantianismus ist man wirklich so weit gegangen, dem Bewußtsein die Realzeitlichkeit abzu­ sprechen; man behielt eine abstrakte „logische Sphäre" zurück, die mit wirk­ lichem Seelenleben keine Ähnlichkeit mehr hatte. Zugrunde lag eine kategorial falsche Auffassung der Zeit, man sah sie in zu enger Verbindung mit dem Raume, kannte nur noch die Anschauungszeit, die freilich keine Realkategorie des Bewußtseins ist, und glaubte die seelische Innenw elt ebenso zeitlos wie raumlos. D as war eine Quelle unabsehbarer Irrtüm er. M an wollte die Kausa­ lität abwehren» weil man von ihr eine Mechanisierung des Bewußtseins fürchtete, und man gelangte zu einer Stillegung des Seelenlebens, die ihm die Lebendigkeit selbst nahm. M an wollte, wie so oft, zuviel beweisen, und man bewies nichts. f. Einheit des Weltzulammenhanges der Verursachung nach

Die oben gestellte Frage läßt sich nunmehr eindeutig beantworten: der Grad an Heterogeneität, der eine Schranke des Kausalnexus bedeuten würde, besteht zwischen der physischen Außensphäre (einschließlich des Leibes) und der seelischen Innensphäre jedenfalls nicht. Der Kausalnexus ist nur an die Realzeit und den Prozeß gebunden, nicht an den Raum und die raumerfüllenden Substrate. E s ist für ihn ganz gleichgültig, in was für Dimensionen quer zur Zeit die Kollokationen ursächlicher Teil­ momente sich innerhalb der Simultanschnitte des Geschehens ausbreiten. Kollokationen dieser A rt kann es in beliebig dimensionierten Spielräumen geben, wenn nur die Dimensionen selbst eindeutig auf die Einheit der Zeitdimenfion bezogen sind, d. h. wenn sie nur wie die des Raumes senkrecht auf ihr stehen (vgl. Kap. 16 c und e). Die Kausalität ist nicht eine spezifisch physische Kategorie. Sie hat nur ihr „erstes" Austreten in der Ebene der räumlich-physischen Seinsschicht. Und hier ist sie die auffälligste Kategorie, weil sie den fundamentalsten Typus linearer Realdetermination bildet. Sie ist zwar auch hier nicht die einzige Determination überhaupt, aber doch noch nicht durch bedeutend höhere Formen verdeckt und zum untergeordneten kategorialen Moment

herabgedrückt, wie in den höheren Schichten. Deswegen steht es leicht so aus, als wäre sie an diese Seinsebene gebunden. D as aber ist der Irrtu m . Kausalität wird überall mit impliziert, wo es Zeitlichkeit und Prozeßform des Seienden gibt, und zwar gleichgültig dagegen, ob sie in einen höheren Determinationstypus eingeht oder ohne alle Überformung neben ihm besteht. Und da nun Realzeit und Prozeß durch alle Schichten des Realen hin­ durchgehen, so folgt, daß auch die Kausalität durch sie alle hindurchgeht. Dann aber liegt kein Grund vor, getrennte und in sich geschlossene Kausal­ sphären der einzelnen Schichten anzunehmen, — genau so wenig wie man Grund haben könnte, getrennte Zeitsphären und Prozeßsphären anzu­ nehmen. Und das natürlich um so weniger als die Fülle der Phänomene eindeutig auf den durchgehenden Kausalzusammenhang hinweist. Wie die Einheit eines Zeitzusammenhanges und eines Prozeßzufammenhanges das Ganze der realen W elt durchzieht, so auch die Einheit eines Kausalzusammenhanges. Für diesen Kausalzusammenhang sind die Schich­ tendistanzen keine Barrikaden. E r reicht in mannigfaltigen Formen her­ über und hinüber. Ein fallender Stein löscht ein geistiges Leben aus, eine Naturkatastrophe veraschtet eine geschichtlich gewordene Kultur, oder sie gibt einer neuen den Spielraum; eine Idee im Kopfe eines Menschen gestaltet ein Land um. Die Überbauungsverhältnisie unterscheiden sich in dieser Hinsicht nur wenig von den Überformungsverhältniffen; denn stets gehen auch einige niedere Kategorien mit hindurch in die höhere S eins­ schicht, und unter diesen ist überall die Kausalität. Soweit die Zeitlichkeit reicht im Weltzusammenhange — und sie um­ faßt ihn in seiner Ganzheit—, findet auch der Kausalzusammenhang keine Grenze. E r stößt zwar immer wieder auf höhere Determinationsformen, aber er tritt nicht in Konflikt m it ihnen, ordnet sich ihnen ein, läßt sich überformen. Die dualistischen Theorien, ausgehend von einem absolut gesetzten Gegensatz der Seinsbereiche — wie in Descartes' Zweisubstanzenlehre — haben diese Sachlage von Grund aus verkannt. I h r Fehler wurzelte im gänzlichen Mangel an Kategorialanalyse, im Fehlen aller Vorstellung vom Schichtencharakter der Seinsbereiche und aller Fragestellung nach den Abhängigkeitsformen, die zwischen diesen walten. Läßt man einmal die schiefe metaphysische Voraussetzung fallen, so fällt damit auch die ganze Reihe der selbstgemachten Schwierigkeiten int psycho­ physischen Problem hin. Eine psychophysische Kausalität ist dann nichts besonders Rätselhaftes mehr. Wenigstens ist das Rätsel von derselben Größenordnung wie das des kausalen Hervorbringens überhaupt. E s ist nur ein inhaltlich komplizierteres Rätsel — und ein aufdringlicheres.

30. Kap. Die Aufweisbarkeit des Kausalzusammenhanges

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30. Kapitel. Die Aufweisbarkeit de» Kausalzusammenhanges a. Das Problem der objektiven Gültigkeit

I n den bisherigen Überlegungen ist die Frage der „objektiven Gültig­ keit" — das Humesche Problem, das durch Kants kritische Beantwortung so große Berühmtheit erlangt hat — ganz aus dem Spiele geblieben. Zu umgehen ist diese Frage nicht, denn sie gehört nicht zu denen, die sich irgendwann glatt erledigen ließen; sie taucht trotz allen „Lösungen" mit jedem neuen Stande des Problem s wieder auf und will neu behandelt fein. Sie konnte nur nicht an den Anfang genommen werden, weil sie aufs Empfindlichste davon abhängig ist, wie man überhaupt die Kausalitäts­ kategorie faßt. Die Fasiung eben ist der Ausdruck des jeweiligen Problem­ standes. Zur Fasiung aber gehörte die ganze Reihe der vorstehenden Untersuchungen, Erörterungen und Klärungen. N ur wenn man deren Resultate genau einsetzt, wird es möglich, dem Problem der „objektiven Gültigkeit" näher zu treten. Im Grunde gilt die gleiche Frage bei jeder Kategorie. S ie ist nur nicht bei jeder gleich aktuell. S ie ist uns bei der Substanz in einer mehr onto­ logischen Form begegnet; dort ging es darum, ob es denn überhaupt echte Substantialität (im absoluten Sinne) gibt. Die Antwort fiel sogar ziemlich negativ aus, trug aber nicht den Charakter einer endgültigen E nt­ scheidung. Ganz ähnlich lautet das Humesche Problem: ist der Kausalnexus wirk­ lich ein realer? R ur steht hier viel mehr auf dem Spiele. Denn ob es un­ zerstörbare Substanz gibt oder nicht, das ändert nicht viel an den Phäno­ menen der realen Welt (darum ist es auch aus ihnen schwer erkennbar); ob aber das Verursachen ein reales ist oder nicht, daran hängt die ganze Geschehensverbundenheit, in der wir mitten inne stehen. Auch sonst ist die Sachlage eine sehr verschiedene. Der Substanz hat man immer zu viel aufbürden wollen, und am liebsten hätte man alles aus ihr abgeleitet; von der Kausalität dagegen — d. h. von der eigent­ lichen im oben dargelegten Sinne — wußte man nicht viel, und erst gegen die schwersten Widerstände hat sich ihr Prinzip im menschlichen Denken durchgerungen. Darum bestehen auch in der Philosophie gegen sie ganz anders eingewurzelte Bedenken. I n der Neuzeit nahmen sie erkenntnistheoretische Form an und wurden dadurch erst greifbar. Aufs genaueste muß hier festgehalten werden, daß Kausalität durch­ aus nur eine von vielen Determinationsformen ist. Sie hat nichts mit logischer und mathematischer Determination gemein. S ie deckt sich nicht H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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mit Erkenntnisgrund und Erkenntnisfolge, auch dort nicht, wo sie als Bewußtseinskategorie wiederkehrt. S ie fällt auch nicht unter die allgemeine kategoriale Determination, obgleich sie selbst Kategorie ist; denn sie ver­ bindet nicht die Kategorie mit ihrem Eoncretum, sondern lediglich Concretum mit Eoncretum. Erst recht streng ist sie zu unterscheiden von den höheren Typen der Realdetermination, insonderheit vom Finalnexus-. M it allen diesen ist sie vielfach vermengt und verwechselt worden. Darum hat sich so viel an Fehlurteilen in die Frage nach ihrer Real­ gültigkeit eingeschlichen. R ur eines teilt sie mit ihnen: ihr wie jenen liegt das allgemein ontologische Determinationsgesetz zugrunde. Aber die ge­ meinsame Grundlage bedeutet kein Ineinanderlaufen der verschiedenen Arten des Nexus.

b. Der modale Beweisgang und seine Fehler

E s gibt mancherlei philosophische Bemühung darum, das Kausalitäts­ prinzip zu widerlegen, aber wenig Bemühung darum, es zu erweisen. Ein Zeichen, daß weit mehr seine Gegner als seine Berteidiger sich um seine „objektive Gültigkeit" Gedanken gemacht haben. Offenbar haben die An­ hänger des Prinzips es als gewiß vorausgesetzt. Sich selbst setzten sie damit freilich ins Unrecht. Unter den wenigen, die einen Beweis zu liefern suchten, ist Hobbes. E r schließt folgendermaßen. Wenn A int Zeitpunkte ti auftritt, ohne daß eine Ursache es hervorbringt, so liegt die gleiche Möglichkeit seines Auf­ tretens in jedem t vor. Denn die Zeitpunkte unterscheiden sich nicht von­ einander. Nun ist aber die Anzahl der t unendlich groß. Also müßte die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von A in unendlich klein ( = 0) sein. W as der Voraussetzung widerspricht. A muß also eine Ursache haben ')• Dieser Beweis trifft immerhin etwas vom Wesen der Sache. E r führt aber genau besehen, nur auf die Unwahrscheinlichkeit hinaus, daß alles, was geschieht, realzufällig geschähe. Womit zu wenig gesagt ist. Alexius Meinong, der hiervon ausging, suchte auf modalem Wege einen besieren Erweis zu bringen. I n freier Wiedergabe läßt sich dieses Argument folgendermaßen zusammendrängen. Wenn A und X nachein­ ander auftreten, ohne daß X von A verursacht wird, so stehen doch beide nicht beziehungslos da. X muß wenigstens von A aus möglich sein. W a s heißt nun dieses Möglichsein? Heißt es, daß X oder non-X gleich möglich find? D as kann nicht fein, denn X wird ja an seiner Zeitstelle wirklich, in seiner Wirklichkeit aber ist die Möglichkeit von non-X ausgeschlossen. E s bestand also nur die positive Möglichkeit von X. Das bedeutet aber nichts i) Hobbes, Engl. Works, ed. Molesworth, 1840, 6 . 276 f.

30. Kap. Die Aufweisbarkeit des Kausalzusammenhanges

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Geringeres, als daß X von A aus vielmehr notwendig war und real impliziert wurde. Diese Implikation ist die Kausalität»). I n diesem Beweisgange läuft es wenigstens folgerichtig auf die Not­ wendigkeit in der Verknüpfung selbst hinaus. Im übrigen ist auch er nicht einwandfrei. E s fehlt eine Rare Unterscheidung von logischen Modi und Realmodi; dadurch wird der herangezogene Möglichkeitsbegriff, aus dem ja recht eigentlich geschlossen wird, zweideutig. Zuständig ist hier natürlich kein anderer als der vollgewichtige Modus der Realmöglichkeit, sofern er inhaltlich-strukturell in der Totalität aller einschlägigen Realbedingungen besteht. Davon ist oben die Rede gewesen (Kap. 27 c, d). Außerdem beweist das Argument in der Meinongschen Fassung nicht das Kausalitätsgesetz, sondern nur das viel allgemeinere Gesetz der Realdetermination: wobei es noch offen bleibt, ob der in Frage stehende nexus realis wirklich die Form der Kausalität hat oder nicht. So läuft das Argument zur Hälfte auf eine ignoratio elenchi hinaus. Trotzdem bleibt ein reeller Kern darin. Er besteht eben in dem Modal­ beweise des allgemeineren Gesetzes der Realdetermination. Und im An­ schluß an die oben gegebene Modalanalyse des Kausalnexus läßt er sich sehr einfach aussprechen: ein vollständiger Komplex von Realbedingungen in einer jeweiligen Kollokation von Faktoren ist stets Grundlage der Real­ möglichkeit und zugleich der Realnotwendigkeit dessen, was aus ihm her­ vorgeht. Oder auch so: dasjenige, dessen sämtliche Bedingungen real bei­ sammen sind, ist nicht nur real möglich, sondern auch real notwendig. D ar­ in besteht das Realgesetz der Notwendigkeit, das inhaltlich mit dem Satz vom zureichenden Realgrunde zusammenfällt (Das Genauere darüber in „M .U .W .", Kap. 19—21). Wenn man diese Überlegung der Modalanalyse als „SBeroeis" gelten lassen will — in W ahrheit ist sie nur ein kategorialer Ausweis eines Jntermodalverhältnisses, und zwar auf Grund eben derjenigen Real­ verhältnisse, um deren Kausalnotwendigkeit es sich handelt, — so beweist sie, wie gesagt, nur das Gesetz der Realdetermination überhaupt. Die be­ sondere Form der Kausalität folgt daraus noch keineswegs (die Reihen­ struktur, die irreversible Rechtläufigkeit in der Zeit, die Entsprechung von Teilursachen und Teilwirkungen usw.). Die Kausalstruktur als solche kann man nur der genaueren Analyse der Prozeßphänomene entnehmen. D. h. man kann sie analytisch im Erfahrungsmaterial „aufweisen", aber nicht aus allgemeineren Gründen beweisen. Es gibt also durchaus keinen eigentlichen Beweis des Kausalitätsgesetzes. *) A. Meinong, Zum Erweise des allgemeinen Kausalgesetzes. Wien 1918, 6.42—66. Die Kompliziertheit des Gedankenganges und der Terminologie ist hier weggelassen. Dgl. hierzu, wie »um folgenden, auch des Derf. Aussatz „Dir Stdfle der Beweisbarkeit des Kausalgesetzes", Kantstudien XXIV, 1920,6.261 f., sowie M . u. SB., Kav. 25 und 26.

c. Hume und Kant. „Gewöhnung" und „Analogie der Erfahrung" Versetzt man sich genauer in diese Problemsituation, so findet man, daß die Forderung eines .Jeweises" hier gar nicht am Platze ist, ja be­ reits auf einem Mißverständnis beruht. Kategorien sind selbst erste Vor­ aussetzungen und können darum nicht abgeleitet werden. Ih re objektive Geltung, d. h. ihr Bestehen als Prinzipien der Realsphäre, kann also nie­ mals aus apriorischen Gründen eingesehen werden. Auf sie kann nur rück­ geschloffen werden,' und zwar nur vom abhängigen Tonretum aus; für dieses letztere aber können wir uns nur an die Phänomene im Felde der Erfahrung halten. Daneben allerdings — aber stets nur auf Grund vorausgegangener Rückschlüffe — bildet auch die innere Verbundenheit der Kategorien untereinander, ihre gegenseitige Implikation, einen Zugang. Und dem entsprechen die verschiedenen, stets ineinandergreifenden Methoden der Kategorialanalyse. Aber gewiffe Reste hypothetischen Einschlages bleiben an allem unserem Wiffen um Kategorien haften — nicht anders als sie ja auch auf allen Gebieten der Spezialwiffenschaft am Wiffen um die all­ gemeinen Voraussetzungen, Axiome oder Grundsätze haften bleiben (vgl. hierzu Aufbau, Kap. 63 und 64). K ant hat in seiner Behandlung der zweiten „Analogie der Erfahrung" dieses Verhältnis sehr genau zum Ausdruck gebracht. E r beruft sich gegen Hume nicht auf apriorische Gründe, sondern auf einen fundamentalen Unterschied, den w ir jederzeit in der Erfahrung machen. Dieser ist fixiert durch seine beiden Beispiele vom „Hause", deffen Fassade wir mit dem Auge stückweise verfolgen, und dem „Schiff", das den Strom hinabführt, llnaufhebbar besteht hier der Gegensatz zwischen beliebig gewähltem Nach­ einander und der objektiv irreversiblen Folge der Wahrnehmungen in der Zeit. Dieser Gegensatz ist nicht zu begreifen, wenn es nicht eine lineare, mit den Zeitstadien fortschreitende Determination gibt. Ohne hypothetischen Einschlag ist natürlich auch dieser Eedankengang nicht. Im übrigen hat Kant ihn nicht einmal voll ausgewertet. I n der Polemik gegen Hume lag der springende Punkt im Begriff der Ge­ wöhnung. Auf Gewöhnung sollte die Festigkeit der Assoziation beruhen, und auf dieser die subjektive Gewißheit der Erwartung. Letztere sollte nach Hume an die Stelle der Kategorie treten. Aber zu fragen wäre hier doch gewesen: wie ist denn eine so feste Gewöhnung selbst möglich?

30. Kap. Die Ausweisbarkeit des Kausalzusammenhanges

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Zu antworten wäre dann nämlich: fie ist nur möglich, wenn die Ver­ knüpfung der beiden Phänomene in der Erfahrung selbst eine ausnahms­ lose ist. Line einzige Ausnahme nämlich würde genügen, die Gewöhnung aufzuheben. Und sie würde damit zugleich die Festigkeit der Assoziation und den Schein der Gesetzlichkeit aufheben. Gerade die Gewöhnung selbst ist also nur möglich unter der Bedingung, daß ein realer Kausalnexus die Gleichartigkeit des Geschehens gewährleistet, oder in K ants Ausdrücken: unter der Bedingung, daß eine wirklich gesetzhafte „Analogie der E r­ fahrung" besteht. Denn nur in dem Falle bleibt die Erfahrung, die wir wahrnehmend machen, sich selbst streng analog, wenn die Aufeinander­ folge auf einem in den Geschehnissen selbst (nach K ant in den „Erschei­ nungen") durchgehenden Kausalnexus beruht. Diese Schluhfolgerung trägt die schlichte Form eines vom Eoncretum ausgehenden Rückschlusses auf die Kategorie. Und im Sinne K ants würde sie genau in die transzen­ dentale Schlußweise seiner „Deduktion" hineinpassen. Einwenden kann man allenfalls, daß die Voraussetzung solcher Ge­ wöhnung nicht strenge Gesetzlichkeit — d. h. solche mit strenger Allgemein­ heit und Notwendigkeit — zu sein brauchte, daß hier auch bloße Regel­ hastigkeit genügen würde. Die „Ausnahmen" müßten nur so dünn gesät sein, daß nicht so leicht eine dem Bewußtsein auffallen könnte. Aber der Einwand ist doch schwach, wenn man bedenkt, daß sich die Breite mensch­ licher Erfahrung auf die Gesamtheit der Subjekte und auf das noch weitere Feld der Wissenschaft mit ihrer geschichtlichen Kontinuität erstreckt. Hier wird die Ansammlung und Mannigfaltigkeit der Fälle eben doch uferlos. Dazu kommt dann noch die schlagende Erfahrung der Wissenschaft, daß überall, wo man einstweilen keine Ursache finden konnte, fie si h bei wei­ terem Eindringen doch aufzeigen ließ. Das experimentelle Vorgehen, in­ dem es den F all variiert, arbeitet ja direkt mit diesem Erfahrungs­ resultat wie mit einem Prinzip, und seine Erfolge geben ihm recht. Einen noch höheren Grad hypothetischer Gewißheit verlangen, hieße die exakte Wissenschaft überbieten wollen. W as der Philosophie schon in keinem Falle zukommt. W as Hume in seiner Kritik der Kausalität wirklich zutreffend sah, war etwas ganz anderes, als was ihm auszusprechen gelang. E s w ar dieses, daß wir es einer Ursache niemals direkt ansehen können, daß sie Ursache ist, und einer Wirkung nicht, daß sie Wirkung ist. Beides ist der unmittelbaren Erfahrung nicht gegeben. W ir können das ganze Ver­ hältnis in der T at nur vorwegnehmen, müssen es asso hinzufügen. Ebensowenig können wir es einer Ursache allein ansehen, welche Wirkung sie hervorbringen wird, und umgekehrt. Das alles können w ir nur auf Grund von „Analogie der Erfahrung"; und das heißt nicht einfach nach

Analogie erfahrener Fälle. Denn die Fälle selbst geben die Analogie nicht her, darum bleibt diese eine Vorwegnähme. D arin besteht der Ein­ schlag des Apriorischen in der Erkenntnis von Kausalzusammenhängen. D as alles bedeutet nun aber etwas ganz Ähnliches wie die Irra tio ­ nalität des Hervorbringens (K ap. 26e). D as Bewegen und Bewegt­ werden, das eigentliche Wirken von Kräften (und Kräfte bestehen wesentlich im Wirken) durchschauen wir nicht. Davon haben w ir nach K ant „a priori nicht den mindesten Begriff". Kausalität als Erkenntnis­ kategorie ist eben nur ein Schema möglichen Durchfchauens, nicht das Durchschauen selbst. D as Determinieren selbst bleibt unerkennbar. Aber diese Irra tio n a litä t macht das Wirken a ls solches nicht illusorisch. Sie ist ja auch nicht größer als der Einschlag des Unerkennbaren im Gon« tinuum, in der Realzeit, in der Substantialität und vielen anderen Kate­ gorien.

d. Die sogenannte „Zufälligkeit" der mikromechanischen Prozesse Ein besonderes Problem bildet noch die Einschränkung, die das Kausalitätsprinzip in der neuesten Physik erfahren hat. E s handelt sich dabei um die Deutung der kleinsten Teilprozesse, d. h. nicht nur um die Bewegung der Atome in einem Gase, sondern auch um die der Elektronen und Atomkerne, die im einzelnen« nicht erfaßbar, sondern nur dem gene­ rellen Kalkül zugänglich sind, in ihrer Gesamtheit aber die beobachtbaren Erscheinungen hervorbringen. Die moderne Thermodynamik, Elektrodynamik, Optik, Atomdynamik und andere Forschungszweige, die ganze quantenmechanische Umbildung der klassischen Physik, haben hier eine einschneidende W andlung der Auffassung gebracht, die den klassischen Kausalitätsbegriff ernstlich zu bedrohen scheint. Denn diese Auffassung scheint zu besagen, daß die Mikromechanik der kleinsten Aufbauelemente keiner kausalen Determination unterliegt. Die Theorie bestreitet nicht, daß die beobachtbaren „molaren" Vorgänge der Kausalität unterliegen; wohl aber bestreitet sie, daß auch die ihnen zu­ grunde liegenden „atomaren" Vorgänge ihr unterliegen müßten. Faßbar jedenfalls werden diese nur auf dem Umwege über die statistische Über­ legung. Und diese setzt gerade die Regellosigkeit der Einzelbewegungen voraus. I n diesem Sinne find schon die Bewegungen der Atome in einem ein­ fachen Gase „regellos"; alle Richtungen, vielerlei Geschwindigkeiten, mannigfache Formen des Zusammenstoßes und ebenso mannigfache Län­ gen der freien Flugbahn sind vertreten. Ebenso ist es mit den freien Elek-

fronen und den Atomkurven in einem ionisierten Gase. Die einzelne Bewegung bleibt ungreifbar, nur im Durchschnitt ergibt sich wieder Gesetz­ lichkeit, oder doch die Annäherung an eine solche. Alle Überlegungen wer­ den zu statistischen, und die Gesetze, zu denen man gelangt, fragen selbst „statistischen" Charakter. M an hat daraus den Schluß gezogen, daß die einzelnen Bewegungen überhaupt undeterminiert find, „zufällig" oder gar „frei" sind. Die Kausalität scheint hier aufgehoben zu sein. Noch einen Schritt weiter geht die Überlegung, daß die Messung selbst schon durch bestimmte Voraussetzungen, die sie machen muß, die atomare Sachlage in einem gegebenen Zeitpunkte beeinträchtigt, da z. B. ein Elek­ tron nicht mehr den Charakter einer Korpuskel hat und keinen angebbaren O rt einnimmt. Die Wellenmechanik trägt dem Rechnung, aber unter P reis­ gabe eindeutiger Determination. W as aber tritt an deren Stelle? Die einfach periodische Materiewelle, die einet bestimmten Geschwindigkeit des Elektrons entspricht, hat doch selbst wiederum ihre Bestimmtheit. Und die makrophyfischen Phänomene, die darauf beruhen, haben sogar eine sehr greifbare Bestimmtheit, die zu den kausal fundierten Phänomenen der klassischen Physik in offenkundigem Näherungsverhältnis steht. Die Probleme, die in solchen Überlegungen enthalten sind, lassen sich seitens der Kategorialanalyse nicht ignorieren. Sie betreffen ebensogut wie das Humesche Problem die objektive Gültigkeit des Kausalitätsprinzips. D as kommt in den Gedankengängen der heutigen theoretischen Physik auch stark zum Ausdruck. Denn die mikromechanischen Prozesse stehen ja offen­ bar in genauestem Zusammenhange mit den makromechanischen. Sie bilden ihre Grundlage. M an kann also die Kausalität nicht gut aus den einen ausschalten, in den anderen aber beibehalten. Ist sie in jenen nicht enthalten, sind jene wirklich im ontischen Sinne „zufällig" (real ursachlos), so kann sie auch in diesen nicht die maßgebende Determination fein, son­ dern finkt zu einem sekundären Epiphänomen herab. Dann aber bleibt es unverständlich, wie die auf der Voraussetzung des Kausalzusammenhanges beruhende klassische Physik in ihren Grenzen doch haltbare Resultate er­ geben konnte — was ja ausdrücklich im Aquivalenzprinzip an­ erkannt ist. D as allein würde schon genügen» den unbefangenen Beurteiler darauf zu bringen, daß es doch wohl nicht die Kausalität selbst ist, die hier in Frage gestellt wird. Nicht wenigstens, wenn man sie rein als solche, a ls das reine Verursachen und Bewirken, oder auch als den inneren Modus der Weiter­ gabe der Energie in den Naturprozessen versteht, nicht asso als bloße Ge­ setzlichkeit, geschweige denn als gebunden an die besonderen Gesetze der klassischen Physik. Der Unterschied mikrophyfischer und makrophysischer

Prozesse ist ja im Grunde nur ein solcher der Größenordnung,' aber gerade die Größenordnungen lassen sich nicht scharf gegeneinander abgrenzen. Molekulare und molare Prozesse gehen ohne scheidende Schranke inein­ ander über. Bewährt sich also die Kausalstruktur in den Gesamtprozessen, wie kann man sie da den Teilprozessen absprechen? Und was die Ungenauigkeitsrelation der Messungen anlangt, so ist es in der Physik eine allbekannte Tatsache, daß alles Messen Störungen verursacht. Aber hat es nicht immer dagegen das M ittel gegeben, die un­ vermeidlichen Störungen ihrerseits einzukalkulieren und der Statistik der Vorgänge eine Statistik der Fehler entgegenzusetzen? Und selbst wenn das bei der Eroblichkeit menschlicher M ittel unübersteigbare Grenzen findet, ist es denn zulässig, daraus eine Konsequenz im Sinne der Zufälligkeit der gemessenen Prozesse zu ziehen?

e. Kategoriale Diskussion der Sachlage. Das Gesetz der groben Zahl

W as ist also der Wahrheitskern in der vermuteten „Zufälligkeit" der mikromechanischen Prozesse? Ein wirkliches Fehlen aller Kausalität kann es nicht gut sein. E s wäre also zu erwarten, daß es nur das Aussetzen einer bestimmten Sonderform von Kausalzusammenhängen ist: derjenigen, die w ir von der klassischen Mechanik her gewohnt find und deren Begriff wir unwillkürlich mit den besonderen Gesetzen dieser Mechanik ineins denken. Dann wäre es in Wirklichkeit nicht das Verursachen selbst, das damit auf­ gehoben wird, sondern eben nur die besonderen Gesetze dieser Mechanik. Denn diese beruhen freilich auf ihm, schließen aber doch nicht aus, daß noch anders auf ihm beruhen könnte. Und dasselbe müßte dann auch von den übrigen Gesetzen der klassischen Physik gelten, die ja alle nach dem Vorbilde der Newtonschen Mechanik geprägt find. 1. Daß diese Gesetze nicht identisch mit Kausalität sind, sollte eigentlich ohne weiteres evident sein. Doch ist dafür noch eine besondere Erörterung nötig, die an ihrer Stelle bei der Kategorie des Naturgesetzes anzustellen sein wird. Von seiten der Physik ist die Unterscheidung von Kausalität und Naturgesetz nicht immer mit der nötigen Schärfe festgehalten worden. D as ist einer der Gründe, warum man die Kausalität dort fallen lassen zu müssen gemeint hat, wo die Gesetzlichkeit der klassischen Physik versagt. Tatsächlich läßt sich hier nur ein fester Zusammenhang aufweisen: die Gesetze der klassischen Physik setzen die Kausalität voraus und verlieren ohne sie den Boden unter den Füßen; die Kausalität ihrerseits aber setzt

diese Gesetze nicht voraus, sie kann an sich auch ohne sie bestehen. Die Fassung des Kausalitätsprinzips in den vorausgegangenen Erörterungen entspricht dieser ihrer Unabhängigkeit von einem bestimmten Typus der Naturgesetzlichkeit. Dann aber liegt kein Grund vor, das Prinzip dort, wo die klassischen Gesetze eine Grenze finden, preiszugeben. 2. W as im Gebiet der atomaren Prozesie versagt, ist zunächst nur die Faßbarkeit der Gesetze. Diese Faßbarkeit ist die exakte, mathematisch­ kausale. W as also fehlt hier der Kausalerkenntnis? M an kann antworten: das Wissen um die causa efficiens. Das bedeutet, daß die Kollokationen der Realfaktoren, welche die Teilursachen bilden müßten, nicht faßbar find; mit ihnen also auch die Eesamtursachen. W as aber folgt aus der llnfaßbarkeit? Doch nicht, daß es hier gar keine Ursachen gäbe! W as nicht mit bestimmten Erkenntnismitteln greifbar ist, braucht doch deswegen im Realzusammenhange nicht zu fehlen. Es gibt ja so vieles Reale, das wir nicht begreifen. Wollten wir keine Ursachen gelten lassen, die wir nicht erkennen können, es wäre der Rückschritt zum Geulincxschen Axiom, Rück­ fall in den alten Rationalismus. Run ist es wohlbekannt, daß wir Ur­ sachen nur dort erkennen, wo wir 1. bestimmte Anhaltspunkte des Ge­ gebenen dafür haben (die Kollokationen kennen) und 2. die besondere Gesetzlichkeit kennen, nach der die Prozesse verlaufen. Beides trifft bei den mikromechanischen Vorgängen nicht zu. E s ist kein Wunder, daß wir hier die Ursachen nicht fassen. Aber daraus folgt nicht, daß die Ursachen nicht vorhanden wären. L s folgt noch nicht einmal, daß sie überhaupt uner­ kennbar sein müßten. D as Eindringen in die atomaren Verhältnisse hat sich in gewissen Grenzen schon als möglich erwiesen. E s könnten sich eines Tages neue Angriffsflächen der Analyse zeigen und vielleicht gar neue Gesetze aufdecken lassen. Damit könnten dann auch ursächliche Zusammen­ hänge sichtbar werden. W as die Unfaßbarkeit der Gesamtursachen betrifft, so kann man sich die Sachlage auch so denken: da in allem komplexen Bewirken die Be­ rechenbarkeit der Wirkung an der Isolierbarkeit geschlossener Systeme hängt (vgl. Kap. 28 a), so kommt alles darauf an, ob solche Systeme sich der Betrachtung darbieten oder wenigstens in gewissen Grenzen heraus­ hebbar find. Nun aber bilden die physikalischen Objekte atomarer Größen­ ordnung offenbar keine geschlossenen Systeme mehr, lassen sich auch in den Grenzen des Beobachtbaren nicht mit der nötigen Exaktheit zu solchen zu­ sammenfassen. Die Folge ist, daß die Gesamtursachen des Einzelvorgangs ungreifbar werden. Da aber nur Gesamtursachen effizienten Charakter haben, werden eben damit auch die Wirkungen unberechenbar. Aber daraus folgt nicht, daß die Einzelvorgänge keine „Wirkungen" wären, auch nicht daß keine Gesamtursachen vorhanden wären. Wohl aber folgt, daß alle

Überlegungen, die Zusammenhänge atomarer Borgänge betreffend, bloß statistischen Tharakter haben können. 3. Ein deutlicher Hinweis auf diese Sachlage besteht in der sogenannten statistischen Gesetzlichkeit, welche die klassischen Gesetze auf diesen Gebieten abgelöst hat. Diese Gesetzlichkeit ist weit entfernt, eine ungenaue zu sein; sie ist nur eine solche, zu der w ir den Umweg über gewisse Näherungsstadien einschlagen müssen. Überhaupt ist der Ausdruck „statistisch" irre­ führend; er betrifft die Art der Überlegung, des Ansatzes, der Rechnung, nicht den Gehalt des Gesetzes selbst, auf dessen Fassung wir hinsteuern. Nicht das Gesetz ist statistisch, sondern der Zugang zu ihm. Freilich, so wie wir es fassen, sagt es über die wirkliche Bewegung des einzelnen Atoms oder Elektrons nichts aus, sondern nur etwas über die Bewegung aller im Durchschnitt. Aber die Aussage ist durchaus exakt. Sie unterliegt dem Gesetz der großen Zahl, welches besagt, daß der Durchschnitt um so genauer erfaßt wird, je größer die Anzahl der Fälle ist, von denen wir ausgehen. 4. W as bedeutet nun das? Kann denn im Durchschnitt eine Gesetz­ lichkeit bestehen, die mit der Zahl der Fälle auf einen bestimmten W ert zu konvergiert — wobei sich auch noch die Streuung und der durchschnitt­ liche Fehler berechnen lassen —, ohne daß in den Realfällen selbst eine Determination bestünde? Wie kann ein Häufigkeitsmaximum dann auch nur eine bestimmte Lage in der statistischen Kurve einnehmen? Ohne jede Ordnung in den Kollokationen wäre das ja gerade nicht möglich; mit ihr aber doch auch nur, wenn die Kollokationen Eesamtursachen sind. Sieht man näher zu, wie der Physiker seine Gleichungen ansetzt, so findet man auch in seinen Überlegungen stets das Rechnen mit der bestimmten Eesamtlage und ihrer Variabilität. Diese aber ist gerade die Kollokation der Ursachenmomente. Und stillschweigend nimmt er sie auch als eine solche. W as diese A rt Überlegung nicht faßt, ist eben bloß der Einzelfall. 5. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung betrifft keineswegs bloß die „Größe der subjektiven Erwartung". Sie ist gerade die Erhebung des Erwartungsmaßes ins Objektive; sie stellt es auf eine im realen Geschehen selbst bestehende Basis. Wäre diese Basis direkt zu erfassen, so würde die Erwartung in exakte Boraussage übergehen. Da sie nur genähert faßbar ist, bleibt die Voraussage am Durchschnitt hängen. D as ändert aber nichts daran, daß eine Basis realer Determiniertheit in den Teilprozessen selbst vorhanden sein muß. Denn daß sich der Teilprozeß wenigstens im Durchschnitt berechnen läßt, beweist schon seine kausale und mathematische Bestimmtheit.

30. Kav. Die Aufweisbarkeit des Kausalzusammenhanges

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6. Und was heißt es eigentlich, daß die atomaren Bewegungen „zu­ fällig" sind? M an erinnere sich hier des früher erörterten Berhältnisies von Notwendigkeit und Zufälligkeit (Kap. 28 d ) : was wir in Unkenntnis der Ursachen „zufällig" nennen, ist gerade das kausal Notwendige. Zu­ fällig ist es ja auch bloß relativ auf unsere Erwartung. Za, dieses, daß es uns unerwartet „zufällt", ist selbst die contingentia, deren S inn ja darin besteht, daß „es nun einmal so herauskommt". W arum es aber so herauskommt, ist darin nicht beantwortet. E s ist auch ohne Ursachen­ kenntnis nicht beantwortbar. I n dieser Lage befinden wir uns den atomaren Prozessen gegenüber: wir sind da vor sehr bestimmte, auf strenge Gesetze zu konvergierende Resultate gestellt, deren Ursachen wir nicht im einzelnen «fassen. Die „Zufälligkeit" dieser Prozesie ist also kein Argument gegen ihre kausale Bestimmtheit. 7. Darauf beruht es, daß wir mit einem gewissen Recht von „Gesetzen des Zufalls" sprechen können. Handelte es sich um den Realzufall, d. h. um das wirklich Undeterminierte, so wären Gesetze des Zufalls ein Widerspruch in sich selbst. Handelt es sich dagegen bloß um die auf Kausalfaktoren beruhende contingentia, so liegt hier keinerlei Wider­ spruch vor. Der Borgang als solcher kann dann nicht anders ausfallen, als er tatsächlich ausfällt; nur voraussehen läßt sich sein Ablauf nicht. Kausalität besteht eben nicht in der Boraussehbarkeit, wie immer wieder fälschlich angenommen wird, sondern in der ontischen Bedingtheit durch die Kollokation — einerlei ob diese erfaßbar ist oder nicht. 8. Da nach dem Gesetz der großen Zahl das Durchschnittsresultat auf bestimmte Größen zu konvergiert, so läßt sich sagen: gerade die statistischen Gesetze sind ein Beweis dafür, daß in der scheinbar „regellosen" M annig­ faltigkeit der Einzelfälle doch strenge Kausalabhängigkeit herrscht, und zwar unabhängig vom Grade ihrer Erkennbarkeit. Ganz unerkennbar sind die Einzelfälle ja auch nicht; sonst ließen sie sich nicht diskutieren. S ie find nur nicht voll erkennbar. W äre dem nicht so, so hätten w ir auch kein Recht, auf den höheren Stufen Kausalität gelten zu lassen. Denn hier herrscht überall dieselbe Ungreifbarkeit der vollen Ursachenkomplexe und dieselbe Unsicherheit der Erwartung. M an denke an die llnberechenbarkeit der Ereignisse im all­ täglichen Leben, in der laufenden Weltgeschichte, im menschlichen Vor­ sehen und Vorbestimmen überhaupt. Von vollem Durchschauen der Kollokationen ist hier nirgends die Rede, wir halten uns an vage empirische Analogien. Aber das ist nicht ein Grund, die kausale Deter­ miniertheit zu bezweifeln, sondern gerade einer, sie durchgehend anzu­ erkennen.

31. Kapitel. Kausalität a ls Bewutztseinskategorie a. Das geschichtliche Durchdringen der Kausalitäts­ vorstellung

Bon der Kausalität als Bewutztseinskategorie macht man sich eine ganz falsche Vorstellung, wenn man vom heutigen wissenschaftlichen Bewutztsein ausgeht, wie es sich in den letzten 300 Jah ren herausgebildet hat. 2m Bewußtsein früherer Zeiten spielt fie, verglichen damit, eine untergeordnete Rolle, wennschon ihre Spuren sich weit zurückverfolgen lassen. Und teils ist ste jahrhundertelang von anderen DeterminationsVorstellungen ganz verdrängt gewesen. Bon der Kausalität gilt das Umgekehrte wie von der Substanz. Sie ist im erkennenden Bewutztsein nicht eine fich vordrängende (hybride) Kategorie, sondern die längste Zeit eine verdrängte und selbst bei ihrem Durchdringen ins Bewutztsein noch lange um die ihr zukommende S tel­ lung ringende Kategorie. 2n ihrem Durchdringen aber revolutioniert sie das Weltbewutztsein des Menschen von Grund aus. Und eben dadurch erfährt fie die harte Opposition des rückständigen Bewutztseins, das. in seinen traditionellen Formen festhängt. Dieser Prozetz des Durchdringens der Kausalität ins Bewutztsein hat seine lange und komplizierte Geschichte. Er stellt in der T at eine der größten geistesgeschichtlichen Revolutionen dar, die es gegeben hat. E r ist auch in den letzten drei Jahrhunderten nicht beschlosien. E r begann in der Antike, brach wieder ab, wurde von anderen Tendenzen über­ wuchert, um erst mit der erwachenden exakten Wissenschaft neu einzusetzen, ist aber wohl auch heute noch nicht abgeschlossen. Seine Verbundenheit mit dem Aufkommen der mathematischen Naturwissenschaft ist allein schon ein Schicksal eigener A rt: der gewaltige Auftrieb, den das kausale Denken von hier aus gewann, der große Siegeszug, den es dann antrat, hat auch seine Nachteile gehabt. Unwillkürlich verband sich die neue Kausal­ vorstellung mit dem Denkschema der mathematischen Gesetzlichkeit, ja geradezu der Mechanik, so daß man später „Mechanismus" und kausale Weltauffassung nicht mehr zu trennen wußte. M an langte bei einer ver­ engerten „mechanischen Kausalität" an, oder in der etwas freieren aber auch noch viel zu engen Fassung Kants, bei einer „Kausalität nach N atur­ gesetzen". Und mit dieser konnte auf die Dauer nicht einmal die N atur­ wissenschaft selbst zurechtkommen, wie das zuletzt besprochene Problem ­ gebiet der mikromechanischen Prozesse zur Genüge gezeigt hat. Das, wogegen sich die Kausalität als Erkenntniskategorie so schwer durchringen mutzte, ist nicht etwa die Vorstellung von allgemeiner Un-

determiniertheit und „Zufälligkeit", sondern die der Finaldetermination» das teleologische Denken. Teleologie — nach Analogie des menschlichen Tuns — ist eine bequeme Form der Weltdeutung. Sie löst mit einem Schlage die schwie­ rigsten Rätsel, gibt den verworrenen Erscheinungen ein erstaunlich ein­ faches und geordnetes Gepräge und befriedigt überdies weitgeherü» die spekulativen Bedürfnisse eines noch unentwickelten Denkens. Erst spät kommt der Mensch dahinter, datz er damit ein Falschspiel treibt, daß er sich von gewissen Analogien seines eigenen tätigen Verhaltens hat täuschen lassen, und datz die wirkliche W elt autzerhalb seiner Gedanken ganz anders geordnet ist. Und wenn er dahinter gekommen ist, so ist doch der Anthropomorphismus des teleologischen Denkens in ihm damit noch lange nicht überwunden. E r steckt verkappt in den Begriffen seiner Sprache, in den eingefahrenen Geleisen der Vorstellung und reitzt ihn von dort her immer wieder in die altgewohnte Anschauungsweise hinein. D as ist der Hauptgrund, warum die Kausalität, ungeachtet früher Anfänge, sich erst so spät und langsam im Bewutztsein durchsetzt. S ie hat, w as man wohl von keiner anderen Kategorie im gleichen Matze sagen kann, fich gegen tausend Widerstände durchzuarbeiten. Das ist in mancher Hinsichst ein Nachteil und eine Gefahr. Es find nicht nur Rückfälle, die sie bedrohen — im Denken der Philosophie genau so wie im Denken des Alltags —, sondern auch deren Gegenteil, die Überspannung des kausalen Denkens selbst, die ganz natürlich aus dem kämpferischen P athos seiner Vertreter hervorgeht. M an glaubt dann im Hochgefühl der neuen kategorialen Errungenschaft, mit der Kausalität alles meistern zu können, auch die Phänomene der höheren Seinsschichten, und verkennt dabei deren eigene höhere Determinationsformen. I n der Geschichte der Philosophie ist der Prozetz des Hinundherpendelns zwischen solchen Extremen leicht verfolgbar und in manchen Einzel­ heiten auch wohlbekannt. Ob er sich in unseren Tagen schon endgültig ausgependelt hat, ist nicht leicht zu entscheiden. Jedenfalls aber gibt es Problemgebiete, auf denen auch heute der S treit noch nicht ruht (vgl. Aufbau, Einleitung, 16 und 17). b. Die Kausalanschauung im Erleben, Vorsehen und Tun

„Die Menschen haben sich ein Id o l des. Schicksals gebildet zur Be­ schönigung ihrer eigenen Ratlosigkeit." M it diesen W orten hat einst Demokrit, der erste In itiato r bewutzt kausalen Denkens, den eingewur­ zelten Hang zur teleologischen Anschauungsweise gekennzeichnet. Rechen­ schaft über Ursachen („Aitiologia") ist schwer, Kausalstruktur ist hoch­ komplex; der Mensch, vor sie gestellt, sucht Ausflüchte, und er findet sie

in den Populärvorstellungen: „Zufall, Glück, Schicksal, Fügung". Und dabei beruhigt sich die ignava ratio. Dennoch ist es nicht wahr, daß es nicht auch eine Kausalanschauung, gäbe. E s gibt fie sehr wohl; sie ist nur im Alltag beschränkt, bleibt bei Halbheiten stehen, bei zufällig faßbar werdenden Teilursachen, und über­ läßt dem eindringenden Begreifen das weitere. Das Begreifen aber ist schwerfällig, es kann dem Tempo des Erlebens nicht folgen; und selbst in der Wissenschaft kommt es ja nur auf Gebieten einfacher Sachlage'zu klaren Resultaten. D as nachträgliche Eindringen des kausalen „Denkens" pflegt daher im Leben auszubleiben. Aber darüber darf man nicht vergesien, daß im Erleben selbst, soweit es sukzessive Zusammenhänge erfaßt, sich sehr wohl ein Faktor echter Kausalanschauung geltend macht: eine Schau, die tatsächlich gewisse Abhängigkeiten in der Zeitfolge erfaßt. Diesen Faktor hatte Hume im Sinne, als er von der assoziativ­ zwangsläufigen Erwartung der Wirkung sprach. E r ist indessen nicht nur im erlebenden Auffassen enthalten, sondern ebenso in aller menschlichen Aktivität und allem prakttschen Verhalten. Indem wir vorausschauend in die Zukunft hineinleben, antizipieren wir anschaulich-bildhaft künf­ tige Wirkungen gegenwärtiger Ursachen; und indem wir für unsere Zwecke M ittel suchen, wählen w ir diese im Hinblick auf die bestimmte, von ihnen erwartete Wirkung hin aus, behandeln fie also intuitiv als Ursachen gewünschter Wirkungen. W ill man diese wohlbekannte Funktion der Vorwegnähme ofe „Denken" bezeichnen, so ist sie doch jedenfalls kein diskurstves, sondern ein ausgesprochen intuitives Denken. Sie sollte also richtiger als „Kausal­ anschauung" bezeichnet werden — in der gegebenen Parallele zur Raum­ und Zeitanschauung. Der Unterschied ist nur, daß sie nicht entfernt so weit reicht wie diese. D as eigentlich Individuelle entgeht ihr, weil die Kollokationen ihr zu kompliziert sind; und das eigentlich Allgemeine interessiert sie nicht, weil es fernab vom Lebensaktuellen liegt. Jenes überläßt fie der vagen Zufallsvorstellung, dieses dem schwerfälligen A pparat des Denkens. S ie selbst hält sich auf einer bequemen mittleren Linie des Typischen, d.h. des in der Erfahrung genähert wiederkehrenden. Auf dieser Linie verbindet die Kausalanschauung skrupellos und ohne Durchdringung der wirklichen Zusammenhänge, was sich wiederholt zusammenfindet; ein solches Verbinden war es, was Hume Assoziation nannte — zwar scharf­ sinnig, aber ohne das Problem darin ganz zu treffen. F ür die Zwecke des Lebens nämlich reicht ein Verbinden dieser A rt auch in gewissen Grenzen aus, mit tausend Jrrtumsquellen behaftet, wie es ist, aber nicht ohne eine gewisse Chance des Treffens.

c. Kategoriale Abweichungen der Kausalanschauuno M an ersieht schon hieraus, daß die Kausalanschauung in mancher Hinsicht von der strengen Struktur der Realkausalität abweicht. Sie be­ schränkt sich grundsätzlich auf gewisse Teilursachen, auf diejenigen nämlich, die für den Bedarf des Augenblicks wesentlich erscheinen. D as volle Gefüge der Kausalmomente, das streng genommen allein als causa efficiens gelten darf, entzieht sich der Anschauung. I n diesem Sinne darf man gerade die Kausalanschauung als „abstrakt" bezeichnen: sie ab­ strahiert von der Fülle der Verflechtung, sowohl der von den einzelnen Kausalfäden als auch von ihrer Ganzheit. Und gerade nur in dieser Be­ schränkung ist hier Anschaulichkeit möglich. Kausalität als Anschauungskategorie ist daher weder reihenhaft unend­ lich noch allseitig verflochten, weder kontinuierlich noch vollständig. Sie zerfällt in einzelne Kausalreihen, als bestünden diese für sich; und ihre Reihen haben selbst Anfang und Ende, springen über ganze Zeitspannen hinweg, die anschaulich unerfüllt bleiben. Sie find also durchaus diskrete Reihen. Sie führen auch keine streng fortlaufende Determination durch, sondern lassen dem „Zufall" Spielraum, wobei der Zufall unbestimmt als das Richtverurfachte vorschwebt. Kurz, es ist eine bloß fragmentarische Kausalität. Die anschaulich vorgestellte Kausalkette ist zwar nicht ohne eine gewisse „Breite"; etwas von den Kollokationen wird eben doch stets mit erfaßt. Aber das Übergewicht hat in ihr die lineare Struktur. Sie ist keineswegs an Gesetzeskenntnis gebunden, wohl aber hängt sie an empirischen Ana­ logien; auch neigt die Kausalanschauung ihrerseits zur Verallgemeine­ rung einzelner Teilzusammenhänge. Auf ihren niederen Stufen nimmt sie diese ohne weiteres für das Ganze. Ebenso neigt sie zur Verdinglichung der Ursache wie der Wirkung; darum herrscht in ihr die Vorstellung der Zweigliedrigkeit des Nexus vor, und der Charakter der fortlaufenden Reihe tritt zurück. Wie die Ursachen, so werden auch die Wirkungen in der Anschauung isoliert. Einzelne Wirkungsstrahlen werden aus dem realen Bündel der Teilwirkungen herausgelöst. E s gibt wohl ein begleitendes Bewußtsein der „Nebenwirkungen". Aber die eine herausgehobene erscheint doch als die „wesentliche"; wobei die selektiven Gesichtspunkte der Wesentlichkeit außerordentlich subjektiv und sachfremd sein können. Wenn sich die „Neben­ wirkungen" dann hinterher unliebsam bemerkbar machen, so neigt dieses lückenhafte Kausalbewußtsein dazu, sie für „zufällige" zu halten. D as ist dann so recht die Demokriteische „Beschönigung der eigenen R at­ losigkeit".

W as so zustande kommt, ist eine durchaus oberflächliche Anficht des laufenden Geschehens. Und diese Sichtweise wird sehr schnell unzu­ reichend, sobald ste sich auf größere Zusammenhänge erstreckt. D as Korrektiv, die mögliche Erweiterung, liegt freilich stets in ihr selbst; aber sie erfordert die Arbeit des Denkens und der weiteren Umwege, die aber ist nicht mehr anschaulich. Die Anschauung bezahlt — hier wie überall — den Vorzug unmittelbarer und bildhafter Präsenz mit dem Nachteil der Lückenhaftigkeit, Einseitigkeit und Täuschbarkeit. Um das Bild abzurunden, sei noch in Kürze auf eines hingewiesen. L s gibt auch eine „Perspektive" der Kausalanschauung; sie steht int engsten Zusammenhange mit der Zeitperspektive, in der sich für unseren Blick die Kausalreihe vorwärts wie rückwärts verliert. D as Nahe scheint vergrößert, dynamisch überbetont; die causa proxima scheint alles zu tragen, die causa remota zu verschwinden. Rückwärts verschwimmt die llrsachenreihe im undurchdringlichen Nebel, vorwärts die Wirkungsreihe. D as gegenwärtige Stadium ist das scheinbar Feste, der Bezugspunkt. L s zerschneidet die Kausalreihen in die Zweiheit der Aspekte, eine Reihe zurückliegender Ursachen und eine Reihe kommender Wirkungen. E s setzt damit eine A rt Zäsur — als wären jene Ursachen nicht auch Wirkungen, diese Wirkungen nicht auch Ursachen von etwas. Erst im kausalen „Denken" ändert sich das. d. Besonderheiten des kausalen Begreifens

Diese Eigentümlichkeiten, Mängel und Jrrtum squellen verschwinden nun nicht etwa mit einem Schlage, wenn man von der Anschauung zum Denken und begreifenden Erkennen aufsteigt. Das kausale Begreifen ist n u r die Fortsetzung der Kausalanschauung und entsprechend selbst noch anschaulich. I n gewissen Stücken aber nähert es sich doch der Realstruktur des Kausalnexus. Auch die verfeinerten M ittel wissenschaftlichen Denkens reichen nicht bis in die Feinstruktur des stetigen Bewirkens. Auch hier bleibt die Reihe diskret — und zwar auch dort, wo die mathematische Überlegung mit dem Eontinuum rechnet. Diese eben rechnet ja mit ihm gleichfalls nur wie mit einem Unbekannten, erfaßt es selbst aber nicht. Daß die Querschnitte einander bis in die kleinsten Zeitdifferenzen hinab hervorbringen, wird auch vom Denken nur angenommen (gleichsam interpoliert), nicht eigentlich greifbar gemacht. W ir haben es also auch hier mit einer ab­ gewandelten und inadäquat vermittelten Kausalität zu tun. J e näher die Stadien, die wir verfolgen, aneinander liegen, um so geringer ist die Veränderung und um so unfaßbarer das Verhältnis. Erst allmählich summiert sich das Bewirken zu einer konstatierbaren Größe. Aber auch im Verschwinden noch ist es reales Bewirken. J a , vielleicht wäre erst

hier gerade das eigentliche Bewirken als solches zu fassen. Aber auch das Denken folgt ihm nicht bis in seine Urzelle. Die Kausalität als Erkenntniskategorie hat also zwar das Grund­ schema mit der Realkausalität gemeinsam: die geradlinige Reihendeter­ mination, die Rechtläufigkeit in der Zeit, die Irreversibilität uff.; aber sie folgt ihr nicht bis in das eigentliche Wesen des Hervorbringens. W as sich dann auch mit der Irratio n alitä t des Bewirkens als solchen durch­ au s reimt. Die Folge aber ist, daß sie auch auf der Stufe der Wisienfchaft nicht die vollen Kollokationen faßt, also auch nicht die eigentliche causa efficiens. Die Wissenschaft gerade bezahlt ihre Exaktheit mit Abstraktion von der vollen Kompliziertheit der Eesamtursachen. Sie vereinfacht für ihre Zwecke den Fall, schaltet durch besondere Methoden eine Fülle un­ übersichtlich variierender Teilursachen aus und konstruiert sich den „idealen Fall", den es im realen Geschehen gar nicht gibt. Ih re Kausali­ tä t ist denn auch keine individuelle, sie ist vielmehr eine verallgemeinerte und verblaßte Kausalität, die sich an das Gleichartige, Typische und Schematische in den Naturvorgängen hält. S ie bleibt bei den Analogien stehen und neigt daher auch dazu, die Seite der Gesetzlichkeit im physischen Geschehen für das Wesen der Kausalabhängigkeit selbst zu nehmen. Damit hängt es weiter zusammen, daß die Kausalität als Erkenntnis­ kategorie auch auf den höchsten Stufen des Bewußtseins der charakte­ ristischen Notwendigkeit entbehrt, welche für die reale Kausalfolge maß­ gebend ist. Diese Notwendigkeit eben hängt, wie die Modalanalyse gezeigt hat, an der Totalität der Bedingungen. F ü r eine solche ist im Realzusammenhang jederzeit gesorgt. Aber im kausalen Begreifen ist nicht für sie gesorgt. Das Begreifen kann sich der Totalität wohl nähern, nicht aber sie erreichen. Darum muß auch die exakte Wissenschaft je erzeit auf empirische Bestätigung aus sein, darum muß die Technik mit Über­ raschungen rechnen, muß ausprobieren und Fehlermöglichkeiten einkalkulieren, jede Konstruktion auf weit höhere Beanspruchung einrichten, als der Berechnung nach zu erwarten wäre. Die Überraschungen, mit denen sie rechnet, hält sie freilich nicht für zufällig, wie das naive Erleben es tut. Aber deren Eintreten voraussehen kann sie auf Grund kausalen Be­ greifens nicht; sie kann höchstens nach Analogie anderweitiger Erfahrung die Eventualität abschätzen. Die Kausalanschauung und das kausale Begreifen unterliegen beide der Inadäquatheit, nur in sehr verschiedener Abstufung. Jene hält sich an das Dingliche und läßt dem Zufall Spielraum ; dieses hält sich an das Allgemeine und neigt zur Verwechselung von Kausalität und N atur­ gesetzlichkeit, in der das Hervorbringen dann nahezu verschwindet. Der wissenschaftliche Kausalaspekt wirkt dadurch eminent rational; es scheint. H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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als würde das Hervorbringen in ihm durchschaut. Aber es ist viel­ mehr ein Darüber-Hinwegschauen. D as Verursachen und Bewirken selbst mitsamt seiner Notwendigkeit wird nicht erfatzt. E s wird nur voraus­ gesetzt. Und die Rationalität ist bloß die der besonderen Gesetze, die auf Grund der Voraussetzung erfatzt werden. M an kann oberhalb dieser Stufe noch eine philosophisch-spekulative erkennen, welche die genannten M ängel zwar sieht und zu überwinden sucht, aber sie nicht aufhebt. S ie überspringt sie nur durch einen ent­ worfenen Tdtalitätsaspekt, den sie aber weder anschaulich, noch wissen­ schaftlich exakt auszufüllen vermag. M it dem Grundsätzlichen ihrer Über­ legungen dringt sie in eine gewisse Tiefe; man sieht es daran, daß sich ihr die einschlägigen Antinomien auftun, die sie aber nicht lösen kann. Auch gelingt es ihr, die Zweideutigkeit des Zufallsbegriffs aufzudecken und den Notwendigkeitstypus im Bewirken modal zu fassen. Dafür unter­ liegt sie ihrerseits leicht der spekulativen Deutung, der Grenzüberschrei­ tung und dem Entgleisen ins Teleologische. Und dieser letztere Nachteil — gleichsam ihre Anfälligkeit auf die Kinderkrankheit des weltanschau­ lichen Denkens — wiegt so schwer, datz sie immer wieder zur nüchtern wissenschaftlichen Kausalvorstellung zurückkehren und an ihr H alt luckien mutz. Denn in diesem Punkte wenigstens ist das positiv wissenschaftliche Denke« unbestechlich.

III. Abschnitt

Haturgesehlichkeit und Wechselwirkung 32. Kapitel. Der Prozeß und seine Gesetze a. Die Formentyvik der Abläufe

Die Naturgesetzlichkeit ist nicht ein System von Sätzen. Sätze gibt es im Kosmos nicht. Sätze gibt es nu r im Denken des Menschen. Die Wissenschaft spricht die Gesetze der N atur in Form von Sätzen aus, ja sogar in der noch gedrängteren Form der mathematischen Zahlensprache. Diese Formen find nicht die Gesetze selbst, sondern nur ihre Formulie­ rungen. Ih n en entspricht aber etwas im realen Naturgeschehen, und auf dieses ihnen Entsprechende allein kommt es in ihnen ontologisch an. W as aber ist das? W as ist das wirkliche Naturgesetz, das in den Prozessen selbst waltende und sie beherrschende?

Die Naturgesetzlichkeit ist zunächst nichts als die Gleichartigkeit der Prozesse. I h r Bestehen kommt darin zur Erscheinung, daß im Fortlaufen des Gesamtprozesses die Teilprozesse einer Typik unterliegen. Das N atur­ geschehen ist ungeachtet seiner Mannigfaltigkeit und Individualität (die es m it allem Realen teilt) doch nicht ohne Wiederkehr der Ablaufs­ formen. Und diese Wiederkehr zeigt eine strenge, wenn auch keineswegs immer einfache Formentypik der Vorgänge selbst, gleichsam eine solche der „Ablaufskurven". Wenn solche Prozehformen konstant sind, so bilden sie ein Moment des Bleibenden im allgemeinen Fluß des Geschehens. Sie vergehen nicht mit dem einmal abgelaufenen Prozeh, sondern erhalten sich im Wieder­ austauchen gleichgeformter Abläufe, bilden also eine A rt Dauerzuständlichkeit im Eesamtprozeh. I n dieser Hinsicht ist die Prozehgesetzlichkeit der Substanz verwandt; richtiger, sie gleicht dem Erhaltungsmoment in der Substanz, läht sich also als eine von dessen Abwandlungen auffassen: als eine Form der „Konsistenz" ohne Substrat (vgl. Kap. 24 c). I n der Geschichte der Naturwissenschaft hat denn auch das Naturgesetz die alte Vorstellung der „substantiellen Form " abgelöst. Auch diese w ar ein Versuch, die ewige Wiederkehr der Form zu fassen. Freilich hielt sie sich vorwiegend an Dinge und dingartige Gebilde, auf Prozesse bezog sie sich nur mittelbar. Aber sie meinte doch auch die Konstanz der Formen­ typik, das Allgemeine in der Mannigfaltigkeit der Fälle. W as im Prozeß sich erhält, ist in erster Linie der Prozeh selbst: er dauert fort, während die Stadien kommen und gehen. Nächstdem erhält sich die Substanz. Die Naturgesetzlichkeit aber lehrt, dah sich im Prozeh noch etwas anderes erhält, wennschon in anderer Weise. Dieses andere ist die besondere Prozehform. S ie verschwindet zwar immer wieder mit dem Einzelprozeh, taucht aber immer wieder auf. Sie erhält sich also durch Wiederkehr. Diese Wiederkehr ist nicht eine totale; denn auch die Abläufe sind wie alles Reale durchaus einmalig, sie wiederholen sich nicht mit allem Detail, sondern nur in gewissen Erundzügen. D as Naturgesetz ist das kategoriale Moment int Fluh des N atur­ geschehens, welches die Erundzüge der Ablaufsformen immer wieder­ kehren läht, ohne dah die Einzelprozesse selbst in ihrer Besonderheit sich wiederholten. Alles, was auf Grund der Gesetzlichkeit im Prozeß wiederkehrt — sei es an ephemeren Durchgangsstadien oder an Ablaufsgestalten oder auch an relativ dauerhaften Gebilden — hat teil an dieser A rt der Erhaltung. Sein Typus erhält sich auf Grund konstanter Gesetze durch Wieder­ entstehung. Darum erstreckt sich die Naturgesetzlichkeit, obgleich sie prim är die des Prozesses ist, mittelbar auch auf Gebilde, Kollokationen und

Eimultanstrukturen aller Art. Denn diese treten nirgends anders als im Prozeß auf. M ittelbar also erstreckt sich die Naturgesetzlichkeit aus schlecht­ hin alles im Reiche der Natur. F ü r unser Wissen um Naturverhältnisse ist die Gesetzlichkeit die vor­ nehmste und folgenreichste Kategorie im ganzen Bereich der N atur. Ohne sie wäre der Prozeß eine völlig uferlose Mannigfaltigkeit, immer anders und anders, ungreifbar, unfaßbar. Nichts ließe sich in ihm wieder­ erkennen, nichts Bekanntes könnte in ihm begegnen. Die Gleichartigkeit der Abläufe erst macht ihn greifbar. Und zwar geht die Greifbarkeit gerade nur so weit, als die Gleichartigkeit reicht. Beim Gleichartigen kommt die Anschauung zur Ruhe, bei ihr setzt das Begreifen ein, an seinen Bestand hält sich die eindringende Analyse. 2 n ihm erscheint die Mannigfaltigkeit herabgesetzt, das grenzenlos Komplexe vereinfacht. Die Gesetzlichkeit ist darum die rationale Seite des Prozesses, diejenige nämlich, an die unser Verstand angepaßt ist. b. D as Real-Allgemeine im Prozeß und die Gesetzesurteile der Wissenschaft

Die Gesetzlichkeit ist nicht das Gesetz. „Gesetzlich" ist das, was dem Gesetz unterliegt, also im Falle des Naturgesetzes zunächst der Prozeß. D as Gesetz selbst ist das, was den Prozeß gesetzlich macht, ihm also jenen Einschlag der Gleichartigkeit oder Typik gibt, an dem seine Eigenart greifbar wird. Das braucht nicht zu bedeuten, daß die Naturgesetze ein mysteriöses Eigendasein hinter den Naturprozessen führten. Im Gegen­ teil, es gibt die Gesetze nur im oder am Prozeß selbst, aber doch nicht so, daß sie im Einzelprozeß aufgingen. S ie verhalten sich zu diesem wie das Allgemeine zum Einzelnen. Alles Real-Allgemeine ist unselbständig: es kommt nur in den Einzelfällen vor; aber wie diese nicht in ihm auf­ gehen, so auch es nicht in ihnen. D as Naturgesetz gleicht in seiner Seinsweise den Kategorien. Auch diese haben kein Eigendasein neben dem Concretum, aber sie deter­ minieren es in bestimmter Hinsicht. Die Naturgesetze sind nur spezieller. Auch sie haben den Charakter von Prinzipien, haben wie diese kein Sein neben ihrem Prinzipsein, aber sie determinieren den realen Verlauf der Prozesse, bringen Gleichförmigkeit in ihn hinein und sind in diesem Sinne Realgesetze. M it den von der Naturwissenschaft formulierten Gesetzen brauchen sie nicht inhaltsidentisch zu sein; diese sind nur Versuche des erkennenden Bewußtseins, sie zu erfassen. Die wirklichen Naturgesetze bestehen unabhängig von ihrem Erfaßtwerden. Sie sind das Real-Allgemeine in den Ablaufsformen der Naturprozesse. Die Erörterung des Real-Allgemeinen als solchen gehört der Lehre von den Fundamental­ kategorien an (vgl. Aufbau, Kap. 37 d).

Die Gesetzlichkeit ist folglich auch eine A rt Determination im Naturprozetz, und zwar eine andere als die Kausalität. Bei dieser determiniert ein Prozetzstadium das andere in der Zeitfolge. Bei der Gesetzlichkeit ist ein Allgemeines, und a ls solches ein Zeitloses, die determinierende Instanz. Die von den Naturgesetzen ausgehende Determination steht also quer zur kausalen. Und wenn man die kausale nach dem alten räumlichen Bilde als „horizontale" bezeichnen will (weil sie sich ganz innerhalb der Ebene der Realgeschehnisse hält), so mutz man folgerichtig die der Gesetze als „vertikale" bezeichnen. D as ist freilich nur ein Gleichnis, aber es charak­ terisiert gut das Verhältnis der beiden Determinationsformen zuein­ ander. Und es patzt überdies zu der seit P laton gängig gewordenen Vorstellungsweise, nach welcher Prinzipien ihr Concretum „von oben her" determinieren. D as kategoriale Verhältnis der beiden Deter­ minationen selbst wird noch besonders zu erörtern sein. Wichtig ist nun vor allem, datz das Naturgesetz ein Allgemeines im strengen Sinne ist. Das bedeutet nicht, datz nur das Allerallgemeinste hierher gehörte. E s gibt vielmehr sehr spezielle Naturgesetze. Die Strenge der Allgemeinheit besteht in etwas anderem: darin, datz sie die Totalität aller einschlägigen Fälle umspannt und keine Ausnahme zulätzt. Dieser Sinn des Allgemeinen ist charakteristisch für das echte Naturgesetz. Eine Gleichartigkeit, die Ausnahmen duldet, ist kein Naturgesetz. Sie kann wohl auf ein solches hinweisen, aber das Gesetz selbst ist dann eben doch noch verborgen. Ob und wie es sich auffinden läßt, ist eine Frage der wissenschaftlichen Methode. Dieses Allgemeine ist also kein ideales Gebilde, auch kein logisches. Die llrteilsform ist ihm äutzerlich und besteht nur in Gedanken. Das Gesetz selbst aber besteht in der Form der Realprozesse, auch ohne datz der Gedanke es erfatzte. I n diesem Punkte haben die logischen Theorien des wissenschaftlichen Verfahrens vielfach den Kern der Sache verfehlt, Haben die in exakte Form gebrachten generellen Urteile der Wissenschaft un­ mittelbar für Naturgesetze ausgegeben. Und wenn diese sich als unzu­ reichend herausstellten, neigten sie dazu, die Naturgesetze selbst für etwas Relatives oder gar blotz in Gedanken Bestehendes auszugeben. W oraus dann wiederum idealistische und positivistische Theorien eine Bestätigung zu gewinnen suchten, die sie auf legitimem Wege nicht finden konnten. Damit wird man dem S inn des Real-Allgemeinen nicht gerecht. Zwischen dem in den realen Prozessen waltenden Naturgesetz und den Eesetzesurteilen der Wissenschaft ist ein klarer Unterschied zu machen, und zwar auch dort, wo wir allen Grund haben, die Urteile der Wissen­ schaft für adäquat zu halten. D as Verhältnis zwischen diesem und jenem ist kein anderes als das der Näherung, genau so wie es in anderen

Zweigen der Wissenschaft auch der F all ist. Die großen Meister der Naturwissenschaft haben das im ganzen auch sehr wohl gewußt und anerkannt. Zu einem wissenschaftlichen Relativismus gibt dieses Ver­ hältnis, wenn man es recht versteht, keinen Anlaß. M it der Individualität der Einzelprozesse aber reimt sich diese RealAllgemeinheit sehr einfach. E s können sämtliche Bestimmtheiten eines Ablaufs gesetzlich-allgemein sein, deswegen kann er doch als Ganzes immer noch einzig sein. Dafür sorgt die andere Determination, die linear­ kausale, in der für Besonderheit der Kollokationen von F all zu F all der breiteste Spielraum ist.

c. Die Schemata der Abläufe. Avriorismus und Induktion M an erinnere sich nun: im Prozeß als solchem gibt es von jedem Stadium aus eine Vielheit von Möglichkeiten. Die Kausalität dagegen bestand darin, daß vielmehr jederzeit nur eine von ihnen echte Real­ möglichkeit ist. Dadurch wird die Aufeinanderfolge in der Zeit zu einer notwendigen (vgl. oben Kap. 21b und 27 c). W as kommt nun durch die Determination der Naturgesetze noch hinzu? Offenbar dieses, daß die eine Realmöglichkeit nicht in jedem neuen Falle eine schlechthin andere ist, sondern in gewissen Erundzügen über weite Gruppen von Prozeßfällen hin dieselbe bleibt. Dadurch kommt Gleichartigkeit und Typik der Abläufe in die sonst unübersehbare M annig­ faltigkeit des Naturgeschehens hinein. I m Bilde gesprochen, die N atur erfindet nicht für jeden F all etwas von Grund aus Neues. I n ihr geht es nach einem gewissen Schema her, richtiger nach einer Vielheit von Schemata, die sich mannigfach kombi­ nieren und überdecken und dadurch den Schein von Abweichungen hervor­ rufen. Der weiteren Besonderung aber zieht diese Schematik keinerlei Grenzen. F ü r unsere Naturerkenntnis sind diese Schemata von größter Bedeu­ tung. Sie machen es, daß unsere Naturerfahrung durchgehende „Analo­ gien" aufweist, dem Beobachter in aller Besonderung doch immer wieder das gleiche Gesicht zeigt. Auf diese Weise kann die Wissenschaft sich an eine beträchtlich herabgesetzte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen halten und allererst zur überschau gelangen. So wenigstens, wenn sie von den letzten, kaum greifbaren Besonderungen der Prozesse absteht. Im Leben tun wir das ohnehin stets, notgedrungen,' die Wissenschaft tut es überall, wo sie auf das Grundsätzliche geht. Und darum allein ist es möglich, daß wir mit unserem Verstände, der sich in Allgemeinheiten bewegt, in diese N atur eindringen, daß wir Urteile und Begriffe bilden, Subsumptionen voll-

ziehen, die wirklich etwas von ihr erfassen. Anhand der Gesetzlichkeit drin­ gen wir in fie ein, und alles Begreifen ihrer Zusammenhänge wurzelt im Begreifen ihrer Gesetze. W ir haben es hier mit einer erstaunlich zweckmäßigen Angepahtheit des Verstandes an die N atur zu tun. Nicht die N atur ist zweckmäßig für den Verstand angelegt — wie noch Kant es aussprach —» sondern der Verstand für die N atur, in der er sich zurecht­ finden soll. Ein bloß das Einzelne fassender (also ein bloß „intuitiver") Verstand könnte sich in einer gesetzlich geordneten N atur nicht orien­ tieren. Alles Apriorische in unserer Erkenntnis hat die Form der Allgemein­ heit. Darum hängt der ganze Einschlag des Apriorischen in der N atur­ erkenntnis an der Seite der Gesetzlichkeit in der N atur. D as spricht sich auch in K ants Terminus „Analogie der Erfahrung" aus, unter dem er die wichtigsten Kategorien der Naturerkenntnis zusammenfaßte. D as bedeutet freilich nicht, daß wir die „besonderen Gesetze" der N atur teilt a priori erfassen könnten, wohl aber daß in diesem Erfassen ein Element a priori ist, welches uns grundsätzlich ermöglicht, in gewissen Gegebenheiten der Erfahrung das Allgemeine des Gesetzes zu erfassen. Denn Erfahrung gibt nicht das Allgemeine a ls solches. Die Allgemeinheit selbst ist nur a priori erfaßbar. Bon dem Verfahren der Wissenschaft, welches diese folgenreiche S yn­ these aposteriorischer und apriorischer Erkenntniselemente zustandebringt, ist oft und genügend erschöpfend gehandelt worden. M an faßt es gewöhn­ lich unter den Begriff der vollständigen oder exakten Induktion zu­ sammen — im Unterschied zur bloß aufzählenden und heranführenden Induktion. Davon braucht hier nicht die Rede zu sein. N ur eines ist dabei für die kategoriale Stellung der Naturwissenschaft von Wich­ tigkeit. Die Induktion nämlich gelangt nur dann zu wirMch allgemeinen Sätzen, wenn sie die Allgemeinheit schon in Form eines Obersatzes vor­ aussetzt. Eigentliche „Verallgemeinerung" also ist in ihr nicht möglich. N ur von den beobachteten Einzelfällen her sieht es so aus. I n Wirklich­ keit geht fie g ar nicht von diesen allein aus, sondern stets zugleich von der Voraussetzung einer in den realen Prozessen bestehenden strengen Gesetz­ lichkeit. M an weiß nur nicht, welches die Gesetze find, und darüber soll die Beobachtung belehren. Denn wenn das gesuchte Gesetz „allgemein" waltet, muß es in jedem Einzelfall enthalten sein. Jeder F all also kann es ver­ raten — wenn es nur gelingt, Fragestellung und Versuchsanordnung zweckmäßig einzurichten.

D as Experiment also isoliert nur die Bedingungen einer bestimmten Teilgesetzlichkeit. Daß diese überhaupt besteht, ist vorausgesetzt, ehe m an sie kennt. D .h. die Allgemeinheit ist a priori vorausgesetzt; der Versuch belehrt nur über das Besondere des Gesetzes. N ur so ist es möglich, daß der Einzelfall ein Gesetz erkennen läßt. Alle Wiederholung des Versuchs ist demgegenüber nur Kontrolle. Denn die Gesetze greifen ineinander im konkreten Vorgang, darum ist die Isolierung der Bedingungen schwierig. Im m er wieder ist die Theorie an diesem Punkte entgleist. I n klarer Form , wiewohl ohne Begründung, hat Z. S t. M ill die generelle Voraussetzung aller exakten Induktion ausgesprochen als das Gesetz der „Gleichförmig­ keit der N atur". Tiefsinniger gefaßt steckt derselbe Gedanke schon in K ants Lehre von den „Analogien der Erfahrung". Die apriorische Analogie — von K ant freilich zu eng in seinen drei Relationskategorien gefaßt — ist nichts anderes a ls die apriorische Voraussetzung der Gleichförmigkeit. W ill man ein Lberfichtliches logisches Schema für diese Sachlage, so läßt sich der Jnduktionsschluß in die Form eines hypothetischen Schlusses im modus ponens bringen. Der Obersatz drückt die apriorische V oraus­ setzung aus: Wenn einem bestimmten Si das Prädikat P zukommt, so kommt P auch allen 8 zu; nun zeigt die Beobachtung Si ist P ; folglich muß gelten: alle S find P. Die Allgemeinheit wird somit nicht induziert, sondern supponiert. Und unter sie als die noch inhaltlich unbestimmte wird das Beobachtete subsumiert. Dadurch wird das letztere unmittelbar in die supponierte Allgemeinheit erhoben; die unbestimmte Allgemeinheit aber bekommt ihre Bestimmtheit. Die apriorische Voraussetzung selbst ist hierbei weder eine logische noch eine erkenntnistheoretische, sondern eine rein ontologisch-kategoriale. Sie betrifft eben das Bestehen durchgehender Gesetzlichkeit in der Natur. Ob sie in dieser Universalität wirklich zu Recht besteht, ob sie nicht doch eine zweckmäßige Vereinfachung darstellt, können wir letzten Endes nicht entscheiden. W as immer wieder für sie spricht, sind die großen Erfolge der Naturwissenschaft und der Technik, die ja wesentlich auf ihr beruhen. Aber alle Bewährungskriterien haben irgendwo eine Grenze ihrer Trag­ kraft. I n der heutigen theoretischen Physik ist dieses Problem wieder aktuell geworden. d. Geschichtliches. Formentypik und Gesetzestyvik

Gesetzlichkeit als solche braucht weder mathematisch noch kausal zu sein. I n der Welt, in der w ir leben, ist sie offenbar beides. Aber das liegt nicht in ihrem Wesen, sondern im Wesen anderer Kategorien. An sich könnte sie auch andere Formen haben. Wichtig ist nur, daß sie überhaupt eine Formentypik der Prozesie ausmacht.

Die Probe aufs Exempel liegt in der alten Aristotelisch-scholastischen Physik, die teleologisch und unmathematisch aufgebaut war. Freilich ist fie gründlich abgetan, und niemand wird sie erneuern wollen. Aber sie beweist doch, daß eine Formentypik der Prozesse auch auf andere Weise denkbar war. W äre das nicht möglich gewesen, wie hätte sich solch eine Theorie so viele Jahrhunderte halten können? Der Fehler in ihr bestand ja auch nicht in der Substantialisterung der Formen allein, sondern weit mehr in der Verkennung dessen, was eigentlich Prozesse sind. Das Formenreich w ar in erster Linie ein solches der Gebilde, orientiert am Dinglichen und mehr noch am Organischen. M an fand die Formen stets im Werden begriffen, also in der Unvoll­ kommenheit. Da aber die Prozesse auf sie als Ziele hin orientiert sein sollten, so mutzte man annehmen, datz die Formen irgendwie in Reinheit — und das hietz dem Prozetz enthoben, statisch, unveränderlich — vor­ bestehen mützten. So kam man auf das stillstehende Reich der Formen (essentiae) hin­ aus, als deren O rt man in christlicher Zeit gerne den intellectus divinus ansah. Der Prozetz aber wurde immer mehr als Unvollkommenheit, ja als das ontisch Uneigentliche angesehen, und die reale Welt wurde ent­ sprechend entwertet. Die alte tiefsinnige Einsicht Heraklits, daß alles Reale im Prozetz und nirgends sonst besteht, lietz sich so nicht halten. Soweit man aber den Prozeß noch im Auge hatte, konnte man ihn doch nicht mehr einheitlich fassen; entsprechend der Vielheit der Formen wurde er in eine Unzahl von selbständigen Prozessen atomisiert. Die Determina­ tion, die man diesen Formen zuschrieb, w ar also nur Determination im Kleinen und Einzelnen, nicht im Ganzen und nicht im Weltprozetz. Dennoch tra t sie als eine A rt Gesetzlichkeit der Prozesse auf. Verst nd man doch den Prozeß als den Werdegang der Gebilde und die Form als seine causa immanens. „Form" galt als Inneres der N atur in jedem Ge­ bilde, oder wie man später sagte, als seine natura naturans. Die Schwäche darin war und blieb die Statik der Formen, sowie die Unmöglichkeit, die Zustandsfolge der Prozesse selbst, die doch einen fließenden Wechsel der Formen bildet, einen fluxus formarum (nach dem Worte des Averrhoes), auf diese Weise zu verstehen. Sollte man etwa im Ernst eine Unendlichkeit von Formen für jeden Werdeprozetz annehmen? Diesem Widersinn zu entgehen, entbrannte schon im 14. Jahrhundert der Kampf gegen die statische Form. Denn, in der Tat, wenn es gelang, eine bewegliche Form zu finden, unter der sich die Vielheit der im Prozeß durchlaufenen Formen zusammenfassen ließ, so konnte man den Prozetz selbst in seinem Verlauf als von einem Prinzip determiniert verstehen.

E s ist der Gedanke der forma fluens, der sich von hier aus langsam durchsetzt. I n ihm steckt der Ansatz der neuen Anschauungsweise, der G danke des Naturgesetzes in nuce. Denn jetzt handelt es sich darum, die Regel der Veränderung selbst zu fassen. Eine lange Entwicklung mit vielen Rückschlägen und Umwegen hat von hier aus schließlich auf den wirklichen Begriff des Naturgesetzes im Sinne der Ealileischen Physik hinausgeführt. M an fand das M ittel, die fließende Form im fließenden Verhältnis der Größen mathematisch zu bestimmen. Und damit wurde man ganz von selbst auf das kausale Verhältnis der einander hervor­ bringenden Prozeßstadien hinausgeführt*). Jetzt erst bildet sich ein anderer Begriff vom Inneren der N atur her­ aus. Die alten „Formen" erklärten im Grunde nichts, sie waren tautologische Wiederholungen der Dingformen, nur in die Überzeitlichkeit er­ hoben. So w ar es in der Lehre von den „Vermögen" (facultates), in der von der qualitas occulta oder vis occulta. Das alles fällt in sich zu­ sammen, sobald das „Innere" der Dinge sich a ls ein inhaltlich ganz an­ deres erweist, als etwas, woraus sich das Sichtbare der Naturerscheinungen als seine Äußerung begreifen läßt. Dieses anders verstandene Innere der N atur muß den Äußerungen erst mit besonderen Methoden abgelauscht, aus ihnen erschlossen werden. E s ist das im System der N atur verbor­ gene System der Gesetze, das in den Prozessen zwar enthalten und des­ wegen aus ihnen induzierbar, aber nicht mit ihnen inhaltsidentisch ist. Erklären läßt sich niemals dasselbe aus demselben, stets nur eines aus dem anderen. Die Formenlehre konnte nicht erklären, weil sie dasselbe nur noch einmal setzte. I h r Fehler w ar der der Homonymie (vgl. Aufbau, Kap. 6c— e ). Erst mit der Eesetzeswisienschaft ändert sich das. Gesetze liegen nicht auf der Hand. Sie müssen gefunden werden, und zwar aus gegebenen Fällen. Dann aber können wiederum gegebene Fälle aus ihnen erklärt werden. Und das ist kein Zirkel. Denn die Fälle find nicht die­ selben, und Finden ist nicht dasselbe wie Erklären. e. Kausalität und Gesetzlichkeit Indessen, nicht nur Gesetzlichkeit kann ohne kausale und mathematische Determination bestehen — sie ist dann eben nur nicht die exakte, die in der realen N atur herrscht—, sondern auch umgekehrt: Kausalität kann auch ohne Gesetzlichkeit bestehen, und desgleichen ohne mathematische De­ termination. J a , als dritten Satz könnte man noch hinzufügen, daß auch mathematische Determination ohne Prozeßgesetzlichkeit und Kausalität *) Über die verschlungenen Wege der ganzen Entwicklung vgl. das lehr­ reiche Werk von Anneliese Maier, „An der Grenze von Scholastik und Natur­ wissenschaft". Essen 1934: desgl. das neuere Werk „Die Vorläufer G alileis im 14. Jahrhundert", Rom 1949.

bestehen kann; aber das ist eine Selbstverständlichkeit, da ste im ganzen Gegenstandsgebiet der reinen Mathematik ohne diese besteht. Kategorial wichtig in diesem Verhältnis ist das Prinzipielle: diese drei Typen der Determination bestehen in der realen N atur durchaus ver­ bunden, und es wäre lächerlich, sie auseinanderreißen zu wollen. Aber die Verbundenheit liegt nicht in ihrem Wesen überhaupt und kann daher auch nicht, wie man wohl gemeint hat, a priori deduziert werden. Sondern sie liegt in der Eigenart der realen Welt, und die können wir nur als T at­ sache hinnehmen. Von Bedeutung ist hier vor allem das kategoriale Verhältnis von Kau­ salität und Naturgesetzlichkeit. Kausalität ist zwar selbst auch eine Gesetz­ lichkeit, aber weder geht ste darin auf (man denke an das „Hervor­ bringen"), noch besteht sie in besonderen Gesetzen gleichartiger Abläufe. Wohl beruht auf ihr die tatsächlich bestehende Naturgesetzlichkeit, und wohl finden wir sie überall im Reiche der N atur in diese eingespannt, gleichsam von ihr überformt. Aber das ist nur ein Faktum, keine kategoriale Not­ wendigkeit; das liegt nicht an der Kausalität, sondern an der Wieder­ kehr gleichartiger llrsachenkomplexe im Naturgeschehen. Denn nach dem Kausalitätsprinzip ergeben nur gleiche Ursachen gleiche Wirkungen. Wenn K ant von einer K a u sa litä t nach Naturgesetzen" sprach, so traf er damit sehr wohl diesen tatsächlichen Zusammenhang; aber er traf damit weder das kategoriale Wesen der Kausalität noch das der Naturgesetzlichkeit als solcher, und eine Kausalität ohne Naturgesetze hätte in W ahrheit noch lange nicht „Kausalität aus Freiheit" zu sein brauchen. An sich also könnte sehr wohl Kausalität ohne die mathematischen Naturgesetze in den Realprozessen bestehen. Sie wäre dann eben bloß ohne Gleichartigkeit und Formentypik der Abläufe. Der Einzelfall wäre dann ohne Allgemeines, man könnte ihn unter nichts weiter subsumieren. Fak­ tisch ist es nicht so. Aber das macht nicht die Kausalität, d. h. das reine „Bewirken", sondern die Wiederkehr der gleichen Kollokationen. Diese Sachlage ist seit Bern Aufkommen der Eesetzeswissenschaft n ir­ gends klar gefaßt worden, auch in der Philosophie nicht. Zu stark stand man unter dem Eindruck des faktischen Zusammenhanges, um die kategorialen Momente klar scheiden zu können. K ant ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Verunklärend tra t noch die allgemein herrschende Verwir­ rung in der Modalanalyse hinzu. Unter Notwendigkeit verstand man vor­ wiegend die Wesensnotwendigkeit, ohne sie aber von der Realnotwendig­ keit sauber zu unterscheiden. So entstand der Irrtu m , Notwendigkeit müsse auch im Realzusammenhang die Form der Allgemeinheit haben; was bedeuten würde, daß die einzelne und einmalige Kollokation von Ursachen in ihrem Bewirken einer ebenso einzelnen und einmaligen Kollokation keine Notwendigkeit haben könne.

Gegen all diese Verwirrung ist eindeutig festzuhalten: eine Wieder­ kehr von auch nur teilweise identischen Kollokationen in den N atur­ prozessen ist auf Grund des bloßen Bewirkens mitsamt seiner Real­ notwendigkeit durchaus nicht notwendig. Der kausal determinierte Naturprozeß könnte sehr wohl auch immer ganz anderes hervorbringen, und zwar mit derselben Realnotwendigkeit. Ein solcher Naturprozeß würde atypisch sein, gesetzlos, aber nicht ohne strenge lineare Determination. E s wäre nur keine Determination nach Gesetzen. E r würde dann auch nicht mathematisch und nicht berechenbar sein. Überhaupt, die Berechenbarkeit hängt nicht an der Kausalität, und der ganze großartige Apriorismus der exakten Wissenschaft hängt nicht so sehr an ihr wie an der Gesetzlichkeit. Die Formel „gleiche Ursachen — gleiche Wirkungen", in die man das Kausalitätsprinzip gefaßt hat, ist weit ent­ fernt, das Wesen der Naturgesetzlichkeit auszusprechen. Sie spricht durch­ aus nur deren kausale Voraussetzung aus. Sie hat ja auch die hypo­ thetische Form des „W enn — so". W oraus sich klar ergibt: daß überhaupt gleiche Ursachen auftreten, ist in ihr nicht ausgesprochen, gehört auch g ar nicht zur Kausalfolge. Daß also faktisch immer wieder die typenhaft gleichen Ursachenkomplexe auftreten, ist nicht Folge des Kausalitätsprinzips, sondern eine besondere Eigentümlichkeit der Naturabläufe. Diese Eigentümlichkeit eben ist ihre Gesetzlichkeit. Diesen Sachverhalt kann man auch so aussprechen: die Ge­ setzlichkeit selbst im Naturprozeß ist kausal zufällig. Tatsächlich kehren ja auch nicht genau dieselben llrsachenkomplexe wieder. W ir unterscheiden sie nur nicht so genau. Im Leben brauchen w ir das nicht, und in der Wissenschaft wollen wir es nicht. Die Gleichheit der Kollokationen trifft stets nur auf einen herausabstrahierten Ausschnitt aus der T otalität der Teilursachen zu, nicht auf ihre Ganzheiten. Daher die mannigfachen Jrrtum squellen in solchen Fällen kausaler Beurteilung, bei denen es auf die hohe Komplexheit der Kollokation gerade ankommt. Auch die genaueste Gejetzeskenntnis ist keine Schutzwehr dagegen.

33. Kapitel. D as Naturgesetz und seine mathematische Struktur a. Individualität und Allgemeinheit im Naturprozeh

E s ist also die Eigenart des Naturprozesies — und mittelbar auch der Naturkausalität (nicht aller Kausalität natürlich) —, eine durchgehende Typik zu haben, strenge Analogie der Fälle zu zeigen. Diese ist nicht volle Gleichheit. E s tauchen im Naturprozeß dauernd die dem Typus nach glei-

chen llrsachenkomplexe auf, die dann mit kausaler Realnotwendigkeit -ebenso typenhaft gleiche Abläufe nach sich ziehen. Diese Eigenart des Naturprozesies steht in deutlichem Gegensatz zum psychischen, geistigen, geschichtlichen Prozeß, ja teils auch schon zum or­ ganischen. Auch in diesen gibt es zwar Gleichläufigkeit und Wiederkehr, aber nicht durchgehend und nicht in mathematische Gesetzlichkeit gebunden. Die Eigenart des Naturprozesies, a ls eines zugleich dynamisch-kausalen Geschehens, ist das Real-Allgemeine in ihm, das Naturgesetz. Naturgesetzlichkeit ist strenge Gesetzlichkeit, unverbrüchliche, eine solche, die Notwendigkeit hat. E s wurde schon gezeigt, wie diese Notwendigkeit nicht die des Kausalnexus ist. Durch den Charakter der Allgemeinheit ist sie von ihr geschieden. Kausalität ist Notwendigkeit eines Ablaufs auf G rund einer bestimmten, einmaligen Kollokation; sie hat den Typus der Realnotwendigkeit. Naturgesetzlichkeit ist eine andere Notwendigkeit im selben Zeitfluß der Prozesie: Notwendigkeit eines bestimmten Soseins der Einzelfälle auf Grund eines Prinzips. Eie hat also nicht den Typus der Realnotwendigkeit (Notw. von Realem auf Grund von Realem), sondern den der bloßen Wesensnotwendigkeit (Notw. eines Realen auf Grund eines allgemeinen Prinzips). Erst diese beiden Notwendigkeiten zusammen, aufeinander querstehend und sich gegenseitig ergänzend, mache« die volle Naturnotwendigkeit aus. Die Allgemeinheit des Gesetzes besteht mit der Individualität der F älle genau so harmonisch zusammen wie die Kausalität mit der contingentia (Kap. 286). Es verlohnt sich, die vier Sätze zusammenzustellen, in denen sich dieses Doppelverhältnis darstellt: 1. Alles, was in der N atur geschieht, beruht auf dem Zusammen­ treffen der Bedingungen (contingentia), ohne Vorbestimmung. E s ge­ schieht also „zufällig". 2. Alles, was „zufällig" geschieht, kann auf Grund des Voraus­ gehenden nicht anders ausfallen» als es ausfällt. E s geschieht also not­ wendig. 3. Alles, was notwendig geschieht, geschieht in seiner Vollständigkeit nur einmal, es ist qualitativ individuell. Diese Individualität hat es nicht auf Grund eines Prinzips, sondern aus dem Realzusammenhang heraus. 4. Alles, was einmalig geschieht, steht gleichwohl in allen seinen Einzelbestimmungen unter allgemeinen Prinzipien. E s hat also nichts­ destoweniger auch die Wesensnotwendigkeit des streng Allgemeinen in sich. Dieses streng Allgemeine ist die Naturgesetzlichkeit.

Bei sehr äußerlicher Betrachtung ist dieses ganze Verhältnis nicht ohne Paradoxie. E s ist trotzdem fast ganz ohne Beachtung geblieben. E s ver­ schwand vollständig hinter der besonderen Form der Naturgesetzlichkeit, der mathematischen. Und das ist nicht zu verwundern, weil es dem P hy­ siker nur auf die Gesetze selbst ankommt, auf ihren In h a lt und auf ihre Formulierung. Die Kategorienlehre aber muß dahinter zurückgreifen — auf das Grundsätzliche aller Gesetzlichkeit.

b. Kategoriale Begrenzung der Rolle des Naturgesetzes

Verständlich ist es, datz man in den Zahrhunderten des Übergänge» und selbst noch in den Anfängen der klassischen Physik das Naturgesetz nach A rt einer causa immanens der Vorgänge verstanden hat. Zunächst hatte man keinen anderen Begriff dafür, und später, als man längst von „Gesetzen" sprach, schwebten diese doch den Denkern des 17. Jahrhunderts noch lange als Formen der „Vollkommenheit" (perfectio, harmonia) vor, welche der Realprozeß nur genähert darstellt. Kepler ist ein bekanntes Beispiel solcher Denkweise. Datz der Prozeß nicht „Wirkung" der Gesetze ist, daß nur die causa transiens mit Recht Ursache heißt, daß sie in ihre Wirkung verschwindet und überhaupt nur Prozeßstadium ist, w ähr.nd das Gesetz nicht verschwindet, weil es Prozeß-Form ist, — das sind Einsichten, die sich erst allmählich durchsetzen konnten. Eines war richtig gesehen in der alten Auffassung: wenn die Gesetze auch keine Ursachen sind, so find sie doch in aller Buchstäblichkeit dem R eal­ prozeß immanent. S ie bestehen nirgends anders als an und in ihm. Sie bilden keine transzendente Welt für sich. M an kann sie wohl für sich „be­ trachten", sie in ein System der Gesetze zusammenfassen, und das System zeigt dann selbst wieder eine Eigenstruktur, eine A rt Kohärenz, wobei eines das andere voraussetzt, manche sich gegenseittg bedingen: der Ver­ flechtung der Prozesse kann diese Kohärenz sogar sehr unähnlich sein. Aber man kann die Gesetze mitsamt ihrer Kohärenz nicht vom R ealprozeß losreißen. Sie bestehen nur „in ihm", als die seinen. E s ist notwendig, Lberttiebene Vorstellungen von Naturgesetzlichkeit abzuwehren; begegnet man ihnen doch bis heute immer wieder» meist in unausgesprochener Form. M an kann mit gutem S inn das System der Ge­ setze als „Inneres der Natur" verstehen, und daraufhin das Eindringen in das Jnnere'betreiben. E s kommt nur darauf an, in welchem Sinne man es tut. Versteht man das Innere wie einen „Kern", der fein Äußeres selbsttättg hervorbringt, so ist man schon im Irrtu m . Gesetze bringen nichts hervor, sie find keine produzierenden Mächte. Sie bilden auch kein Reich

idealer Formen, denen die Fälle etwa bloß genähert nachgebildet wären. Sie find weder Urbilder, noch bewegende Kräfte. M an kann den R eal­ prozeß nicht auf fie „zurückführen" wie auf eine säkularifierte W elt­ vernunft, kann ihn auch nicht aus ihren Kombinationen „ableiten". S o weit geht das Erklären durch fie schlechterdings nicht. Aus dem bloßen Be­ stehen von Allgemeinem, auch wenn es sich noch so weit in die Besonde­ rungen hinein erstreckt, folgt niemals reales Geschehen. M an kann also auch in der Wifienschaft nicht den Prozeß in lauter Gesetzlichkeit auflösen. M an würde damit die Hauptsache unterschlagen: die Realität. M an braucht sich ja daraufhin nur einige der anderen late« gorialen Momente anzusehen, die ebensosehr im Prozeß enthalten find, die Zeitlichkeit, das Fließen und das Dauern (d. h. das Ablaufen selbst), die Zustände und ihr Hervorgehen, die beharrlichen Substrate sowie die vielerlei Dimensionen möglicher Größe (und nicht nur der extensiven); das alles ist auf Gesetze nicht zurückzuführen, ist vielmehr in ihnen vor­ ausgesetzt. Gesetze sind nur die besonderen Gestalten und Rhythmen der Abläufe, soweit fie gleichartig find. B or allem aber kann man die wirklich bewegenden Mächte des P ro ­ zesses nicht auf Gesetzlichkeit zurückführen: die von ihm selbst hervor­ gebrachten und sich in ihn wieder auflösenden Ursachenkomplexe. I n deren Besonderheit spielen zwar die Gesetze sehr wohl eine bestimmende Rolle, und zwar stets kombiniert; aber solche Komplexe sind deswegen doch keine Kombinationen von Gesetzen, sondern Kollokationen von realen, ver­ gänglichen Teilursachen. Diese Begrenzung der Rolle, welche die Naturgesetze spielen, ist eine rein kategoriale, also durchaus keine Begrenzung ihres Geltungsbereichs. Auch das muß man sich in rechter Weise klar machen, denn auch in diesem Punkte begegnet man Mißverständnissen. Isolierte Einzelgesetze nämlich gibt es in der N atur nicht. Es gibt die Gesetze nur im Zusammenhang mit­ einander und je nach der besonderen Artung des Realprozesses treten sie in Auslese verbunden auf. Es kostet den Physiker besondere Arbeit, fie überhaupt experimentell zu trennen, um sie erfassen zu können. Die genialen Griffe der großen Entdecker find zumeist Leistungen dieser Art. Diese selbe Verbundenheit der Gesetze ist aber auch der Grund, warum die erkannten Einzelgesetze niemals scharf auf den konkreten F all zu passen scheinen, gleich als wären sie nur annähernd erfüllt. M an vergißt nur zu leicht, daß Gesetze allein den Prozeß noch nicht ausmachen, daß sie nur ein Schema find, das Allgemeine in ihm, daß sie überdies nicht iso­ liert austreten, und daß wir mit menschlichen M itteln den vollen Zusam-

menhang der Faktoren nicht übersehen. Und dann ist man geneigt, das W alten der Gesetze herabzusetzen. D as ist ein verhängnisvoller Irrtu m : die scheinbar abweichenden Fälle entsprechen den Gesetzen sehr wohl — nur eben nicht ihnen allein, und vor allem nicht einem einzelnen allein, das man gerade im Auge hat.

c. Das Mathematische im Naturgesetz. Ontisches Sohärenverhältnis

D as eigentlich Wunderbare an den Naturgesetzen ist nun ohne Zweifel ihre mathematische Struktur. An dieser hängt ihre relative Einfachheit, ihre weitgehende Erkennbarkeit, sowie die großartige Möglichkeit, das für den äußeren Anblick verwirrende Gefüge der Naturvorgänge selbst ver­ möge des Einblicks in ihre Gesetzlichkeit nicht nur zu entwirren, sondern auch exakt zu erfassen. Denn nicht so sehr der Kausalfaktor, geschweige denn er allein, ist Grundlage des exakten Erfassens, sondern vor allem der mathematisch-quantitative Eharakter der Naturgesetze. An ihm hängt der Apriorism us im Naturerkennen. E r ist leicht kenntlich an der strikten Allgemeinheit der Einsichten, desgleichen am Gelingen der Vorwegnähme, der Voraussage und der Berechnung überhaupt. Zweimal in der Geschichte ist dieses Wunder entdeckt worden. Erst im Altertum bei den Pythagoreern, dann in der Entstehung der neuzeit­ lichen Naturwissenschaft. Beidemal w ar die neue Einsicht epochemachend, obgleich sie im Altertum nicht auf einen klaren Begriff des Naturgesetzes hinausgeführt hat. Beidemal hat sie zu bedeutenden Entdeckungen ge­ führt. N ur die noch in den Anfängen liegende Mathematik der Alten vermochte sie nicht auszuwerten. Die Erundtatsache, die hier erfaßt wurde, ist diese, daß die Naturverhältnisie und Prozesie sich nach mathematischen Größenverhältnissen richten, sich also auf mathematischer Gesetzlichkeit aufbauen. Die Pythagoreer sagten: die Prinzipien der Zahlen sind zu­ gleich Prinzipien alles Seienden. Die Behauptung ging zwar viel zu weit, denn Gültigkeit hat sie nur in der anorganischen Natur. Aber sie sprach die erstaunliche Tatsache doch wenigstens klar aus. Und warum ist denn eine solche Entdeckung epochemachend? Darum, weil die Mathematik ein eminentes Erkenntnismittel ist, einzigartig an Genauigkeit und Tragkraft. Denn die Gesetzlichkeit der reinen Mathematik ist uns a priori gegeben, oder soweit nicht gegeben, doch a priori auf­ findbar. S ie ist als solche durchaus keine Realgesetzlichkeit. I h r ist es an sich äußerlich, daß sie die Naturprozesie beherrscht. Aber für die N aturprozesie ist das nicht äußerlich, sondern höchst charakteristisch. Und vollends ausschlaggebend ist es für die Natur-Erkenntnis. N ur so kann diese eine

33. Kav. Das Naturgesetz und seine mathematische Struktur

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exakte sein. Denn nur die mathematischen Verhältnisse sind unserem Ver­ stände a priori zugänglich (d. h. rein in sich selbst einsichtig). D as ontologische Verhältnis, das sich in dieser Sachlage birgt, ist nicht einfach und kann auch an dieser Stelle nicht ausführlich zur Darstellung kommen, weil es nicht die mathematischen Verhältnisse allein betrifft (das Nähere vgl. in Grundlegung, Kap. 41—45). Die mathematischen Gegenstände haben ihre eigene, schwer faßliche Seinsweise. Diese ist keine reale, aber doch auch nicht eine, die im S in n des Gedankens oder des Begriffs aufginge. Sie ist „ideales Sein", und die Gesetze dieser Gegen­ stände find Gesetze einer idealen Seinssphäre. So wenigstens stehen sie ursprünglich da. Aber sie bleiben darauf nicht beschränkt. Nach zwei Seiten greifen sie determinierend aus andere Sphären über: auf das denkende Erkennen einerseits und auf die Reakverhältnisse der N atur andererseits, soweit diese quantitativ sind. 3m letzten Grunde determinieren sie beide M ale ein Reales. Denn auch das denkende Erkennen ist ein Realprozeß sui generis, der in der Zeit fort­ schreitet und seine geschichtlich einmaligen Etappen hat, — ein Prozeß, der ja neben der logischen und der ihr verwandten mathematischen auch noch andere Gesetzlichkeit hat (die psychische z. B .), wobei diese Eesetzesgruppen sogar in einen gewissen Konflikt miteinander geraten. Denn das Denken ist nicht von Hause aus logisch oder gar mathematisch, sondern muß sich zu bestimmten Zwecken der Erkenntnis erst dazu erheben. D as ist geschicht­ lich und selbst noch im Bewußtsein des Einzelnen ein langer Prozeß der Klärung, W ung und Bildung. Setzt man aber diese Erhebung des Bewußtseins voraus, so trifft an den mathematischen Gesetzen in einzigartiger Weise die Kantische Forde­ rung der Id en tität von Erkenntnisprinzipien und Seinsprinzipien zu, jene kategoriale Grundrelation, auf der die „objektive Gültigkeit" apriorischer Erkenntnis beruht. Darum ist die teilte Mathematik das klassische Feld des Apriorismus. M ittelbar aber gilt das auch von der mathematischen Naturwissen­ schaft, und zwar ebendeswegen, weil die mathematische Gesetzlichkeit aus ihrer Sphäre nicht nur ins Denken, sondern auch in die Naturverhältnisse hinübergreift. Und erst hier kommt das Ganze dieses Seinssphären­ zusammenhanges zu seiner vollen Bedeutung. Denn auf die Erkenntnis realer Naturverhältnisse kommt es letzten Endes an. Und soweit diese Erkenntnis eine mathematische ist, trägt sie den mit Recht bewunderten Eharakter der exakten Wissenschaft, auf der alles tiefere Eindringen in die Geheimnisse der anorganischen Natur, alle Naturbeherrschung größeren S tils, ja selbst die Erschließung ganzer Eegenstandsgebiete beruht. H a r t m a n n . Philosophie der Statut

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d. Stellung des Mathematischen im Schichtenverhältnis der realen Welt

D a nun das Sphärenverhältnis mehr ein solches der Phänom en­ gruppen ist und stch auf das ontisch fundamentalere Verhältnis der Seins­ schichten zurückführen läßt (Aufbau, Kap. 22 a— c), so muß man suchen, die gefundene, sehr merkwürdige Stellung des Mathematischen in drei verschiedenen Sphären auf eine solche der Wiederkehr im Schichtenbau der W elt zu reduzieren. Das ist in der T a t möglich und steht etwa fol­ gendermaßen au s: Mathematische Prinzipien sind von Hause aus Prinzipien einer weit niederen und elementareren Seinsschicht als selbst die niederste R eal­ schicht, die des Physischen. Sie stehen darin den Fundamentalkategorien nah, daß sie keinen eigenen Seinsbereich des Realen haben. Sie dringen nach dem Gesetz der Wiederkehr in die nächsthöheren Seinsschichten durch, aber nur so weit, wie das vollständige llberformungsoerhältnis der Schichten reicht. J a , eine wirklich beherrschende Rolle spielen sie nur in der untersten Realschicht, der des Physischen. Schon im Organischen ist ihr Anteil am Aufbau der Gebilde von untergeordneter Art. Dann brechen sie ganz ab — zusammen m it dem Raume, der substrathasten Substanz u .a . m. Aber sie teilen die Eigenart der Raumkategorie, sie kehren nach Lberspringung des seelischen Aktgefüges im bewußten Geiste wieder, nicht zwar als feine Realkategorien, wohl aber als bloße Jnhaltsprinzipien. Der Unterschied vom Raume ist nur der, daß sie nicht wie er auf den niederen Stufen des erkennenden Bewußtseins auftauchen, nicht also in der Anschauung und im Erleben, desgleichen nur schwach angedeutet im Vorstellen, sondern erst weiter oberhalb, im denkenden und begreifenden Erkennen. Hier treten sie dafür um so mehr beherr­ schend auf, je reiner das Begreifen sich herausbildet. Und weil sie im Geiste nicht der Anschauung, sondern dem Begreifen angehören, so treten sie auch nicht wie Raum und Zeit „abgewandelt" auf, sondern durchaus unverändert und in ursprünglicher Gestalt. Frei­ lich bezahlen sie das mit dem Nachteil, dem Geiste nicht unmittelbar „gegeben" zu sein, sondern von ihm erst in einem umständlichen und geschichtlich langatmigen Prozeß erarbeitet werden zu müssen. Die geistige Arbeit, die hierbei geleistet werden muß, ist nichts Geringeres als die Wisienschaft der Mathematik. Der S tand dieser Arbeit ist in mehr als einer Hinsicht ausschlag­ gebend für den Erfolg des Gesetzesdenkens in der Naturwissenschaft einer bestimmten Zeit. E r w ar bei den Alten im ganzen noch ein niedriger

und konnte darum der Erforschung eigentlicher Naturgesetze kein kraft­ volles Instrum ent darbieten. E r war aber auch im Beginn der Neuzeit noch keineswegs an die Probleme herangewachsen, vor welche die neue Beobachtungstechnik den Mathematiker stellte. Darum ist es so gekommen, daß die großen Pioniere der Physik zuerst die mathematische Arbeit mit auf sich nehmen und vortreiben, kurz sich die neue Mathematik erst schassen mußten. Und wo sie es nicht selbst taten, da taten es zwar die zeitgenössischen Mathematiker, aber auch sie eben doch wesentlich bestimmt durch den Hochdruck der immer weiter sich verzweigenden und vertiefen­ den Probleme der Physik. M an darf sich also von mathematischem „Apriorismus" keine falsche Vorstellung machen. Die Gesetze der Mathematik fliegen dem mensch­ lichen Denken nicht mühelos zu; sie sind auch keineswegs jedem begreif? bar, sondern nur dem, der die nötige Energie des Begreifens wirklich aufbringt. Der Apriorismus hat hier überhaupt nur den Sinn, daß nicht die Erfahrung sie lehren kann, weil Erfahrung die strenge und objektive Allgemeinheit nicht gewährleistet. E r bedeutet nicht, daß jedermann die mathematischen Gesetze müsse einsehen können. N ur eben: wo diese Gesetze eingesehen werden, da werden sie unmittelbar an den mathematischen Zusammenhängen selbst eingesehen,- dann aber wird auch ihre Wesensnotwendigkeit mit eingesehen. Diese Allgemeinheit und Notwendigkeit ist es, die sich durch den mathematischen Einschlag der Naturgesetze auch aus deren besonderen In h a lt und desgleichen in der Naturwisienschaft auf die exakten Formu­ lierungen und symbolischen Formeln der Gesetze überträgt. I h r verdankt die Naturwisienschaft ihre überragenden Erfolge. Sie verdankt sie also, recht verstanden, sehr wohl dem Einschlag des Apriorischen, mit dem sie arbeitet, wenn auch gewiß nicht ihm allein. D as stimmt gut überein mit dem, was oben über die Gewinnung des Allgemeinen in der Wisienschaft gesagt wurde: es stammt nicht aus der Induktion, die Induktion setzt es vielmehr voraus (Kap. 32 c). Hier aber haben wir den Punkt, an dem das Denken sich seiner versichert, um es in der Induktion voraussetzen zu können.

e. D as Geheimnis der exakten Wisienschaft

Auch hierbei aber muß man sich aller Überspitzung und allen Über­ schwanges entschlagen, mutz die Sachlage in voller Nüchternheit nehmen. Wenn es schon wahr ist, daß die Wunder der großen Entdeckungen, der Boraussage, der Naturbeherrschung hier ihren Ursprung haben — etwas,

betn andere Wissenszweige kaum etwas an die Seite zu stellen haben —, es folgt doch daraus nicht, wie die frommen Forscher des 17. J a h r ­ hunderts meinten, daß die Mathematik die höchste Wissenschaft sei, eine Wissenschaft vom Vollkommensten, gleichsam vom „Göttlichen" in der N atur. D as ist im Grunde Pythagoreertum; und am stärksten hat viel­ leicht der Plätonism us zu diesem Irrtu m beigetragen. Eher noch ist das Umgekehrte der Fall. Die Vollkommenheit der Mathematik ist ihre Exaktheit und reine Apriorität. I h r Gegenstand ist nicht der vollkommenste. Sie ist durchaus Wissenschaft vom Einfachsten und Elementarsten, also vom onttsch Niedersten. Gerade deshalb hat sie den Vorzug ihrer wunderbaren Rationalität. Und deshalb wird alles, w as durch fie faßbar wird, auch rational und durchdringbar — freilich stets nur so weit, als es wirklich mathematisch determiniert ist. Hier löst sich das Geheimnis der exaüen Wissenschaft. Sie ist in ihrer Weise wohl die vollkommenste Wissenschaft, die wir haben, aber nicht Wissenschaft von den vollkommensten Gegenständen. Exaktheit ist unserem Erkennen nur im Bereich des Quantitativen möglich, die Q uantität aber spielt die dominierende Rolle nur im niedersten Bereich des Realen. Und auch dieses Dominieren darf man nicht überschätzen. Es ist nicht so, daß die Naturgesetzlichkeit eine „rein" oder „bloß" mathematische wäre. S ie ist ebensosehr durch die anderen Kategorien ihrer Schicht mit­ bestimmt: Raum, Zeit, Prozeß, Kausalität; auch durch die spezielleren, von denen noch zu handeln sein wird, etwa das dynamische Gefüge, das dynamische Gleichgewicht u .a .m .; wozu dann noch die besonderen Dimensionen möglicher Q uantität kommen, die ja nicht selbst Q uantität find, sondern nur deren Bedingungen. D as Mathematische ist nur dasjenige kategoriale Element, welches die Gleichartigkeit in der Mannigfaltigkeit der Prozeße am weitesten bestimmt und deswegen auch am weitesten faßbar macht. Denn diese Gleichartigkeit hat die Form, daß immer eine bestimmte A rt von Größen in Abhängigkeit von einer anderen A rt von Größen steht, und daß diese Abhängigkeit in der einfachen und durchsichtigen Form der mathema­ tischen Funttion faßbar ist. M an sieht aber zugleich, daß das Dominieren des Quantitativen, in dieser Einschränkung verstanden, berechtigt ist, und daß die Rolle des Mathemattschen überhaupt in den Raturverhältnisien der für die exakte Wissenschaft ausschlaggebende Faktor ist. Hier eben setzt in ihr alles tiefere Eindringen ein. Und von hier aus gelingen dann jene ans Wunderbare grenzenden Vorstöße ins Unbekannte, deren Resultate weit entfernt find, bloß quantitative zu sein.

34. Kapitel. Klassische und statistische Gesetzlichkeit a. Die Funktion. Mathematische Form und Realität

E s ist nach dem Gesagten nicht schwer, das Unmathematische und das Mathematische in den Naturgesetzen voneinander zu scheiden. Zum ersteren zählen alle Dimensionen oder „Substrate" möglicher Erößenbestimmtheit, sowohl die primären und irreduziblen als auch die sekun­ dären, also außer Raum und Zeit auch Geschwindigkeit, Beschleunigung, Gewicht, Druck, Dichte, Temperatur und so fort durch alle Teilgebiete der Physik. Form al kann man das auch so ausdrücken: es gehört hierher das meiste, was in den mathematischen Formeln der Physik durch die Buch­ stabensymbole ausgedrückt wird. Verständlich find die Formeln auch durchaus nur, wenn man schon weiß, was diese Symbole heißen. D as Mathematische dagegen besteht in der Art, wie diese Größen verschiedener Dimensionen, bzw. ihre Zahlenwerte, aufeinander bezogen find. Wohlverstanden, nicht die bestimmten Größen- und Zahlenwerte im Einzelfall find Sache des Gesetzes, denn die variieren von F all zu Fall, in den Prozessen sogar von Augenblick zu Augenblick, sondern ledig­ lich ihre grundsätzlichen Verhältnisse zueinander, d. h. die Abhängigkeit der V ariabilität eines Faktors von der' eines anderen, oder auch mehrerer anderer. Denn diese grundsätzlichen Erößenverhältnisse find konstant in der Veränderung der Größen selbst. S ie in der zutreffenden Weise au s­ zudrücken ist Sache der mathematischen Funktion. I n die mathematische Form der Gesetze geht somit alles ein, w as den Eharakter von M aß und Größe hat. Doch ist damit noch wenig gesagt, denn M aß und Größe sind zunächst selbst etwas Statisches; und den Prozeß selbst, in dem die Größen fließend werden, könnte man mit so primitiven M itteln nicht fassen. Darum hat es sich in der Entwicklung der mathematischen Gesetzeswissenschaft wesentlich um die Frage gehan­ delt, „wie" denn eigentlich mathematische Bestimmtheit den Prozeß be­ herrschen kann. S ie beherrscht ihn freilich auf sehr eigene Art. Und diese A rt macht es schwierig, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Die mathematische Wissenschaft muß sie getreulich nachbilden, um sie zu treffen. S ie muß also das Größenverhältnis verflüssigen. D as geschieht in der Funktion, so wie das allgemeine Schema ihrer Formel es ausspricht: y = f (x). I n diesem fließenden Verhältnis nimmt y verschiedene Werte an, und zwar in strenger Abhängigkeit von den Werten, die x durchläuft. Ein solches

fluentes Verhältnis faßt sehr wohl etwas vom Wesen des Prozesses selbst, nämlich seine quantitative Seite, und zwar auch gerade sofern der Übergang der Werte von x und y ein stetiger ist. Genauer könnte man sagen: ein solches Verhältnis der Variablen faßt deswegen im Verstände den Prozeß, weil es vielmehr an sich im realen Prozeß als dessen quantitatives Gesetz besteht, sich in ihm erhält und in jedem Prozeßstadium mit veränderten Größen wieder erfüllt ist. E s ist das innere Verhältnis des Prozesses selbst, „sein" mathematisches Gesetz. Und es charakterisiert ihn, soweit er in der abhängigen Erößenoeränderung besteht. Die Funktion geht nicht darin auf, Gedanke zu sein. Gewiß ist sie Sache der Wissenschaft, aber nicht nur das. Sie ist darüber hinaus die mathematische Seinsform des im Prozeß sich erhaltenden Erößenverhältnisses; und dieses ist durchaus ein Realverhältnis. Sonst ginge es dabei ja nicht um den Naturprozeß, sondern bloß um einen Gegenstand der reinen Mathematik. Dieses Realverhältnis aber ordnet sich in der Weise den auftauchenden und verschwindenden Größen über, daß sie in jedem Moment des Prozesses durch das Gesetz bestimmt sind. Hierauf beruht die Möglichkeit der Vorausberechnung eines laufenden Prozesses von einem gegebenen Stadium aus. b. D as Kontinuum der Bewegung und das Jnfinitesimalvrinziv

Von Anbeginn w ar dieses Verhältnis, an dem ja die wichtigsten Auf­ schlüsse hängen, voller Rätsel. Und die Rätsel wurden nicht geringer da­ durch, daß in dem großen Siegeslauf der Mathematik feit dem 17. J a h r ­ hundert die erfolgreichen Rechenmethoden über sie hinwegschritten. Die praktisch entscheidenden Operationen mochten den Ansprüchen der Wissen­ schaft an die Genauigkeit sehr wohl entsprechen, die Theorien konnten sie deswegen doch nicht so leicht befriedigen. Bereits unter den Pionieren der Mathematik selbst, so vor allem bei Leibniz, wurden die theoretischen Grundfragen laut, auf die der Gedanke hier gleich an der Schwelle der Überlegung stößt. Wie können denn von einem Moment der Bewegung aus die übrigen Stadien bestimmt sein, da doch die Momente selbst ohne Grenze inein­ ander überfließen? Und in diesem überfließen besteht doch gerade der Vorgang. Die Größen müssen offenbar selbst im stetigen Fluß sein — in der Weise, wie die Koordinaten einer Kurve sich stetig ändern —, wäh­ rend ihr V erhältnis sich erhält. D as setzt voraus, daß die Erößenunterschiede ins Unendlichkleine zusammenrücken, wo sie dann in das reine Continuum hinein „verschwinden". Es liegt dann also die Voraussetzung zugrunde, daß der Vorgang selbst ein ins Unendliche teilbares und aus

unendlichkleinen Elementen sich aufbauendes Ganzes ist. Alle Großen in ihm wachsen aus Inkrementen hervor, die selbst keine eigentlichen Größen mehr sind. D as bestimmte Quantum baut sich aus dem „non quantum " auf. M an steht hiermit genau bei den klassischen Bestimmungen Leibnizens. Der Kalkül faßt das Erößenhafte im Verschwinden, im Status evanescens, gesehen von der endlichen Größe her. Dieses „Sehen" aber ist bloß das unsrige, und gerade das nicht mehr faßbare Endglied der vom Endlichen herkommenden Sicht ist ontisch das Ursprüngliche, das wirk­ liche Element des Erößenhaften. M an kann also auch sagen, es ist die Größe im Status nascens. So sind z. B. die Inkremente der Geschwindigkeit in der gleichmäßi; beschleunigten Bewegung in der T at „verschwindend" klein, da die be­ schleunigende K raft andauert und in jedem kleinsten Zeitelement den gleichen Zuwachs an Geschwindigkeit hervorbringt. Aber eben deswegen sind sie echte Elemente, aus denen sich die resultierende Geschwindigkeit „aufbaut". M an kann dieses Sich-Aufbauen auch mehr kausal fasten: die Inkremente spielen hier die Rolle von Teilursachen und wirken als solche fort. Die jeweilige Geschwindigkeit ist dann ihre integrierte Eesamtwirkung. Das Bild vom status nascens trifft also sehr buch­ stäblich zu. D as Differential als Aufbauelement ist daher weit entfernt, ein bloßer Begriff der Theorie oder der Rechnung zu sein. E s ist gerade das eigentliche Realelement des Vorganges selbst. Freilich ist es nicht ein Element, das auch frei für sich außerhalb des Prozesses bestünde; und insofern ist es auch wiederum nicht Element. Im Hinblick auf diese Sachlage kann man in dem neukantischen Gedanken der „infinitesimalen R ealität" etwas durchaus Berechtigtes erblicken; nur freilich handelt es sich nicht, wie man damals meinte, um die sekundäre R ealität „im Denken", sondern gerade um die primäre des Realvorganges selbst, und der Gedanke ist es, der auf die Negation seiner Begriffe angewiesen ist, um sich ihr zu nähern. Der Jnfinitestmalkalkül ist die Annäherung des Begreifens an das Reale, weil er Annäherung an das Continuum ist. Und so allein ist sein durchschlagender Erfolg in der exakten M stenschaft verständlich. Die eigentliche Rechnung erreicht das Reale des Vorganges selbst nicht. Sie zielt nur int Prinzip darauf ab, aber das Rechnen bleibt am Endlichen hängen. E s substituiert ein Endliches und wählt es „genügend klein" für ihre Zwecke. Die Rechnung nimmt den Fehler m it hinein in ihr Resultat, kann ihn aber beliebig klein machen. Auch sie faßt das Eontinuum nicht streng, sondern nur genähert. Die Näherung selbst aber ist durchaus „reell".

I m übrigen muß man sich klar darüber feilt, daß das R ealitätsgewicht der Naturgesetzlichkeit nicht nach den Grenzen der Berechenbar­ keit eingeschätzt werden darf. Die Rechnung dringt zwar weit vor, aber fie erschöpft nicht die Tiefe der mathematischen Realstruktur in den Naturprozessen. Diese Struktur ist zwar noch die rationalste Seite am kategorialen B au der Bewegung und der Naturprozesse überhaupt, und darum haftet an ihr das Eefüge der exakten Wissenschaft; aber auch sie ist schon in fich selbst von einer gewissen Tiefe ab irrational. S ie ist es deswegen, weil auch die teilt mathematischen Prinzipien einen irratio­ nalen Kern enthalten.

c. Die Vereinfachung und der hypothetische Einschlag in der Eesetzeswissenschaft

I n jedes Gesetz gehen Konstante und Variable ein. Nicht das Ver­ hältnis allein ist konstant, sondern auch gewisse Elemente des Verhält­ nisses (und das sind nicht nur die sehr ausfallenden Faktoren „K“, die einen bestimmten Zahlenwert haben). Wo die Konstanten ganz fehlen, ist keine Bestimmtheit des Verhältnisies; wo die Variablen fehlen, ist keine Veränderung und kein Prozeß. Nun hängt die R ationalität (die Berechenbarkeit) an den konstanten Elementen, die Irratio n alitä t an den V ariablen; und zwar steigt fie hier mit den Stufen der V ariabili­ tä t selbst, also mit den Ordnungen des Differentials. Die Irratio n alität steigt also mit der Zahl der Variablen und der Komplexheit ihrer Ab­ hängigkeit. J e leinfacher die Funktion ist, je weniger Variable in fie eingehen, um so übersichtlicher ist die Gesetzlichkeit, um so leichter berechenbar der Realfall; aber auch um so monotoner, ärmer, schematischer ist der Prozeß. M an kann auch sagen, um so geringer ist die Mannigfaltigkeit, die in dem Gesetz gefaßt ist; oder auch, um so abstrakter ist in dem Gesetz das Reale des Vorganges erfaßt. Und umgekehrt: je komplexer die Funktion ist, je vielfältiger die Ordnungen der V ariabilität sich in ihm über­ höhen, um so schwerer faßbar und weniger formulierbar ist das Gesetz; aber auch um so reicher und differenzierter ist der Prozeß, den es faßt, und um so konkreter läßt sich unter ihm das Reale fasten. J e tiefer hinein in die Verflochtenheit der Naturgesetze wir ein­ dringen, um so mehr lösen sich wohl ganze Problemgruppen, aber um so mehr wachsen auch die neu auftauchenden Rätsel an. W as in den An­ fängen der Üastischen Mechanik der Stolz der Wissenschaft war, alles aus Gesetzen heraus „erklären" zu können, das versagt nach und nach mit der Tiefe des Eindringens. Im m er mehr müssen schon im Ansatz der Gleichungen vereinfachende Annahmen gemacht werden; man denke z. B.,

wie die Strahlungsgesetze an der Voraussetzung des sog. „schwarzen S trahlers" hängen, die doch schwerlich auf die große Menge der strah­ lenden Körper im W eltall genau zutreffen kann. M an bleibt mehr und mehr in der Annäherung stecken, und die Fehlergrenzen lassen sich ent­ sprechend weniger einengen. Dennoch wird mit dem Unsicherheitsfaktor die Analysis nicht illusorisch. Vielmehr haben wir Grund anzunehmen, daß wir uns bei allem hypo­ thetischen Einschlag und aller Gewagtheit gewisier Extrapolationen doch dem vollen Gehalt des Realprozesies nähern. Die Anzeichen dafür liegen in den immer wieder neu auftauchenden Phänomenbereichen, die der Deutung zugänglich werden. Es scheint, je mehr der Gedanke im Prinzip Irratio n ales aufnimmt, um so mehr schränkt er das Irratio n ale des Gegenstandes ein, und um so durchschaubarer wird dieser ihm in seinen prinzipiellen Zügen. Das ist der S in n des unvermeidlich spekulativen Einschlages in der theoretischen Physik. Bei dieser A rt des Vordringens gerät man in ein überaus komplexes Gefüge von Gesetzen. Und gerade hier nun, wo die vollständige Erfassung auf uniibersteigbare Grenzen stößt, steht man vor dem eigentlich Realen der Prozeßformen. Denn gerade das einzelne Gesetz, aus dem Zusammen­ hang gerissen, besteht nur in der Abstraktion. I n der N atur gibt es keine für sich bestehenden Einzelgesetze, nur der Verstand reißt sie von­ einander los zum Zweck sseiner Methoden. Aber die Methoden eben machen Abstriche an der konkreten Fülle der Realprozesse. E s ist hiermit ähnlich wie mit der Kausalität: auch da gibt es weder vereinzelte Ursachen noch vereinzelte Kausalfäden, sondern nur die komplexe Gesamt­ ursache und den komplexen Kausalprozeß. Derselbe Eesamtprozetz unter­ liegt aber auch dem Geflecht der Naturgesetze. Und dieses ist ebensowenig auseinanderzureißen wie die einheitliche Kausalstruktur. I n der N atur gibt es keine halbe Determination, sondern nur voll­ ständige und allseitige, und zwar ebensowohl der Kausalität wie der Gesetzlichkeit nach. Wenigstens haben wir keinen Grund, irgendwo Lücken anzunehmen, auch dort nicht, wo in den Hochkomplexen Gebilden die Gesetzlichkeit ungreifbar wird. Daß sich von einer gewissen Tiefe ab für unser Schauen alles in unübersehbare Mannigfaltigkeit verliert, bedeutet demgegenüber nur eine bestimmte Art von Irratio n alitä t, und zwar auch gerade eine solche der Gesetzlichkeit selbst. Die Gesetzlichkeit ist zwar die rationale Seite der Naturvorgänge. Aber auch sie ist keineswegs absolut rational. I n diesem Zusammenhang verlohnt es sich, noch einmal auf die ver­ breitete Auffassung einzugehen, daß die Realfälle sich ja gar nicht „streng" nach den Naturgesetzen richteten, sondern immerfort Ab-

weichungen zeigten. D as Wahre daran ist, daß das einzelne Gesetz nur einen Jdealfall zum Ausdruck bringt, in dem von allem übrigen abge­ sehen ist, was sonst noch hineinspielt. Diesen Jdealfall gibt es in der T at nicht in der N atur. So ist das Keplersche Ellipsengesetz in keiner wirklichen Planetenbewegung rein dargestellt; dazu müßten die Masten in einem Punkt vereinigt sein, und keine Gravitation als die der Sonne und des Planeten selbst dürste Hineinspielen, — Bedingungen, die nie­ m als erfüllt sind. So gibt es auch den absolut „freien F all" Galileis nicht in der N atur; der Luftwiderstand modifiziert ihn, und die beschleuni­ gende Kraft wächst mit abnehmender Entfernung vom Erdzentrum. S ind deswegen die Gesetze in den Realvorgängen nicht erfüllt? Sie find sehr wohl erfüllt. Sie sind nur nicht das allein Determinierende. Die gegebenen Realfaktoren im Einzelfall sind viel komplizierter, als ein einzelnes Gesetz sie fasten kann; sie bilden ein komplexes Geflecht, und die Art, wie sie sich auswirken, unterliegt ebenso strenger Gesetzlich­ keit (zum Teil derselben, zum Teil auch ganz anderer). Fiele ein Stein ungeachtet des Luftwiderstandes genau nach der Formel des freien Falles, so wäre dann gerade in seinem Fallen das Gesetz verletzt und der F all wäre unbegreiflich. Liefe ein P lan et int Sonnensystem genau auf der Keplerschen Ellipse, als wären er und die Sonne allein da und die Masten beider in je einem Punkte vereinigt, so wären vielmehr eben die Keplerschen Gesetze verletzt. Denn gerade nach ihnen müssen die „Stö­ rungen" auftreten. Die Konsequenz ist schlagend: w as wie „Abweichung" vom Gesetz aussieht, ist unter Berücksichtigung aller Faktoren gerade die genaueste Erfüllung des Gesetzes. E s ist unbillig, nach einer anderen, vermeintlich genaueren Erfüllung auszuschauen. Nicht nur, daß das einzelne N atur­ gesetz nicht isoliert auftritt, daß wir es also stets nur in der Kohärenz der Gesetze antreffen; sondern es realisiert sich ja überhaupt nur in der vollen Mannigfaltigkeit vielfpältiger Realbedingungen, die den Einzel­ fall ausmachen. I n solcher Mannigfaltigkeit aber ist das Bewirken ein individuelles. d . Statistische Gesetze und Naturgesetze

Soweit entspricht der entwickelte Gedanke des Naturgesetzes den An­ schauungen der klastischen Physik. M it dem Übergang von den molaren zu molekularen und atomaren Prozesten ändert sich das Bild. E s wurde schon oben gezeigt, warum dieser Übergang nicht so sehr den kausalen Charakter der Prozeste betrifft als vielmehr ihre Gesetzlichkeit. Denn in der T at lasten sich die kleinsten Teilprozeste, zu denen die Analyse vor­ dringt, nicht unter den Gesetzen der klastischen Physik erfasten.

D as braucht noch nicht zu bedeuten, daß hier keine Gesetze herrschen. Und selbst wenn es das bedeutete, so fiele damit doch nur die Gesetz­ lichkeit des Geschehens in den mikromechanischen Prozessen fort, ihre Typik und mit ihr das, worauf sie beruht, die Wiederkehr der gleichen llrsachenkomplexe. W as übrig bliebe, wäre auch dann noch die kausale Folge. Sie wäre nur so hoch individualisiert, daß die Abläufe keine Typik mehr zeigen könnten. Tatsächlich aber bleibt hier doch noch viel mehr bestehen. Denn wenn sich au s den atomaren Vorgängen beobachtbare molare Erscheinungen aufbauen, die ihrerseits eine durchaus strenge Gesetzlichkeit zeigen, so können die ersteren nicht vollkommen gesetzlos sein. Und wenn sich weiter zeigt, daß die in dieser Weise fundierten Gesetze sich dergestalt den Ge­ setzen der klastischen Physik nähern, daß in weitgesteckten Grenzen sogar „Äquivalenz" zwischen diesen und jenen angenommen werden kann, so ist es klar, daß die unbekannten Gesetze der atomaren Prozesse mit denen der klastischen Physik in einem ontisch bestimmten Verhältnis stehen müssen. Wie weit sich dieses ontische Verhältnis auch wissenschaft­ lich fassen läßt, das freilich ist eine Frage, die nicht mehr am Seins­ verhältnis allein hängt, sondern auch an den besonderen, nur hier auf­ tretenden Erkenntnisbedingungen. W as sich in der quantenmechanischen Überlegung wirklich radikal ändert, ist die Auffassung des Prozesses selbst. Der Naturprozeß ist hier nicht mehr der stetige Übergang, wie er der älteren Physik auf allen Gebieten vorschwebte. Sein Continuum ist aufgehoben. E r verläuft in kleinsten Sprüngen, die aber durchaus endliche und angebbare Grössen sind. Unter das M aß der letzteren, als der unteilbaren Energiequanten, finkt die Abgabe von Energie nicht herab. Damit entfällt die Aufgabe der Funktion, das Continuum zu fassen. Und an ihre Stelle tritt die andere Aufgabe: aus der Regellosigkeit der Teilprozesse die einheitliche Bestimmtheit des Eesamtprozestes wiederzugewinnen. Die Theorie bringt das mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung zuwege. Sie geht von der „Regellosigkeit" der mikromechanischen Prozesse aus, setzt aber dabei die Gleichmäßigkeit in der Verteilung der Möglich­ keiten voraus (z. B. die der Richtungen und Geschwindigkeiten der Atombewegungen in einem Gase). Unter diesen Voraussetzungen macht sie den Überschlag über eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von Einzel­ prozessen und gelangt zu Resultaten, welche die Form von „statistischen Gesetzen" haben. Das find nicht etwa Gesetze der Statistik. Diese sind rein mathema­ tischer N atur und find im Verfahren der Statistik bereits vorausgesetzt. Denn sie machen dessen apriorische Bedingung aus. Gesetze, zu denen

das statistische Verfahren gelangt, treten vielmehr mit dem Anspruch auf, Gesetze der N atur darzustellen, auch wenn fie diese nur genähert treffen. Eines aber ist für ste charakteristisch: fie find nicht Gesetze der mikro­ mechanischen Einzelvorgänge als solcher, sondern nur Gesetze des Durch­ schnittes. Die Einzeloorgänge können weit von ihnen abweichen; ste unterliegen der „Streuung" um das Maximum der Häufigkeit herum; wobei aber wiederum die Streuung nicht willkürlich ist, sondern ihrer­ seits einer bestimmten Gesetzlichkeit folgt, welche die Form einer Häufig­ keitskurve annimmt und daher selbst genähert bestimmbar ist. Die gewonnenen „statistischen Gesetze" stellen somit wohl N atur­ gesetzlichkeit dar, aber fie find selbst nicht ohne weiteres Gesetze der P ro ­ zesse. Sie treffen etwas sehr Bestimmtes und Wichtiges an den unmittel­ bar nicht greifbaren Kleinprozessen. Aber fie treffen nicht direkt auf diese selbst zu, sondern eben nur auf ihren Durchschnitt. Es wäre ja auch Mißbrauch des W ortes, sie direkt für Naturgesetze zu erklären; denn nicht die N atur treibt Statistik, sondern der Mensch in seinen Berech­ nungen. Wohl aber muffen sie zu den wirklich waltenden Naturgesetzen in irgendeiner engen Beziehung stehen. Sonst könnten fie auch einen Durchschnitt nicht treffen. Und wenn sie ihn nicht träfen, könnten fie sich in der Deutung der Phänomene nicht bewähren. D as ist der Grund, warum fie mit Recht als Näherungsbestimmungen echter Naturgesetze gelten dürfen.

e. Regellosigkeit und Gesetzmäßigkeit. Das Konvergenzphänomen Wichtig ist hierbei natürlich, daß die mathematischen Gesetze der Statistik selbst vollkommen objektive Gesetze sind. Der Begriff der W ahr­ scheinlichkeit, der sich mit dieser A rt Rechnung verbunden hat, bringt das nur schlecht zum Ausdruck. Die Wahrscheinlichkeit bezieht sich ja nur auf den Einzelfall, dem aber gelten die „statistischen Gesetze" nur mittelbar. Unmittelbar gelten sie durchaus nur dem Durchschnitt, und gerade auf den Durchschnitt kommt es für die Beurteilung der Eesamtphänomene an. F ü r den Durchschnitt aber gilt das Gesetz, daß die Streuung der Größen in gleichartigen Vorgängen auf eine feste Größe zu konvergiert, — eine Konvergenz, die mit wachsender Anzahl der Fälle immer greifbarer hervortritt. M an kann in diesem Konvergenzphänomen — auch „Gesetz der großen Zahl" genannt — das deutliche Anzeichen dafür erblicken, daß die „Regellosigkeit" oder „Zufälligkeit" der mikromechanischen Vorgänge nicht das Fehlen aller Gesetzlichkeit bedeutet. Wie hinter der scheinbaren Undeterminiertheit ein grundsätzlich durchaus noch faßbares, wenn auch

nicht empirisch aufweisbares Kausalverhältnis steht (Kap. 30 6, e), so mutz auch hinter der scheinbaren Regellosigkeit eine verborgene Gesetz­ lichkeit stehen. Anders könnten die Resultate statischer Berechnung keine Konvergenz auf bestimmte Größen zeigen. Die Statistik spricht denn auch dort, wo ste von „zufälliger Verteilung" ausgeht, ganz unbe­ fangen von „Gesetzen des Zufalls", die in eben dieser Berteilung bereits enthalten sein müssen. Die scheinbare Paradoxie darin hebt sich ganz von selbst auf, sobald man überlegt, daß ja gerade das allseitig kausal Deter­ minierte das „Zufällige" ist (Kap. 28 d). E s bestätigt sich auch auf diese Weise, daß die sog. „statistischen Gesetze" zwar nicht selbst die Gesetze der Realvorgänge find, auf die ste sich beziehen, wohl aber auf echte Realgesetze zurückweisen. Denn selbst im Überschlag über große Mengen von Vorgängen können sie nicht auf­ treten, wenn nicht in den Vorgängen selbst eine bestimmte Typik der Abläufe enthalten wäre, vermöge deren sich ein bestimmter Durchschnitt ergeben mußte. Die statistischen Gesetze bilden so eine A rt Surrogat, an das sich die Überlegung und Berechnung in Unkenntnis der wirklichen Prozeßgesetze hält. Die Berechenbarkeit bestimmter Größen auf statistischem Wege wäre gar nicht möglich, wenn es nicht eine durchgehende Gleichartigkeit in der Verteilung der Größen an den mikromechanischen Prozessen selbst gäbe. Die statistische Berechenbarkeit darf also als eine A rt Beweis für das Bestehen strenger Gesetze unterhalb der beobachtbaren Größenordnungen von Naturprozessen gelten. Von welcher A rt diese Gesetze sein müssen, läßt sich allerdings auf Grund solcher Überlegungen nicht dartun. Die Ablösung der klassischen Gesetze durch die „statistischen" verlegt also die eigentlichen Naturgesetze nur in eine größere Tiefe, verlegt sie gleichsam weiter zurück in das noch unbekannte „Innere der N atur". Dort sind ste den Methoden der direkten Erfahrung durch Beobachtung und Experiment nicht mehr zugänglich. Darum erscheint es auf den ersten Blick so, als würde die Naturgesetzlichkeit hier aufgehoben. I n der T at hat denn auch ein voreiliger Relativismus diesen Anschein ausgenutzt, um den Grundgedanken des Naturgesetzes überhaupt anzufechten. Vor einer nüchternen Überlegung halten solche Schlußfolgerungen nicht stand. W as hier wirklich geschieht, ist vielmehr nur die Auflösung der Makroprozesse in eine unübersehbare Menge von Mikroprozessen. Die Theorie geht damit zurück auf die natürlichen Prozeßelemente der beobacht­ baren Vorgänge. E s erweist sich hierbei, daß die seit langem bekannten und für fundamental gehaltenen Gesetze der beobachtbaren Makroprozesse auf diese Elemente nicht zutreffen. Die Regeln der greifbaren und meß­ baren Gesamtprozesse „reüssieren" nicht in den ungreifbaren Elementar-

Prozessen. Sie erweisen sich hier als bloße Oberflächengesetze des N atur­ geschehens. Als Grundgesetze verstanden, find sie selbst nur Surrogate, wennschon solche, die in ihren Grenzen durchaus zutreffen. N ur w ar das an ihnen selbst nicht unmittelbar sichtbar; die statistischen Gesetze haben ihnen gegenüber den Vorzug, daß die Inadäquatheit an ihnen sichtbar wird. Aber daß überhaupt Gesetze das Gefüge der Elementarprozesie be­ herrschen, wird durch sie in keiner Weise aufgehoben. Von hier aus gesehen gewinnt der umgekehrte Aspekt K raft: Die statistischen Gesetze gelangen näher an die wirklich waltenden Naturgesetze heran als die klassischen. I n diesem Sinne stellen sie diesen gegenüber geradezu eine höhere Klasse von Gesetzen dar, obgleich sie nicht den Einzel­ vorgang betreffen. S ie find eben trotzdem der adäquatere Ausdruck gewisser Gesetzmäßigkeiten im Naturgeschehen selbst. I h r Vorzug vor den klassischen Gesetzen liegt gerade darin, daß für ihre Fasiung und ihren Geltungs­ bereich die individuellen Vestimmungsstücke der Einzelvorgänge nicht ge­ geben zu sein brauchen. Diese Überlegenheit ist in der theoretischen Physik genugsam geltend gemacht worden. Und der Erfolg auf vielen Spezial­ gebieten hat sie bestätigt. An sich kann die Grenze, an welche die Theorie hier rührt, in zweierlei Weise aufgefaßt werden: entweder es steht hinter dem beobachtbaren V or­ gänge ein gesetzloses Geschehen (wenn auch nicht ein determinationsloses) oder es stehen andere unbekannte Gesetze dahinter. Im ersteren Falle könnte auch die Statistik keine annähernden Gleichartigkeiten aufdecken. Im letzteren Falle ist die Grenze nur eine Erkenntnisgrenze, nicht eine Seinsgrenze der Naturgesetzlichkeit. Solcher Grenzen kennen wir viele auf allen Wissensgebieten. Erkenntnistheoretisch wie ontologisch liegt in ihrem Austreten keine Schwierigkeit. E s wäre ja auch anmaßend, zu meinen, daß wir das Ganze der N atur schon durchschaut hätten, und daß es in ihr keine anderen Gesetze mehr geben könnte als die für uns kon­ statierbaren. W arum gerade hier eine Erkenntnisgrenze auftritt, läßt sich von der heutigen Problemlage aus nicht eindeutig entscheiden. Denkbar find dafür mancherlei Gründe. E s kann am Fehlen des geeigneten Ansatzes liegen» letzten Endes also an den Grenzen der Beobachtbarkeit. Es könnte aber auch an der grundsätzlichen Einseitigkeit liegen, mit der unsere N atur­ wissenschaft sich an die quantitative, meßbare und mathematische Seite der Erscheinungen hält. Diese ist zwar allein die a priori zugängliche, und darum die rationale Seite; aber ontologisch verstanden ist das M athe­ matische als solches doch nur die in die Naturverhältnisse hineinragende niedere Gesetzlichkeit; und die volle Naturgesetzlichkeit kann darum in ihr nicht aufgehen (Kap. 33 d).

35. Kap. Naturgesetzlichkeit als Erkenntniskategorie

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Ob hier eine Sackgasse der heutigen Naturwissenschaft sichtbar wird, wie man im antipositivistischen Lager anzunehmen geneigt ist, wäre ver­ früht, zu entscheiden. Aber denkbar wäre es, daß gerade die immer höhere Steigerung des ausschließlich Mathematischen in ihr die Gesetzlichkeit so hoch kompliziert erscheinen ließe. Vielleicht sind die wirklich waltenden Gesetze einfacher? Vielleicht bedarf es eines anderen Schlüssels zu ihrem Geheimnis? Freilich haben wir allen Grund, uns vor schnellen Ablehnungen zu hüten. Aber ganz von der Hand zu weisen ist eine solche Möglichkeit doch nicht. Die Geschichte hat Beispiele ähnlicher Verirrung. Bekannt ist die rein mathematisch ausgebaute Theorie der „Epizyklen" auf Ptolemäischer Basis, die immer komplizierter wurde, je genauer man den Phänomenen zu folgen suchte. Die Copernikanische Wendung brachte die einfache Lösung. Aber sie war keine mathematische, sondern eine Umorientierung der Gesamtanschauung. M it demselben Recht freilich läßt sich hier auch die umgekehrte Mög­ lichkeit geltend machen. E s könnte sein, daß auf diesem Grenzgebiet das Mathematische ganz vorherrscht und das Unmathematische — das Sub­ strathafte — bis zur Unkenntlichkeit zurückbleibt. Die Vielzahl heterogener Substrate, der wir in den beobachtbaren Vorgängen begegnen, schrumpft beim Übergang zu atomaren Prozesien schon ganz bedeutend ein; es bleiben nur einige wenige übrig, auf die sich nun alle Quantitätsbestim­ mung bezieht, und auch zwischen ihnen scheinen die Grenzen sich zu ver­ flüchtigen. So ist der Gegensatz von Korpuskel und Welle in der Atom­ physik fragwürdig geworden; wennschon eine zureichende Fassung dessen, was hinter beiden steht, noch nicht gelungen ist.

35. Kapitel. Naturgesetzlichkeit a ls Erkenntniskategorie a. Überspannung des Gesetzesgedankens in der Wissenschaft

I n der Erkenntnis spielt die Gesetzlichkeit eine breite kategoriale Rolle, aber nur in der denkenden und begreifenden Erkenntnis, vor allem in der wissenschaftlichen, nicht aber in der unmittelbaren und naiven Erkenntnis. S ie ist keine Kategorie der Anschauung und des Erlebens, geschweige denn der Wahrnehmung. Und geschichtlich tritt sie auch im wissenschaftlichen Erkennen erst spät auf. Freilich ist dann dieses ihr spätes Auftreten ein entscheidendes, dergestalt daß die Naturerkenntnis erst von diesem Punkte ab eine im engeren Sinne wissenschaftliche wird.

Is t aber das Naturgesetz einmal zum kategorialen Grundgedanken der exakten Wissenschaft geworden, so reißt es innerhalb ihrer auch alle I n ­ tentionen des Erkennens an sich und zeigt dann leicht das Gesicht einer „hybriden" Kategorie. D as geht bei ihm freilich in umgekehrter Richtung wie bei der Substanz. Dort zielt die Tendenz auf Berdichtung alles Fließen­ den zum beharrenden Substrat, hier geht sie auf die Auflösung aller Dinge in lauter Erößenverhältnisie. Dem entspricht die immer wieder von der exakten Wissenschaft ausgehende Bestrebung, das Reich der N atur ganz auf ein System von Gesetzen zurückzuführen. Der Grund dafür liegt wohl vor allem in der R ationalität des M athe­ matischen und in der ungeheuren Vereinfachung der Phänomene durch die Formentypik der Prozesse. Is t doch in dieser letzteren durch die Heraus­ hebung des Allgemeinen die uferlose Mannigfaltigkeit ausgeschaltet. Frei­ lich kommt damit zugleich eine gewisse Entfernung vom Realen zustande. Denn das Reale ist individuell. Solche Entfernung bleibt im Recht, solange sie ein Umweg bleibt, so­ lange man also in der Gesetzlichkeit den Charakter der Prozeßtypik fest­ hält. Verliert man darüber die Besonderheit der realen Abläufe ganz aus den Augen, so wird sie zur Abstraktion. Die exakte Wissenschaft ist durch die Selbstläufigkeit ihrer Methoden stets in einer gewissen Gefahr, die mathematischen Formeln für die Sache festst zu nehmen und so schließ­ lich n u r eine Handvoll „Schemata" möglicher Abläufe, oder gar ein System vorsichtig ausgewogener „Sätze" — denn Gesetze lassen sich formu­ lieren — zurückzubehalten. D as ist deutlich eine Überspannung des Eesetzesgedankens in der Wissenschaft. M an kann es auch eine Grenzüberschreitung nennen. Freilich wird hier nicht die Grenze der Schicht überschritten, wohl aber innerhalb der Schicht die Reichweite einer einzelnen Kategorie. — Daneben aber und gleichsam unterhalb der wissenschaftlichen Erkennt­ nisstufe gibt es auch eine noch allgemeinere Tendenz des begreifenden Denkens, alle Erfahrungsanalogie zu verallgemeinern und ungeprüft für eine A rt Gesetzlichkeit zu nehmen. O ft ist die Analogie eine äußerliche, bloß in der Erscheinung auftauchende P arallelität; das Denken, einmal auf solche Übereinstimmungen aufmerksam geworden, ist leicht geneigt, das einigemal Erfahrene für einen festen und notwendigen Zusammenhang zu nehmen. I n dieser Neigung liegt offenkundig eine unkritische Vorstufe des Gesetzesdenkens, die der Gefahr des Fehlgriffs in hohem Maße aus­ gesetzt ist. Dieses charakteristische Phänomen des auffassenden Bewußtseins liegt der bekannten Humeschen Assoziationstheorie zugrunde. Denn streng ge­ nommen betrifft diese nicht so sehr die Kausalität wie die Gesetzlichkeit.

35. Kap. Naturgesetzlichkeit als Erkenntniskategorie

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E s handelt sich in ihm nicht um das „Hervorbringen", sondern um Gleich­ artigkeit und Regelmäßigkeit; nur eine solche kann sich hinter der erfahrungsmäßigen Gewöhnung verbergen und von ihr vorgetäuscht werden. E s war die richtige Konsequenz, wenn Kant darauf mit seinen apriorischen „Analogien der Erfahrung" antwortete, deren besonderer In h a lt stets ein empirischer, deren Allgemeinheit aber eine überempirische ist; es war nur inhaltlich unzutreffend, wenn er dafür Substanz und Kausalität in An­ spruch nahm. Denn in Wahrheit handelt es sich bei den „Analogien" um nichts anderes als das Bestehen der Naturgesetzlichkeit.

b. Grenze des Apriorismus. Extreme der Theorie

Den Apriorismus in der Eesetzeserkenntnis genau auszuwägen — auf seine Grenzen gegen die Beobachtung hin, aber auch auf die seiner eigenen objektiven Gültigkeit hin —, bleibt eine Aufgabe von verwirren­ der Schwierigkeit. Sie läßt sich nicht generell lösen, es gibt hier kein ein­ faches Kriterium. Soweit der Apriorismus am Mathematischen hängt, haben wir wenig­ stens noch einen gewissen Anhalt. Aber genau ist auch hier seine Reich­ weite nicht vorgeschrieben: weder, wie sich gezeigt hat, „nach unten" auf die atomaren Prozesse zu, noch „nach oben" auf die Hochkomplexen Vor­ gänge zu, die an der Grenze des Organischen stehen und sich noch weit in dessen Bereich hinein erstrecken. M it hoher Gewißheit ist die mathematische Gesetzlichkeit nur in den mittleren Phänomenbereichen greifbar, in der Ebene der molaren P ro ­ zesse und verwandter Eegenstandsgebiete. Auch hier ist sie nur durch die allerdings erstaunliche Tatsache der Bewährung (z. B. in der V oraus­ sage und in der Technik) bestätigt. Sieht man von diesem mittleren A us­ schnitt ab, so muß man sagen: wir kennen die wirklich waltenden N atur­ gesetze nur in gewissen Annäherungen. Überhaupt find unsere wissenschaft­ lichen Formulierungen, „Sätze", Formeln nicht identisch mit den Real­ gesetzen der N atur; wie sie ja meist auch nur in gewissen Ausschnitten auf die Phänomene zutreffen. W ir kommen eben an den besonderen In h a lt der Gesetze nur induktiv heran. Und fraglich bleibt es stets, wie weit das Induzierte unter das allgemeine Gesetz der Gleichförmigkeit subsumierbar ist, d. h. wie weit es wirklich eine in den Naturgesetzen bestehende Gleich­ artigkeit trifft. Denkbar wäre es, daß wir mit unserer ganzen Eesetzeswissenschaft von den wirklichen Naturgesetzen nur wenig wissen. Vielleicht kennen w ir kein einziges wirklich waltendes Naturgesetz in seiner wahren Gestalt. D as würde noch keineswegs eine Auflockerung der Naturgesetze selbst bedeuten, sondern nur den Mangel des Wissens um sie. Darum besteht eine gewisse H a r t m a n n , Philosophie bet Natur

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Beweglichkeit der gedachten und geurteilten Gesetze der Wissenschaft gegen die Realgesetze der N atur. Sehr sichtbar wird diese Beweglichkeit im ge­ schichtlichen Wandel der Anschauungen, d. h. im Fortschreiten der exakten Wissenschaft selbst. Dieses Fortschreiten ist im günstigen Falle inhaltliche Annäherung an den Realbestand der Naturgesetze. Ausgeschlossen sind aber auch nicht Irrw ege und Sackgassen der Wissenschaft, in die sie sich verrennt und sich dann zeitweilig von der R ealität entfernt. Nicht zu verwundern ist es unter solchen Umständen, daß es in den Naturanschauungen dauernd ein Wechselspiel der Extreme gibt: die Über­ schätzung der mathematischen Gesetzlichkeit und die Unterschätzung. Die erstere haben wir in gewissen Richtungen des Pofitivismus und des neu« kantischen Idealism us, z. T. auch bei den Vertretern der theoretischen Physik selbst. Die letztere ist bekannt aus der Herabsetzung des Q uanti­ tativen zum Belanglosen, wie die geisteswissenschaftliche Kritik sie ver­ treten hat, und wie sie sich bis in sehr ernsthafte Tendenzen der Philo­ sophie hinein (Phänomenologie und Lebensphilosophie) geltend gemacht hat. Unter Gesichtspunkten der letzteren A rt sieht es so aus, als wäre die ganze mathematische Naturwissenschaft auch auf ihrem eigensten Gebiete nur „eine Weltansicht" neben andern. Glaubt man auf der einen Seite sie zum Vorbild aller Wissenschaft und aller Weltdeutung überhaupt machen zu müssen, so läßt man ihr auf der anderen kaum ihre Berechti­ gung auf Gebieten, an denen sie sich über alle kühnste Erw artung hinaus bewährt hat. Solche Extreme heben sich natürlich immer wieder von selbst auf. Aber in ihrer Zeit und in ihren Kreisen richten sie Verwirrung an. Und die Verwirrung muß jedesmal erst wieder entwirrt werden, um das natürliche Verhältnis und mit ihm die kategoriale Stellung des Eesetzesgedankens im erkennenden Bewußtsein wiederherzustellen.

c. „Gesetz und Tatsache." Verwürfelung der Sphären

Eine weitere irritierende Belastung liegt in der vielberufenen Rela­ tivität von „Gesetz und Tatsache". So wenigstens faßt man gerne er­ kenntnistheoretisch das Verhältnis. Aber es ist damit schon falsch gefaßt. Richt das Naturgesetz selbst ist relativ auf die Tatsache — d. h. auf einen begrenzten Ausschnitt des jeweilig Gegebenen —, sondern nur unsere Ge­ setzeskenntnis und Gesetzesformel. Die Entgegensetzung beruht also schon auf einer Metabasis. Natürlich handelt es sich nur um eine Korrelation in unserem Wissen. Diese ist gegeben durch die bekannte Zweiheit der Erkenntnipstämme: und da ist das gegenseitige Sichergänzen und Sichstützen von niemandem be­ stritten. Der Fehler kommt nur durch die Verwürfelung der Sphären

35. Kap, Naturgesetzlichkeit als Erkenntniskategorie

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hinein. M an begegnet z.B . solchen Sätzen: „Das Gesetz ist das Apriori der N atur" oder: „Die Natur hat ihre apriorische Grundlage in der Kor­ relation von Gesetz und Tatsache". W as hier gemeint ist, liegt auf der Hand: es ist nichts a ls die innere Beziehung der beiden Erkenntnisinstanzen aufeinander, der aposteriorischen und der apriorischen. Damit ist nichts Neues gesagt. Aber es ist falsch gesagt, die Formulierungen stecken voll ver­ hängnisvoller Fehler. „A priori" ist durchaus nur eine Erkenntnisweise. Da die N atur nicht Erkenntnis ist, sondern bestenfalls Gegenstand der Erkenntnis, so kann es auf keine Weise ein „A priori der N atur" geben, und ebenso auch keine „apriorische Grundlage" der Natur. Beides kann nur der Natur-Erkennt­ nis eigen sein. Gesetze können also auch nicht „a priori sein" — eine solche Aussage hat gar keinen Sinn —, sie könnten höchstens a priori „erkenn­ bar" sein. Letzteres trifft z. V. auf logische und rein mathematische Gesetze zu. Aber auf Naturgesetze trifft auch das nicht zu. Naturgesetze müssen in­ duziert, muffen herausexperimentiert werden, freilich unter gewiffen apriorischen Voraussetzungen (und unter diesen sind auch mathematische Erkenntniffe), aber doch nicht ohne Erfahrungsmaterial, von dem man ausgeht. Zunächst sind die Naturgesetze eben doch unbekannt, und erst das methodisch kombinierte Verfahren der Wiffenschaft vermag einen Teil von ihnen aufzudecken. Oder man fragt im Hinblick auf die Ungewißheit bestimmter Gesetzesfaffung, ob es denn das „absolute Gesetz" gebe. I n dieser Frage steckt das­ selbe Nest von Fehlern. Sinngemäß kann es sich höchstens um das absolute Feststehen einer bestimmten Fassung des Gesetzes in der Wiffenschaft handeln. D as ist etwas ganz anderes,- unsere Fassungen und Formulie­ rungen verändern sich mannigfach mit dem Stande der Erkenntnis. Aber die R elativität einer Fassung auf ein bestimmtes Wissensstadium hat nichts zu tun mit Absolutheit oder R elativität des Gesetzes selbst, das ge­ faßt werden soll. Wenn eine zeitweilig anerkannte Formel sich auf Grund weiteren Eindringens als unhaltbar erweist, so ist das ein Zeichen, daß sie das wirklich in der N atur bestehende Gesetz nicht traf. Aber auch nach der Berichtigung ist die verbesserte Formel noch nicht das Naturgesetz selbst. Nicht nur, daß sie sich im weiteren Fortgange der Erkenntnis weiter wird korrigieren müssen,- sondern beide „Fassungen", die alte wie die neue, sind und bleiben doch bloß „Fassungen" und können als solche nicht mit dem Gesetz selbst identisch sein. D as ist so einfach und so selbstverständlich, daß es darüber keines W ortes bedürfen sollte. Aber gerade in diesem Punkte besteht in den Theorien, die sich auf der Grenze von exakter Wissenschaft und P hilo­ sophie bewegen, die heilloseste Verwirrung. M an spricht dauernd vom „Naturgesetz" und bemerkt gar nicht, daß man das wirklich in den N atur-

Vorgängen waltende Ersetz nicht einmal meint, geschweige denn es hat. Und hält man dem verbohrten Theoretiker seine Denkunsauberkeit vor, so bekommt man darauf womöglich zu hören: „Von der N atur selbst können wir gar nichts wissen, wir haben nur die Begriffe, Urteile und Formeln der Wissenschaft . . Auf diese Weise wird natürlich alles in die skeptische Zweideutigkeit hineingezogen. D ann nämlich ist die Naturwissenschaft, streng genommen, gar nicht mehr Wissenschaft von der N atur selbst, sondern ein bloßes Spiel mit Begriffen und Formeln. S ie steht ihrem Gegenstände entfremdet da, kennt ihn zuletzt gar nicht mehr. Wohlverstanden, die wirklich arbeitende Wissenschaft tut das natürlich keineswegs. S ie kümmert sich auch — in gesunder Abwehr — nicht nennenswert um solche Auswüchse pofitivistischer Theorie (es sollte eigent­ lich heißen „negativistischer" Theorie). Aber fie rührt auch keinen Finger, das Knäuel erkenntnistheoretischer Mißverständnisse zu entwirren.

d. Ablehnung relativistischer Skepsis. Anzeichen objektiver Gültigkeit

Demgegenüber ist es ein dringendes Erfordernis, den für alle E r­ kenntnis grundlegenden Unterschied von Gegenstand und Bild des Gegenstandes im Bewußtsein (Vorstellung, Begriff usf.) auch in der N atur­ wissenschaft aufrecht zu erhalten, d. h. die wirklichen Realgesetze der N atur von den Sätzen und Formulierungen der Wissenschaft streng zu unter­ scheiden, fie in der Unterschiedenheit aber auch folgerichtig und mit den nötigen kritischen Vorbehalten aufeinander zu beziehen. Die besondere Entscheidung über einzelne Fassungen und Formeln darf der Philosoph dem langsamen Fortschreiten der exakten Wissenschaft überlassen, in deren geschichtlicher Stetigkeit ja ohnehin die beste Gewähr möglicher Über­ windung zeitweiliger Einseitigkeiten liegt. Wieviel oder wiewenig wir zur Zeit von den wirklichen Realgesetzen der N atur kennen, dafür gibt es kein absolutes Kriterium. Sicher ist nur eins: diese Gesetze unterliegen nicht der geschichtlichen Veränderlichkeit der wissenschaftlichen Fassungen, Sätze und Formeln — genau so wie auch konkrete Einzelgegenstände nicht der Veränderlichkeit der Vorstellungen, Ansichten und Begriffe unterliegen, die wir uns von ihnen machen. Darüber hinaus aber läßt sich immerhin sagen: wir haben keinen Grund zu Skepsis und relativistischem Verzicht in der naturwissenschaft­ lichen Erkenntnis. Gerade die Lebendigkeit und Verflüssigung der wissen­ schaftlichen Begriffe, die dem Laien leicht als Erscheinung der Auflösung oder des „Zusammenbruchs" vorschweben, sind Anzeichen unbeirrter An­ näherung an echte Naturgesetze und dürfen als Gewährleistung hoher

35. Kav. Naturgesetzlichkeit a ls Erkenntniskategorie

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objektiver Gültigkeit angesehen werden. W ir kennen heute ohne Zweifel ein ansehnliches Stück der echten Realgesetze der Natur, und zwar mit ge­ nügender Genauigkeit, um daraus weitgehende praktische und theore­ tische Schlüsse zu ziehen. Den Grad der Genauigkeit aber verdanken wir dabei zu gleichen Teilen dem außerordentlich verfeinerten Ausbau der Beobachtungsmethoden und dem mathematischen Apriorismus der E r­ kenntnis. Das bedeutet ontologisch, daß die Begriffe, Sätze und Formeln der exakten Wissenschaft in gewissen Grenzen tatsächlich ein zutreffendes Bild der in den Naturvorgängen enthaltenen Gleichartigkeit geben dürften. Wie aber hier die Grenzen im einzelnen zu ziehen find, darüber kann nur der künftige Fortgang der Wissenschaft entscheiden. Das bedeutet, daß es in diesem Punkt auch mit der exakten Wisienschaft nicht anders steht als mit anderen Wisienschaften: auch sie hat keine absoluten Kriterien, sondern nur relative. Und auch hier wie überall liegen sie im Deckungsverhältnis aposteriorischer und apriorischer Erkenntniselemente. D araus mutz man weiter die Folgerung ziehen, daß es irrig ist, einen gewissen Bestand an apriorischen Einsichten, etwa an mathematischen, als das legitime Korrelat der Naturgesetzlichkeit im Bewußtsein anzusehen. Damit wäre das Schema des kategorialen Verhältnisses viel zu einfach gemacht. E s ist vollkommen wahr, daß apriorische Einsicht das unmittel­ bare Erfassen von Allgemeinem als solchem ist; aber nicht alles All­ gemeine ist deswegen a priori faßbar. E s gibt im menschlichen Bewußtsein keinen Apriorismus, der den Naturgesetzen unmittelbar entspräche. Es gibt wohl einen solchen, der der rein mathematischen Gesetzlichkeit ent­ spricht. Diese aber macht nur eine Seite der Naturgesetzlichkeit aus, deckt sich also keineswegs mit deren konkreter Jnhaltsfülle. Darum bleibt der aposteriorische Einschlag der Gesetzeserkenntnis auf der ganzen Linie als Gegeninstanz bestehen. D as wirkliche Gegenstück der Naturgesetze im Bewußtsein ist ein dem Aufbau nach überaus komplexes Produkt, das erst spät zur Reife kommt und auch dann noch immerfort um seine Berichtigung, d. h. um seine fortschreitende Annäherung an die wirklichen Naturgesetze ringen muß. Die entscheidende Bedeutung des apriorischen Einschlages in diesem P ro ­ dukt, und speziell die des Mathematischen, wird dadurch keineswegs her­ abgesetzt. 2m Gegenteil, erst in der richtigen Anerkennung seiner Grenzen kann diese Bedeutung voll zur Geltung kommen. Die genaue Ziehung dieser Grenzen aber ist eine Aufgabe der Erkenntnistheorie» die nicht mit einem Schlage gelöst werden kann, sondern sich erst in langsamem Fort­ schreiten der Wissenschaft selbst einer generellen Entscheidung nähern kann. Alle vorgreifend summarischen Lösungen, einerlei ob in Richtung relativistischer Skepsis oder in Richtung eines optimistischen Apriorismus,

sind nichts als ein dilettantisches Spiel, das an den Ernst der Probleme nicht heranreicht. Hierzu kommt, daß auch die wirklich apttorischen Einsichten, um die es hier geht, dem Menschen ja nicht in den Schoß fallen. Sie find nicht „eingeboren", wie der alte irreführende Ausdruck lautet, sondern müfien wie alle echten Einfichten erarbeitet werden. So wenigstens steht es überall da, wo das A priori nicht ein solches der Anschauung ist, sondern ein solches des denkenden Begreifens. D as eben ist der Nachteil solcher Bewußtseinskategorien, die nicht Kategorien der Anschauung und des Erlebens sind, sondern Kategorien des Denkens. Macht man sich dieses klar, so fällt viel von der unfruchtbaren Problematik des aus seinen Zusammenhängen gerifienen Apriorismus sott. Auch das Problem des Apriorischen wartet heute auf eine der neuen Sachlage in den Wifienschasten entsprechende neue Fassung. Möglich wer­ den kann diese aber nur nach Abstreifung der vielen künstlichen Aporien, die nur durch die Einseitigkeit der herrschenden erkenntnistheoretischen Vorurteile heraufbeschworen find. Auch dafür dürste die nötige Klärung zum großen Teil bei der Arbeit der Kategorialanalyse liegen.

36. Kapitel. Die Wechselwirkung a. Die geschichtliche Problemlage

N ur bis zur Naturgesetzlichkeit reicht der geschichtlich vorgebahnte Weg der Kategorienlehre. E r erschöpft sich fast ganz im Problemgebiet der S ub­ stanz und der Kausalität. Schon die Gesetzlichkeit finden wir nirgends eigens als Kategorie herausgehoben. Aber weil man sie der Sache nach mit der Kausalität zusammenfaßte, ist sie trotz aller Vermengung mit dieser inhaltlich mit in die Betrachtung gezogen worden und so zu einer gewissen Spruchreife gelangt. Daher die explizite Problemmannigfaltigkeit, die uns bei diesen drei Kategorien begegnet ist. Das hört nun bereits bei der Wechselwirkung auf, über deren Wesen wenig brauchbare Arbeit vorliegt. Und vollends für die weiteren N atur­ kategorien ist so gut wie nichts geschehen. D as kann nicht überraschen, nachdem uns bereits an einigen früher besprochenen Kategorien ähnliches begegnet ist, am Realverhältnis, am Prozeß, am Zustand. Den Grund dieser geschichtlich gewordenen Problemlage würde man vergeblich bei den Kategotten selbst suchen, vergeblich wohl auch auf der ontischen Seite der Probleme. Dem Sachgehalt nach ist die Reihe dieser Kategorien durchaus homogen: die eine fordert das eindringende Denken nicht weniger als die

anderen heraus. Der Grund der Ungleichheit an Interesse und auf­ gewandter Forschungsarbeit liegt vielmehr in der fast ausschließlich er­ kenntnistheoretischen Fassung des Kategorienproblems, die in der neu­ zeitlichen Philosophie geherrscht hat. E s ging den Denkern solcher Einstellung immer nur insoweit um Kategorien, als das Problem der apriorischen Erkenntnis an ihnen hing. Und aktuell wurde auch dieses eigentlich nur dort, wo sich bestimmte Streitpunkte an einer Kategorie ergeben haben. Streitpunkte nun haf­ teten seit dem 18. Jahrhundert an der Substanz und an der Kausalität. An der Gesetzlichkeit ergaben sie sich immerhin noch gleichsam mitlaufenderweise. Aber für die Wechselwirkung gilt das nicht mehr, und über sie hin­ aus noch weniger. Auch bei K ant ist sie, wenn man von einigen immerhin wichtigen Feststellungen absteht, doch stiefmütterlich weggekommen. I n der T at hat die Erkenntnistheorie nur geringes Jnteresie an Kate­ gorien, die bloß in der wissenschaftlichen Erkenntnis eine Rolle spielen, der Anschauung und dem Erleben aber ganz fern liegen. Daß sie als Seinskategorien ebenso grundlegend sein mögen, wie die von ihr dis­ kutierten, fällt bei ihr natürlich nicht ins Gewicht. Denn nach dem ontisch kategorialen Bestände des Gegenstandes fragt sie nicht. Hier ist asio noch ganze Arbeit von unten auf zu leisten. Die Analyse muß neu ansetzen; ja sie muß teilweise ihre Ansatzmöglichkeiten erst ent­ decken. Erst spät ist die Einsicht gekommen, daß weiter abwärts ins Spe­ zielle noch kategoriale Strukturen liegen, vielleicht ganz unbekannte, nie­ mals behandelte, vielleicht sehr viele und mannigfaltige, wahrscheinlich nicht weniger eigenartige als die bekannten. I n der Tat geht die Reihe der Kategorien weiter durch alle Schichten des Realen. Wichtig aber ist für das Naturproblem, daß auch schon im Gebiete der niedersten Seinsschicht sich ohne große Schwierigkeit einige weitere Kategorien aufzeigen lassen. b. Der durchgehende Realzusammenhang aller Prozesse in der Gleichzeitigkeit

Bei K ant steht die Wechselwirkung als dritte Relationskategorie da, und zugleich bereits als letzte der inhaltlichen Kategorien. D as Verhält­ nis, das er mit ihr meinte, ist vom dritten Newtonschen Axiom der Mechanik hergenommen, welches besagt, daß die Wirkung gleich der Gegenwirkung ist. E s ist eingewandt worden, daß hiermit kein neues kategoriales Moment gegenüber der Kausalität eingeführt ist. Dieser Ein­ wand hat auf teilt mechanischem Gebiete seine Berechtigung. Davon wird noch weiter unten die Rede sein müssen. Aber K ant blieb dabei nicht stehen, sondern erweiterte das Prinzip fast ohne sichtbaren Übergang zu einem allgemeinen Gegenseitigkeits­ verhältnis alles dessen, was gleichzeitig im Raume wirksam ist. Und in

dieser Erweiterung bekommt die Kategorie ein anderes Gesicht. Auf diese Weise ist sie in W ahrheit der Sammelplatz für eine ganze Reihe weiterer Kategorien, die es alle mit dem dynamischen Verhältnis des in der Gleichzeitigkeit Zusammenbestehenden, vor allem aber mit der gegen­ seitigen Beeinflussung gleichzeitig ablaufender Prozesse zu tun haben. I m Neukantianismus ist denn auch mit Recht gellend gemacht worden, daß es sich hier um die „System"-Kategorie handelt. Es schwebten dabei freilich bereits speziellere und zu engerer Einheit zusammen­ geschlossene Typen der Gegenseitigkeit vor, während das allgemeine Prinzip der Wechselwirkung noch diesseits aller Abgrenzung besonderer Systemeinheiten steht. Auch von solchen Vorgriffen mutz man also einstweilen absehen. D as Grundsätzliche in der Wechselwirkung ist offenbar noch allgemeiner. E s betrifft das generelle Moment des simultanen Zusammenbestehens über­ haupt, sofern es sich dabei nicht bloß um eine statische Kollokation, son­ dern um das Ineinandergreifen verschiedener Prozesse handelt, deren gleichzeitige Stadien dynamisch aufeinander bezogen find. Es gilt also zunächst, die kategorialen Hauptmomente, die in der Wechselwirkung enthalten find, herauszuarbeiten. K ant formulierte seinen Grundsatz (der dritten Analogie) so: „Alle Substanzen, sofern sie im Raume a ls zugleich wahrgenommen werden können, find in durchgängiger Wechselwirkung." I n dieser Form ist der Grundsatz ontologisch viel zu eng. Denn nicht um „Substanzen" geht es hier, sondern um Zustände und Prozesse, und mittelbar auch um Gebilde aller Art. Erst recht aber kommt es nicht auf das „Wahrnehmen" an; dafür aber um so mehr auf das räumliche Bezogensein. M an mutz also einfacher und radikaler formulieren: was im Raume zugleich ist, steht in durchgängiger Wechselwirkung. I n dieser Form bildet der Grundsatz ein strenges Parallelstück zum Kausalitätsprinzip. Wechselwirkung in diesem Sinne würde also heißen: alle gleich­ zeitigen Prozesse, sofern sie nur überhaupt räumlich zusammenhängen, beeinflussen einander. Und dasselbe würde natürlich von allen gleich­ zeitig bestehenden Zuständen gelten. Denn sie sind eben Prozetzstadien. D as ist ein Satz von grotzer Tragweite. E r betrifft gleich die physische W elt a ls Ganzes. E r besagt dieses, daß die räumliche W elt in jedem Zeitpunkte — also in jedem „Schnitt" des Weltprozesses, jeder Kollokation, jedem Eesamtzustande — eine in sich gebundene T otalität aus­ macht, in der alles durch alles gegenseitig bedingt ist. Diese gegenseitige Bedingtheit ist eine solche der Gleichzeitigkeit; sie kann also in einfacher Kausalabhängigkeit nicht bestehen, die zeitlich linear und irreversibel verläuft. Denn hier besteht offenbar keine Irreversibilität. Die Gegen­ seitigkeit bedeutet ja geradezu die Implikation der umgekehrten Rich-

tung. Und das ist nicht widersprechend; denn es handelt sich nicht um die Zeitdimension, sondern um ein räumlich dimensioniertes Verhältnis. 2n den Raumdimenfionen aber ist grundsätzlich jedes Verhältnis umkehrbar. Andererseits aber bleibt die gegenseitige Bedingtheit des Sim ultanen durchaus in denselben Weltprozeh einbezogen, der durchgehend kausal abläuft, und als solcher irreversibel ist. Hier liegt eben das Querstehen der Raumdimensionen auf der Realzeit zugrunde (vgl. Kap. 16 b).

c. Die Determinationsform der gegenseitigen Bedingtheit

I n diesem Verhältnis liegt der Grund, warum die Wechselwirkung als eine eigene Kategorie neben der Kausalität und der Gesetzlichkeit anzu­ sehen ist. Sie ist das nicht in jeder Hinsicht. M an muh dabei auch im Auge behalten, dah in jeder Seinsschicht die Kohärenz der Kategorien das ontische P riu s hat, und die Aufteilung dieses Zusammenhanges in einzelne „Kategorien" willkürlich bleibt. M an kann stets die kategorialen Momente auch anders zusammenfassen, denn isoliert für sich hat keines Bestand. So kann man Prozeh, Substanz und Zustand in eins zusammen­ fassen, ebenso wie man die Substanz in zwei Kategorien, Beharrung und Substrat, auflösen kann, oder auch die Kausalität in das Kausalgesetz, das Hervorbringen und die Kausalreihe. Voneinander getrennt kommen die Momente ohnehin nicht vor; aber das entbindet nicht von der Not­ wendigkeit, sie auch in geeigneter Weise zu unterscheiden. Ob man die Unterschiede dann zwischen .Kategorien" macht oder zwischen „kate­ gorialen Momenten" innerhalb einer Kategorie, ist der Sache nach gleichgültig. Den gewordenen Denkgewohnheiten aber kommt man am besten ent­ gegen, wenn man die kategorialen Begriffe, die sich geschichtlich heraus­ gebildet haben, so weit gelten läßt, a ls sie sich mit den gegebenen Zäsuren innerhalb der Schichtenkohärenz vertragen. — Der von K ant eingeführte kategoriale Begriff der Wechselwirkung entspricht nun deutlich einer solchen Zäsur — sowohl gegenüber dem der Kausalität als auch dem der Gesetzlichkeit. Denn Wechselwirkung ist eine andere A rt des Zusammenhanges der physischen W elt in sich als die Ursächlichkeit und die Gleichartigkeit im Zuge der Prozehverläufe. Sie spielt in anderer Dimension. Und sofern in ihr auch eine A rt Deter­ mination liegt, muh man die Konsequenz ziehen, dah auch diese eine andere ist. S ie bildet keinen reihenhaft linearen „Nexus", der immer weiter läuft, sie ist auch keine Determination vom auherzeitlichen Allgemeinen her; sie ist Determination im Sinne eines mehrdimensionalen, geflechtartigen, in der Gleichzeitigkeit gegenseitigen Bedingens und Bedingtseins, sowie des in dieser Bedingtheit zur Einheit gebundenen Zusammenbestehens.

Diese Form der Determination mutz nun mit dem linearen, sukzessiv irreversiblen Nexus der Kausalität so zusammenbestehen, daß beide ein­ ander nicht beeinträchtigen, sondern als Determinationen eines und des­ selben Realzusammenhanges sich ergänzen und harmonisch ineinander­ greifen. Ih re Heterogeneität darf hier keine Scheidewand bilden, geschweige denn einen Widerstreit hervorrufen. Sie müssen vielmehr in die Einheit einer Gesamtdetermination zusammengehen. Aber nicht genug damit. Außerdem mutz die neue Determinations­ form sich auch mit der durchgehenden Naturgesetzlichkeit der Prozesse ver­ tragen. Und hierbei liegt nun die Möglichkeit des Konfliktes näher. Denn die Gesetzlichkeit besteht in der Gleichförmigkeit der Abläufe, und diese hängt an der Gleichartigkeit der wiederkehrenden Ursachenkomplexe. Die letzteren aber bestehen in den Kollokationen gleichzeitiger Faktoren, fallen also in die Dimensionen dessen, was in gegenseitiger Bedingt­ heit zusammenbestehen mutz. M an sieht hieraus ohne weiteres, datz die Wechselwirkung sich mit der Gesetzlichkeit noch enger berührt als mit der Kausalität. Deswegen ist es die Nächstliegende Aufgabe, zu zeigen, wie sie mit ihr zusammen­ bestehen kann. Denn entweder müssen sie einander ausschließen oder so aufeinander angewiesen sein, datz eine die andere involviert und stützt. Ein solches Verhältnis ist z.B . denkbar, wenn die Gleichartigkeit der Ursachenkomplexe schon eine Folge der Wechselwirkung ist — etwa in der Weise, datz nicht alles Beliebige in beliebiger Weise gleichzeitig zusammen­ bestehen kann, sondern nur Bestimmtes in bestimmter Weise. Die Wechselwirkung würde also hierbei eine A rt Selektion des real Kompossiblen ausüben. F ü r eine solche Determination neben jenen beiden Determinations­ formen ist durchaus Spielraum im Prozetzgefüge der Natur. Denn dieses Gefüge ist mehrdimensional. D a die Raumdimenfionen „senkrecht" auf der Zeitdimenston stehen, die Zeit also im Vorrücken alle Raumpunkte passiert, und im Jetzt sie alle zusammenbegreist, so kann eine durch­ gehende Wechselbedingtheit des räumlich Auseinanderliegenden in jedem Simultanschnitt der Zeit sehr wohl mit der kontinuierlichen Kausalfolge der Zustände in der zeitlichen Sukzession zusammenbestehen. Und was das Verhältnis des Gesetzes zum Einzelfall betrifft, so ist die Dimension, in der es spielt, überhaupt keine Realdimension mehr, weil nur die Fälle real sind, das Gesetz aber nicht ein neben ihnen bestehendes Reales ist, sondern nur das Allgemeine, dem sie sich unterordnen. Die von den Ge­ setzen ausgehende Determination kann darum weder dem Kausalnexus noch der Wechselwirkung ins Gehege kommen, weil sie sich mit beiden überschneidet.

Rein dimensional also ist ein solches Verhältnis der drei Deter­ minationen durchaus möglich und keineswegs utopisch. Nach der Seite der Kausalität hin hat K ant diese Möglichkeit gesehen und gekennzeichnet, indem er die Wechselwirkung als ein commercium spatii verstand, welches sich in der Sim ultaneität ausbreitet. Freilich ist auf diese Weise nur das Schema möglichen Jneinandergreifens gegeben, nicht dieses selbst. D as Ineinandergreifen selbst muß ein dynamisches sein und muß daher kon­ kret an der A rt und Weise aufgezeigt werden, wie die eine Abhängigkeit mit der anderen zusammen besteht.

d. Das dynamische Verhältnis. Unbegrenztheit der Feldwirkung

Auf dem dimensionalen Verhältnis muß das dynamische beruhen. E s muffen die drei verschiedenen Determinationen im Aufbau der N atur so zusammentreffen, daß sie nicht nur sich miteinander vertragen, sondern auch zusammen ein Ganzes, nämlich ein einziges Determinationsgeflecht ergeben. Denn es gibt in der N atur so wenig llberdeterminiertheit wie Unterdeterminiertheit. Das erstere würde Diskrepanz und Unstimmigkeit, das letztere Unbestimmtheit und Zufälligkeit (im Sinne eines modus deficiens) bedeuten. An sich ist ein diskrepantes Aufeinanderstoßen heterogener Deter­ minationen ontisch nicht unmöglich. Im Gebiete des geistigen Seins kennen wir es zur Genüge: im menschlichen Denken begegnen sich logische und psychische Determination, und beide liegen nicht selten im S treit miteinander (daher das logisch fehlerhafte Denken): und int Ethos des Menschen liegt das Sollen a ls strikte Forderung mit der Realdetermination der natürlichen Tendenzen, Antriebe und Neigungen in Konflikt, so daß der Mensch als sittliche Person geradezu der „Kampfplatz" zweier heterogener Mächte wird. Die N atur aber ist anders. Soweit nur irgend wir sie durchdringen, ist sie geschloffen, einheitlich und eindeutig. Sie kennt wohl das Aufeinanderstoßen der Kräfte, aber nicht das der Determinationsweisen. Denn was wir Naturkräfte nennen, ist alles determinativ von derselben Art. Darum ringt sich jedes Widerspiel der Kräfte glatt aus, und Prozeß wie Resultat bleiben eindeutig. Andererseits aber kann man aus dieser „Glätte" auch nicht etwa schließen, daß jenes Zusammenbestehen von drei Determinationen ein Hirngespinst wäre. An der Gesetzlichkeit und Kausalität ist nicht zu zweifeln, beide sind empirisch genügend belegt. Ebensowenig aber ist die durchgehende Querverbindung in der gegenseitigen Abhängigkeit paral­ leler Abläufe eine bloß gedankliche Annahme — etwa nach der Art, wie einst die „Sympatheia" der Stoiker es war. Die Physik vielmehr lehrt

auf Grund genügender Phänomenkenntnis, daß alle Körper im W elt­ räume gravitativ aufeinander wirken; denn es ist nicht einzusehen, wie das Gravitationsfeld der Massen irgendwo im Raume eine Grenze finden sollte. Und da praktisch alle Körper relativ aufeinander in Bewegung find, so bedeutet dieses zugleich: daß alle Bewegung der Körper im Raume stch gegenseitig mitbestimmt. Darum gibt es keine absolut geraden Bahnen im W eltall; und ebensowenig dürfte es absolut gleiche Kurven geben, denn in jedem Punkte ist die Kollokation der Mafien eine andere. Ähnlich ist es mit anderen Prozefien. Alle elektromagnetische S pan­ nung setzt sich im Raume fort, alle Strahlung geht ins Unendliche weiter, alle Feldwirkung ist grundsätzlich unbegrenzt. Im Aufbau der großen Easmafien im Welträume, die w ir als leuchtende Punkte am Himmel sehen, ist, wie neuere Forschungen gezeigt haben, das Größte durch das Kleinste bedingt und ebenso das Kleinste durch das Größte — vom Jonisationszustand der Atome über den Temperatur- und Strahlungs­ gradienten bis zur Stabilitätsgrenze des ganzen Gebildes und zur Energiebefreiung in seinem Innern. I n aller Atomlagerung modifiziert die Verbindung das Atominnere; und dieses wiederum bestimmt die A rt der Verbindung. Auch im kleinsten steht alles in gegenseitiger Beeinflufiung, und die Gesamteffekte bestimmen die Erscheinung im Großen. Rach den Gesetzen, die wir kennen, haben wir keinen Grund, irgendwo eine Grenze dieses Wechselverhältnifies anzunehmen. E s gibt nur das Verschwindend-klein-Werden der Auswirkung auf große Distanzen, so daß man sie für die Beurteilung lokaler Zustände außer acht lafien kann. Aber das bedeutet natürlich nicht ihr wirkliches Verschwinden. Die G ravi­ tation eines Atoms auf die Entfernung von 30000 Lichtjahren scheint ein Nichts zu sein; bedenkt man aber,.daß die integrierte Gravitation der Mafien, auf der die Rotation des galaktischen Systems beruht, sich au s der Gravitation ebensolcher Atome zusammensetzt, so hört diese auf, ein Nichts zu sein, und erweist sich vielmehr als die das Ganze zusammen­ haltende und bewegende K r a f t.— Einen Einwand kann man hier allerdings erheben. Alle Feldwirkung im Raume braucht Zeit, und da auf ihr die Wechselwirkung beruht, so kann diese keine streng gleichzeitige sein. D as würde heißen, daß es nicht eigentliche Wechselwirkung ist. Denn die Gegenseitigkeit der Einwirkung kann nur eine simultane sein. I n der Zeitfolge läuft keine Wirkung rückwärts. Hat also die Beeinflussung des räumlich Getrennten doch Prozeßform — und das heißt es doch, daß sie „Zeit braucht" —, so kann sie nur rechtläufig vorgehen. Prozesse können nicht „gegen" die Zeit laufen.

E s sieht so aus, als ob sich damit die Wechselwirkung in Schein auf­ löste. Das Reelle an ihr wäre dann bloße Kausalität, rechtläufige Aus­ wirkung des Früheren am Späteren. Freilich bliebe bei solcher Auffasiung die gegenseitige Bedingtheit dessen, was im Jetzt als Auswirkung breit auseinanderliegender Komponenten zusammentrifft, unberücksichtigt. Auf diesem Zusammentreffen aber beruht die Komplexheit der jeweilig w ir­ kenden Gesamtursachen. Dagegen ist zu sagen: das Tatsächliche, das der Einwand geltend macht» besteht zu Recht, dennoch baut er auf einer falschen Voraussetzung auf. Daß alles Wirken in die Ferne Zeit braucht, hebt nicht das Grund­ verhältnis auf, daß ein „hier" laufender Prozeß B durch einen „dort" laufenden Prozeß A beeinflußt wird und selbst ihn beeinflußt. Die W ir­ kung eines früheren Stadiums von A trifft eben ein entsprechend späteres von B, und umgekehrt. Die beiden Einwirkungen überkreuzen sich der Zeit nach. I h r Einsetzen gehört einem gemeinsamen früheren, ihr Anlangen einem gemeinsamen späteren Zeitpunkte an. Beide Zeitpunkte aber ver­ binden die in sie fallenden Prozeßstadien von A und B in je einer Gleich­ zeitigkeit. Wollte man hieraus die Aushebung eindeutiger Gleichzeitigkeit er­ schließen, so wäre die Konsequenz falsch gezogen. I m Gegenteil, die Ver­ zögerung kann selbst nur dann eine bestimmte Größe haben, wenn sie auf strenge Gleichzeitigkeit der entsprechenden Prozeßstadien bezogen ist. I n jedem Querschnitt eines Einzelprozesies sind also die Auswirkungen homologer Prozesie mit verschiedener Zeitverschiebung als Teilursachen mit vertreten und aufeinander bezogen. I n diesen Simultanbezogenheiten besteht in jedem Prozeßstadium die durchgehende Wechselwirkung der Prozesse. Die Gegenseitigkeit besteht eben nicht darin, daß die gleich­ zeitigen Stadien Ai und Bi aufeinander wirken. Dieses Schema erweist sich als zu einfach. Es wirkt vielmehr stets A , auf B2 und Bi auf A 2. Auch so aber beeinflusien die zeitlich parallelen Prozesse einander in jedem Augenblick. e. Inneres Verhältnis von Kausalität, Wechselwirkung und Gesetzlichkeit

E s erhält sich also auf diese Weise die Querstellung der Wechsel­ wirkung zur zeitlich linearen Kausalfolge, obgleich die räumlichen Distanzen der Einzelvorgänge ein Moment der Sukzession in sie hinein­ tragen. Und somit bleibt es beim Zusammentreffen dreier Deter­ minationen im Gefüge des Naturgeschehens: ein und dasselbe Reale ist von drei Seiten her bestimmt, und zwar offenbar in der Art, daß es gerade nur im Zusammentreffen dieser bestimmenden Momente voll und eindeutig determiniert ist.

Um das richtig zu verstehen, gilt es, die drei Arten der Determination richtig aufeinander zu beziehen. Dafür genügt ihre Unterscheidung nicht. M an mutz, um das Verhältnis zu durchschauen, bis auf die Kategorie des Prozesses zurückgehen, die, wie sich zeigte, an sich auch ohne Kausali­ tät und Gesetzlichkeit, also wohl auch ohne Wechselwirkung zu recht be­ stehen könnte. Und von ihr aus mutz man sich vergegenwärtigen, was die folgenden Kategorien zu ihr hinzugefügt haben. Denn ihnen allen liegt der Prozetz als Grundform des Realen zugrunde. M an halte nun die früher entwickelten Grundbestimmungen zu­ sammen. Der „Prozetz" ist das Auseinandergezogensein alles Realen in die Zeitfolge, so datz es in die sukzessive Reihe der Zustände aufgelöst ist. Hierbei liegen von jedem Stadium aus viele „Möglichkeiten" des weiteren Verlaufs vor. Demgegenüber besteht der „Zustand" darin, datz jedes Stadium im Prozetz wiederum ein in sich geschlossenes Ganzes gleichzeitigen Zusammenbestehens ist. Ferner erwies sich die Kausalität als dieses, datz die Zustände im Prozeß nicht beliebig aufeinanderfolgen, sondern einer den andern in der Folge der Zeit hervorbringt; oder auch, datz von einem gegebenen Stadium aus nicht viele Möglichkeiten vor­ liegen, sondern nur eine. Und schließlich die Gesetzlichkeit besagte, daß die Mannigfaltigkeit der Ursachenkomplexe nicht uferlos ist, sondern eine Wiederkehr des Gleichartigen zeigt; wodurch dann auch die Abläufe selbst gleichartig werden. W as bleibt nun hiernach für die Wechselwirkung übrig? Legt man das oben angegebene dimensionale Verhältnis zugrunde, so läßt sich zunächst folgendes sagen. Die Wechselwirkung spielt ebenso in der Simultaneität wie die Kausalität in der Sukzession; sie ist ebenso in den Raum auseinandergezogen wie der Prozeß in die Zeit. Sie verhält sich also zur Kausalität wie der Zustand zum Prozeß, nämlich ebenso „quergestellt". Run ist aber die Kausalität die Determinationsform des Prozesses in seiner Ablaufsdimenfion. Also mutz der Wechselwirkung dieselbe Funktion in bezug auf den Zustand in seinen Dimensionen zukommen. Sie verhält sich demnach ebenso determinant zum einzelnen Zustande, d. h. zur Kollo­ kation im gegebenen Zeitpunkt, wie die Kausalität zum Prozetz, d. h. zur Aufeinanderfolge der Zustände. Und wie nun die Kausalität die Vielzahl der „Möglichkeiten" in der Aufeinanderfolge bis auf eine einzige ein­ schränkt, so schränkt offenbar auch die Wechselwirkung die Mannigfaltig­ keit „möglicher" Kollokationen ein — wenn auch nicht bis auf eine, so doch sicherlich bis auf gewisse Erundtypen. Denn sie ist genau ebenso die innere Dependenz der Momente oder Glieder in einer zustandhaften Kollokation, wie die Kausalität die innere Dependenz der Prozetzglieder in der sukzessiven Reihe ist. Und weil es in den Dimensionen des Zu-

standes kein Fließen gibt, sondern nur das simultane Beisammen, so hat sie nicht die Form der fortlaufenden Reihe, sondern die der Gegenseitig­ keit, und zwar einer allseitigen. Da nun die Wechselwirkung die „innere Dependenz" in den Zu­ ständen ist, die Zustände aber einander in kausaler Folge ablösen, so muß die Gesetzlichkeit, welche die Gleichartigkeit der Kausalfolge in den P ro ­ zessen ausmacht, notwendig zugleich die Gesetzlichkeit der Zustände sein, diejenige also, welche auch in den Zuständen Gleichartigkeit schafft. Denn die Wiederkehr der gleichen Kollokationen in den Zuständen — d. h. der gleichen llrsachenkomplexe — ist die Bedingung, unter der es eine Gleich­ artigkeit der Prozesse und Wiederkehr typischer Abläufe geben kann. Nur gleiche Eesamtursachen bringen gleiche Wirkungsreihen hervor. Damit klärt sich grundsätzlich das Verhältnis von Wechselwirkung und Gesetzlichkeit, und zwar auf dem Umwege über das Verhältnis beider zur Kausalfolgs. D as Resultat ist ein sehr einfaches. M an könnte bei oberflächlicher Überlegung meinen, die zustandhaften Kollokationen in der Gleichzeitigkeit bedürften einer anderen Gesetzlichkeit als die Prozesie. D as hat sich als irrig herausgestellt. Das innere Verhältnis der drei Determinationen zeigt aufs klarste, daß die Wechselwirkung nicht unter einer eigenen, nur ihr zukommenden Naturgesetzlichkeit steht, sondern unter derselben, die auch die Kausalfolge im Ablauf der Prozesie durch­ zieht. E s gibt nicht zweierlei Naturgesetzlichkeit, sondern durchaus nur eine. Die Gleichartigkeit der Kausalfolge ist zugleich die der Wechselwirkung. Die Gesetze des Prozesses sind zugleich die des Zustandes.

f. Selektive Funktion der Wechselwirkung

Ein solches Zusammenfallen von Zustandsgesetzlichkeil und Prozeßgesetzlichkeit ist natürlich nur möglich, wenn es ein strenges Abhängigkeitsoerhältnis zwischen Zustand und Prozeß gibt. Dieses Abhängigkeitsverhältnis ist da. E s ist die Kausalität. Denn der Prozeß ist die Aufgelöstheit des Realen in die Reihe der Zustände, und Kausalität ist die zeitlich-sukzessive Abhängigkeit der Zustände von­ einander. Da aber der Prozeß in der Folge der Zustände besteht, so be­ deutet das zweierlei: erstens ist stets der weitere Verlauf des Prozesses abhängig vom Zustande, denn der Zustand ist der jeweilige Ursachen­ komplex, und der weitere Verlauf ist die weitere Reihe der Zustände,' und zweitens ist der jeweilige Zustand abhängig vom Verlauf des P ro ­ zesses, nämlich in dessen voraufgehenden Stadien, denn diese find die Reihe der früheren Zustände.

Danach ist jede gegenseitige Bedingtheit von Ursachenmomenten in einem Zustande des Prozesses eine kausale Eesamtwirkung der gegen­ seitigen Bedingtheit im früheren Zustande. Die besondere Wechselwirkung im einzelnen Simultanstadium des Prozesses steht also selbst in kausaler Dependenz. Und insofern könnte es scheinen, als wäre sie überhaupt nichts anderes als komplexe Kausalität. Andererseits aber ist die besondere Kausalfolge im Wechsel der Zu­ stände ebenso abhängig von der besonderen Wechselbedingtheit der llrsachenmomente im Einzelzustande (dem vorausgehenden). Der Prozeß in seinem weiteren Verlauf ist also eine Funktion der gesamten Querver­ bindung der Momente im Jetzt. Und insofern könnte es nun wiederum scheinen, als wäre die komplex verstandene Kausalität — und im Realprozeß gibt es nur diese — überhaupt nichts anderes als die ins ZeitlichSukzesiive übertragene Wechselwirkung. I n Wahrheit handelt es sich natürlich nicht um Verdrängung der einen Kategorie durch die andere, sondern um ihren unlösbaren Zu­ sammenhang. Und dieser nun läßt sich gerade an der Naturgesetzlichkeit verstehen, sofern sie die zugleich sukzesiive und simultane Gleichartigkeit wiederkehrender Realzusammenhänge ist. E s kann offenbar nur dann typenhafte Wiederkehr der Abläufe geben, wenn es dieselbe Typik auch unter den Simultanzuständen gibt. Denn nur gleiche Eesamtursachen treiben gleiche Wirkungen hervor. Und es kann wiederum die typenhafte Wiederkehr der Zustände nur dann geben, wenn es eine durchgehende Typik der Prozeffe gibt. Die Gleichartigkeit der einen Dimension steht in Wechselbedingtheit mit der Gleichartigkeit der anderen. Darum muß die Naturgesetzlichkeit in beiden eine und dieselbe sein: eine solche der Sim ul­ tanverknüpfung und eine solche der Sukzesiivoerknüpfung. Ganz läßt sich der innere Zusammenhang von Kausalität und Gesetz­ lichkeit also erst von der Wechselwirkung au s durchschauen. Könnte alles Beliebige sich in der Einheit eines Simultanzustandes vertragen, so wäre nicht einzusehen, warum der kausale Ablauf der Prozeffe nicht auch ohne jede Gleichartigkeit, d. h. ohne besondere Gesetze, in infinitum mit unbegrenzter Mannigfaltigkeit fortgehen könnte. Offenbar gibt es hier eine Begrenzung der Mannigfaltigkeit. Und zwar muß sie in einer Grenze des inhaltlichen Zusammenbestehen-Könnens liegen. S ie muß also die Form einer Ausscheidung von in sich unverträglichen Kollokationen haben. Anders könnten die aus den Kollokationen resultierenden Prozeffe keine Gleichartigkeit zeigen. Da also der Lauf der Prozeffe kausal an der Besonderheit der Kollo­ kationen hängt, so muß die Einschränkung der Mannigfaltigkeit möglicher Abläufe ihren Grund in einer Selektion des real Komposiiblen haben,

d. h. in einer Auslese aus der an sich uferlosen Vielgestaltigkeit des formal „Möglichen" in den Realzuständen. Eine solche Auslese stimmt sehr genau zum kategorialen B au des Prozesses als solchen, von dem sich gezeigt hat, daß er in einer fortschreitenden Einschränkung der zunächst unbegrenzten „Möglichkeiten" besteht (Äop. 21 b). Damit stehen wir vor einer neuen Definition der Wechselwirkung. Die Wechselwirkung, verstanden als gegenseitige Bedingtheit der Kausal­ momente in den Simultanschnitten des Prozesses, ist die Auslese dessen, w as jeweilig in einem Zustande real zusammenbestehen kann. I n ihr also liegt die innere Begrenzung der Mannigfaltigkeit möglicher Zu­ stände. Und da die Zustände wiederum den Verlauf des Prozesses be­ stimmen, so liegt in ihr zugleich die innere Begrenzung der Prozeß­ mannigfaltigkeit. Dann aber muß in ihr auch der Grund der Wieder­ kehr, der Gleichartigkeit und Typenhaftigkeit selbst liegen, und zwar sowohl in den Zuständen als auch in der Aufeinanderfolge der Zustände, d.h. in den Prozessen. So gesehen steht die Wechselwirkung nicht indifferent zur Gesetzlich­ keit, nicht als ahessorisches Moment, das auch fehlen könnte, sondern als ihr Hintergrund, ihre kategoriale Voraussetzung. Sie ist damit nicht etwa schlechthin der Grund der besonderen Naturgesetze. Denn in diesen spielen noch andere Momente bestimmend mit, zum Teil viel speziellere, zum Teil auch noch allgemeinere (die mathematischen). Wohl aber darf sie als Grund der Gesetzlichkeit überhaupt in der N atur gelten. Am Inhaltlichen der Naturgesetze kann man das wenigstens insoweit unmittelbar bestätigt sehen, als diese relationalen Eharakter haben. Ih re äußere Form ist zwar eine mathematische, und die folgt nicht aus der Wechselwirkung, sondern aus dem quantitativen Charakter der Dimen­ sionen und Substrate (möglicher Größen). Aber die Gesetze bestehen nicht in den Größen selbst, sondern durchweg in der Bezogenheit von Größen verschiedener Dimension aufeinander. Ih re Form ist die des Erößenverhältnisses. Das Erößenverhältnis eben kann offenbar in den Realzuständen nicht ein beliebiges sein, sondern je nach der A rt der „Vek­ toren" nur ein bestimmtes. Und gerade das Erößenverhältnis ist es, was sich im Prozeß erhält, während die Größen selbst im Fluß sind. D as bedeutet, daß in den mathematischen Funktionen, welche die Gleichartigkeit der Prozesse be­ stimmen, die gegenseitige Bedingtheit der Größen das Bleibende ist. Es ist somit der besondere Typus gegenseitiger Abhängigkeit heterogener Momente, d.h. der besondere Typus der Wechselwirkung, was in den Formen des Naturprozesses das Identische ausmacht. I n solcher Form­ identität aber besteht die Gesetzlichkeit der Abläufe. H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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37. Kapitel. Komplexes Bewirken

a. Mechanische Wirkung und Gegenwirkung Die Wechselwirkung scheint einerseits in die Kausalität, andererseits in die Gesetzlichkeit zu verschwinden. Beides hat sich zwar schon als schiefe Zuspitzung erwiesen. Und nach der Seite der Gesetzlichkeit darf die Sach­ lage wohl grundsätzlich als geklärt gelten. Nach der Seite der Kausalität aber bedarf es noch einer näheren Untersuchung. Dazu bietet sich der Ansatz, wenn man auf die geschichtlich erste Fassung der Wechselwirkung, auf die rein mechanische, zurückgreift. Hier liegt das Newtonsche Verhältnis von Stoß und Gegenstoß zugrunde, wobei das Gewicht des Axioms auf der „Gleichheit" von Wirkung und Gegenwirkung liegt. Kategorial wichtig ist hierbei, daß das Phänomen des Stoßes fich nicht im einseitigen Verhältnis von Ursache und W ir­ kung erschöpft. Es ist auch nicht etwa so, daß ein Körper A „wirkt" und der andere Körper B „leibet“ ; sondern beide sind in Bewegung, nämlich relativ aufeinander, beide wirken und erfahren Wirkung. D as kausale Wirken selbst spaltet sich also in Wirkung und Gegenwirkung. W oraus folgt, daß auch die bewirkende Ursache gespalten sein muß: von beiden bewegten Körpern geht auch Wirkung aus, beide Bewegungen find Ursache. W as ist hier eigentlich gemeint mit „Wechselwirkung"? Versteht man den sog. Gegenstoß als eine A rt Rückwirkung der Wirkung auf die Ursache, so ist das Verhältnis falsch gesehen. Das könnte höchstens zu­ treffen, wenn fich die Körper A und B selbst als Ursache und Wirkung verstehen ließen. Sie lasten fich aber nicht so verstehen. Nicht in Körpern, sondern in Vorgängen nur, bzw. in Zuständen als Stadien der Vor­ gänge, können Ursache und Wirkung bestehen. Die Bewegung von A ist es, die im Aufprallen auf B gehemmt wird und zugleich B in Bewegung setzt; ein Prozeß, der sich auch umgekehrt ansehen läßt, sofern in dem­ selben Vorgänge auch die Bewegung von B im Aufprallen auf A gehemmt wird und A in Bewegung setzt. Die Wirkung ist also zwar „gleich" der Gegenwirkung, aber weder ist sie identisch mit ihr, noch wirkt sie auf die Ursache zurück, was ja auch zeitlich unmöglich wäre. Das gilt auch verallgemeinert. Die Erde zieht die Sonne zwar genau so viel an wie die Sonne die Erde, aber weder ist die eine Anziehung mit der anderen identisch, noch wirkt sie „auf" diese. Nur so ist es möglich, daß in beiden Körpern die gleichzeitige Ablenkung von der geradlinigen Bewegung sehr verschieden groß ausfällt. Wechselwirkung bedeutet also

nicht, was oft irrig unter ihr verstanden worden ist, daß Ursache und Wirkung stch gegenseitig hervorbringen. D. h. sie bedeutet nicht, w as das W ort zunächst zu besagen scheint. Hiernach kann man nun das V erhältnis genauer fassen. Etw as an A ist Ursache von etwas an B, und etwas an B ist Ursache von etwas an A. Die Bewegung von A ist Ursache der Bewegungsänderung von B, und die Bewegung von B ist Ursache der Bewegungsänderung von A. Diese beiden Glieder des Eesamtvorganges gehören zusammen und treten nicht isoliert auf. So ist es im Anprall und Abprall der Körper, und analog ist es in der gegenseitigen Ablenkung durch G ravita­ tion der Massen. Hier laufen also zwei relativ isolierbare Prozesse parallel in der Zeit. M an kann sich auch jeden für sich laufend denken ohne den anderen. Daß sie in Berührung kommen, liegt weder im Wesen des einen noch im Wesen des anderen, sondern ist eine Funktion des weiteren Realzusammen­ hanges. Da sie aber zusammentreffen, beeinflussen sie einander. Insofern find sie nur Teilprozesse eines Eesamtprozesses, und als solchen ist ihnen das Zusammentreffen nicht äußerlich. Die früheren Stadien beider Prozesse wirken sich als Teilursachen in den späteren Stadien beider gemeinsam aus. Und das quantitative Verhältnis ist dabei die Gleichheit der von A an B und der von B an A abgegebenen Bewegungsenergie. Also macht das frühere Prozeßstadium von A und B zusammengenommen die Gesamt­ ursache des späteren von A und B aus. Und dieses letztere ist die ebenso komplexe Eesamtwirkung. So einfach durchschaubar ist das freilich nur, wo zwei Prozesse sich in der Weise kreuzen, daß sie nur für eine Weile einen Eesamtprozeß bilden. Im Weiterlaufen treten ste dann wieder auseinander, aber doch so» daß jeder vom anderen gewisse Kausalmomente übernommen hat. Grundsätzlich aber überträgt sich dieses Schema ohne Schwierigkeiten auf Prozeßverhältnisse von höherer Komplexheit mit dauernder gegenseitiger Beeinflussung. Nun ist aber die Gesamtwirkung auch in den komplexesten Vorgängen stets eine rein kausale, ist Resultante der sich treffenden und kreuzenden Teilwirkungen. Daß sie an zwei oder mehr Körpern auftritt, ändert hier­ an nichts. D araus folgt, daß die Wechselwirkung im Newtonschen Sinne in der T at nichts als komplexe Kausalität ist und keineswegs neben dieser noch eine Determinationsreihe ausmacht. Auf beiden Seiten „ver­ schwinden" die Ursachen restlos in ihre Wirkungen. S ie tragen unver­ kennbar den Stempel der causa transiens. Von Rückwirkung der Wirkung auf ihre Ursache ist also hier keine Rede. Wenn Ursachen und Wirkungen Dinge oder gar Substanzen wären, ließe sich davon vielleicht sprechen. Wenn sie Prozeßstadien find, wird das

sinnlos. Prozesse Beeinflussen einander nur in der Weise, daß von beiden her die früheren Stadien auf die späteren wirken, wie sehr hierbei auch beide Teilwirkungen einander überschneiden mögen. I n der zeitlichen Folge gibt es keine Rückwirkungen; es gibt nur die rechtläufige Wirkung, einerlei von welchem Teilprozeß auf welchen anderen sie übergreift. Also gibt es auch int Gesamtprozeß die Wechselwirkung in diesem Sinne nicht, einerlei wie komplex er ist.

b. Das überkausale Moment im komplexen Bewirken Dieses negative Resultat nun kann offenbar das kategoriale Wesen der Wechselwirkung nicht treffen. E s hebt ja auch die Querverbindung der Ursachenmomente im Simultanstadium des Gesamtprozesses nicht auf. Es berücksichtigt nur nicht deren Eigenart. Nach der Eigenart der Quer­ verbindung aber ist im Problem der Wechselwirkung gefragt. Gezeigt ist nur, daß es eine Rückwirkung der Wirkung auf die Ursache nicht gibt. Eine solche aber ist nicht einmal in der Newtonschen reactio gemeint, geschweige denn im Kantischen commercium spatü. Newton wie K ant meinen überhaupt nur, daß die verbundenen Ursachenmomente zweier oder mehrerer Prozesie, sofern sie in der Einheit eines Geschehens zusammenkommen, etwas anderes hervorbringen als jedes für sich, und zwar gleichfalls etwas entsprechend Komplexes. Das ist bei Kant nur ver­ deckt durch die Beziehung der Wechselwirkung auf „Substanzen". Gehen w ir also davon aus: das eigentliche Bewirken in diesem Ver­ hältnis ist und bleibt ein durchaus kausales. Die Eesamtwirkung folgt immer zeitlich aus der Eesamtursache. Aber daß es überhaupt die Ganz­ heit einer Eesamtursache gibt, und daß sie die Ganzheit einer Eesamt­ wirkung nach sich zieht, obgleich die Teilprozesse ja auch unbeeinflußt jeder für sich verlaufen könnten, liegt nicht am zeitlich linearen Nexus allein, sondern an der Querverbindung in der jeweiligen Gleichzeitigkeit. Es liegt also an einer Verflochtenheit von anderer Dimension. Daß die gleichzeitigen Ursachenmomente-^verschiedener Prozesse über­ haupt miteinander verflochten sind, ist nicht eine Funktion der Kausal­ ketten als solcher, sondern die Funktion ihrer Zugehörigkeit zur Einheit eines Eesamtprozesses. Dieses letztere ist das überkausale Moment in ihnen, die eigentliche Wechselbedingtheit. I h r Prinzip besagt, daß es int Kosmos keine isoliert laufenden Einzelprozesse gibt, daß alles, was gleichzeitig vorgeht, von Zeitpunkt zu Zeitpunkt gemeinsame Ursachenkomplexe bildet und gemeinsame Wirkungskomplexe hervortreibt. E s ist hiernach kein Zufall, daß gerade die Genialen unter den N atur­ philosophen die Wechselwirkung nicht haben sehen können; Schelling und

Schopenhauer glaubten mit der Kausalität allein auszukommen. Die Wechselwirkung ist eben im komplexen Bewirken schon enthalten. Aber die Komplexheit als solche ist keine kausale. M an kann ihr Prinzip auch so aussprechen: es gibt in der realen Welt keine bloß lineare Kausalität, sondern bloß die durch Querverbundenheit der Linien Hochkomplexe; im Grunde gibt es nur die Einheit „eines" Kausalprozesses, in dem jede Ursache und jede Wirkung die ganze Breite gleichzeitiger Mannigfaltigkeit umfaßt. D as ist zwar dasselbe, was sich schon bei der Kausalität selbst zeigte, und insofern fügt die Wechselwirkung kein neues Moment hinzu. Aber eben dieses von der Kausalität unabtrennbare Etwas ist nicht selbst ein kausales. Und insofern ist umgekehrt zu sagen: es gibt keine Kausalität in der W elt ohne Wechselwirkung. An sich denkbar wäre freilich auch bloß lineare Kausalität ohne Quer­ verbindung; denn letztere folgt nicht a priori aus der Kausalreihe. Aber in der realen Welt, wie sie einmal ist, kommt Kausalität ohne Wechsel­ wirkung nicht vor, weil in ihr alles Gleichzeitige in der kausalen Aus­ wirkung selbst querverbunden ist. Insofern ist die Wechselbedingtheit der Teilursachen in der Kausalität ein ihr äußerliches, und damit ein neues kategoriales Grundmoment neben ihr. Diese Sachlage klar herauszuformulieren ist nur deswegen schwierig, weil die einschlägigen Begriffe zumeist vom Kausalschema hergenommen sind, während sie doch gerade im Gegensatz zu ihm etwas anderes fasten sollen. M an kann vom Prozeß aus die Wechselwirkung stets nur so fasten, daß man das in die Fastung einbezogene Kausalschema hinterher wieder von ihr subtrahiert. Diese Subtraktionsform zeigen die obigen Formulie­ rungen alle.

c. Das Wirkungsgeiüge in der Flüchtigkeit der Zustände Die gleiche Form der Fastung bleibt in Kraft, wenn man nach dem Dependenztypus in der Wechselwirkung fragt. Auch dieser läßt sich direkt nicht angeben. Spricht man das Prinzip etwa in der Weise aus, daß „alles auf alles in der Welt wirkt", so spricht man es falsch aus. Gerade in der Gleichzeitigkeit gibt es kein eigentliches „Wirken". Es gibt nur ein Mitbestimmen vieler Momente in der Gleichzeitigkeit. „Wechselwirkung" ist daher auch kein einwandfreier Ausdruck: die Dependenz ist hier eben keine kausale. Dennoch ist sie im kausalen Eesamtprozeß eine eminent dynamische, weil das Mitbestimmen aller Teilmomente in die Eesamtwirkung übergeht, also selbst den Bestand der Gesamtursache aus­ macht.

M an sieht, die Wechselwirkung besteht nicht im „Folgen" oder „Hervor­ bringen", aber sie bestimmt dennoch sehr wesentlich das kausale Folgen und Hervorbringen. D as besondere Inhaltliche der Ursache wie der W ir­ kung besteht im Realprozeß nicht in der bloßen Summe von Teilursachen und Teilwirkungen, sondern ebensosehr in ihrer Eesamtform, ihrem Ge­ füge. Das Gefüge aber ist die innere Verbundenheit und gegenseitige Bedingtheit der bewirkenden Momente. Die Dependenz in der Wechsel­ wirkung hat somit die Form des im Prozeß kausal sich auswirkerchen Gefüges, man kann auch sagen, des Wirkungsgefüges. Sie ist die gegen­ seitige Bedingtheit der Auswirkungen aller llrsachenmomente in jedem Simultanschnitt des Gesamtprozestes. Diese Dependenz ist natürlich stets nur im Prozeß faßbar, obgleich sie nicht an ihm, sondern am Zustande hängt. S ie besteht immer nur „im" Kausalgefüge der Prozeste, ist aber selbst keine kausale. Sie steht in dieser Hinsicht der Gesetzesdependenz näher; wie denn diese ja bereits mit auf ihr beruht (Kap. 36 k). Die Auswirkung zwar verläuft zeitlich suk­ zessiv und ist eine kausale. Die Wechselbedingtheit der Momente dagegen ist als solche nicht die Auswirkung und darum auch nicht kausal. Sie wird vielmehr erst durch das Fortlaufen des Prozesies in die Sukzession hineingejoflen. Und in ihr erscheint sie dann als Wechselbedingtheit der Aus­ wirkungen. Das Wesentliche ist hierbei, daß das Wirkungsgefüge nicht an be­ sondere Dauerzustände gebunden ist, sondern gerade in der Flüchtigkeit aller Zustände bestimmend ist, deren Aufeinanderfolge den Prozeß aus­ macht. Die Wechselwirkung begleitet und bestimmt den Prozeß ununter­ brochen von Augenblick zu Augenblick, nicht anders als die Kausalität. Darum steht sie mit der Kausalität in so enger Verbindung und ist so schwer von ihr unterscheidbar. Dennoch ist ihre Verbindung nicht gegen­ seitige Bedingtheit. Wechselwirkung impliziert Kausalität und setzt sie voraus; Kausalität impliziert Wechselwirkung nicht, aber sie ist ohne sie bloß linear, gleichsam „abstrakt", so wie sie ja oft irrig vorgestellt wird. Faktisch kommt sie in der Natur so nicht vor, die reale Fülle der Kausalprozeffe hat ihren Gehalt erst durch ihr Zusammenbestehen mit der Wechselwirkung. Aber das liegt nicht an der Kausalität, sondern am kategorialen B au des Realzusammenhanges. Im letzteren aber ist es die Wechselwirkung, die in dieser Hinsicht den Ausschlag gibt. Trotz der Andersheit ihres Wesens läßt sich der innere Dependenztypus der Wechselwirkung nur in diesem Verhältnis zur Kausalität an­ geben. Denn nu r an seiner zeitlichen Auswirkung ist er greifbar. D ar­ über hinaus ist seine Struktur nicht angebbar. D aran ist nichts zu ver­ wundern, denn auch die Struktur der Kausalverknüpfung läßt sich über eine ähnliche Eikennbarkeitsgrenze hinaus nicht angeben. W ir sind nur im Leben mehr daran gewöhnt» mit ihr zu rechnen. Darum erscheint uns

die Kausalabhängigkeit durchsichtiger. I n W ahrheit ist sie nicht weniger irrational (vgl. Kap. 26 c). Das ist für alles Weitere eine folgenschwere Tatsache, weil fast alle höheren Formen der Determination sich als Ab­ arten oder Besonderungen des Wirkungsgefüges herausstellten. Das gilt nicht nur für das dynamische Gefüge und die Formen seines Gleichgewichts, sondern auch noch für das organische Form- und Prozeßgefüge, sowie dar­ über hinaus für manches weitere in den höheren Seinsschichten.

d. Die Form der Devendenz in der Wechselwirkung. Vierdimensionale Abhängigkeit

W as die Kausalität für den Prozeß, das ist die Wechselwirkung für den Zustand — dieser Satz ist zwar zutreffend, aber doch einseitig und ungenügend. Denn weder gibt es den Prozeß ohne Zustand noch den Zustand ohne Prozeß. Die Elemente des Zustandes sind auch für einander weder causa transiens (wie die Ursachen) noch causa immanens (wie die Gesetze): sie verschwinden nicht ineinander, aber sie stecken auch nicht in­ einander. Vielmehr sie stehen einander gegenüber. Sie gehen wohl in anderes über, aber nur zeitlich-kausal, nicht simultan, und auch nicht in­ einander, sondern in die andere Kollokation des späteren Zustandes. Eher könnte man schon sagen: das Ganze ihrer Teilverhältnisie ist das formbestimmende Moment ihrer gegenseitigen Beeinflusiung in der zeitlichen Auswirkung. Aber dieses Formmoment ist nicht Gesetzlichkeit, weil es als solches nicht Gleichartigkeit bedeutet. E s ist nur eine „Bedingung" der Gleichartigkeit. Bester sieht man das wiederum von der Kausalität aus. I n der Folge der Zustände läuft die Abhängigkeit nicht einfach von einzelnen llrsachenmomenten zu einzelnen Wirkungsmomenten, sondern von der zusammen­ gefaßten Ganzheit der ersteren zur Ganzheit der letzteren. Wohl ent­ sprechen einzelne Teilwirkungen einzelnen Teilursachen, und zwar so exakt, daß sich auf Grund dieser Zuordnung experimentieren läßt, indem man die Versuchsanordnung variiert. Aber das bedeutet nicht, daß die Teilursachen isoliert für sich überhaupt irgend etwas bewirken könnten. Sie wirken vielmehr nur in ihrer Gesamtheit, d. h. als Eesamtursache. Das stimmt zu dem früher dargetanen Satz, daß eigentliche causa efficiens stets nur die Gesamtursache ist. W as aber heißt das nun, bezogen auf die Wechselwirkung innerhalb der Gesamtursache und der Eesamtwirkung? E s heißt dieses, daß voix jener zu dieser nicht ein Bündel parallel laufender Auswirkungen führt, sondern ein vielfaches Sichkreuzen und Sichüberschneiden. Die Kausalfäden laufen nicht unbeteiligt nebeneinander her, sondern vermengen sich in der Weise, daß sie stets nur gemeinsam determinieren.

Ih re Bedingtheit durcheinander ist selbst bedingt, und zwar durch die gegenseitige Bedingtheit der Teilursachen. Von Zustand zu Zustand hängt hier eine Querverbundenheit von der anderen ab; und diese Abhängig­ keit ist selbst inhaltlich bestimmt durch die Querverbundenheit im früheren Zustande. M an kann also auch sagen: die Form der Dependenz in der Wechsel­ wirkung ist die der Kohärenz. Und das bedeutet weiter, daß die Teil­ momente eines Zustandes nur zusammen das sind, was sie im Prozeß als llrsachenmomente find, nämlich wirklich bestimmende Faktoren. D as ist freilich nicht Kohärenz im Sinne gegenseitiger Implikation (wie bei den Kategorien einer Seinsschicht), wohl aber im Sinne durch­ gehender gegenseitiger Modifikation in der gemeinsamen Auswirkung. S o verstanden ist denn auch das commercium spatii ein durchaus dynamisches, ohne doch ein kausales zu sein. I n jedem Schnitt des Weltgeschehens als eines Ganzen liegt die Eesamtursache des Künftigen und zugleich die Gesamtwirkung des Ver­ gangenen. Diese universale Kausalabhängigkeit ist in der Weise an Wechselwirkung gebunden, wie die Sukzession an Simultaneität, wie der Prozeß an den Zustand gebunden ist. Denn innerhalb des Schnittes selbst ist alles gegenseitig bedingt, weil der ganze Schnitt ja die gegenseitige Be­ dingtheit bereits au s den früheren Prozeßstadien mitbringt, von denen er kausal abhängt. An dieser Doppelperspektioe hängt die universale dynamische Einheit und Geschlossenheit der physischen W elt nach ihrer räumlichen Aus­ dehnung. An ihr hängt auch das Jn-Mitleidenschaft-Eezogensein aller gleichzeitig laufenden Prozesse, das Mitbedingtsein des Größten durch das Kleinste und umgekehrt. — An sich ist es wohl möglich, diese Sachlage auch von der Seite der Wechselwirkung aufzuzeigen. I n vier Dimensionen extensiver Größe breitet sich die kosmische Mannigfaltigkeit aus. I n dreien von ihnen ist ihr Zusammenhang auf gegenseitige Abhängigkeit gestellt, in der vierten aber auf einseitige und nicht umkehrbare Abhängigkeit. Wie diese vierte Dimension sich als Realzeit gegen die Raumdimensionen abhebt und sich dadurch auch aus dem Weltzusammenhange heraushebt, so hebt sich auch die Mannigfaltigkeit in ihr als Prozeß aus allem bloß Zustandhaften, und desgleichen die Dependenz in ihr als Kausalfolge aus der Wechsel­ bedingtheit des Gleichzeitigen heraus. M an kann sich hiernach das ganze Verhältnis etwa so vorstellen: es besteht durchgehende Abhängigkeit in allen vier Dimensionen, aber nur in einer ist sie eine reihenhafte, fließende, irreversible; nämlich darum, weil nur eine der vier Dimensionen selbst den Fluß und die eindeutige Richtung des Fließens an sich hat und allem vorzeichnet, was sich in ihr

ausbreitet. W as an Determination übrigbleibt, ist Wechselwirkung, denn in den übrigen Dimenfionen ist die Abhängigkeit eine gegenseitige. So gesehen stellt sich die Wechselwirkung sogar als das P rim äre dar, die Kausalität aber als eine Einschränkung der Richtung nach. Und das reimt sich gut mit der Bedingtheit der Gesamtwirkung durch die Q uer­ verbundenheit der Momente in der Eesamtursache. Hiernach besteht die Kausalität ihrerseits darin, daß die an sich vierdimensionale Abhängigkeit fich in einer ihrer Dimensionen in das Nacheinander und in den Fluß auflöst, indem sie einseitig und irreversibel wird, zugleich aber auch sich zum „Hervorbringen" verdichtet. Dadurch tritt sie in dieser Dimension dominierend in den Vordergrund und läßt die Wechselwirkung, auf der sie selbst schon m it beruht, in ihren Raumdimensionen gleichsam ver­ schwinden. Denn dadurch ist sie die Determinationsform des Prozeßes als solchen. Der Aspekt ist indessen ebenso einseitig wie der umgekehrte. I n W ahr­ heit hängen wohl beide Formen der Dependenz ähnlich ursprünglich zu­ sammen wie das Außereinander im Raume mit dem Nacheinander in der Zeit. Wie die Raumdimensionen senkrecht auf der Zeit stehen, so stehen die Zustände senkrecht zum Prozeß, und so fließt der Prozeß quer zu ihnen als seinen Schnitten und löst sie sukzessiv ineinander auf. Die Kausaldeter­ mination ist die Dynamik dieser fortlaufenden Auflösung sowie der ständig neuen Synthese anderer Zustände. Die Wechselwirkung dagegen als gegenseitige Determination der Momente innerhalb der Zustände ist das­ jenige, „was" hierbei ständig aufgelöst und wieder zusammengefügt wird. So in den Prozeß hineingezogen, tritt sie mit ihren entfernteren Gliedern im kosmischen Zusammenhang gegen die Gleichzeitigkeit der Einzelzu­ stände verschoben auf. M it der räumlichen Größe ihrer Spannweite geht sie in die Sukzession, und damit in die Kausalität über (Kap. 36 d).

e. Wechselwirkung als Bewubtseinskategorie

Die Wechselwirkung ist die letzte der Naturkategorien, an denen sich ein Wiederauftreten im erkennenden Bewußtsein aufzeigen läßt. Die weiteren sind dafür schon zu speziell, zu sehr an das wissenschaftliche Be­ wußtsein allein gebunden, in dem sie dann mehr als Forschungsresultate auftreten. Teilweise gilt das letztere auch schon von der Wechselwirkung. Auch sie spielt int erlebenden und vorstellenden Bewußtsein nur eine geringe Rolle, im wahrnehmenden vielleicht gar keine. Sie ist dem Bewußtsein gleichsam zugedeckt durch die Aufdringlichkeit der Kausalabhängigkeit, oder auch dessen, was an Surrogaten diese im Bewußtsein vertritt.

Die Kausalität ist wenigstens im Leben aktuell. Der Mensch lebt im Vorblick auf das Anrückende, dieses bewegt und bedrängt ihn, ist aber nur im ursächlichen Zusammenhang erfaßbar. Das Bewußtsein der Quer­ verbindung fehlt dabei freilich nicht ganz, erscheint aber einerseits ganz in den zeitlichen Fluß hineingenommen, als „seine" Komplexheit, und wird andererseits noch weit lückenhafter aufgefaßt als die Abhängigkeit in der Sukzession. Die Wechselwirkung ist in unserem Weltbewußtsein eine schwache Kate­ gorie. Sie ist gleichsam unpopulär, obgleich alle genauere Auffassung des Geschehens zum Umsetzen ins Statische neigt. Der Prozeß ist zwar schwer a ls Eontinuum faßbar, aber das Fließen als solches ist populär, und in der Anschauung ist es nur durch die scheinbare Konstanz der Dinge ein­ geschränkt. Bei den letzteren aber drängt stch die populär verallgemeinerte Substanzkategorie vor. Das Sehen der Zusammenhänge in der Gleich­ zeitigkeit steht dagegen zurück. W ir pflegen sie nur dort zu sehen, wo die Abhängigkeit zwischen den Faktoren einer Situation offen zutage liegt. Aber auch da schieben wir meist ein Kausalverhältnis unter. Bei jedem alltäglichen Zusammentreffen von Umständen, wenn wir es nicht als „zufällig" abtun, sind wir bereit, nach Ursachen des Zusammentreffens zu suchen,' aber nach der Besonderheit der ganzen Situation, sofern sie durch eine Fülle unbemerkter Begleitumstände sehr wesentlich mitbestimmt ist, zu fragen, fällt uns nicht so leicht ein. E s bedarf schon besonderer Akzente des Interesses, uns darauf hinzulenken. Irgend etwas freilich muß die Wechselwirkung im Erleben ersetzen und gleichsam „vertreten". Anders könnten wir ja kein unmittelbar an­ schauliches Situationsbewußtsein haben. Ein solches Etwas gibt es tat­ sächlich. E s ist die Ganzheit des gleichzeitig in einer Anschauung Ge­ gebenen. Die anschauliche Ganzheit braucht hierbei nicht einmal streng gleichzeitig wahrgenommen zu sein; sie verträgt auch einen gewissen zeit­ lichen Spielraum der Schau. W orauf es ankommt, ist nur, daß das Wahrgenommene als gleichzeitig Seiendes aufeinander bezogen wird. Denn das Erleben trennt sehr genau das Nacheinander der Wahrnehmun­ gen vom Wahrnehmen des Nacheinander. Daß die Ganzheit des anschaulich Gegebenen etwas anderes ist als der wirkliche Situationszusammenhang, bemerken wir im Leben nicht, solange w ir auf den letzteren nicht besonders gestoßen werden. D as an­ schauliche Beisammen des Gegenwärtigen drängt sich vor. Aber eben dieses Beisammen der Anschauung ist nicht ein Verstehen der Verbunden­ heit, in der die inhaltlichen Momente dem Sein nach stehen. Die Momente treffen nur „zufällig" zusammen. Und dementsprechend steht auch die

anschauliche Ganzheit des zur Zeit Gegebenen als eine „zufällige" da. Diese Zufälligkeit ist das getreue Spiegelbild der Wahllosigkeit, m it der das anschauliche Erleben trennt und verbindet. Daß hierbei die Assoziation der Gleichzeitigkeit, gestützt und ergänzt durch frühere Erlebniszusammenhänge, eine erhebliche Rolle spielt, liegt auf der Hand. I n der Erinnerung an erlebte Situationen ist ja be­ kanntermaßen alles von ihr beherrscht, während die Besinnung auf objek­ tive Zusammenhänge stets nur schwerfällig funktioniert und meist nur auf dem Umwege über nachträglich denkendes und schließendes Eindringen herstellbar wird. Sie war eben auch im ursprünglichen Erleben nicht, oder doch nur sehr unvollständig vertreten. Gerade hier, in der Erfassung des Gleichzeitigen, und nicht, wie Hume meinte, in der des Sukzessiven, ist das eigentliche Spielfeld der Vorstellungsassoziation. Und das skeptische Bedenken, das auf ihr fußt, bedroht weit mehr die Wechselwirkung als die Kausalität. I n der T at dürfte die „objektive Gültigkeit" in der Feststellung echter Wechselwirkung schwieriger zu erreichen sein als in der Feststellung linear kausaler Folge.

f. D ie Wechselwirkung im wissenschaftlichen und philosophischen Denken

I m wissenschaftlichen Bewußtsein ist es nicht einmal viel anders. Hier ist die Wechselwirkung erst spät entdeckt worden, und zwar in der Spezialform der mechanischen Gegenwirkung. Diese aber erschöpft das Problem nicht. J a , sie reicht, wie sich zeigte, noch kaum an seinen eigent­ lichen Bestand heran. D as liegt vor allem daran, daß man die längste Zeit die Naturprozesse final gedeutet hat. Finalprozesse aber sind etwas Begrenztes, in sich Ge­

schlossenes (sie haben Anfang und Ende), und dadurch etwas relativ Selb­ ständiges. Vollends in der Aristotelischen und mittelalterlichen Physik isolierte man sie ganz. Denn so wurden sie vorgestellt, daß jeder für sich seinen immanenten Zweck hatte. Das Ineinandergreifen der Geschehnisse, das commercium spatii, bleibt nach dieser Physik ebenso außer Betracht wie das sukzessive Weiterlaufen in infinitum. Aber selbst die klassische Physik hat nicht von vornherein Ernst gemacht mit der allgemeinen Wechselwirkung im Kosmos. Wohl taucht der Gedanke in den theoretischen Überlegungen auf, geleitet von den Phänomenen der Gravitation, der Strahlung u. a. m.; aber da sie in allen ihren Formen auf weite Raumdistanzen verschwindend gering wird, so verliert sie sich im Angreifbaren. Eine bedeutende Erweiterung ist in diese Gedankengänge erst durch die neueste Entwicklung der Stellarastronomie gekommen;

denn hier gewinnen die Feldwirkungen auf größte Entfernung über­ ragende Bedeutung. Aber über die Enge dieses Forschungsgebiets ragen die Konsequenzen noch nicht hinaus. Andererseits mutz ja auch gerade die Physik für ihre Methodenzwecke die Einzelvorgänge und Zustände iso­ lieren; nur diese kann sie direkt exakt erfassen, und stets nur im Absehen von den weiteren Zusammenhängen. Bei voller Wechselwirkung ist kein einziges Naturgesetz faßbar. Darum führt die Wisienschaft bewußt Ver­ einfachungen ein, um einen Ansatz zu finden (man denke an das Drei­ körperproblem). Aber eben die Vereinfachungen schalten die Wechsel­ wirkung aus. Daß überhaupt Gesetze eine so überragende Bedeutung für die Physik haben und hier alles auf deren Herausarbeitung angelegt ist, wirkt sich für den Gedanken der Wechselwirkung ungünstig aus. Gesetze sind das Allgemeine in den Prozessen, sie fassen also stets nur das Schema. Die volle Gegenseitigkeit der Bedingungen ist das Unschematische, das eminent Konkrete und immer wieder Andere. Wohl kehrt das Gleiche wieder, aber nicht das absolut Gleiche, nicht die volle Bestimmtheit der Zustände. Diese ist individuell. Die Wiederkehr ist keine vollständige. Sie erstreckt sich nur auf gewisse Eruntyüge. Das genügt zur Gesetzlichkeit. Aber die Ganzheit dessen, was sich in den Simultanschnitten wechselseitig bedingt, bleibt im Gesetze unerkannt. — Anders steht es in der Philosophie. Hier ist wenigstens der „Gedanke" der Ganzheit in der Querverbundenheit ein alter. Auch im Hinblick auf die Einheit des Kosmos taucht er früh auf, am stärksten wohl bei Heraklit — als das visionär geschaute Bild einer „verborgenen Harmonie" im Widerspiel der Gegensätze. I n der alten S toa nimmt er dann die Form einer durchgehenden „Mitleidenschaft" alles Seienden an. Aber der Kosmos, auf den der Gedanke hier angewandt wurde, war noch eng; die Form des Mitschwingens aller Dinge miteinander w ar durch ein teleolo­ gisches Schema entstellt und blieb im übrigen ungeklärt. I n der Neuzeit sind mancherlei neue Formen des alten Gedankens auf­ getaucht, meist auf pantheistischer Basis, wie bei Bruno, oder sogar in theologischer Wendung auf dem Hintergründe einer metaphysischen Voll­ kommenheitsidee. I n K ants „Ideal der reinen Vernunft", in den geist­ fundierten Naturbegriffen Schellings und Hegels kann man Motive dieser A rt entdecken. Grundsätzlich abgewiesen finden wir die kosmische Wechsel­ wirkung nur bei Leibniz, dessen Monaden nicht wirken und nicht leiden können. Der eigentlichen Wechselwirkung wird keine dieser spekulativen Ideen gerecht. An ihr gemessen sind es lauter Surrogate. Metaphysisch behaupten sie alle zu viel. Kategorial enthalten sie zu wenig.

M an fragt sich: woher dieses Versagen des philosophischen Bewußt­ seins vor dem an sich ganz einfachen, naheliegenden und in nuce schon früh erfaßten Gedanken der durchgehenden Bezogenheit? D as Hervorbringen ist ja um nichts erkennbarer als die gegenseitige Bedingtheit des Gleich­ zeitigen. Und das anschauliche Erleben mit seinen bildhaften Ganzheiten, dem die Besinnung auf Einzelheiten und Elemente doch in der Regel erst nachfolgt, sollte eigentlich das philosophische Denken auf Wechselwirkung hindrängen. W arum also dominiert in den Systemen die Wechselwirkung nicht viel stärker als andere Kategorien, zumal doch gerade sie in ihrem Formtypus der Systemidee als solcher eng verwandt ist? Vielleicht darum, weil der Blick des Menschen in die Welt, der er angehört, ein vorwiegend prospektiver ist; oder auch, weil er auf das eigene Ich als Bezugspunkt orientiert ist. Auf allen Gebieten gehen uns zunächst nicht die an sich bestehenden Seinsverhältnisse an, sondern nur das Verhältnis zu uns — ein Verhältnis, das den Dingen, Zuständen und Prozessen relativ äußerlich ist, vollends aber dem Weltzusammen­ hang äußerlich, oder doch von ihm aus ein untergeordnetes. Uns ist die W elt nicht nur bloß im Ausschnitt gegeben, sondern innerhalb des Aus­ schnittes auch mit einseitiger Betonung des auf uns Bezogenen. D as betrifft freilich auch andere Kategorien, zum mindesten alle diejenigen, die einen Fortgang in infinitum involvieren. Am Anschauungs­ raum und an der Anschauungszeit ist die Verendlichung mit Händen zu greifen. N ur daß hier doch stets eine Tendenz übrigbleibt, die über solche Grenzen hinausweist. Das gilt auch von der Kausalität, und hier hat es im philosophischen Bewußtsein hohe Aktualität. Daher die Aufdringlichkeit der kosmologischen Kausalantinomie. Bei der Wechselwirkung fehlt diese Aktualität, weil sie nicht in der Zeitdimension spielt und nicht mit deren Dynamik behaftet ist. Der Antrieb des systematischen Denkens, auch in der Gleichzeitigkeit zur Einheit und Ganzheit der W elt vorzudringen, ist relativ inaktuell. E r erschließt sich erst der ausgereiften und von den Perspektiven des Ich enbgiiltig losgekommenen, d. h. der rein an das Seiende als Seiendes hingegebenen Initiative des Denkens. Gegen die Enge der Perspektive ringt in der Philosophie jederzeit die Tendenz aufs Ganze. Aber sie dringt nicht überall durch. Auch ihre Sicht bleibt an Perspektiven gebunden. Sie muß, was sie fasten soll, wenigstens „absehen" können. Aber die Aufgabe des Ganzen ist unabsehbar. Indem sie davor versagt, entstehen ihr die verkürzten Weltbilder, die „Ism en". Die Ontologie erst versucht im Ernst, mit diesen aufzuräumen. Sie findet wenigstens grundsätzlich den Weg der Einstellung auf das Ganze. Darum wird die Kategorie der Wechselwirkung erst auf ihrem Boden spruchreif.

IV. Abschnitt

Natürliche Gefüge und Gleichgewichte 38. Kapitel. D as dynamische Gefüge a. Die diskreten Gebilde

Von eigentlichen „Gebilden" — Körpern, Dingen, Sachen — ist bei den bisherigen Naturkategorien nicht die Rede gewesen. E s herrschten da überall die Kontinuen vor, und mit ihnen die Unbegrenztheit. Auch die allgemeine Wechselwirkung zeigt noch diesen Zug. M it ihrer Besonderung zum „dynamischen Gefüge" bricht diese Vorherrschaft ab. Von hier ab beginnt das Reich der begrenzten Gebilde, des Endlichen, ja eigentlich überhaupt erst das Reich der „Gebilde" als solcher. Denn das dynamische Gefüge ist nichts anderes als der Erundtypus des natürlichen Ge­ bildes. D as „Gebilde" als solches ist im Gegensatz zum Prozeß zu verstehen. E s ist dem Zustand verwandt, teilt seine Auflösbarkeit im Prozeß, hat aber die natürliche Geschlossenheit und eine gewisse Konstanz vor ihm voraus. Ein Gebilde ist, was Begrenzung und Gestalt hat, sich von an­ derem ihm Nebengeordneten abhebt, weder zeitlich noch räumlich ohne weiteres in anderes übergeht und stch auch im allgemeinen Fluß des Realen als zusammenhaltend erweist. Das letztere ist seine Konsistenz: auch diese ist freilich begrenzt, wie alles an ihm begrenzt ist. Aber sie genügt, das Gebilde int Fließen der Prozesse von bloßer Zuständlichkeit abzuheben. D as Meiste, was sich den Sinnen a ls Sichtbares und Tastbares darbietet, ist von dieser Art, alles Dingliche, Körperhafte — und freilich noch sehr vieles mehr. M it der Wendung vom Prozeß, vom Zustande und deren Deter­ minationsformen zu den Gebilden tritt die Betrachtung in das Reich der Diskretion. Von hier ab überwiegen Begrenzung und Besonderung das Eontinuum und das Allgemeine. D as Eigentümliche der physischen Welt — und noch weit über sie hinaus — ist dieses, daß sie auf Begrenzung (bas-nipccs bei Alten) gestellt ist, und damit zugleich auf Diskretion. Alle eigentlichen Gebilde, aus denen diese Welt besteht, sind durchaus discreta, während die Kontinuitäten nur deren kategoriale Bedingungen sind, einerlei ob diese nun in Dimensionen, Substraten, Determinationsformen oder allgemeinen Gesetzlichkeiten bestehen.

M an kann hierin eine Bestätigung der altpythagoreischen Auffassung erblicken, daß Begrenzung zugleich Bestimmtheit ist, mit der Bestimmt­ heit aber erst das vollwertige Sein beginnt. Kategorial läßt sich das so ausdrücken: Unendlichkeit und Stetigkeit find durchgehend die elemen­ taren, fundamentaleren, d.h. die „stärkeren" Formmomente, zugleich aber auch die niederen. Endlichkeit und Diskretion find die abhängigen, komplexeren, d.h. die „schwächeren" Kategorien, zugleich aber auch die höheren, auf die es eigentlich ankommt im Aufbau der Natur. Die Kontinuen hören zwar auch weiter oberhalb nicht auf, sie gehen durch, kehren in den diskreten Gebilden modifiziert wieder. Aber das Eigentümliche der höheren Naturformen, ihr kategoriales Novum — und zwar je höher hinauf, um so mehr — liegt in den Besonderungen der Diskretion. Freilich ist es nicht so, daß die Betrachtung damit ohne weiteres in den Bereich des sinnlich Gegebenen einträte. Hier walten noch Unter­ schiede, die nicht übersprungen werden dürfen. Aber sie nähert sich doch dem Gegebenen. Denn die Wahrnehmung hängt nun einmal am End­ lichen und Gebildehaften. Die Kontinuen, und mit ihnen die fundamen­ taleren Naturkategorien find anschauungsfern, selbst Raum und Zeit machen darin keine Ausnahme, denn anschaubar find ja nicht sie selbst, sondern nur das begrenzte Räumliche und Zeitliche in ihnen. Die be­ grenzten Gebilde aber find, auch wo sie sich durch ihre Größenordnung der Wahrnehmung entziehen, doch nach Analogie des Wahrnehmbaren vorstellbar. Dem unendlichen und dem Eontinuum gegenüber, die stets un­ greifbar bleiben, bilden sie darum dennoch das Reich des Greifbaren. M an gelangt mit ihnen in Lebensnähe und in das — freilich noch sehr weit verstandene — Reich des Menschen.

b. Das begrenzte Wirkungsgefüge als dynamisches Gefüge

Weit reicher als die allgemeine Wechselwirkung im Kosmos ist daher die spezielle der begrenzten Gebilde in sich. Auf große Distanz wird jene ohnehin verschwindend gering, eine Größe, die man bei Betrachtung lokaler Verhältnisse schließlich mit Recht vernachlässigt. Dagegen in den engen Bereichen begrenzter, aber scharf ausgeprägter Zusammengehörig­ keit ist Wechselwirkung das beherrschende Moment. Hier verdichtet sie sich zum festen Gefüge gegenseitiger Bedingtheit. E s ist wahr, daß die Masse einer Stecknadel auf der Erde auch die Sonne bewegt, aber die Bewegung ist lächerlich gering. Verschiebt sich aber die Masse eines Kontinents auf der Erdoberfläche, so kann dadurch die Rotationsachse der Erde ver­ lagert werden. Auf das Verhältnis innerhalb einer Größenordnung und eines geschlossenen Bereichs kommt es an.

Durch das Austreten solcher Bereiche hebt sich aus der allgemeinen Wechselwirkung das besondere Wirkungsgefüge — das dynamische Ge­ füge — als begrenztes Gebilde heraus. Und damit hebt sich auch seine besondere Seinsform als neue Kategorie von jener ab. Der Name „dyna­ misches Gefüge" will besagen, daß hier alles auf dem gegenseitigen Kräfte­ verhältnis der Teile oder Glieder beruht, daß also die Einheit und Ganz­ heit des Gebildes eine von innen her bedingte ist. E s ist kein Zufall, daß das Problem der Wechselwirkung sich ge­ schichtlich fast nur an die extremen Fälle gehalten hat, an das Verhältnis von Stoß und Gegenstoß einerseits und an das Ganze der räumlichen W elt andererseits. Die Problemlage zu Newtons und K ants Zeit brachte es so mit sich. Dabei wurde die ganze Fülle der mittleren Erscheinungs­ formen übersprungen. Diese mittleren Formen aber find das Wichtigste, denn die Welt besteht wesentlich aus ihnen. Alle eigentlichen „Gebilde" gehören hierher, alles, was nicht ephemer ist. Jene Extreme nämlich sind nur flüchtige Zustände, die im Prozeß sofort wieder verschwinden. Sie blitzen gleichsam nur für einen Moment auf. Die Wechselwirkung als solche hat es nur mit diesen flüchtigen Zuständen zu tun, die laufend in­ einander übergehen und deshalb auch für die Erkenntnis schwer greifbar sind. Erfaßt doch selbst die Wissenschaft sie nur mit Abstrichen, die schließ­ lich nur den Typus des Zusammenhanges übriglassen. Die Analyse des Zustandes aber hat gezeigt, daß es auch Kollokationen von Dauer gibt, relativ konstante Zustände, in denen entweder der Gesamtprozeß verlangsamt ist oder die Einzelprozesse sich gegenseitig kon­ stant in Gang halten, so daß das Ganze sich als Gebilde erhält. Zustände dieser A rt haben eine gewisse innere Resistenz, durch die sie S tabilität gewinnen. W orin die Resistenz besteht, das ist die weitere Frage, der die Analyse nachgehen muß. M an muß sich hier erinnern, wie die Analyse der Substanz auslief, wie sich ein absolut Beharrendes schließlich doch nicht einwandfrei auf­ weisen ließ, wie aber relative Substantialität sich mannigfaltig abstuft (Kap. 23k). Jedes Gebilde von relativer Konstanz, weit entfernt, Sub­ strat zu sein, selbst im Grunde nur ein Zustand mannigfacher Faktoren, erweist sich doch seinerseits als Träger mannigfaltiger Momentanzustände; es spielt so die Rolle des „zeitweilig" Jdentischbleibenden, indem es tatsäch­ licher Veränderung zugrunde liegt. Die Sphäre der „Dinge" ist voll solcher Gebilde, desgleichen die des Lebendigen. F ü r die Fundierung echter Ver­ änderung genügen eben „relative Substrate". R ur auf das zeitweilige Jdentischbleiben der Träger kommt es an, wo flüchtig wechselnde Zustände als die ihrigen auf sie bezogen sind.

An den konstanten Zuständen kommt daher ein anderer Typus der Wechselwirkung auf: das im Prozeß sich haltende, dafür aber begrenzte Wirkungsgefüge. D as ist nicht das Dingliche und Dingartige allein, etwa der feste Körper, an den man dabei vielleicht zuerst denkt. Sondern alle besonderen Typen von Gefügen gehören hierher, insonderheit solche, die in sich prozeßhast sind, was ja gerade am Dinglichen als solchem nicht aus­ geprägt ist. Alles, was sich durch innere Geschlossenheit aus dem durch­ gehenden Weltzusammenhange heraushebt, ist von dieser Art, auch wenn es nicht von räumlich scharfen Grenzen, wie der feste Körper von seinen Oberflächen, eingeschlossen ist. Das Planetensystem ist nicht weniger ein dynamisches Gefüge als der Erdkörper, der Stromkreis nicht weniger als der balancierende Kreisel. Dagegen ist es leicht zu sehen, daß die beiden letzten Beispiele sich von den ersteren durch ihre Unselbständigkeit unter­ scheiden.

c. Natürliche, selbständige und vrimär-dynamische Gefüge Der Ausdruck'„Gefüge" soll in diesem Zusammenhang den verbrauchten Terminus „System" ersetzen. Aus dem letzteren hört man allzuleicht einen statischen Charakter heraus, das W ort heißt nun einmal „Zu­ sammenstand". D as Bild des „Gefüges" ist plastischer; hier ist das Sicheinfügen der Glieder das Wesentliche, und das paßt gut auf Prozeß­ momente und Kraftkomponenten. Dynamisch" aber ist ein Gefüge, so­ fern sein Aufbau nicht so sehr durch seine Teile als durch ein Widerspiel von Kräften und Prozessen zustande kommt. M an muß als weitere Einschränkung hinzufügen, daß es sich im Be­ reich der N atur nur um die „natürlichen" und relativ selbständigen dy­ namischen Gefüge handelt. Bei diesen darf man sich nicht an Dinge unserer gewohnten Umgebung halten, die meist von Menschenhand ge­ formt und Menschenzwecken angepaßt sind. Sie sind weder natürliche, noch selbständige Gebilde. Aber auch, wenn man von ihnen absieht und sich an offenkundig naturgewachsene Formationen hält, steht man noch nicht bei dynamischen Gefügen von nennenswerter Selbständigkeit. Ein Sandkorn z. B. ist ein Zerreibungsprodukt aus gröberem Gestein, aber die hervorbringende K raft seiner Form ist nicht die seine. Ein Berg ist ein Aufschichtungs- und Faltungsprodukt der Erdrinde, aber die formenden Kräfte liegen nicht bei ihm, sondern bei den Horizontalverschiebungen von Kontinentalschollen. Ein rundlich geformter Feldstein im Sande un­ serer Niederungen hat seine relativ geschlossene Gestalt vom Eise ehe­ maliger Gletscher her, seine innere kristallinische Struktur aber hat er von bestimmten Erkaltungszuständen noch weit früherer Erdperioden her. E r H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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hat also beides nicht aus sich. Das nächsthöhere Gefüge von dynamischer Selbständigkeit, dem er beides verdankt, ist nichts Geringeres als der Erdkörper. Von solchen Gebilden, die zwar auch ihre dynamische Seite haben, aber keine selbständige, soll hier nicht die Rede sein. E s sind zwar natürliche aber nicht primäre Gefüge. Die uns umgebende N atur ist zwar voll von ihnen, aber ihr Aufbau und ihre Dynamik hängt nicht an ihnen, sondern an Gefügen anderer Art. F ür die letzteren haben wir soeben das Beispiel des Erdkörpers gefunden, desien Form und innere Schichtenlagerung ihre eigene, durch die eigene Masse, die eigene Rotation, den eigenen W ärme­ ausgleich usf. bestimmten Gründe hat. Auch die kosmischen Bewegungs­ systeme, vom Planetensystem aufwärts bis zu den großen S piral­ systemen, eine Reihe also, die mehrere Größenordnungen umfaßt, gehören hierher; desgleichen aber auch die Atome und Moleküle, sowie unterhalb der ersteren die Elektronen und Protonen. E s gibt nicht allzuviele Arten oder Ordnungen solcher primärer Gefüge, wennschon es viele Unterarten innerhalb jeder Ordnung gibt. Der natürlichen Gefüge überhaupt gibt es viel mehr, wenn man die abhängigen und gar die zeitlich flüchtigen Formen mit dazurechnet. Der Regentropfen z. B. ist ein solches, und zwar durch die Eigenkraft seiner Oberflächenspannung, die als formgebendes dynamisches Moment wirkt, obgleich seine Dauer die Fallzeit nicht überschreitet. Auch von den kleinen schwebenden Eisnadeln und ihren sternförmigen Zusammensetzungen gilt Ähnliches; hier sind es die Richtkräfte der Kristallisation, welche die Form bestimmen. Überhaupt bilden die Kristalle eine reiche Gruppe natürlicher Gefüge. Dagegen, was uns im Leben als „Ding" begegnet, ist meist nur Bruchstück oder Teilstiick natürlicher Gefüge und meist durch nachträgliche Einflüsse äußerer Kräfte so weit entstellt, daß es besonderen Wissens um seine Entstehung bedarf, um auch nur erkennen zu können, wovon es ein Teilstück ist. Andererseits darf man den Begriff des natürlichen und primären Ge­ füges auch nicht engherzig beschränken. Es geht z. B. sehr wohl an, auch den Gesamtzustand des Kosmos hierher zu rechnen. Auch er ist von hoher S tabilität bei mancherlei Veränderung der Teile — gemessen freilich nur an den greifbaren Verhältnissen der Menschensphäre, die ihr eigenes Tempo mittleren Maßes hat; denn die Auffaßbarkeit der Veränderung ist an den Rhythmus der Vitalprozesse gebunden, an die Lebensdauer des Menschen, an die kleinste Zeitdistanz trennbarer Wahrnehmungen u. a. m. Gemessen an der Ausdehnung des Kosmos und den Werdegängen der größeren Gefüge in ihm ist sein Eesamtzustand vielleicht ebenso flüchtig wie die ephemeren Prozeßstadien der erlebbaren Geschehnisse.

E s ist daher erforderlich, das dynamische Eefüge außer seiner relativen Stabilität noch durch ein zweites kategoriales Moment von der all­ gemeinen Wechselwirkung abzuheben. Dieses zweite Moment ist der eigentliche Diskretionsfaktor: die Begrenzung des Gefüges nach außen. Damit hängt aber auch der Typus relativer Selbständigkeit zusammen, der ihm durch seine Geschlossenheit in sich zukommt. W ir nähern uns hiermit dem zentralen Erundzuge der dynamischen Eefüge: ihrem Zusammenhalt in sich, d. h. ihrer Konsistenz, verstanden als Gebundenheit von innen her gegen dynamische Einwirkung von außen. Solche Konsistenz kann nur in der Stärke des Eefügecharakters selbst liegen, in dem Übergewicht der gegenseitigen Bezogenheit der Glie­ der und Teilvorgänge aufeinander. Denn Konsistenz ist nicht Substantialität, sondern ein Beharrlichsein anderer A rt (Kap. 24b). Und bestehen kann sie nur, wo die Jnnenkräfte eines Ganzen die auflösende Einwirkung von außen überwiegen. d. Dynamische Begrenzung der primären Eefüge

Bedenkt man nun, daß die allgemeine Wechselwirkung alles neben­ einander im Raume Bestehende umfaßt, so ist offenbar das Grundphänomen in den dynamischen Gefügen dieses, daß sie überhaupt eine A rt Grenze um sich herumziehen, durch die sie sich allererst gegen an­ deres Koexistierendes abheben. Sie grenzen sich eben „gegen" die all­ gemeine Wechselwirkung ab. Sie können das zwar nicht in der Weise, daß sie die letztere etwa in ihrem Raumbereich aufheben, wohl aber in der Weise, daß sie die durch sie hindurch wirksamen dynamischen Zusammen­ hänge größeren Ausmaßes durch die K raft innerer Verbundenheit über­ treffen. S ie heben sich dadurch aus dem größeren Ganzen, in dem sie stehen, als Gebilde heraus, und zwar ohne aus dessen weiter auslangenden Zu­ sammenhängen herauszutreten. Sie bleiben darin, indem sie sich heraus­ heben. Sie schneiden die Fäden der durchgehenden Wechselwirkung nicht ab, sondern überbieten sie — dadurch, daß ihr innerer Zusammenhalt in den Grenzen seines Bereichs dem des nächsthöheren Ganzen dynamisch überlegen ist. Die Begrenzung eines dynamischen Gefüges ist also eine Funktion seiner Jnnenkräfte, sofern diese der auflösenden Einwirkung von außen entgegenstehen. Die äußere Form solcher Eefüge ist somit nicht eine se­ kundäre, ist keine „äußere" Angelegenheit an ihnen, sondern eine eminent innere. Sie ist die dem ganzen Gebilde wesentliche, aus ihm selbst be­ stimmte und von ihm gegen deformierende Einflüsse aufrecht erhaltene Form.

D as wird sehr einleuchtend, wenn man bedenkt, daß bei der Mehrzahl der dynamischen Gefüge die Begrenzung nach außen keine scharfe Raumgrenze mit räumlichen „Oberflächen" biüiet, sondern ein verschwimmendes Übergehen in die räumliche Umgebung ist. So ist es z. B. bei den kosmischen Systemen aller Größenordnungen, am greifbarsten bei den allergrößten, deren innere Geschlossenheit wir noch klar erfassen können, den großen Spiralsystemen und den ihnen verwandten „ellip­ tischen Nebeln". Aber auch noch bei den Kugelsternhaufen ist es das­ selbe: es läßt sich nirgends eine scharfe Außengrenze angeben, und selbst wenn wir die äußersten Glieder mit Sicherheit angeben könnten, sie würden doch nicht eine Außengrenze bilden, sondern eher selbst wie Außenposten des Ganzen wirken. Die Einheit solcher Gefüge ist nur von ihrem In n eren her faßbar, und nur von einer zentralen Zone aus kann man sinnvollerweise Zonen abnehmender Dichte unterscheiden. I n Wirklichkeit aber liegt einer solchen räumlichen Gliederung bereits die Vorstellung einer inneren dynamischen Gebundenheit zugrunde, in den genannten Fällen also die einer rein gravitativen. Dieser Typus der nach außen verschwimmenden, nur durch Jnnenbindung gegebenen Begrenzung ist noch für viele andere Arten des dynamischen Gefüges charakteristisch. Nicht nur, daß es auch in einem Planetensystem nicht anders ist — wir wissen ja bis heute nicht, wie weit in den Raum hinaus das unsere reicht —, auch für die geschlossenen Weltkörper gilt ein Gleiches. Die scharfe Grenze am Sonnenrande, die wir sehen, ist nur ein Strahlungsphänomen der sog. Photosphäre; der Sonnenkörper, ein E asball mit Schichten von nach außen abnehmender Dichte, geht über sie hinaus, läuft in die wechselnden Formen der Korona aus, die nirgends scharfe Außengrenzen zeigen. Auch für die Planetenkörper gilt noch dasselbe, sofern ihre weitläufig aufgebauten Atmosphären noch mit zu ihnen gehören. Freilich ist das Phänomen hier weniger greifbar und eindrucksvoll. Und bei den Monden scheint es ganz aufzuhören; so wenigstens wenn sie alle dem Erdmond gleichen, der keine Atmosphäre hat und mit seinen festen Gesteinsformen direkt in den leeren Weltraum hin­ einragt. Aber bei solchen Trabanten ist auch die Selbständigkeit des Ge­ füges schon eine eingeschränkte. Vielleicht darf man sagen, daß feste Körper im Kosmos überhaupt eine Seltenheit sind. Die große Menge der im Raume verteilten M aterie dürfte gasförmig sein, sei es nun, daß sie sich in Nebelmasien über große Strecken ausdehnt, sei es, daß sie sich in Easkugeln verdichtet. Unter den natürlichen dynamischen Gefügen sind vielleicht nur die Kristalle als feste, nach außen scharf begrenzte Körper anzusehen. Freilich, wenn man an ihre sehr komplizierten Entstehungsbedingungen denkt» die an beson-

bete Teilzustänbe in weit größeren Gefügen gebunben find, scheinen auch fie nicht von prim ärer Selbständigkeit zu fein. Die Tragweite bes Prinzips einer rein bynamifchen, von innen her bestimmten Begrenzung wird aber erst voll überblickbar, wenn man hinzunimmt, baß dieses Prinzip auch für die kleinsten Aufbauelemente bet N atur Geltung hat. I n den Korpuskulartheorien der Neuzeit, weit bis ins 19. Jahrhundert hinein, dachte man sich die Atome noch nach demokriteifcher A rt als kleine feste Körper, geometrisch begrenzt und nur durch ihre Winzigkeit der Wahrnehmung entzogen. Das hat sich auf Grund eines überwältigenden Tatsachenmaterials von Grund au s geändert. Die Atome haben sich als ganze Bewegungssysteme kleinerer Einheiten erwiesen, zum Teil als hochkomplizierte. Ob die heutige Vorstellung dieses System­ typus, das sog. „Atommodell", die endgültige ist oder nicht, mag immer­ hin dahingestellt bleiben. Soviel aber ist gewiß, daß es sich nicht um einen einheitlichen Körper handelt, sondern um ein dynamisches Gefüge von Atomkern und beweglichen Elektronen, wobei die „Bahnen" der letzteren die Größe, d. h. die Begrenzung des Atoms nach außen bestimmen. Jeden­ falls also liegt beim Atom grundsätzlich derselbe Begrenzungsmodus vor wie bei den kosmischen Systemen. über das Atom hinaus läßt sich das Prinzip nicht verfolgen. M an müßte dazu missen, was eigentlich die Elektronen und die Aufbauelemente der Atomkerne sind. Viel mehr als den elektrodynamischen Charakter der „Ladung" wissen wir von ihnen nicht; und das genügt nicht zur B e­ urteilung räumlicher Struktur. M an darf aber wohl annehmen, daß es sich hier erst recht nicht um etwas dem festen Körper Vergleichbares handelt, also auch nicht um begrenzende Oberflächen.

e. Zonen relativer Jndifferenzierung als dynamische Grenzen

Sind die scharfen Raumgrenzen schon überhaupt eine Seltenheit in der N atur, so bilden sie an den primären dynamischen Gefügen vollends die Ausnahmen. Es ist also wichtig, sich die eigentliche Struktur der bloß dynamischen Begrenzungsform klarzumachen. Das Wesentliche hierbei ist nicht, daß es irgendwo an jedem Gefüge die äußersten Glieder gibt, über die hinaus keine mehr ihm zugehören, oder auch die äußerste Reichweite ihrer Bewegung. Vielmehr, daß es sie gibt, ist schon die Folge von etwas anderem: diese dynamischen Gefüge ziehen um ihren zentralen Bereich herum eine Zone dynamischer Indifferenz, durch welche sie sich absondern gegen die umgebenden größeren, aber in ihren Ausläufern schwachen Kraftfelder.

M an macht sich das am besten an den kosmischen Systemen klar, in denen die bindende Kraft einfach die der Gravitation ist. 2m Inneren dieser Systeme ist alles durch ihre eigene innere Gravitation bestimmt; nach außen zu nimmt diese ab, und irgendwo gibt es eine Zone, in der sie dem umgebenden größeren Gravitationsfelde nur noch eben die Wage hält. Das ist dann die Grenzzone des Gefüges, die Zone relativer I n ­ differenzierung der umgebenden Feldwirkung. Durch sie hebt sich das Gefüge aus seiner dynamischen Umgebung als geschlossenes Gebilde her­ aus. Darum ist feine räumliche Begrenzung nicht die einer Oberfläche, sondern eine verschwimmende, rein dynamische. Das will besagen: sie ist eine dynamisch von innen her bedingte, zugleich aber auch eine nur relativ auf bestehende äußere Kräfte gezogene Begrenzung. I n einem stärkeren umgebenden Kraftfelds wäre sie enger, in einem schwächeren weiter gezogen. M an sieht, das Moment der Jndifferenzierung ist in diesem Zu­ sammenhange das ausschlaggebende: im Inneren der Gefüge sind die äußeren Kräfte offenbar so weit indifferenziert, daß sie kaum mehr Hineinspielen. Darauf beruht die hohe S tabilität mancher Eefügetypen, z. B. die der meisten bekannten Atomarten; es bedarf schon hoher Energien, um auch nur einzelne Elektronen aus ihrem Verbände her­ auszusprengen, und noch ganz anders hoher, um die Atomkerne anzu­ greifen (Atomzertrümmerung). Zugleich aber sieht man daran, daß solche äußere Energien sehr wohl möglich find. Theoretische Überlegungen sagen uns, das sie im Kosmos auch sehr wohl vorkommen, überall da nämlich, wo im Inneren großer Massen unter Entwicklung hoher Tem­ peraturen Energiebefreiung durch Atomzerfall stattfindet. Dort überwiegt eben das äußere Kraftfeld die inneren Bindekräfte des Gefüges. Die R elativität der Jndifferenzierung wird überall sichtbar, wo Gefüge verschiedener Größenordnung sich ineinanderfügen. Die Trabanten­ systeme einzelner Planeten innerhalb des Sonnensystems sind gute Paradebeispiels dafür. Die beiden innersten Planeten haben keine Monde; in ihrer Zone ist die Sonnenschwerkraft noch zu mächtig. Jupiter und S atu rn haben weit ausladende Trabantensysteme. Das hängt gewiß nicht an dem invers-quadratischen Gesetz der Gravitation allein, aber doch wohl mit an ihm. D as Jupitersystem könnte sich in der Entfernung der Erde (von der Sonne) nicht halten, die Bahnen der äußeren Monde würden die Jndifferenzzone des Systems weit überschreiten; denn in solcher Nähe zur Sonne wäre diese Zone viel enger als in der fünfmal so großen Entfernung des Jupiter. Und tatsächlich nähern sich doch auch in dieser großen Entfernung bei etwa 25mal so schwacher Feldwir­ kung der Sonne die Bahnen der beiden äußersten Jupitermonde der

dynamischen Grenze des Systems; was daran kenntlich wird, daß die Bahnen instabil find, d. h. sich bei jedem Umlauf verändern. Ein Beispiel größeren S tils bieten die Kugelsternhaufen dar. Es scheint nämlich, daß diese wunderbar kugelsymmetrisch (oder leicht ellip­ tisch) gebauten Systeme sich auflösen, wenn sie zu nah an die Hauptebene des galaktischen Systems (die Äquatorebene der Milchstraße) heran­ kommen. Denn int ganzen drängen sie sich nach der Milchstraße hin zu­ sammen, fehlen aber in der nächsten Nähe des galaktischen Äquators ganz. Dieses merkwürdige Phänomen ist schwer anders deutbar, als daß in der Nähe dieser Ebene die Gravitation der umgebenden Massen zu groß wird, so daß die Haufensterne auseinandergezogen werden. Und in der T at finden sich gewisie llbergangsformen, die das zu bestätigen scheinen. Die Serie solcher Beispiele ließe sich beträchtlich verlängern. W orauf es hier ankommt, ist aber schon an den wenigen sichtbar: es besteht immer irgendein größerer dynamischer Zusammenhang, der über das Gefüge hinaus und durch es hindurch greift, aber innerhalb seiner in­ differenziert ist. Das Gefüge selbst aber kommt erst durch diese Jndifferenzierung zustande; darum ist seine äußere Form durch deren Grenzzone nach außen hin bestimmt. F ü r den Allzusammenhang des Kosmos ist die Folge solcher dyna­ mischer Begrenzungen — auch dort, wo diese nur sehr relativiert auf­ treten — die Aufteilung des Ganzen in dynamische Bezirke, und damit zugleich die Gliederung des Kosmos in relativ stabile geschloffene Gebilde. Der Aufbau der physischen Welt beruht keineswegs, wie man wohl ein­ seitig gemeint hat, auf den durchgehenden Kontinuen allein, auch nicht auf durchgehender Gesetzlichkeit allein, sondern ebenso wesentlich auf der Begrenztheit geschloffener Gebilde. Das ist eines ihrer Grundgesetze. Begrenzung wie Geschlossenheit aber find Funktionen dynamischer 2ndifferenzierung. Das gilt im Kleinsten wie im Größten, wenn es auch nicht an allen dynamischen Gefügen so anschaulich gemacht werden kann wie an den genannten. Denn darauf beruht die primäre, alle speziellere Gliederung mitbestimmende Diskretion der physischen Welt. Die große Menge der sekundären Gefüge ist eben von den prim ären schon getragen. Hierbei wird zugleich noch eine andere Regel im Aufbau des Kosmos sichtbar: die größten Gebilde, die sich auf diese Weise herausgliedern, sind keineswegs immer die höchsten. Sie sind weder notwendig die differen­ ziertesten noch auch notwendig die stabilsten. Gerade der Kosmos als Ganzes ist dafür ein Beispiel: er ist auf einigen wenigen dynamischen Erundmomenten aufgebaut, aber schon an der Struktur des Erdkörpers,

obgleich dieser verschwindend klein gegen ihn ist, reicht die seinige schwer­ lich heran. Noch viel höher geformte Gefüge aber gibt es in weit gerin­ gerer Größenordnung auf der Erdoberfläche. Freilich darf man daraus auch nicht voreilig den umgekehrten Schluß ziehen. Auch die kleinsten Gefüge sind nicht die höchsten, wennschon solche von besonders hoher Stabilität. Die wirklich höchsten Formen dürften in gewissen mittleren Größenordnungen liegen. Dafür ist das Reich des Organischen der einfache Beleg. Aber diese Gefüge find dann auch keine bloß dynamischen mehr.

39. Kapitel. Innere Dynamik and StabUität der Gefüge a. Bewegende Kräfte, ihr Pendeln und ihr Ausgleich Ein Gefüge ist mehr als eine Summe von Gleichartigem, aber auch mehr als bloße Ganzheit von Teilen. Beides find bloß quantitative Begriffe. Ein Gefüge setzt fich nicht au s Teilen, sondern aus Gliedern oder Elementen zusammen, die außerhalb seiner gar nicht mehr das sind, was sie in ihm sind, also ihre Hauptbestimmung, das spezifische „Eliedsein" selbst, erst vom Gefüge her erhallen. D as find Unterscheidungen, die schon an der allgemeinen Elementarkategorie des „Gefüges" überhaupt und seines Gegenstückes, des „Elements", ausgemacht werden konnten (vgl. Aufbau, Kap. 33 a). Von dieser Elementarkategorie ist das dynamische Gefüge eine besondere Abwandlung; denn in allen Seinsschichten gibt es mannigfache Formen und Typen des Gefüges. E s ist also selbstverständ­ lich, daß sich die Erundbestimmungen der Fundamentalkategorie auf das dynamische Gefüge übertragen. Auch im dynamischen Gefüge ist der Zusammenhang nicht einfach von den Gliedern her bestimmt, sondern ebensosehr die Glieder vom Zu­ sammenhang her. Darüber hinaus gilt es, die besondere Artung des Gefüges, seinen Erundtypus, zu bestimmen. F ür den aber ist zunächst charakteristisch, daß es sich nicht um körperhafte Glieder allein handelt, sondern auch um Prozesse und um die hinter diesen stehenden Kräfte. Es sind ja nicht bloße Figuren und Gestalten, wie die geometrischen Gefüge, sondern Realgebilde, die im Fluß der Prozesse auftauchen, aber int Gegensatz zu den flüchtigen Zuständen relative S tabilität und Geschlossen­ heit zeigen. Von ihrer Geschlossenheit nun hat bereits die Betrachtung ihrer Begrenzung eine gewisse Vorstellung gegeben. Worauf aber beruht ihre S tab ilität? Denn S tabilität als solche ist ja nur eine Folgeerschei­ nung. Wovon aber ist sie die Folge?

Sie kann nur, ähnlich wie die Begrenzung, auf einem inneren Ver­ hältnis der Kräfte und der von ihnen in Gang gehaltenen Prozesse beruhen. Denn um statische Gebilde handelt es sich hier nicht. I n jedem dynamischen Gefüge laufen bestimmte Prozesse, die mit zu seinem Aufbau gehören und sich gegenseitig beeinflussen. Die Resistenz des Gefüges gegen auflösende Einflüsse muß dann auf einem Verhältnis der inneren Prozesse beruhen, welches diese entweder dauernd im Gange hält oder aber sie so verlangsamt, daß das Ganze im Vergleich mit den Vorgängen seiner Umgebung sich nahezu gleichbleibend erhält. I n beiden Fällen haben wir es mit einem relativ stabil gewordenen Gleichgewichtszustand innerer Prozesse zu tun, der selbst wiederum auf ein Gleichgewicht der bewegenden Kräfte zurückgeht. Die Stabilität des Gefüges — von außen gesehen also die relative Dauer seines Eesamtzustandes — ist dann nichts anderes als die Ausgewogenheit des inneren dynamischen Gleichgewichts. Diese Ausgewogenheit ist offenbar dann vor­ handen, wenn im Inneren Prozesse, die einander entgegenwirken, sich so in Schach hallen, daß eine Steigerung des einen auch den anderen steigert, sein Nachlassen aber auch den anderen nachlassen läßt. Und das ist es nun, wofür wir in der N atur die größten Beispiele haben. M an muß sich dabei nur an die echten dynamischen Gefüge halten, und zwar an die primären und selbständigsten, die ihre Aufbaukräfte wirk­ lich in sich haben, und nicht außer sich, wie die Bruchstücke und Teilstücke, die in der Sphäre der Wahrnehmung immer das unmittelbar Gegebene ausmachen. So ist das Atom, verstanden im Sinne der heutigen Atom­ dynamik, ein reines Bewegungssystem und kann a ls das präziseste Bei­ spiel für die innere dynamische Ausgeglichenheit gelten, sofern auf dieser die S tab ilität des Gefüges beruht. Die Gebundenheit der Elektronen an bestimmte Bahnen, die sie um den Kern beschreiben, macht das geradezu sinnfällig. Die Bahnen eben stellen Gleichgewichtslagen dar, in denen sie sich halten, gebunden durch die Bindekräfte des Atomkerns. Noch besser durchschaubar ist das Verhältnis am Planetensystem. Hier liegt in der Bewegung jedes Gliedes ein klar durchschaubares Widerspiel zweier Kräfte zugrunde, der tangential gerichteten Trägheitskraft und der Sonnengravitation. Beide halten sich in der Weise die Wage, daß eine geschlossene, relativ stabile Umlaussbewegung zustande kommt, bei welcher der Abstand des Planeten von der Sonne um einen gewissen mittleren W ert herum pendelt. Dieses Pendeln ist in der elliptischen Form der B ahn anschaulich gegeben. Entfernt sich der P lanet von der Sonne, so muß er die Gravitation überwinden, verlangsamt also seine Geschwin­ digkeit; dadurch gewinnt die Gravitation das Übergewicht, zieht ihn asso von einem bestimmten Punkte der Bahn ab (dem Aphel) wieder zurück

in größere Nähe zur Sonne. Nähert er sich ihr nun aber wieder, so erfährt er durch die Gravitation eine Beschleunigung, wodurch die tan­ gentiale Komponente wächst; also muß er sich von einem bestimmten Punkte der Bahn ab (dem Perihel) wieder von der Sonne entfernen. I n diesem Beispiel handelt es sich offenbar um ein solches Gleich­ gewicht der Kräfte und der entsprechenden Bewegungskomponenten, das seine S tab ilität in gegenseitiger Beeinflusiung hat. Und zwar funktioniert die letztere so, daß immer diejenige K raft zeitweilig gehemmt wird, die zur Zeit über das Mittelmaß hinausschießt; oder auch so, daß immer diejenige verstärkt wird, die zur Zeit gehemmt ist. Solche dynamische Gefüge befinden sich dauernd im Pendeln um einen mittleren Zustand der Ausgeglichenheit. J e geringer hierbei die Pendel­ ausschläge sind, um so ausgeglichener und in sich stabiler ist das System. J e größer sie sind, um so labiler ist es. Der Beweis dafür ist, daß es für jedes dynamische Gefüge eine Grenze der Ausschläge gibt, von der ab es in der T at labil wird und sich auflöst. Grundsätzlich unauflösbare Gefüge kennen wir in der N atur nicht. Die Grenze der S tabilität aber ist dort erreicht, wo die Ausschläge so groß werden, daß die Gegenkraft versagt. Und das geschieht überall, wo Autzenkräfte auf das Gefüge einwirken, die sein inneres Gleichgewicht aufheben. Ein gutes Beispiel dafür ist das oben gebrachte von den Kugelsternhaufen (Kap. 38 e), das zwar hypo­ thetisch, aber unter Annahme plausibler Maffenwerte doch über­ zeugend ist. b. Dynamischer Aufbau der Weltkörper. Grenzen der Stabilität

M an erkennt in diesen Beispielen ohne weiteres die Funktion des inneren Ausgleichs zwischen den durch einander gebundenen Kräften. Diese Form des pendelnden Ausgleichs nähert sich schon dem Typus der selbsttätigen Regulation. Auch leuchtet es ein, daß die Grenzen dieser A rt von S tabilität nicht ein Gegenargument, sondern eher eine Bestätigung des ganzen Verhältnisses find. Denn ein dynamisches Gefüge hat keine andere A rt von Resistenz gegen Einwirkung auflösender Kräfte als die Stärke der inneren Gebundenheit, die selbst bereits die Form eines Aus­ gleichs hat, also auch störbar sein muß. E s ist aber nicht nötig, sich bei dieser Orientierung auf Beispiele mechanischer Bewegung zu beschränken. M an findet analoge Verhältnisie auch bei Gefügen anderer Art. Die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben auf astrophyfikalischem Gebiet durch methodische Verbindung von Spektrographie und mathematischer Analyse überraschende Einblicke in den inneren Aufbau der großen leuchtenden Easkugeln gebracht, die wir Fixsterne nennen.

Eine solche Easkugel hat ihre S tabilität durch das Widerspiel von Gravitation einerseits, Gasdruck und Strahlungsdruck andererseits, wobei der letztere den Gasdruck um vieles überwiegt, beide Formen des Druckes ober Funktionen der Temperatur sind. D as Gleichgewicht, in dem die Easschichten sich relativ ruhend erhalten, stuft sich von innen nach außen ab, wobei der Temperaturgradient, der Strahlungsgradient und Druck­ gradient sich annähernd berechnen lassen. Da nun die von den Photo­ sphären in den Weltraum ausgehende Strahlung einen ununterbrochenen Energieverlust bedeutet, das ganze Gefüge aber sich über große Zeit­ räume hin (über Tausende von Zahrmillionen) erhält, so muß im Inneren Energiebefreiung durch Atomzerfall stattfinden; denn die Schrumpfung allein (wie eine ältere Theorie meinte) reicht dafür nicht entfernt aus. Hier halten also zwei Prozesse, ständiger Energieverlust und ständiger Energieersatz, einander im Gleichgewicht. Da aber der Eesamtvorgang einen Massenverlust zur Folge hat, so schließt er zugleich seine eigene zeitliche Begrenzung ein, und zwar a ls eine gleichfalls von innen her bestimmte. Auch dieses Gleichgewicht reguliert sich selbsttätig, aber nur bis zu gewissen extremen Zuständen. Bei zu großen Massen scheint der S trah ­ lungsdruck zur Teilung zu führen. Dafür kann man in der überaus großen Anzahl der Doppelsterne einen Beleg sehen. Auch haben wir in gewissen Formen veränderlicher Sterne (Cepheiden und Mirasterne) Beispiele periodisch schwankender Strahlung vor Augen; und eine heutige Hypothese besagt, daß es sich dabei um ein instabil gewordenes Gleich­ gewicht zwischen innerem Strahlungsdruck und Gravitation handelt, so daß diese Sterne ihren Umfang periodisch ändern und gleichsam „pul­ sieren". Eine noch weitergehende Theorie besagt, daß auch die gewaltigen einmaligen Energieausbrüche der plötzlich auftauchenden „neuen Sterne" (Novae) auf einem ähnlichen Versagen des Strahlungsgleichgewichts beruhen. Wie dem aber auch sei, jedenfalls sieht man, daß es das ausgewogene Gleichgewicht als Stabilitätsfaktor auch bei anders gearteten K raft­ komponenten als den mechanischen der Vahnbewegungen gibt. Und darauf kommt es im Hinblick auf das Prinzipielle des dynamischen Gefüges allein an. Daß es auch hier unter bestimmten Umständen das Phänomen des Pendelns gibt, wie das Beispiel der Cepheiden zeigt, macht die Analogie nur noch einleuchtender. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, daß auch auf den Erd­ körper dasselbe Schema des Kräfteausgleichs zutrifft. D as gilt nicht nur von den mechanischen Kräften, die seine ellipsoide Gestalt bewirken (Ver­ hältnis von innerer Gravitation und Schleuderkraft der eigenen Ro­ tation), sondern auch vom Wärmeausgleich. Die feste Erdoberfläche ist

in einem Abkühlungsprozeß entstanden, dieser Prozeß aber ist mit dem Aufhören stärkerer Ausstrahlung zu einem genäherten Stillstände ge­ kommen. Ganz steht er freilich nie still, weil der Wärmeausgleich so lange währt, als ein Temperaturgefälle vorhanden ist. Auch er wird im Inneren durch langsamen Atomzerfall (Radioaktivität) im Gange ge­ halten, ist aber so verlangsamt, daß der Eesamtzustand an der Erdober­ fläche nahezu konstant ist; was bedeutet, daß der Energiezustrom vom Inneren her und der Energieabstrom nach außen hin nahezu ausge­ glichen sind. An den Grenzen der S tabilität dynamischer Gefüge wird es einsichtig, daß ihre Konsistenz in ihnen.selbst wurzelt. Sie ist freilich relativ auf die Gegenbedingungen, die in den Verhältnissen ihrer Umgebung liegen. Aber in den gegebenen Außenverhältnissen eben hält sie sich nur, solange es ein Übergewicht der eigenen Jnnenkräfte gibt, sei es nun daß sie bestimmte Außenkräfte zu überwinden haben oder einen ständigen Energieverlust ausgleichen müssen. Es bestätigt sich hierbei, daß nicht die räumliche B e­ grenzung dieser Gebilde ihre Konsistenz — d. h. ihre Beharrungsfähig­ keit — bestimmt, sondern die innere dynamische Verfassung. Die Ganzheit und relative Abgeschlossenheit nach außen ist die Funktion ihres dyna­ mischen Aufbaus, nicht aber dieser eine Funktion der Ganzheit. Von diesem Gesichtspunkt aus ist gerade das Auftreten von Instabili­ tät, also das Einsetzen von Auflösungserscheinungen, von Wichtigkeit. Wie der Zusammenhalt der Gefüge bedingt ist, erstens durch den Ausgleich der Kräfte im In neren und zweitens durch das Übergewicht der eigenen Bindekräfte über auflösende Außenkräfte, so ist der Zerfall ebenso an zwei Bedingungen gebunden. Ein dynamisches Gefüge löst sich auf, wenn ent­ weder expansive Jnnenkräfte frei werden, die den Bindekräften überlegen sind, oder wenn es in eine Umgebung gerät, deren Feldkräste stärker sind als die seinigen.Das erstere haben wir im selbsttätigen Atomzerfall (Radio­ aktivität) vor Augen, im Schmelzen der Kristalle, im Aufleuchten der Novae, ja in gewissem Grade schon in der Zerstrahlung von Materie, die mit aller Sternstrahlung von hoher Intensität verbunden ist. D as zweite liegt vor in zahlreichen chemischen Reaktionen, indem Verbände von Atomen sich lösen und andere Verbindungen eingehen; desgleichen in der Zersprengung von Atomen durch „harte" Strahlen. Aber auch die Auflösung der Kometen bei ihren Periheldurchgängen in verstreute Schwärme kleiner Partikel ist von dieser Art, ebenso die Auflösung der Kugelhaufen in der Nähe der galaktischen Hauptebene; und vielleicht liegt bei den großen Sternsystemen in der Ablösung der Spiralarm e ein ähn­ liches Phänomen vor. Überhaupt gibt es für diese A rt der Lösung oder selbst nur der Locke­ rung von Eefügeverbänden Belege der mannigfaltigsten Form.

c. Aufbaubedingunoen und Stärkeunterschiede der Gefüge

I n den Fällen der zweiten A rt schiebt sich offenbar die allgemeine Wechselwirkung im W eltall vor die dynamische Bindung der Eefüge. E s kann natürlich auch das innere Kräftespiel eines größeren Gefüges fein; das macht hier keinen Unterschied, denn da die Eefüge verschiedener Größenordnung einander räumlich umfassen, so repräsentieren die größeren den kleineren gegenüber ohnehin stets die allgemeine Wechsel­ wirkung. Und wenn ihre Kraftkomponenten die der kleineren überwiegen, so lösen sie diese auf. Aber wichtiger ist es vielleicht, daß auch das umgekehrte Verhältnis ebenso häufig ist: die bindende Wirkung eines Gefüges, selbst wenn es noch im Aufbau begriffen ist, auf seine Umgebung, so daß diese in einem gewissen Umkreise von ihm aufgesogen wird. Denn das Maßgebende im Ausbau der N atur ist weniger die Auflösung als der Aufbau der Gefüge, ihre Synthese. Dafür sind stets zwei Momente wesentlich: einerseits, daß die Umgebung die besonderen Bedingungen darbietet, in denen das Ge­ füge sich bilden kann, und andererseits das Einsetzen der spezifischen Bindewirkung in einem Punkte, der dann den Ansatzpunkt des entstehen­ den Gefüges bildet. S o ist es beim Anschießen des Kristalls in der Lauge. So ist es auch tn der synthetisch-chemischen Reaktion, in der neue Atomverbindung sich herstellt. Und etwas Ähnliches wird man auch für die Bildung der Atome felbst, d. h. vor allem für die der Atomkerne annehmen müssen. Wo und wie die letzteren sich bilden, ist heute noch ein Rätsel; aber da es sich um Bindung großer Energiemengen handelt, wird man wohl nicht fehlgehen, wenn man ihren Ursprung dort sucht, wo solche vorhanden sind, also etwa im In n eren großer Masten, bei hoher Dichte und Temperatur. Damit verliert man sich freilich in Hypothesen, überhaupt sind die Entstehungsfragen überall die letzten und schwierigsten. Das gilt auch von der Entstehung der kosmischen Eefüge, der Fixsterne und ihrer P la ­ netensysteme, sowie der größeren Sternsysteme. Geht man aber hier von der Grundvorstellung fast aller Theorien seit K ant und Laplace aus, von der Annahme nebelförmiger Verteilung der Maste im Raume, so handelt es sich unter allen Umständen um ein Sich-Sammeln der M aterie um einmal entstandene Verdichtungen herum, die dann im weiteren Fortschreiten des Prozestes immer mehr die Rolle gravitativer Zentren übernehmen. Und dann ergibt sich die charakteristische Über­ legenheit der Kraftfelder dieser Zentren über ihre engere oder weitere Umgebung — bis an die Zone relativer Indifferenz, die zugleich die Grenzzone des entstandenen Gefüges bildet.

Aber auch ohne Berücksichtigung genetischer Fragen ist das Grundverhältnis im Aufbau der Gefüge erkennbar und relativ einfach angebbar. Wo in der Welt Gebilde von hoher Konstanz auftreten, da gibt es von vornherein eine entschiedene Überlegenheit der bindenden Jnnenkräste über Feldkräfte der Umgebung, d. h. über die Jnnenkräste der größeren Gefüge. Selbstverständlich besteht die Überlegenheit nur relativ auf die letzteren, und darf nie ohne weiteres auf beliebige Umgebung, also etwa auch auf mögliche stärkere Feldkräfte ausgedehnt werden. Darum ist die S tabilität eines dynamischen Gefüges niemals eine rein innere Funk­ tion seiner Eigenkräfte, wie es zuerst wohl aussehen konnte, sondern stets eine Funktion des gegenseitigen Verhältnisses von Innen- und Außen­ kräften. Bedenkt man nun aber weiter, daß die Stabilität der Gefüge ihre Widerstandskraft nach außen (Resistenz) ausmacht, und daß diese über­ haupt das M aß ihrer „Stärke" abgibt, so sieht man auch, daß die Stärke der Gefüge sehr mannigfaltig abgestuft sein muß. Denn eben die Über­ legenheit der inneren Bindekräfte über die Feldkräfte der Umgebung kann sehr verschieden groß sein. So ist die Stärke der Atomkerne in einer Umgebung gemäßigter Tem­ peraturen und Spannungen überwältigend groß. Diese Kerne dürften überhaupt das Stärkste sein, w as an natürlichen Gebilden wir kennen. Das Gegenstück zu ihnen bilden die größten kosmischen Systeme; spricht doch alles dafür, daß die Spiralnebel in einer aufrollenden Bewegung begriffen sind, gemäß welcher sich die äußeren Teile längs den S p iral­ armen stetig weiter vom Zentrum entfernen. Und wenn man die Typen der extragalaktischen Nebel als eine genetische Reihe auffassen darf, die mit den konzentriertesten Nebeln beginnt und mit den breit in Flocken oder Wolken ausgelösten Systemen endet, so würde sich das noch mehr bestätigen. Zwischen diese Extreme des dynamischen Gefüges lassen sich wohl alle seine Arten und Größenordnungen einordnen. d. Verhältnis von Eröbenordnung und Stärke der Gefüge

Zieht man nun diese Dinge folgerichtig in Rechnung, so läßt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sagen, daß im Kosmos überhaupt die Gefüge kleineren Maßstabes die stärkeren, die Gefüge größeren Maßstabes aber die schwächeren sind. M an muß dabei nur festhalten, daß es sich nicht um „niedere und höhere" Gebilde handelt, sondern zunächst durchaus nur um den Unterschied der Größenordnungen; es ist nicht ausgeschlossen, daß die größeren Gefüge auch die strukturell höheren sind, aber es braucht nicht so zu sein, und von anderer Seite hat sich bereits gezeigt, daß sie

wenigstens nicht durchgehend die höheren sind. Ebenso darf man Stärke und Schwäche hier nicht im kategorialen Sinne verstehen (wie in den Dependenzgesetzen der Schichtenfolge), sondern durchaus nur im dyna­ mischen Sinne; und auch das nur relativ auf die umgebenden Teile des nächsthöheren Gefüges. M it diesen Vorbehalten verstanden, gewinnt der Satz vom inversen Verhältnis zwischen Größenordnung und Stärke der dynamischen Gefüge festen Boden unter den Füßen. Wenigstens entspricht er, angewandt auf die bekannten Haupttypen der Gefüge, im ganzen den Tatsachen. Der Atomkern ist stärker als der Atomverband, der Atomverband ist stärker als das Molekül; unter den Molekülen sind wiederum die einfachen stärker als die hochkomplexen „organischen" (die noch nicht organisierte M aterie sind), und die meisten von ihnen sind um vieles stärker als die aus ihnen zusammengesetzten physischen Körper. Aber auch der kleine Einzelkristall ist stärker als das kristallinische Gestein, dessen Bestandteil er ist. Ähnliches gilt auch von den großen Gefügen. Der Erdkörper mit­ samt seiner Atmosphäre dürfte stärker sein als das Sonnensystem, dem er angehört; er könnte, wenn dieses sich auflöste, sehr wohl in einem anderen System oder selbst ohne dieses fortbestehen. Die Lebensbedin­ gungen auf seiner Oberfläche würden dann zwar verschwinden oder doch sich radikal ändern; aber sein Fortbestehen ist ja nicht an das Fort­ bestehen von Lebewesen gebunden, lind ähnlich könnte wohl selbst das Sonnensystem als Ganzes ohne wesentliche Änderungen weiterbestehen, wenn die Sternwolke, in der es ein kleines Glied ist, oder gar das ganze galaktische System sich auflöste. Hiernach scheint es, daß überhaupt die N atur „von unten her" auf­ gebaut ist, daß die alles tragenden Gebilde die kleinsten Gefüge sind, das Weltall also von innen heraus geschichtet ist — und zwar stufenweise, entsprechend der Erößenordnungsfolge der Gefüge. M an könnte auch sagen: die Diskretion des Realen ist in den kleinsten Massen am stärksten ausgeprägt; denn sie beruht auf dynamischer Begrenzung, und diese ist nicht Abtrennung, sondern eine Funktion der Jnnenverbindung. Freilich wird man sich hüten müssen, hieraus einen zeitlichen Ent­ stehungsgang zu folgern. Denkbar wäre auch die umgekehrte Folge. Die Atombildung z. B. könnte an bestimmte Zustandsformen der großen kos­ mischen Gefüge gebunden sein. Dazu wird sich an späterer Stelle noch einiges sagen lasten. Sieht man aber von vorschnellen genetischen Schlüsten ab, so kann man in der angegebenen Stärkeabstufung sehr wohl den grundsätzlichen Wahrheitskern der alten Atomistik erblicken, welche zuerst einen Gesamt­ aufbau der physischen Welt „von unten her", d.h. von den kleinsten Einheiten aus, entwarf. Dieses Verdienst bleibt ihr natürlich, auch wenn

die alte Atomvorstellung sich längst a ls irrig erwiesen hat und durch eine völlig neue ersetzt worden ist. Das Prinzip springt damit einfach auf die nächstkleinere Ordnung von Gebilden über. Und wenn diese nicht mehr als materielle Teile gelten können, so bleiben sie deswegen doch, w as einst die Atome sein sollten: Aufbauelemente der Materie. Der Grund des Aufbaus „von unten her" dürste in der Verwandt­ schaft der durch alle Größenordnungen hindurchgehenden Erundkräfte liegen. Z w ar wird es damit nicht so einfach sein, wie K ant es sich in seiner „Dynamik" dachte: ein dualistisches Schema zweier Kräfte (An­ ziehung und Abstoßung) kann hier nicht genügen. Wohl aber handelt es sich überall um Feldkräfte, und Feldkräste nehmen in Potenzen der E nt­ fernung ab. Sie müssen also in den kleinsten Verbänden die stärksten Bindungen ergeben. Damit stimmt denn auch die weitere Überlegung überein, daß kleinere Gefüge sich als Glieder oder Elemente von größeren nur dann halten können, wenn ihr Verband stärker ist a ls der der letzteren. Anders würden sie eben von den überlegenen Feldkräften der größeren Gefüge auseinandergerissen werden. W as zur Folge hätte, daß auch diese selbst etwas ganz anderes würden als sie sind. S ie wären dann andere Systeme anderer Elemente. e. Historisches. Besondere Formen, Gesetze und Gebilde

M an sieht von hier aus, daß sich das dynamische Gefüge nachgerade als die Grundkategorie alles dessen erweist, was in der N atur den Charakter des „Gebildes" hat — und zwar des Gebildes im Gegensatz zum Prozeß, aber auch zum ephemeren Zustand. Diskretion der Äon« tinuen, räumliche Begrenzung, innerer Zusammenhalt, struktureller Auf­ bau und physische Ganzheit find überall da, wo sie prim är und relativ selbständig auftreten, Funktionen des dynamischen Gefüges. Alle Fragen der weiteren Besonderung — innerhalb des Physischen und teilweise auch noch des Organischen — betreffen vorwiegend kategoriale Momente der genannten Arten. Und je höher hinauf im Reiche der natürlichen Formen, um so gewichtiger werden diese Fragen. Solcher Bedeutung des dynamischen Gefüges entsprechen die geschicht­ lichen Ansätze zu seiner Erfassung keineswegs. Hauptgrund dafür dürfte die lange Herrschaft der Formenmetaphysik sein, zuerst als Eidoslehre, dann als essevtis-Theorie. Auf dieser ganzen Entwicklungslinie war die Form zwar als dynamisch treibende K raft gedacht, aber sie selbst galt als ruhendes Prinzip, unbewegt, urbildhaft-zwecktätig, nicht als inneres Widerspiel von Kräften. Die ganz anderen Ansätze der Vorsokratik haben sich dagegen nicht durchsetzen können.

Denn freilich w ar in den Anfängen der Hauptgedanke schon dage­ wesen. Heraklit hatte den Widerstreit der „Gegensätze" zum Prinzip einer „Harmonie" gemacht, die als die „verborgene" hinter der sichtbaren stehen und „stärker" als diese sein sollte; ihr Bild ist das der Spannung, „des Bogens und der Leier". M an weist nicht, wie weit er diese groß­ artige Vision auch auf Einzelgebilde der N atur angewandt hat; auf die Erde mit ihrer kosmischen Umgebung scheint sie bezogen gewesen zu sein. I n ähnlicher Weise hatte auch Empedokles sich die Welt aus dem Widerspiel von „Liebe und Hast" entstanden und dauernd von ihm getragen gedacht. Verallgemeinert kehrt Heraklits Gedanke hernach in der älteren S toa wieder. Chrysipp meinte, daß jeder physische Körper Form und Z u­ sammenhalt einem „Pneum a" verdanke, welches ihn „durchzieht und sich umwendet" (ttveühoc Sifjxov Kai dvacrrpEtpov). Damit ist ein Ausbauprinzip gemeint, das zwar nach Analogie der M aterie gedacht, aber in seiner Funktion ganz dynamisch gesehen ist: das Pneum a vollzieht innerhalb des Körpers eine Doppelbewegung, von der Oberfläche zum Zentrum und vom Zentrum zur Oberfläche; die erstere bringt die Einheit und innere Bindung der Körper hervor, die letztere ihre Begrenzung, auf beiden Bewegungen aber sollten die „Eigenschaften" der Körper beruhen. M an muß sich klarmachen, daß es hernach jahrhundertelang an einem dynamischen Prinzip der Diskretion und der besonderen Gestalt gefehlt hat. Es fehlt an ihm noch bei Descartes, Leibniz, Wolf, Baumgarten, K ant — vielleicht veranlaßt durch den einseitigen Nachdruck, den die klassische Mechanik auf Prozesie, Kontinuitäten und Gesetze legte. Selbst das Problem der „besonderen Gesetze", verstanden als Gesetze eines be­ stimmt geformten „Gebildes", wurde bei Kant erst am Problem des Organismus aktuell. Im Hinblick auf die physischen Gebilde spielt es keine maßgebende Rolle. D as ist um so auffallender als gerade er als erster eine dynamisch-genetische Theorie der Himmelskörper und ihrer Be­ wegungssysteme auf der Kepler-Newtonschen Grundlage entworfen hatte. Hegel dagegen, der das Problem der Begrenzung in aller Form aus­ warf, kennt es doch nur von seiner negativen Seite, die er dialektisch auf­ rollt. Nach ihm gibt es nur die äußere Grenze, es kann immer nur eines das andere begrenzen. Die Grenze als inneres dynamisches P h ä ­ nomen, so wie Chrysipp es gesehen, ist ihm unbekannt. Es ist kein Zweifel, diejenige Kategorie, die allein imstande gewesen wäre, das alte Formprinzip vollwertig abzulösen, hat geschichtlich im ent­ scheidenden Augenblick gefehlt. Die Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts haben es zwar unentwegt mit physischen Gebilden und ihrer Aufbau­ gesetzlichkeit zu tun. Sie heben aber das charakteristische Moment nicht H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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heraus. S ie find nicht auf geschloffene Ganzheiten bedacht, weil sie nicht auf Gefüge bedacht find. Das eigentlich Wichtige find ihnen doch die Bewegungsgefetze. überhaupt darf man sagen, daß die Destruktion des Reiches der Formen in jenen Jahrhunderten zu weit gegangen ist, weiter jedenfalls, als man die Formen durch etwas Vefieres ersetzen konnte. M an hielt die Gesetze der Dynamik in der Hand, nach denen fich die Gefüge ausbauen, schloß fie aber nicht zur Synthese zusammen. Hier liegt einer der Gründe, warum die deskriptive Naturwifienschaft notgedrungen zu den .Sorinen" zurückkehren mutzte. Auf ihrem Gebiete eben find die Formen das Gegebene. Das Gesuchte aber hinter dem Ge­ gebenen, das Aufbauprinzip und die bestimmenden Mächte der form­ bildenden Prozefie, ließen fich nicht erschließen, solange die exakte N atur­ wifienschaft es an ihren viel einfacheren Gegenständen nicht grundsätzlich» d. h. nicht kategorial zu fassen wußte. f. Dynamische Ganzheit und Anschaulichkeit der Eefügeformen

E s wurde schon gezeigt, warum und in welchem Sinne die Ganzheit als solche dem kategorialen Charakter des Gefüges gegenüber äußerlich ist. An fich ist fie eine bloß quantitative Kategorie, während das Gefüge die innere Struktur betrifft, auf welcher die Ganzheit beruht. Aber weil das dynamische Gefüge seinerseits doch auch ein quantitativ begrenztes ist und in seiner Begrenztheit doch auch eine gewisse Anschaulichkeit hat» so ist auch das quantitative Moment des „Ganzen" an ihm ein wesent­ liches Moment. D arin haben die alten Pythagoreer recht gesehen: nur wo es wesensgemäße Begrenzung (n ip a s) gibt, kann man von wesensgemäßer Seins­ form einer Sache reden; nur solche Dinge haben einen echten, ihnen ge­ mäßen Eestaltcharakter. M an könnte auch sagen, nur fie haben Ganzheit. Nun aber gibt es in der Natur keine wesensgemäße Ganzheit, d. h. keine von der Sache unabtrennbare, mit der fie steht und fällt, — ohne dyna­ misches Gefüge. Wohlverstanden, in den mancherlei Meinungen, An­ schauungen und Theorien gibt es deren genug, nicht aber im realen Auf­ bau der Natur. Das bedeutet, daß fich in der N atur, wie fie ist, Ganzheit und dyna­ misches Gefüge zueinander verhalten wie das Äußere zum Inneren eines einheitlichen, in sich aber komplexen Gebildes. Und wie alles Äußere — wo es nicht ein bloß Äußerliches ist — die „Äußerung eines Inneren" ist, das In n ere aber an den primären Gebilden dynamisches Gefüge ist, so kann man auch sagen, daß alle wesensgemäße Ganzheit in der N atur „dynamisches Gefüge" ist. M an kann, da es sich hierbei in aller Buchstäblichkeit um die von innen bestimmte, also um die aus dem Kräftespiel eines dynamischen

Inneren gewachsene Ganzheit handelt, auch von „gewachsener Ganzheit", gewachsener Form oder Gestalt sprechen. Ganzheit, Form und Gestalt dürfen hierbei ohne weiteres als räumliche verstanden werden. Der äußere Umriß, ob in verschwimmenden oder in räumlich scharfen Gren­ zen, ist unter allen Umständen Funktion der dynamischen Begrenzung. Von hohem Interesse ist hierbei, daß dem „Gewachsensein" der dyna­ mischen Ganzheit in manchen ihrer Typen sogar eine gewisse Anschaulich­ keit eigen ist. Ohne weiteres leuchtet das an den erstaunlich regelmäßigen Gestalten der Kristalle ein, desgleichen an der Tropfenform. Bei der letzteren ist auch leicht zu sehen, daß die Anschaulichkeit nicht so sehr an der räumlich-geometrischen Geschlossenheit hängt als an einer unmittelbaren Fühlung mit den Kräfteverhältnissen, die dahinterstehen — freilich nur soweit diese der Anschauung zugänglich sind. Tharakteristisch aber ist für Anschauung dieser Art, daß sie sich unter Beihilfe des eindringenden Be­ greifens (auch gerade des wissenschaftlichen) erstaunlich hoch über die bloß wahrnehmende Schau erheben kann. S ie nimmt die Einsichten der Theorie auf, baut sie in ihren Zusammenhang ein und wächst sich zu einer A rt höherer Anschauung aus. D as alte W ort „Theorie" legt davon Zeug­ nis ab, denn es bedeutet „Schau". Und streng genommen sind ja die Begriffe und Lehrsätze der Wissenschaft nichts anderes a ls die M ittel erweiterter Schau. Wenn man in Aristotelischer Zeit die Kugelform der Erde damit begründete, daß sie die „vollkommenste" Form sei, so steckte auch darin ein richtiges Gefühl für die natürliche Gleichgewichtslage einer großen Masse, obgleich sich die Vorstellung des dynamischen Erundmomentes darin, der Schwere, noch keineswegs zum Begriff einer Anziehungskraft geklärt hatte. Das Prinzipielle in der Schwere ist eben selbst etwas anschaulich Ge­ gebenes. Wichtiger vielleicht ist es. daß auch die heutige Vorstellung vom Erdellipsoid als der äußeren Ganzheit einer sehr stabilen Gleichgewichts­ form etwas durchaus Anschauliches ist. W ir haben es, sobald w ir das Verhältnis von Rotation und Gravitation erfaßt haben, ohne weiteres im Gefühl, daß die tangentiale Komponente eine Abplattung der Kugel­ form hervorbringen muß. M an kann diese A rt Anschaulichkeit auch weiter auf das Planeten­ system, ja auf manche Einzelphänomene in ihm ausdehnen. Die elliptische Bahnform, das Pendeln der Entfernungen und Geschwindigkeiten, ja sogar das Verhältnis der Bahngeschwindigkeiten verschiedener Planeten, wird anschaulich, wenn man nur einmal das Verhältnis der Kräfte be­ griffen hat. Die synthetische Leistung, die eine solche Zusammenschau erfordert, ist durchaus keine überwältigend große. M an hat denn auch oft zu didaktischen Zwecken bildhaft anschauliche Darstellungen benutzt.

Höchst begreiflich ist darum auch die ungeheure Wirkung, die von der ersten Sichtbarmachung eines solchen Systems ausging, als man im Zahre 1610 zum ersten M ale das Jupitersystem — den Planeten selbst mit seinen vier großen Monden — im damals eben erfundenen Fernrohr erblickte. Denn dieses System ist so recht das sichtbare B ild eines Planetensystems, zwar im Kleinen, aber doch in den kinetischen Erscheinungen und im dyna­ mischen Aufbau das plastische Modell eines solchen. I n anderen Fällen ist es dann umgekehrt gegangen: man sah zuerst die dynamische Aufbauform und schloß dann erst von ihr aus auf das innere Kräftespiel, das ihr zugrunde liegen mußte. S o etwa war es bei den Spiralsystemen, deren Vewegungsformen zwar bis heute nicht ganz geklärt sind, deren dynamische Ganzheiten sich aber nichtsdestoweniger.der Anschauung aufdrängen. Die Reihe der Beispiele ist damit nicht erschöpft. Auch die Hilfskon­ struktionen der exakten Wissenschaft wären hier anzuführen, sofern sie unbekannte dynamische Verhältnisse im Inneren eines Gefüges von spezifischen Kraftwirkungen durch „Modelle" darstellt. Der heute bekann­ teste F all dieser Art ist das Atommodell. Solche Modelle sind ein charak­ teristischer Appell an die Anschauung, wo m it Begriffen und Gesetzen allein nicht durchzukommen ist. Und der Erfolg der Theorie beweist ihre Fruchtbarkeit.

40. Kapitel. Zentraldetermination a. Gewachsene Ganzheiten und Bruchstücke. Sekundäre Formen

Der Begriff des physischen Körpers hat sich vorwiegend an sekundären Gebilden entwickelt, an solchen mit künstlicher Begrenzung, wie fast alle Dinge unserer nächsten Umgebung es sind, oder an natürlichen Bruch-stücken der Erdrinde, auf der w ir leben. Erst mit der Atomphyfik einer­ seits, mit der Astrophysik andererseits hat sich das geändert. Die Vor­ dringlichkeit der künstlichen Formen, sowie der Bruchstücke und Teilstücke in der unmittelbaren Gegebenheit ist ein Hauptgrund der Verborgenheit der naturgewachsenen Ganzheiten. W ir müsien uns auf diese letzteren immer erst auf Umwegen besinnen. E s sind wisienschaftliche Methoden, die auf sie hinführen. Auch Bruchstücke haben einen gewissen Eanzheltstypus, und zwar auch einen anschaulichen, aber keinen ursprünglichen, der a ls Außenform eines inneren Kraftverhältnisses sichtbar wäre. Bruchstück ist, was keine ge­ wachsene Ganzheit an sich hat. E s gibt zwar stets die natürliche, gewachsene Ganzheit zu jedem Bruchstück. Aber sie liegt nicht in ihm, sondern außer ihm.

Die außer ihm liegende Ganzheit kann wohl noch an ihm erkennbar sein. So können in der Schichtenzeichnung von losgerissenen, weit ver­ schleppten und sekundär abgeschliffenen Steinblöcken noch die Ablage­ rungen der Erdoberfläche in ihren früheren Perioden erkennbar sein. Sie können dem Wissenden sehr anschaulich ein Stück Erdgeschichte erzählen. Aber die Gefüge, als deren Teile solche Gebilde geworden sind, was sie find, können auch längst entschwunden sein oder sich wesentlich geändert haben. Ein gutes Beispiel natürlicher Bruchstücke großen S tils sind die Kon­ tinente der Erde, die sog. Sialschollen. F ü r die Wissenschaft besteht auch hier eine gewisse Rekonstruierbarkeit des ehemaligen Ganzen (vielleicht einer Sialschicht, die einmal die ganze Erde umgab). J a , in gewissen Grenzen lassen sich sogar die Vorgänge rekonstruieren, die trennend nd deformierend gewirkt haben. Das Abgerissensein der Stücke, die Fugen und Risse, die Zusammenschiebungen lassen sich erraten. Den Ausgangs­ punkt der Überlegung hat dabei das heute noch erkennbare Ineinander­ passen mancher Teilstücke abgegeben. Aber auch die bewegenden Kräfte des großartigen Spiels, sowie die Widerstände, die sie überwinden mußten, find dabei nicht verborgen geblieben. Solche und ähnliche Beispiele weisen alle auf den Erdkörper als zu­ grunde liegendes dynamisches Gefüge zurück. D as kann nicht anders sein, weil die Eegebenheitssphäre, aus der w ir unsere Beispiele entnehmen können, eben die Erdoberfläche ist. Und in dieser Sphäre sind alle Formen— soweit sie nicht höhere Ganzheiten bilden — von den Evolutionen der Erde bestimmt. Zugleich aber zeigen die Beispiele, daß die Bruchstücke von dem dynamischen Gefüge her, dem sie entstammen, eine S tabilität haben können, welche den Zustand des Ganzen, das ihnen die Form gab, über­ dauert. Darum ist es in der begrenzten Sphäre der Bruchstücke nicht so leicht, die besonderen Ordnungsformen der Zugehörigkeit zu finden, den Teil in die ursprüngliche Einheit des Ganzen einzuordnen, die sekundären Überformungen aus der primären Dynamik des Ganzen heraus zu be­ greifen. Die Wissenschaft hat einen langen Weg bis dahin durchlaufen müssen. Sie ist langsam von außen nach innen, von den Bruchstücken und Teilstücken zu den dynamischen Gefügen vorgedrungen. Auf diesem Wege spielt die Erhaltung ursprünglicher Strukturen in den sekundären Formen eine ausschlaggebende Rolle. An ihr hängt die Erkennbarkeit vieler dynamischer Grundzüge natürlicher Ganzheiten, die unmittelbar nicht der Erfahrung zugänglich sind. b. Negative und positive Vegrenzungsphänomene Wie die natürliche Ganzheit eine Funktion des Gefüges ist, so auch ihre Begrenzung. I n welchem Sinne es sich hier überall um dynamisch von

innen her bestimmte Grenzen handelt, ist oben gezeigt worden (Kapitel

38 d, e). Anders die sekundären Formen. S ie zeigen zwar auch Grenzen, meist sogar die für unser Wahrnehmen deutlicher ausgeprägten, aber es sind keine von innen bestimmten, dem Gebilde wesentlichen Grenzen, son­ dern sekundäre Grenzen, die auch anders laufen könnten, Bruchgrenzen. Die Struktur eines Steinblocks mit ihren Schichten und Adern geht durch ihn hindurch und setzt sich in anderen Blöcken fort. D aran ist das Bruchstück als Bruchstück kenntlich. Die durch Berwitterung oder durch mahlende Wirkung der einstigen Gletscher gebildete heutige Oberfläche ist dieser seiner Struktur eine äußerliche und zufällige. Za, ste ist, von dieser Struktur aus gesehen, ein bloßes „Fehlen" der Fortsetzung; mit dem alten Terminus benannt also ein modus defitiens. Dasselbe wie von den Bruchstücken gilt auch von den (nicht abge­ lösten) Teilstücken, z.B . von den äußeren Formen einer Gebirgskette. Nicht nur die einstigen Schichtungen, die horizontal gelagert waren, son­ dern auch die ursprünglichen Faltungen sind verwischt, abgeschliffen, defor­ miert. Die Grenzlinien find sekundäre, der Jnnenstruktur äußerliche, negative. Hiermit taucht ein weiteres kategoriales Moment an den phyfisch sekundären Formen der Körper auf: die Negativität ihrer räumlichen Grenze. Diese Negativität ist natürlich keine absolute. Sie ist eine solche im Sinne des Satzes: omnis determinatio est negatio. Sie widerspricht nicht der antiken Auffafiung vom n^pas als der Bestimmtheit, d. h. als eines eminent Pofitiven. Auch sie ist ein Moment der Gestaltung. Negativ aber ist sie dennoch in bezug auf die noch vorhandene Jnnenstruktur, die auf ganz andere Eestaltcharaktere hinweist. Das absolut Negative gibt es in der N atur nicht, und auch im ganzen Bereich der realen Welt nicht. Aber das relativ Negative gibt es in ihr sehr wohl, und keineswegs bloß im Denken und in der Abstraktion. Dieses scheinbar schwierige Verhältnis wird vom P rinzip des dynamischen Gefüges und seiner Bruchstücke aus leicht durchschaubar: es gibt sehr wohl das ontisch Negative in der Be­ grenztheit natürlicher Gebilde, aber nur dort, wo eine naturgewachsene Ganzheit zerstückelt ist. Nur Vruchgrenzen sind negatio. Und zwar sind sie negativ nur in bezug auf Zusammengehöriges, das durch sie zerrissen ist. Darum sind die Grenzen der natürlichen Ganzheiten, solange diese sich erhalten, durchaus nicht etwas Negatives: kein modus defitiens, kein Fehlen, sondern die Außengestalt einer dynamisch wirksamen Jn n en ­ struktur, eines Gefüges von Kräften oder noch laufenden Prozessen. Solche Begrenzung ist eminent affirmativ, ist Konsolidierung innerer Konsistenz (etwa eines Eleichgewichtsverhältnisses) durch äußere Resistenz — ver­ möge einer von innen her gezogenen Zone dynamischer Indifferenz

(Kap. 38 e). Darum handelt es sich meist auch nicht um scharf gezogene Raumgrenzen, wie bei den Bruchstücken gewaltsam zerstörter Ganzheiten, sondern um dynamisch ausgewogene Ilbergangszonen. Damit entscheidet sich auch die alte Streitfrage des Negativen in der realen W elt: Negativität gibt es in dieser W elt nur relativ auf bestehende Ganzheit; im engeren Bereich des Physischen also nur relativ auf einen dynamisch in sich gebundenen Formtypus. S ie kann also nur auftreten, wo es solche Formtypen gibt. N ur an ihnen ist ein Fehlen möglich, eine Lücke, eine Unvollständigkeit. Einem Bruchstück als solchem kann nichts fehlen. An einem Geröllstein ist die Abweichung von der Kugelform, die er vielleicht genähert hat, nichts Negatives; die Kugel ist an ihm keine dynamische Gleichgewichtsform. An einem einfach ionisierten Atom aber ist das fehlende Elektron ein Ungleichgewicht und darum etwas Negatives.

c. Inneres und Außeres der dynamischen Gefüge

Inwiefern die Elementarkategorien „Inneres und Außeres" im dyna­ mischen Gefüge eine eigentümliche Abwandlung erfahren, hat sich schon von verschiedenen Seiten gezeigt. Das Merkwürdige aber ist, daß diesenl Gegensatz hier der andere Gegensatz von „statisch und dynamisch" an die Seite tritt. Das Äußere dieser Gebilde erscheint als stehende Formganzheit und zeigt den Typus eines Dauerzustandes, während das In n ere das dynamische Gefüge selbst ist, das diese Formganzheit trägt und als eine dauernde aufrechterhält. Dem Inneren gehört das Widerspiel der Kräfte an und in vielen Fällen das der Prozesie mitsamt ihren wechselnden Zu­ ständen, während das Äußere wie ein einheitlicher Dauerzustand auf diesem bewegten Widerspiel ruht. Kurz und zugespitzt gesagt also: in diesen Gebilden i|t das Äußere die statische Äußerung eines dynamischen Inneren. Daß es nur eine „relativ" statische Äußerung ist, ändert hieran nichts. Denn greifbar bleibt sie als eine ruhig fortbestehende, in der Ganzheit des Gebildes mit seinen Formund Grenzphänamenen sich erhaltende. Dieser S tabilität der äußeren Form entspricht das sich erhaltende Gleichgewicht der Vorgänge im Inneren. Die S tabilität des Gleichgewichts ist das dynamische Innere — die Konststenzform — des statischen Äußeren. Dieses Verhältnis gilt natürlich nu r von echten dynamischen Gefügen, nicht von beliebigen „Dingen". Unselbständige Gebilde haben zwar ein statisches Äußeres — deswegen find sie nicht ohne weiteres von echten Gefügen zu unterscheiden —, aber kein dynamisches Inneres. Sie haben wohl Jnnenteile im räumlichen Sinne, aber diese „äußern" sich nicht in Form und Grenze des Ganzen. Wie ihre erscheinende Ganzheit keine

eigentliche ist, so ist auch ihr nicht erscheinendes Innere kein eigentliches. Nur uneigentlich kann man bei ihnen von einem Inneren sprechen. F ü r den Aufbau der anorganischen N atur, sofern fie sich nicht in P ro ­ zessen und Gesetzen erschöpft, ist dieses Verhältnis von ausschlaggebender Bedeutung. Denn in ihm wurzelt die Abhängigkeit der unselbständigen Gebilde von den selbständigen, der sekundären von den primären. I n ihm also liegt der Fingerzeig für eine Determinationsform, die alle kosmischen Gebilde, die kleinsten wie die größten, beherrscht, die aber weder in Kausa­ lität und Wechselwirkung noch in Gesetzlichkeit aufgeht. E s ist die erste höhere Sonderform von Determination, auf welche die Analyse stößt. Sehen wir das Verhältnis zunächst vom Wesen des Bruchstücks" aus an. Bmchstücke haben, wie gezeigt wurde, kein eigentliches Inneres. Da ste aber ihrem Ursprünge nach doch Stücke eines natürlichen Ganzen sind, und da dieses die dynamische Äußerung eines Inneren ist, so kann man auch sagen: sie haben vielmehr sehr wohl auch ein Inneres, aber es ist nicht das ihrige, sondern das der dynamischen Gefüge, deren Bruchstücke fie find. 1. Hiernach kann man die Definition aufstellen: Teilstücke und Bruch­ stücke sind Gebilde, die ihr Inneres „außer sich" haben. Darum find ste unselbständige Gebilde. 2. lind ebenso kann man von hier aus das dynamische Gefüge neu definieren: es ist dasjenige natürliche Gebilde, das sein Inneres „in sich" hat. Darum ist es ein selbständiges Gebilde, darum ist feine Begrenzung die ihm eigentümliche Wesensgrenze, und darum ist seine Ganzheit ge­ wachsene, dynamisch getragene Einheit. 2 n dieser Definition treffen die kategorialen Wesenszüge des dyna­ mischen Gefüges alle zusammen. Zugleich aber liegt in ihr der Aufschluß über die spezifische Eigendetermination des dynamischen Gefüges. D as ent­ scheidende Moment ist hierbei das der „Zentralität". E s ist mit der beherrschenden Rolle des eigenen Inneren unmittelbar gegeben.

d. Dynamische Zentralität und Zentraldeterminätion

E s wäre ganz irrig, in dem Prinzip der Zentralität so etwas wie eine Wiedererweckung des alten Formprinzips zu vermuten. Hier ist nichts oorgezeichnet, und nichts wird nachgebildet; kein Jdealtypus ist bestim­ mend, und kein Erscheinungstypus differiert gegen ihn. Nur die Be­ stimmung „von innen her" ist maßgebend. Desgleichen bedeutet Zentralität nicht, daß jede gewachsene Ganzheit natürlicher Gefüge auch ein eigentlich räumliches Zentrum habe. D as trifft nur auf die wenigsten zu, z. B. auf das Atom (wenigstens im Sinne

des heute geltenden Atommodells), desgleichen auf das Sonnensystem und wohl auch auf die Mehrzahl der großen kosmischen Systeme. Aber bei den letzteren gilt es keineswegs von allen; auch handelt es fich nirgends um ein punktuelles Zentrum, sondern nur um eine zentrale Zone und um zentrale Orientierung der Bindekräfte. Der wirkliche S inn der Zentralität in den echten dynamischen Gefügen ist selbst ein rein dynamischer. Diese Gefüge haben „dynamische Zentrali­ tät". Line solche besteht auch ohne Zentralkörper, z. B. bei den Molekular­ verbänden, bei den Kristallformen, bei den zahlreichen Doppelstern­ systemen, den meisten Sternhaufen, ja bei den geschloffenen Himmels­ körpern selbst, in denen ja nur die Maffenverdichtung das Zentrum aus­ macht. Determinative Zentralität ist nicht etwas neben dem Verhältnis des Inneren und Äußeren, sondern identisch mit ihm. Sie besteht darin, daß Grenze, Geschloffenheit und Ganzheit Funktionen inneren dynami­ schen Gleichgewichts sind. Sie ist überhaupt die determinative Seite dieses Derhältniffes. W ir stoßen also hier in der T at auf einen neuen Typus der Deter­ mination, wie er nur echten dynamischen Gefügen eigen ist und sich nicht verallgemeinern läßt. E r ist zwar getragen von Gesetzlichkeit, Kausalität und Wechselwirkung, geht aber nicht in ihnen auf, sondern stellt bereits eine besondere Überformung von ihnen dar. D as Novum, das hier zu jenen allgemeinen Determinationsformen hinzukommt, ist eindeutig greif­ bar ln dem Moment der Konsistenz, d. h. der charakteristischen Erhaltung des ganzen Gebildes, ohne daß ein beharrendes Substrat zugrunde läge: also ohne Substantialität, rein durch ein inneres, sich selbst aufrecht­ erhaltendes Gleichgewicht. Und nimmt man hinzu, daß meist das Gleich­ gewicht selbst ein bewegliches ist, daß es die Form des Pendelns, d. h. des periodisch wechselnden Ausgleichs entgegengerichteter Kraftkomponenten annimmt, so stehen wir damit bereits vor dem einfachsten Typus einer teilt inneren und selbsttätigen, wenn auch noch durchaus automatischen Regulation. F ü r diesen Determinationstypus gibt es keinen fertigen Terminus. E r soll deshalb im folgenden zum Unterschied von anderen Typen „Zen­ traldetermination" genannt werden. E r könnte mit Recht auch „Eefiigedetermination" heißen. Doch wäre das zu allgemein, weil er nur für die „dynamischen" Gefüge zureicht, nicht mehr aber für die organischen oder gar die noch höheren Gefüge (etwa die Eemeinschaftsganzheiten u. a. m .); denn das Gefüge als solches ist eine Fundamentalkategorie und kehrt ab­ gewandelt in allen Seinsschichten wieder. Zentraldetermination ist zwar in allen höheren Formen des Gefüges enthalten, aber nicht mehr auf dynamischer — oder doch nicht nur auf dynamischer — Grundlage, sondern selbst bereits abgewandelt und überformt.

Wohl aber darf Zentraldetermination als eine erste, noch primitive Form von Ganzheitsdetermination gelten. Das eben hat fich ja gezeigt, daß charakteristische Eanzheitsformen auf ihr beruhen. Aber auch ihre Funktionsweise ist ebensosehr eine charakteristisch ganzheitliche. Denn nur als eine solche läßt fich doch die vom Gefüge ausgehende Regulation des Gleichgewichts von antithetisch gegeneinander gerichteten Prozessen und Kräften verstehen. Darauf aber basiert hier alle Stabilität» sogar die der äußeren Begrenzung und der sichtbaren Gestalt. Darum ist es wichtig, die „Zentralität" in der Zentraldetermination, richtig zu verstehen: als die nicht an einem räumlichen Zentrum, sondern am dynamischen Inneren haftende. Räumlich ist das „Zentrum" hier ebenso in eine ganze Zone von Zusammenhängen aufgelöst, wie auch die „Grenze" aufgelöst ist. E s verschwimmt im ganzen Inneren. Denn dieses selbst ist kein bloß räumliches, sondern ein dynamisches: das Gefüge selbst ist das In n ere von Gestalt und Ganzheit»' das Periphere des Gebildes ist vom dynamischen Widerspiel determiniert. Dieses als Inneres bestimmt den eigenen Aufbau und "das ihm unähnliche Äußere. Die alten Form ­ prinzipien waren präformatio gemeint, und alles Erklären mit ihnen blieb ein tautologisches. Hier dagegen entsteht die Form erst als Resultat einer Determination, deren dynamische Komponenten ganz heterogen sind, deren Einheit sich aber erst im Ausgleich des Entgegengesetzten her­ stellt. Der neue Determinationstypus unterscheidet auch das begrenzte dyna­ mische Gefüge radikal von der allgemeinen Wechselwirkung. Diese eben hat keine Zentraldetermination, ist kein In n eres eines Äußeren, ist von sich aus auch keine geschlossene Ganzheit mit Grenzen. Sie geht ins Un­ bestimmte fort, so weit der Kosmos reicht. Erst im dynamischen Gefüge ordnet sich vermöge der selbsttätigen Vegrenzungsfunktion ein In n eres dem Äußeren determinativ über. Und darauf beruht seine dynamische Überlegenheit über den allgemeinen, räumlich-kollokativen Weltzusammen­ hang, ebenso wie über die loseren begrenzten Gebilde: seine Stabilität, Resistenz und Regulation. M an kann von hier aus das dynamische Gefüge auch noch einmal neu definieren: es ist dasjenige natürliche Gebilde, welches eigene Zentral­ determination hat. Und wenn es oben hieß: es ist dasjenige Gebilde, welches sein In n eres „in sich" hat, so kommt diese Bestimmung erst in der neuen Definition zu ihrer vollen Bedeutung. Denn ebensogut kann man jetzt sagen: es ist dasjenige Gebilde, welches sein Zentrum „in sich" hat. Ebendamit nämlich hat es eigene Zentraldetermination. E s muß hierzu in Parenthese bemerkt werden, daß dasselbe V erhältnis noch weit drastischer an den meisten „Dingen" der menschlichen Lebens-

sphäre hervortritt. Alles, was Menschenwerk ist, hat sein Inneres außer sich, steht unter fremder Determination — Häuser, Geräte, Maschinen oder was es fei; überall liegt das bestimmende Zentrum beim Menschen, bei seinem Leben, seiner Organisation. Alles steht hier unter der Determina­ tion des Menschen, die freilich eine eminent zentralistische ist, aber jeden­ falls nicht die der Dinge. — Zentraldetermination ist ein kategoriales Erundmoment im ganzen weiteren Aufbau der physischen und organischen Welt, ja noch weit dar­ über hinaus. Alle höheren Gebilde von geschloffenem Einheitstypus zeigen diese Determinationsform. E s ist ein Irrtu m zu meinen, daß sie erst im Organischen einsetze. Sie ist recht eigentlich die Determinationsform aller natürlichen Ganzheiten, die eine gewiffe Selbständigkeit zeigen; und solche find eben schon die dynamischen Gefüge. M an glaube nicht, daß damit der Eigenart des Organischen etwas vergeben würde. E s gibt genug andere Kategorien, die hier die Erenzscheide ziehen. Die dynamische Zentralität aber gehört nicht zu diesen. Selbstverständlich aber steht die Zentraldetermination nirgends, wo immer sie auftritt, auf sich selbst gestellt da. Überall ist sie schon getragen von anderen, einfacheren Determinationsformen. Dem entspricht es, daß ja auch die Gebilde, an denen sie auftritt, zwar in ihrer Weise Selbständigkeit haben, aber deswegen doch nicht unabhängig von den elemen­ taren Mächten dastehen, in die sie eingebettet sind. Alles höhere Sein ruht dem niederen auf, bleibt also in seiner Autonomie doch von diesem abhängig. So gibt es auch Zentraldetermination nirgends in der Welt freischwebend — gleichsam im llndeterminierten —, sondern durchaus nur als Überformung der allgemeineren und durchgehenden Determinations­ formen, vor allem der Kausalität und der Wechselwirkung. Aber das schränkt ihre Eigenständigkeit nicht ein, sondern gibt ihr nur den Boden möglicher Entfaltung.

e. Bewubtseinsfremdheit des dynamischen Gefüges

Als Bewußtseinskategorie kann man das dynamische Gefüge über­ haupt nicht bezeichnen. Das Bewußtsein erarbeitet sich diese Kategorie erst spät, in gereifter Wiffenschaft. Wohl aber gibt es einzelne kategoriale Momente an ihr, die schon der Anschauung geläufig sind. Dahin gehören die quantttatio räumlichen: Begrenzung, Gestalt, Ganzheit; aber auch einige dynamische, wie der Widerstand des inneren Zusammenhalts und die Elastizität der Erhaltung. Aber sie alle werden von der Anschauung nicht als das gesehen, was sie find, nicht als Momente eines natürlichen dynamischen Gefüges.

Die Momente des inneren Kräfteverhältnisses und des Gleichgewichts der Prozesse sind ihr zuinnerst fremd. Sie alle können ihr freilich zugäng­ lich werden, und dann werden sie selbst anschaulich. Aber das geschieht auf weiten Umwegen. Diese Sachlage führt auf ein scheinbar antinomisches Verhältnis hinaus. Das dynamische Gefüge ist ein Prinzip der Diskretion und des End­ lichen (Kap. 38 s). Damit nähert man sich dem Wahrnehmbaren; Kate­ gorien des Endlichen müßten bevorzugte Kategorien der Anschauung sein. Aber das Reich des Endlichen ist noch ein unendlich weites Reich. R ur ein kleiner Ausschnitt davon ist der Wahrnehmung und dem Erleben gegeben, der Größenordnung nach ein Ausschnitt der mittleren Gebilde. Und gerade dieser Ausschnitt ist von natürlichen dynamischen Gefügen fast entblößt; er ist vorwiegend von Bruchstücken, Teilstücken und künst­ lichen Gebilden ausgefüllt. So wenigstens, wenn man von den organischen Gefügen absieht. An sich liegt dem Wahrnehmen und Erleben nichts näher, als Ganz­ heiten zu fassen. Aber es sind nu r Ganzheiten der Schau, des Bildes, des Eindrucks, nicht des ontischen Aufbaus. Und nichts liegt dem naiven Be­ wußtsein näher, als jedem Dinge ein „Inneres" zu verleihen, es so auf­ zufassen, als ob es Selbständigkeit hätte. Dieses Bewußtsein beseelt und vermenschlicht ohne W ahl und Gewissen. Aber das verliehene In n ere ist ein angedichtetes, nicht das natürliche, reale, dynamische. Insofern kann man sagen: Ganzheit und In n eres sind im Bewußtsein hybride Kategorien. Das beginnende Begreifen muß ihr üppiges Wuchern zunächst abbauen, um allererst auf ontische Ganzheit und natürliches In n eres kommen zu können. Denn das naive Bewußtsein steht mit seiner Dingauffasiung fast ausschließlich bei Bruchstücken und Teilstücken. Die natürlichen Ganzheiten sieht es nicht; und wo sie sich einmal ihm zeigen, unterscheidet es sie nicht, überhaupt, das Dingbewußtsein ist nur scheinbar konkret; in W ahrheit gleitet es ahnungslos über die wirkliche M annig­ faltigkeit der Dinge hinweg, ist ein blind isolierendes und blind verall­ gemeinerndes, insofern also ein abstraktes Bewußtsein. Kategorial aus­ gedrückt: es fehlt seinen Ganzheiten das ihnen wirklich zukommende Innere, dessen Außeres sie find — und zwar einerlei, ob sie es außer sich oder in sich haben. Kurz, es fehlt der Gesichtspunkt des dynamischen Gefüges. Insofern also muß man vielmehr sagen: die echte Ganzheit und das echte In n ere find nichts weniger als hybride Kategorien. Roch viel weni­ ger natürlich das dynamische Gefüge mit seinem Gleichgewicht und seiner Zentraldetermination. Richt nur die natürlichen Ganzheiten find in der dinglichen Anschauung verfehlt, sondern auch der kategoriale S in n von Ganzheit und Innerem überhaupt. Der eigentlichen „N atur der Dinge"

oder dem „Inneren der Dinge" steht dieses Bewußtsein weltenfern und wesensfremd gegenüber, trotz aller praktischen Angepaßtheit an die um­ gebende Dingwelt. Darum ist der Weg des Eindringens ein so langer und umwegreicher. So liegt denn dem anschaulichen Erleben, trotz seiner Tendenz, nur Ganzheiten zu erfassen, nichts ferner als das dynamische Gefüge. I n erster Linie liegt das wohl an den Größenordnungen. D as nächste größere stabile und selbständige Gefüge, der Erdkörper, ist schon so groß, daß es nur als gewohnte Lebenssphäre gegeben ist und als solche kaum bemerkt wird; das nächstkleinere, etwa das Molekül, ist schon aller Wahrnehmung ent­ zogen. Eben darum hat dieses Entrücktsein der Gefüge auch seine Grenze an den organischen Gefügen (wenigstens den größeren), ja schon an einigen wenigen anorganischen, wie den Kristallen, die aber im Leben keine große Rolle spielen. Jene stnd keine bloß dynamischen Gefüge mehr, diese bloße Ausnahmen. Beide ändern das Verhältnis nicht. Sodann aber liegt die Eigenart des Erlebens auch an der Äußerlichkeit der Wahrnehmung, ihrem Haften am Peripheren der Dinge, an der räum ­ lichen Form und den erscheinenden „Q ualitäten". Die Wahrnehmung schließt schon diese Außenmomente als solche zur Ganzheit zusammen; und die Bruchstücke oder artifiziellen Gebilde, die ste vor Augen hat, können fie auch keines Besseren belehren. Schließlich neigt das naive Bewußtsein auch zur statischen Auffassung alles dessen, was relativ konstante Außenform zeigt. Es ist an sich nicht blind für Dynamisches, faßt es aber nur selektiv auf, teils nur im Groben, teils gar nur in den Grenzen des vital Rele­ vanten, an das fein Auffassen angepaßt ist. Darum sieht es an den Ganzheiten, die es faßt, nicht das dynamische Gefüge, auch wo ein solches vorhanden ist. E s fehlt ihm das Organ dafür. Und das heißt doch, es fehlt ihm die Kategorie. F ü r verschwimmende Grenzen hat es keinen Sinn. Es steht in ihnen nicht das Grenzphänomen. Und darum sieht es auch nicht das hinter ihnen stehende Gefüge. Hier liegt einer der Hauptgründe, warum von einer methodischen Rückkehr zum erlebenden Bewußtsein und zu den unmittelbar anschaulichen „Phänomenen" keine ontologische Belehrung über das natürliche „Wesen" der Dinge, über ihre wirklichen Wesenszüge und Wesensgesetze, zu er­ warten ist. Die naive Anschauung führt nicht in das „Innere der Dinge", sie schlägt den falschen Weg ein. „Phänomene" als solche sind und bleiben eben das Außere. E s war der Fehler der Phänomenologie, daß ste das nicht begriff. Sie verwarf die Errungenschaften der exakten Wisienschaft» hielt sie für Verfälschungen des Gegebenen. Aber eben diese Errungen­ schaften sind, ungeachtet einiger Einseitigkeiten und Sackgassen der Theorie, doch in ihrer großen Linie nichts Geringeres als die Aufdeckung des gesuchten Inneren.

41. Kapitel. Der Stafcitim i der Natur a. Gefüge als Elemente von Gefügen Die N atur als Ganzes ist nicht nur gegliedert, sondern auch gestuft. Zu der Diskretion der Gebilde, zu den Grenzen und Ganzheiten — die ja auch einfach koordiniert dastehen können — kommt noch eine charak­ teristische Stufenordnung, zum mindesten eine solche der primären, selbständigen Gefüge. Genauer, die anorganische N atur stellt sich als ein Stufenbau dar, in dem die Gefüge einer Größenordnung die der anderen umfassen. D as ist kategorial ein ebenso wesentliches Moment wie das Austreten der begrenzten Gefüge selbst. Denn es bedeutet, daß die Gefüge nicht nur Systeme von Teilen, Prozessen und Kräften, also einfache dynamische Gefüge find, sondern auch Gefüge von Gefügen, Ganzheiten von Teilen, die selbst wiederum ebensolche natürliche Ganzheiten find. Und umge­ kehrt bedeutet es, daß die Gefüge selbst wiederum Elemente von Gefügen find. Die Stufenordnung der Gefüge greift also bestimmend auf den inneren Tharakter der Gefüge zurück. An ihr dürfte es liegen, daß auch Bruchstücke noch relativ konstante Gebilde sein können; denn dafür ist die Bedingung, daß der Verband der Glieder ein zusammenhaltender bleibt auch ohne Fortbestehen der Ganzheit, in der sie zusammengefügt wurden. Die Eigenart der Ordnungsfolge selbst läßt sich im Unterschied zu anderen Arten der Stufung etwa folgendermaßen angeben. Erstens handelt es sich nicht um eigentliche Schichtung. Die Ordnungs­ folge geht nicht eindeutig vom niederen zum höheren Gebilde fort, son­ dern nur vom räumlich kleineren zum größeren. Die zeitliche Größe spielt hier nicht hinein, sie würde eine andere Ordnungsfolge ergeben. Die kleinsten Gefüge scheinen grundsätzlich von nicht geringerer Dauer zu sein als die größten; die bedingtesten und zerstörbarsten dürften die mittleren sein. M an kann auch nicht sagen, daß die größten Gefüge die struktuell höchsten wären; ein Planetensystem ist nicht von ersichtlich höherer Komplexheit a ls ein Atom — nicht wenigstens, solange man ihm nicht irrigerweise den Reichtum der von ihm zwar umfaßten, aber nicht von ihm bestimmten höheren Gebilde zuschreibt, etwa die Gestal­ tung der Erdrinde und ihrer Bewohner. Zweitens hat der Stufenbau, räumlich dimensioniert wie er ist, die Form des llmfasiens und llmfaßtseins, d. h. die des Jneinandersteckens von Gefügen verschiedener Größenordnung. Der Spielraum dieses Zu­ sammenhanges ist also das commercium spatii, ein Sim ultanverhältnis,

das eine entsprechende zeitliche Ordnungsfolge bei Entstehung gewiß nicht ausschließt, aber doch von fich aus keineswegs eine solche ist. M an darf also au s dem strukturellen Ineinander der Gefüge keine Entwicklung des Kosmos machen. Denn es gibt Gefüge, die durchaus nur im Verbände größerer Gefüge zur Entstehung kommen, diese also vielmehr schon vor­ aussetzen. Ein gutes Beispiel dafür find die Kristalle, zu deren Bildung es bestimmter Abkühlungszustände in den Außenzonen eines Planeten­ körpers bedarf. Drittens, da es sich um relativ stabile Gebilde handelt, so ordnet fich in dieses räumliche Verhältnis (das Ineinander) ein statisches Ver­ hältnis ein. M an kann es als das des Bausteins zum B au be­ zeichnen. was freilich nur ein Bild ist. D as Wesen der Sache selbst ist durch drei P aare von Fundamentalkategorien gekennzeichnet, die abge­ wandelt und relativiert in dieser Staffelung der Gefüge wiederkehren (vgl. Aufbau, Kap. 28 und 33). 1. Teil und Ganzes. Auch die Teile sind schon natürliche Ganzheiten, auch die Ganzheiten wiederum Teile von relativer Selbständigkeit. Ganzheit selbst ist überhaupt nicht der Charakter einer Größenordnung, sondern kehrt in allen wieder. Die Ordnungsfolge der Ganzheiten ist eine reihenhafte, wiewohl keine durchgehende. 2. M aterie und Form. Jedes kleinere Gefüge kann M aterie des größeren fein, jedes größere Itberformung des kleineren. „Materie" ist hier zunächst wirklich Mafie, das, was mafienweise zusammengefaßt, geballt oder doch zusammengehalten wird. Aber weder die Form noch die M aterie ist einer bestimmten Größenordnung eigen, sondern beides kehrt gestaffelt wieder. Alle M aterie ist im Stufenbau der N atur selbst wiederum Form, alle Form selbst wiederum M aterie möglicher Formung. So wenigstens dem Wesen nach; denn beide find, was sie find, nur korrelativ aufeinander. Wie hoch hinauf oder wie tief hinab die Staffe­ lung reicht, hängt nicht von dieser Korrelation, sondern von den Real­ grenzen des Stufenbaus ab. 3. Beiden Verhältnifien ordnet sich das von Element und Gefüge übet. Und an ihm erst wird der dynamische Hintergrund der Staffelung greifbar. Jedes Gefüge ist mögliches Element größerer Gefüge, und jedes Element kann wiederum Gefüge kleinerer Elemente fein. Auch diese Reihe würde, formal verstanden, in infinitum fortgehen. Dynamisch-real hat sie ihre Grenzen nach oben wie nach unten. Aber das liegt nicht an der kategorialen Korrelation — diese fällt ja vielmehr unter die ersten zwei Kantischen Antinomien —, sondern an den Grenzen der realen Welt.

b. M ateriefunttion und Gliedfunktion der Elemente

Der alte Gedanke von Mikrokosmos und Makrokosmos, einst von der Stoa aufgebracht, vom Eusaner, von Bruno, Leibniz und vielen anderen abgewandelt, ist an der Hauptsache des Verhältnisses, auf das er traf, doch vorbeigegangen. E r setzte den großen und den kleinen Kosmos als inhaltsgleich, oder doch a ls wesensgleich, als Wiederkehr derselben Struktur, nur in anderem Maßstabe (bis zur Spiegelung des einen im andern). E r sah auch keinen Stufengang» sondern nur zwei Extreme, und er verstand diese nicht als dynamisch aufeinander bezogen. Zu schnell w ar man immer mit einem summarischen Schema bei der Hand: mit dem Logos, dem Geiste, der Koinzidenz, der Harmonie. So blieb das Nächstliegende und Einfachste unerfaßt. Die Reihe der ineinandersteckenden Gefüge ist durchaus ungleichartig. D as Atom gleicht im Aufbauprinzip nicht dem Elektron (das vielleicht ein letztes Einfaches ist), das Molekül nicht dem Atom; das P laneten­ system gleicht nicht dem Erdkörper, auch nicht dem Sonnenkörper, ebenso wie die größeren kosmischen Systeme ihm nicht gleichen. Tine jede A rt des Gefüges hat ihre eigene, ihrer Größenordnung allein gemäße Dyna­ mik; jedes Gefüge hat sein besonderes Verhältnis von In n e n und Außen, seine eigentümliche Zentraldetermination, Begrenzungsform und Ganzheit. Nichts von alledem läßt sich verallgemeinern, nichts von einer Ordnung auf die andere übertragen. Gerade darum aber wird die Frage des Jneinandersteckens so drin­ gend. Hinter dem dimensionalen und statischen Verhältnis steht auf der ganzen Linie ein dynamisches. Und erst an ihm kommt die eigentliche Verflochtenheit der ineinandersteckenden, aber einander heterogenen Ge­ fügeordnungen zum Vorschein. E s baut sich nicht beliebig jedes größere Gefüge über jedem kleineren auf, sondern nur bestimmte über bestimmten; ein Beweis, daß die spezi­ fisch aufbauenden Kräfte des einen durch die des andern mitbestimmt sind. Und nicht die Reihenordnung der Gefüge ist dabei bestimmend. Ein Sonnenball baut sich weder au s Erdkörpern noch aus Kristallen auf, wohl aber aus Atomen; wobei offenbar eine ganze Reihe von Größen­ ordnungen übersprungen ist. Aber auch bei angrenzenden Ordnungen waltet ein strenges Aufbauprinzip: nicht aus beliebigen, nur aus be­ stimmten Atomen bauen sich bestimmte Moleküle auf. Die Chemie weiß um eine Fülle besonderer Verbindungsgesetze, die hier walten. W ir bekommen so an Stelle der bloß äußerlich gestaffelten Größen­ ordnungen der Gefüge ein Ineinandergreifen ihrer Kraftverhältnisse. Und zwar spielen hierbei an den kleineren Gefügen, soweit sie als Bau-

steine in die größeren eingehen, diejenigen Kräfte die entscheidende Rolle, die ihre Grenze transzendieren, also über die eigene Geschlossenheit hin­ aus in den umgebenden Raum Hineinspielen. Kräfte solcher A rt bilden ganze Kraftfelder, die das Gefüge umgeben und nach außen wirksam find. M an kann sie kurz als die „Außenkräfte" der Gefüge bezeichnen. Zunächst stellt sich der Stufenbau der N atur a ls ein gestaffeltes Ilberformungsverhältnis dar (denn Überbauungsverhältnisse gibt es hier nirgends). Es ist zwar keine durchgehende Überformung, weil vielfach ganze Ordnungsfolgen übersprungen sind. Aber das ändert nichts an der Überhöhung der Gefüge als solcher. Elemente, die selbst ganze Systeme sind, werden von der umfassenden dynamischen Form einbezogen, ein­ gebaut, in ein größeres Kräfte- und Bewegungsverhältnis gebracht. Dieses formt sie nicht innerlich um, läßt ihren Eefügetypus bestehen; sie behalten also ihre eigene Zentraldetermination, und gerade durch diese sind sie, was sie im größeren Verbände sind: Elemente. Die Elemente sind so, in erster Näherung gesehen, die passiven Träger der größeren Verbände, spielen also in diesen tatsächlich die Rolle der „M aterie". Ih re Funktion im größeren Verbände ist so die einer dynamischen Vorbedingung. Aber sie gehen darin nicht auf, sie rücken innerhalb der Verbände zu deren „Gliedern" mit spezifischer Funktion auf. Und durch diese „Gliedfunktion", die sie von sich aus nicht haben, werden sie doch zu etwas anderem, als sie waren. So hat das Atom als Glied des Moleküls, das Molekül als Baustein eines Tropfens, eines Kristalls, einer Atmosphäre je eine andere Funktion als isoliert für sich; ähnlich der Planetenkörper im Sonnensystem, der Fixstern im Ver­ bände eines Sternhaufens. Ob das Element auch frei vorkommt oder nicht, spielt hierbei zunächst keine Rolle: nicht auf ein buchstäbliches „Hinzukommen" der Eliedfunktion kommt es an, sondern nur auf ihren dynamischen Ursprung im größeren System. Die Gliedfunktion des Elements tritt also seiner Materiefunktion als eine andere gegenüber. Als Materie bestimmt es das größere Ge­ füge, ist sein determinierendes Element, wenn auch nur ein untergeord­ netes. Als Glied wird es von ihm her bestimmt und fällt unter die Zentraldetermination des größeren Verbandes. M an sieht zugleich, daß die Staffelung der Gefüge kein so einfaches Dependenzverhältnis zeigt wie etwa die der Seinsschichten. E s ist eben keine reguläre Schichtung. Die Abhängigkeit der größeren von den kleineren Gefügen besteht nur dort, wo sie wirklich deren Überformungen find. Da gibt es die Gleichgültigkeit der Elemente gegen die aus ihnen formbaren Gefüge, sowie ihr selbständiges Bestehen neben diesen und außerhalb ihrer. Aber das läßt sich nicht allgemein für Verhältnisse H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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zwischen allen einander benachbarten Größenordnungen behaupten. Daß nach dem Zerfall der Verbände die Elemente fortbestehen können — ja, daß sogar sekundäre Gebilde, die Bruchstücke, fortbestehen können, die ihre Formung ganz und gar dem größeren Gefüge verdanken —, das alles ist kein Argument dagegen. Die Bruchstücke werden dadurch nicht zu selbständigen Gebilden; die Elemente aber bewahren, einmal aus dem Verbände entlassen, weder ihre Materiefunktion noch ihre Eliedfunktion. Und da in diesen zwei Funktionen ihr Elementsein besteht, so heißt das: sie bleiben zwar Gefüge für sich, Hören aber auf, Elemente von Gefügen zu sein.

c. Überformung und Autonomie. Jnnenkräfte und Außenkräfte

Die größeren Gefüge sind also wohl abhängig vom Bestehen der in sie einbezogenen kleineren, derjenigen nämlich, die ihre Bausteine sind. S ie entstehen auch zeitlich nicht ohne sie, sei es nun nach ihnen oder gleichzeitig mit ihnen. Die kleineren aber sind in diesen Fällen unab­ hängig von den größeren. I n dieser Beschränkung kann man sagen: die N atur ist „von unten her" aufgebaut; und insoweit gibt es denn auch in ihrem Stufenbau sehr wohl die der kategorialen Dependenz ent­ sprechende Determination vom niederen zum höheren Formgebilde. Die Einschränkung betrifft lediglich das Durchgehen der Uberformung selbst. Um so stärker aber tritt zugleich mit dieser Abhängigkeit die Auto­ nomie der größeren Gefüge in Erscheinung, insonderheit natürlich dort, wo sie zugleich die höheren find. Eigenform, Eigengesetzlichkeit, Eigen­ determination der größeren Gefüge find niemals bloße Funktionen der kleineren, die ihre Aufbauelemente bilden. Das gilt ohne Einschrän­ kungen. Diese in der llberformung entscheidenden Momente haben stets Selbständigkeit gegen die Elemente. Sie bilden ihnen gegenüber das dynamische und determinative Novum — in vollem Umfange entsprechend dem kategorialen Novum in der Schichtenfolge der realen Welt. Wie die Oberflächenspannung und die Kugelform des Tropfens ein Novum sind gegenüber den Molekularkräften von H20 , so sind die Druckverhältnisie im Erdinneren ein Novum gegenüber sämtlichen Auf­ bauelementen des Erdkörpers, den selbständigen und den unselbständigen, obgleich der nach innen zunehmende Druck sich aus der gegenseitigen Gravitation der Elemente aufbaut. Jede Zentraldetermination ist ein determinatives Novum gegen jede andere: die niedere läßt der höheren unbegrenzten Spielraum, die höhere der niederen ihre Selbstän­ digkeit.

Soweit aber ist die Dynamik der Stufenordnung dennoch bloß äußer­ lich gekennzeichnet. I h r inneres Wesen beruht noch auf etwas anderem: auf dem Ineinandergreifen der Kräfte und Prozesse von räumlich inein­ ander steckenden Gefügen verschiedener Größenordnung. Hinter dem ltberformen und der Reihenordnung des Jneinandersteckens steht also das dynamische Ineinandergreifen der Gefüge verschie­ dener Ordnung. Jede Ordnung der Gefüge stellt nach innen ein Gleich­ gewicht dar, bildet aber zugleich nach außen für seine Umgebung ein Kraftzentrum von in die Weite wirkenden Kräften. M an kann dieses die Transzendenz der Gefügekräfte nennen. Denn in der T at „über­ schreiten" sie die Eefügegrenzen nach außen und bilden auf diese Weise charakteristische Außenkräfte. Ein jedes dynamische Gefüge hat irgendwelche Außenkräste, die in bestimmter Weise eine Einflußsphäre rings um seinen Standort ziehen, sich mehr oder weniger tief in die Umgebung hinein erstrecken und sich dabei, nach bestimmten Gesetzen abnehmend, beliebig weit ausdehnen können. Diese Einflußsphäre eines Gefüges ist sein dynamisches Feld. Jedes Gefüge hat also sein eigentümliches „Feld" um sich, entsprechend der Eigenart seines inneren Baus. M an steht nun leicht, daß hierbei ein eigenartiges Verhältnis der Kraftfelder von Gefügen verschiedener Erößenanordnung entstehen muß, sofern die Gefüge einander räumlich umfassen. Zieht jedes Gefüge sein Kraftfeld um sich herum, und versteht man dieses als Inbegriff aller seiner Wirkungen nach außen auf koordinierte Gefüge im Raume, also a ls Inbegriff seiner Außenkräste — einerlei ob diese gravitativ, elektro­ dynamisch oder sonstwie beschaffen find —, so liegt es nah zu vermuten, daß im nächsthöheren Gefüge ein Konflikt der Kräfte einsetzen müsse. E s scheint, wenn A das kleinere und B das größere Gefüge ist, so müßten die Außenkräste von A den Jnnenkrästen von B auf gleichem Felde entgegentreten und dann von ihnen entweder aufgesogen oder paralysiert werden, oder aber in dauerndem Widerstreit mit ihnen liegen. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Das dynamische Jneinanderstecken der Gefüge ist ein viel engeres und innigeres. Wo A und B wirklich wie Element und Gefüge zueinander stehen, d. h. wo ein wirkliches Über­ formungsverhältnis vorliegt — denn nur um diese Fälle kann es sich ja handeln — da ist das dynamische Grundgesetz des Stufenbaus dieses: Die Außenkräste des kleineren Gefüges find zugleich Jnnenkräfte des größeren. Sie sind also nicht störende oder hindernde lnegative) Momente der größeren Gefüge, sondern durchaus positive und auf­ bauende.

Dieser Grundsatz hat die Form einer Jdentitätsthese. Diese Form wird noch zu begrenzen sein; denn die philosophische Erfahrung sagt, daß unbegrenzte Jdentitätsthesen falsch find. Aber man sieht doch auch vor allen Weiterungen, daß es sich hier um ein Fundamentalgesetz im Auf­ bau der kosmischen Dynamik handelt. d. D as dynamische Grundgesetz des Stufenbaus

Die Erklärung dieses Zusammenfallens liegt in folgendem: das Feld der Außenkräfte eines jeden dynamischen Gefüges, welches als Aufbauelement möglicher größerer Gefüge in Frage kommt, fällt von vorn­ herein in den Spielraum der letzteren. Aufheben können die größeren Gefüge dieses Kraftfeld nicht, sie können es nur in ein umfassendes Kräfteverhältnis einbeziehen. Und stabil wird dieses nur sein können, wenn jenes Kraftfeld in ihm als aufbauendes Moment eines Gleich­ gewichts fungiert. D as Gleichgewicht ist dann das des überformenden größeren Gefüges. So fungieren z. B. die Außenkräfte der Atome inner­ halb der sich bildenden Moleküle als „Affinität", d.h. als verbindende Kräfte, und zwar a ls höchst spezifische, die nur in bezug auf Atome einer bestimmten andern Art bestehen. E s können asso stets auf Grund der Kraftfelder kleinerer Gefüge nur solche größere Gefüge zustande kommen, in denen die Feldkräfte jener zu Momenten eines sich überordnenden Gleichgewichts von Kräften werden. I n jedem anderen Falle ist die Bildung eines stabilen Ver­ bandes ein Ding der Unmöglichkeit. D as aber heißt: es können bei gegebenen Elementen immer nur solche Gefüge entstehen, in denen die Außenkräfte der Elemente zugleich Innenkräfte der Gefüge sind. D as ist nun eine zweite Formulierung des oben gebrachten dyna­ mischen Grundgesetzes, welches den Stufenbau der Gefüge bestimmt. I n dieser Fassung aber gewinnt es die Form eines Selektionsgesetzes. D as feligierende Prinzip erscheint dabei ausschließlich auf der Seite der Elemente, also der kleineren Gefüge. Und so würde es allerdings dem Aufbau „von unten her" im Ganzen der N atur entsprechen. E s muß aber gleich hier gesagt werden, daß dem keineswegs durchgehend so zu sein braucht. Die Selektivwirkung kann, wenn die größeren Gefüge zuerst da sind, ebensogut von diesen ausgehen. E s können sich eben dann innerhalb ihrer als ihre Glieder und Aufbauelemente nur solche kleinere Gefüge bilden oder auch in sie eintreten, deren Außenkräfte sich in das größere Kraftgefüge harmonisch als dessen Jnnenkräfte einfügen. Es können z. B. in die Molekularverbände bestimmter chemischer Verbin­ dungen nur bestimmte Atome mit bestimmter Affinität eingehen, nicht beliebige mit beliebigen Verbindungstendenzen.

Auf Grund einer solchen Selektivwirkung — ob pe nun von unten oder von oben ausgeht — wird es verständlich, warum überhaupt die N atur mit den Erundtypen der primären Gefüge so sparsam ist. W ir kennen ihrer noch nicht ein Dutzend; allerdings fügen sich dem noch einige nicht ganz eindeutige Erenzfälle an. E s gibt zwar viele Unter­ arten von jedem prim ären Eefügetypus, z.B . die vielen Arten des Atoms, des MoleMls, der rotierenden Himmelskörper; aber innerhalb des Typus find pe alle nach demselben Aufbauprinzip, und aus Ele­ menten der gleichen Ordnung gebildet — und überdies mit Hilfe des­ selben kategorialen „Kunstgriffes" der N atur, die Autzenkräfte der Elemente zu Jnnenkräften der Gefüge zu machen. Von hier aus erklärt pch auch die typenhafte Wiederkehr der Form in den Gebilden der anorganischen N atur; formal gesprochen also, der starke Einschlag des Allgemeinen in ihnen. Wie das Allgemeine in den Prozessen deren Gesetzlichkeit ausmacht, und letzten Endes auf Selek­ tivität der allgemeinen Wechselwirkung in den Kollokationen beruht, so beruht das Allgemeine in den primären Gebilden der N atur auf der Selektivwirkung ihres Stufenbaus. — D as Grundgesetz des Stufenbaus hat zwar, wie pch zeigte, die Form einer Jdentitätsthese, aber es spricht doch keineswegs eine vollständige Id en tität aus. M an kann daher den Satz, den es ausspricht, nicht umkehren. Die Autzenkräfte der kleineren Gefüge pttb zwar überall, wo diese als Auf­ bauelemente von grötzeren funktionieren, zugleich deren Jnnenkräste; aber umgekehrt pttb die Jnnenkräste der grötzeren Gefüge in den gleichen Fällen doch noch keinewegs alle zugleich Autzenkräfte der Achteten. W ären Pe es notwendigerweise, so würde das bedeuten, datz es in den grötzeren Gefügen überhaupt keine neu einsetzenden Eigenkräfte geben könnte. Und damit wäre deren Autonomie aufgehoben. W as offenbar nicht zutrifft. Denn es treten in den grötzeren Verbänden sehr eigen­ tümliche Eigenkräfte auf, die durchaus erst durch die besondere Dynamik des umfassenden Gefüges zustande kommen und keineswegs den Elementen als solchen angehören. M an denke etwa an die Rotationsellips ide der Planetenkörper oder auch an die dem Kreiselgesetz folgenden Bewegun­ gen ihrer Notationsachsen. Das Gefüge der Kräfte, das hier bestimmend ist, hat zwar die Gravitation aller Massenteilchen zur Voraussetzung, geht aber in ihr keineswegs auf. Zu den Feldkräften der Elemente kommen also noch die eigenen Jnnenkräste der Gefüge hinzu. Und gerade zwischen diesen und jenen müssen pch stabile Formen des Gleichgewichts herstellen, wenn die Ganz­ heiten der Gefüge S tabilität haben sollen. Hierin erkennt man dann ohne weiteres die Autonomie der größeren Gefüge, ungeachtet des Stärker­ seins der Heinere«; was wiederum besonders dort ins Gewicht fällt, wo

die größeren auch die höheren Gebilde sind. Die kleineren Gefüge find eben für sie trotz allem doch nur „Materie", d. h. Aufbauelemente. Die größe­ ren aber haben auch rein dynamisch ihr Novum, genau so wie sie es auch der Form und der Gesetzlichkeit nach haben. Auf den Determinationstypus bezogen könnte man sagen: ihre Zentraldetermination formt gegebene Kräfte um und läßt so charakteristisch neue entstehen. e. Spaltung der Ordnungsfolge im Stufenbau

Auf Grund dieser dynamischen Verhältnisse lassen sich einige weitere Eigentümlichkeiten im Stufenbau der N atur verstehen. Dieser ist, wie sich schon zeigte, kein gleichförmiger, und die Ordnungsfolge in ihm ist keine geradlinig durchgehende. So find z. B. Moleküle und alle aus ihnen zusammengesetzten höheren Gebilde nicht Aufbauelemente der großen selbstleuchtenden Himmelskörper; selbst das Auftreten gewisser chemischer Verbindungen in den kühleren Sternatmosphären hat offenbar keine struktive Bedeutung. Damit spaltet sich eine Reihe von Gebilden ab, die aus dem dynamischen Verhältnis zwischen Atomen und Fixsternen aus­ geschaltet bleibt. Die Ordnungsfolge der Gefüge, soweit sie in llberformung besteht, verästelt sich. Die Gründe dafür werden teils bei der Selektivwirkung zwischen den Ordnungen der Gefüge, insonderheit bei derjenigen der kleineren, zu suchen sein; teils aber wohl auch beim Novum der größeren, bei ihrer Eigengesetzlichkeit, ihrer Zentraldetermination und ihren eigenen Jnnenkräften, also gerade bei den Momenten, deren Einsetzen sich nicht aus etwas anderem erklären läßt. S o setzen z. B. in den Fixsternatmosphären — und erst recht natürlich in den Jnnenzonen — Temperaturen ein, bei denen chemische Verbindungen sich offenbar nicht mehr halten können, die Molekularverbände also sich lösen; daher dann die Ausschaltung dieser Kleingefüge als Elemente der großen. Aber man kann hier noch mehr zur Einsicht bringen. Es gibt gewisse Grundkräfte, die durch viele Größenordnungen des dynamischen Gefüges hindurchgehen; und mit ihnen geht dann auch ihre Gesetzlichkeit hindurch. Aber die Kräfte wandeln sich in der Ordnungsfolge sehr wesentlich ab, sie sind im Großen nicht dasselbe, wie im Kleinen, und zwar gerade auf Grund gleichbleibender Gesetzlichkeit. Der Hauptfaktor der Abwandlung ist die Größenordnung der Gefüge. Durch sie wird das Verhältnis der einander entgegenstehenden Kräfte verschoben. Dieses Verhältnis aber ist das dynamische Gleichgewicht der Gefüge. Dieselben Kräfte also sind in Gefügen verschiedener Größenordnung etwas sehr Verschiedenes und erfordern dementsprechend sehr verschiedene Gegenkräfte zur Gleichgewichtslage. Die Feldwirkung des Atomkerns ist

innerhalb des Atomverbandes eine ganz andere als außerhalb seiner, sei es in den Molekularverbänden oder etwa in einem Gasgemenge. Der Strahlungsdruck ist innerhalb der großen Easkugeln (Fixsterne) etwas ganz anderes als draußen im Welträume oder auch nur im nächsthöheren System. E r kann im Sonnenkörper den mechanischen Gasdruck um ein Mehrfaches übersteigen. J a , dieselbe K raft kann sich schon innerhalb eines solchen Gefüges je nach der Zone außerordentlich stark ändern. So ist in den großen kosmischen Systemen, die keinen Zentralkörper haben, die Eesamtgravitation in einer gewissen mittleren Zone, d. h. in mäßigem Abstande vom Zentrum, am stärksten; sie nimmt nach außen zu ständig ab, nimmt aber auch ebenso nach innen zu ab, um im Zentrum ganz zu verschwinden. Bezieht man eine solche Kräfteverschiebung folgerichtig auf die Eigen­ determination der Gefüge und auf die Selektivwirkung ihrer Ordnungen aufeinander, so erklärt es sich, daß der Stufenbau der N atur nicht gleich­ förmig aufsteigt, daß in der Ordnungssolge der Systeme Lücken auftreten, in denen ganze Reihen von Größenordnungen übersprungen sind. Die Lücken weisen freilich auch natürliche Ganzheiten auf, aber nur solche, die schon auf den Verband weit größerer Gefüge oder gar auf bestimmte Ent­ wickelungsstadien von ihnen, als Vorbedingung, angewiesen sind. W as in solch eine Lücke fällt, ist also nicht notwendiges Aufbauelement der größe­ ren Gefüge. Das reißt ein Loch in das Prinzip des Aufgebautseins „von unten her". E s gibt also auch im Stufenbau der N atur eine Determination „von oben her", richtiger gesagt, von den größeren Verbänden her. E s treten dann innerhalb der größeren Gefüge zonenweise Bedingungen auf, unter denen die kleineren sich erst bilden können. Denn es gibt Gefüge, die zu ihrer Entstehung sehr bestimmter und kompliziert bedingter Zu­ stände ihrer Umgebung bedürfen. Dahin gehören alle Gefüge, die einen festen oder flüssigen Aggregatzustand der M aterie voraussetzen. S ie find an bestimmte Abkühlungsphasen an den Oberflächen großer Mafien ge­ bunden.

k. Die Lücke im Stufenbau. Stellung der höchsten Gefüge W ir kennen heute zwei geschlossene Reihen dynamischer Gefüge, zwischen denen eine solche Lücke klafft. Die eine ist die der Mikrosysteme. Sie gruppiert sich um das Atom herum. Ob die nächstkleineren Bausteine; die Elektronen, Protonen, Neutronen, noch als Gefüge anzusehen sind oder als letzte und unauflösliche Elemente, ist heute nicht zu entscheiden. Wohl aber sind oberhalb des Atoms die Moleküle der chemischen Ver­ bindungen echte dynamische Gefüge. Und möglich wäre es, ihnen noch ein­ mal die hochkomplizierten Moleküle der sog. organischen Verbindungen

(nicht organisierte Wesen!) überzuordnen. Dann aber reiht die Kette ab. und es folgen blohe Aggregate ohne selbständige Eigenform: die Aus­ nahmen, von denen die Kristallbildungen die bekanntesten sind, ändern an dieser Gesamterscheinung nur wenig. Die höheren Glieder dieser lutgen Reihe, darunter die meisten Moleküle, find schon an sehr besondere Zu­ stände größerer Gefüge (Erkaltungszustände ganzer Weltkörper) ge­ bunden. Die andere geschloffene Reihe ist die der Makrosysteme. Sie beginnt mit den Zusammenballungen der Materie, welche die Sternkörper bilden — einerlei, ob diese hochtemperiert und gasförmig wie die Fixsterne oder erkaltet und von fester Oberfläche wie der Erdkörper find — und endet mit den großen Spiralsystemen, sowie verwandten Formen gleicher Ord­ nung, oder auch gar mit ganzen „Schwärmen" von solchen Systemen. Dazwischen ordnen sich die Planetensysteme, die Doppel- und Mehrstern­ systeme, die Sternhaufen und Sternwolken ein. Jedenfalls umfaßt auch diese Reihe mehrere deutlich abgehobene Größenordnungen, wennschon es an übergangsformen nützt fehlen mag. Zwischen der ersten und der zweiten Reihe klafft die große Lücke. Sie ist wohl von Gebilden mittlerer Größenordnungen ausgefüllt, aber nicht von einer zusammenhängenden Reihe dynamischer Gefüge mit ent­ sprechender Selbständigkeit. S tatt dessen treten in ihr die festen Körper auf: aber diese sind im großen ganzen Zerfallsprodukte, Bruchstücke größe­ rer Gefüge, oder sie gehören diesen gar noch als ihre Teilstücke an. Und sie entstehen auch nur a ls deren Teile. E s ist durchaus möglich, daß wir den Aufbau der N atur noch nicht in ganzer Ausdehnung kennen, sowohl im Kleinen wie im Großen. Aber in dem Ausschnitt, den wir kennen, ist gerade die M itte relattv entblößt von dynamisch selbständigen Gefügen. I n diese M itte gehört auch der Mensch mit der Größenordnung seines Leibes hinein, an sie ist er mit seinen Lebens- und Wahrnehmungsfunktionen angepaßt. Darum sehen wir im Leben so wenig von den eigentlichen dynamischen Gefügen und so überwältigend viel von sekundären Gebilden; darum auch ist unser naiver Eegenstandsbegriff so erstaunlich fest an „Dinge" gefesselt, und darum ist es so schwer, ihn auch nur so weit umzubilden, daß er auf etwas physisch P rim äres und Selbständiges paßt. Bon dieser M itte aus, die unverrückbar den Standort menschlicher Sicht bildet, zeigt uns der Stufenbau der N atur, wie die Wissenschaft ihn erschlossen hat, je eine kurze aber dichte Folge zusammenhängender Ge­ fügeordnungen nach oben und nach unten zu. Aber wir können beide nur aus der Ferne und gleichsam perspektivisch sehen. E s find eben nicht alle Größenordnungen der Gefüge in den Realzusammenhang der Stufenfolge fest eingebaut, der Aufbau springt über die mittleren Stufen hinweg. E r

füllt sie allerdings nachträglich wieder auf, bleibt aber genetisch wie strukturell nicht an sie gebunden. Die Bildung chemischer Verbindungen, zumal-der höheren, ist schon das Auftreten einer abgespaltenen Reihe. Solcher Verzweigungen der Überformungskette gibt es im Stufenbau der N atur noch mehr. Jedenfalls gilt hier nicht das Gesetz der Seinsschichtenfolge, daß das höhere Gebilde sich nur über dem nächst niederen erbaut, dieses also voraus­ setzt. D as Überspringen zeigt deutlich, daß viele Bausteine auch nachträglich in den Gefügen entstehen. E s sind dann natürlich auch keine eigentlichen Bausteine. Oder genauer, die wirklichen Bausteine sind weit kleinere Gefüge. E s handelt sich hier eben nicht um „Schichtung", auch nicht um Über­ höhung niederer durch höhere Gebilde, sondern um räumlich-dynamisches Umfasien und Umfaßtwerden. Die stärksten Gefüge dürften hier wohl die kleinsten fein, aber die größten sind deswegen nicht die höchsten. Die wirklich höchsten Gefüge der Stufenfolge liegen vielmehr in der M itte. Sie fallen der Größenordnung nach gerade in jene „Lücke" des Stufenbaus, die vorwiegend von Bruchstücken und sekundären Gefügen ausgefüllt ist. I n dieser Lücke entfalten sich die abgespaltenen Reihen höherer Gefüge, die nicht Aufbauelemente der kosmischen Gefüge find. Die höchsten natürlichen Gebilde, die hierher gehören, find die der nächsthöheren Seinsschicht, die organischen Gefüge. Auch sie sind noch dy­ namische Gefüge, gehen aber darin nicht auf, ihre Struktur und ihre Determination überschreitet das bloß dynamische; aber auch sie find noch räumliche und materielle Gebilde, bestehen aus den Kleingefügen alles Materiellen, au s Atomen und Molekülen, und auch sie verwerten deren Außenkräfte als Jnnenkräfte ihres eigenen Aufbaus. Alles übrige an ihnen, ihr Formprinzip, ihr Determinationstypus, ihr inneres Prozeßsystem, ist gänzlich anders geartet. Dadurch eben gehören sie einer andern Seinsfchicht mit anderen Kategorien an und fallen aus der Stufenleiter heraus. Ih ren Größenordnungen nach aber gehören sie in diese hinein. Die große Lücke in der Serie der natürlichen Gefüge ist also der O rt des Organischen. Damit wird sich die Lehre von den organologischen Kategorien noch ausführlich zu beschäftigen haben. Wichtig ist an dieser Stelle nur, daß die organischen Gefüge auch ihrer ontischen Abhängigkeit nach eine sehr besondere Stellung einnehmen. Sie find an kosmische Be­ dingungen höchst komplexer, ja exzeptioneller Art gebunden, an gemäßigte Temperaturen, Luft, Wasser, Licht und vieles andere mehr — kurz an Planetenoberflächen in sehr bestimmter Erkaltungsphase. Sie sind also abhängig von einem Dauerzustände ihrer Umgebung, wie er ohne Zweifel im Kosmos nur ausnahmsweise und, gemessen an der Weite des Welt­ raumes, nur in räumlich engsten Grenzen auftreten kann.

42. Kapitel. Dynamische Eanzheitsdetermiuation a. Rechtläufige und rückläufige Determination M it den Kategorien des dynamischen Gefüges und des Stufenbaus ist eine bestimmte A rt von Determination zutage getreten, die eine Reihenordnung und eindeutige Richtung aufweist, wennschon fie nicht das Ganze des Kosmos als Einheit einer Ordnungsfolge durchzieht: die Be­ stimmung des Ganzen vom Teil, des Gefüges vom Element her. E s ist die im Sinne der Schichtung „rechtläufige" Determination. M it ihr reimt sich das Dynamische Grundgesetz" des Stufenbaus, daß die Außenkräfte des kleinen Gefüges zugleich Jnnenkräfte des größeren bilden, — ein Ge­ setz, das genau so weit Geltung hat, als direkte Überformung der Eefügeordnungen vorliegt. M an kann sie also im Hinblick auf das durchgehende Verhältnis von Innerem und Äußerem auch als gestaffelte Zentral­ determination der Gefüge bezeichnen. Zentraldetermination eben geht in jeder Größenordnung von innen nach außen. Jede Formganzheit eines dynamischen Gefüges ist „Äuße­ rung" eines Inneren, und dieses hängt wiederum an den Äußerungen des In n eren der umfaßten Formganzheiten. So bekommt man eine ein­ deutige Abhängigkeit der Gefüge „von unten her" heraus. Und es ist ver­ führerisch, sie zu verallgemeinern. Bestünde dieses Verhältnis allein in der Natur, so wäre ihr Stufen­ bau in der T at ein überaus einfacher, ein beinah „atomistifcher", von den Elementen her durchdeterminierter. E r entspräche dann dem bekannte« Schema der mechanischen Theorien, obgleich die Dynamik der Gefüge auch dann durchaus keine „mechanische" zu sein brauchte. Aber dann müßten die Kräfte der kleinsten Gefüge auch wirklich für alles in der physischen W ett aufkommen. Daß dem nicht so ist, folgte schon aus dem dynamischen Novum jeder Gefügeordnung. Es ging ferner aus den beigebrachten Beispielen ent­ gegengesetzter Abhängigkeit hervor, vollends aber aus dem Auftreten von Lücken in der llberformungsfolge. Hier stieß die Analyse auf die Spuren einer entschieden „rückläufigen" Determination, einer solchen nämlich, die vom Ganzen zum Teil, vom Gefüge zum Element geht. Wenn sie zunächst auch vereinzelt dastand, so fragt es sich doch, ob ihr nicht der Charatter eines eigenartigen Aufbauprinzips zukommt. E s könnte ja fein, daß ihr W alten ein viel allgemeineres, aber für die Perspektive des Menschen durch die rechtläufige Determination „zugedeckt" wäre. Soviel wenigstens ließ sich erkennen, daß die letztere allein für einen universalen Erklärungs­ versuch des kosmischen Zusammenhanges nicht zureicht.

W äre der StufenLau der N atur wirklich eine Schichtung, so brauchte dem nicht so zu sein. Die Determination „von unten her" zusammen mit der Autonomie der höheren Gebilde müßte dann zureichen. Aber der Stufenbau ist nicht eigentliche Schichtung. Die kleineren Gefüge sind inner­ halb der Merformungsreihen wohl im ganzen die „stärkeren", aber sie sind nicht durchgängig selbständig gegen die größeren: es gibt solche, deren Auftreten in der Welt an das Bestehen der größeren gebunden ist. Genau genommen ist sogar das Bild des Stufenbaus nicht streng er­ füllt. E s müßte dazu wenigstens durchgehend das „Aufruhen" des größe­ ren auf dem kleineren Gebilde gewahrt fein. Das ist nicht der Fall. D a­ gegen gibt es auch ein „Abhängen" vom größeren. Da nun das größere Gefüge sich dem kleineren als umfasiendes Ganzes überordnet, und dieses als seinen Teil einbegreift, so handelt es sich bei diesem Abhängen um Determination des Teils vom Ganzen her. Das aber ist die Form einer dynamischen Eanzheitsdetermination. D as ist nicht dasselbe wie Zentraldetermination. Diese macht die determinative Selbständigkeit (Autonomie) eines Gefüges in sich selbst aus und geht von innen nach außen. Dynamische Eanzheitsdetermination geht ebensosehr von außen nach innen, genauer vom Inbegriff des Außen und In nen, d. h. vom „Ganzen" als solchem, zu den Gliedern, aus denen es besteht. Eanzheitsdetermination in diesem engeren Sinne setzt also Zentral­ determination voraus, geht aber in ihr nicht auf. Das besagt, sie geht im Charakter der Autonomie des Gefüges nicht auf: weder in seinem dyna­ mischen Gleichgewicht noch in desien Stabilitätsbedingungen, noch über­ haupt in seinem determinativen Novum. Eanzheitsdetermination ist Determination des Elements vom Gefüge her. Sie bedeutet in der Staffe­ lung und Ilberformung der Gefügeordnungen das determinative Novum des kleineren Gefüges, sofern es vom größeren her bestimmt ist.

b. Jnnenkriifte von Gefügen und Aufbaubedingungen ihrer Elemente

Insofern ist Eanzheitsdetermination in der Stufenordnung etwas kategorial Neues auch gegenüber der Zentraldetermination, eine neue Kategorie. „Rückdetermination" ist sie nur im Sinne der Stufenfolge; mit irgendeiner A rt Rückwirkung hat das nichts zu tun, dem Kausalnexus läuft sie nicht entgegen, wie sie denn überhaupt nicht zeitliche Folge be­ deutet. Sie kann wohl zeitlich-kosmologische Bedeutung haben, aber dann ist ihre Wirkungsweise kausal rechtläufig, und keineswegs rückläufig.

Sie hebt auch die im Sinne der Stufenfolge rechtläufige Determination nicht auf, die Bedingtheit der Gefüge „von unten her" bleibt bestehen; aber sie transzendiert ihrerseits die Stufe in umgekehrter Richtung. S ie besagt also, daß in dem dynamischen Ineinandergreifen der Eefügeordnungen die Determination nicht nur aufwärts, sondern auch abw ärts geht. Die bekannteren Beispiele dafür sind schon berührt worden. D as ein­ fachste von ihnen ist die Bildung der Molekularverbände, also der chemi­ schen Verbindungen, auf der die große Mannigfaltigkeit der Stoffe beruht: sie hängt nicht nur an den Außenkräften der Atome, ihren „Affinitäten", sondern außerdem noch an dem Vorhandensein bestimmter Druck-, Dichte- und Temperaturverhältnisse, wie sie nur in bestimmten E r­ kaltungszuständen von kosmischen Körpern auftreten. Sie hängt also ebensosehr an den Jnnenkräften weit größerer Gefüge. Hier ist freilich der Einfluß der eingreifenden Systeme nur ein mittelbarer, wird aber deswegen nicht geringer. Doch gibt es Fälle von ebenso ausweisbarem unmittelbaren Einfluß. Einen solchen haben wir in der Rückwirkung gewisier Molekularverbände auf die Atome, die ihre Glieder find, was u. a. in der Veränderung der Spektrallinien sich ankündigt. Die genaue dynamische Beschreibung der Ganzheitsdetermination läßt sich generell nicht geben. Sie ist nicht überall von gleicher Art, schlägt ver­ schiedene Wege ein. Zurückführen läßt sie sich nicht auf anderweitige Deter­ mination, aber auch ausschalten läßt sie sich nicht. M an kann sie» streng genommen, nur empirisch aufweisen, oder doch nur auf Grund von em­ pirisch Bekanntem erschließen. M an stößt im Eindringen überall auf sie. Aber man kann sie nicht in ein einfaches und übersichtliches Schema zwingen. D as Wenige, w as sich hier allgemein ausmachen läßt, wird vom dyna­ mischen Grundgesetz des Stufenbaus au s sichtbar, welches direkt nur für die rechtläufige Determination spricht. „Die Außenkräfte des kleineren Ge­ füges sind zugleich Jnnenkräfte des größeren" — das ist zwar eine Jdentitätsformel, läßt sich aber nicht umkehren: es gibt vielmehr In n e n ­ kräfte der größeren Gefüge, die nicht Außenkräfte der kleineren sind. Aber das genügt noch nicht für die Eanzheitsdetermination, es besagt nur wieder die Autonomie der größeren Gefüge. Eanzheitsdetermination bedeutet noch etwas anderes. I n der Sprache des Grundgesetzes würde das so ausdrückbar sein: es gibt auch solche autonome Jnnenkräfte der größeren Ge­ füge, die zugleich determinierende Außenbedingungen der kleineren sind. S ie sind dann natürlich nicht deren "Kräfte, können also auch nicht als ihre Außenkräfte bezeichnet werden. Sie sind vielmehr für die kleineren Ge­ füge fremde Kraftkomponenten, auf deren Grundlage sie aber sich auf­ bauen.

D as ist natürlich keine Umkehrung des Grundgesetzes. E s reimt sich sogar im W ortlaut gut mit ihm. N ur die dahinterstehende Richtung der Determination macht den Unterschied aus. Dort determinieren Außenkräfte der Elemente den Aufbau von Gefügen, hier Jnnenkräfte der Ge­ füge den Aufbau der Elemente. Der Gegensatz ist ein rein determinativer. Und wesentlich ist es, daß Eanzheitsdetermination in diesem Sinne sich noch weniger verallgemeinern lägt als die Determination vom Element her. M an kann nicht sagen, daß in jedem Gefüge die autonomen Jnnenkräfte des Ganzen den Aufbau oder auch nur den Verbleib der Elemente in ihm bestimmen. Möglich wäre es allerdings, dah auch dieses allgemein gälte. D as würde bedeuten, daß auch da, wo wir sie nicht nachweisen können, Eanzheitsdetermination be­ stehen müßte,' daß z. B. jeder Molekularverband auch auf den B au der in ihn einbezogenen Atome zurückwirkte, oder etwa daß jeder größere kos­ mische Verband auch auf die einzelnen Sternkomponenten einwirkte. Aber einen strengen Beleg haben wir dafür nicht. Vielleicht ist es auch so, daß die Rückdetermination von der größeren Ganzheit her wohl immer vorhanden sein muß, aber zwischen bestimmten Größenordnungen — zumal wenn hierbei Stufen übersprungen sind — verschwindend klein w ird; etwa so wie die Gravitation, die das galaktische System beherrscht, innerhalb des Planetensystems verschwindend klein gegen die Sonnengravitation wird. Jedenfalls aber muß man damit rechnen, daß es auch Jnnenkräfte der großen Gefüge gibt, die nicht Aufbaubedingungen der kleineren sind; und zwar auch dort, wo diese niemals außerhalb jener auftreten.

c. Zweiseitige Determination im Stufenbau der Natur

Daß hierbei die rückläufige Determination die rechtläufige nicht auf­ hebt, kann man sich in folgender Weise klarmachen. Zweifellos bauen bei der Überformung zunächst einmal weitgehend die Außenkräfte kleiner Gefüge die Jnnenkräfte von weit größeren auf; wobei letztere keineswegs immer die nächstgrößeren sind. Zugleich aber entstehen hier­ durch neue Eesamtkräfte, ja neue Energieformen, die nun ihrerseits auf die kleineren Gefüge rückwirken, sie modifizieren, ja wohl gar neue ent­ stehen lasten. Und vielfach entstehen auf diese Weise erst die Zwischen­ stufen, die zunächst übersprungen waren. Die mittleren Gebilde sind dann offenbar zugleich von oben und von unten her determiniert; und jedenfalls ist ihr Auftreten in der W elt bedingt durch die Eigenart höherer Ganz­ heitsdetermination. Richt freilich durch sie allein, aber doch wesentlich durch sie.

Das gilt nicht nur von den molekularen Verbänden der Atome, von deren sehr bedingtem Austreten schon die Rede w ar; es gilt vielmehr höchst wahrscheinlich schon von vielen Arten der Atome selbst, zumal von den höheren Formen. Geht man von der gewaltigen Energiemenge aus, die in den Atomkernen aufgespeichert ist, so wird man auf Bildungs­ bedingungen der Atome geführt, die man nur im In neren sehr großer Massen mit hohem Druck und hoher Temperatur voraussetzen kann. Und bezeichnet man nun Hochdruck und Hochtemperatur im Inneren der Ge­ stirne als die besonderen Energieformen, in denen Atomkerne bestimmter A rt entstehen können, so stößt man damit auf die weitere Frage: was für Kräfte stehen hinter dem Auftreten dieser Energieformen? W ir kennen als nächsten Grund nur die Zusammenballung der Massen. Aber diese Zusammenballung hängt nicht an der gravitativen Feldwirkung der prim ären Massen allein (etwa der als Nebel int Raume verteilten), sondern auch an deren gravitativem Gefälle, das sie gegen­ einander haben, d. h. an ihrer ursprünglich gegebenen räumlichen Distanz. Die letztere bildet das große Potential der Energie, das sich hernach bei der Zusammenballung zunächst in mechanische Bewegung, dann aber in Druck, Temperatur, Strahlung uff. umsetzt. Nun ist aber das gravitative Gefälle der Massen gegeneinander eine Funktion ihrer Verteilung im Raume, also jedenfalls die einer Ganzheit von weit größerem Ausmaße. Don welchem Stadium ab dann die sich zusammenziehende Stoffmasse als eine Ganzheit zu wirken beginnt, ist demgegenüber eine sekundäre Frage. E s liegt kosmologisch nah anzunehmen, daß die zeitlichen Grenzen der Gefüge, oder wenigstens die der großen Gefüge, ebenso „verschwimmende" sind wie die räumlichen. Daneben lassen sich andere Beispiele stellen. Von den sehr besonderen Bedingungen, unter denen sich kristallinische Gefügeformen bilden, ist schon mehrfach die Rede gewesen; es scheint, daß nur Planetenrinden in bestimmter Entwicklungsphase oder ihnen ähnliche Zustände verwandter kosmischer Körper dafür in Frage kommen. Das weist deutlich auf eine charakteristische Eanzheitsdetermination bei ihrer Entstehung hin. Ebenso scheint es aber auch mit der Bildung der großen Fixsternkörper zu stehen; so wenigstens wenn man den heutigen Stand der eng ineinandergreifen­ den stellarstatistischen und astrophysikalischen Forschungen zugrunde legt. E s scheint nämlich, daß die verschiedenen Typen der Fixsterne nur in be­ stimmten Zuständen der größeren Systeme, ja sogar nur in bestimmten Teilen oder Zonen der letzteren entstehen, also von deren Eefügebau her mitbedingt sind. So hat die Spektrographie gelehrt, daß in den Zentral­ partien der Spiralsysteme die sog. „späteren" Spektralklassen, in deren Spiralarm en aber die „früheren" überwiegen. Wenn das sich auch nur für die uns räumlich nächsten Nebel nachweisen läßt, so liegt doch darin

ein klarer Hinweis auf eine Determination der Sternkomponenten von der Ganzheit der gestalthast einheitlich gebauten großen Systeme her. Die Mannigfaltigkeit solcher Beispiele mit ihrer großen inhaltlichen Verschiedenheit illustriert wohl am besten die umfassende Tragweite des Prinzips: die Eanzheitsdetermination ist offenbar eine eminent auf­ bauende Macht im Stufenbau der Natur. Und aus ihr erst wird auch das Auftauchen der großen „Lücke" in der Stufenfolge bester verständlich. Die kleinsten und die größten Gefüge sind offenbar mit ihren Ent­ stehungsbedingungen eng aneinander gefesselt, während die mittleren für ihr Entstehen und Bestehen nicht notwendig sind. Zugleich wird aber auch verständlich, warum die Lücke sich einerseits mit Bruchstücken füllt, andererseits aber der Boden für das Auftreten der höchsten Gebilde ist. F ü r diese letzteren eben liegen die Entstehungs- und Existenzbedingungen besonders komplex. Sie treten dort auf, wo mannig­ fache Eanzheitsdetermination größerer Gefüge sich mit komplexer Zen­ traldetermination kleinerer trifft, wo also gestaffelte Eefügedetermination von unten und von oben her aufeinander stößt. Hieraus kann man weiter die Konsequenz ziehen: der Stufenbau der N atur ist auch im „Ganzen" zugleich von unten und von oben her deter­ miniert. Das bedeutet keineswegs, daß sich von oben her ein Bauplan über das Ganze legte, was ja nicht ohne durchgehende Finaldetermination geschehen könnte und allem früher Erörterten zuwiderlaufen würde. Sondern es handelt sich hier wirklich um ein Zusammentreffen von zweierlei Eefügedetermination in der Stufenordnung. Und zwar ist es von beiden Seiten Lberformte Kausalität und Wechselwirkung, nur eben in verschiedener Weise überformt. Oder in anderer Fastung: die Zentral­ determinationen der Gefüge überlagern einander aufw ärts von den kleinsten her, wobei sie ganze Folgen von Stufen überspringen; und die Eanzheitsdeterminationen durchdringen einander abwärts von den größten Ge­ bilden her. Der Aufbau der N atur — und vielleicht auch ihr Werde­ gang — fängt von zwei Seiten her an. Die durch alle Ordnungen hin­ durchgehenden Grundkräfte hindern das nicht. Sie ermöglichen es vielmehr. d. Konsequenzen. Sekundäre Ganzheiten und die sog. „Dinge"

D as ist der Grund, warum auch die Statik der großen Masten im Kosmos (die S tabilität ihrer Gleichgewichtszustände) so stark mit­ bestimmt ist von der Dynamik der kleinsten Elemente, und diese wiederum von ihr. Ein solches Ineinandergreifen, obgleich nur auf analytischem Wege errechnet (etwa in dem Sinne von Eddingtons „innerem Aufbau

der Sterne"), ist doch in seiner Weise überzeugend und gehört zu den erstaunlichsten Resultaten der heutigen Astrophysik. Die summierten Gesamtkräfte im Großen zeigen aber ein wesentlich anderes Gesicht a ls dieselben Kräfte im Kleinen. Sie find in anderen Maßstäben auch wirklich andere Faktoren. D as Ausmaß der Masse und der Distanz verändert sie; die Größenordnung selbst scheidet sie, zumal in den Extremen. Darum begegnen sie sich in den mittleren Gefügen wie ganz verschiedene Kräfte. E s ergibt sich das Bild einer grandiosen deter­ minativen Wechselwirkung zwischen den parallel zueinander sich bilden­ den kleinsten und größten Gefügen. Sie hat die Form einer gegenseitigen Bedingtheit von Zentraldetermination und Eanzheitsdetermination. Das Anfangen im Kleinsten und das Anfangen im Größten steht in Wechselbedingtheit. Eines löst das andere aus; beides ist zugleich Grund und Folge voneinander. Und dieses zwiefache Anfangen ist vielmehr ein einziges, identisches Anfangen, nur eben nicht ein so einfaches, wie die alten kosmologischen Theorien es gemeint haben. E s ist damit ähnlich wie mit dem komplexen Naturprozeß; auch er ist jederzeit nur einer, läßt sich nicht auseinanderreißen, obschon er in Makro- und Mikroprozesse aufgespalten erscheint. Die mittleren Gefüge aber sind auch dem Prozeß nach sekundär. Sie sind schon Produkte dieser Wechselwirkung und zugleich weit mehr als Produkte: sie sind eigengesetzliche llberformungen, Gleich­ gewichte mit eigener S tabilität und eigener Regulation, die einmal zu­ stande gekommen, Selbständigkeit gewinnen. Dieses Verhältnis erstreckt sich indessen noch weiter. E s beherrscht nicht nur die Stufenordnung natürlicher Ganzheiten, sondern auch inner­ halb einer jeden von ihnen die Abhängigkeit solcher „Teile", die nicht selbständige Ganzheiten sind. Damit rückt noch eine unvergleichlich größere Mannigfaltigkeit von Erscheinungen unter die Kategorie der Eanzheits­ determination — und zwar gleichfalls indem diese bereits auf eine „recht­ läufige" Determination stößt und mit ihr zusammen die Teilgebilde formt. Darum lockert sich hier der Eharakter der Eanzheitsdetermination auf, und das Verschwimmen der Grenzen wird zu einem faktisch grenzen­ losen Übergehen in koordinierte Teilgebilde. Um Beispiele hierfür braucht man nicht verlegen zu sein. Die Meteo­ rologie (etwa als „Eroßwetterforschung"), die physische Geographie und Geologie sind voll davon. S ta tt vieler anderen sei hier auf ein besonders großartiges Beispiel hingewiesen, auf die Gleichgewichtslage der großen „Sialschollen" der Erdoberfläche, die wir Kontinente nennen. Sie sind charakteristische Bruchstücke, unterliegen aber ganz und gar den Kräften des Rotationsellipsoids, dem sie angehören. Von diesen Kräften bestimmt tst ihr Aufragen aus der plastischen Unterlage, dem „Sim a", nach dem

Gesetz der Jsostafie; von ihnen auch die Horizontalverschiebung, der sie unterliegen, ihr Wandern nach Westen, der Erddrehung entgegen, sowie ihre Tendenz, sich nach dem Äquator hin zusammenzuschieben — mit all den vielfältigen Konsequenzen, unter denen die Aufschichtung und Faltung nur die auffälligsten find. Hier wirkt stch greifbar die dynamische Eanzheitsdetermination des Erdkörpers an den Bruchstücken einer Ober­ flächenschicht aus, die selbst wiederum relativ geschlossene Gebilde find und als solche auch ihre besondere A rt von Stabilität haben, aber alles dieses nicht aus stch, sondern aus der Dynamik des im Welträume fich bewegenden Planeten. Solche Gebilde sind natürlich selbst relative Ganzheiten, und zwar natürliche, wennschon nicht selbständige. Es fehlt ihnen auch nicht ganz der Charakter des Gefüges,' nur prim äre Gefüge sind sie nicht. M an kann von hier aus weiter abwärts gehen zu noch viel abhängigeren Gebilden, den sog. „Dingen", soweit sie Naturgebilde sind. E s gibt eben eine Fülle sekundärer Gebilde von hoher Resistenz, deren Dauerform und Dauer­ zustand sie wie relative Ganzheiten wirken läßt. D as äußert fich an ihnen in mancherlei Wirkungsweise, in gewissen physikalischen Eigenschaften, in ihrer Härte, Weichheit, Elastizität oder Plastizität, ihrer Oberflächen­ struktur — einschließlich sogar der selektiven Lichtreflexion und Ab­ sorption an der Oberfläche, die uns a ls Farbe erscheint. I n Wirklichkeit ist in alledem die ganze Fülle der Gefügekräfte und Eefügedeterminationen im Spiele. D as Geheimnis der Sache ist nur, daß es nicht die dem Dinge selbst eigentümlichen sind» sondern die der pri­ mären und selbständigen Gefüge, die dahinterstehen, der teils viel kleineren, teils viel größeren. Bei den ersteren liegt die Bausteinfunktion, bei den letzteren die überformende Macht. Jene geben die Außenkräste, diese ihre Jnnenkräfte her. Fremde Zentraldetermination und fremde Ganzheitsdetermination treffen fich im „Naturdinge". Beide aber sind als solche nicht mehr kenntlich an ihm und müssen erst auf dem weiten Umwege über den Stusenbau der N atur erschlossen werden.

e. Abwandlungen und Besonderungen

Auch hiermit ist das Prinzip nicht erschöpft. Es ist nicht auf dynamische Gefüge beschränkt, auch nicht wenn man die Mannigfaltigkeit der Teilgesüge mit einbezieht. Es ist auch nicht auf die Seinsschicht des P hy­ sischen beschränkt. Eanzheitsdetermination ist eine Kategorie, die in eminentem Sinne „wiederkehrt" und sich in den höheren Seinsschichten abwandelt, indem sie von deren Novum überformt wird. Sie erlangt ihr volles Gewicht überhaupt erst im Reich des Organischen. Und von da ab aufw ärts nimmt sie weiter zu. S a t t m o n n , Philosophie bet Statut

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S ie ist auch zuerst im Organischen entdeckt worden. Die heutigen Theorien des Lebendigen find alle wesenüich von ihr bestimmt. Aber auch in den alten Formtheorien find trotz aller metaphysischen Über­ spannung ihre Anfänge zu erkennen. Davon wird noch bei den organologischen Kategorien zu handeln sein. Die Psychologie dagegen hat sich erst spät auf sie besonnen; zu lange hat hier das einseitige Aufbauen von unten her vorgeherrscht, das Auflösen in Elemente und die Tendenz, von den Elementen aus alles zu verstehen. Und doch ist das Bewußtsein trotz seiner inhaltlichen Expanstvität die geschlossenste Ganzheit, die w ir kennen — nicht nur als „Innenwelt" der S einsart nach geschieden von allem, was sonst die „Welt" ausmacht, sondern auch der Determinations­ weise nach den Einzelakt. und Einzelinhalt bestimmend. Ähnlich ist es mit der Ganzheit des geistig-personalen Wesens. Hier greift die Einheit über die Veränderungen des Augenblicks hinweg, identifiziert das Menschenwesen mit sich in aller zeitlichen Wandlung, determiniert über den wandelbaren Augenblickszustand hinweg, sei es vom vorgesteckten Ziele aus, sei es aus der übernommenen Verpflich­ tung heraus. Ganz anders ist es wieder in der Ganzheit der Gemeinschaft. Hier gibt es die straffste Rückdetermination des Individuum s von der Ord­ nung und den Gesetzen der Gemeinschaft her, und nicht nur von den geschriebenen. D as Ganze ist die eminent formende K raft seiner Glieder, obgleich es ganz und gar von ihnen getragen ist. Noch greifbarer wird das an der determinierenden K raft des geschichtlichen Eemeingeistes, der mit Gemeinschaft als solcher nicht identisch, sondern ihr Schöpfer und Gestalter ist. Die Formen der RüÄ eterm ination find hier gegeben durch das Hineinwachsen des Einzelnen in den objektiven Geist, das B e­ herrschtsein und Getragensein von ihm. I n einzigartiger Weise greifbar wird hier auch die Wechseldetermination zwischen diesem geschichtlich ge­ wordenen Ganzen und bei Initiative des Einzelnen. Denn auch diese wirkt auf jenes zurück und formt sich ihrerseits nach ihm. Der Anschaulichkeit nach am schönsten tritt die Ganzheitsdetermination auf ästhetischem Gebiet in Erscheinung. Im Kunstwerk ist die Einzel­ heit total aus der Eesamtform heraus bestimmt, hat ihre Notwendig­ keit au s der Komposition heraus. Dieses Verhältnis wirkt als nicht be­ griffenes, wohl aber als unmittelbar anschaulich empfundenes. Hier wurzelt ein altes Erundproblem des schöpferischen Bildens und seiner Wirkung aus dem Gebilde heraus; ein Problem, das seiner Lösung noch harrt. — Dem Bewußtsein ist die Determinationsform der Ganzheit als solche fremd und unglaubwürdig, wo es auf sie stößt, und doch irgendwie in der Tiefe verwandt und selbstverständlich. Denn sie ist auch die feurige.

Aber mit seinem Begreifen faßt es sie schwer. Und wo das Begreifen ansetzt, sie zu soffen, entgleist es leicht bei den ersten Schritten, fällt in anthropomorphe Vereinfachungen, in teleologische Populärvorstellung oder mystisch geheimnisvolles Phantasieren. Im Leben ist alles voll von solchem Unfug. J e nachdem, ob die eigene Intelligenz die Dinge zu ver­ werten weiß oder nicht, unterscheidet man sie in „gute und schlechte", glaubt an den „Eigensinn" der Dinge, an die „Tücke des Objetts", dichtet den kosmischen Erscheinungen erhabene Einflüsse an und erklärt wohl gar „die Sterne lügen nicht". Sie lügen freilich nicht, lügen kann nur der Mensch, ebenso wie Eigensinn und Tücke zeigen. Aber auch das Talent abgründigen Mißverstehens ist ausschließlich sein Teil. Auch wenn man von solchen Irrw egen absteht, es bleibt doch so, daß das Bewußtsein dem Verstehen am fernsten bleibt, wo es vor den ein­ fachsten Formen natürlicher Ganzheit steht. Das aber find gerade die dynamischen Gefüge.

43. Kapitel. Dynamisches Gleichgewicht a. Verhältnis von Stabilität und Labilität in den Gefügen

Von Gleichgewicht ist in der Analyse des dynamischen Gefüges bereits wiederholt die Rede gewesen. Die primären Gefüge beruhen eben in allen Größenordnungen auf dynamis^em Gleichgewicht. I h r Wesen ist von vornherein ein Ausgewogensein, sei es der Vorgänge selbst oder auch nur der hinter ihnen stehenden Kräfte. Und die Stabilität der Aus­ gewogenheit ist ihre Konsistenz, das Einsetzen von Labilität ihre Auf­ lösung. Es ist also gar nicht möglich, vom dynamischen Gefüge zu han­ deln, ohne die Kategorie des Gleichgewichts mit hineinzuziehen. Insofern bringt diese denn auch nichts Neues. Aber es handelt sich hier noch um etwas anderes, was in der Vorwegnähme nicht mit­ behandelt werden konnte, um ein sehr merkwürdiges, auf den ersten Blick dialektisch anmutendes Verhältnis. Die Mehrzahl der Prozesse, die in den Gefügen laufen, steht in Abhängigkeit von deren Ungleichgewicht. Da aber das Ungleichgewicht ein Moment der Labilität an den Gefügen ist, so hängt offenbar das Laufen der Prozesse determinativ gerade mit ihrer Vergänglichkeit zusammen. Und wiederum, weil doch das Laufen der Prozesse die Stabilität der Gefüge bildet, so hängt also mittelbar ihre S tabilität vielmehr an ihrer Labilität. Dieses sonderbare Verhält­ nis, das in seiner vorläufigen Fassung einen Widerspruch einzuschließen scheint, ist vorerst einmal zu klären.

Dynamisches Gleichgewicht besteht darin, daß in einem Gefüge sich heterogene Kräfte gegenseitig die Wage halten und dadurch zusammen einen Kraftausgleich ergeben; oder, soweit es sich um laufende Prozesie handelt, darin, daß die Prozesie sich gegenseitig in Gang halten. D as erstere haben w ir bei den elliptischen Bahnen am Verhältnis von T an­ gentialkraft und Gravitation vor Augen, das letztere etwa am S trah ­ lungsgleichgewicht der Schichten in einem sonnenartigen Gaskörper. Könnte man nun davon ausgehen, daß zuerst einmal die einfachen Kräfte oder auch die Prozeßkomponenten vorhanden wären (zugleich etwa mit den kleinsten Elementen) und dann erst durch ihr „Aufeinander­ stoßen" die dynamischen Gefüge entständen, so sähe die Rechnung ver­ hältnismäßig einfach aus: Kräfte und Prozesse würden zur Gleich­ gewichtslage tendieren, die sich als Zentraldetermination des Gefüges auswirken und als Äußerung eines Inneren zugleich die Außenkräfte bestimmen könnte. Und so könnte die Reihe der höheren Gefüge sich anschließen. Dieses B ild ist aber viel zu einfach. So gerade geht es im Kosmos nicht zu. E s hat sich gezeigt, daß die N atur zugleich von unten und von oben aufgebaut ist, daß im Stufenbau neben der Kausalität der P ro ­ zesie, ja neben der Zentraldetermination der Gefüge noch rückläufige Determination besteht. E s hat sich weiter gezeigt, daß diese von der größeren Ganzheit ausgeht, auf das kleinere Gefüge und selbst auf Teil­ stücke und Bruchstücke übergreift. Schließlich hat sich gezeigt, daß in den größeren Gefügen, bedingt durch deren Ganzheit, neue Kräfte und Prozeßformen entstehen, ja neue Energieformen einsetzen, die ihrerseits die kleineren Gefüge sehr wesentlsch mitbestimmen. Denn auch sie drängen zum Ausgleich und laufen nur so lange, als ein Gefälle vorhanden ist.

b. Der energetisch begrenzte Prozeh. Gefälle und Ausgleich

W as aber heißt nun das? Gehen wir vom Gefälle aus. D as Tem­ peraturgefälle in den Schichten der leuchtenden Gaskugeln geht dynamisch auf die Zusammenballung der Massen im W eltraum zurück. Diese ist Kausalwirkung der gegenseitigen Gravitation der Massen vor ihrer Ballung, also zugleich eine Funktion ihrer Distanz im Raume. Denn ihre Distanz ist, energetisch gesehen, ihr gravitatives „Gefälle". Da aber die Distanz im Raume schon Sache einer vorbestehenden Anordnung, also eine Funktion der größeren Ganzheit ist, so haben wir in ihr eine charakteristische Eanzheitsdetermination. R un hat bei jeder Masienballung das gravitative Gefälle ein bestimmtes M aß; es gleicht einer bestimmt begrenzten potentiellen Energiemenge, die sich dann nach

und nach in kinetische umsetzt» zunächst in räumliche Bewegung, sodann in Druck und Temperatur und zuletzt in Strahlung. Auch dieses Matz ist von der größeren Ganzheit her bestimmt. Darum ist auch die Energie­ menge» die sich anhäuft, eine sehr bestimmt begrenzte. W oraus folgt, daß auch der nachfolgende Prozeß des Ausgleichs ein ebenso begrenzter sein mutz. D as ist sehr anschaulich greifbar in der Energieabgabe der Gaskugeln von hoher Temperatur an den W eltraum durch Ausstrahlung. E s wirken dem Energieverlust zwar gewaltige Mengen gespeicherter Energie im In n eren entgegen; aber auch die Energiebefreiung durch Atomzerfall ist begrenzt durch die Eesamtgröße der Masse, und schließlich gelangt auch nicht alle gebundene Energie zur Befreiung. So ergibt sich in der Größen­ ordnung der kosmischen Körper, deren „Lebensdauer" die heutige Astro­ physik auf Tausende von Jahrm illionen schätzt, doch deutlich der Typus des energetisch begrenzten Prozesses. D as ist insofern ein kategoriales Novum, als bisher alles, was Grenze hieß, sich nur auf die Gefüge und ihre Teile bezog, während der Prozeß als solcher unbegrenzt blieb. An der Kategorie des Prozesses zeigte sich ja, daß das Geschehen als solches immer weiter geht, der Prozeß also das eigentlich Beharrende im Wechsel der Zustände ist. D as gilt aber nur vom Prozeß überhaupt und im ganzen, nicht von den besonderen Prozeßformen innerhalb begrenzter Gefüge. D as Phänomen der natürlichen Größe greift also über von den Gefügen auf die Borgänge. Und diese Begrenzungsform gilt offenbar für alle besonderen Prozesse, d. h. für die qualitativ differenzierten. Is t einer abgelaufen und im Energieausgleich zum Stehen gekommen, so laufen freilich andere weitere, und die Welt bleibt im Fluß, aber der besondere Prozeß hat sein Ende gefunden. Tatsächlich kennen wir im Umkreise unserer Erfahrung nur energe­ tische Prozesse von solcher Begrenztheit. Sie unterstehen alle dem Ver­ hältnis von Gefälle und Ausgleich. Im Kleinen ist das wohlbekannt. D as Wasser läuft nur so lange aus einem Behälter in den andern, a ls ein Niveauunterschied vorhanden ist; ein Körper gibt nu r so lange Wärme an seine Umgebung ab, als er wärmer ist als sie, eine chemische Reaktion geht nur so lange vor sich, bis alle Atome eines Elements sich mit solchen eines andern verbunden haben. Diese A rt der Begrenzung unterscheidet sich daher wesentlich von der Begrenzung der Gefüge. Letztere ist ja auch räumliche Begrenzung, die der Prozesse ist eine zeitliche. S ie bedeutet, daß die Prozesse nicht einfach durch ihre Trägheit fortlaufen— wie man auf Grund naheliegender Ver­ allgemeinerung des mechanischen Trägheitsaxioms annehmen könnte —, sondern auf eine fortwirkende Kraft, genauer auf ein Gefälle, angewiesen find. Hierbei aber ist das Tharakteristische, daß die zeitliche Begrenzung

der energetischen Prozesse an der Begrenzung von Gefügen hängt und durch sie eben so bedingt ist wie die besondere Artung der Prozesse selbst; denn eben bedingt ist sie durch die Größe des Gefälles und feine Erschöpf­ barkeit. Die aber hängt am Ganzen des Gefüges. E s verhält stch also mit der Mehrzahl der energetischen Prozesse von Grund aus anders als mit der einfachen Bewegung der Massen im freien Raum. Diese läuft nach dem ersten Newtonschen Axiom solange gleich­ förmig fort. bis sie durch eine angreifende Kraft aufgehalten oder abge­ lenkt wird. Der rein mechanische Prozeß ist „träger" Prozeß. Die Entdeckung Newtons hob das Aristotelische Gesetz auf, welches besagte, daß eine Bewegung nur solange läuft, als die bewegende Kraft fortwirkt; danach mußte eine unbegrenzt unveränderte Bewegung ein „unbewegt Bewegen­ des" zur Voraussetzung haben. Der energetische Prozeß ist von anderer A rt als die ungehemmte mechanische Bewegung: er läuft nicht von einem einmaligen Anstoß in infinitum fort, er bedarf der fortwirkenden Kraft. Und diese besteht nur solange, als ein Energiegefälle vorhanden ist. M an kann das auch so ausdrücken: ein solcher Prozeß läuft nicht nach Newtonischer, sondern nach Aristotelischer Art. Sein Bild ist nicht der im Leeren fliegende Körper» sondern der im Sande rollende Stein: der Stein kommt vorwärts nur, solange die wälzende Kraft fortwirkt, und kommt zum Stehen, wenn fie erschöpft ist. Der M derstand des Mediums bremst ihn.

c. Bewegende Kraft und Widerstand

E s tritt, also neben das Moment der zeitlichen Begrenzung, d. h. neben das Verhältnis von Gefälle und Ausgleich, das Moment des Widerstandes. Auch dieses ist eine Funktion des größeren Zusammen­ hanges, also eine Determination von der Ganzheit des umf ssenden Ge­ füges her, „in" dem der Prozeß läuft. Und entsprechend den dort herr­ schenden statisch-dynamischen Sonderverhältnissen ist es für jede A rt des Prozesses, ja für jeden Einzelprozeß ein anderes. M an kennt es von zahlreichen physikalischen Phänomenen her. Der elek­ trische Strom erfährt den Widerstand des Leiters; er bedeutet die partiale Transformation in andere Energieform, in Wärme, Lichtstrahlen, magnetische Anziehung. Ähnlich ist es mit dem Widerstände, den die Strahlung in einem gasförmigen Medium erfährt, etwa die Sonnen­ strahlung in der Erdatmosphäre, wobei der Umsatz sich in selektiver Ab­ sorption und Diffusion zeigt. Größere Ausmaße nimmt dieser Widerstand im In n eren der kosmischen Easkugeln an, wo je nach der Dichte der Schicht die von innen kommende kurzwellige Strahlung aufgefangen und

teils in Strahlungsdruck, teils in andere (langwelligere) Strahlung um­ gesetzt wird. Und hier ist es lehrreich zu sehen, wie das Strahlungsgleich­ gewicht sich auf Grund dieses Wrderstandsfaktors von Zone zu Zone herstellt und erhält. Hieraus ersieht man zweierlei. Erstens ist die Begrenzung der energe­ tischen Prozesse nicht einfach ein zweites Moment neben dem Widerstande, auf den sie flohen, sondern wenigstens teilweise auch schon eine Funktion des Widerstandes. Der Stein rollt nur darum nicht der Trägheit nach weiter, weil er den Widerstand des Sandes erfährt. D as Wasser steigt im unteren Behälter nur darum nicht über das Ausgleichsniveau hinaus, weil es beim Abfliehen den Widerstand der Verbindungsröhre erfährt. Setzt man den Widerstand durch Verbreiterung der Röhre herab, so pendeln sich die Niveauhöhen erst aus. D as mechanische Pendel würde in infinitum weiterschwingen, wenn der Luftwiderstand und die inneren Materialwiderstände nicht wären. D as ist grundlegend für die Beurtei­ lung der natürlichen dynamischen Gleichgewichte. Denn das Sichauspendeln ist ihnen allen gemeinsam, und bei vielen ist das Pendeln über­ haupt der Dauerzustand. Zweitens aber steigt der Widerstand mit der Intensität des Prozesses selbst. E r ist also seinerseits nicht nur eine Funktion des Mediums, d. h. der Gegenkräfte, auf die der Prozeh in dem gröheren Ganzen stöht, sondern zugleich auch eine Funktion der eigenen Energie des Prozesses. E r steigt in den kommunizierenden Röhren mit der Geschwindigkeit des Fliehens, im elektrischen Leiter mit der Stromstärke, im absorbierenden Gase mit der Strahlung. Der hydrodynamische und aerodynamische Widerstand wächst in Potenzen der Geschwindigkeit, und in der Flug­ technik beruht hierauf die hohe Steigerung der Tragflächenwirkung bei steigender Geschwindigkeit. Der Widerstand in den energetischen P ro ­ zessen folgt überhaupt dem dritten Rewtonschen Axiom: die Wirkung ist gleich der Gegenwirkung. Denn Widerstand ist nichts anderes als an ­ dauernde Gegenwirkung des Mediums, in dem der Prozeh läuft. I n der freien N atur gibt es eine Menge solcher Widerstands­ phänomene. D as bekannte Aufleuchten der Sternschnuppen und Meteore in der Atmosphäre beruht auf reiner Bewegungshemmung im Medium. Ein größeres, sehr anschauliches Beispiel ist die Ausschichtung der mäch­ tigen Gebirgsketten (Cordilleren) am ganzen Westrande der amerika­ nischen Kontinente, welche die Theorie auf den Widerstand des Sim a gegen die Westwanderung der Sialschollen zurückführt. Dieses Beispiel zeigt, wie wesentlich der Widerstand in die Gestaltung großer Gefüge eingreift.

Indessen darf man hier nicht einen radikalen Schnitt zwischen zwei Arten des Prozesses machen. Das Phänomen des Auspendelns zeigt, daß beide Arten ohne scharfe Grenze ineinander übergehen. E s ist eben im Grunde ein und derselbe Prozeßcharakter, er variiert nur mannigfaltig je nach den herrschenden Bedingungen des Widerstandes, also je nach den schon vorbestehenden Gleichgewichten von größeren Ganzheiten, in denen die Prozesse laufen. Innerhalb gegebener Bedingungen aber steigert sich die Abweichung vom trägen Fortlaufen des Prozesses m it dessen eigener Intensität, wie der Wasierwiderstand, in der Bugwelle sichtbar, mit der Geschwindigkeit des Schiffes wächst. D as Produkt aus dem Widerstandskoeffizienten und der Eeschwindigkeitsgröße in bestimmter Potenz macht die Widerstandskraft aus; so formuliert es die Mechanik. Entsprechendes gilt allgemein vom Widerstand jeder Art. Im Wider­ standskoeffizienten aber steckt die Trägheit des vorbestehenden Gleich­ gewichts, die den Prozeß hemmt. Seine zeitliche Grenze findet der Einzel­ prozeß da, wo er ganz in das bestehende Gleichgewicht aufgenommen ist, also in W ahrheit da, wo sich ein neuer Gleichgewichtszustand hergestellt hat. Der reine Newtonsche Fall im Sinne des ersten Axioms ist über­ haupt nur ein Grenzfall; das absolut widerstandslose Fortlaufen der Be­ wegung kommt auch bei den Massen im W eltraum nicht vor, es ist stets auch gravitative Ablenkung vorhanden.

d. Gefälle und Proreffe. Ungleichgewicht und Tendenz zum Gleichgewicht

H ält man diese Momente zusammen, so steigt die Bedeutung des dynamischen Gleichgewichts in der Wechselbedingtheit der Naturprozesse zu einem allgemein determinierenden Prinzip der natürlichen Ge­ füge auf. Alle physischen Prozesse schlagen zwangsläufig die Richtung auf ein dynamisches Gleichgewicht ein. Die potentielle Energie, die hinter ihnen steht, ist von vornherein die eines Ungleichgewichts, einer Spannung, eines Gefälles; sie ist es auch dann, wenn es sich nur um die relative Labilität von schon bestehenden Zuständen angenäherten Gleichgewichts handelt. Und ebenso sind ihre Widerstände eine Funktion vorbestehender Gleichgewichte. Da aber Gleichgewichte a ls solche, einschließlich ihrer Labili­ täten, schon Ansätze dynamischer Ganzheiten sind, so ist die kausale Deter­ mination der Abläufe sowohl ihrem Ursprung als auch ihrer Begrenzung nach von vornherein durch die Eanzheitsdetermination größerer dyna­ mischer Gefüge bestimmt. Das gilt natürlich auch für den Fall, wo diese erst im Entstehen begriffen find. Denn ihre Entstehung ist identisch mit dem Einsetzen dieser Gleichgewichte.

Die wirkliche Determination begrenzter Einzelprozesse ist also weder auf einfache Kausalität noch auf allgemeine Wechselwirkung in den Kollo­ kationen allein zurückführbar, sondern zeigt bedeutend höhere Lberformung. Die überformenden Mächte aber liegen bei den Ganzheiten der dynamischen Gefüge, bei ihrer Überhöhung im Stufenbau und bei der Rückdetermination vom größeren Verbände her. Prozesse laufen nur, wo ein Gefälle besteht. Ist das Gefälle erschöpft, so kommen sie zum Stehen oder pendeln sich um eine Gleichgewichtslage herum aus. Hierin liegt der Grund, warum die empirischen „besonderen" Prozesie begrenzt find, ja warum überhaupt es in der W elt die Einheit geschlossener Abläufe, mittelbar also auch eine Typik spezifisch begrenzter Abläufe gibt. Alle relativ gleichförmig fortlaufenden Prozesie, die wir kennen, be­ ruhen entweder auf der dauernden Auspendelung, d. h. auf dem relativ reibungslosen und zustandhaft gewordenen Pendeln, das dann selbst die Form eines Gleichgewichts periodischer Bewegung annimmt, oder auf dem langsamen Abbau eines Energievorrates, der eine gleichförmig wirkende K raft hergibt und einen ebenso konstanten Widerstand zu überwinden hat, durch den er gehemmt ist. Von der ersteren A rt ist die Planetenbewegung und wohl die Mehrzahl der kosmischen Bewegungen; von der letzteren A rt ist die Ausstrahlung der Gestirne im Welträume in Verbindung mit ihrer Abkühlung nach außen und ihrem Wärmeersatz von innen her. Und hier zeigt das oben gebrachte Beispiel der Eepheiden (falls man sie als „pul­ sierende" Sterne auffasien darf), daß auch Lei dieser A rt des Dauerprozesies ein Pendeln auftritt, daß also die Grenze zwischen den beiden Prozeßformen keine scharfe ist. Ferner aber, wenn es wahr ist, daß Prozesie nur laufen, wo ein Ge­ fälle besteht, so muß man auch sagen: Prozesie laufen nur, wo ein Un­ gleichgewicht besteht, oder zum mindesten, wo in einem allgemeinen Gleichgewichte Momente des Ungleichgewichts auftreten. Das Gefälle a ls solches ist ja geradezu selbst das Ungleichgewicht. E s besteht eben der Niveauunterschied, einerlei um welche A rt von Niveau es sich handelt, ob es ein räumliches Höhenniveau, ein Druck- oder ein Temperaturniveau oder sonst eines ist. Nun ist jedes Gefälle begrenzt. Darum kann ein besonders gearteter Prozeß nicht unbegrenzt fortlaufen. Der Prozeß eben ist der Ausgleich des Ungleichgewichtes, seine Grenze ist das Gleichgewicht, der Energie­ ausgleich, die dynamische Ruhelage. D as M aß der Gefälle zeichnet das Matz der Prozesie vor.

Aber wenn schon alle Prozesse auf ein Gleichgewicht hin tendieren und in ihm enden, so braucht doch das Gleichgewicht nicht Stillstand zu fein. I n den dynamischen Gefügen wenigstens handelt es fich vorwiegend um ein Gleichgewicht der Prozesse selbst, d. h. um ein solches, in dem diese selbst fortlaufen, und damit zugleich auch um ein Gleichgewicht fort­ wirkender Kräfte. I m dynamischen Gleichgewicht find alle bewegenden Kräfte irgendwie von Gegenkräften aufgefangen: fie halten fich gegen­ seitig in der Schwebe und verhindern dadurch das Auseinanderbrechen des Gefüges. Und hier löst sich nun das scheinbar paradoxe Verhältnis von Stabili­ tät und Labilität, das den dynamischen Gefügen eigen ist. Im Zustand des Ungleichgewichts gibt es das Überwiegen einer K raft über andere Kräfte, und nur ein solches überwiegen setzt Prozefie in Gang. Darum laufen Prozesse nur, wo in den umfassenden Gefügen Übergewichte bestehen. W äre alles in der Welt im Gleichgewicht, wären in allen Verhältnissen die umfassenden Gefüge absolut ausgeglichen, so wären diese auch absolut stabil, es würden keine Gefälle entstehen, und es würden in ihnen keine Prozesse laufen. Aber es ist in der physischen W elt nicht alles im Gleich­ gewicht. E s ist auch nicht alles in dynamisch ausgeglichene Gefüge ein­ gespannt. Und die großen Ganzheiten schließen mancherlei Ungleichgewicht ein. Darum gibt es Gefälle in ihnen, und darum sind sie bewegliche P ro ­ zeßgefüge. Dieses Ineinander von Gleichgewicht und Ungleichgewicht ist es, was die Prozesse in Gang hält, deren Gefüge die natürlichen Ganzheiten find. Ohne Gleichgewicht würden die Prozesse das Gefüge sprengen, ohne Un­ gleichgewicht würden sie stillstehen. I n beiden Fällen gäbe es keine dyna­ mischen Gefüge. Die Lösung des Rätsels ist die, daß auch Gleichgewicht und Ungleich­ gewicht int Kosmos einander die Wage halten. Auch sie bilden mitein­ ander ein Gleichgewicht höherer Ordnung. Und so allein kann es dyna­ mische Gefüge geben, die zwar als Ganzheiten ihr Gleichgewicht haben, aber kein vollständiges, und im einzelnen das Matz an Ungleichgewicht enthalten, das für dynamische Gefälle sorgt und damit die Prozesse in Gang hält, deren Gleichgewicht doch erst das Gefüge ausmacht.

e. Relative und absolute Stabilität

I n diesem eigenartigen Verhältnis liegt der Grund mancher wohl­ bekannter Erscheinungen. Z .B . dafür, daß es nur so wenige Grundtypen des dynamischen Gefüges gibt — dergestalt, daß innerhalb einer Größen-

ordnung zumeist nur einer auftritt, den dann alle Unterarten aufs strengste einhalten. E s kann offenbar bei gegebenen Kräfteformen nicht viele Formen des Gleichgewichts geben, wenn dieses fich stets mit einem ebenso wesentlichen Ungleichgewicht vertragen soll. Hier liegt auch offenkundig der Grund, warum es in der W elt nur relative Gleichgewichte gibt, d. h. nicht vollkommen stabile. Empirisch kann man ja überhaupt nur von relativen sprechen. D as Wesen der Sache aber könnte deswegen doch auch ein vollkommenes zulassen. Daß dem nicht so ist, zeigt sich, sobald man im Ernst fragt, wie denn ein absolut stabiles Gleichgewicht aussehen mutzte. Zu antworten wäre darauf etwa so: entweder es wäre eine absolut stabile Ruhelage, etwa die der Massen gegeneinander; das würde den Stillstand aller Prozesse innerhalb des Gefüges bedeuten, denn in diesem Zustande könnte es kein Gefälle mehr geben; es wäre also dann kein dyna­ misches Gefüge mehr. Oder aber es wäre der vollkommen ausgeglichene und keinem Widerstand mehr unterworfene Pendelprozetz, in dem die Kräfte (z. B. das Trägheitsmoment und die Gravitation) keiner Schwan­ kung mehr unterliegen und vollkommen aufeinander abgestimmt find. Ein solches Gefüge wäre ein natürliches perpetuum mobile, das von innen her keine Veränderung erfahren könnte. I n beiden Fällen hätten wir es mit „ewigen" Gebilden zu tun, die das Vergehen ausschliehen, also dem Gesetz der Vergänglichkeit alles Realen widerstreiten. Aber in beiden Fällen wäre die Voraussetzung, dah nicht nur von innen, sondern auch von autzen — also vom grötzeren Ge­ füge her — keine störenden Einflüsse auftreten dürften. W as das erstere anlangt, so läßt es fich nicht entscheiden, ob nicht die Bindezentren der klein­ sten Gefüge, z.B . die Atomkerne, doch eine von innen her bestimmte Periode des Zusammenhalts haben, über die hinaus sie zerfallen. D as zweite aber trifft als Voraussetzung jedenfalls nicht zu: die Ausschaltung äuherer Einflüsse würde bedeuten, datz alle Ganzheitsdetermination der grötzeren Gefüge ausgeschaltet wäre. Im m erhin ist darüber doch nicht zu vergessen, datz manche prim ären Gefüge eben diesem Ideal doch erstaunlich nahe kommen, die Atome so gut wie manche kosmischen Systeme. E s gibt eben sehr wohl dynamische Gleich­ gewichte von allerhöchster Beharrungskraft. Solche Gefüge stehen in­ mitten der über sie hinaus laufenden Prozesse grötzeren S tils wie relative Substanzen da. I n Wirklichkeit freilich ist es nicht Subsistenz, worauf ihre Stabilität beruht, sondern Konsistenz und Resistenz. Aber praktisch gellen die kleinsten dieser Gefüge in den Naturwissenschaften als dasjenige, an dem und m it dem alle Veränderung vor sich geht.

44. Kapitel. Selektivität der Gleichgewichte a. Gefüge und Ablaufstyven

Wenn alle Prozesse auf ein Gleichgewicht hin tendieren, wenn sie im Gefälle nur „abwärts", niemals „aufwärts" laufen, so zeichnet ihnen der Ausgleich nicht nur das Ende, sondern auch die Richtung vor. Und da es ein bestimmtes Gefälle nur in den umfassenden Zusammenhängen gibt, die ihrerseits stets mehr oder weniger Eefügecharakter haben, so sind Begrenzung und Geschlossenheit, Richtung und besondere Artung der charakteristischen Abläufe durch die Ganzheit der Gefüge wesentlich mit­ bestimmt. M an kommt also von hier aus noch einmal auf die Typik spezifischer Abläufe zurück, welche die Mannigfaltigkeit der Naturvorgänge begrenzt und das Moment des real Allgemeinen in ihnen ausmacht — unbeschadet ihrer faktischen Individualität, die sich in ihren besonderen Maßen aus­ prägt. Dieses Phänomen ist, wie sich gezeigt hat, das eigentliche Kern­ moment der Naturgesetzlichkeit, die ja in erster Linie eine solche der P ro ­ zesse ist (Kap. 32 a, 33 a ). Es hat sich ferner gezeigt, daß hinter dieser Typrk bereits die allgemeine Wechselwirkung steht, sofern sie eine Selektiv­ wirkung ausübt und in der Mannigfaltigkeit der an sich möglichen Kollo­ kationen gewisse Grenzen der Variabilität setzt (Kap. 36 e, f). Aber es ist nicht die allgemeine Wechselwirkung allein, die hier determinierend ein­ greift, sondern mehr noch die spezielle, zum dynamischen Gefüge besonderte. Und das ist es, was sich an dem kategorialen Moment des Gleichgewichts fassen läßt. E s handelt sich also noch einmal um den dynamischen Grund der Naturgesetzlichkeit. Dieser Grund liegt offenbar darin, daß es nicht un­ begrenzt viele, sondern nur bestimmte Arten oder Grundformen möglichen dynamischen Gleichgewichts gibt, auf welche die spezifisch gearteten P ro ­ zesse hintendieren können. Der Ungleichgewichte mag es viel mehr geben, der Störungen, Labilitäten oder auch der ursprünglichen Instabilitäten. Die ihnen entsprechenden Gleichgewichte sind dem Typus nach sehr be­ grenzt. Ih re Anzahl entspricht annähernd derjenigen der dynamisch selb­ ständigen Gefüge, deren innere Form sie sind. M ittelbar muß man frei­ lich auch die Typen ihrer Teile und Bruchstücke hierher rechnen, sofern sie die ihnen vom Gefüge her mitgegebene Konsistenz bewahren. Aber deren Mannigfaltigkeit ist nur den äußeren Formen nach eine große; dem inne­ ren Zusammenhalt nach sind sie nur wenig variabel und fügen der Typik nicht viel Neues hinzu. Denn sie haben ihr Inneres nicht in sich, sondern

in den Ganzheiten der Gefüge, aus denen sie stammen. Darum find die Grundformen des Gefälles und der ihnen folgenden Abläufe so begrenzt. Denn da die A rt des Prozesses an der Art des Gefälles haftet, so müssen die Formen der Prozesse dieselbe Typik zeigen wie die der Gefälle. Und da diese auf die Arten möglichen dynamischen Gleichgewichts aus­ gerichtet sind, so ist die Typik der Naturprozesse auch an die der dyna­ mischen Gleichgewichte gebunden. D as aber bedeutet: ein Grund der Naturgesetzlichkeit — also der Gleichförmigkeit wiederkehrender typischer Abläufe und des Allgemeinen ihrer funktionalen N atur — liegt auch in den Ganzheiten der dynamischen Gefüge. W as sich ja auch damit reimt, dass diese im wesentlichen Prozessgefüge sind. D as ist nun ein Dependenzoerhältnis, das man nicht umkehren kann. E s ist eine Besonderung der Eanzheitsdetermination. Seine Konsequenz aber ist eine offenkundige Einschränkung der mechanischen, von den Ele­ menten her aufbauenden Naturauffassung. Denn es besagt eben dieses, datz die Elemente der Prozessgefüge, also die Einzelprozesse selbst, dyna­ misch unselbständig sind und-nicht „vor" den Ganzheiten bestehen, in deren Rahmen sie ablaufen. Wendet man hiergegen ein, daß doch die Einzelprozesse und ihre Kräfte bloss Elemente sind, aus denen die Gefüge sich erst aufbauen, so ist zweierlei zu antworten. Erstens, die Gefüge setzen sich keineswegs bloss aus Einzelprozessen zusammen, sondern auch aus kleineren Gefügen, die selbst schon dynamisch aufgebaut sind, und deren Aussenkräste ihre Jnnenkräfte find. Und zweitens, die besonderen Prozeßformen im Gefüge setzen keineswegs vor dem Bestehen des Gefüges ein; sie treten vielmehr erst mit und in diesem oder auch erst als seine Wirkung nach aussen auf, mindestens also zugleich mit seiner Entstehung. Denn die Gefälle, denen sie folgen, bestehen nicht ohne das Gefüge. Und wo sie ihren Anstoss jenseits des Ge­ füges haben, da sind sie doch durch ein grösseres Gefüge bestimmt. Die Natur ist eben nicht rein „von unten her" ausgebaut. Die grossen Ganzheiten determinieren genau so sehr von oben her wie die kleinen von unten. So entspricht es dem Aufgebautsein von zwei Enden her.

b. Dynamische Selektivität der Gefüge und der Prozesse Noch einleuchtender wird dieses Verhältnis, wenn man hinzunimmt, datz auch die hemmenden Kräfte dieselbe Bedingtheit zeigen, dass auch die Widerstände (z. B. die des Mediums, in dem der Prozess läuft) von un­ selbständigen Teilen oder Gliedern eines grösseren Ganzen ausgehen.

Grundsätzlich läßt sich aller Widerstand, der dem Prozeß sein Tempo vor­ zeichnet, als die Trägheit vorbestehender Gleichgewichte verstehen. Und damit wird es durchsichtig, daß alle dynamisch bestimmenden Momente an den besonderen Prozeßsormen durch das Verhältnis von Gleichgewichten und Ungleichgewichten bestimmt sind. Tatsächlich erstreckt sich diese Determination weit hinaus über die bloße Typik der Prozesse (ihr Allgemeines); sie geht bis auf die Besonderheit des Einzelfalles, seine Einmaligkeit und seine Individualität. M an kann sie geradlinig bis auf die quantitativen Maße hinausverfolgen, die in die Gesetzesformeln als Konstanten eingehen. M an steht das schon daran, daß diese niemals aus den Quantitätsverhältnissen der Gesetze ableitbar sind, sondern in besonderem Verfahren aus empirischen Daten gewonnen werden müssen. Von hier aus tritt auch das Moment der Selektivität, an dem die Typik der Prozesse hängt, noch einmal in ein neues Licht. Zu erinnern ist hier an die Selektivwirkung der kleineren Gefüge; sie ergab sich am dyna­ mischen Grundgesetz des Stufenbaus als Id e n tität der Außenkräfte des kleineren mit Jnnenkräften des größeren Gefüges. Diese Selektivität ist eine Bedingtheit „von unten her": es können bei gegebenen Elementen immer nur solche Gefüge entstehen, in denen die Außenkräste der Ele­ mente zugleich Jnnenkräfte der Gefüge find (Kap. 41 c, d). Nun hat sich aber gezeigt, daß es auch eine Bedingtheit „von oben her" gibt, die überall als Ganzheitsdetermination wirksam ist, daß also der Stufenbau von zwei Seiten her determiniert ist. Und hinter der Ganzheitsdetermination hat sich als kategoriale Grundstruktur die dynamische Form des Gleichgewichts ge­ zeigt. D araus folgt, daß dieselbe Selektivität auch von den größeren Ge­ fügen her die kleineren bestimmt: es können bei gegebener Ganzheit größerer Verbände nur solche kleinere sich in ihnen bilden, deren Außenkräfte entweder zu Jnnenkräften jener werden oder mit ihnen ein Eleichgewichtsverhältnis eingehen. Diese doppelte Selektivität bestimmt nicht bloß die Gefüge, sondern ebensosehr die Prozesse, die sich in ihnen abspielen und in deren Ablauf sie ja wesentlich bestehen. Das eben heißt es, daß diese Prozesse ihre be­ wegenden Kräfte in den gegebenen Energiegefällen haben, also in Momen­ ten des Ungleichgewichts, die innerhalb der gewordenen oder auch der sich bildenden Gleichgewichte bestehen, und daß auch die Widerstände, denen die Prozesse begegnen, an der Trägheit gewordener Gleichgewichte hängen. Die Mannigfaltigkeit der Gefälle mag zwar stets größer bleiben als die der Gleichgewichte; aber auch sie ist notwendig eine begrenzte, weil alles Gefälle am Ungleichgewicht haftet, und Ungleichgewichte auf Gleich­ gewichte bezogen find, die Prozesse aber auf diese hin tendieren.

Die Typik der Prozesse ist also in weitem Matze an die Typik der be­ stehenden Gleichgewichte und ihrer Störungen gebunden. Und im Hinblick auf das Ganze der stch überhöhenden Gefügeordnungen ist sie mit eine Folge der Tatsache, datz es überhaupt nur eine begrenzte Mannigfaltigkeit möglichen dynamischen Gleichgewichts gibt. M an kann diese A rt der Selektivität — im Gegensatz zu den höheren Selektionsformen, die vom Organischen ab aufwärts immer konzisere Form annehmen — als die allgemeine und einfache, oder auch „primi­ tive" bezeichnen (selectio primitive). S ie ist uns schon bei der allgemeinen Wechselwirkung begegnet (Kap. 36 f), tritt aber am dynamischen Gefüge greifbarer als dort hervor. Sie hat ihr Prinzip in der Dynamik der rela­ tiv konstanten Eesamtzustände, d. h. in den dynamischen Gleichgewichten. Diese spielen in der N atur gleichsam die Rolle der statischen Momente — a ls wären sie wirkliche Ruhelagen —, auf welche alle Prozetzdynamik hintendiert. Der mathematisch fatzbaren Eigengesetzlichkeit der Prozesse geschieht durch diese llnterbauung kein Abbruch. Sie gewinnt an ihr vielmehr den festen Boden ihrer Verankerung. Denn alle Gesetzesformel bleibt ober­ flächlich und erscheint in aller postulierten Notwendigkeit doch ontologisch zufällig und gleichsam in der Lust schwebend, solange es nicht gelingt, ihren Unterbau in den dynamischen Ganzheiten aufzuzeigen. Bei diesen erst liegt — wenn nicht überall, so wohl in der Mehrzahl der Fälle — der Grund der Gleichförmigkeit und ewigen Wiederkehr der Prozetzfomen. Die mathematische Funktion fatzt daran nur das Resultat, das quantitative Verhältnis. c. Scheinbar teleologische Verhältnisse

Alle Selektivität macht auf den Betrachter, soweit er nicht erkenntnistheoretisch gewitzt ist, den Eindruck der Teleologie. Die Ausdrücke „Ten­ denz" oder .Hinstreben", wie auch die Physik sie gebraucht, verstärken diesen Eindruck. Dieser Schein ist nicht aufhebbar. Aber man kann ihn durchschauen. Tendenz und Hinstreben sind hier durchaus nur Bilder — bequem, um ein in sich komplexes Verhältnis kurz und anschaulich auszudrücken, — aber im Grunde doch irreführende Bilder. Denn von Zielen oder Zwecken der Prozesse ist hier durchaus nicht die Rede. Nichts ist vorgezeichnet, auch das Gleichgewicht nicht. D as Gleichgewicht ist einfach der Zustand, in dem das Gefälle sich erschöpft. Wo es erreicht ist, da ist der Stillstand der P ro ­ zesse (bzw. ihr zustandartiges Pendeln) einfach die Kausalfolge des Energieausgleichs. Desgleichen hat das Anheben oder der Fortgang eines Prozesses im Ungleichgewicht einfach seine „Ursache", nicht aber im Gleichgewicht seinen „Zweck".

Daß die Prozesse zwangsläufig die Richtung auf ein Gleichgewicht einschlagen, bedeutet nicht, daß fie dieses erstreben, sondern lediglich daß ein bestehendes Gefälle ihnen kausal die Richtung gibt, und daß ste im Gleichgewicht als einem Endzustände aufhören. Daß aber dieser End­ zustand im Gegensatz zu den vielerlei durchlaufenen Zuständen S tabilität hat, ist wiederum Kausalfolge der Erschöpfung des Gefälles in ihm. Kein anderer Zustand als der des Gleichgewichtes kann sich dynamisch halten. Jeder andere ist instabil. Darin allein besteht die Selektivität der Gleich­ gewichte für Gebildeformen und Prozeßformen. Die Erunddetermination aller Naturprozesse ist und bleibt die Kausal­ verknüpfung. Aber es ist bei näherem Zusehen nicht die primitiv lineare, sondern komplex überformte Kausalität. Die LLerformenden Momente aber beginnen bereits bei der Naturgesetzlichkeil und Wechselwirkung, setzen sich in der Zentraldetermination und Eanzheitsdetermination der Gefüge fort und laufen bei diesen auf die Selektivwirkung der Gleichgewichte hin­ aus.' Aber die Kausalstruktur geht als Erundtypus hindurch und kehrt ungeschmälert in den speziellen Determinationsformen wieder. Dieses muß man festhalten, wenn man die mannigfachen Erschei­ nungsformen richtig beurteilen will, welche die dynamischen Gleichgewichte für das nur unvollständig sie erfasiende Bewußtsein annehmen. M an muß dabei im Auge haben, daß es eine eigentliche Erkenntniskategorie, welche der Realkategorie des dynamischen Gefüges entspräche, nicht gibt. D as Bewußtsein, wo es auf Phänomene dieser A rt stößt, hilft sich mit S u rro ­ gaten. D as naiv erlebende Bewußtsein erfaßt wohl Stabilität, sucht aber nicht nach ihrem dynamischen Hintergründe. Die Wisienschast stößt allent­ halben auf Phänomene des Gleichgewichts, hat sie aber erst spät fasten gelernt und ist bis heute mehr den Prozessen und Gesetzen zugewandt. Die Philosophie aber ist fast überall, wo sie diesen Phänomenen nahekam, ins andere Extrem gefallen, in die teleologische Beurteilung. Ob fie dann von Formzwecken oder von einem ordnenden Verstände, von göttlichem W alten oder auch nur von Vollkommenheit und Schönheit spricht, es ist doch im Grunde immer derselbe Anthropomorphismus des konstitutiv gesehenen Zweckes. Solche Pseudokategorien verdecken schließlich ganz die wirklichen Gleichgewichte, die sie sichtbar machen sollten. Überall spürt man das Fehlen einer der Sache entsprechenden Erkennt­ niskategorie. Wohl kann sich das erkennende Bewußtsein zu einer solchen durchringen; und das geschieht langsam im wissenschaftlichen Bewußtsein der Neuzeit. Aber bis in die Anschauung, ja selbst in die philosophische Weise des Schauens, dringt diese Tendenz nicht so leicht durch. Hier liegt einer der Hauptgründe der merkwürdigen Tatsache, daß es seit den teleo­ logischen Theorien des deutschen Idealism us — und ihren verspäteten Nach­ bildern — kaum mehr eine ernsthafte Naturphilosophie gegeben hat.

d. Das Problem der Wertseite und „Schönheit" dynamischer Gefüge

Allen phantastischen Theorien gegenüber, die an diesem Punkte immer wieder eingesetzt haben, bleibt dem philosophischen Denken gleichwohl die Frage nach einer Wertseite der natürlichen Gefüge sinnvoll und berechtigt — und sei es auch nur die Frage nach dem objektiven Grunde ihres unver­ kennbaren und oft bewunderten ästhetischen Wertes, d.h. ihrer „Schön­ heit". Gerade in dieser Frage gilt es, mit der äußersten Nüchternheit vorzu­ gehen, weil sie erfahrungsgemäß leicht zu subjektiven Antworten verführt. Die zahlreichen Auskünfte, die man versucht hat, find eben alle teleo­ logisch — teils ausgesprochenerweise, teils in versteckter Form. Schon deshalb hat die Philosophie in dieser Richtung eine Aufgabe, und sei es auch nur eine kritische. Bei höheren Naturformen, den organischen, bestreitet ja auch niemand die Wertseite. Und hier ist es klar, daß es sich nicht um ein bloßes W ert­ vollsein „für uns" handelt. M an hat deswegen von einer eigenen Klaffe der Vitalwerte gesprochen und damit so etwas wie die den Organismen eigentümliche Vollkommenheit gemeint; Herder sagte dafür, ihr „Wohl­ fein". Aber gerade die eigentümliche Vollkommenheit gibt es durchaus auch an gewiffen anorganischen Gebilden, und das Wertempfinden dafür ist schon in alter Zeit wach gewesen; man könnte von den Pythagoreern bis auf Kepler und Kant eine geschloffene Linie solcher Sicht aufzeigen, nur freilich ist auf solcher Linie alles voll von spekulativen Deutungen. Lange hat die These „omne ens est bonum" geherrscht. M an konnte sich ja für sie auf P laton berufen. Aber man merkte nicht, daß man dabei sogar den Seins­ begriff verrückte: wenn alles Seiende wertvoll, gut, schön sein sollte, so konnte ja das Wertwidrige, das Übel, das Häßliche nicht seiend sein. I n solcher Verallgemeinerung ist li e These falsch. Aber statt sie kritisch einzuschränken, fiel man in das andere Extrem: nun sollte es überhaupt keine Schönheit und keine Wertseite mehr an der N atur geben. Begreif­ licherweise hat sich auch das nicht halten können. Beide Extreme find schief. E s fragt sich vielmehr: gibt es einen im Aufbau der N atur selbst gelegenen Gesichtspunkt, von dem aus der Gegensatz W ert—Unwert sich darbietet? Ein Ansatz dazu ist gegeben mit dem Auftreten der Negativität und des modus deficiens, wobei die Negativität die Form des „Fehlens" annahm. Der Grundsatz hierbei ist: nur einem Ganzen kann etwas fehlen. Maßgebend ist also hier der Unterschied des natürlichen Gefüges vom Bruchstück. Denn nur an einem Gefüge find die Grenzen, die nicht von ihm selbst gezogen find, etwas Negatives (vgl. Kap. 40 b). H a r t m a n n . Philosophie der Natur

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Hier hängt somit alles am Auftreten der dynamischen Gefüge, die ihre Einheit, Ganzheit und Selbstbegrenzung von einem selbständigen In n e rn her haben. N ur solchen Gebilden kann etwas objektiv „fehlen", und nur sie können in einem eindeutigen Sinne vollständig, und so in ihrer Weise „vollkommen" sein. M it ihnen kommt daher ganz zwanglos das Moment der Formschönheit, bzw. der Formverfehltheit, in die N atur hinein; und zwar beides auch gerade in seiner einleuchtenden Anschaulichkeit, sofern das einheitliche Außere ein inneres Gleichgewicht verrät (Kap. 39 k). Denn nur dynamische Gefüge haben ihr In n eres „in sich", und nur sie können es folglich a ls Äußerung in ihrer Form erscheinen lassen. Der ästhetische W ert aber ist an das Erscheinungsverhältnis gebunden. M an erinnere sich hierzu der Beispiele für solche Anschaulichkeit, etwa der Ellipsoidform, als des sichtbaren Ausdrucks eines Rotationsgleichgewichts,' ähnliches galt für die Form der Planetenbahnen, für die Spiralformen extragalattischer Nebel, für kristallinische Formen und manches mehr. Es ist im Grunde dasselbe, w as auch an künstlichen Produtten die zweckmäßige Form (etwa die Stromlinienform) rein als solche schön erscheinen läßt. Za, es ist auch dasselbe, was uns die innere Schönheit menschlicher Personen am Äußern fassen läßt; nur die Seinsstufe ist hier freilich eine sehr andere. Aber auch hier ist es innere Einheit, Geschlossenheit, Ausgleich, Harmonie, was uns vorschwebt. Durch die ontisch in sich konsistenten Typen der dynamischen Gefüge und ihrer Gleichgewichte, die ja schon eine Auslese möglicher Beharrungs­ formen darstellen, ist eine Typik sehr verschiedener, aber doch begrenzter Arten naturgewachsener Vollkommenheit gegeben. Diesen Typen können die einzelnen Gefüge mehr oder weniger entsprechen. Jede A rt des dyna­ mischen Gefüges hat ihre eigene A rt möglicher Vollendung; und dem­ entsprechend hat sie auch ihre eigene A rt des M angels und der Unvoll­ kommenheit. Hinter einer Vollkommenheit solcher A rt steht keinerlei Angelegtsein auf einen W ert; vielmehr sie selbst ist schon das, was allein sich hier als W ert bezeichnen läßt. Hinter ihr steht nichts als das ontische Verhältnis, das besondere dynamische Gleichgewicht. Und die „Schönheit" des Gebildes, die sich dem Betrachter aufdrängt, besteht in nichts anderem als in der Reinheit und Durchsichtigkeit, mit der sich dieses Verhältnis in der sicht­ baren oder innerlich anschaubaren Form darstellt. Das mag wenig sein, enttäuschend vielleicht für hochgespannte E r­ wartungen. D afür bleibt man mit diesen Bestimmungen fest auf dem Boden der Phänomene. Hier wird nichts hineingedeutet, was dem Gebilde selbst nicht wesensgemäß wäre, am allerwenigsten ein Zweckverhältnis. E s ist einfach das Wohlgeformtsein und Wohlgefügtsein, das Jnsichruhen, die Harmonie, das Gleichgewicht, was hier als Wertkomponente wirkt.

Etw as anderes meint auch das Herdersche „Wohlsein" nicht. M an darf dieses einfache Resultat sehr wohl als eine Lösung der alten Streitfrage von ens und bonum bezeichnen' desgleichen als eine prinzipielle Ent­ scheidung der Frage nach dem Schönen und Häßlichen in der unbe­ lebten Natur. Die teilten Typen des dynamischen Gleichgewichts find nur Grenzfälle, Idealtypen. W as sie stört oder verunklärt, ist von ihnen au s gesehen Unvollkommenheit. I n diesem Sinne gibt es sehr wohl das Häßliche in der Natur, die Mißbildung, das Schwache, Hinfällige, die Zerstörung, den Beifall. Die Schönheit ist indessen nicht identisch mit der Vollkommen­ heit. Sie ist vielmehr nur deren anschauliches „Erscheinen" in der Außensorm, das Hindurchscheinen des dynamischen Berhältnisses durch das sicht­ bare Außere. Und das Häßliche ist nur das entsprechende Hindurchscheinen des Mißverhältnisses. Davon find auch die Bruchstücke und Teilstücke nicht ausgeschlossen, sofern nur das Gefüge, dem sie entstammen, sich in ihrer Struktur noch irgendwie ankündigt. Das hindurchscheinende Innere liegt nur weit außer­ halb ihrer. Darum sind sie leicht undurchsichtig, und die Anschauung ver­ sagt vor ihnen. Oder aber die Anschauung springt m it ihnen frei­ schöpferisch um, beseelt sie mit einer ihnen wesensfremden, dem mensch­ lichen Empfinden entnommenen Innerlichkeit. Aber dann handelt es sich nicht mehr um die Schönheit der Naturform als solcher. D as ist ein Kapitel, das der Ästhetik angehört und die Naturphilosophie nicht mehr berührt.

D ritter Teil

Organologisdje Kategorien I. Abschnitt

D a s organische Gefüge 45. Kapitel. Aufgabe und Einteilung

a. Problemlage und Anknüpfung Bon Rechts wegen gehörte zum E intritt in die höhere Seinsschicht ein viel gründlicherer Abbau der traditionellen Teleologie — nicht nur in der offenen Form der älteren, sondern auch in der verkappten der modemen Theorien —, als er in dem vorangegangenen Teil gegeben werden konnte. Denn erst im Reiche des Organischen setzt die stärkste Verführung zum teleologischen Denken und Deuten ein. D as wird nun an geeigneter Stelle nachzuholen sein, soweit die Klarstellung organologischer Kategorien es verlangt. Ein wirkliches Eeneralreinemachen auf diesem Gebiet würde eine weitausholende Untersuchung erfordem, wie sie in diesem Buche nicht Platz finden kann. Der Sache nach aber würde sie sehr wohl in die Kategorienlehre hineingehören, und zwar gerade an die Stelle, wo der Übergang zur organischen Natur gemacht wird. E s ist im Obigen mehrfach davon die Rede gewesen, wie überhaupt das Verhältnis der Kategorien beider Naturreiche ist. Die Kategorien des Anorganischen gehen alle in die höhere Seinsschicht hindurch, kehren als untergeordnete Momente im Reiche des Lebendigen wieder — begonnen mit Raum und Zeit, bis hinauf zu den Gefügen und Gleichgewichten. Ein Zurückbleiben gewisier Naturkategorien setzt erst im seelischen Sein ein. Aber auch die durchgehenden gehen nicht unverändert durch, teilweise erscheinen sie wesentlich überformt wieder. Und das liegt an dem late« gorialen Novum des Organischen. Denn hier setzt eine Reihe neuer Kate­ gorien ein, mit denen auch das Gesicht der alten sich verändert.

M it der letzten Gruppe der kosmologischen Kategorien sind wir bereits in die Reihe der organologischen gelangt. Denn auch der Organismus ist ein Gefüge, auch er hat charakteristische Zentraldetermination und noch mehr Ganzheitsdetermination, auch bei ihm gibt es den Stufenbau und vollends er hat feine besonderen Gleichgewichtsformen. N ur find es keine bloß dynamischen Gefüge und Gleichgewichte mehr, sondern spezifisch orga­ nische. Gleichwohl ist der Zusammenhang der beiden Kategorienschichten uns greifbar gegeben. An diesem Punkte wird die Analyse einsetzen müssen. Darum muß fie zuerst vom „organischen Gefüge" als solchem handeln. Noch weniger als bei den kosmologischen Kategorien kann hier von Vollständigkeit die Rede sein. Auch eine objektive Reihenfolge lägt sich nicht geben. Die Kategorien müssen hier wie überall dem Stande der Wifienschaft entnommen werden, und der ist auf biologischem Gebiet noch weniger ein geschlossener als auf physikalischem. Da ist alles mehr Hinter­ gründige noch durchaus im Fluß, und dem muß die Philosophie Rech­ nung tragen. Damit hängt es auch zusammen, daß diese Kategorien sich, im ganzen genommen, mehr deskriptiv an die Phänomengruppen der lebendigen R atur halten und die eigentlichen Prinzipienfragen zwar berühren und aufrollen, aber nicht zur Lösung bringen. Soweit sich aber in ihnen Lösungsmöglichkeiten zeigen, bleiben fie im Hypothetischen stehen.

b. Vorläufige Aufzählung der Kategorien E s sollen dementsprechend vier Gruppen von Kategorien zur Behand­ lung kommen, innerhalb deren sich die einzelnen Kategorien schwer von­ einander trennen lassen, so daß auch ihre Erenzscheiden gegeneinander flüssig bleiben. Die Gruppen entsprechen den allgemein bekannten P ro ­ blembereichen. M an kann jede von ihnen wieder unter einen kategorialen Obertitel stellen, was sich schon aus Gründen der Anordnung empfiehlt. Aber auch zwischen ihnen lassen sich keine scharfen Grenzen ziehen. I n W ahrheit ist eben die kategoriale Kohärenz hier überall um vieles stärker als alle Einteilung. Jebe Kategorie ist streng genommen nur vom Ganzen der Kategorienschicht her zu behandeln. I. Gruppe: „D as organische Gefüge". Kategorien: 1. D as Individuum, 2. Der formbildende Prozeß, 3. Das Widerspiel der Prozesse, 4. Form­ gefüge und Prozeßgefüge, 5. Die Selbstregulation. H. Gruppe: „Das überindividuelle Leben". Kategorien: 6. Das Leben der A rt, 7. Wiederbildung und Erblichkeit, 8. Tod und Zeugung, 9. Die Variabilität, 10. Die regulativen Faktoren im Artleben.

III. Gruppe: „Die Phylogenese". Kategorien: 11. Die Abartung, 12. Die Zweckmäßigkeit, 13. Die Selektion (und Höherbildung), 14. Die Mutation, 15. Die Deszendenz. IV. Gruppe: „Organische Determination". Kategorien: 16. D as orga­ nische Gleichgewicht, 17. Die Lebendigkeit, 18. Der VitÄnexus, 19. Die Artgesetzlichkeit. Diese Aufzählung beginnt, wie man sieht, nicht mit den grundlegenden, sondern mit den Oberflächenkategorien und schreitet von diesen allmählich zu den fundamentaleren fort. D as ist keine ontische Reihenfolge — eine solche müßte natürlich umgekehrt laufen — , sondern eine solche des Er­ kenntnisweges, eine bloß der Analyse nachgehende, keine synthetisch aus­ bauende. Immerhin führt sie in ihrer Weise doch an den synthetischen Aspekt heran, und zwar nicht erst im Ganzen, sondern schon innerhalb jeder der vier Gruppen. Sie verbirgt also keineswegs den kategorialen Aufbau, der das Reich des Organischen durchzieht, sie läßt ihn von Schritt zu Schritt mehr durchblicken und führt zuletzt auf seinen Gesamtaspekt hin­ aus. M an darf ihr also unbesorgt nachgehen. Stünde die biologische Wissenschaft in einem der Physik vergleichbaren Stadium ihrer Entwicklung, so ließe sich hier wohl auch anders vorgehen. M an konnte dann vielleicht auch synthetisch von unten auf die ganze Problemreihe des Lebendigen in Angriff nehmen. Hier aber zieht die eigenartige Sachlage der Gegebenheit auf biologischem Gebiet eine unLbersteigbare Schranke. Diese Gegebenheit ist, wie sich schon zu Anfang zeigte, eine zwiefache: eine des Außenaspektes und eine des Jnnenaspettes, äußere und innere Gegebenheit (vgl. Einleitung, 15 und 16). Und beide sind vermittelt, die eine durch die sinnlich-physische Gegenständlichkeit, die andere durch das seelische Selbstbewußtsein. Jene bleibt den eigentlichen Phänomenen des Lebendigen peripher, diese ist in sich dunkel und undiffe­ renziert. Von beiden Seiten her muß der Übergang zum Organischen a ls solchem erst gefunden werden. Dieser Doppelaspekt hat die Zweischneidigkeit der Grenzüberschrei­ tungen in den biologischen Theorien verschuldet, hat sie in „mechanistische" und „vitalistische" gespalten, in Erklärungsversuche von unten her und von oben her. Dieser Sachlage muß die Kategorienlehre Herr zu werden suchen, indem sie die Einseitigkeiten des Außenaspektes wie des Jnnenafpektes überwindet und die unbesehene Übertragung von Kategorien niederer wie höherer Seinsschichten ausschaltet. D as kann am ehesten im analytischen Verfahren geleistet werden. Darum verbietet sich auf diesem heute noch vielfach unwegsamen Problem­ gebiete alles konstruktive Vorgehen von selbst.

c. Der Organismus als Individuum

Der sichtbare Träger des Lebens ist das organische Individuum, das lebende Einzelwesen. Nur das Individuum ist „Organismus" im ersten und eigentlichen Sinne. Als Organismus eben ist das Individuum nicht a n eine bestimmte Stufe des Lebewesens gebunden, sondern allen Stufen gemeinsam. Die freilebende Zelle ist ebensosehr Individuum wie der viel­ zellige Organismus,' ebenso gehört noch die Lebensform des „Stockes" oder „Stam m es" (Cormus) hierher, sowie eventuell auch noch eine unter­ halb der Zelle stehende Lebenseinheit, auf deren Bestehen mancherlei Phänomene hinweisen. Bon den beiden letzteren Lebensformen — einer seltenen und einer immerhin hypothetischen — kann im folgenden abge­ sehen werden. D as Gewicht liegt ganz auf den beiden erstgenannten. Individuen nun sind diese Stufen des Lebewesens alle in gleicher Weise, also keineswegs die einen mehr als die anderen. Und zwar find ste es nicht durch ihre „Individualität", d. h. durch Einzigkeit und Eigenart des Einzelwesens, sondern gerade durch ihre allgemeinen Züge: die Indivi­ duen einer A rt stehen qualitativ koordiniert da, ihre Unterschiede find demgegenüber sekundär. M an erinnere sich hier daran, daß das „Indivi­ duum" eine teilt quantitative Kategorie, „Individualität" dagegen eine qualitative ist (vgl. Aufbau, Kap.35l>). Ein jedes Individuum ist Reprä­ sentant einer Art, die Artcharaktere machen seine Wesensbestimmtheit aus. J a , es ist darüber hinaus ebensosehr Repräsentant einer Gattung, Familie, Ordnung, Klafie. Die Züge höherer Allgemeinheit liegen ebenso in seinem Wesen wie die der speziellen. Die geringfügigen Abweichungen der einzelnen Exemplare voneinander und vom durchschnittlichen A rt­ charakter verschwinden dagegen. Auch sind ste mit dem „Jndividuumsein" nicht gemeint. Die Individualität ist also dem organischen Individuum als solchem durchaus äußerlich. Jedes Individuum, auch das kleinste, ist schon ein komplex s Ganzes, und zwar ein solches, das sich „nicht teilen läßt" — das besagt das W ort „Individuum" —, nicht wenigstens ohne daß sein spezifischer Charakter verloren ginge. E s läßt sich zwar leicht gewaltsam teilen; aber damit zerstört man es, und auch die Teile zerstört man, denn außerhalb des Ganzen leben sie nicht fort. Oder aber sie ergänzen sich selbsttätig zu neuen Ganzheiten, die dann als ungeteilte Individuen fortleben. D as in diesem — und nur in diesem — Sinne Unteilbare ist das organische Individuum. Diese A rt Unteilbarkeit beruht natürlich schon auf dem Charakter des Gefüges. D as Gefüge als solches bedeutet ja schon, daß der Teil mehr ist a ls Teil, das Ganze mehr als Ganzes. Die Teile find Glieder mit ver­ schiedenartiger Funktion im Ganzen und dementsprechend auch verschie-

beitet, von bet Funktion her bestimmter unb ihnen wesentlicher Lage im Ganzen. Damit erhält aber auch bas Ganze bes Individuum s seinen besonderen Charakter: es ist nicht nur Gefüge, sondern auch „organisches Gefüge". W as es damit auf sich hat, kann nicht in einer Definition erledigt werden. E s mutz sich erst allmählich zeigen: die ganze Reihe der organologifchen Kategorien ist dazu nötig. Einen ersten Zugang aber findet man gerade in der Eliedfunktion des Teiles. Ein organisches „Glied" ist von vornherein das, was es ist, durch seine Stellung im Ganzen des Gefüges; herausgerisien aus ihm ist es etwas ganz anderes. D as ist am Orga­ nism us in ganz neuartiger Weife dadurch ausgeprägt, datz die Lebendig­ keit dem Gliede nur im Verbände Bes Ganzen zukommt, in feiner Isolie­ rung aber verlorengeht. Die Lebendigkeit aber ist das Merkmal der höheren Seinsschicht. Ohne sie finkt der Teil zum anorganischen Gebilde herab, er assimiliert nicht mchr, er erhält sich nicht mehr, er ist tot. Hierbei ordnet sich bettn auch ganz von selbst bet funktionale Gesichts­ punkt übet. Jedes Glied „hat" nicht nur seine Funktion int Ganzen und ist durch diese bestimmt; es „ist" vielmehr wesentlich diese Funktion im Ganzen. Denn weil bas „Leben" im organologischen Sinne entschiedenen Prozetzcharakter hat, so ist am „Gliede" die Funktion weit wesentlicher a ls die dinglich-räumliche Gestalt (Form) und die räumliche Lage im Ganzen. Glied in diesem Sinne ist das „Organ" der bestimmten Teil­ funktion und damit des Lebensprozesies. Und das Gefüge, dessen Teilfunk­ tion es leistet, ist eben der lebende O rganism us". Damit ist zugleich der Übergang vom blotz dynamischen zum organischen Gefüge eindeutig umrissen. Ih n näher zu bestimmen, wird erst von den besonderen kategorialen Zügen bes Individuum s aus möglich sein.

46. Kapitel.

D a s Individuum

a. Organismus und Organe. Formen und Proreffe

Der Organismus als Individuum, d. h. a ls das unteilbare organische Gefüge im angegebenen Sinne, — dieses Thema umreitzt die ganze erste Kategoriengruppe. E s umfatzt den Inbegriff derjenigen Probleme, die sich noch diesseits des Lebens der A rt bewegen. Zu seiner vollen Bewälti­ gung würde sehr vieles gehören, was in die Spezialwissenschast gehört und in einer durchgeführten Philosophie bes Organischen immerhin berück­ sichtigt werden müsste. Die Kategorienlehre aber prätendiert nicht, eine solche zu sein.

Wichtig für ste ist es vielmehr nur, die Kategorien herauszuarbeiten, sowohl diejenigen, die am Organismus neu einsetzen, als auch diejenigen, die aus der niederen Schicht abgewandelt an ihm wiederkehren. Darüber hinaus wäre auch eine Reihe wiederkehrender Fundamentalkategorien zu verfolgen, die hier eine wesentliche Rolle spielen, außer der Gefügekate­ gorie also etwa Einheit, Identität, Diskretion, Grenze, In n eres und Äußeres, sowie manche andere. Auch das aber würde, als besondere Unter­ suchung angelegt und der Hauptanalyse vorausgeschickt, zu weit führen. Die Verfolgung solcher kategorialer Elemente soll daher in die einheit­ lich geführte Hauptuntersuchung hineingenommen und nur an solchen Problempunkten zum Thema gemacht werden, an denen ein besonderes ontologisches Gewicht dazu nötigt. Jedes Gefüge ist eine eigene Form geschlossener Einheit. Das orga­ nische Gefüge ist es in zwiefacher Weise. Es ist einerseits durchgegliedertes System der Formen, in dem die Teile Organe find; als ein solches System ist es Gegenstand morphologischer Forschung. Und zugleich ist es ebenso durchgegliedertes System ineinandergreifender Prozesse, und als solches ist es Gegenstand physiologischer Forschung. Denn jedes Organ hat seine Eigenstruktur, seine spezifische Leistung im Ganzen. E s ist Werkzeug (öpyccvov) biefet Leistung, und es besteht wesentlich in ihr, aber es hat kein Eigenleben für sich, ist kein Individuum im Individuum, sondern funktional wie morphologisch nur ein Teilstück. D as Leben des Organismus ist eben das Ineinandergreifen der orga­ nischen Teilprozesie. E s ist nicht, wie man lange Zeit geglaubt hat, ein dahinterstehendes Etwas, ein gesondert von ihnen verlaufender Prozeß der Tiefe, der zu den physiologisch greifbaren Funktionen noch hinzukäme — diese find ohnehin abgründig und rätselhaft genug —, sondern das zu­ sammengeordnete Funktionieren der auf einander abgestimmten Organ­ prozesse selbst, ihre Einheit und gegenseitige Abhängigkeit. W as w ir „Leben" nennen, ist also nicht etwas, was zu der orga­ nischen Form von außen a ls ein ihr fremdes Prinzip hinzukäme — weder als „Entelechie" nach Aristotelischer A rt noch a ls „Vitalseele" —, es ist vielmehr die gewachsene Einheit der mannigfaltigen'Vorgänge, die den Teilformen der Gesamtform von vornherein eigen sind, so daß im Ganzen wie im Teil die Form mit der Funktion und diese mit ihr ent­ steht und vergeht. Und wie Form und Funktion, so find auch die Funk­ tionen miteinander unlöslich verbunden. Sie lösen einander aus, halten einander in Gang, fie erscheinen, je nachdem wie eine die andere hervor­ ruft, als Ursache oder als Wirkung voneinander — eine Form der speziellen Wechselwirkung, die a ls funktionale Einheit des Ganzen den einen, unteilbaren Lebensprozeß des Individuum s ausmacht.

Und ebenso ist der Tod des Individuum s nicht ein „Entfliehen des Lebens" — was ja nur Sinn hätte, wenn das Leben noch ein zweites reales Etw as neben dem realen Organismus wäre — er ist auch nicht das Entweichen einer Kraft oder eines Prinzips aus dem Körper. Der Tod ist vielmehr einfach das Versagen dieses Gefüges von ineinander gebundenen Funktionen, feine Auflösung, der Stillstand der Prozesse. D as Formgefüge ist zwar damit noch nicht momentan aufgelöst, aber es ver­ fällt mittelbar der Auflösung. Denn die Form kann sich ohne den Prozeß nicht halten, der Prozeß ist ja vielmehr ihre ständige Erneuerung. Sie besteht von Anbeginn nicht ohne die tragende Funktion und muß ohne sie zerfallen. Bon hier aus steht man bereits sehr deutlich, wie fich das organische Gefüge vom dynamischen abhebt. Freilich läßt sich vieles an ihm auch rein dynamisch verstehen, z. B. manches am Ineinandergreifen der Teilprozeste, aber eben doch nicht alles, und gerade nicht das Wichtigste. Das System der Prozeste im System der Formen könnte vielleicht gerade noch als Hochkomplexes dynamisches Gefüge aufgefaßt werden. Aber die A rt, wie das eine dem anderen innewohnt, wie die Formen fich zugleich in den ihnen eigentümlichen Prozessen bilden und unausgesetzt erneuern, ist auf diese Weise nicht mehr faßbar. Denn dieses Verhältnis läßt fich dynamisch nicht deuten, es ist auch keinem bloß dynamischen Gefüge eigen. Das aber heißt nichts anderes als: das „Leben" des Organismus läßt fich dynamisch nicht verstehen. E s ist zwar keineswegs die Wunderwirkung eines mysteriösen „Lebensprinzips", aber es ist auch nicht Sache eines bloßen Kräfte- oder Energieverhältnifies. Am Phänomen der Lebendigkeit zeigt sich so recht die Zweiheit der Aspekte, die für die Gegebenheit des Organischen charakteristisch ist. Im Außenaspekt ist das Lebendigsein nur fragmentarisch gegeben und ver­ führt zu bloß dynamischer Deutung; im Jnnenaspekt aber ist es in der Form seelischen Erlebens gegeben, und diese verführt zu oitalistischer Auf­ fassung. Daher die Neigung der Auffassungen zum Abgleiten in das eine oder andere Extrem. Die objektive M itte ist stets schwer zu halten, weil keine unmittelbare Gegebenheitsform ihr entspricht.

b. Anfang und Ende des In d ivid u u m s. Leben und Tod

„Leben" ist die besondere S einsart des Organischen, eine Sonderform des Realseins, die mit dieser Setnsschicht auftritt und von da ab auf­ w ärts nicht mehr abreißt. Diese Sonderform muß von anderen Sonder­ formen des realen Seins unterschieden werden, auch auf die Gefahr hin, daß die unterscheidenden Momente sich zunächst bloß als negative Ab­ grenzungen darstellen.

Leben ist ferner, wie fich zeigte, eine Sonderform des Prozesies, also des zeitlichen Seins, des „Werdens". D aran ist nichts zu verwundern, denn das Werden ist die allgemeine Seinsform des Realen. Die Frage aber, die nun auftaucht, ist die: wodurch unterscheidet sich die Prozeßform des Lebens von anderen Prozeßformen? I n erster Linie also, wie ist ihr Unterschied von den anorganischen Prozeßformen, denen sie doch durch ihre Raumzeitlichkeit so nahe verwandt ist und mit denen zusammen sie der weiten Gattung der Naturprozesse angehört? Aus diese Frage antworten zunächst die folgenden Momente, die fich noch in einer gewisien Unmittelbarkeit den allgemein zugänglichen P häno­ menen der Lebewelt entnehmen lasten. 1. Der Lebensprozeß hat zum Unterschied vom physischen Prozeß seine besondere A rt Begrenzung, und zwar zeitlich nach beiden Seiten. E r hat seinen ihm eigentümlichen Anfang und sein ihm eigentümliches Ende. Und beide, Anfang wie Ende, find durch das Gefüge selbst, das diesen Prozeß durchläuft, gegeben. Die Begrenzung des Lebensprozestes ist somit eine von innen gesetzte. S ie ist greifbar in Erzeugung und Tod. Das Leben des Individuums ist zwischen diese ihm wesentlichen Grenzen eingeschlosten. D as Ende kann freilich ein gewaltsames sein, und dann ist es ein ihm äußerliches; aber es gibt auch den „natürlichen Tod", und der ist ihm so wenig äußerlich wie sein Anfang, ist nicht durch dynamische Verhältniffe der umgebenden Welt, nicht durch die Höhe eines Gefälles bestimmt, das sich im Prozeß erschöpft, also auch niemals energetisch zu verstehen. Die im vorhandenen Nährstoff aufgespeicherte Energie bildet wohl ein Gefälle, und das verbrauchende Individuum schaltet sich in dieses ein; aber Anfang und Ende des indi­ viduellen Lebens treten nicht mit dem Entstehen und Verbrauchtsein des Gefälles auf, sondern sinS noch an ganz andere, offenbar weit komplexere Bedingungen geknüpft. D as Vorhandensein der Nahrung bringt das I n ­ dividuum nicht hervor, bringt also den Prozeß nicht in Gang; und der Tod des Individuum s tritt in der Regel viel früher ein, als der Abbau ihn fordern würde. Charakteristisch für das Entstehen des Individuum s ist sein Entspringen am lebenden Organism us gleicher A rt und von ihm her. Es erhält seine Formbestimmtheit und sein Leben vom erzeugenden Individuum, wird von diesem aktiv in besonderer organischer Leistung hervorgebracht. Und ebenso charakteristisch für sein Vergehen ist die von Anbeginn in ihm angelegte Grenze des Funktionierens, einerlei an welchem seiner Organe das aufein­ ander abgestimmte Ineinandergreifen der Teilfunktionen zuerst versagt. Denn die Dauer des organischen Prozesies hängt, im Gegensatz zu der des dynamischen, am Fortwähren seiner Fähigkeit, sich selbsttätig in Gang zu

halten, fich die ständige Zufuhr der Energie zu verschaffen und diese au s­ zuwerten. S o ist die zeitliche Begrenzung des individuellen Lebens im strengen Sinne innere Begrenzung. Sie wurzelt in der A rt des Prozesses selbst. Leben ist der fich selbst begrenzende Prozeß; und insofern es über das Individuum weiter hinausgeht, ist es doch der periodisch fich selbst unter­ brechende und selbst wieder neu in Gang bringende, also der fich selbst diszernierende Prozeß. 2. Damit rückt ein kategoriales Eegensatzpaar in den Vordergrund, das am physischen Prozeß untergeordnet blieb: das eigentliche „Entstehen und Vergehen" selbst. Zw ar liegt im Wesen alles Werdens auch das Ent­ stehen und Vergehen der Zustände, deren Reihe den Prozeß ausmacht, sowie das der besonderen Gebilde von relativer Dauer, die im Prozeß sich bilden. Aber in der anorganischen N atur ist doch das Weitergehen des Prozesses überhaupt ein automatisches und unaufhaltsames. N ur vom besonderen Gefüge aus gibt es hier ein eigentliches Hervorgehen und Verschwinden; und beides hat nichts zu tun mit dem ex nihilo und in nihiL E s geht faktisch immer nur eines in anderes über; und das andere ist wenigstens von derselben Seinsordnung. Am Organischen ist das anders. I m Tode des Individuum s geht das Leben keineswegs von selbst weiter, wenn fich nicht vorher schon ein neues Individuum gebildet hat. Das lebende Gefüge setzt sich in seinem Zugrundegchen nicht in ein anderes Lebendiges um, sondern kehrt zurück zum Leblosen, zu den Atomen und Molekülen. Der Tod ist Vergehen in einem engeren Sinne, Vergehen des Lebens selbst. C r ist das übergehen in das „Richtlebende", in das Nichts des Lebens, also in die Negation seiner Seinsordnung, in seine Aushebung. Erst von hier aus ist es zu verstehen, was es mit dem „Anfangen" des Lebensprozesses im Individuum auf fich hat. E s schließt hier wohl Leben an Leben an, und insofern geht die K ontinuität des Lebensprozesses durch. Aber es ist ein neues Individuum und ein neuer Lebensprozeß, was da anhebt, und insofern ist die Diskretion im Eontinuum des Lebens eine ihm wesentliche. W as entsteht» hat sein eigenes Maß, eigenen Aufund Abstieg, und sein Tod ist nicht der des alten Individuums. E s verlohnt fich, an dieser Stelle zu vermerken, daß die Begriffe des „Entstehens und Vergehens" einst in den Anfängen der Philosophie dem Phänomenbereich des Organischen entnommen worden find. Hier eben treten sie in einzigartiger Prägnanz auf. Und von hier au s erst wurden sie auf die übrige W elt übertragen. Daher das Pathos im Gedanken der Vergänglichkeit und des Todes, wie es uns schon in der Frühzeit mensch­ lichen Denkens begegnet; daher auch die Tendenz der Metaphysik, ein Un­ vergängliches zu finden.

c. Der spontan sich ändernde Prozeh. Lebenskurve und Lebenseinheit

Weitere Momente des organischen Prozesses lassen sich aufzeigen, wenn man ihn mit dem Gefügetypus des Organismus zusammenschaut. Viele natürliche Gefüge, die meisten dynamischen und alle organischen, haben Prozeßform; sie find im Inneren Gefüge von Prozessen, deren Fortgang den stabilen Dauerzustand des Ganzen trägt, indem sie sich gegenseitig im Gleichgewicht halten. Der Lebensprozeß läßt sich also auch als Dauerzustand eines Prozeßgefüges auffassen, aber doch nur mit gewissen Abstrichen. Gerade der Zustand des Gefüges ändert sich nämlich, und zwar gleichfalls von innen her. Der Eesamtprozeß, dessen ,Pewegungszustand" er ist, läuft weder gleichförmig, noch passiv fort. E r folgt nicht der „Trägheit" eines einmal in Gang gesetzten Abrollens. E r muß sich vielmehr selbsttätig in Gang halten; ja er ist zugleich die selbsttätige Veränderung der Teilprozesse, und damit auch Veränderung seiner selbst, des Gesamtprozesses. Und weiter ändert er auch dadurch das ganze Prozeßgefüge, und da Prozeß und Form unlöslich aneinander hängen, zugleich das Formgefüge. Kurz, der Organismus verändert sich spontan, aus sich selbst heraus. Der Lebensprozeß intensiviert sich, steigert sich bis zu bestimmter Höhe, hält sich auf ihr eine bestimmte Weile und läßt dann wieder nach: Jugend, Höhe und Altern des Individuum s liegen in seiner Eigentätigkeit be­ gründet, bilden ein zeitliches Ganzes, einen Lebenslauf von typischer Kurve. M an muß sich hierbei ferner erinnern, daß der Prozeß als solcher das Auseinandergezogensein des Realgebildes, an dem er verläuft, in die Aufeinanderfolge der Zeitstadien ist. Er ist also dieses, daß ein in sich einheitliches Gebilde doch zu keiner Zeit als Ganzes beisammen ist. D as gilt in sehr gesteigertem Sinne auch vom Lebensprozeß des Indivi­ duums. D as Individuum ist zwar ein einheitlich geschlossenes Gebilde, aber es ist durch den Lebensprozeß, der seine besondere S einsart ausmacht, in die zeitlichen Stadien seines „Lebens" auseinandergezogen. Seine von ihm selbst bestimmten Veränderungen, die ja oft bis zum Unkenntlichwerden seiner Id entität gehen (man denke an die Metamorphose der Insekten), bilden einen Eestaltwandel, der die Einheit und Ganzheit zeitlich zu zer­ reißen scheint. Damit ist die Identität des Individuums seiner zeitlichen Dauer nach in Frage gestellt; denn die Stadien der Entwickelung schließen zwar aneinander an, erhalten sich aber nicht eines im andern. Die eigene „Lebenskurve" scheint das Individuum auseinanderzuroißen. Und doch ist es in aller Selbstverständlichkeit dasselbe Individuum, das diese Kurve durchläuft. E s fragt sich also, wie sich die Einheit dennoch herstellt.

Auf die Form als das sich Erhaltende kann man sich hier nicht berufen. Sie gerade ändert sich wesentlich ab; ja eben um diese ihre Veränderung handelt es sich in der zeitlichen Nichtidentität. Von einem beharrenden „Stoff" läßt sich noch viel weniger reden. Der Stoff gerade wechselt un­ ausgesetzt, und die Teilprozesie des Lebensvorganges sind wesentlich Stoffwechselprozesie, in denen die Formen noch das relativ Beharrliche aus­ machen. Auch würde ja die Beharrung einer stofflichen Grundlage, wenn es sie hier gäbe, nicht die Beharrung des Individuums ausmachen. Also kann die Einheit nur im Prozeß selbst liegen. Nun ist aber der Prozeß gerade das Moment des W andels und der Nichtidentität, das Anderswerden und das Nichtbeisammensein. Wie also kann er zugleich Id en tität hergeben?

d. Einheit und Ganzheit der geschlossenen Prozebform

Hier taucht ein neues kategoriales Moment am Wesen des organischen Prozeßes auf: die geschloffene zeitliche Ganzheit des zwischen Anfang und Ende sich selbst begreifenden und sich in sich gliedernden Prozeßes selbst. E s ist dieses eine besondere Form der Einheit, nicht weniger straff im Zusammenschluß und im zeitlichen Formcharakter, als die simultanen Ge­ staltcharaktere es im räumlichen Zusammenschluß find. Diese zeitliche Ganz­ heit fehlt zwar auch gewissen anorganischen Prozeßformen nicht. Aber die Geschlossenheit geht ihnen ab, weil Anfang und Ende bei ihnen durch den fließenden Übergang in andere Prozesse stets relativiert sind. Deswegen ist das Phänomen der spezifischen Begrenzungsart des orga­ nischen Prozesses so sehr von Wichtigkeit. D as ist etwas anderes als die Begrenzung physischer Sonderprozesse auf Grund eines Gefälles und seiner Erschöpfung. Dort handelt es sich stets nur um Begrenzung von außen her, sowie um Gliederung und Periodizität von außen her — sei es nun von den Außenkräften der kleineren Gefüge oder von der Eanzheitsdetermination der größeren her. Hier dagegen ist es die Prozeßeinheit selbst, die sowohl Begrenzung als Gliederung hergibt; wobei die letztere etwa schon in den bekannten Lebensrhythmen greifbar ist. Prozeßganzheit in diesem Sinne gibt es unterhalb des Organischen nicht. Dort liegt der innere Zusammenhalt der Ablaufsform wesentlich bei den Bedingungen der umgebenden W elt oder auch bei den Aufbauelementen; hier dagegen gibt die autonome Struktur des Prozesses selbst den Rhythmus seiner Gliederung, seiner Perioden und seiner Grenzen her. Darum allein läßt sich auch der natür­ liche Tod als spontanes Ausklingen des Lebensrhythmus verstehen. Denn der Tod ist dem Lebendigen ebenso eigentümlich wie das Entspringen

in der Zeugung. Nur was lebt, kann sterben; der Untergang des Leb­ losen ist bloßes Vergehen, Übergang in anderes. I n diesem neuartigen Sinne ist nun das zeitlich-dauernde „Leben" des Individuum s ein zeitlich prozeßhaftes Gefüge sui generis. Auch das ist ein kategoriales Novum. D as ist nicht einfach das Gefüge der P ro ­ zesse, verstanden als deren simultanes Ineinandergreifen, sondern das zeitlich sukzessiv gegliederte Gebilde des Ablaufs selbst, die Lebenskurve als organische Einheit. Sonst hatten wir es nur mit räumlichen Gefügen zu tun, und selbst das organische Form- und Prozeßgefüge hat noch seine entschieden räumliche Note. Hier aber handelt es sich um einen Gefüge­ charakter von zeitlicher Dimension, ein Gesamtgebilde der zeitlichen Folge und Überlagerung von Teilprozessen, welches doch so geartet ist, daß es als Ganzes einer zeitlichen Reihe die Identität seiner eigentümlichen Prozeßgestalt wahrt. Z ur Erläuterung sei hier bemerkt, daß in den höheren Seinsschichten das Phänomen der Prozeßgestalt (also des zeitlichen Gefüges) ein wohl­ bekanntes und vielfach wiederkehrendes ist. Prozeßgestalt hat z. B. alles, w as uns im Leben als „Erlebnis" gilt. Ebenso hat aber auch jedes per­ sönliche Menschenleben als Ganzes seine Prozeßgestalt; desgleichen das geschichtliche Leben eines Volkes oder einer Völkergruppe, nicht weniger aber auch der Entwicklungsgang des Rechtes, der Wissenschaft (sogar einzelner Wissenschaften) des religiösen und moralischen Lebens» sowie der Künste. Prozeßgestalt im eminenten Sinne haben ferner Kunst­ werke bestimmter Art, Musikwerke, Dramen u .a. m.; an diesen ist der zeitliche Gestalt- und Gefiigecharakter besonders greifbar aus­ geprägt. M an sieht, das organische Gefüge ist „Individuum", d. h. ein untellbar Einheitliches, nicht nur der Form nach, sondern auch dem Prozeß nach. D as Leben des Individuums, so sehr es der Vernichtung vor der Zeit ausgesetzt sein mag, ist dennoch seinem Wesen nach der ganzheitliche, in sich zusammenhängende, nach eigenem Rhythmus gegliederte und unteil­ bare Prozeß. Das, was sich im Lebensprozeß identisch erhält, ist nicht ein Stadium, auch nicht die organische Form, sondern das Prozeßgefüge mit seinem zeitlichen Gestaltcharakter, der Gesamtrhythmus des Lebens, in dem jedes Stadium vorwärts wie rückwärts auf die übrigen Stadien fest bezogen bleibt. Jede Phase in ihm hat ihre eigentümliche Prägung vom zeitlichen Ganzen des geschlossenen Lebensprozesses her. M an kann also auch sagen: die Prozeßkurve als solche ist das Identische, das die zeitlich auseinander­ gezogenen Stadien verbindet. Genauer muß es heißen: sie ist die in jedem Stadium miterscheinende Einheit eines zeitlich Ganzen. Denn so hängen die Stadien in dieser Prozeßform zusammen, daß die vergangenen in

dem gegenwärtigen nicht schlechthin vergangen, die künftigen nicht schlechthin künftig find. Jene erhalten fich in ihm als die noch ihm an­ haftenden, diese kündigen sich an, als die schon vorweg richtungbestim­ menden. D as Identische in der Abfolge der Stadien liegt insofern über den Klotzen Prozetzcharakter hinaus — man könnte sagen: in dem be­ sonderen Prozetzgesetz, dem Gesetz der Lebenskurve. Die Allgemeinheit dieses Eesetzescharakters ist denn auch in der durchgehenden Gleicharttgkeit der Lebenskurve aller Individuen einer A rt unmittelbar greifbar. D as läuft freilich auf ein neues Rätsel hinaus. Wenn die Ganzheit des Prozesies die Einzelstadien mitbesttmmt, so müssen doch auch die späteren Stadien ebenso wie die früheren auf ein gegebenes gegen­ wärtiges wirken. Wie ist das möglich? Kausal ist es offenbar nicht möglich. Kausalität läuft nicht rückwärts in der Zeit. Aus blotzer Zentral- und Eanzheitsdetermination im Sinne der dynamischen Gefüge ist es auch nicht möglich. Efn finaler Nexus aber, an den man hierbei unwillkürlich zuerst denkt, verbietet fich unterhalb des Auftretens von hochentwickeltem Bewutztsein von selbst, denn er hängt am Vorsetzen von Zwecken, sowie an der Rückdetermination der M ittel. Der Lebensprozetz aber ist sogar im hochentwickelten und bewuhten Lebewesen nichts weniger a ls bewutztseinsgeleitet. D as Bewutztfein vielmehr weitz gar nicht um seine Funkttonen, es ist vielmehr von ihnen getragen. Hier stotzen wir nun bereits auf das schwierige Problem eines Nexus eigener A rt — des Vitalnexus, wie man ihn nennen kann —, einer eigenen Determinationsform, wie ste sich nur am Organismus findet. Von ihr wird weiter unten noch zu handeln sein (Kap. 63). Dieses Problem mutz mit der grötzten Vorsicht behandelt werden, weil alle Einzelheiten in ihm von den größten Täuschungsmöglichkeiten umlagert sind. An dieser Stelle kann nur soviel vorweggenommen werden: es mutz sich um eine Determinationsform handeln, die von einem Anlagesystem au s einen über viele heterogene Stadien führenden und gleichwohl ein­ heitlich geschlossenen Prozetz in der Ganzheit seiner Ablaufsform be­ stimmt. Ein von solchem Nexus geleiteter Prozetz ist es. was wir „Ent­ wickelung" nennen. e. Die räumliche Begrenzung des organischen Gefüges

Ebenso eigenartig wie der organische Prozetz und der Dauerzustand des Lebendigseins, den er ausmacht, ist das Gebilde, an dem er abläuft. D as gilt vor allem von der organischen Form selbst. Aber von ihr kann e^st später die Rede sein. Zunächst handelt es sich nur um die räumliche Begrenzung des lebenden Organismus.

Schon beim dynamischen Gefüge w ar die räumliche Begrenzung ein Problem für sich. Es zeigte sich, daß sie in der Mehrzahl der Fälle nicht in scharf ausgeprägten Grenzflächen besteht, sondern in einem allmäh­ lichen Übergang, wobei sich dynamisch eine relativ auf die umgebenden. Kraftfelder bestehende Jndifferenzzone als „verschwimmende Grenze" ergab. F ü r das organische Gefüge ist auch das noch ein zu einfaches Schema. Denn nicht bloße Kraftverhältnisse sind hier das M aß­ gebende. I n der T at ist das räumliche Grenzoerhältnis des organischen Gefüges ebenso merkwürdig wie das zeitliche, aber in ganz anderer Weise als am dynamischen Gefüge. Im allgemeinen zeigen die Körperformen der Organismen durchaus scharf bestimmte Oberflächen,' darin gleichen sie mehr als die meisten dynamischen Gefüge den „Dingen". Auch reicht es hier nicht aus, wenn man die Grenzflächen als von innen her bestimmt bezeichnet. Das Besondere des lebenden Organismus ist vielmehr, daß die dinglich-materielle Grenze des Körpers nicht mit der Grenze des lebenden Individuums zusammenfällt. Der Organismus mit seinen Lebensfunktionen ist weit in die umgebende physische W elt hinaus bezogen. Atmung, Stoffwechsel, Nahrungssuche und Selbsterhaltung — die letztere verstanden mit ihren mannigfachen Formen des Bedrohtseins und den auf diese antwortenden Formen spontaner Abwehr und Sicherung — bilden ein Geflecht von Aktionen und Reaktionen, mit denen der Orga­ nismus sich selbsttätig über sich hinaus und in seine räumliche Umwelt hineinerstreckt, mit einem Ausschnitt der realen Welt unlöslich ver­ knüpft und durch die Teilprozesse seines Lebensprozesses auf sie ange­ wiesen ist1). Hier ist ein radikaler Unterschied von den organischen Gefügen greif-, bar. Ein Planetensystem besteht, einmal geworden, um so ungestörter, als es gegen alles außer ihm Seiende isoliert ist. Eine Blütenpflanze, losgelöst vom Boden, von Luft, Sonne, Regen, ja selbst von der im gleichen Raum verbreiteten Jnsektenwelt, ist nicht nur dem Untergange verfallen, sondern schlechterdings eine Abstraktion. Der Organismus lebt überhaupt nur aus seiner besonderen realen Umwelt heraus und in sie hinein. Außenkräfte, durch die sie ihre Umgebung mitbestimmen, haben auch die dynamischen Gefüge. Beim organischen Gefüge aber sind es seine eigensten, innersten und lebenswichtigsten Funktionen, die sich in die Umgebung hineinerstrecken. Sein Lebensprozeß ist eben kein rein innerer, er ist wesentlich Konnex mit der umgebenden Natur, ist Ausnutzung, Dienstbarmachung der Welt in einem gewissen Umkreise. Dieser Prozeß 1) Vgl. hierzu Helmuth Pletzner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S e il. 1928, 4. Kav., 2. H a r t m a n n , Philosophie der N atur

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ist von Hause aus .Leben in der Umwelt" und zugleich ein Mitgestalten der Umwelt — also ein Einbeziehen der Umwelt in den Kreis der eigenen Lebensfunktionen des Individuums, ein aktives Zueigenmachen und Sicheinpassen, dergestalt, daß der Organismus mit seiner nächsten Umgebung zusammen wiederum ein Ganzes eigener A rt und eigener geschlossener Funktionseinheit bildet. Ein solches Ganzes bildet jeder Baum mit dem Stück Erdboden, das er mit seinem Wurzelwerk aussaugt und anderen Bäumen streitig macht, jeder Singvogel mit dem W ald­ stück, in dem er nistet, jedes R aubtier mit seinem Jagdrevier»). Die dynamischen Eefüge ziehen eine Jndifferenzzone um sich herum, die zugleich ihre verschwimmende Grenze bildet. Die organischen Gefüge verschieben diese Zone weit über ihre Körpergrenze hinaus in ihre Um­ gebung. Und nur in diesem Sinne kann man bei ihnen von einer Jndifserenzzone sprechen, d.h. im S inne einer räumlich verschwimmenden Grenze, bis zu welcher der Lebenskreis eines Individuum s reicht. Denn der Leib hat scharfe Raumgrenzen. Dieser Lebenskreis ist seine wirkliche — nicht bloß subjektiv empfundene — Umwelt; er ist die Reichweite seiner in die Umgebung sich hineinerstreckenden Lebensfunktionen, beim Tiere also auch seiner spontanen Bewegung. D as Individuum zieht seine Lebenssphäre um sich her, indem es die Grenze seiner Lebendigkeit über sich hinaus verlegt, sie gleichsam exteriorisiert. E s erfüllt sie je nach feiner Organisation» seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten mit feinem Leben. Das geht bei vielen Lebewesen bis zum erbitterten Kampf mit den Artgenosien oder auch mit anderen Konkurrenten um die Lebenssphäre; und oft führt es zur Verdrängung des Gegners au s ihr oder zum eigenen Verdrängtwerden.

f. Lebenssphäre des Individuum s, Zentralität und Srlbsttransrendenr

Damit hängt weiter auch die Eigenart derjenigen „Zentralität" zu­ sammen, die das organische Gefüge auszeichnet. Sie besteht nicht im Vorhandensein eines zentralen Teils oder Organs; das träfe auf die höheren Pflanzen (fast alle vielzelligen) gar nicht zu. Aber sie besteht auch nicht in Zentraldetermination allein wie bei den dynamischen Ge­ fügen, die ja weder ein reales Zentrum zu haben, noch ein solches für ihre Umgebung zu sein brauchen. Der Organismus bringt es zu einer Zentralität anderer Art, indem er sich selbst zum Zentum einer Sphäre *) Der Term inus „Umwelt" ist hier nicht in dem heute geläufig gewordenen S in n e v. llexkülls gebraucht, sondern im ursprünglichen Wortstnne. Dieser m eint die umgebende W elt, w ie sie „ist", jener nur, wie sie dem Lebewesen gegeben ist oder erscheint. D ie Uexküllsche „Umwelt" ist für biologische Grundfragen viel zu eng. Denn m it seinen Lebensfunktionen angevabt ist ein Tier nicht a n sie, sondern an die umgebende wirkliche W elt.

macht, der er den Stempel seines Lebensbereichs aufprägt. E r bringt das dadurch zuwege, daß er das für ihn Relevante innerhalb dieser Sphäre auf seinen Lebensbedarf bezieht, d.h. es in seine Lebens­ funktionen einbezieht. D as lebende Individuum hat nicht nur sein In n eres „in sich", wie alle natürlichen Gefüge, denn nur die Bruchstücke haben es „außer sich" —, sondern prägt es auch seiner ganzen Lebenssphäre auf. E s paßt sich selbst zwar weitgehend dem Vorgefundenen an, wählt sich aber dabei doch seinen Ausschnitt aus dem Vorhandenen nach seinem eigenen Bedarf und prägt ihm sein Lebensgesetz aus, indem es ihn zu seiner Sphäre ge­ staltet. Und ebenso kann man sagen: es hat sein Äußeres nicht nur „an" sich, wie die anderen Gefüge auch, sondern auch weit „außer sich" in dem von ihm behaupteten und von ihm gestalteten Lebensraum. Und da das Außere die Äußerung seines Inneren ist, so beherrscht es mit seiner Z entral­ determination ein Stück Welt. Diese Formulierungen klingen vielleicht etwas übertrieben, sind es aber im Grunde nicht. Sie haben nur den Mangel von Bildern, die das Wesen der Sache nicht erschöpfen. D as eigentliche Geheimnis der Expanfivität, mit der ein Lebewesen seine Umgebung durchdringt und mit ihr ein Ganzes wird, kann man auf diese Weise nur einseitig fasten. M an mache sich aber als Probe auf das Exempel einmal klar, daß hier der Grund liegt, warum ein Tier außerhalb seiner Lebenssphäre —, etwa rm Käfig oder selbst noch int nachgeahmten Geländeausschnitt unserer zoologischen Gärten — so leicht armselig und verkommen wirkt. E s hört eben ohne seine Lebenssphäre auf zu sein, was es seinem Wesen und Artcharakter nach ist; es ist gleichsam nur noch ein Schatten seiner selbst, und es gehört schon viel Phantasie und mancherlei zoologisches Misten dazu, um in ihm noch etwas davon wiederzuerkennen, was es in seiner Sphäre eigentlich war. E s kann eben die künstlich ihm aufgezwungene Umgebung nicht zu seiner von ihm durchdrungenen Lebenssphäre machen. E s wirkt wie ein künstlich am Leben erhaltenes Bruchstück seiner selbst. Der Mensch reißt, ohne zu begreifen, was er tut, die subtil aufeinander abgestimmten Wesensstücke eines einheitlichen Lebensganzen ausein­ ander. Der Mensch tut sogar noch viel Schlimmeres, wenn er z. B. das Tier zu Kunststücken abrichtet, die seiner N atur widerstreiten. E s fehlt ihm eben der S inn für das Eigengesetz eines lebendigen Ganzen und vielleicht noch mehr die Achtung vor der ihm eigenen Vollkommenheit. M an kann dieses ganze Verhältnis auch so ausdrücken: das Leben des Individuums geht in der sichtbaren Gestalt des Organismus nicht auf; der Organismus ist eben nicht das in seiner Epidermis eingeschlostene, sondern von Anbeginn das über sich hinausreichende und in

seine reale Umwelt hineingespannte Wesen. Die Eegenglieder der Rela­ tionen, die seine Lebendigkeit ausmachen, liegen jenseits seiner Körper­ grenze. Kurz, das organische Gefüge ist das in seinen inneren Wesens­ funktionen stets zugleich außer sich seiende Wesen. D as widerstreitet nicht der gerade in ihm zur höchsten Form gelangten Geschlossenheit in sich. Diese Eeschlosienheit vielmehr ist im organischen Individuum von solcher Kraft, daß sie einen ganzen Umkreis der sie umgebenden kosmischen Welt in ihren B ann hineinzieht. Sie überträgt sich auf diesen Umkreis und dehnt dadurch die vom Individuum gezeich­ nete Lebenssphäre über das Körpervolumen aus. Eeschlosienheit und Außersichsein sind die sich ergänzenden Kehrseiten einer und derselben organischen Einheitsform. Der Organismus ist so das sich selbst räumlich transzendierende Wesen. M it dieser seiner Selbsttranszendenz überschreitet es endgültig den kategorialen Charakter des dynamischen Gefüges. Die Selbst­ transzendenz verhält sich zur Zentralität des Individuums wie das Außersichsein zur Eeschlosienheit. Das Individuum macht sich kraft seiner expansiven (umweltbestimmenden) Einheit zum Zentrum einer Lebens­ sphäre und damit überschreitet es seine scheinbar dingliche Begrenztheit. Seine Geschlossenheit ist nicht Abgeschlossenheit, seine Z entralität nicht Ausschließlichkeit. Darum ist auch seine Selbstüberschreitung kein Zer­ fließen, sein Außersichsein kein Sichverlieren.

g. Organische Aktivität

M it diesen kategorialen Bestimmungen erst — man könnte mit gutem Recht jede von ihnen als eigene Kategorie auszeichnen — wird der Aus­ blick auf den eigentlichen Charakter des organischen Gefüges, als auf die Grundform einer höheren Seinsschicht freigelegt. Denn es ist mit dem Lebendigen als Gegenstand der Erkenntnis nicht anders: die Analyse selbst muß sich die Gesichtspunkte, von denen aus es allererst faßbar wird, in behutsam vortastendem Suchen erringen. Sind die Gesichtspunkte phänomengerecht gewonnen, so fügen sich die Tatsachen von selbst in sie. E s wird darum auch im folgenden immer wieder das erste Gewicht auf der Gewinnung der Gesichtspunkte liegen. Die gesuchten Kategorien ergeben sich dann im Maße der Sehweite auf die Phänomene, die sich von ihnen aus eröffnet. Unter den besonderen Momenten der Selbsttranszendenz ist das am meisten in die Augen springende das der organischen Aktivität. Es ist auch das einzige, das sich noch vor der Einführung weiterer Kategorien direkt am Wesen des Individuums behandeln läßt.

Aktivität ist etwas anderes als Energie. Sie läßt sich weder im kau­ salen noch im dynamischen Verhältnis fassen. Die Energie folgt dem Gefälle, das ist ihr Gesetz. Die Aktivität folgt ihm nicht, sie hat ein ande­ res, vom spezifisch organischen Charakter des Gefüges her bestimmtes Gesetz. Auf eine Formel bringen läßt sich dieses Gesetz freilich nicht, wie übrigens die meisten Gesetze des Organischen. Seine Eigenart läßt sich daher nur deskriptiv angeben. M an kann die Aktivität wohl als ein W ir­ ken verstehen, nicht aber als ein bloßes Sich-Auswirken von Ursachen, und wenn sie noch so komplex wären. Sie läßt sich auch im Bereich des Orga­ nischen nicht einfach als Tätigkeit bezeichnen; das Wesentliche ist der Charakter der Selbsttätigkeit. Auf diesen letzteren nun wird man sehr drastisch gestoßen, wenn man dem Gegensatz zum Gesetz der Energie nachgeht. Selbsttätigkeit eines Ge­ bildes ist diejenige Wirkungsweise, welche den Zwang der physischen Ge­ fälle durchbricht, und den Prozeßen eine Eigenrichtung gibt, die nicht durch Spannungen der Umgebung ausgelöst wird, sondern ihrerseits nach M aß­ gabe innerer Verhältniße auslösend oder hemmend auf diese wirkt. Die inneren Verhältniße liegen hierbei in der Organisation des Individuum s; die Auslösung also kommt aus befielt eigenartiger organischer Zentral­ determination, die selbst wiederum eine nur dem Lebewesen als solchem innewohnende ist. Sie beschränkt sich aber keineswegs auf rein spontane Tätigkeit, sondern ist schon in aller organischen Reaktivität erkennbar, in Wirkungsweisen also, welche bloß Antwortakte auf äußere Einwirkungen, auf sog. „Reize" sind. Denn charakteristisch für jedes Verhältnis von Reiz und Reaktion ist gerade die energetische Unproportioniertheit. Die gering­ fügigste „Ursache" kann die größte Wirkung auslösen, und umgekehrt. Der Reiz ist eben in Wahrheit nicht die causa efficiens der Reaktion» und das Auslösen ist kein einfaches Bewirken. Hier ist vielmehr der ganz anders geartete Apparat der organisch-funktionalen Ganzheit eingeschaltes befielt aktives Einspringen durch den Reiz nur veranlaßt wird. Diese Form aktiven Bewirkens kann man organische Spontaneität nennen. Sie hat mit Begehren oder gar Wille nichts zu tun; dazu rückt die Spontaneität erst eine Seinsschicht höher, im Seelischen, auf. Wohl aber hat sie die Form der eigenen Richtunggebung, der „Tendenz". Wobei die Richtung nicht nur aus der Ganzheit des Gefüges heraus inhaltlich bestimmt ist, sondern auch aus der Ganzheit des Lebensprozefies heraus. Diese Form ist schon in aller einfachen Reaktivität enthalten, int Wachs­ tum, in den Tropismen u. a. nt., und sie geht durch bis in die hochentwickelte Eigenbeweglichkeit und die Jnstinkthandlungen der Tiere. Physisch ist Aktivität in diesem Sinne natürlich nur dadurch möglich, daß der Organismus eigene Energiereservoire anlegt, die er durch Aus­ nutzung fremder Naturenergie ständig auffüllt und in seiner Selbsttätigkeit

wieder abbaut. Die hohe Zweckmäßigkeit solcher Auswertung der Umwelt liegt auf der Hand. S ie ist natürlich nur möglich bei weitgehender An­ passung des Organism us an die gegebenen Verhältnisse. E s ist dieselbe Zweckmäßigkeit, die ja auch in der Richtunggebung selbst überall greifbar ist. Von ihr wird noch in anderem Zusammenhang zu reden sein, und zwar auf breiterer Phänomenbasis.

47. Kapitel. Der formbildende Prozeß a. D as Verhältnis von Stoff, Form und Proreh

D as organische Individuum ist die Erundkategorie der ersten Gruppe organologischer Kategorien, die weiteren vier Kategorien dieser Gruppe find Teilmomente an ihm. I h r Verhältnis zum Ganzen ist aber von der Art, daß die wichtigsten Wesenszüge des Individuum s erst in ihnen zum Vorschein kommen. Die ganze Kategoriengruppe bildet eben eine unlös­ liche Einheit, und alle Aufteilung in gesonderte Problemgebiete und ent­ sprechende Prinzipien ist nur eine Konzession an die Behandlungsweise. Von den restlichen vier Kategorien hat es die erste mit dem Prozeßcharakter der organischen Funktionen zu tun, die drei übrigen mit dem Wesen des organischen Gefüges als Prozeßgefüge. Die organischen Funktionen bestehen zwar keineswegs nur aus „formbildenden" (morphogenetischen) Prozessen, es gibt vielmehr auch die formabbauenden, sowie noch mannigfache andere Typen des Prozesses; wohl aber spielen die formaufbauenden Prozesse im Organismus eine führende und den gesamten Lebensprozeß besonders charakterisierende Rolle. Von der eigenartigen Korrelation zwischen organischer Form und organischem Prozeß war schon oben die Rede (Kap. 46 a). Nach ihr schei­ den sich die biologischen Forschungszweige in Morphologie und Physiologie und in deren weitere Verzweigungen. Beide arbeiten relativ selbständig, ja sogar m it einer gewissen Rücksichtslosigkeit gegeneinander, können sich aber gleichwohl nicht allzuweit voneinander entfernen, ohne abstrakt zu werden. Praktisch gilt im Gebäude der biologischen Wissenschaften die Seite der Form als grundlegend; daher die beherrschende Rolle der Anatomie für den Mediziner. Das ist aber ein P rim at von bloß methodologisch-didak­ tischer Art, objektiv begründet in den Eegebenheitsverhältnissen und der durch sie bestimmten ratio cognoscendi. Macht man aber, wie das dann leicht geschieht, aus der letzteren eine ratio essendi, meint man also, von der Form au s den Prozeß als eine ihr bloß anhängende und von ihr be­ stimmte Funktion verstehen zu können, so macht man aus einem frucht-

baren Methodenprinzip ein höchst ftagroiirbiges und durch nichts begrün­ detes Sachprinzip. Und damit verfälscht man mittelbar dann auch die Wege der Forschung. Praktisch ist ein solcher P rim at der Form in der heutigen biologischen Forschung ein überwundener Standpunkt. Und es wäre über ihn kein W ort weiter zu verlieren, wenn er nicht in einer anderen Korrelation seine Stütze hätte, in der von „Form und Stoff". Diese ist eine rein ontische und spielt im Organischen eine wesentliche Rolle, sofern alle orga­ nischen Formen sich materiell aus Bausteinen der anorganischen N rtur zusammensetzen, also aus kleineren Gefügen der niederen Seinsstufe. Das betrifft aber sehr wesentlich auch die organischen Funktionen. Denn die wichtigsten von diesen sind Stoffwechselprozesie. Dennoch bleibt das Verhältnis von Stoff und Form hier ein unter­ geordnetes. E s betrifft eben nur die Stufung der Gefüge. Und diese ist am Organismus, obgleich sie hier eine ganze Hierarchie bildet, doch nichts grundsätzlich Neues. Auch hier liegt wie bei den dynamischen Gefügen das Schema des Jneinandersteckens nach Größenordnungen zugrunde, das der ganzen N atur gemeinsam ist. Die besondere A rt aber, „wie" sich die organische Form dem anorga­ nischen „Stoff" überordnet, ist freilich ein Novum des organischen Ge­ füges als solchen. Dieses kategoriale Novum aber ist nicht von der Form allein au s zu fasten. E s wird erst am Prozeß sichtbar. Das Verhältnis, um das es hier geht, ist kein bloßes Strukturproblem, sondern ein Problem des Werdens, der Formbildung.

b. Beweglicher Stoff und bewegliche Form. Der Prim at des Prorestes

W äre die organische Form ein statisches Gebilde, von starrer Außenund Jnnenstruktur wie ein „Ding" (d. h. wie gewiste Bruchstücke dyna­ mischer Gefüge), so ließe sich das Stoffelement in ihr einfach als Baustein verstehen. Davon kann natürlich gar nicht die Rede sein, die Erstarrung wäre der Tod des Lebendigen. I n der lebenden organischen Form ist der Stoff ein ständig wechselnder Bestand von Elementen, die zwar zeitweilig Bausteine find, aber als solche vom organischen Gefüge nicht festgehalten, sondern ständig abgestoßen und durch neue ersetzt werden. Der Stoff selbst also steht hier in andauerndem Fluß, er wechselt; und die organische Form selbst hält diesen Fluß in Gang. Auf diese Weise wird im Organismus die Korrelation von Stoff und Form auf den zweiten P la n abgedrängt, und die andere Korrelation von Form und Prozeß wird ihr übergeordnet. I n dieser hat die Form nur das P riu s der Gegebenheit. Denn die organische Form ist etwas Räumliches

und als ein solches sichtbar; der Prozeß dagegen ist nicht nur unsichtbar, sondern auch verfeinerten Methoden nur teilweise zugänglich. Dafür hat gerade er das ontische Prius. D as hat seinen Grund nicht nur darin, daß das eigentliche „Leben" als solches Prozeßform hat, sondern mehr noch in der Tatsache, daß alle organische Form erst im Prozeß entsteht und in seinem Fortlaufen sich erhält. Der organische Prozeß — und zwar nicht nur er im Ganzen des individuellen Lebensprozesses, sondern auch gerade im Teilprozeß des ein­ zelnen O rgans — bildet sich erst seine ihm eigentümliche Organform. E r ist organisierender, aufbauender, morphogenetischer Prozeß. Die einzelnen Organe, von der Form aus als Teile oder Glieder kenntlich, sind vom Prozeß aus gesehen die spezifischen Funktionäre oder Funktionsformen der Teilprozesie des Lebensprozesses. Und das gerade ist an der Einrichtung ihrer Form erkennbar; denn nur auf die Funktion hin ist die Besonderheit organischer Form verständlich. Und dieses Ver­ hältnis intensiviert sich noch beträchtlich, wenn man bedenkt, daß die bestimmende Rolle der Funktion sich nicht auf das einmalige Hervor­ bringen der Organform beschränkt, sondern in ihrer Erhaltung und stän­ digen Erneuerung, ja in gewissen Lebensstadien sogar in charakteristischer Umbildung der Form sich fortsetzt. Diese Beweglichkeit der Form beruht aber schon auf der Beweglichkeit des Stoffes. Und hier ist der Punkt, an dem es durchsichtig wird, wie der Prozeß auch das Verhältnis von Form und Stoff beherrscht: indem er die Aufbauelemente der Form in stän­ digem Fluß erhält — gleich einem Strom, der die ganze Form unab­ lässig durchzieht —, erhält er auch die Form in Bewegung, erhält sie im Wachsen, Reifen, Erstarken oder im Schrumpfen. Denn bei stillstehenden Elementen würde sie bald erstarren. D as spiegelt sich getreulich im Verhältnis von Morphologie und P hy­ siologie. Jede von beiden hat ein anderes P riu s vor Augen. Erkennbar, erschließbar oder selbst erratbar wird die Funktion zunächst von der Form aus; aber begreifbar wird umgekehrt die Form stets erst von der Funktion aus. D as Begreifen eben ist der Rückgang der Erkenntnis auf die ratio essendi.

Und diese besagt: der Prozeß ist nicht ein Akzidens der Form, sondern eher noch ist die Form ein Akzidens des Prozesses. Sofern sich hier über­ haupt von einem Zugrundeliegenden sprechen läßt, muß es auf der Seite des Prozesses liegen, nicht auf der der Form, umgekehrt also, als man erwarten sollte. Das vom Dingverhältnis herkommende Bewußtsein zeigt sich immer bereit, im geformten Gebilde etwas Substantielles zu suchen, den Prozeß aber als etwas nur „an" diesem Verlaufendes zu verstehen. Damit verkennt es den für alles Lebendige charakteristischen P rim at des Prozesses.

Dieser P rim at besteht unabweisbar zu Recht, weil das Leben die Form eines Prozesses hat, das sichtbare Gebilde aber nur durch diesen ein lebendiges ist. I n zugespitzter Form könnte man sagen: nicht der O rganis­ mus ist Träger des Lebens, sondern das Leben ist Träger des Organis­ mus. D as ist eine Formel, die sich ohne Schwierigkeiten dem Gesamtbilde der Dynamik in der anorganischen N atur einfügen würde. Indessen, wie alle Zuspitzungen geht auch diese zu weit: solche Be­ griffe wie „Träger" und „Getragenes" oder Zugrundeliegendes und An­ haftendes sind hier nicht mehr am Platze. W as im Lebewesen wirklich der Substanz vergleichbar, wennschon nicht verwandt ist, der eigentliche Erhaltungsmodus, das beruht auf etwas ganz anderem und darf auch nicht dem Prozeß subsistierend vorgestellt werden, weil es vielmehr sein eigenes Sicherhalten ist. Das aber gehört in eine andere Kategorie. c. Der selbsttätig aufbauende Prozeh und das sich selbst erbauende Gefüge

Bringt man das aufgefundene Verhältnis unter Vermeidung schiefer Bilder auf sein natürliches M aß zurück, so läßt sich jetzt sagen: das eigentliche Geheimnis der organischen Form ist dieses, daß sie die im Prozeß entstehende, von ihm gebildete und aufrechterhaltene Form ist. D as widerspricht keineswegs dem, daß sie, einmal entstanden, auch ihrer­ seits wiederum den Prozeß mitbestimmt, ihre Funktion in ihm übernimmt und ihn in Gang erhält. Dieses Wechselspiel von gegenseitiger Bedingtheit der spezifischen Form und des spezifischen Prozesses, das alles weitere beherrscht, ist vielmehr selbst ein gewordenes, d. h. ein im Prozeß ent­ standenes; gerade so wie es auch ein im Prozeß sich wieder auf­ lösendes ist. F ü r den Prozeß aber bedeutet es dieses, daß er von Hause aus form­ bildender Prozeß, Morphogenese, ist. Auch diese Formulierung ist in richtiger Begrenzung zu verstehen. Selbstverständlich sind nicht alle orga­ nischen Prozesse formbildend, sondern nur einige; diese aber sind die alles tragenden, die aufbauenden und eigentlich organisierenden Prozesse, durch die allererst ein lebendes Gebilde zustande kommt. Auf sie kommt es darum in erster Linie an. Ihnen stehen abbauende Prozesse gegenüber, die neben ihnen herlaufen. Im größeren Zusammenhang des Eesamtprozesses kommt freilich auch ihnen eine mittelbar morphogenetifche Rolle zu; denn nur bei ständigem Abbau der Form wird ihre Abänderung oder Um­ bildung möglich. Ohne Umbildung aber läßt sich ein hochkompliziertes Ganzes nicht höher hinaufbilden. Im m erhin sind die abbauenden Prozesse im Ineinandergreifen der organischen Vorgänge nur Sekundärprozesse, sie find bedingt durch die aufbauenden und von ihnen her bestimmt. M an kann das auch so aus-

drücken: nur sofern die Selbstauslösung der gebildeten Form mit zu ihrer Lebendigkeit gehört — und zwar nicht nur als die endgültige im Tode des Individuums, sondern gerade als die fortlaufende und ständig den Aufbau begleitende — zählen die nicht morphogenetischen Prozesse mit zu den Teilprozessen des Lebens. Der formbildende Grundcharakter ist für alle Stufen des organischen Prozesses maßgebend. E r ist keineswegs auf den Vorgang der Ontogenese, d.h. auf den Makroprozeß der Embryonalentwickelung, des Wachstums und der Reifung vielzelliger Individuen beschränkt. Er ist auch deutlich erkennbar in den Asfimilationsvorgängen der Stoffaufnahme und Stoff­ verarbeitung. Und zwar tritt er ebensosehr in der primären Assimilation des organischen Stoffes durch das pflanzliche P lasm a zutage, wie in der sekundären des pflanzlichen Stoffes durch das tierische Plasm a. Denn in der letzteren wird die organische Form zunächst wieder abgebaut, um den Stoff zu neuer Form herzugeben. Die Herausbildung des Stoffes zu höhe­ rer Form ist also in beiden Fällen grundsätzlich die gleiche. Der Organismus ist im Gegensatz zu den bloß dynamischen Gefügen das sich selbst erbauende Gefüge. Diese einzigartige Bestimmung an ihm ist identisch mit dem morphogenetischen Charakter der wesentlichen Grundprozesse im Gesamtprozeß des individuellen Lebens. W ir kennen die organische Form überhaupt nicht anders a ls int Werden. Der aufsteigende Ast ihres Werdeganges ist auch als Eesamtvorgang ein formbildender Prozeß. D as unterscheidet den organischen Prozeß radikal von allen anderen Arten des Prozesies. Aufbauende und abbauende Vorgänge gibt es wohl auch in den dynamischen Gefügen, wie etwa die Entstehung chemischer Verbindungen und ihre Auflösung; aber die bestimmenden Bedingungen sind nicht die des Gefüges selbst, sondern solche der umgebenden Verhältnisse und der Elemente. Der organische Prozeß aber ist der selbsttätig aufbauende, und zwar der die bestimmte Form aufbauende Prozeß. Wohl ist auch er von äußeren Verhältnissen der Um­ gebung mitbedingt, nicht aber in seiner Richtung und seiner formbildenden Leistung durch sie bestimmt. E r eben ist, w as anorganische Prozesie nie sind, auf die Form hin an­ gelegt und funktioniert aus diesem Angelegtsein heraus. D as ist es, was man auch so formuliert hat: er ist der vom Ganzen her bestimmte und insofern formgeleitete Prozeß. Die Formulierung freilich ist mit Vorsicht zu nehmen, denn das „Ganze" ist die entfaltete Form, die int Prozeß erst zustande kommt. Nimmt man also das Bestimmtsein vom Ganzen her buch­ stäblich, so müßte der Prozeß von seinem Endstadium her geleitet werden, was ihn zu einem final determinierten Prozeß machen würde. Damit wäre eine Lösung seiner Rätsel vorweggenommen, die unabsehbare meta­ physische Konsequenzen nach sich zöge.

Die große Hauptfrage, die hier übrig bleibt, ist vielmehr die: wie kann ein Prozetz auf die in ihm erst entstehende Form hin „angelegt" sein, ohne diese wie einen Endzweck zu verfolgen? Denn in der Tat, von -außen gesehen, macht der morphogenetische Prozeß in seiner eindeutigen Ausrichtung auf die entstehende organische Form unweigerlich den Eindruck eines Finalprozesies, als wäre er vom Endstadium her wie von einem vorgeschriebenen Ziele determiniert. Und dieses Phänomen ist um so aus­ fallender, je höher hinauf in der Stufenfolge der organisch ausbauenden Prozesse man sich umschaut. Es ist z.B . am ontogenetischen Werdegange des vielzelligen Individuums um vieles eindrucksvoller als an der Assi­ milation des aufgenommenen Nährstoffs. Die billigen Populärtheorien, zu denen auch die meisten Arten des Vitalismus gehören, haben auf Grund solcher Phänomene ohne Bedenken die organische Form zur causa finalis gemacht. Sie haben damit das eigentliche Geheimnis der Morpho­ genese von Grund aus verfehlt. W as hinter dem scheinbar teleologischen Verhältnis steckt, ist vom Prozeßproblem in dieser Allgemeinheit au s noch gar nicht zu entscheiden. Z ur Behandlung dieser Frage bedarf es noch anderer Kategorien.

d. Der zwischen Form und Form eingespannte Prozeb

Der zuletzt berührten Frage kann somit hier nicht vorgegriffen werden. Soviel aber ersieht man doch auch ohne alle Vorwegnähme, daß es sich in den Formbildungsvorgängen um ein eigenartiges Wechselverhültnis von organischem Prozeß und organischer Form handelt. Der Prozeß läuft ja nicht so von ohngefähr auf die Form zu, sondern bringt die Richtung auf sie schon aus seinen Anfängen mit. Das ist offen­ bar n u r möglich, wenn er schon von derselben Form ausgeht, die er in seinem Verlaufe wieder hervorbringt. Und dieses Verhältnis ist es denn «uch, das wir wirklich überall vorfinden, wo wir dem morphogenetischen Prozeß begegnen: er ist nicht einfacher Bildungsprozeß, sondern WiederLildungsprozeß. S o ist es in der Assimilation des Stoffes, so in der Ontogenese des Individuum s. Dort geht der Prozeß vom organisierten P lasm a aus und bildet den aufgenommenen Stoff zu desien organischer Struktur herauf; hier geht er vom voll entwickelten elterlichen Individuum aus und bildet desien organische Gesamtform wieder. I n beiden Fällen ist es dasselbe Bild des Ausgehens von ebenderselben Form, die er hervorbringt. Und ohne solchen Ausgang bringt er sie offenbar auch nicht hervor. Dieses Ausgehen von der Form, so sehr es weitere Rätsel birgt, zeigt doch, daß der P rim at des Prozesies kein so unbedingter ist, wie es anfangs scheinen konnte. Hier scheint sich doch wieder die Form dem Prozeß über-

zuordnen. Freilich wird man nun diese Überordnung erst recht nicht absolut nehmen dürfen; die Wahrheit dürfte ein Verhältnis der Wechselbedingt­ heit sein, für welches vielleicht die M ittel einer adäquaten Fassung noch fehlen. Einstweilen ist aber doch für den aufbauenden Prozeß eine neue Be­ stimmung herausgesprungen: er ist nicht ein fortlaufender, von immer wieder anderen llrsachenkomplexen vorwärtsgetriebener, sondern ein fest zwischen Form und Form verlaufender, gleichsam zwischen zwei inhalts­ gleiche Formstadien eingespannter und von ihnen begrenzter Prozeß. Diese Eingespanntheit ist die einfache Kehrseite des „wiederbildenden" (reproduk­ tiven) Eharakters im morphogenetifchen Prozeß. Wiederbildung kann zwar a n sich auch von neuen Kollokationen aus­ gehen, je nachdem wie sie sich zusammenfinden; dann aber ist die Wieder­ bildung eine vom Gefüge aus zufällige. Die dynamischen Gefüge bilden, sich immerfort auf diese Weise wieder. Der Organismus aber ist schon mit seiner Erhaltung allein auf selbsttätige Wiederbildung angewiesen, weil er sich selbst verbraucht, d. h. in abbauenden Prozessen das Aufgebaute verliert. Die Selbsttätigkeit der Wiederbildung ist aber geknüpft an da» Ausgehen von der Form und damit an das Eingespanntsein zwischen Form und Form. Der morphogenetische Prozeß kann also sehr wohl das Prinzip der Form, die er bildet, von Anbeginn als Anlage enthalten, denn er geht tatsächlich von ihr aus. Und dieses „Enthalten" könnte die Richtungsfestigkeit in ihm ausmachen, auch ohne daß man diese final zu verstehen brauchte. D as große Rätsel dabei bleibt nur, was eigentlich das Angelegt­ sein der Form in ihm bedeutet. Denn explizit hat er die Form nicht an sich, die Mehrzahl seiner Stadien (etwa in der Entwickelung des Embryo) weicht weit von ihr ab, ist ihr ganz unähnlich. Darin aber, „wie" ein Anlagesystem die Form hervortreiben kann, die so gar nicht inhalts­ identisch mit ihm ist, und wie überhaupt durch eine ganze Reihe unähn­ licher Stadien der Prozeß seine Richtung auf die Form halten kann, be­ steht das Problem der spezifisch organischen Determination. E s läge vielleicht nah, Form und Prozeß als „Äußeres und In n eres" zu verstehen, wie das in gewissen Grenzen auf die dynamischen Gefüge zutrifft. Am Organismus aber ist das nicht möglich: die Form wie der Prozeß sind, jedes in seiner Weise, zugleich das Äußere und das Innere des Lebewesens. Der Organismus ist eben nicht nur die in ihren Raum ­ grenzen bestehende äußere Gestalt; er ist ebensosehr die innere Durchformtheit bis in die kleinsten Bestandteile der Organe, der Zellen, des Plasm as. Und da die Organformen die Körperkonturen wesentlich bestimmen, ja in ihnen sogar angenähert „erscheinen" können, so ist hier die äußere Form in einem sehr buchstäblichen Sinne die Äußerung des Inneren.

Dasselbe gilt aber auch vom Prozeß. Auch der im äußeren Verhalten des Individuum s erscheinende Lebensprozeß — im Wachsen und Keimen, im Blühen der Pflanze, in der Selbstbewegung des Tieres — ist die Äuße­ rung eines ganzen Gefüges ineinandergreifender innerer Vorgänge. Und d a ein wesentlicher Teil dieser Prozesse formbildend und zugleich formbestimmt ist, so fällt das Jnnen-Außen-Verhältnis des Prozesses mit dem der Form im Ganzen zusammen. Jede Betrachtung von organischer Form ohne den formbildenden Prozeß bleibt abstrakt; jede Betrachtung des Prozesses ohne die richtung­ gebende Form verfehlt das eigentliche Wesen des Prozesses» nämlich daß er ein Lebensvorgang ist. Tatsächlich sieht ja auch der Mensch, wo über­ haupt er Lebensvorgänge erfaßt, beides ineins. Nur die äußere W ahr­ nehmung bevorzugt die Form, weil diese wenigstens als äußere ihr direkt zugänglich ist. Insofern bleibt der P rim at des Prozesses ein einseitiger Aspekt. M an kann weder sagen, der Prozeß sei Funktion der Form, noch die Form sei Funktion des Prozesses. Vielmehr beides zusammen ist das Erundverhältnis: die Form ist von Hause aus nur funktionale Form, der Prozeß aber formbildender Prozeß. Eines steht als Funktion des andern da. Die Wechselbedingtheit ist eine vollständige.

48. Kapitel. D a s Widerspiel der Prozesse a. Die sich selbst verbrauchende und erneuernde Form

Der formbildende Prozeß beherrscht den Organismus im Kleinen wie im Großen. E r baut die Kolloide des Protoplasm as auf, baut die Zelle m it ihren Organen, baut die Gestalten der Vielzelligen. Schon die erste Bindung des Kohlenstoffes in den grünen Pflanzenteilen ist morphogenetischer Prozeß, und dasselbe gilt von anderen primären Vindungsprozessen, wie manche Bakterien sie vollziehen. W as hier zustande kommt, ist zwar nur eine chemische Synthese; aber es ist eine solche, wie in der freien N atur nur der Organismus sie zustande bringt; und ihr Produkt ist Grundlage alles höheren Aufbaus. Dementsprechend Lberschichten sich die morphogenetischen Einzelprozesse int Organismus. Sie bilden eine Stufenfolge, und zwar so, daß immer der nächsthöhere Formungsprozeß die Produkte des niederen übernimmt und aus ihnen — auch wenn er sie teilweise wieder abbauen muß — den Stoff der höheren Formung entnimmt. So ist schon die Assimilation ein gestufter Prozeß, und darum hat man folgerichtig chemische und morphologische Assimilation unterschieden. Der Aufbau organischer Moleküle von

spezifischer A rt geht offenbar dem Ausbau der Zellstruktur voraus. Diese Ilberschichtung von Stufen der Morphogenese setzt sich in den höheren. Formen der Vielzelligen fort. So kommt es durch sie zur Entstehung jettet Hochkomplexen organischen Formen, die dem beginnenden Verstehen wie ein Wunder erscheinen und allen Eindringens zu spotten scheinen. Aber es handelt sich im organischen Gefüge nicht um einen einmaligen Aufbau, der zu bestimmter Zeit zu Ende käme und dann von selbst fort­ bestehen könnte, sondern um ständigen Wiederaufbau. Das bedeutet: der Aufbauprozeh im Individuum kommt nie zum Abschluß, er ist ununter­ brochenes Bauen, das nicht abreißt, solange das Individuum lebt. Denn dem formaufbauenden Prozeß entspricht auf allen Stufen ein formabbauender, und die dauernde Formbildung selbst wird durch den Abbau in Gang gehalten. So stellt sich ein Widerspiel der Prozesse her, und zwar gleichfalls auf allen Stufen. Von der Form aus gesehen ist es das ständige Widerspiel von Zerfall und Ersatz; vom Prozeß au s gesehen ist es ein Gefüge komplementärer Teilprozesse, die sich gegenseitig in Gang halten und sich in ihren Leistungen ausgleichen. Dieses Moment des Widerspiels komplementärer Prozesse ist ein Zote» zonales Grundmoment aller organischen Gefüge und steht daher mit Recht als eine eigene Kategorie neben dem morphogenetischen Prozeß. Denn was sich im Widerspiel der Prozesse erhält, ist nichts Geringeres als d as Leben selbst. M an kann freilich auch sagen, daß sich dabei die Form er­ hält; aber diese Erhaltung ist nur eine partiale, denn in demselben Wider­ spiel der Prozesse verändert sich die Form auch, und mit ihr verändern sich in gewissen Grenzen auch die Prozesse selbst. W as sich wirklich streng erhält, ist durchaus nur das individuelle Leben selbst, oder was dasselbe ist, das lebende Individuum. D as Leben läuft fort» indem das Widerspiel der Prozesse fortläuft. Denn das Leben ist nicht ein dritter Prozeß „hinter" dem Widerspiel des aufbauenden und des abbauenden Prozesses, oder auch „über" ihm, sondern es besteht wesentlich in ihm. Ob es auch darin aufgeht, ist eine andere Frage. Die lebende Form ist von der des physisch-dynamischen Gefüges da­ durch radikal unterschieden, daß sie die ununterbrochen zerfallende und ebenso ununterbrochen sich wiederbildende Form ist. E s gibt an ihr keine bloß energetisch verstehbare Formträgheit, kein passives Bestehenbleiben, kein bloßes Weiterlaufen des Lebens mit dem einmal erteilten „Schwung". Es gibt an ihr nur die aktive Erhaltung im Widerspiel von selbsttätigem Zerfall und ebenso selbsttätigem Wiederaufbau. Darum ist auch ihre Auflösung nicht auf ein Endstadium beschränkt. I n der T at ist der Tod nicht bloß ihr Ende. Sie hat ihn zeitlebens an sich, sie ist die ununterbrochen „sterbende" Form. Und dieser ständige Zerfall läuft nicht etwa bloß auf Grund äußerer Ursachen fort, sondern

auf Grund ihres eigenen Sichverbrauchens. Denn sie ist die im Prozeß Stehende und in ihm sich selbst auflösende Form. Das eben heißt es, daß sie die sich selbst verbrauchende Form ist. Diese Seite ihres Wesens ist ihre innere Bedrohtheit, das Todgeweiht­ sein des Individuum s von Anbeginn, gleichsam die Seite des Todes am Leben selbst; zugleich aber auch die Nötigung zu ebenso ständiger Selbst­ erneuerung. I n diesem Zusammenhang erst gewinnt der morphogenetische Prozeß sein volles Gewicht. Er ist das permanente Gegengewicht gegen das innere Moment des Todes im lebenden Individuum. E r erschöpft sich also nicht im bloßen Aufbauen der organischen Form, sondern ist die stän­ dige Wiederbildung der sich selbst verbrauchenden Form. Und sofern er gerade in eminent selbsttätiger Leistung besteht, kann man auch sagen: er ist das Gegengewicht, das die lebende Form ihrer eigenen Selbstauslösung aktiv entgegensetzt. Auf diese Weise ist er das funktionale Kernstück des Lebensprozesses selbst, ist ganz in diesen hineingenommen, ist identisch mit der synthetischen Seite in ihm. Vermöge des morphogenetische» Prozesses ist die sich selbst ver­ brauchende Form zugleich die sich selbst ersetzende und wiederbildende Form. Das bedeutet: sie ist von Hause aus „formende" oder „form­ tätige" Form. Damit tritt noch einmal in anderem Lichte die Aktivi­ tät des organischen Gefüges in Erscheinung. Sie ist in erster Linie nicht Aktivität nach außen, sondern nach innen, Aktivität des Organismus „an" sich selbst: sie schafft sein eigenes Fortbestehen. Sie geht auch nicht auf im ständigen Heranschaffen und Speichern von Energie, die dann im Lebens­ prozeß verbraucht wird; ihr Hauptmoment ist vielmehr der Umsatz dieser an sich bloß physischen Energie in den Aufbau der organischen Form. Dieser Aufbau aber dauert fort, solange das Individuum lebt.

b. Assimilation und Dissimilation

Physisch betrachtet besteht der Lebensprozeß im Stoffwechsel. Nicht nur die Nahrungsaufnahme (Intussusception) und Ausscheidung gehören hierher, sondern mehr noch die hochdifferenzierten Teilprozesie des Stoff­ austauschs, die sich im In n e rn des Organismus vollziehen, von den „Osmosen" der Zellen bis zum Verbrennungsprozeß in der Atmung, ja bis zur Bildung spezifischer Drüsensekrete. Selbst die Leitungsprozesie im Nervensystem gehen noch auf der Basis des Stoffwechsels vor sich. Der Organismus ist ein Gefüge, in dem die größeren Teile, die Organe, sich gleich dem Ganzen erhalten, während die kleinsten Aufbau­ elemente ständig wechseln, ja geradezu in einem ununterbrochenen Durch­ ström begriffen find. I n wenigen Jahren schon wechselt der Menschen­ körper die gesamte Stoffmasie, in den meisten Teilen schon in einigen

Monaten, in der Epidermis in wenigen Tagen. Ähnliches gilt im Kleinen schon vom einzelligen Organismus, desgleichen von den Zellen im Ver­ bände des vielzelligen Körpers, nur daß in der Zelle der Stoff um vieles schneller wechselt. Dieses Hindurchströmen der M aterie durch den ganzen räumlich­ materiellen Bestand des Organismus ist kein Fluß, in den er passiv ein­ geschaltet wäre, wie etwa ein Kanalsystem sich in einen Flußlauf ein­ schalten läßt; der Organismus vielmehr bringt ihn aktiv in Gang und hält ihn in Gang, er scheidet selbsttätig aus und ersetzt das Ausge­ schiedene selbsttätig durch Aufnahme. Der Durchstrom ist ein von ihm selbst vollzogenes Ansichziehen und Abstoßen des Stoffes, wobei dieser vom Organismus aufs genaueste ausgelesen wird. Der ganze Vorgang ist wohl ein mit physischer Energie arbeitender, aber doch keineswegs ein energetischer Prozeß, der einem Gefälle folgte, sondern von viel höherer Determination geleitet. Das besagt die oben gebrachte Formel, daß er ein aktiv von der lebenden Form vollzogener und von ihr dauernd be­ stimmter Prozeß ist. Die bloße Aufnahme und Ausscheidung ist in diesem Prozeß nur das Äußere. W as in ihm eigentlich geschieht, ist ein anderes Widerfpiel mit weit höheren Leistungen, das Widerspiel von Assimilation und Dissimila­ tion. Die erstere ist auf dieser Stufe der formaufbauende (morphogenetifche) Prozeß die letztere der formabbauende. Die Assimilation arbeitet nicht wie ein maschineller Vorgang; sie zieht nicht einfach die aufgespeicherte Energie der niederen Gefüge, der Mole­ küle, an sich, um sie zu verbrauchen. S ie formt vielmehr aus diesen Gefügen Gebilde höherer Ordnung. I h r Wirken ist ein Hinaufformen des Auf­ genommenen. Und ebenso ist die Dissimilation nicht einfach das Abstoßen von Abfallsprodukten, sondern teils Rückbildung des organisch hochüberformten Stoffes in die elementarere Form, teils Ablagerung des dem Organismus selbst nötigen Aufbaustoffes. D as Ausschlaggebende hierbei ist aber die inhaltliche Bestimmtheit derjenigen Form, zu der die Assimilation die niederen Gefüge hinauf­ formt ; sie formt diese eben nicht zu beliebiger Struktur hinauf, sondern zu sehr bestimmter, nämlich zu der eigenen organischen Struktur des assimilierenden Körpers, ja zu der eines bestimmten Teiles. D as erst ist der volle Sinn dieses geheimnisvollen Vorganges und zu­ gleich die strenge Bedeutung des Wortes „Assimilation", d. h. „Ahnlichmachung". I n diesem Prozeß bildet der Organismus den Stoff, den e r aufgenommen hat, „zu sich heran", nämlich zu seiner eigenen Struktur. E r macht ihn sich ähnlich, macht aus ihm das gleiche, was er selbst (oder ein Teil von ihm) ist. So bildet er sich selbst aus ihm wieder. Der Orga­ nism us nimmt den Stoff auf, um ihn sich anzugleichen. Und damit gleicht er aus, was ihm durch den ständigen Selbstoerbrauch abgeht.

Das Rätselhafte in diesem Vorgang ist die Art, wie die lebende „Form" es zustande bringt, den ihr unähnlichen Stoff sich „anzugleichen". E s steckt eben schon das Wunder der Morphogenese in der formenden Aktivität der lebendigen Form. Sie ist es, die aus dem Stoff das ihr Gleiche bildet. Der Stoff von sich aus tut es nicht; derselbe Stoff wird ja auch von anderen Organismen zu anderer Form hinaufgebildet. Er ist von sich aus ganz offenbar indifferent gegen die Form, in die er einbezogen wird. Deutlich tritt auch hier wieder in Erscheinung, wie die Form den Prozeß bestimmt, dieser aber seinerseits die Form wieder hervorbringt, wie also der Prozeß zwischen Form und Form eingespannt ist. Und das nicht etwa erst in den größeren Wiederbildungsprozesien, die das Individuum als ganzes reproduzieren, sondern schon in der einfachen Verarbeitung des Stoffes, in der fortlaufenden Ersatzfunktion des individuellen Lebens, die w ir Ernährung nennen. Lange bevor es einen Begriff der Assimilation gab, hat Aristoteles dieses Verhältnis gesehen und in seinen Begriffen so ausgesprochen: nicht die Nahrung nährt, sondern die „Seele". Letztere ist als Mtalseele ver­ standen, d. h. als die bewegende und richtunggebende K raft der Lebens­ vorgänge. Freilich liegt darin auch das Vorurteil, als ließe sich die Richtunggebung nach Analogie menschlich bewußter Zwecktätigkeit verst hen, und insofern war denn auch das Problem der Ernährung in dieser Formel keineswegs getroffen. Getroffen war nur die andere Seite der Sache: daß nicht der Stoff die eigentliche Leistung in der Ernährung vollzieht, sondern der Organismus selbst, und zwar in einer sormeiüren Funktion, wie nur er selbst sie zu leisten vermag.

c. Die morvbogenetische Aktivität des Plasmas Dynamische Gefüge bilden sich nicht wieder. Sie bilden auch nicht nach, was ihnen verloren geht. Sie kennen freilich auch nicht die ständige, mit zur eigenen Seinsweise gehörige Selbstauslösung. Sie brauchen also auch die fortlaufende Wiederbildung nicht. Wie aber ist es mit einem Gebilde, das sich selbsttätig auflöst und also der ständigen Wiederbildung bedarf? Ein solches Gebilde muß schon eine ganz eigenartige Wirkung auf den Stoff ausüben, auf Gefüge niederer Ordnung also. Diese geben ja nur die physische Energie her. Von sich aus treibt die Energie nicht zur höheren Form hin, weder zu den Kolloiden des P lasm as noch zur Zellenform oder gar höher hinauf. S ie wird vielmehr von der höheren Form des lebenden P lasm as erfaßt und auf diese Gebilde hingelenkt. Diese erfasiende und hinlenkende Funktion muß schon den kleinsten lebenden Teilen H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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eigen fein; denn von ihnen und an sie wird innerhalb des Organism us der aufgenommene Stoff herangebildet. Die Aufbauprozeffe größeren S tils fußen also bereits auf diesem elementaren Vorgang. Um diesen Vorgang handelt es sich in der Assimilation. Darum ist es nicht möglich, ihn bloß energetisch zu nerstehen, soviel auch die physio­ logische Chemie unserer Tage zu seiner Klärung beigetragen hat. Die chemische Seite des Vorganges wird in der T at weitgehend auf diese Weise ersaßt, sogar bis tief in die quantitativen Verhältnisse des Stoff­ umsatzes hinein; aber es ist eben nur eine Seite. Alles übrige, vor allem die große Frage, warum denn die stoffliche Synthese gerade zu solchen, sehr bestimmten und in jedem Teil wieder anderen Verbindungen führt, bleibt dabei ungelöst, und alle Antworten, die man dafür sucht, bleiben rein deskriptiv, vom Resultat des Prozesses au s gewonnene. E s ist oft versucht worden, auch die Lebendigkeit des Gebildes selbst, der man diese geheimnisvolle Wirkung zuschreibt, als eine unter anderen Energieformen zu verstehen, als eine höhere und differenziertere natürlich. Aber damit ist nichts gewonnen. Der Energiebegriff ist nur verschoben, ist über Gebühr erweitert und zeigt nun eine gewisse Verschwommenheit. D as Rätsel der spezifisch organischen Funktion in der Assimilation ist dadurch nicht faß­ barer gemacht, sondern eher noch unzugänglicher geworden. An dieser Funktion aber — man könnte sagen, an der Urfunktion der Lebendigkeit, denn das ist die assimilierende Aktivität — hängt hier so gut wie alles. Sie selbst ist die fortgesetzte Nachbildung der einmal vor­ gebildeten und am Organismus vorbestehenden Form. Und diese letztere ist das Lebendige. Die physische Form als solche, wie hochdifferenziert sie sein mag, assimiliert nicht. Das vom Chemiker im Laboratorium syn­ thetisch hergestellte Eiweiß hat keine aktive Angleichungskraft. E s ist kein lebendes P lasm a. Denn daß es nicht assimiliert und daß es nicht „lebt", ist ein und dasselbe. Die Assimilation ist eine eminent aktive Funktion. Nur das lebende P lasm a hat die Aktivität des Assimilierens: diese einzigartige Fähigkeit, den aufgenommenen Stoff zur eigenen inneren Feinstruktur heranzubilden und neues lebendes P lasm a entstehen zu lassen. Im Grunde ist das sogar ein tautologischer Satz. Denn das „Leben" des P lasm as besteht wesentlich im Assimilieren. E s ist ein Irrtu m , die Aktivität erst bei den großen, hochkomplex auf­ gebauten Organismen zu suchen. Schon das scheinbar strukturlose P roto­ plasma hat sie. Es ist eben selbst schon ein funktional durchgeformtes Gefüge mit eigener Wiederbildungskraft. Damit verschiebt sich der Begriff des „Plasm a", was ja soviel wie „Gebilde" heißt. Es handelt sich in ihm gar nicht bloß um das Produkt der Formbildung, sondern zugleich noch um die bildende Instanz, den „Bildner". Es ist beides ineins: bildnerisches

Gebilde. Dem suchte seinerzeit Wilhelm Roux Rechnung zu tragen, indem er das „Plasm a" zugleich als aktives „Plasion" (Bildendes) und, im Hinblick auf die Wiederbildung des „Gleichen", als „Jsoplasson" (Gleichbildner) bezeichnete. Auch andere haben nach einem Ausdruck für die Aktivität der Angleichungssunktion gesucht; so nannte Hackel sie „plasmodom", d. h. „P lasm a aufbauend". Diese beiden Zeugen sind an dem Problempunkte, wo es um die Eigenart der organischen Erundfunktion geht, von besonderem Jnteresie; denn beide neigten sonst zu mechanistischer Auffassung. Analysieren können wir diesen Bildungsprozeß nur nach der chemischen Seite, und die belehrt nicht über das aktive Moment in ihm. Im Bereich des Erfahrbaren gibt es auch nichts, nach dessen Analogie wir die aktive Strukturangleichung verstehen könnten. Das eigentliche Erundmoment in der Assimilation ist der eindringenden Analyse einstweilen unzugäng­ lich geblieben.

49. Kapitel. Formgefüge und Prozehgesüge

a. Zweiheit der Afvekte und Einheit des Gefüaes Schon die dynamischen Gefüge zeigten den doppelten Charakter, daß sie zugleich Gefüge der Formen (ihrer Teile oder Glieder) und Gefüge der Prozesie sind. Und auch dort beruhte das Gefüge der Prozesse auf einem Widerspiel, sei es nun der Prozesie selbst oder der dahinterstehenden Kräfte. Aber die Stabilität der Form war dort nur eine Gleichgewichtslage der Kräfte, die solange fortbesteht, als die sich entgegenwirkenden Kräfte sich ausgleichen. Die Prozesie selbst folgen dem Gefälle und hören auf, wenn dieses erschöpft ist. I m Organismus ist das Verhältnis von Formgefüge und Prozeßgefüge ein fo ganz anderes, weil die Formen — zumal die der Klein­ struktur — zugleich formtätig, die Prozesie aber formbildend sind und überdies nicht dem Gefälle allein folgen, sondern ihre Eigenrichtung mit­ bringen. Der Lebensprozeß erschöpft sich darum nicht mit einem gegebenen Energievorrat. Er schafft in seinen Teilprozesien die Energiemenge, deren er bedarf, selbst heran. Freilich tut er das durch Ausnutzung gegebener Energie, durch Aufnahme und Umsatz; man denke etwa daran, wie die chlorophyllhaltigen Pflanzenteile die Strahlungsenergie der Sonne zum Aufbau von Stärke ausnutzen. Aber die A rt der Aufnahme ist aktiv, ein selbsttätiges Aufsuchen und Verwerten, sinnfällig und gemeinverständlich im Nahrungsuchen der Tiere. Die organische Form hat deswegen eine andere Stabilität. Sie erhält sich durch selbsttätige Wiederbildung des Ver­ brauchten.

Bedenkt man nun, daß die wiederbildenden Funktionen bis in die äußere Heranschaffung des Nährstoffes formgeleitete Prozesse find, so er» gibt sich offenbar ein ganz anderes Verhältnis von Formgefüge und Prozeßgefüge: jenes ist auch als Ganzes die bestimmende Instanz der Prozesse und dieses auch in den Einzelheiten die Aktivität der Form. D as V erhältnis ist ganz und gar ein innerliches. Selbsttätigkeit der Formen und formbildende Tendenz der Prozesse decken stch. Darum ist es int organischen Gefüge nicht möglich. Form und Prozeß zu trennen. Die Kategorien Form und Prozeß gehen hier eine Einheit ein, die fie unterhalb des Organischen nirgends zeigen. Und ebendeswegen versagt die Begriffs­ bildung und selbst die bildhafte Vorstellungsweise vor dem Gefüge der Lebenserscheinungen. Denn menschliches Vorstellen ist nun einmal an die Verschiedenheit der Aspekte von Form und Prozeß gebunden. D as ist die Kehrseite derselben Irrationalität, die sich auch schon am morphogenetischen Prozeß ergab. Läßt man die phylogenetisch ursprüngliche Entstehung des assimilie­ renden P lasm as — die ja nicht im Umkreis unserer Erfahrung liegt — aus dem Spiele, so ist die ständige Selbstreproduktion der organischen Form innerhalb ihres individuellen Lebens das Grundphänomen des Lebensprozesses. Dadurch ist im organischen Gefüge das Verhältnis zwi­ schen dem System der Formen und dem System der Prozesse auf eine so ganz andere Basis gestellt. Dementsprechend find die Formen und Prozesse selbst auch hier etwas kategorial Verschiedenes, aber ihre Gefüge fließen derart ineinander über, daß sie nicht mehr voneinander zu trennen sind. Die Form, „die lebend sich entwickelt", ist zwar gewaltsam leicht zu zerstückeln, aber sie erhält sich a ls reproduktive Form. Da aber die ständige Reproduktion aufgeteilt ist an ein verzweigtes Gefüge ineinandergreifender Prozesse, so besteht hier eine noch viel konkretere Identität: es sind nicht zwei Systeme, die ineinanderstecken, sondern es ist ein und dasselbe System, das zugleich Form- und Prozeßsystem ist. So wird man fast zwangsläufig auf den Gedanken geführt, daß die Zweiheit der Gefüge nur eine Zweiheit der Aspekte ist, also nur relativ auf den Blick des Menschen besteht, weil dieser, vom dynamischen Verhältnis herkommend, die kategoriale Ver­ schiedenheit von Form und Prozeß auf das organische Gefüge überträgt. Das eben wird hierbei sehr fraglich, ob sie stch in dieser Weise über­ tragen läßt. Dieses Resultat gilt es im folgenden festzuhalten, und zwar um so mehr, als die Zweiheit der menschlichen Aspekte sich nicht aufheben läßt. E s wird weiter vom System der Formen und dem System der Prozesse die Rede sein müssen, als wären es wirklich verschiedene Systeme; anders lassen sich die weiteren Probleme nicht genügend dicht am Phänomenbestand fassen, die Phänomene aber find durch die Aspekte bestimmt. Das darf aber nun nicht mehr über die Einheit des Gefüges selbst täuschen.

b. Das System morphogenetischer Prozesse im System der Formen Nach dieser Vororientierung gilt es nun, das im Widerspiel der P ro ­ zesse bestimmte Verhältnis folgerichtig in das mit ihm keineswegs identische Verhältnis von Formgefüge und Prozeßgefllge einzusetzen. M an mutz zu diesem Zweck davon ausgehen, daß jenes Widerspiel von selbsttätigem Aufbau und Abbau die Grundform des organischen Prozeßgefüges ist, sofern das letztere zugleich ein Gefüge formtätiger Formen ist. D as Urbild dieses Gefüges haben wir in dem Verhältnis von Assimila­ tion und Dissimilation. Auf den ersten Blick muß nun der Prozeßcharakter des lebenden Orga­ nism us im Widerstreit zu seiner Erhaltung zu stehen scheinen. „Prozeß" als S einsart an einem hochgeformten Gebilde kann nur seine Verände­ rung bedeuten. I n aller Veränderung aber ist ein Moment des Abbaus von Vorhandenem und Geformtem enthalten. Dieses Moment des Abbaus ist denn auch im Selbstverbrauch des organisierten Stoffes gegeben: die lebende Form steht int ständigen Zerfall. Wie also kann die ständig zerfallende Form sich erhalten? N ur aus dem Umwege ebenso ständiger Selbstwiederherstellung. W as wiederum nur durch Neuschöpfung der Form möglich ist. D as ist der Weg der Assimi­ lation: die formtätige Form setzt dem Zerfall aktiv den Ausbau entgegen. Bezieht man dieses auf das Verhältnis der beiden Aspekte des organischen Gefüges, so ergibt sich deren innere ontische Einheit in folgender Weise: das System der organischen Prozesse trägt das System der Formen, läßt es auf dem Verlauf komplementärer Vorgänge gleichsam schwebend ruhen, indem es die zerfallende Form dauernd nachformt; und zugleich wird es selbst von der Aktivität der zum Formensystem vereinigten Teilformen in Gang und im Gleichgewicht gehalten. I n dieser Formel ist das kategoriale Moment des Gleichgewichts vor­ weggenommen. Von ihm wird noch besonders zu handeln sein. Denn das organische Gleichgewicht ist ein grundsätzlich anderes als das dynamische und kann nicht nach diesem beurteilt werden. Rein als Phänomen be­ trachtet, ist es nur ein Ausdruck des inneren Zweckmäßigkeitsverhältnisies, welches die Mannigfaltigkeit der Form- und Prozeßmomente verbindet. E s find hier an dem identischen organischen Gefüge die Formseite und die Prozeßseite in der Weise aufeinander abgestimmt, daß sie sich gegenseitig erhalten und damit zugleich das Ganze des lebenden Individuum s er­ halten. D as wird außerordentlich anschaulich, wenn man erwägt, aus wie unübersehbar mannigfaltigen Teilprozesien sich der Lebensprozeß im viel­ zelligen Organismus zusammensetzt. Jede A rt von Zellen funktioniert

nicht nur anders, sondern assimiliert auch anders' in jeder ist der auf­ bauende Prozeß ein verschiedener und baut Verschiedenes auf. Und da er von der vorbestehenden Form geleitet ist — Hinaufbildung zu ihr ist —, fo liegt der Grund der Differenzierung des Prozesses in der M annig­ faltigkeit der Teilformen. D as P lasm a selbst ist eben schon differenziert. Jede A rt von Zellen hat ihr eigentümliches Plasm a, ihr „Jdioplasma", wie man es genannt hat. Und da jede Zellenart den Stoff zur eigenen plasmatischen Struktur heranbildet, so ist auch die Aktivität des aufbauenden Prozesses ebenso differenziert. Der spezifischen Teilform entspricht der spezifische Form­ bildungsprozeß, die spezifische Assimilation. Und die Formrrhaltung des Ganzen durch fortgesetzte Assimilation ist ein zusammenhängendes System differenzierter morphogenetischer Prozesse im System zusammenhängender Formen.

c. Gegenseitige Bedingtheit der Teilvroresse. Das Ruhen der Gesamtform auf ihnen

Dam it tritt noch eine andere Seite des Organismus in Erscheinung. Ebenso wie in allen Teilen — Gliedern, Organen, Zellen — Form und Prozeß aufeinander abgestimmt find und sich gegenseitig bedingen, sind auch die Teilformen aufeinander abgestimmt und bedingen einander. D as­ selbe aber gilt nun erst recht von den Teilprozessen. Am System der Formen im Großen, an den Organen, ist das wohlbekannt,' sie tragen und stützen einander innerhalb des Körpers ja auch rein physisch. Weniger auffällig, wiewohl nicht weniger wichtig, ist die gegenseitige Bedingtheit der Prozesse. Gerade am Gefüge der Prozesse, die in der Einheit eines Organismus ablaufen und zusammen seinen Lebensprozeß ausmachen, ist das von aus­ schlaggebender Bedeutung. Denn hier kommt noch etwas anderes hinzu: da die verschiedenen Prozesse auf engem Raume dicht nebeneinander her­ laufen, so beeinflussen sie einander kausal. Jedes zeitliche Stadium im Lebensprozeß eines Organismus bildet einen Ursachenkomplex, der die nachfolgenden Stadien bestimmt. Und in jedem solchen llrsachenkomplex bestimmen die einzelnen Komponenten einander mit. Alles in ihm steht in Wechselwirkung. Oder nach der Formulierung K ants: alles ist gegenseitig Ursache und Wirkung voneinander. Die letztere Formel ist freilich m it Vorsicht zu nehmen. D as echte Verhältnis von Ursache und Wirkung ist ein sukzessives, während es sich hier um wechselseitige Beeinflussung der Teilprozesse in der Gleichzeitig-

feit handelt. E s ist also in Wirklichkeit vielmehr so, daß die früheren Stadien der Einzelprozesse auf die nachfolgenden anderer Prozesse ein­ wirken. I m Effekt aber kommt es auf dasselbe heraus, daß nämlich die zeitlich parallel ablaufenden Vorgänge einander wechselseitig kausal be­ einflussen. F ü r das Gefüge der morphogenetischen Prozeffe im Eesamtprozeß des Organismus bedeutet das weiter, daß auch die Einzelprozesse als ganze Abläufe gegenseitig kausal bedingt sind. Jeder ist Bedingung des anderen, und jeder ist ebenso bedingt durch die anderen. I n diesem durch Wechsel­ bedingtheit gebundenen Gefüge aufbauender und abbauender Prozesse hat dann wiederum der morphogenetische Prozeß höherer Ordnung seine Wurzel. Denn die Formentstehung des ganzen Organismus, wie wir sie in der Embryogenese der Metazoen verfolgen können, setzt die selbsttätige Erhaltung der verschiedenen Zellarten durch hochspezialisierte Assimilation bereits voraus. — Aus diesem Grundverhältnis von Formgefüge und Prozeßgefüge lasten sich weitere Pyänomene am Organismus kategorial verstehen. Da ist zu­ nächst das Ruhen der Eesamtform auf dem beweglichen Getriebe der mannigfaltig sich kreuzenden und bedingenden Vorgänge. Dieses Ruhen ist zwar nur ein relatives, denn auch die Gesamtform verändert sich. Aber sehr merkwürdig bleibt es doch auch in solcher Be­ schränkung, weil die Eesamtform gestaffelte, und zwar von unten auf gestaffelte Form ist und als solche auf dem ebenso von unten her gestaffel­ ten Fluß der Prozesse aufruht. I n dieser durchgehenden Unruhe der Prozesse erscheint ihr relatives Ruhen als Produkt allseitiger Be­ wegtheit. Dieses Verhältnis ist zwar sehr wunderbar, aber es ist nicht ein neues Wunder neben der Wechselbedingtheit der morphogenetischen Prozesse. Der spezifische morphogenetische Einzelprozeß ist dem spezifischen P lasm a zu­ geordnet und von ihm her bestimmt; da er aber eben dieses spezifische P lasm a wiederbildet und andererseits dem Einfluß parallel laufender Prozesse unterliegt, so ist die Gesamtheit gleichzeitiger Aufbauprozesse im Organismus jederzeit auf die Wiederbildung der zerfallenden Gesamtform von innen her ausgerichtet. Sie stellt diese im Maße ihres Selbstver­ brauchs ebenso ständig wieder her, wie der Einzelprozeß das spezifische P lasm a. Das aber heißt, daß der Prozeß höherer Ordnung, die morpho­ logische Assimilation, genau nach demselben Prinzip funktioniert wie der elementare, die chemische Assimilation. Das Ruhen der Gesamtform auf dem Fluß der Prozesse ist deshalb ein so stabiles, weil es von dem

548__________________ Dritter Teil. 1. Abschnitt_____________________ gleichen Ruhen der Elementarform auf dem Einzelprozetz getragen ist. Und da die plasmatische Teilform unmittelbar prozetzbestimmend ist, so ist auf dem Umwege über fie, also mittelbar, auch die Gesamtform be­ stimmend für den fie tragenden Eesamtprozetz. Dieser Eesamtprozetz aber ist es, der fie selbst ständig wiederbildet. Also ist die Aktivität der organischen Form, den Prozetz anzutreiben und in­ haltlich zu bestimmen, gerade das eigentliche Prinzip ihres Rühens und Fortbestehens. Durch Vermittelung des gestaffelten Systems der Prozesse hält ste sich in relativer Unbewegtheit fest.

d. Konsistenz als Erbaltungsmodus der lebendigen Form Dieses ist nun der Modus der Erhaltung, welcher dem organischen Individuum eignet. E r ist nicht Substantialität, beruht nicht auf der „Trägheit" eines Substrates; der „Stoff", der hier allein als Substrat fungieren könnte, kommt dafür nicht in Frage, weil gerade er im ständi­ gen Wechsel begriffen ist, also jedenfalls nicht das Beharrende ausmacht. Und ein besonderes Substrat des Lebens als solchen gibt es nicht. Ebenso kann die Erhaltung hier nicht auf einer Trägheit des Prozesses beruhen: der Lebensprozetz und seine Teilprozesse haben keine Trägheit, sie laufen nur, solange die prozetzbestimmende Aktivität der organischen Form ste in Gang hält. Die Beharrung der lebendigen Form beruht also nicht auf Subsistenz, sondern auf Konsistenz (vgl. Kap. 24 a—c). Die letztere bedeutet eben nichts anderes a ls Beharrung ohne Substrat und Trägheit; fie ist auch nicht Beharrung im strengen Sinne, sondern ein anderer Modus der Erhaltung. An die Stelle des substftierenden Etwas tritt bei diesem Erhaltungsmodus die selbsttätige Erneuerung durch Ersatz und Wiederbildung des Ver­ lorenen. Das, was sich so erhält, liegt nicht zugrunde, sondern „ruht auf", ist also seinerseits das Getragene. Und zwar ist es getragen vom ständigen Wechsel des Stoffes und von der Unrast der Prozesse, die diesen Wechsel in Gang halten. Solcher Konfistenzphänomene gibt es in der W elt vieler­ lei. Denn jede Seinsschicht hat ihre besonderen Erhaltungsformen, aber nur in der niedersten Schicht beruht die Erhaltung auf Subsistenz. Die höheren Erhaltungsformen zeigen alle den kategorialen Typus der „Konsi­ stenz", d. h. einer Form des Zusammenhalts, die von getragenen höheren Gebilde aus durch dessen Eigenart und Eigenkraft geleistet wird. Von diesen höheren Erhaltungsformen ist die organische noch die einfachste. Denn organisches Leben liegt allem seelischen und geistigen Leben schon als tragendes Fundament zugrunde.

E s wurde bei der Kategorie des Individuum s gezeigt, wie die Identität des Organismus, sofern er sich im Prozeß „erhält", eine solche des P rozeßrhythmus oder der Prozeßkurve selbst ist, hinter der dann noch gerade das besondere Gesetz des Prozesses hypothetisch faßbar wird (Kap. 46 c, d). D as ist ein greifbarer Ansatzpunkt für das Problem der Erhaltung organi­ schen Lebens. Aber es genügt keineswegs für die besondere Erhaltungs­ weise der lebendigen Form. Die Einheit des in die zeitliche M annigfaltig­ keit der Lebensstadien auseinandergezogenen Individuum s ist die Einheit seines Lebensprozesses, nicht aber die Identität der Form; vielmehr unter­ liegt ja die Form selbst im Laufe dieses Prozesses mancher Änderung. Der wirkliche Modus der stch erhaltenden Formidentität, soweit diese eben reicht, ist ein anderer. E r beruht auf dem morphogenetischen Prozeß, insofern dieser von der chemischen Assimilation an aufw ärts gestaffelt un­ entwegt die gleiche Form wiederbildet und seinerseits durch die lebende Form bei dieser Wiederbildung festgehalten wird. M an steht, das ist nicht Erhaltung auf Grund von Trägheit, auch nicht die Wiederkehr identischer Form auf Grund bloßer Gesetzlichkeit, wie das in der Konstanz der physischen Prozeßtypen und Gebildetypen der F all ist. D as ist vielmehr aktive Selbstwiederbildung, ununterbrochene Reproduktion der Form, welche erstaunlicherweise von dieser, als dem ständig vom Zerfall bedrohten Gebilde, selbst ausgebracht wird. Hier handelt es sich nicht mehr um ein „Erhaltenwerden" eines Gebildes, weil seine Seinsbedingungen fortbestehen oder weil sich ähnliche immer wieder zusammenfinden, sondern um spontane „Selbsterhaltung", die der Zer­ störung und dem Verbrauch tätig entgegenarbeitet. D as kategoriale Novum ist hier die Spontaneität, d.h. eine besondere aktive Autonomie des Ge­ füges selbst, kraft deren die Bedingungen des eigenen Fortbestehens immer wieder hergestellt werden. Die Leistung solcher Selbsterhaltung wird nicht dadurch abgeschwächt, daß sie außerdem auch auf das Gleichbleiben von mancherlei äußeren Be­ dingungen angewiesen ist. Denn diese allein vermögen nichts auszurichten; so notwendig sie sein mögen, sie reichen doch nicht entfernt an den subtilen B au des Organismus heran. Ebensowenig wird die Leistung der Selbst­ erhaltung dadurch herabgesetzt, daß auch das Jdentischbleiben der Form, ihr „Ruhen", kein absolutes ist. D as darf man über dem Hauptphänomen der Erhaltung selbst freilich nicht vergessen: das ganze lebende Formgefüge beharrt nicht in bloßer Id en tität über dem fließenden Prozeßgefüge, son• dern „entwickelt" sich. Und das bedeutet zunächst, daß es sich auch ver­ ändert. Aber es verändert stch nicht unter äußerer Einwirkung, sondern nach Maßgabe seiner inneren Prozeßform, die als zeitlich-sukzessive Form ebensosehr ein Ganzes bildet wie die räumliche Form. D as Erhalten der

Prozetzform ist daher auch ein Festhalten an seiner Formidentität. E s hat seinen selbsttätigen Aufstieg und Abstieg; es ist ebensosehr selbsttätige Ver­ änderung wie selbsttätige Erhaltung, ist zeitlich selbsttätige Begrenzung des eigenen Lebens und seine Selbstauslösung. Freilich ist dieses Moment der selbsttätigen Veränderung sehr ungleich über die Phasen seiner Lebensdauer verteilt. Die Zugendstadien bilden eine dichtgedrängte Kette von wesentlich formoerschiedenen Stadien; sie find die eigentliche Bildungs- und Entwicklungsperiode innerhalb der Lebenskurve. Dann aber setzt eine Periode ausgeprägten Festhaltens an der erreichten Form ein, in der allerdings die Veränderung zu keiner Zeit ganz stillsteht; und erst zuletzt setzt die allgemeine Rückbildung ein, fie erstreckt sich aber weniger auf die Form, besteht mehr im Erschlaffen der Funktionen. Im m erhin bleibt im Ganzen der Lebenskurve das Widerspiel von Aufstieg und Abstieg deutlich erkennbar. Und in diesem Widerspiel nun kehrt das antithetische Grundverhältnis der Prozetzkomponenten wieder. Der Aufstieg bildet den morphogenetifchen Eesamtprozetz des O rganis­ mus, der Abstieg den entsprechend formauflösenden Eesamtprozetz. I m zeitlichen Lebenslauf des Individuums wiederholt sich so in grötzerem Stile, w as bei der schlichten Selbsterhaltung im Kleinen geschieht. Beide Prozetzverhältnisie find nach demselben Prinzip gebaut und in sich ge­ regelt. S ie zeigen dasselbe Widerspiel, und die Form der Erhaltung, welche aus diesem beruht, ist in derselben Weise begrenzt. Die bewegliche, spontane Selbsterhaltung kann offenbar auf keiner Stufe die absolute und permanente Formidentität des Gebildes leisten. Sie ist nur genäherter Ausgleich der komplementären Prozesse und leistet daher stets entweder mehr oder weniger, a ls der Ausgleich erfordert, je nach dem Übergewicht der aufbauenden oder der abbauenden Prozetzkomponente. Indessen gerade als die beweglich sich entwickelnde Form — als Lebensprozetz mit eigengesetzlicher Kurve — ist sie stärker als blotz träge Beharrung, stärker auch als die blotz dynamische, nach Gesetzen sich wiederholende Entstehung typenhaft gleicher Gefüge. Das Moment der Aktivität in ihr gibt ihr eine Überlegenheit eigener Art. Diese Aktivität „pariert“ die störenden Einwirkungen durch Gegenaktionen und gleicht die einseitigen llberschüsie des Widerspiels selbsttätig aus. S o kommt das Merkwürdige zustande, datz gerade das bedingteste, abhängigste, physisch schwächste und verletzlichste Gebilde, das organische, sich vermöge seiner Selbstbehauptung als das stärkste und widerstands­ fähigste erweist. D as grötzte Wunder des Lebens ist vielleicht gerade diese Überlegenheit seiner Eefügeformen über die leblosen Gebilde. Denn diese, einmal zerstört oder durch innere Instabilität aus dem Gleichgewicht gebracht, können sich von sich aus nicht wiederherstellen noch erneuern.

50. Kapitel. Die organische Selbstregulatioa a. Dynamisches und organisches Gleichgewicht

Sofern der Lebensprozeß des Organismus nicht nur Erhaltung, son­ dern auch Entwickelung ist und so die Morphogenese höherer Ordnung aus­ macht, stoßen wir im Verhältnis der Teilprozesse noch auf ein anderes Moment von kategorialem Charakter: auf die selbsttätige Regulation des Gleichgewichts derjenigen Prozesse, die im Widerspiel gegeneinander stehen; zugleich freilich auch auf die Grenzen dieser Regulation. D as Gleichgewicht spielt überall, wo Prozesse im Widerspiel stehen, die Rolle des zusammenhaltenden Momentes der Gebilde. Davon haben wir bei den dynamischen Gefügen bereits mancherlei Beispiele kennengelernt. Solche dynamische Gleichgewichte können sich rein selektiv Herstellen. Aber dafür bedeuten sie nur die passive Stabilität eines Gefüges, in dem gegen­ sätzliche Prozesse sich die Wage halten. Ein Gleichgewicht dieser A rt ist mit seiner Entstehung und Erhaltung im wesentlichen an das Verhältnis der vorhandenen Gefälle gebunden, nächstdem freilich auch an die vor­ handenen oder erst mit ihm entstehenden Widerstände. E s variiert daher quantitativ, und mittelbar auch der A rt nach, in weiten Grenzen inner­ halb des gleichen Typus. E s ist eben nichts anderes als die relative Ruhe­ lage des Energieausgleichs, bzw. das Pendeln um eine solche herum, wobei die entgegengesetzt wirkenden Kräfte sich erhalten. Die Ruhelage fällt dabei immer wieder anders aus. I n mancherlei Abwandlungen trifft das auf alle dynamischen Gleich­ gewichte zu. Aber solche Gleichgewichte regulieren sich nur automatisch» nicht selbsttätig. S ie setzen der von außen kommenden Störung kein aktives Gegengewicht entgegen. Ih re Regulation geht nur so weit, als sie durch das Widerspiel der zum Ausgleich tendierenden Kräfte ohnehin bewirkt wird, man kann auch sagen, soweit die S tabilität ihres Gleichgewichts reicht. Die Prozeßkomponenten „fallen" hier gleichsam von selbst immer wieder in die Gleichgewichtslage zurück, solange die Störung ein gewisies M aß nicht überschreitet. I n diesem Zurückfallen oder Zurückpendeln besteht eben die S tabilität eines dynamischen Gleichgewichts. Ganz anders das organische Gleichgewicht. Hier ist die regulierende Instanz eine aktive. Und sie ist nicht erst dann aktiv, wenn äußere Störung einsetzt, sondern von Anfang an. Denn der selbsttätige Zerfall ist von vornherein im Gange. E r gehört mit zum Lebensprozeß, ist also von innen her bedingt. Darum ist hier auch das Gleichgewicht der Prozesse von Hause aus ein labiles, und es würde nicht einen Augenblick fortbestehen, wenn nicht die organische Form eine selbsttätig ausgleichende Funktion ausübte.

D as allgemeine Schema der organischen Regulation kann man etwa in folgender Weise entwerfen: ein Übergewicht an innerem Formzerfall, wie es der Selbstverbrauch des Organismus leicht mit sich bringt, wird durch erhöhten Anreiz der Wiederbildung ausgeglichen; das geschieht in der Weise, daß der eintretende M angel selbst diesen Anreiz auslöst. Und ebenso im umgekehrten F all: ein Überschuß an nachbildender Aufbau­ tätigkeit wird durch verstärkten Anreiz zum Formabbau ausgeglichen. Die Regulation setzt dem Ausfall einen Überschuß, dem Überschuß verstärkten Ausfall entgegen. Ih re Wirkungsweise ist die der Kompensation. M an könnte auch sagen, sie ist ein Ausspielen der komplementären Prozesse gegeneinander. D as Bemerkenswerte hierbei ist nicht der Ausgleich selbst, sondern die Art, wie er sich herstellt. Im Wesen eines aufbauenden und eines abbauenden Prozesses als solchen liegt es nicht, daß einer den Anreiz zum anderen hervorruft. M an kann also im bloßen Widerspiel der Prozesse nicht den Grund der Regulation suchen. Daß jeder der beiden Prozesse das Ein­ setzen oder auch nur die Verstärkung des Eegenprozesies „auslöst", ist nicht seine Kausalwirkung allein, sondern auch die besondere Reaktions­ weise der organischen Form selbst auf ihn. I n dieser Reaktionsweise also liegt das eigentlich kategoriale Novum der organischen Regulation.

b. Innere Reaktivität der organischen Form auf die eigenen Prozehkomvonenten

Geht nun aber die Regulation von der organischen Form selbst aus, so muß diese von vornherein ein reaktives System sein. Und hiermit ist be­ reits der Punkt erreicht, über den hinaus sich diese erstaunliche Funktion, die allen Lebewesen gemeinsam ist, nicht weiter analysieren läßt. Hier setzt bereits die Irratio n alität des Lebensvorganges ein. Und sie ist nicht geringer als die des morphogenetischen Prozesies. Aber sie ist eine andere und hastet einer anderen Kategorie an. Sie ist auch nicht die letzte von dieser Art. Im Grunde sind die organologischen Kategorien alle mit einem Einschlag des Unerkennbaren behaftet, und nur scheinbar gilt das von den einen mehr, von den anderen weniger. M an wird nur sehr verschieden stark auf ihn gestoßen. Denn solange man bloß beschreibend den P häno­ menen folgt, kann man sich über das in den aufzeigbaren Kategorien ent­ haltene Irratio n ale wohl täuschen. Erst die Frage, wie das Beschriebene möglich ist, drängt über die Erscheinungen hinaus in ihre Hinter­ gründe. Die biologischen Wisienschaften sind im allgemeinen nicht darauf be­ dacht, solche Grenzen der Erkennbarkeit herauszuarbeiten. S ie können sich für ihre Zwecke mit dem deskriptiven Bestände der Phänomene be-

gniigen. Und im Matze solchen Begnügens verharren sie im Stadium der beschreibenden Wissenschaft. Auf diesem Wege lastet man sich freilich bis an die eigentlichen Wunder des Lebens heran — und das sind im wesent­ lichen die Kategorien des Organischen — aber man nimmt es nicht mit deren Analyse auf. Dazu mutz man dem Rätselhaften und Unerkennbaren in ihnen bewutzt ins Gesicht sehen. Im Falle der Selbstregulation liegt das Rätsel in dem scheinbar ein­ fachen Phänomenbefunde, datz das organische Formgefüge ein reaktives System von eigener A rt ist. Es reagiert nicht nur auf äutzere, sondern erst recht auf innere Einflüsse, auf die der eigenen Prozesse, die es in Gang bringt und in Gang erhält. Denn es ist zugleich das System der Prozesse. Jedes P lu s oder M inus, das sich im Widerspiel von Aufbau und Abbau ergibt, wirkt als „Reiz"; jeder Ausfall regt erneuten Aufbau, jeder llberschutz verstärkten Abbau an. Aber in eben diesem Anregen und diesem Wirken als Reiz ist das Wesen der Reaktionsfähigkeit schon voraus­ gesetzt. M an kann diese also nicht nur aus dem Reiz erklären, wie wohl öfter versucht worden ist. M an mützte vielmehr umgekehrt das Auftreten der Reize aus ihr erklären. Dazu aber mützte man das geheimnisvolle Wesen der Reaktivität selbst schon durchschaut haben. Das eindrucksvolle Phänomen der Regulation intensiviert sich noch beträchtlich, wenn man es nicht mehr schematisch vereinfacht in einer Zwei­ heit komplementärer Prozesse ansieht, sondern in seiner ganzen Breite, wie es die Mannigfaltigkeit aller organischen Teilprozesse umfatzt. Die Regulation tritt ebenso gestaffelt wie diese selbst auf, sie beherrscht von unten auf die ganze Hierarchie der Vorgänge — von der chemischen Assimilation des P lasm as auswärts über die differenzierten Formen der morphologischen Assimilation bis hinauf zur Synthese der organischen Eesamtform, ja bei vielen Organismen bis zur Neubildung des Ganzen aus einem Bruchstück. Bei den Erscheinungen der letzteren A rt liegt frei­ lich kein Widerspiel von Prozessen mehr vor; der Reiz, der von der Ab­ trennung eines Teiles ausgeht, ist ein äutzerer, aber die Reaktion der Wiederbildung ist dieselbe. Hier reiht sich ohne wesentlichen Sprung die ganze Mannigfaltigkeit der Regenerationsphänomene an. D as alles ist auf dynamischer Grundlage ein Ding der Unmöglichkeit. Energetisch lätzt sich organische Regulation in keiner Weise verstehen. Ein Ausfall an Reproduktion würde dynamisch nicht zur Überproduktion, also auch nicht zum Ausgleich führen, sondern die reproduzierende K raft mit herabsetzen; ein Überschutz aber würde sie nicht hemmen, sondern nur ver­ stärken. Es ist auch nicht einzusehen, woher der Organismus die Energie verstärkter Wiederbildung nehmen sollte, da doch der verstärkte Selbst­ verbrauch eben diese Energie in ihm abgebaut haben mützte.

Hier waltet eben ein ganz anderes Prinzip. E s hat seine V oraus­ setzung darin, daß der Organismus überhaupt nicht die eigene Energie (etwa die chemische) verwendet, sondern fremde. Das eben besorgt sein Stoffwechsel. Er nimmt verwendbaren Stoff, d. h. niedere Gefüge, auf und schaltet deren chemische Energie „zweckmäßig" in seine Aufbauprozesse ein. E r selbst braucht dabei nur ein Minimum an Energie herzugeben; und solange er dieses aufbringt, kann er immer weitere Mengen „fremder" Energie einschalten. Damit erhebt sich der Organismus über die Abhängigkeit von den eigenen Energiereservoiren und gewinnt die Fähigkeit, den im Stoff­ wechsel ihn durchziehenden Energiestrom nach Maßgabe seines Bedarfs einzusetzen. Hier bewährt sich seine eigenartige räumliche Begrenzungs­ weise, die funktionelle Exterioristerung seiner Raumgrenzen, seine eigen­ tümliche Art, eine in die umgebende physische Welt sich hineinerstreckende „Lebenssphäre" um sich her zu ziehen und in den eigenen Lebensprozetz einzubeziehen. Die Lebenssphäre ist sein Machtbereich, sein Umkreis ver­ fügbarer Energie (vgl. Kap. 46 a, e, f).

c. Phänomene und Hintergründe. Selbstbegrenzung der Regulation Auf Grund dieser Einrichtung bedarf es denn in der T at nur eines Systems spezifisch auslösender Anreize, um jedem Ausfall und jedem Überschuß den komplementären Prozeß entgegenzusetzen und so die ent­ sprechende Kompensation des Formgefüges hervorzurufen. Das wird in der Weife ermöglicht, daß die komplementären Prozesie einander gegen­ seitig anreizen, d. h. im Maße ihrer einseitigen Steigerung einander ver­ stärkt hervorrufen. D as klingt einfach genug. Nicht zu vergesien aber ist dabei, daß die Funktion des Anreizes selbst damit keineswegs erklärt, sondern nur vor­ ausgesetzt ist. Noch mehr gilt das von der merkwürdigen Erscheinung, daß das M aß des Anreizes nicht durch den auslösenden Teilprozeß selbst ge­ geben ist, sondern durch sein quantitatives Abweichen von einer bestimm­ ten mittleren Linie. Und diese hängt an der Norm, welche der organische Formtypus vorzeichnet. Oder vom System der Prozesse selbst aus gesehen: sie ist durch ebendasselbe Gleichgewicht der Prozesie gegeben, welches in dem Übergewicht eines der Prozesse gestört ist. I n welcher Weise aber ein gestörtes Gleichgewicht — und das heißt doch, ein zur Zeit nicht vor­ handenes — als regulierende Norm funktionieren kann, bleibt hierbei durchaus ungeklärt. M an kann das nur als Tatsache den Phänomenen entnehmen, nicht aber aus dem Auftreten der Anreize erklären. Die Selbstregulation als solche bleibt von den Tatsachen aus ein tiefes Rätsel.

Dieser Eindruck steigert sich noch, wenn man hinzunimmt, daß der gegenseitige Anreiz, der das Widerspiel der Prozesse in Gang hält, nicht etwa erst bei voll entfalteter Form infolge besonderer Störung einsetzt, sondern das Verhältnis der zeitlich parallel laufenden, wiewohl perio­ disch an und abschwellenden Prozesse von Anfang beherrscht. Die Fälle besonderer Störung haben nur die Bedeutung, daß in ihnen der Anreiz besonders spürbar wird. Die Regulation ist überhaupt nicht eine Ein­ richtung, die erst bei Ausnahmefällen in Funktion tritt, sondern offenbar ein ursprüngliches Moment ständiger Eegenanreize im Gefüge der P ro ­ zesse. M an sieht das am deutlichsten am hochorganisierten tierischen Individuum : schon der Anblick oder auch der Geruch der Nahrung löst die Sekretion der Magendrüsen aus. Der Hunger selbst ist eben nichts anderes als die Steigerung des Anreizes. Auch hier täuscht die Gewohnheit, ein solches Phänomen wie den Hunger als selbstverständlich zu nehmen, leicht dessen Verständlichkeit vor. Und dann glaubt man, die Tendenz zur Steigerung des Aufnahmeprozesses aus dem Hunger „erklären" zu können. Wer so urteilt, hat das Phänomen nicht begrifsen. Das Selbstverständllche ist gerade das Unverstandene: im Phänomen des Hungers steckt schon die ganze Rätselhaftigkeit der orga­ nischen Regulation. Er ist nichts anderes als das unmittelbare Fühlbar­ werden des gesteigerten Anreizes. Das Problem darin aber bleibt, wie dieser für die Wiederherstellung des Gleichgewichts zweckmäßige Anreiz durch den Verbrauch ausgelöst wird. Denn der Verbrauch allein macht ihn noch nicht aus, sondern erst die besondere auf den Ausgleich aus­ gerichtete Reaktionsweise des Organismus auf ihn. Diese aber ist identisch mit der Regulation. Das sieht man am besten an den entsprechenden Eegenphänomenen. Denn auch die Selbstregulation im Widerspiel der Prozesse hat ihre Grenze: sie ist nicht allmächtig, sie kann nur innerhalb gewisser Schranken ausgleichen. Darüber hinaus versagt sie. Bei vielen einzelligen O rganis­ men begegnen wir einer lang anhaltend gesteigerten Assimilation, die nicht oder nur sehr begrenzt durch Regulation eingedämmt wird; sie führt dann zu fortgesetztem Wachstum, bis die Zelle sich teilt, was offenbar ein Vorgang anderer A rt ist. Roch enger begrenzt sind die Regenerations­ vorgänge in den Geweben der höheren Organismen; und wo sie versagen, da bleibt die Form defekt, oder gar sie stirbt ab. Das Leben der A rt läßt das Individuum fallen und ersetzt es durch andere Individuen. Von der Spezies aus ist die Erhaltung des Individuum s nur von beschränkter Relevanz. Aber auch diese Grenzen der Regulation sind keine phystsch-dynamischen, sondern organische. S ie treten nicht dort auf, wo keine einschalt-

bare Energie mehr zur Verfügung steht, sondern wo die Wiederherstellung des Gleichgewichts für den Fortgang des Lebens aufhört, Relevanz zu haben. Auch das Austreten nicht mehr ausgleichbarer Ungleichgewichte unterliegt dem Gesetz der Zweckmäßigkeit, ist also in Wahrheit wiederum eine Selbstbegrenzung der Regulation. Und dies bedeutet zugleich, daß fich in ihm eine Regulation höherer Ordnung ankündigt. Aber diese betrifft nicht mehr das Leben des Individuum s und fetzt deswegen auch nicht mehr am inneren Widerspiel der aufbauenden und abbauenden Prozesse ein, die sein Leben ausmachen.

d. Überproduktion und Wachstum Alle Regulation funktioniert nur in gewissen Grenzen. Auch nach unten zu gibt es hier eine Begrenzung: nicht die kleinsten Abweichungen vom Gleichgewicht lösen sogleich den Anreiz zur Kompensation aus, son­ dern zumeist erst solche von einer gewissen Größe. Das spiegelt sich schon deutlich in der Periodizität mancher komplementärer Prozeffe und ist an vielen Vorgängen — Nahrungsaufnahme, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlaf — eine wohlbekannte, offenkundig reguläre Erscheinung. Das Ganze der sich ablösenden Vorgänge, oder auch nur der jeweiligen Über­ gewichte in ihnen, macht den Eindruck des Pendelns um ein stabiles Gleich­ gewicht herum, bei dem die Pendelausschläge fich normalerweise innerhalb einer gewissen Größe halten. Diese S tabilität ist freilich, wie sich schon zeigte, eine nur scheinbare. E s liegt hier kein automatisches Zurückpendeln vor, das periodische Abstoppen und Ankurbeln der Prozesse ist ein von innen her geleitetes und gleichsam gesteuertes. Und in der Steuerung besteht die Selbstregu­ lation. An sich — dynamisch verstanden — ist das Gleichgewicht durchaus labil. Erst die aktive Leistung der Regulation, als eine immer wieder vom Organismus selbst aufgebrachte, macht es zu einem stabilen. Aber eben deswegen hat diese — gleichsam als Balancierleistung erzielte — S tabilität Grenzen, die gleichfalls in der organischen Funktion der Regulation ihren Grund haben. Denn nicht nur um den Ausgleich des Formzerfalls handelt es sich hierbei, sondern weit mehr noch um die selbst­ tätige Formoeränderung, welche die reguläre Lebenskurve des In d i­ viduums ausmacht. Den Erundtypus solcher Formveränderung durch einseitiges Über­ gewicht eines Prozesses über den anderen haben wir im Wachstum des Organismus vor Augen. Freilich gibt es ihn auch in der umgekehrten Erscheinung des Schrumpfens, nur daß diese nicht annähernd die gleiche Rolle spielt wie das Wachsen. Im Leben des Individuum s wie im Leben

der A rt kommt es nicht so sehr auf den absteigenden Ast der Lebenskurve an wie auf den aufsteigenden. Differenzierung und Reifung ist eben ohne Wachstum nicht möglich. W äre die ständige innere Selbstreproduktion des Zellplasmas streng mit dem Selbstverbrauch ausgeglichen, so könnte es kein Wachstum des Organismus geben, weder ein solches der Zelle durch Vermehrung des P lasm as noch ein solches des vielzelligen Körpers durch Vermehrung der Zellen. E s könnte dann aber auch keine wesentliche Entwickelung des kom­ plex gebauten Individuum s geben. Denn auch die Entwickelung fängt mit dem Wachstum der kleineren Lebenseinheit» der Zelle, an und bewegt stch in fortschreitender Zellteilung, wobei die Zellen sich strukturell und funktional differenzieren. Das Wachstum ist nun gerade dieses, daß die M ederbildung nicht bloße Kompensation des Abbaus ist, sondern llberkompensation durch die aufbauenden Prozesse, nicht bloß ständige Reproduktion des lebenden P lasm as, sondern Überproduktion. Und zwar gilt auch das wiederum von unten auf für die ganze Reihe der übereinander gestaffelten Aufbau­ prozesse. E s beginnt mit Überproduktion in der chemischen und morpho­ logischen Assimilation in den Zellen, steigt zur Zellen-Reubildung in den Geweben auf, wie das Wachstum der Organe sie erfordert, und schreitet so mittelbar bis zum Wachsen des ganzen vielzelligen Organismus fort. M it der Differenzierung der Teile zusammen ergibt diese gestaffelte Über­ produktion zugleich den morphogenetischen Prozeß höherer Ordnung, die Ontogenese des neuen Individuums. Diese ist also schon durch das Über­ gewicht des aufbauenden Prozeßes im Kleinen bedingt. Selbstverständlich geht es nicht an, einen solchen Vorgang, der kon­ stituierend für den Werdegang des Individuums ist, a ls bloße Instabilität des Prozeßgefüges, also gewissermaßen als ein Versagen seiner Regulation aufzufassen. M an würde damit die ganze Umbildung individuellen Lebens zu einer Störungserscheinung des Lebens machen. Sie ist aber gerade das Gegenteil. Denn tatsächlich setzt hier eine Wiederbildung höherer Ord­ nung ein. Das Bemerkenswerte daran ist nur, daß die Grenze der Stabili­ tät am organischen Gleichgewicht von Prozessen niederer Ordnung sich als Vorbedingung für das Einsetzen des morphogenetischen Prozesses höherer Ordnung erweist. Dieses Resultat muß festgehalten werden, denn es spielt in den weite­ ren Kategoriengruppen des Organischen eine wichtige Rolle. Soviel aber ist auch hier schon klar, daß die Aufhebung des Prozeßgleichgewichts im Wachstum, nicht ein Versagen (Regativum) ist. sondern ein eminent positives Moment, das dementsprechend auch seine positiven inneren Gründe haben muß. H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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e. Selbstbcgrenzung des Wachstums. R egulation höherer Ordnung

M an steht das schon an der ebenso notwendigen wie tatsächlichen Selbstbegrenzung der überprodukion. Diese kann nicht in infinitum fort­ gehen, sie würde das Ganze sprengen, und zwar eben deswegen, weil in ihr das Gleichgewicht der Prozeße aufgehoben ist. Sie mutz also wiederum eingeschränkt werden. Und das Tharakteristische ist nun, daß die Rückkehr zum Gleichgewicht nicht durch ein Sich-Erschöpfen des Aufbauprozesses geschieht, sondern durch das Erreichen des für die Spezies normalen Maßes. D as ist nur möglich, wenn die Überproduktion von der lebenden organischen Form selbst aus reguliert, von ihr hervorgerufen und von ihr auch wieder abgestoppt wird. Freilich steigt mit der Assimilation stets auch die Dissimilation. D as gehört auch zum Wachstum, der ganze Umsatz des Stoffes wird eben ge­ steigert. Aber die Dissimilation hinkt dann eben doch um einen kleinen Betrag nach, und jene bleibt ihr ständig einen Schritt voraus. Dieser Vor­ sprung wird im Gesamtprozeß auf die Dauer entscheidend. Darum „wächst" das Individuum. Aber der Vorsprung selbst ist eine aktive Leistung des Organismus und muß, solange dieser sich entfallet, durch ihn aufrecht­ erhalten werden. Darum ist Wachstum nicht ein Versagen der Regulation, sondern eine Regulation anderer A rt: die Prozeße find hier nicht auf ein Gleichgewicht, sondern auf Zunahme des Ganzen hin, d. h. auf einen bestimmten ständi­ gen Überschuß der Wiederbildung hin ausgeglichen. D as ist in der T at eine Regulation höherer Ordnung, in der es auf die Morphogenese des ganzen Individuums hinausläuft. Bedenkt man, daß nach dem allgemeinen Gesetz des Werdens das Sein des Individuum s in die Mannigfaltigkeit seiner durchaus formverschiedenen zeitlichen Stadien auseinandergezogen ist und daß seine zeitliche Ganzheit in der Gesamtfolge aller dieser Stadien besteht, so wird es klar, daß Regulationen dieser A rt gerade den Grund­ typus der organischen Gleichgewichte beherrschen müßen. D as find nicht bloß Regulationen des Form- und Prozeßgefüges, sondern solche des Lebensprozeßes, den das ganze Gefüge durchläuft, also der Lebenskuroe des Individuums. Denn gerade für die Lebenskurve ist es entscheidend, daß sie nicht äuße­ ren Einflüßen überlaßen bleibt, sondern ihre Eigenstruktur durchhält. Darum sind die Regulationen im Widerspiel der Teilprozeße von vorn­ herein nicht auf die Formerhaltung allein, sondern mehr noch auf die für den normalen Ablauf des individuellen Lebens charakteristische Form-

Veränderung ausgerichtet. D as formerhaltende Moment ist hierbei am ausgereiften Individuum freilich das grundlegende; aber im Hinblick auf das zeitliche Ganze ist es doch nur eines unter anderen. Die Selbsttätigkeit in dieser Regulation wird besonders einleuchtend, wenn man sieht, wie im Reich der organischen Formen das Wachstum auch auf andere Weise begrenzt wird. Geht man davon aus, daß das ein­ fache Anwachsen der Körpermaße Veränderungen mit sich bringt, die den Stoffwechsel beeinträchtigen, so lasten sich rein schematisch zwei Möglich­ keiten unterscheiden: das Lebewesen kann entweder sich teilen, so daß die Teile als selbständige Individuen fortleben, oder es kann sich in sich selbst differenzieren, so daß es durch Aufgliederung der Funktionen an ge­ sonderte Organe, also durch höhere Organisation, zum Weiterleben in ver­ änderter Größenordnung fähig wird. Beide Wege finden w ir in der N atur beschritten, und zwar schon auf der Stufe der Einzelligen. Darüber hinaus bildet der erstere Weg die Grundlage der Fortpflanzung, der letztere die der Formbildung größeren Maßstabes und höherer Ordnung. Erst neben diesen beiden Möglichkeiten steht die dritte da, daß der Wachstums- und Differenzierungsprozeß selbsttätig vom Organismus her abgebremst wird. D as findet überall da statt, wo die Bedingungen, unter denen die A rt lebt, dem Individuum ein gewisses Höchstmaß der Aus­ dehnung als zweckmäßig vorschreiben — ein Maß, das nicht durch Zerfall oder inneres Labilwerden gesetzt ist, sondern durch eine eigene, aktive Normierung, die auf ein Maximum an Leistungsfähigkeit oder auf eine bestimmte Form des Zusammenlebens der Individuen ausgerichtet ist. Diese Regulation bedeutet, daß bei Erreichung eines gewissen Volu­ mens die Überschüsse der Wiederbildung selbsttätig aufhören und das Gleichgewicht der Prozesse sich wiederherstellt. Hiernach kann man asso im ganzen drei Stufen der Regulation unterscheiden. Die erste ist die, welche das Gleichgewicht der komplementären Prozesse erst einmal her­ stellt, die zweite reguliert nach eingetretenem Ungleichgewicht den Über­ schuß des aufbauenden Prozesses; die dritte aber ordnet sich im ausge­ wachsenen Individuum der zweiten über, indem sie das Gleichgewicht wiederherstellt und zum Stande der ersten Regulation zurückkehrt.

II. Abschnitt

D a s tibetinMm'öuelle Heben 51. Kapitel. D a s Leben der Art a. Die zweite Kategoriengruvoe

W as für den naiven Blick als das Ganze der Lebenserfcheinungen gilt, das Leben des sichtbaren Individuums, ist für die Sehweise der Wissen­ schaft, und vollends der Philosophie, nur ein Teil, eine Stufe, ein Vorder­ grund. Zwar ist dieser Teil schon in sich voller Rätsel. Aber die P ro ­ bleme, die ihm anhaften, weisen in ihrer Mehrzahl über sich hinaus — auf einen Hintergrund, einen Lebensprozeh gröheren S tils, das über­ individuelle „Leben der Art". Gemeint ist damit das Fortbestehen einer Tier- oder Pflanzenspezies in immer neuen Generationen von Individuen, wobei im Wechsel der Individuen die A rt sich erhält. D as W ort „A rt" darf hierbei nicht eng quaütativ verstanden werden. Was da fortlebt, ist nicht der Typus oder die Form allein, sondern das Aneinanderschliehen der individuellen Lebensabläufe selbst, sofern sie zu­ sammen ein fortlaufendes „Stammesleben" ausmachen. Die Erhaltung des Arttypus ist nur die Formseite im Lebensprozeh großen S tils. M it der Kategorie des Artlebens beginnt eine neue Gruppe von Kate­ gorien, die alle das Phänomen des überindividuellen Lebensprozesses als eines solchen von anderer Größenordnung betreffen. Denn dieser Prozeß hat andere Grundlagen als der des Individuums. E s handelt sich außer der genannten ersten Kategorie, dem Artleben selbst, um die vier weiteren: Reproduktion des Individuums, Tod und Zeugung, V ariabilität der Art, Regulation des Artlebens. Auch diese Kategorien knüpfen überall an aufweisbare Phänomene an, gehen aber, ebenso wie die des Individuums, nicht im Phänomen auf, und führen daher, mehr noch als jene, auf ein Geflecht von Problemen hinaus. R ur zum Teil kann die Wissenschaft diese Probleme beantworten. Aber unabhängig von den Grenzen ihrer Lös­ barkeit bestimmen sie den eigentlichen Gehalt der Kategorien. I n doppeltem Sinne geht der Lebensprozeh der A rt im Leben des Individuums nicht auf: numerisch nicht, denn er läuft gleichzeitig in vielen Individuen fort und ist daher weitgehend unabhängig vom Leben des einzelnen Exemplars; und zeitlich nicht, denn er geht über den Tod des Individuums hinaus, ist also auch der Dauer nach ein Prozeß anderer Größenordnung.

Weil aber das Leben der A rt nicht ein Leben „neben" dem der Indivi­ duen oder „hinter" ihnen ist, sondern durchaus ein Leben „in" ihnen, und zwar n u r in ihnen als seinen jeweiligen Trägern — nicht also eine verborgene Lebens-Substanz oder gar ein unsichtbarer Organismus höherer Ordnung, aber auch keineswegs ein bloß Allgemeines, nominalistisch verstanden, das keine R ealität hätte —, so ist sein Wesen auch durch­ aus im Leben des Individuums mit enthalten. Und der Prozeß, in welchem das letztere besteht» ist von vornherein ein organisch in das Leben der A rt eingeflochtener und aus ihm auch nicht herauslösbarer Teilprozeß. D as ist es, was fich von der Analyse des „organischen Gefüges" aus nicht sehen ließ. Da es aber dem Individuum wesentlich ist, im Gesamtleben seiner A rt drinzustehen, und da wesentliche Funktionen in ihm nur a ls Funktionen des Artlebens in ihm bestehen und auch nur als solche zu verstehen sind, so gilt es jetzt, vom Gesichtspunkt der lebenden Spezies aus noch einmal das Individuum neu sehen zu lernen. Denn jetzt stellt es sich in seiner Eigenschaft als Träger eines Gesamtlebens dar, in welchem ihm bestimmte Aufgaben zufallen. I n diesem Betracht ist das Individuum nicht selbständiges Gefüge, sondern Glied eines Gefüges, und seine Be­ lange sind nicht die (einigen allein, sondern die einer nicht abreißenden Kette von Lebensträgern der gleichen Art. Und damit hängt es weiter zusammen, daß auch die Kategorien des Individuum s noch einmal in neuem Lichte erscheinen. Za, wir begegnen der merkwürdigen Tatsache, daß sie am Leben der A rt fich gleichsam wiederholen, nur vergrößert und auf die Stufe des höheren Lebensprozesies erhoben,- nicht freilich alle und nicht alle in gleichem Maße — von einem Formgefüge z. B. läßt sich hier in keiner Weise mehr sprechen —, wohl aber so viele und so greifbar parallel geordnete, daß man darin den Lebensprozeß höherer Ordnung ohne weiteres wiedererkennt. So kehrt der morphogenetische Prozeß vergrößert wieder, desgleichen das Wider­ spiel der Prozeffe, sowie deren schwankendes Gleichgewicht und die ihm entsprechende selbsttätige Regulation. Auch darin spiegelt fich der enge Zusammenhang beider Stufen des Lebensprozesies. D as eigentliche Problemgebiet der folgenden fünf Kate­ gorien ist also, streng genommen, nicht das des Artlebens allein, sondern das des ganzen Berhältnisies von Individuum und Art. b. Die Realität des Lebens der Art

Eine verbreitete Ansicht sagt, daß ebendas, worum es hier geht, das Leben der Art, keine R ealität habe. R ur das Individuum sei das Leben­ dige. Es gebe zwar die vielen Individuen gleicher Art, desgleichen den Zusammenhang ihres Lebens; aber weder diese Vielheit noch dieser Zu-

sammenhang sei etwas Lebendiges, genau so wie ja auch die Vielheit und Verbundenheit bewußter Menschenwesen nicht selbst wiederum ein Be­ wußtsein oder gar einen Menschen höherer Ordnung ausmacht. Diese Auffassung muß trotz ihrer Abwegigkeit ernstlich erwogen und widerlegt werden, weil sie sich in irritierender Weise auf unbestreitbare Phänomene stützt, ihr Fehler aber nur rm Fehlschluß aus den Phänomenen liegt. E s läuft bei ihr auf eine A rt biologischer Atomistik hinaus, die Individuen werden wie Atome des Lebens betrachtet. Der Empirist denkt hier fast automatisch so: das Individuum ist gegeben, greifbar, sichtbar, seine Realität steht fest; die A rt aber ist doch nur ein Allgemeines, ein von den Individuen her Abstrahiertes. Wie sollte dem Realität und Leben zukommen, und nun gar die höhere Einheit eines „Lebendigen"? M an wird bei solcher Argumentation an den Satz des Antisthenes erinnert: „Das Pferdsehe ich. die Pferdheit sehe ich nicht". Ganz das Gegenteil ist der Fall. Zunächst was das Allgemeine als solches anlangt: natürlich gibt es das auch in der Abstraktion, aber nichts ist verkehrter, als deswegen alles Allgemeine in der W elt und int Leben für „abstrahiert" zu halten. Davon sich zu überzeugen, w ar bei der Kate­ gorie des Naturgesetzes genug Gelegenheit (Kap. 32 d, 33 s). D as Allge­ meine kann sehr wohl real sein, nämlich „in" den Cinzelfällen. E s hat nur keine selbständige Realität neben ihnen oder über ihnen, wie die universalistischen Theorien gemeint haben. Aber um Selbständigkeit solcher A rt handelt es sich hier gar nicht. D as Allgemeine in der realen W elt geht weder in einem Individuum auf» noch „existiert" es wie dieses. Existenz ist nicht seine Seinsweise, sondern ausschließlich die des in Raum und Zeit Einmaligen, d. h. des real Individuellen. Aber R ealität ist eben nicht identisch mit Existenz. W äre also die „lebende Art" nichts als die Form­ identität der gleichartigen Individuen, sie wäre auch dann etwas durchaus Reales in ihnen. Aber sie ist nicht das allein. Hier ist vielmehr noch etwas ganz anderes gemeint. D as Leben der Art im biologischen Sinne ist keineswegs bloß die Gleichheit der Lebensform in vielen Individuen. Eher schon könnte man es als die Summe alles Individuallebens gleicher A rt fassen; damit setzt man die Kategorie der Allheit an die Stelle der Allgemeinheit, und zwar mit Recht, denn um die Ganzheit des größeren Lebenszusammenschlusses handelt es sich hier, und nicht um Gleichartigkeit allein (vgl. Aufbau, Kap. 35 d, 37 d). Aber auch das genügt noch nicht. Denn auch die Allheit der lebenden Individuen macht noch kein gemeinsames Leben aus. Um das gemeinsame Leben aber geht es hier, und zwar um ein solches, das nicht nur die simul­ tan nebeneinander herlebenden Individuen umfaßt, sondern auch die zeitlich aufeinanderfolgenden und den Wechsel ganzer Generationen. Das

Leben der Art ist diejenige Einheit des Lebenszusammenhanges, in der die Individuen wechseln, sich ablösen, geboren werden und sterben, wäh­ rend sie selbst unverändert fortbesteht. D as gilt keineswegs bloß von Tieren, die in Herden leben, oder Pflanzen, die in Kolonien wachsen, sondern genau ebenso von einsiedle­ risch lebenden Arten. Auch bei diesen finden sich die Individuen eben doch wieder zur Fortpflanzung zusammen. Und da es hier um Gemeinschaft im Sinne des Stammeslebens geht, so kommt es in erster Linie auf die Fortpflanzung an. Durch das immer wieder einsetzende Sichzusammenfinden kreuzen und durchdringen sich auf die Dauer doch die sonst wohl divergierenden Stammeslinien des Ärtlebens. Der zeitlich sukzesiive Charakter der Lebensgemeinschaft ist hierbei offenbar die Hauptsache. Jedes Individuum ist in der Zeitdimenston ein Glied der grotzen Kette zwischen Vor- und Nachfahren. E s empfängt das Leben von anderen Individuen, trägt es eine Weile fort an seinem Teil und gibt es dann anderen weiter. Dann verschwindet es aus der Ge­ meinschaft. Dieses sein Eliedsein ist etwas ganz Reales, Konkretes, ja sogar Erfahrbares; es ist dem Züchter beobachtbar, konstatierbar, und um dieser Gliedschaft willen stellt er den Stammbaum eines edlen Tieres auf. Von hier aus gesehen kann das Leben der A rt nicht mehr als Ab­ straktion erscheinen. E s ist ein reales Gesamtleben, nicht weniger zeitlich, einmalig und wirklich in seiner Ganzheit als das Leben des Individuums. Es ist nur ein Leben anderer Grötzenordnung und ohne die sichtbare Einheitsform eines Eesamtorganismus. Aber das eben ist hier zu lernen: der Organismus ist nicht die einzige Form der Lebenseinheit. Hat man das erfaßt, so sieht man, datz sich von hier aus eine neue und fundamentalere Bestimmung des Individuums ergibt: das In d i­ viduum ist weit entfernt, das selbständig für sich lebende Gebilde zu sein, als das es sich zuerst darstellte. Es ist vielmehr der jeweilige Träger des Lebens der Art, welches durch seine zeitlich eng begrenzte Existenz hin­ durch . und über sie hinaus sich fortsetzt. Dementsprechend ist auch seine Funktion in diesem gröberen Zusammenhang eine andere, und zwar eine den individuellen Erhaltungsfunktionen übergeordnete. Vor solchen Tatsachen wird die „atomistische" Auffaffung des A rt­ lebens unhaltbar. 2m Grunde verführt ja auch nur der schiefe Terminus „A rt" zu dem Vorurteil, als handelte es sich bloß um die gleiche B e­ schaffenheit vieler Einzelgebilde, oder gar um einen menschengemachten Begriff. Die Termini „Art, Gattung, Ordnung usf." werden in der Logik ja auch wirklich in diesem äuberlichen Sinne gebraucht; das erweckt den Schein, als ginge es überhaupt nur um Klassifikation. M an sucht unwill­ kürlich nach einem besseren Terminus, der den Inbegriff der Individuen

zugleich als simultane und sukzessive Totalität mit zum Ausdruck brächte. Aber die Sprache hat keinen. c. Einheit und Erhaltung des überindividuellen Lebens Damit tritt denn auch klar die neue Form der Erhaltung in Erschei­ nung, um die es sich im Leben der Art handelt. Und mit ihr zugleich wird die Einheit und Identität des Lebens im Fortbestehen der A rt greifbar. M an mutz die Erhaltung nur an der richtigen Stelle suchen. Denn jetzt geht es nicht mehr um Erhaltung des einzelnen Organismus, sondern um eine ganz andere. W as sich erhält, ist hier nur das Leben der Art — ein Lebensprozeß, in dem die Individuen kommen und gehen, der »Iso über sie hinweggeht, ja über ganze Generationen und Generations­ folgen von Individuen hinweggeht. Cs treten immer wieder andere Individuen in ihn ein, um ihn zeitweilig fortzuführen, und verschwinden aus ihm, ohne daß er selbst sich dabei wesentlich zu verändern brauchte. Er wahrt seine Identität, er „behaut", er dauert, indem jene entstehen und vergehen. M an sieht leicht, daß in diesem Prozeß großen S tils die Individuen eine ähnliche Rolle spielen wie der wechselnde Stoff im Stoffwechsel des einzelnen Organismus. Sie „wechseln" in analoger Weise. Und doch ist das Verhältnis ein ganz anderes. Denn gerade Stoff find die Individuen nicht, sondern voll ausgebildete Repräsentanten der A rt und Träger ihres Gejamtlebens. Dieses Verhältnis harrt noch seiner genaueren Be­ stimmung. Ebenso aber sieht man von hier aus, daß die Id en tität und Erhaltung der A rt in diesem Eesamtprozeß weit entfernt ist, ein bloß Allgemeines zu sein. Sie ist etwas, w as sich in höchst realer Drastik abspielt, oft in hartem Ringen der Individuen mit Feinden und untereinander. Denn begrenzt ist der Schutz, den die Ausrüstung des Individuum s ihm ge­ währt. Das Leben der A rt aber hat einen stärkeren Schutz seines F ort­ bestehens, durch die immer neu auftretenden Mengen der Individuen, in denen es weiter geht. So tritt das Individuum hier unter eine andere Zweckmäßigkeit, die des überindividuellen Lebensprozesses. Von diesem aus ist sein Leben, wenn es sich fortgepflanzt hat, relativ gleichgültig,' das Leben der A rt läßt es fallen. Hiernach kann man das überindividuelle Leben noch präziser in seinem Realitätscharakter fassen: es ist ein Leben, das zwar nirgends anders a ls im Leben der Individuen lebt, aber in immer anderen; ein Leben, das ihre Kette durchläuft, das in vielen Stammeslinien parallel neben­ einander her verläuft, sich aber durch Kopulation der Individuen immer wieder zur Einheit zusammenschließt, indem die Linien sich kreuzen. I n diesem Sinne ist es zwar das Leben einer Gesamtheit von Individuen,

aber doch zugleich vielmehr ein Eesamtleben, das sich im Wechsel der simultanen Lebensgemeinschaft seiner Träger auch sukzessiv als einheit­ licher Prozess darstellt. Wenn irgend etwas an diesem Gesamtleben wirklich blosse „Abstrak­ tion" menschlicher Sehweise ist, so ist das die Vorstellung isolierter In d i­ viduen. Abgetrennt vom Gesamtleben ist das einzelne Exemplar der A rt ein Unding. M an kann es wohl künstlich isolieren, dann aber ist es au s seinem natürlichen Lebenszusammenhange herausgerissen und nicht mehr das, w as es in der freien N atur war. I n der N atur gibt es kein für sich bestehendes Individuum ; ein jedes hat die Artgenossen neben sich, meist sehr aktuell im Kampf um Nahrung und Lebensraum, es hat die Stammeslinie hinter sich, die Nachkommenschaft vor sich, es ist Glied der Kette. Auch für die Einzelgänger in der N atur gilt das. N ur durch be­ sondere Umstände kann das Individuum isoliert werden. Aber dann ist das Leben der A rt in ihm todgeweiht. Dem Menschen aber täuscht immer wieder die Geschlossenheit des organischen Gefüges in ihm Isolie­ rung vor. Vom Individuum aus lässt sich das Lberindividuelle Leben einer A rt ohne Schwierigkeiten a ls ein Gefüge höherer Ordnung — „über" dem des Individuums — verstehen. E s ist zwar kein Formgefüge, wohl aber ein Prozessgefüge; es hat keine räumlich angebbare Gestalt (obgleich es sich stets auch räumlich in charak­ teristischer Weise ausbreitet), wohl aber sehr bestimmte zeitliche Gestalt, die in der periodischen Wiederbildung der Individuen auch ganz konkret greifbar ist. Auch dieses Gefüge ist ein durchaus organisches mit selbsttätigen Teilprozessen und deren Widerspiel, mit charakteristischer Morphogenese, aktiver Selbsterhaltung und Regulation. E s ist nur kein sichtbares Gebilde mit dinglicher Erscheinungsweise wie das Individuum. E s ist deswegen auch kein Organismus höherer Ordnung, wohl aber ein Gefüge von Organismen. Es hat, in erster Näherung gekennzeichnet, die Seinssorm eines Kollektivums, geht aber darin nicht auf, weil es um vieles mehr noch die sukzessiv gegliederte Reihe der Individuen und ihrer Generationen ist, deren wirkliche Totalität zeitlich niemals bei­ sammen ist. Die Id en tität eines Artlebens muss sich daher in derselben Weise wie die eines Individuum s erst gegen den eigenen Prozesscharakter durch­ setzen. Denn im Prozess ist sie gefährdet. Und fragt man sich, was denn hier eigentlich gefährdet ist, so findet man, dass es etwas in seiner A rt Einmaliges und Einziges in der N atur ist, eine nur einmal in der Welt auftauchende Kette von Individuen, die, wenn sie einmal abreisst, nicht wiederkehrt. Damit aber erweist sich das Leben der A rt — entgegen der naiv-äuherlichen Auffassung, die es für ein Allgemeines nimmt, — als

ein int strengen Sinne des Wortes Individuelles, nämlich als ein im Realzusammenhange der Welt „Einmaliges". D as Stammesleben einer A rt spielt sich in der Zeit ab, hat in ihr seine Dauer, seinen Anfang und sein Ende (Artentstehung und Artentod); es hat auch seine Lebens­ geschichte, hat seine Schicksale und Wandlungen, seine Gefahren und seinen Kampf um die Existenz, sein Aufblühen und Niedergehen. D as alles gibt es an einem Allgemeinen nicht. D as kann es nur an einem Einzelnen und Einmaligen geben. Diese Grundzüge, lauter lote« goriale Momente, teilt das Leben der A rt mit dem Leben des In d i­ viduums. Es hat nur nicht selbst die Form eines Individuums. Diese patzt offenbar nicht mehr für ein organisches Gesamtgefüge von höherer Erötzenordnung. Daher scheint das Leben sich hier diffus und strukturlos in die unbestimmte Vielheit der Individuen zu verlieren. Und darum bedarf es nun, um die Lebenseinheit in der diffusen Vielheit wiederzu­ erkennen, der besonderen kategorialen Besinnung. N ur scheinbar paradox ist es, datz gerade das überindividuelle Leben ein so streng individuelles ist. Genau genommen ist nämlich das Leben des Individuum s nicht im gleichstrengen Sinne individuell. E s sind ja Individuen der gleichen Art, und ihr Leben ist auch von gleicher A rt; das Gleichartige aber ist als solches das Allgemeine. N ur ihre äußeren Schick­ sale, sowie mancherlei kleinere Besonderheiten find verschieden; aber auch sie unterliegen weitgehend einer gewisien Typik, wie sie eben der A rt­ charakter mit sich bringt. Das Individuum-Sein ist innerhalb einer leben­ den A rt überhaupt das Gemeinsame, das allen Gemeinsame, das was in unzähligen immer wiederholten Fällen wiederkehrt. Kurz, das Individuum-Sein als solches ist gerade nicht individuell, sondern durchaus allgemein. D as Eesamtleben der A rt dagegen ist in seiner Ganzheit wirklich nur eines. E s hat genau die Einzigkeit und unwieder­ holbare Einmaligkeit, die das in ihm auftretende Individuum nicht hat und als bloßes Exemplar auch nicht haben kann. Erst das Leben der A rt ist ein wirklich individuelles. d. Das Lebensgefüge höherer Ordnung. Stellung des Individuums in ihm

Das Leben der A rt ist das lebendige Ganze höherer Ordnung und zeigt alle Charaktere eines solchen, obgleich es auseinandergezogen ist in die Vielheit der Individuen und deshalb dem an dingliches Erscheinen gewohnten Blick schwerer faßbar ist. I n die zeitlich verschiedenen Lebens­ stadien auseinandergezogen ist ja auch das Individuum. Im einen wie im anderen Falle laufen die wirklichen Fäden der Verbundenheit zur Einheit im Verborgenen. Die größere Selbständigkeit des Individuums, wie sie etwa in der freien Beweglichkeit der Tiere erscheint, ist nur eine

äußere. I n Wirklichkeit ist die Selbständigkeit des Artlebens noch die größere, weil das Individuum außer seiner Bindung an bte der ganzen A rt gemeinsamen äußeren Lebensverhältnisse noch durch die besonderen Funktionen, die es im Leben der A rt erfüllt, an dieses gebunden ist. D as Leben der Art erweist sich in jeder Beziehung als Gefüge höherer Ordnung; zwar ist es selbst mannigfach bedingt, dem Leben des Jndividiums aber durchgehend übergeordnet. E s umfaßt das Individuum als sein Glied, es schaltet mit ihm wie mit einem ersetzbaren Teil. D as In d i­ viduum seinerseits wird in dieses Ganze hineingeboren und macht sein Leben eine Zeitlang mit; es gehört ihm durch die ererbten Tharaktere der A rt an, empfängt sie von anderen Individuen und gibt sie anderen weiter. Die ganze Korrelation „Individuum — Art" ist so beschaffen, daß beides unlöslich aneinander gebunden ist. Beide Glieder sind Bedingung und beide Bedingtes voneinander. Es wäre falsch, in dieser Korrelation das Individuum herabzusetzen. Das Individuum ist zwar bloß zeitweiliger Träger des Artlebens, bloß Repräsentant; aber man kann nicht sagen, es „habe bloß teil" am Eesamtleben der Art. Ein Teilhabeoerhältnis würde voraussetzen, daß das Eesamtleben erst einmal für sich und unabhängig vom Individuum be­ stehe. Davon kann keine Rede sein, die A rt a ls lebende Ganzheit verhält sich zum Individuum nicht wie die Platonische Idee zu den Dingen, son­ dern wie das Gefüge zum Element (oder zum Gliede). Diese Ganzheit besteht nur „in" ihren Gliedern, ist getragen von ihnen; sie ist dank der größeren Menge der Individuen zwar unabhängig vom einzelnen Träger und darum gleichgültig gegen ihn, aber nicht unabhängig von den tra ­ genden Individuen überhaupt. Wo deren Anzahl zu klein, ihre Gefähr­ dung zu groß wird, ist auch das Leben der A rt gefährdet; und wo keines übrig bleibt, geht es selbst zugrunde. Die lebende A rt bleibt an das lebende Individuum grundsätzlich ebenso gebunden wie dieses an sie. I h r Leben, das nach Jahrtausenden und Jahrhunderttausenden mißt, geht durch sein begrenztes Leben hindurch, läßt es hinter sich und geht in anderen fort. Aber es geht nicht ohne In d i­ viduen fort. D as Individuum ist begrenztes Durchgangsstadium, aber notwendiges Glied in der Kette wie im jeweiligen Bestände. Deswegen verteilt sich auch die Zweckmäßigkeit der Funktionen im Einzelorganis­ mus gleichsam „gerecht" zwischen den Erfordernissen des Individuums und denen der lebenden Art. Tatsächlich sind diese Erfordernisse ja auch aneinander gebunden: mit einem schwachen Individuum ist dem Gesamt­ leben der A rt ebensowenig gedient wie mit einem starken, aber fort­ pflanzungsunfähigen. Und im ganzen findet man, zumal bei niederen Organismen, daß das Individuum noch mehr an die Erhaltung des Eefamtlebens als an die des eigenen angepaßt ist. Das wird sehr über-

zeugend an der ungeheuer hohen Jndividuenzahl, die bei manchen hoch­ gefährdeten Arten in jeder Generation neu gebildet wird: das Gesamt­ leben gleicht die Gefährdung nicht durch verstärkte Wehrhaftigkeit der Individuen aus, sondern durch ihre Anzahl, d. h. durch großzügige Ver­ schwendung, die es mit ihnen treibt. Bei sehr hoher Reproduktionsziffer in jeder Generation bleiben dann trotz hoher Vernichtungsziffer noch genügend Träger des Artlebens übrig. D as ist möglich, weil das Gesamtleben einer A rt grundsätzlich in weiten Grenzen unabhängig von der Anzahl der jeweiligen Träger be­ steht. F aßt man es also als den Lebensprozeß eines Kollektivums, so darf man es doch niemals als Summe individuellen Lebens vorstellen. Sonst müßte es mit der Anzahl der Individuen steigen und finken. Und das gerade ist in weiten Grenzen nicht der Fall. E s kann numerisch bis auf einige Individuen Herabfinken, kann fich aber von diesen aus unter günstigen Bedingungen ebenso wieder numerisch ausbreiten. Daß es auch ein M inimum gibt, unter welches es nicht ungefährdet finken darf, hängt mit anderen Faktoren zusammen und ändert nichts an dem weiten Spiel­ raum der Gesamtzahlen.

e. Der morvbogenetilche Prozeß höherer Ordnung

Das eigentliche Geheimnis des Lebens der A rt ist die Reproduktion der Individuen. D as Individuum hat seine zeitliche Selbstbegrenzung, den Tod. Aller Ausgleich der komplementären Prozesse in ihm, alles Gleichgewicht, alle selbsttätige Regulation in ihm findet hier eine Grenze. W äre das Leben auf das Individuum beschränkt, so müßte es m it seinem Tode erlöschen. Daß dem nicht so ist, beweist eindeutig, daß das Leben von Hause aus nicht einfach das des Individuum s ist. Vielmehr zeigt stch hier, wie sehr der Einzelorganismus nur jeweiliger Lebensträger ist, wie sehr er in den Gesamtlebensprozeß der A rt eingespannt ist und ihm dient. Denn er gibt sein Leben selbsttätig weiter, er reproduziert fich in neuen Exemplaren der Art, und das Leben der A rt geht in diesen weiter. E s gibt das Leben des Individuums preis und setzt sich in neuen In d i­ viduen fort. Diese A rt Reproduktion ist eine andere als diejenige, die innerhalb des lebenden Individuum s dessen ständige Selbsterneuerung ausmacht. Richt einzelne Strukturbestandteile werden hier wiedergebildet, sondern das ganze Individuum. Eine neue Lebenskurve beginnt, von der Höhe der alten ausgehend, das Individuum „pflanzt fich fort". M it dieser seiner Fähigkeit der Fortpflanzung steht es ganz im Dienste des Gesamt­ lebens ; denn indem es sie betätigt, setzt es nicht sein eigenes Leben, sondern das seiner A rt fort.

Die „Jndividualreproduktion", b. h. die Selbstwiederbildung des ganzen Organismus, ist der morphogenetische Prozeß höherer Ordnung. Dieser Prozeß bildet auf der Stufe des Eesamtlebens die parallele Funk­ tion zu dem, was auf der Stufe des Individuum s die Assimilation ist. Und auch .darin gleicht er der Assimilation (insonderheit der morpho­ logischen), daß auch er von der vorbestehenden organischen Form ausgeht, also die Form nur „wiederbildet". I n anderer Hinsicht ist er ihr ganz unähnlich. E r durchläuft eine ganze Reihe von Stadien, ist bei den höheren Arten ein hochkomplizierter Ablauf fortschreitender Differenzie­ rung, in dem nur das erste Stadium direkt an die ausgereifte Form an­ schließt,' die weiteren Stadien laufen mit einer gewissen Selbständigkeit, zum Teil sogar in Abgelöstheit von ihr ab. Das zeugende Individuum gibt direkt nur das Anfangsstadium des Prozesses her; alles weitere ist „Entwickelung" von diesem aus, d. h. eine Folge sich ablösender Stadien, die von ihm au s bestimmt ist. Die beson­ dere Eigenschaft des Anfangsstadiums, in dieser Weise bestimmend zu wirken, nennen w ir seinen Anlage-Eharakter; wobei aber zunächst gänzlich unbestimmt bleibt, w as eigentlich das „Angelegtsein" späterer Entwicklungsstadien in ihm ausmachen soll, desgleichen w as eigentlich hier „Entwickelung" heißen soll. Denn natürlich denkt der Biologe weder an ein Enthaltensein der Endform in der Anlage noch an ein buchstäb­ liches Sich-Auswickeln eines Eingewickelten. E s wird sich noch zeigen, welche Schwierigkeiten in diesen beiden einander ergänzenden Begriffen enthalten find. Indessen beide, Entwicke­ lung wie Anlage, find hier unentbehrlich. E s kommt nur darauf an, wie man sie faßt. Sie umreißen zunächst auch bloß deskriptiv einen in sich höchst komplizierten Phänomenbestand und dienen dazu, den Wieder­ bildungsprozeß des Individuum s von Prozessen anderer A rt (auch orga­ nischen) gebührend zu unterscheiden. M an meint damit die in der T at höchst wunderbare Steuerung des ganzen Vorganges auf fein Endziel, die entfaltete Artform, hin. R ur als Entwickelung kann ein so hoch diffe­ renzierter Prozeß formgerecht verlaufen. Aber eben deswegen ist und bleibt das eigentliche Rätsel in ihm das „Anlagesystem", das ihn deter­ miniert. Die Morphogenese in der Fortpflanzung verhält sich zum Sterben der Individuen genau so wie im Stoffwechsel die Assimilation zur Dissimi­ lation. S ie ist der nachschaffende Wiederaufbauprozeß, der dem ständigen Abbau und Ausfall der Individuen entgegenarbeitet und ihn ausgleicht. Das reimt sich mit der bereits erwähnten Analogie zum Stoffwechsel des Individuums, wie sie sich im Gesamtleben der A rt ganz von selbst auf­ drängt. Die Rolle des organisierten Stoffes spielen hier die Individuen

selbst: sie werden wiedergebildet, wie dort die chemischen und morpho­ logischen Bausteine wiedergebildet werden; und das Eesamtleben scheidet fie durch den Tod aus, wenn sie ihre Rolle für die Weitergabe des Lebens ausgespielt, d. h. wenn sie sich fortgepflanzt haben. E s läßt sie gleichsam fallen und ersetzt sie durch die neugebildeten. Wo das gestörte Gleich­ gewicht der alten Gefüge sich nicht wiederherstellen läßt, da springt die Wiederbildung vom Teil auf das ganze Gefüge über und wird zur Her­ vorbringung neuer organischer Gefüge, in denen das alte Gleichgewicht sich dann wiederherstellt. Da es aber in den neuen Individuen grundsätzlich doch ebenso labil ist und sich durch innere Regulation nur begrenzte Zeit halten kann, so ist die W ahrheit des ganzen Verhältnisses die, daß sich dem ewig labilen Gleichgewicht des individuellen Lebens ein Gleichgewicht höherer Ord­ nung überlagert. D as eben geschieht im Gesamtleben der Art, als dem organischen Prozeßgefllge höherer Ordnung, und zwar durch das Wider­ spiel von Sterblichkeit und Reproduktion der Individuen. D as Gleich­ gewicht stellt sich also erst auf der nächsthöheren Stufe des Lebens wieder her. Auf das Gesamtleben der A rt überträgt sich so die Stabilität im Verhältnis von Abbau und Aufbau, die das Individuum nicht, oder doch nur für sehr eng begrenzte Dauer, leisten kann. 2m Gesamtleben wird das durch den Tod abgebrochene Leben wieder kontinuierlich. Vom Eesamtleben der Art aus stellt sich die Austeilung seiner Ganz­ heit an die Vielheit der Individuen a ls die eigentümliche Form der Dis­ kretion dar, in der allein das Leben größere Zeiträume überdauern kann. R ur in solcher Aufteilung ist offenbar ein Schalten des Lebens mit den Individuen wie mit einem M aterial möglich, das da wechselt und sich ersetzen läßt. Metaphysisch liegt es von hier aus nah, auch die In d i­ viduation überhaupt und als solche für das Sekundäre zu halten, die Kontinuität der Art aber für Las allein Prim äre. Solch ein Gedanke lag auch wohl der Aristotelischen Formenmetaphysik zugrunde, sofern sie die Individuation auf M aterie zurückführte. Von ihr ist hier schon au s anderen Gründen ganz abzusehen. Wohl aber kann man in diesem Gedanken einen noch unscharf gesehenen Wahrheitskern finden. E r würde in heutigen Begriffen etwa so aussehen: da es sich um Erhal­ tung des Lebens im Kampfe mit seinem Selbstoerbrauch und der natür­ lichen Labilität der lebendigen Form handelt, so fällt in dem korrela­ tiven Verhältnis von Individuum und A rt in der T at das größere Gewicht auf das Leben der Art. Denn das Gesamtleben der A rt ist schließlich dasjenige, was sich a ls dauerhaft durchsetzt und kontinuierlich durch die Menge der Individuen hindurchgeht, indem es sie zur sukzessiven und mittelbar auch zur simultanen Einheit hin zusammenschließt.

f. Selbsttrankendenr des Individuums und Konsistenz des Gesamtlebens

Wichtiger noch als d ie . Wiederbildung des Individuum s selbst ist in diesem Zusammenhang der Modus der Erhaltung, der durch sie erreicht wird. Auf ihn wurde schon oben hingewiesen. Kategorial faßbar aber wird er erst auf Grund des vom lebenden Individuum spontan ausgehenden Wiederbildungsprozesses. 2 n diesem Prozeß überschreitet das lebende Individuum sich selbst. Er ist seine „Selbsttranszendenz". Damit stehen wir vor dem großen Phänomen einer Erhaltung, die nicht auf Subsistenz, sondern auf Konsistenz beruht (vgl. Kap. 24 a—c). Auf die Erhaltung des Individuums in seinen Lebensgrenzen durch die Wiederbildung niederer Ordnung (Assimilation) traf zwar auch schon etwas Ähnliches zu. Hier aber handelt es sich um Erhaltung größeren S tils, getragen von Reproduktion des ganzen Individuums, und zwar ohne daß ihr vom Lebensprozeß der A rt selbst eine zeitliche Grenze gesetzt wäre. Denn der Artentod ist nicht eine spontane, sondern eine an äußeren Bedingungen hängende Grenze des Artlebens. Bon den beiden kategorialen Momenten der Substanz, der Beharrung und dem Substrat, ist in dieser Erhaltungsform nur das erstere vertreten. Eigentliche Substantialität gibt es oberhalb des Anorganischen nicht, w il es oberhalb der Energie und der dynamischen Verhältnisse keine Substrate mehr gibt, die sich als Zugrundeliegendes durch ihre Unzerstörbarkeit er­ halten. Es gibt kein „Substrat des Lebens". Die Art, wie sich das Leben erhält, ist die umgekehrte: durch aktive Überwindung der Vergänglichkeit, überwunden aber wird hierbei nicht die Vergänglichkeit des Individuums, die vielmehr voll in Kraft bleibt, sondern durchaus nur die des Lebens höherer Ordnung, des Gesamtlebensprozesies — und zwar dadurch, daß das Individuum sich in seiner Fortpflanzung selbst überschreitet. Die Selbsttranszendenz des Individuums macht die Konsistenz des Gesamt­ lebens aus. Dieses Gesamtleben erhält sich nicht „unter" dem Leben der Individuen her wie ein tragendes Fundament, sondern „über" dem Leben der Individuen und von ihnen getragen, zeitweilig zum Teil im Einzel­ organismus verlaufend, sodann aber von ihm weitergegeben an andere Individuen, und zwar aktiv weitergegeben durch die von ihm bewirkte Wiederbildung. E s erhält sich also das Leben höherer Ordnung, aus­ ruhend auf dem Leben der wechselnden Individuen, wobei deren eigene Reproduktionsfunktion für das Richtabreißen der Kette sorgt. I n der Selbsttranszendenz des Individuum s bricht in diesem selbst das Leben der A rt durch. Denn nicht dem Individuum, sondern dem Stammes-

leben kommt die aktive Selbstwiederbildung der organischen Form zugute. Das Leben der A rt erweist sich hier als das mächtigere, es überwindet den Tod des Individuums, indem es das Individuum überwindet. Und zwar überwindet es das Individuum noch im Leben des Individuums selbst. Bersteht man also das Leben der A rt als das höhere organische Prozeßgefüge, so läßt sich sagen: die Konsistenz des höheren Gefüges ist auf die aktive Selbsttranszendenz des niederen gestellt. Sofern sie aber in einem Ausgleich von Verfall und Wiederbildung der niederen Gefüge besteht, wird dieser Ausgleich nicht vom niederen Gefüge, sondern von dem ge« tragenen höheren Gefüge aus reguliert. Hier eben setzt die eigenartige Ganzheitsdetermination des letzteren ein. N ur so kann der Ausgleich im Widerspiel der Prozesie letzten Endes der Erhaltung des Artlebens zu­ gute kommen. Die sich selbst transzendierende Aktivität des Individuum s ist also in ihm selbst bereits eine Funktion des von den Individuen getragenen höheren Gefüges. E s ist das Stammesleben, das in der Reproduktion der Individuen durch Individuen sich in deren Leben als wirksam erweist. Und die Determination, welche diesen Erhaltungsmodus gegen den Zerfall der Individuen aufrecht erhält, hat den Eharakter der Rückdetermination des tragenden niederen Gefüges vom getragenen höheren aus. Konkreter gesprochen: die Zeugungsfunktion des Individuum s — von der einfachen Teilung der Einzelligen bis zum hochentwickelten Geschlechts­ leben der höheren Pflanzen und Tiere — ist eine Funktion des Gesamt­ lebens der A rt in ihnen. Darin ordnet sich dieses eindeutig dem Leben der Individuen über, obgleich es auf ihm beruht. E s bestätigt sich darin überzeugend das kategoriale Gesetz der Freiheit, daß die höheren Gebilde den niederen, von denen sie dem Aufbau nach abhängig sind, durch ihre Autonomie dennoch überlegen sind. Diese Autonomie ist hier eindeutig greifbar in dem ganz anders gearteten Prinzip, das sich in der über das Leben des Individuums hinausgreifenden Funktion der Zeugung ankündigt. Die Konsistenz im Leben der A rt — im Gegensatz zu aller Sub­ — ist das Ruhen der höheren Form auf dem beweglichen Gefüge der Prozesse, in welchem die niedere unausgesetzt vergeht und wieder ent­ steht. Zugleich aber ist sie auch die Regulierung dieses Prozeßgefüges durch die auf ihm ruhende Form. Die Identität des Gesamtlebens ist ein schwebendes Beharren, gleichsam die im Ringen mit der eigenen Vergäng­ lichkeit sich immer wieder selbsttätig herstellende Identität. Auch darin gleicht sie, kategorial betrachtet, der begrenzten Identität des Individuums, die auf einem ähnlichen Gefüge der Prozesse ruhend, sich durch deren Regulation in der Schwebe erhält.

sistenz

g. D as kategoriale Reproduktionsgesetz

Aus dem Verhältnis der beiden einander überhöhenden Stufen der Reproduktion — der Assimilation „im" Individuum und der F ort­ pflanzung „des" Individuums, die beide morphogenetifche Prozesse find und im „Gleiches-Bilden" bestehen — läßt sich ein Grundgesetz des Lebens entziffern, das man das „Reproduktionsgesetz" nennen kann. Es zeigt den charakteristischen Typus eines rein biologischen» gänzlich unmathematischen Gesetzes. Aussprechen läßt es sich so: jede A rt der Selbstwiederbildung ist Selbst­ erhaltung des Lebens, aber nicht des Lebens derselben Stufe, sondern der nächsthöheren. Oder kürzer: Reproduktion niederer Lebenseinheit ist Erhaltung der höheren. Und in jedem Falle ist sie bereits eine Funktion der höheren Lebensstufe im Gefüge der niederen, nicht eine solche der niederen selbst, obgleich die Wiederbildung aktiv von dieser geleistet wird. Greifbar wird sie als „Formtätigkeit" der höheren Lebensform an der von ihr bestimmten und auf ihre Erhaltung allein angelegten Regulation der Wiederbildung. So ist die Assimilation nicht Erhaltung der assimilie­ renden Plasmateilchen, sondern Erhaltung des Individuums (sowohl der freilebenden Zelle als auch des vielzelligen Organismus), desgleichen die Fortpflanzung des Individuums nicht Erhaltung des Individuums, son­ dern des Stammeslebens der Art. Die ganze „Zweckmäßigkeit" der reproduktiven Funktion zielt immer über das reproduzierende Gebilde hinaus auf das größere Ganze des Lebens. Der Vorgang als solcher ist schon seiner Richtung nach Selbst­ preisgabe und Selbsttranszendenz. D as Individuum wird im Eesamtleben der A rt zum vorübergehend funktionierenden Organ; seine Existenz ist in diesem Ganzen nur eine Teilfunktion, so wie das Bestehen der assimilie­ renden Plasm ateile nur die Teilfunktion in der Zelle und im vielzelligen Organismus bedeutet. Die A rt bleibt stabil in der Labilität des Individuum s; sie treibt mit den Individuen einen Stoffwechsel größeren S tils, in welchem die ganzen Stoffwechselsysteme zum wechselnden Stoff herabgesetzt find. Und sofern alle organische Erhaltung auf der Stabilität eines P rozeßgleichgewichts beruht, läßt sich sagen, daß in der Überhöhung der Reproduktionsprozesie auch eine Staffelung der Gleichgewichte steckt. Die Labilität des niederen Gleichgewichts gleicht sich erst in der Stabilität des nächsthöheren Gleichgewichts wieder aus. J a noch mehr, diese Labilität ist H a r t m a u n , Philosophie der Statur

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sogar die Voraussetzung für das Gleichgewicht höherer Ordnung. Denn gerade weil die Individuen sich im Stammesleben nicht erhalten, sondern wechseln, kann sich in ihrem Kommen und Gehen ein Gleichgewicht höhe-, rer Ordnung im Widerspiel von Sterblichkeit und Reproduktion der Individuen herausbilden. Hier drängt sich nun eine noch allgemeinere Überlegung auf. D as Ver­ hältnis von Reproduktion und Gleichgewicht ist nicht ein der einzelnen Gefügeordnung des Lebens immanentes, sondern ein zwischen zwei Ord­ nungen verschiedener Höhe spielendes. E s ist eine „intersystematische" Korrelation. Einfachere Beispiele einer solchen Korrelation sind wohl­ bekannt, weil sie überall dort auftreten, wo ein kategoriales Verhältnis sich relativiert in Stufen wiederholt, wie z. B. das von Form und M aterie, von Element und Gefüge. W ir find ihnen schon unterhalb des Organischen begegnet, so im Stufenbau der N atur, wobei es denn auch bereits ein intersystematisches Gesetz zu verzeichnen gab. das Dynamische Grund­ gesetz des Stufenbaus", welches besagte, daß die Außenkräfte des kleineren Gefüges zugleich Jnnenkräste des größeren sind (Kap. 41 c, d). So ist es auch hier, nur auf Grund anderer Bedingungen: Reproduktion des Leben­ digen niederer Ordnung ist zugleich Erhaltung des Lebendigen höherer Ordnung. Dieser intersystematische, d. h. die Ordnungen des Gefüges verbindende Charakter ist gerade der eigentliche Erundcharakter des ganzen Verhält­ nisses: in ihm wurzelt alle Selbsterhaltung labiler Prozeßgefüge, d.h. solcher Gefüge, deren Gleichgewicht immer wieder erst aktiv stabilisiert werden mutz, also der organischen. Solche Gefüge eben erlangen ihre Erhaltung nicht mehr in der eigenen Ordnung, sondern erst in der höheren, und zwar dadurch, daß sie sich dieser restlos ein- und unterordnen. Darum gibt es bei den dynamischen Gefügen überhaupt keine Selbsterhaltung; ihre Gleichgewichte sind energetische, ihre Regulationen automatisch. Sie setzen der Zerstörung keine aktive Wiederbildung entgegen, gehen also ein­ fach zugrunde. Ih re Wiederentstehung ist eine ihnen äußerliche, nur durch die Gesetzlichkeit der Prozesse und die Typik der Kollokationen bestimmte. Darum gibt es bei ihnen auch das Einzelgebilde ohne den Zusammen­ hang ähnlicher Gebilde. Im Reich des Lebendigen ist das anders. Es gibt kein Leben des Individuum s ohne Gesamtleben der Art. Diese Staffelung der Ordnungen des Lebendigen ist nicht etwas Sekundäres, sondern gerade das Ursprüng­ liche. Wie denn das Leben der einfachsten Einzelligen erkennen läßt, daß Assimilation und Jndioidualreproduktion unmittelbar ineinander über­ gehende morphogenetische Prozesse sind.

52. Kapitel. Die Wiederbildung des Individuums a. Das Rätsel der Formübertragung M it alledem ist die große Frage, wie eigentlich die Wiederbildung der Individuen vor sich geht, noch gar nicht berührt. M it dieser Frage aber öffnet sich ein ganz neuer Problembereich mit Ausblicken auf weitere Kategorien. Denn die Wiederbildung ist ein morphogenetischer Prozeß von überwältigender Kompliziertheit, und das nicht erst bei den hochorganifierten Vielzelligen, sondern schon bei den Protozoen und Protophyten. D as liegt einfach daran, daß eine bereits komplexe Gesamtstruktur in allen ihren Teilen und Teilen von Teilen neugebildet werden muß, also keineswegs direkt von der vorbestehenden Form des lebenden Individu­ ums auf das entstehende neue Individuum übertragen werden kann. E s geht in diesem Prozeß ja auch nicht so her, daß alle Formteile gleichzeitig entständen, um dann etwa bloß nachzuwachsen. Sie entstehen vielmehr in bestimmter Reihenfolge und ohne direkte Einwirkung der entsprechenden Formteile des erzeugenden Organismus. Die Übertragung der Form ist also eine vermittelte, und zwar zum Teil eine durch mannigfaltige Zwischenstadien vermittelte. Wie aber ist vermittelte Übertragung möglich? Diese Frage wird sehr ernst, wo wie bei allen Metazoen und Metaphyten der ontogenetische Werdegang des Individuums eine längere Reihe von Phasen durchläuft, welche der entwickelten Form ganz unähnlich sehen, also weder dem Aus­ gangspunkt noch dem Endpunkt des Prozeßes gleichen. So ist es überall, wo es eigentliche Embryogenese gibt. Und noch merkwürdiger wird der Vorgang dort, wo noch eine nachträgliche „Metamorphose" hinzukommt, wie wir sie z. B. an vielen Insektenarten kennen. Gäbe es ein allwaltendes „Eidos" der lebenden Art, das nach Aristotelischer Weise diesen Prozeß leitete, d. h. als bestimmender FormZweck allgegenwärtig in allen Teilen und in jeder Phase des Werde­ ganges enthalten wäre, so ließe sich damit freilich alles „erklären". Leider nur ist, auch abgesehen von der Fragwürdigkeit einer solchen Annahme, alle derartige Erklärung vollkommen wertlos, weil sie tautologisch ist. Sie setzt, wie alle Zweckerklärung (Teleologie), eben das voraus, was sie erklären sollte: die zielgerechte Lenkung des Prozeßes auf ein vorbestimm­ tes Endstadium hin. Denn eben das bedeutet der konstitutiv als Leitprinzip verstandene Form-Zweck. E s schwebt dabei dunkel und ungeklärt das Bild einer Artvernunst oder eines Artgenius (spiritus rector) vor, der in der Vielheit der

Individuen lebt und die Prozesse steuert und wie ein vorsehendes Wesen über allem organischen Geschehen innerhalb des Lebens der A rt wacht. Diese Vorstellung ist ausgesprochen anthropomorphistisch und hat die üble Folge, daß ste alle weiteren Wege eindringender Forschung an der Wurzel abschneidet. E s ist selbstverständlich, daß die Kategorienlehre ebensogut wie die Biologie von solchen Phantasten absehen muß.

b. Entwickelung und Anlagesystem

Die Frage ist vielmehr, wie der Prozeß der Wiederbildung des Individuum s grundsätzlich zu fassen ist, wenn man von allen gewagt metaphysischen Annahmen absieht. Und da auch die heutige Wissenschaft, ungeachtet bedeutender Entdeckungen und Fortschritte, ihn eingestandener­ maßen nicht bis auf den Grund durchschaut, so muß man hinzufügen: es gilt nicht, ihn zu „erklären" — damit würde die Philosophie vorgeben, mehr von ihm zu wissen als die biologische Wissenschaft — sondern durch­ aus nur, ihn kategorial zu fasten. W as ja etwas ganz anderes ist. Denn Kategorien lasten sich auch deskriptiv vom Phänomen her aufweisen, ohne daß ihr eigener Gehalt restlos aufgedeckt werden könnte. E s gibt eben auch einen Einschlag des Unerkennbaren in den Kategorien selbst. Dafür haben w ir genügend frühere Beispiele vor Augen, um ihn an dieser Stelle nicht als Novum zu empfinden. Den unerkennbaren Rest gilt es dann mit in den Gehalt der Kategorie hineinzunehmen und als solchen gelten zu lasten. E s ist kein Zweifel, daß wir es hier mit einem Prozeß zu tun haben, in dem die Abfolge der Stadien von einem Anlagesystem aus bestimmt ist. Auf ein solches Anlagesystem ist der alte Aristotelische Begriff der Potenz sehr wohl anwendbar, zum mindesten als Bild, denn hier handelt es sich nicht um einfache Möglichkeit (weder um Teilmöglichkeit noch um volle Realmöglichkeit), fondem um die „prospektive" Funktion der Anlage auf bestimmte Formteile hin, und zwar bis in sehr verzweigte Details hinein. D as „Prospektive" freilich darf hierbei nicht als Vorausschau ver­ standen werden, sondern nur schlicht als das determinierende Moment bestimmter Anlageteile für bestimmte Teilformen der entwickelten Eesamtform. Da nun die letztere komplex ist, muß auch ihre Wiederbildung ein ebenso komplexer Prozeß sein, und zwar mit ähnlich komplexer Deter­ mination. Um diese Determination aber, die aus mannigfaltig ineinandergeflochtenen Fäden sukzessiv bestimmender Faktoren bestehen muß, handelt es sich recht eigentlich im Problem der Wiederbildung: die einzelnen Form-

Momente, Eigenschaften und Eigenfunktionen des sich bildenden O rganis­ mus muffen auf irgendeine Weife durch die Elemente des Anlagesystems vorbestimmt oder vorgezeichnet sein. Darauf beruht die ganze Erblichkeit der Artcharaktere. M an dachte sich das noch im 18. Jahrhundert sehr einfach in der Weise, daß ein M iniaturbild des Organismus im „Keime" vorgebildet sei. Ein solches brauchte dann nur nachzuwachsen, um den Organismus zu er­ geben. Diese „Präformationstheorie", vertreten etwa durch Bonnet, ver­ trug sich noch leidlich mit der alten Entelechie-Lehre des Aristoteles; es gehörte nur noch die genauere Bestimmung des Entwickelungsganges dazu. D aran aber fehlte es, solange die Frühstadien des Werdeganges nicht beobachtbar waren. Erst die Mikroskopie hat hier Bahn gebrochen. M it ihrer Einführung aber fiel auch die ganze Theorie sehr schnell. Denn von einer im Kleinen vorgebildeten Gesamtform des Organismus fand sich auch nicht die geringste Spur. S eit dann Pander und K arl Ernst v. B aer nachweisen konnten, dah überhaupt die frühen Embryonalstadien mit den späteren wenig Form­ ähnlichkeit zeigen, schlug die Theorie um, und K .F .W olff proklamierte die „Epigenesis" der Form, d. h. ihre nachträgliche Bildung durch suk­ zessive Differenzierung. Auch diese Theorie fiel sogleich ins Extrem: man meinte nun, die ursprüngliche Keimsubstanz müsie eine „einfache" sein, der Differenzierung liege als Ausgangsstadium das Undifferenzierte zugrunde. Aber wie sollte ein Anlagesystem undifferenziert sein können? Wie sollte sich dann die Keimsubstanz einer A rt von der einer anderen unter­ scheiden? Beide Extreme lasten sich offenbar nicht halten. Wie dort die Heterogeneität der Entwicklungsstadien unterschlagen ist, so hier die hohe Kom­ plexheit des Keimplasmas. Dennoch ist in beiden Theorien je ein zutreffen­ der Kerngedanke enthalten. Epigenesis der Form findet nachweislich statt, aber mit ihr allein ist die Entwickelung als solche nicht zu verstehen. Denn Entwickelung setzt eine Formanlage voraus, die sich in ihren Stadien sukzessiv a ls wirksam erweist. N ur darf die Formanlage nicht als form­ identisch mit der entwickelten Form verstanden werden. M an mutz davon ausgehen, daß die Entwickelung, um die es sich hier handelt, echte Morphogenese ist, also Neubildung der Form. Aber man mutz das nun den Phänomenen entsprechend auch in einem neuen und engeren Sinne verstehen, der nicht auf alle Stufen der Morphogenese patzt. E s steht hier hinter der Neubildung das Anlagesystem, und dieses mutz ein Inbegriff von Determinanten der Formbildung — von „Genen", wie der heute übliche Ausdruck lautet — sein. Ein solches System

determinierender Elemente oder Eene ist offenbar selbst schon ein lebendes Ganzes, ein organisches Gefüge im Kleinen, das sich durch Assimilation und Reproduktion erhält, aber eben ein ganz anderes a ls der aus-gewachsene Organismus und weder formal noch funktional ihm ähnlich. Bei dieser Heterogeneität des Anlagesystems ist nun weiter einzu­ setzen. Die Frage ist, wie der von ihr ausgehende Bildungsprozeß unter solchen Umständen zu verstehen ist, und worin die determinierende Funktion in ihm besteht. Diese Frage läßt sich weder von den Tatsachen her, soweit sie bekannt sind, noch auf Grund einer einigermaßen übersicht­ lichen Hypothese lösen. Es wird sich noch zeigen, daß sie heute überhaupt nicht ganz lösbar ist; was freilich nicht ausschließt, daß man ihr missen« schaftlich nachgeht und dabei manchen schönen Teilerfolg erzielt, des­ gleichen, daß man den unerkennbaren Rest in ihr einstweilen kategorial als solchen zu bestimmen sucht. N ur muß man sich dabei vor allen vor­ eiligen Schlüssen in acht nehmen. E s geht z.B. nicht an, das „Deter­ minieren" im Formbildungsgange auf einen Formbildungstrieb (nisus formativus) zurückzuführen, der auf unerklärliche Weise eine relativ ein­ fache Substanz zur Differenzierung in planmäßiger Abfolge brächte. Solche und ähnliche Annahmen sind schlechterdings tautologisch. Denn sie setzen ln dem angenommenen „Triebe" eben das voraus, was erklärt werden sollte. An unfruchtbaren Hypothesen hat es seinerzeit in den biologischen Theorien nicht gefehlt. Sie haben den Gang der Forschung nur auf­ gehalten. Die Kategorialanalyse muß sich allein an das halten, was die wissenschaftliche Forschung hat feststellen können. Die Forschung aber zeigt zunächst hier ein ganz eindeutiges B ild: was die sichtbare Formbildung beherrscht, ist fortgesetzte Zellteilung, und zwar teils qualitätsgleiche, teils qualttätsungleiche, die selbst wiederum auf ebenso abwechselnder Eleichteilung und Ungleichteilung der Zellkerne beruht. Zellteilung und Kern­ teilung sind beide beobachtbar, aber die Qualitatsungleichheit, die dabei im Spiele ist, kann an beiden nu r aus der fortschreitenden Differenzierung der Zellen geschlosien werden. Bei der Feinstruktur der Kernmasse vollends versagt die Sichtbarkeit sehr bald; an die eigentlichen Träger der Deter­ mination kommt sie im Allgemeinen nicht heran. Diese müßen zwar in den Chromosomen des Zellkernes enthalten sein, können aber mit ihnen nicht zusammenfallen, weil ihrer viel mehr sein müssen; auch wechseln die Chromatinkörper so lebhaft ihre Gestalt, daß sie als solche nicht Träger der Artkonstanz sein können. Ein jedes der Chromosoms ist vielmehr schon ein ganzes System von bestimmenden Anlageeinheiten, von Determinanten oder „Genen".

c. Zellteilung, „Gene" und vrospeltive Bedeutung

Um das Wesen und den Charakter der Gene ist in den Theorien au s­ führlich gestritten worden. An ihrem Vorhandensein läßt sich wohl nicht zweifeln, aber alles übrige an ihnen bleibt hypothetisch. Die mikroskopisch sichtbare Kernstruktur der Keimzellen hat, wie es scheint, mit der eigent­ lichen Determination der Formbildung direkt nichts zu tun. Nur in der Zellteilung als solcher kommt ihr eine ausführende Funktion zu. Und auch bei dieser liegt der Apparat der Kernteilung nicht in den Chromosomen, sondern in zwei besonderen Gebilden, den Zentralsphären. Die Gene selbst bleiben unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze und find vielleicht auch mehr funktional als körperhaft formal zu verstehen. Eines aber wissen wir von ihnen: sie bestimmen nicht unmittelbar die Lagerung der Zellen in den Geweben und deren räumliche Anordnung, also nicht das, was w ir von der entwickelten Form direkt wahrnehmen, sondern nur den inneren Bau der verschiedenen Zelltypen und ihre Funktionen im Organismus. Darum kann die Eesamtform des O rganis­ mus weder in ihnen noch in ihrer Gesamtmasse präformiert sein. Eie kommt erst durchaus sekundär zustande, wobei der lange Prozeß teils qualitätsgleicher, teils qualitätsungleicher Zellteilung, der Differenzie­ rung, Anlagerung und Verschiebung zwischengeschaltet ist, und überdies noch eine Fülle anderer Faktoren mitspielt. Der Determinationstypus in einem solchen Anlagesystem ist offenbar ein kategoriales Novum. E r ist mit dem Wesen der „Entwickelung" aufs engste verbunden und wohl überhaupt nur bei eigentlichen Entwickelungs­ prozessen anzutreffen. E r macht eben deren Eigenart wesentlich aus, eine spezifisch organische Form der Determination, die unterhalb des Leben­ digen kein Analogon hat. I n dieser A rt von Prozeß ist das Resultat in gewissem Sinne wirklich vom Anfangsstadium aus vorgezeichnet. Aber freilich ist das Vorgezeichnetsein kein totales, sondern gilt nur unter Vor­ aussetzungen bestimmter Bedingungen, zum Teil ganz äußerlichen, so etwa bei den Pflanzen unter Voraussetzung von Wärme, Wasser, Lust und Licht, geeignetem Erdreich, und zwar für jede lebende A rt in sehr bestimm­ ten M aßen. S ind diese Voraussetzungen erfüllt, so läßt sich sagen, daß jedes Ent­ wickelungsstadium eines einzelnen Teils, z. B. eine Furchungszelle (Blastomere), eine bestimmte „prospektive Bedeutung" für den weiteren Prozeß hat: es entsprechen ihm bestimmte Formmomente späterer E nt­ wickelungsstadien. Diese prospektive Bedeutung aber setzt sich au s zwei Faktoren zusammen. Der eine liegt in Einflüssen äußerer Art, vor allem in denen der angrenzenden Zellen oder auch ganzer Gewebe. E r besteht

also in einer „Funktion der Lage im Ganzen". Der andere Faktor ist die „prospektive Potenz" (ein Ausdruck, der hier rein deskriptiv zu verstehen ist) und besteht in der Summe der morphogenetischen Möglichkeiten, die in ihm für alle späteren Stadien des Prozesses enthalten find (so nach Driesch, von dem diese Begriffe entlehnt sind). Der morphogenetischen Möglichkeiten sind nämlich in der Regel mehr, als im besonderen Falle zur Entwickelung kommen. E s kann, zumal bei den Frühstadien, aus der gleichen Anlage auch anderes als die normale Form zur Entwickelung kommen. Und es entsteht auch tatsächlich anderes, sobald man den ersten Faktor, die Funktion der Lage im Ganzen, abändert; w as durch Versuche an mancherlei lebenden Arten (zuerst am Frosch- und Seeigel-Ei) erwiesen ist. Bei Entfernung etwa einer Hälfte der Furchungszellen übernehmen die übrigen Zellen deren Funktion. Sie können das offenbar, weil ihre prospektive Potenz" noch eine vielfache und nicht auf den normalen Verlauf beschränkte ist. Oder anders aus­ gedrückt: sie enthalten noch das ganze Keimplasma; die Ungleichteilung der Kernsubstanz hat es noch nicht gesprengt.

d. Zur Determinationsform des Entwickelungsproresses

Dieser neue Determinationstypus ist in sich komplex. E r enthält einen kausalen und einen offenbar Lberkausalen Faktor. Darum läßt er sich nicht auf ein einfaches Schema bringen. Von ihm wird noch besonders zu handeln sein, er macht eine eigene Kategorie aus. Im m erhin läßt sich einstweilen einiges wenige von seiner Struktur sagen. 1. C r ist nicht, wie die Kausalreihe, gleichgültig gegen das Resultat, sondern zielt auf dieses ab. E r tut das aber nicht durch ein Vorgreifen und Vorbestimmen, wie der Finalnexus, dazu fehlt ihm das Instrum ent des Bewußtseins. D as erstere dieser Momente drückt der Terminus „pro­ spektive Potenz" gut aus, das letztere drückt er nicht mit aus, und darum bleibt er einseitig und irreführend. Denn aus dem Charakter des „P ro ­ spektiven" hört man gar zu leicht ein teleologisches Element heraus. W as gänzlich abwegig ist. Es fragt sich vielmehr erst: wie kann ein determina­ tiver Zusammenhang von Prozeßstadien eindeutig auf ein hochkomplexes Formresultat ausgerichtet sein» ohne es wie ein vorsehender Verstand zu antizipieren? 2. Die Bindung an ein Resultat ist offenbar nur möglich, wenn der Bedingungskomplex, aus dem der Prozeß kommt, ein geschlossener ist, d. h. wenn nicht wie beim Kausalnexus beliebig auswärtige Faktoren in seinen Kreis eintreten können. Jede hinzutretende Determinationskomponente muß notwendig das Resultat verändern. Dafür besteht nun zwar ein

gewisser Spielraum angesichts der Vielfachheit der Möglichkeiten, zum mindesten in den Frühstadien des Prozesses. Aber auch diese Vielfachheit hat enge Grenzen. Und das beweist, daß eine Geschlossenheit des Bü>ingungskomplexes in der Tat besteht. 3. Es fragt sich also: wie bringt der Organismus einen geschlossenen Bedingungskomplex hervor? Einen solchen nämlich, der zwar auf gewisse äußere Einflüsse hin die Funktion der einzelnen Zelle auch ändert, aber stets nur in dem Sinne, daß der ganze Prozeß wieder auf das gleiche Resultat hingelenkt wird. Die Antwort ist: er tut es durch das Anlagesystem, das er als Zwischenglied der Reproduktion zwischen Form und Form einschaltet. Denn die voll entfaltete Form gibt das Anlagesystem her, und von diesem führt der Entwickelungsprozeß wieder zur voll ent­ falteten Form hin. Der Organismus isoliert darin ein fest umgrenztes Bündel von bestimmenden Faktoren» die sich dann sukzessiv kausal im F ort­ gange des Prozesses auswirken. 4. Dieses Faktorenbündel ist indessen keineswegs vollständig. E s gehören zur M ederbildung der Gesamtform noch mannigfache andere Faktoren, und diese mutz der Prozeß von außen empfangen. Sie sind aber alle von der Art, daß sie durch die allgemeinen Bedingungen, in denen das Leben der A rt sich abspielt, gewährleistet sind. Auf sie also „rechnet" gewissermaßen das Anlagesystem; oder, neutral ausgedrückt, an ihr Vor­ handensein ist sein Faktorenbündel bereits angepaßt. Im m erhin ist auf diese Weise die Form, die das Resultat des Prozesses ausmacht, nicht voll­ ständig durch das Anlagesystem determiniert, sondern nur zum Teil, frei­ lich zum größeren und wichtigeren Teil. 5. Die Regelhaftigkeit des komplexen Wiederbildungsprozesses, durch welche das Leben der A rt sich fortsetzt, kommt also nur dort zustande, wo auch die äußeren Faktoren von einer gewissen Konstanz find. Dafür aber ist gesorgt, und zwar einerseits durch die Gleichförmigkeit und durch­ gehende Gesetzlichkeit der anorganischen N atur, andererseits aber dadurch, daß organisches Leben überhaupt nur dort entstehen kann, wo ganz bestimmte Lebensbedingungen in genügender Konstanz vorhanden sind. Im übrigen ist dieser sinnreiche Reproduktionsmodus je nach der Besonderheit der lebenden A rt außerordentlich verschieden. N ur das P rin ­ zip bleibt das gleiche. J e einfacher der Organismus, um so einfacher auch das Anlagesystem, und um so mehr kann auch jeder Teil eines Entwicke­ lungsstadiums die Funktion der anderen Teile übernehmen, das aber bedeutet: um so mehr „multipotentiell" ist der einzelne Teil, und um so mehr „äquipotentiell" find die Teile alle untereinander. Um so mehr also muß auch die fortschreitende Differenzierung der Teile auf die Funktion der Lage im Ganzen fallen.

Und umgekehrt: je höher organisiert ein Lebewesen ist, um so weniger reicht der Lagefaktor für die Differenzierung der Teilformen und Teil­ funktionen zu; um so mehr also muh sie durch Besonderung der prospek­ tiven Potenz in den einzelnen Teilen geleistet werden, und um so diffe­ renzierter mutz folglich die prospektive Potenz selbst sein. D .h. um so weniger multipotentiell kann der einzelne Teil sein, und um so weniger äquipotentiell die Teile untereinander. D as bestätigt sich ohne weiteres in der Tatsache, daß wirklich bei den höheren Organismen die einzelne Zellenart im allgemeinen nicht mehr die Funktion der anderen übernehmen kann. Wie denn auch das erstaun­ liche Phänomen der Regeneration ganzer Körperteile mit zunehmender Organisationshöhe offenkundig abnimmt und schließlich ganz aufhört. e. Wiederbildung der Einzelligen. Qualitätsgleiche Zellteilung

Bei den Einzelligen entstehen die neuen Individuen unmittelbar au s dem elterlichen Individuum. Kein formverschiedenes Übergangsstadium ist in den Prozeß eingeschaltet. Die Zelle schnürt sich in der M itte durch in zwei Tochterzellen, sie „teilt sich". Der Rest des Prozesses ist das Nach­ wachsen der entstandenen Individuen. I n solcher Selbstteilung besteht hier die Fortpflanzung. Der O rganis­ mus auf dieser Stufe ist nicht nur „Gleiches-Bildner", sondern auch „Selbstteiler". 2 n diesen zwei Hauptfunktionen geht hier noch im wesent­ lichen der Lebensprozeß auf. Aber er ist deswegen doch keineswegs einfach. Geheimnisvoll wie die Assimilation ist auch die Selbstteilung. Diese ist weit entfernt, mit der einfachen Durchschnürung der Zelle erledigt zu sein. Bei gänzlich strukturlosen Zellen könnte der Vorgang allenfalls in der bloß quantitativen Halbierung bestehen. Aber ganz strukturlose Zellen gibt es im Bereiche unserer Erfahrung nicht. Einst hielt man die sog. Moneren für strukturlos, aber genauere Beobachtungsmethoden haben uns längst eines anderen belehrt. Bei allen nur irgendwie organisch differen­ zierten Zellkörpern muß der Prozeß natürlich ein um vieles komplizierterer sein. Denn es kommt da offenbar darauf an, daß die ganze organische Struktur der Mutterzelle sich qualitätsgleich auf die Tochterzellen verteilt. W as sich nicht qualitätsgleich teilt, das muß in den Tochterzellen neu­ gebildet werden. I n der Tat gibt es Zellorgane, die sich nach der Teilung neubilden. E s sind vorwiegend die peripheren. Die zentralen und wichtigsten Teile bilden sich nicht neu, sondern teilen sich mitten durch. Das gilt in erster Linie von der Kernmasse, und innerhalb des Kernes wiederum von den Chromosomen. Um das zu bewerkstelligen, bedarf es eines besonderen Kernteilungsapparates, der alle Glieder der Kernsubstanz zu gleichen

Teilen auseinanderzieht und sie dadurch so „halbiert", daß ihre ganze Strukturmannigfaltigkeit sich verdoppelt. Dieser hochkomplizierte Vorgang der indirekten Kernteilung — man hat ihn auch „Karyokinese" (Kernbewegung) oder „Mitose" genannt — ist in seinen Hauptstadien mikroskopisch beobachtbar. Charakteristisch für ihn ist das Auftreten einer eigenen Teilungsapparatur in Gestalt der „Zentrosomen" (oder Zentrosphären), zwischen denen sich eine spindel­ artige Figur bildet; in der M itte der Spindel ordnen sich die Chromatin­ fäden kreisförmig an, verdoppeln sich, indem sie sich der Länge nach spalten und werden dann in zwei neue Zellkerne auseinandergezogen. D as ist ein Vorgang, der offenbar nur S inn hat, wenn in ihm die Chromosomen qualitätsgleich durchgeteilt werden. Freilich, wie eigentlich deren Verdoppelung vor sich geht, ist nicht beobachtbar; nur wie sie nach der Verdoppelung in zwei neue Eesamtmasien vereinigt werden, läßt sich konstatieren. Aber auch das genügt schon, um das Wesen des ganzen Vorganges erratbar zu machen: eben die qualitätsgleiche Kern­ teilung. Erst vermittelt durch diese wird dann die qualitätsgleiche Teilung der ganzen Zelle möglich, so daß die neuentstehenden Individuen wieder vollständige Repräsentanten der A rt mit allen dazugehörigen Organen werden. Die Erfassung dieses merkwürdigen Vorganges ist freilich den Umweg über die Fortpflanzung der Vielzelligen gegangen. Bei diesen ist er plastischer ausgeprägt und bester beobachtbar, insonderheit an den Keim­ zellen der Metazoen. Und eine Zeitlang glaubte man, daß er aus die Zell­ teilung der höheren Tiere beschränkt sei, bis schließlich die immer weiter fortschreitende Verfeinerung der Beobachtungsmethoden, sowie die Ver­ besterung der Instrumente, ihn auch bei den Protisten nachweisen konnte. Seitdem ist es klargeworden, daß er nichts Geringeres als das Ursprüng­ liche und deswegen allen Lebewesen gemeinsame Prinzip der Fort­ pflanzung darstellt, und daß seine primären Formen gerade die bei den Einzelligen auftretenden sind. Eines aber ist nun hierbei von grundsätzlichem Interesse. Bei den Ein­ zelligen geht in der Fortpflanzung der Organismus des elterlichen Individuums nicht verloren. E r „stirbt nicht". Die freilebende Zelle kann wohl dem gewaltsamen Tode unterliegen, aber nicht dem natürlichen. I n der Teilung geht der Körper eines Individuums direkt in den zweier neuer Individuen über; es sterben wohl die peripheren Organe ab, um sich nach der Verdoppelung neuzubilden, aber nicht die zentralen. Der Wechsel der Individuen ist also hier ein kontinuierliches Weiterleben des P lasm as mitsamt seinen wesentlichen Strukturteilen durch die sukzessive Reihe der Individuen hin. Hier erhält sich demnach die lebende Art durch Erhaltung des Körpers, ohne daß der letzteren durch den Tod eine natürliche Grenze gesetzt würde.

f. Wiederbildung der Vielzelligen. „Soma" und Keimplasma. Die Vererbung

Sehr anders sieht der Vorgang bei den Vielzelligen aus. N ur die ein­ zelne Zelle kann sich qualitätsgleich teilen. Der vielzellige Organismus kann es nicht. Die Fortpflanzung muß auf anderem Wege erzielt werden. Das geschieht durch eine A rt Arbeitsteilung. Nicht mehr der ganze Körper mit seinen Organen — das „Soma" — sondern ein kleiner Teil über­ nimmt die Leistung der Reproduktion. Dadurch differenziert sich das Lebewesen in zwei sehr ungleiche Teile: 1. das Soma, d. h. den individuellen Teil mit allen seinen Teilformen, sowie den Funktionen, die das Leben des Individuums ausmachen, und 2. den kleineren Komplex reproduktionstätiger Keimzellen, von denen immer wieder die Neubildung der Individuen ausgeht. D as Leben dieser Keimzellen setzt sich kontinuierlich von Individuum zu Individuum fort, während das Soma, dem es zeitweilig eingegliedert ist, immer wieder dem Tode verfällt. Auf diese Weise „wandert" das Keimplasma, der Träger der Erb­ masse, durch die Reihe der Individuen und der Generationen. Es hat in der Reihe der vergänglichen Lebensträger der A rt dieselbe Kontinuität wie das Eesamtplasma der Einzelligen. Das Individuum aber verfällt dem Tode. Der Eesamtlebensprozeß der A rt läßt es fallen, wenn es sich fortgepflanzt, d. h. das Leben der A rt weitergegeben hat. Der Eesamtlebensprozeß der A rt ist selbst kontinuierlich nur im Keimplasma der Art,' in den Individuen ist er diskret, interrupt, dem Rhythmus von Tod und Geburt unterworfen. D as ist der Grund, warum dieser Gesamtprozeß in seiner Einheit und Ganzheit ein verborgener ist. Denn w as wir von einer lebenden A rt sehen, sind stets nur die Individuen. I n ihnen allein er­ scheint die explizite Form der Art, aber gerade sie find das Vergängliche. Die entfaltete Artform also setzt sich nur indirekt fort, unmittelbares Fort­ bestehen hat nur das Anlagesystem. Hierbei nun hängt die Erhaltung des Arttypus im Wechsel der Gene­ rationen ganz und gar an der Genauigkeit der Jndividualreproduktion. E s kommt darauf an, daß alle Einzelheiten der Artform in den reprodu­ zierten Individuen streng eingehalten werden. Das ist nu r möglich, wenn sie durch die determinierenden Elemente des Anlagesystems ebenso genau festgehalten und weitergegeben werden. Auf dieses „Weitergeben" der Form kommt hier alles an. I n ihm besteht die Vererbung. E s betrifft sowohl die gemeinsamen Artcharaktere als auch mancherlei individuelle Abweichungen. An einem hochdifferen­ zierten Wesen wie dem Menschen kann die Erblichkeit besonderer Züge

eine wichtige Rolle spielen. Aber nicht auf erworbene Eigenschaften -e r Individuen erstreckt sich die Vererbung, sondern nur auf solche, die in der Erbanlage bereits enthalten waren. Verletzungen oder durch Übung er­ langte Fertigkeiten können sich auf dem Erbwege nicht übertragen, wohl aber die konstitutionellen Besonderheiten, die den nachträglich erlangten Fertigkeiten zugrunde liegen. D as sind indessen bloß Tatsachen. Wie die Vererbung funktioniert, darüber sagen sie zunächst nichts aus. Der „Mechanismus", durch den die Eigenschaften weitergegeben werden, ist von undurchdringlicher Kompli­ ziertheit. W as wir über ihn wissen, ist teils nur das Äußerliche, teils hypo­ thetisch Erschlossenes und Erratenes, teils auch bloß statistisch Festgestelltes (wie etwa die Mendelschen Gesetze). Ein eigentlicher Mechanismus ist es übrigens gerade nicht, dieses Bild ist irreführend, sondern gerade im emi­ nenten Sinne eine Funktion des „organischen" Gefüges. Aber auch damit ist wenig gesagt: das „Wie" der Funktion ist das große Rätsel. Bekannt ist, daß innerhalb der Keimzelle der Kern die Hauptrolle spielt, und innerhalb seiner wiederum die Chromosomen. Diese enthalten offenbar das ganze Anlagesystem, wie denn auch gerade an ihnen bei der Kernteilung der umständliche Prozeß der Verdoppelung und des Ausein­ andergezogenwerdens der einzelnen Teile beobachtbar ist — ein Vorgang, dessen biologischer S inn nur verständlich ist, wenn es sich dabei um quali­ tätsgleiche Spaltung des ganzen Anlagesystems handelt. Dieser Prozeß ist die sichtbare Bestätigung unsichtbarer Vorgänge, die wir nur erraten können. M it Recht ist in der Wissenschaft um ihn längere Zeit der S treit hin- und hergegangen. Die Sonderbarkeit der mitotischen Spindelfigur, die merkwürdige Aktivität des Zentrosomenapparates, die Bildung des Chromosomenringes und seine Längsteilung in zwei Ringe — wenn dieses ganze Schauspiel, das in mannigfacher Abwandlung überall wieder­ kehrt, eine Bedeutung von prospektiver A rt hat, so kann sie nur in der Verdoppelung der Determinantengruppen des Anlagesystems liegen. Und diese Verdoppelung wiederum kann nur den S inn haben, daß bei der Zell­ teilung beide Tochterzellen das ganze Keimplasma empfangen. Dieser komplizierte „Mechanismus" der Vererbung scheint das ganze Reich des Lebendigen von der Amöbe aufwärts zu beherrschen. R ur bei den noch kleineren und einfacheren Lebewesen, den Bakterien, läßt er sich nicht nachweisen. Aber bei diesen ist vielleicht die Reproduktion der I n ­ dividuen von der morphologischen Assimilation noch kaum verschieden. Bei den höheren Protisten ist die Mitose wohl durchgehend vorhanden. Aber die hohe Bedeutung der Determination eines komplexen, durch viele hete­ rogene Formstadien hindurchgehenden Reproduktionsprozesses, der Em­ bryogenese, hängt natürlich nur bei den Vielzelligen an ihr.

53. Kapitel. Tod und Zeugung

a. „Potentielle Unsterblichkeit" W as das Geheimnis der Zeugung fei, hat Platon in seinem „Sympo­ sion" zuerst ausgesprochen: Zeugung ist „Teilhabe an der Unsterblichkeit". Das ist kein mythisches Bild, wie so manches andere bei Platon, sondern nüchternste Einsicht: das Individuum erliegt dem Tode, aber es gibt das Leben aktiv weiter, indem es das neue Individuum hinterläßt, das ihm gleicht. Der „Eros", der sein Tun in der Zeugung bestimmt, ist sein „Streben nach Unsterblichkeit". Heute würde man es nicht viel anders aussprechen: der Eeschlechtstrieb ist der auf das Fortbestehen des Lebens der A rt ausgerichtete Instinkt im Individuum. Und unübertrefflich bleibt auch die Platonische Beweisführung für diesen Gedanken durch den schla­ genden Hinweis auf die Bereitschaft der Muttertiere, für ihr Junges zu sterben. Alles Leben hat die „Tendenz zur Unsterblichkeit" — das besagt nichts anderes als: es hat die Tendenz, sich zu erhalten. Aber es erreicht die Erhaltung nicht im Individuum, sondern nur im Hinausleben der A rt über das Individuum, d. h. durch die Zeugung. Von hier aus fällt ein Helles Schlaglicht darauf, was eigentlich Tod und Zeugung sind. Dem gewaltsamen Tode freilich ist alles Lebendige ausgesetzt, darin steckt kein Problem. Der natürliche Tod ist etwas ganz anderes, er ist die von innen her bestimmte zeitliche Selbstbegrenzung des Individuum s (vgl. Kap. 46 b—d). E r besteht in einem Labilwerden des organischen Prozeßgefüges. Seine Erscheinungsformen sind das Altern, der M arasm us, das Versagen der Dissimilation (Anlagerung von Abfalls­ produkten in den Zellen), und zuletzt auch das der Assimilation. Die niederen Einzelligen kennen den natürlichen Tod (im Sinne dieser Erscheinungen) nicht. Wachsen sie über ein gewisses Volumen hinaus, so teilen sie sich: dabei stirbt der Zellkörper nicht ab, es geht nichts verloren. Hier gibt es noch kein „Soma", das vom Keimplasma getrennt wäre. Die Reihe der Individuen bildet wohl auch hier eine Periodizität des Lebensprozesses im fortlaufenden Wechsel von Anwachsen und Teilung, aber keine eigentliche Diskontinuität, keine Jnterruptheit. 2 n diesem Sinne besteht der Satz zu Recht, daß die Einzelligen „potentiell unsterb­ lich" sind, potentiell nämlich, sofern nur der natürliche, nicht der gewalt­ same Tod aus ihrer Generationsfolge ausgeschaltet bleibt. Bedenkt man nun, daß die einzelligen Lebewesen, und zwar gerade die einfacheren, die phylogenetisch ältere und ursprüngliche Form des Lebens

darstellen, so ist leicht einzusehen, datz dieses potentiell unsterbliche F ort­ leben durch Selbstteilung überhaupt die primäre Form des Lebens der A rt ist. W oraus ohne weiteres folgt, daß der Tod des Individuum s keine ursprüngliche Eigentümlichkeit alles Lebendigen ist, sondern eine sekun­ däre Einrichtung. E r stellt sich dort ein, wo das Individuum zu groß oder zu kompliziert in seinem somatischen Bau wird, um sich qualitätsgleich teilen zu können. D as ist bei den Vielzelligen durchgehend der Fall. Aber nicht nur bei ihnen. Auch hochorganisierte Protozoen zeigen bereits eine A rt Übergangs­ erscheinung, solche z. B. in denen ein Makronukleus sich vor der Teilung rückbildet und nach der Teilung in den Tochterzellen sich neubildet. Hier ist bereits der Ansatz eines „Soma", das als Individuum zugrunde geht. Die Einrichtung des natürlichen Todes wäre vom Individuum aus schlechterdings nicht zu verstehen. Sie geht nicht in den Verfallserschei­ nungen des Individuum s auf, auch nicht in seiner zeitlichen Selbstbegren­ zung. Diese besteht zwar zu Recht, aber sie ist vom Individuum aus nicht sinnvoll. Wohl aber ist sie sinnvoll vom Leben der A rt aus. F ü r das Leben der A rt wird eben das Individuum überflüssig, wenn es sich fortgepflanzt hat. Der Tod des Individuums ist ebensosehr wie Geschlechtsfunktion und Zeugung eine Erscheinung des Artlebens im Individuum: den jungen Individuen stehen bei begrenztem Lebensraum der A rt die alten im Wege, darum räum t das Stammesleben mit ihnen auf. Zeitliche Selbst­ begrenzung wie Selbstwiederbildung sind reine Momente des Stammes­ lebens im Individuum.

b. Die Kontinuität des Keimplasmas. Der abgespaltene Lebensproreb

D as Merkwürdige aber ist nun, datz die primäre Urform des Lebens der Art, einschlietzlich der potentiellen Unsterblichkeit, auch im Reich der Vielzelligen durchaus bestehen bleibt. Sie tritt nur gleichsam in den Hinter­ grund, verbirgt sich hinter dem Kommen und Gehen der Individuen und ist deswegen nicht auf den ersten Blick wiedererkennbar. Denn sie betrifft hier nicht mehr die ganzen Individuen in ihrer ausgebildeten Form, son­ dern bloß den kleinen Teil, der in den Keimzellen besteht. Dieser eben geht durch die Reihe der Individuen hindurch, lebt fort in immer neuen Trägern, umschlosien und geschützt von ihnen. Die alte Urform des A rt­ lebens kehrt wieder in der Kontinuität des Keimplasmas (Kap. 52 k). Sieht man das Eesamtleben der A rt vom Keimplasma aus an, so stellt es sich folgendermaßen dar. Es ist dieselbe Zellteilung, und zwar mit derselben mitotischen Kernteilung wie bei den Einzelligen, die un­ unterbrochen weitergeht: nur gehen von einem Teil dieser Zellen immer

wieder die Formbildungsprozesse der vielzelligen Individuen aus, wäh­ rend die übrigen unberührt fortbestehen. Dieses Fortbestehen der Keim­ zellen ist nur nicht mehr ein Freileben, sondern ein Getragensein vom vielzelligen Organismus, ein Eingebettetsein in das „Soma" des Indivi­ duums und zugleich ein Ernährt- und Eeschütztsein von ihm. Die Indivi­ duen erscheinen auf diese Weise als die ephemeren Träger und Bewahrer des Keimzellenlebens, während dieses das eigentlich durchgehende Leben der A rt bildet. Freilich ist das ein einseitiger Aspekt. Aber er wird doch sehr ein­ leuchtend, wenn man auf die A rt und Weise hinblickt, „wie" die Morpho­ genese der Individuen mit ihren Anfangsstadien in den kontinuierlichen Lebensprozeß der Keimzellen eingeschaltet ist. Im Reifestadium der I n ­ dividuen setzt eine gewaltige Vermehrung der Keimzellen ein. Viele von diesen gehen, wenn der Organismus sie von sich gibt, zugrunde. Aber von einzelnen geht die Wiederbildung der Individuen aus, und zwar durch dieselbe fortgesetzte Zellteilung (mit mitotischer Kernteilung); nur daß jetzt 1. die Teilungsprodukte zusammenbleiben, und 2. die Zellteilung aufhört, qualitätsgleich zu sein. Die durch fortgesetzte Teilung entstehenden Zellen differenzieren sich im Matze ihrer Vermehrung und bilden als qualitativ verschiedene ein vielzelliges Ganzes. Sie bilden eine neue feste Lebensgemeinschaft. Beides zusammen, Anlagerung und Differenzierung — die letztere schon unter dem Einflutz der immer mannigfaltiger werden­ den Funktion der Lage im Ganzen — machen den Aufbau der Gewebe des Individuum s aus. E s spaltet sich also von dem Eontinuum der qualitätsgleichen Keim­ zellenteilung bei der Erzeugung jedes neuen Individuums ein Sonderprozetz ab, ein Prozeß der qualitätsungleichen und formaufbauenden Tei­ lung. Dieser abgespaltene Prozeß ist die Morphogenese des Individuums. Aber er läuft nicht kontinuierlich fort, die Zellteilung und Anlagerung geht nicht in infinitum, sondern kommt bei Erreichung der charakteristischen Artform, d. h. im ausgewachsenen Individuum, zum Stillstände. Der Prozeß begrenzt sich selbsttätig und geht zuletzt in die Selbstauslösung des Individuum s über. Diese letztere ist der individuelle Tod. Der abge­ spaltene Prozeß ist eine Sackgasie des Lebens. Seine Produkte, die Zellen des Soma, die Organe und die Glieder, sind todgeweiht. Nur die auch in ihm sich erhaltenden und in neue Individuen übergehenden Keimzellen machen die Ausnahme davon. I h r Leben entgeht der Sackgasse durch die Zeugung. Vom Eesamtleben der Art aus gesehen ist der Tod des Individuum s eine zweckmäßige Einrichtung. D as Leben stößt ab, was es nicht halten kann, sobald es seinen Dienst am Stammesleben verrichtet hat. Dieser Dienst ist die Zeugung. Das Individuum als Träger des Artlebens wird damit überflüssig. Solange es noch dem Schutze der Zungen dient, ist es

nicht überflüssig; hat es auch diese Funktion erfüllt, so wird es zum un­ nötigen Ballast, zum überzähligen Konkurrenten im Kampf um die Nah­ rung. Darum ist fein Tod zweckmäßig. An sich wäre ein Wiederersatz der alternden Zellen im „Soma" des Individuum s wohl denkbar. I n manchen Organen findet er ja auch dauernd stall. Aber es scheint, daß dieses nur in beschränktem Matze mög­ lich ist. Das Leben der A rt schlägt den einfacheren Weg ein, das I n ­ dividuum fallen zu lasten und es vom Keimplasma aus wieder zu ersetzen. J a , in vielen lebenden Arten treibt es direkt Verschwendung mit den Individuen; es reproduziert ihrer viel mehr als zur Erhaltung der Art nötig wären, wovon dann in jeder Generation nur wenige zur Reife und Nachzucht gelangen.

c. Geschlechtliche Fortpflanzung. Reduktionsteilung und Befruchtung

Die Zeugung selbst ist nicht identisch mit der Reproduktion der In d i­ viduen. Sie ist nur der Ausgangspunkt der Wiederbildung. Richt sie, sondern die ganze Reproduktion ist das komplementäre Moment zum Tode des Individuums, mit dem zusammen sie das Widerspiel der Prozeste im Leben der A rt ausmacht. Aber der Ausgang des Reproduktionsprozestes vom lebenden Individuum ist ein Vorgang eigener Art, und zwar auch im Leben des Individuums selbst. M it der Austeilung der Funktionen des Jndividuallebens und des Artlebens an verschiedene Teile des Organismus, d.h. mit Übernahme der Reproduktion durch ein bestimmtes Organ, geht nun eine weitere Einrichtung Hand in Hand, die mit ihr nicht identisch ist: die Verteilung der Zeugungsfunktion an zwei verschiedene Geschlechter, die sog. geschlecht­ liche Fortpflanzung. S ie besteht darin, datz nicht ein einzelnes Individuum neue Individuen erzeugen samt, sondern nur zwei zusammen, datz also die Individuen der A rt genötigt sind, ihr Keimplasma zu vereinigen. W as dadurch erreicht wird, ist ohne weiteres einsichtig; es ist der ständige Aus­ gleich der in den simultan lebenden Individuen vorhandenen Erbmaffe der Art. Diese Einrichtung beherrscht das Reich der höheren Pflanzen und Tiere allgemein. Und selbst, wo es Parthenogenese gibt, finden w ir doch daneben die geschlechtliche Fortpflanzung. Im Reich der Protisten gibt es die ana­ loge Erscheinung der Kopulation, d. h. der Verschmelzung zweier Zellen zu einer, meist zwischen eine längere Folge einfacher Selbstteilungen ein­ geschaltet. Die neuesten Forschungen (insonderheit die von Max Hartmann) haben gezeigt, datz auch hier schon ein Unterschied der „Gameten" besteht, der offenbar analog zum Unterschied der Geschlechter bei den Vielzelligen zu verstehen ist. S a r t m a n n , Philosophie der Natur

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Die Einrichtung der geschlechtlichen Zeugung spaltet den Arttypus in je zwei llntertypen. S ie bewirkt also, daß niemals der einheitliche Typus der A rt in einem Individuum erscheint. I n ihrer Zweckmäßigkeit für das Gesamtleben der A rt ist sie keineswegs ohne weiteres durchsichtig. Zu­ nächst ist vielmehr klar, daß hierdurch die Fortpflanzung nicht erleichtert, sondern erschwert wird. Wenn jeder Ableger einer Pflanze keimfähig ist und sich zum ganzen Individuum auswächst, so ist damit offenbar für den Nachwuchs und die Erhaltung der A rt weit bester gesorgt. Die biologische Wiffenschaft hat lange nach Erklärungen für diese erschwerte A rt der Fortpflanzung gesucht. Die älteren Theorien nahmen an, die Eizelle der Metazoen sei „passiv", sie mäste erst vom Spermatozoon „belebt" werden; ähnliches übertrug man auf das Verhältnis von Frucht­ knoten und Pollen der Metaphyten. D arin steckte ein sehr altes Vorurteil, das mit einer Gleichartigkeit des männlichen und weiblichen Keimplasmas nicht rechnete, sondern rein a priori von dem vermeintlichen Gegensatz eines „aktiven" und eines passiven" Lebensmodus ausging. E s ist sehr verständlich, daß man sich hierbei von der äußerlich sehr auffallenden Akti­ vität des männlichen Geschlechtstriebes im Tierreich sowie dem fast durch­ gehend passiven Verhalten der Weibchen blenden ließ. Daß weder das eine noch das andere einen Schluß auf den Charakter des Keimplasmas zu­ ließ, ist erst spät begriffen worden. Erst die Entdeckung der „Reifeteilungen", die am Kern der Keim­ zellen vor der Befruchtung stattfinden, haben hier eines anderen belehrt. I n diesen Teilungen wird die Chromosomenmaste aus die Hälfte herab­ gesetzt, die andere Hälfte wird abgestoßen. Jnfolgedesten kann das Keim­ plasma erst durch Vereinigung zweier Keimzellen wieder vollständig werden. Außerdem verliert die weibliche Keimzelle (das Ei) außer der Hälfte ihrer Chromosomen auch seinen Teilungsapparat, die Zentrosphäre. Sie verliert also damit ihre Teilungsfähigkeit; da aber der Keimungsprozeß in fortgesetzter Teilung besteht, so verliert sie ihre Keimfähigkeit. Dadurch wird sie befruchtungsbedürftig; denn sie ist nun mit allen weiteren Entwickelungsvorgängen auf den Teilungsapparat der männlichen Keim­ zelle, des Spermatozoons, angewiesen. Denn diese bringt ihre Zentro­ sphäre mit. Insofern kann man sogar sagen, daß etwas von der alten Anschauung, die der männlichen Samenzelle die Aktivität zusprach, sich hier bestätigt; freilich in ganz anderer Weise, als man gedacht hatte. Die Aktivität betrifft offenbar keineswegs die Erbmaste selbst oder gar ihre Determinationskraft, sondern lediglich das sekundäre Zellorgan der aus­ führenden Funktion. Diese ausführende Funktion freilich ist eine wesentliche und darf im Ganzen des komplizierten Vorganges nicht unterschätzt werden. D as Merk­ würdige bleibt nur, daß ja auch die Eizelle ursprünglich selbsttätig

teilungsfähig ist und erst durch die Reifeteilung triefe Fähigkeit verliert. Nimmt man dieses mit der Herabsetzung der Anlagemasse auf die Hälfte — der fog. „Reduktion" — zusammen, so muß man schließen, daß die Reduktionsteilung eigens darauf angelegt ist, das Ei befruchtungsbedürstig zu machen. d. Biologischer Sinn der geschlechtlichen Fortpflanzung

Die Folge ist, daß man nun auch den biologischen Sinn der Befruch­ tung und zugleich den der geschlechtlichen Fortpflanzung überhaupt in etwas anderem suchen muß. Daß Reproduktion der Individuen überhaupt auch auf einfachere Weise möglich ist, davon zeugen die bekannten Fälle von Parthenogenese; hier entstehen voll entwickelte Exemplare der A rt aus unbefruchteten Keimzellen, wobei denn auch keinerlei Reduktions­ teilung vorhergeht. M an fragt sich, warum denn eigentlich bei der großen Mehrzahl der Lebewesen, und je höher hinauf im Stufenreich, um so ausgeprägter, der bei weitem kompliziertere Umweg über das Zusammen­ wirken der Geschlechter beschritten wird. Dafür kann der Grund nur in einer sehr bestimmten Zweckmäßigkeit des Umweges für das Gesamtleben der A rt liegen. E s muß sich auf irgend­ eine Weise so verhalten, daß die lebenden Arten sich mit geschlechtlicher Fortpflanzung besser erhalten können, d. h. daß sie anderen gegenüber im Vorteil sind und sich im Kampf um die Existenz anderen überlegen er­ weisen. Läßt sich eine solche Zweckmäßigkeit aufzeigen, so wird es ver­ ständlich, warum sich phylogenetisch gerade solche Arten erhalten, die diese Einrichtung haben und schließlich die anderen verdrängen. D as Interessante und zugleich kategorial Entscheidende ist nun, daß gerade vom Gesichtspunkte des Gesamtlebens der A rt aus sich eine solche Zweckmäßigkeit sehr wohl aufzeigen läßt. Die Erhaltung der A rt hängt bei komplex angepaßten Lebewesen ganz und gar an der Genauigkeit, mit der die Jndividualreproduktion den Art­ typus erhält. Eine kleine Abweichung kann unter Umständen ihr Weiter­ bestehen gefährden, sofern sie die Angepaßtheit an sehr bestimmte Lebens­ bedingungen stört. Gibt es nun eine gewisse Labilität des Anlagesystems — und das ist a limine wahrscheinlich, weil organische Gefüge überhaupt nur begrenzte Stabilität zeigen —, so muß folgende Regel gelten: wo die Reproduktion im Einzelfalle lediglich aus der Keimanlage eines einzigen Individuums beruht, da besteht die Möglichkeit, daß einmal entstandene Abnormitäten des Keimplasmas, mittelbar also auch die der neu ent­ stehenden Individuen, sich bei weiterer Fortpflanzung steigern. Bei der Kontinuität des Keimzellenlebens in der Reihe der Individuen ist das nicht anders zu erwarten. Aber eben das kann auf die Dauer den Unter­ gang der A rt bedeuten.

Wenn dagegen immer zwei Individuen zusammenwirken müssen, um ein neues zu erzeugen, so mutz bei jeder Zeugung das Keimplasma sich mischen. Und dann müssen sich die Abweichungen der Erbanlage von der Norm im ganzen ausgleichen. Wenigstens ist bei genügender Jndividuenzahl mit genügend verschiedenen Stammeslinien die Chance gering, daß fich gerade Abnormitäten der gleichen Richtung zusammenfinden. Im all­ gemeinen also werden sich dann die Abweichungen des Anlagesystems para­ lysieren. Und je vielseitiger im Wechsel der Generationen die Vermischung der Anlageelemente im Keimplasma einer lebenden A rt wird, um so höher steigt die Wahrscheinlichkeit, daß neben unzweckmäßig gebildeten Individuen, die zugrunde gehen, wieder normale auftreten. Solange die äußeren Lebensbedingungen genähert die gleichen bleiben und die an sie am besten angepaßten Individuen, d. h. die „normalen", fich auch als die lebensfähigsten erweisen, müssen auch diese letzteren vorwiegend zur Nach­ zucht kommen. Das aber bedeutet nichts Geringeres, als daß auch der A rt­ typus fich immer wieder herstellen muß. I n den biologischen Theorien, soweit sie an das in Frage stehende Phänomen heranreichen, ist diese A rt des Keimplasma-Haushalts a ls „Amphimixis" bekannt. Der Ausdruck bedeutet die Allvermischung des Keimplasmas im Leben der Art. Bedenkt man, daß das Anlagesystem jederzeit in vielen Individuen fortlebt, an sie a ls seine zeitweiligen Träger gleichsam verteilt ist, im einzelnen Individuum aber den Zufälligkeiten seiner eigenen Labilität ausgesetzt ist» so ist die Allvermischung durch fort­ gesetzte geschlechtliche Zeugung ein eminent konstitutiver Faktor der E r­ haltung des Artlebens. S ie bildet offenbar das Gegengewicht zu der bedroh­ lichen Isolierung und Individualisierung einzelner Stammeslinien, gleich­ sam die ständige Zurücklenkung des in viele Einzelkanäle aufgespaltenen Lebens der A rt in die Einheit eines Lebensstromes. Das bedeutet aber, daß sie ein qualitatives Regulationsprinzip im Eesamtleben der A rt aus­ macht. Die Auswirkung eines solchen Prinzips hängt freilich noch an anderen kategorialen Bedingungen. Bon ihnen wird noch weiter unten zu handeln sein. Daß andauernd die unzweckmäßigen, d. h. die ungenügend angepaßten Formbildungen ausgeschieden werden und im ganzen nur die zweckmäßigen übrigbleiben, ist nicht Sache der Amphimixis, sondern einer ununter­ brochen wirksamen Selektion der Individuen (Kap. 58). Aber bloße Selek­ tion ohne Amphimixis des Keimplasmas kann schwerlich von entschei­ dender Wirkung sein. Der Hauptfaktor eben liegt bei dieser sinnreichen Einrichtung nicht bei den Individuen, sondern bei dem Anlagesystem. M it dem abnormen oder degenerierten Individuum geht, wenn es nicht zur Fortpflanzung gelangt, zugleich die abnorm gewordene Keimanlage zu­ grunde; sie wird aus der weiteren Kombinatorik der Anlagesysteme aus-

geschieden. Denn immer neu kombiniert sich in jeder Generation die Erb­ anlage. Und von den jeweilig kombinierten Anlagesystemen werden durch den Ausfall degenerierter Individuen fortlaufend die nicht zweckmäßigen ausgeschaltet, die zweckmäßigen aber erhalten und in die weiteren Kombi­ nationen aufgenommen. e. Regulative Funktion der Amvhimiris

Dieses Gesamtbild stimmt nun genau zu dem Phänomen der Reduk­ tionsteilung. W ird nämlich, wie sich zeigte, das Ei erst durch Reduktions­ teilung befruchtungsbedürftig, so kann die Zweckmäßigkeit dieser Teilung nur in dem Zwang zur Kopulation bestehen; und dazu paßt wiederum die Tatsache, daß in ihr die Chromosomenzahl auf die Hälfte herabgesetzt wird, so daß erst nach der Kopulation wieder die normale Anzahl vor­ handen ist. I n dieser Einrichtung haben wir gewissermaßen den Apparat vor Augen, durch den bei jeder Zeugung ein Teil der Anlagemasie abgestoßen wird; die in der Reifeteilung abgesonderten Chromosomen werden eben au s der Zelle ausgestoßen und lösen sich auf. Natürlich sind es nicht immer die degenerierten oder auch nur unzweckmäßig determinierenden Anlageelemente, die davon betroffen werden; man muß das wenigstens annehmen, denn einzelne Anlageelemente zu identifizieren, ist empirisch ein Ding der Unmöglichkeit. Und wenn wir sie mikroskopisch fasten könnten, so bliebe doch ihre Zuordnung zu bestimmten somatischen Formmomenten stets eine hypothetische, da sich der ganze Entwicklungsprozeß doch nicht einheitlich durchverfolgen, sondern nur in Phasen aufgeteilt, beobachten läßt. Aber für das grundsätzliche Verständnis der Sache bedarf es der Identifizierung und eindeutigen Zuordnung auch nicht. Denn im Leben der Art liegt die Entscheidung über Lebensfähigkeit und Fortpflanzungsberechtigung nicht bei einer Auslese der Keimanlagen, sondern bei einer solchen der Individuen. Die am besten angepaßten I n ­ dividuen sind diejenigen, die sich im Kampf um die Existenz am ehesten bewähren. Nimmt man also selbst an, daß günstige und ungünstige Kom­ binationen in gleicher Anzahl auftreten, so werden doch die ungünstigen durch die Unterlegenheit der aus ihnen entstehenden Individuen durch­ schnittlich in größerer Anzahl zugrunde gehen als die günstigen. Denn die unterlegenen Individuen haben die geringere Chance, zur Nachzucht zu gelangen. Darauf aber kommt es allein an. Denn was nicht bis zur F ort­ pflanzung gelangt, gibt auch sein degeneriertes Keimplasma nicht weiter. Seine Erbmaste wird ausgeschaltet. Eine weitere Bestättgung dieses Zusammenhanges ergibt sich aus der degenerativen Richtung, welche das Leben einer A tt einschlägt, wenn die

Amphimixis des Keimplasmas unterbunden ist. Solche Fälle haben w ir dort vor Augen, wo durch eine längere Reihe von Generationen nur I n ­ dividuen derselben engeren Stammeslinie sich zur Fortpflanzung zu­ sammenfinden, also bei fortgesetzter Inzucht. E s ist zwar manches gegen die verschlechternde Wirkung der Inzucht vorgebracht worden, und Tatsache ist wohl, daß es auch Fälle ohne Degene­ ration gibt. Aber verallgemeinern läßt sich das schwerlich. Zuviel gegen­ teilige Belege stehen dem gegenüber. Und dazu stimmt auch die theoretische Überlegung. Denn unter allen Umständen wird bei fortgesetzter Inzucht die Vermischung der Erbanlagen eingeschränkt: es stoßen immer wieder Determinantensysteme von gleicher oder allzuähnlicher Besonderung auf­ einander, die weitere Mischung ergibt keine neuen Kombinationen mehr, und folglich auch dort, wo Abnormitäten auftreten, keinen Ausgleich und keine seligierbare Mannigfaltigkeit mehr. Die Abweichungen von der Norm müssen sich also steigern. Gerade an diesem Phänomen, auch wenn es bemerkenswerte Aus­ nahmen davon gibt, ist eindeutig zu sehen, wie sehr es im Stammesleben der A rt einer Regulation durch immer neuen Ausgleich des Keimplasmas bedarf. J a , man kann daraus wohl auch einen Schluß darauf wagen, wie labil das Anlagesystem der meisten lebenden Arten von Hause aus ist, wie schnell und verderblich sich einmal aufkommende Degenerationstendenzen steigern können, wenn ihnen nicht in der Amphimixis eine ausgleichend regulierende Funktion selbsttätig entgegenwirkt.

f. Inzucht und Parthenogenese D as Gesamtleben der Art stellt sich auf diese Weise als ein Bündel durchgehender Abstammungslinien dar, die sich in gewissen Abständen immer wieder schneiden, sich also normalerweise niemals weit voneinander entfernen, dergestalt daß nach einer längeren Reihe von Generationen sich die meisten wieder gekreuzt haben. So wenigstens wäre es im idealen Falle. Praktisch werden stets zahlreiche Linien durch den vorzeitigen Tod von Individuen ausgeschaltet,' was aber dadurch wieder aufgewogen wird, daß die übrigen Linien stch unentwegt spalten und verzweigen. E s kommt ja auch bei genügend großer Indio iduenzahl nicht so sehr darauf an, daß die Amphimixis jederzeit eine allseitige ist, wie darauf, daß die M annig­ faltigkeit der sich jeweilig verbindenden Anlagesysteme eine genügend große ist. Wie groß sie sein muß, um den Arttypus rein und stabil zu erhalten, darüber lassen sich allgemeine Angaben nicht machen. Zu er­ warten aber ist, daß sie bei hochgradig labilen Arten erheblich größer sein muß als bei Arten von hoher Erbfestigkeit.

Inzucht ist die Abtrennung einiger weniger Linien. Reicht die M annig­ faltigkeit für den Ausgleich nicht zu, so setzt Degeneration ein. Handelt es sich um eine größere Menge von Stammeslinien — so wie sie etwa bei räumlicher Isolierung einer ganzen Gruppe von Exemplaren zustande­ kommt —, so braucht der Prozeß nicht auf Entartung hinauszulaufen. Wohl aber pflegt er dann durch die Anpassung an lokale Verhältnisse auf eine gewisse Abartung hinzuführen. Der abgezweigte Stam m zeigt dann nach einiger Zeit einen veränderten Arttypus, er ist zur Variante geworden. Bei Organismen, die sich in schneller Generationsfolge stark vermehren, finden wir vielfach eine gemischte Fortpflanzungsart. Das gilt vor allem von den Einzelligen. Geschlechtliche und ungeschlechtliche Reproduktion wechseln hier ab, und zwar meist in der Weise, daß immer nach einer Reihe einfacher Zellteilungen eine Kopulation zweier Individuen ein­ geschaltet ist. Eine ganze Folge von Generationen entlang geht die Teilung ungehemmt fort, bis sie sich schließlich verlangsamt und gleichsam „erlahm t"; dann setzt die Kopulation ein, bei der die Kernmasse zweier Individuen sich vereinigt, und nach ihr geht die Teilung wieder eine Zeitlang unge­ hemmt fort. Bei schnellem Generationswechsel genügt es offenbar für die Regulation des Arttypus, wenn die Vermischung des Chromosomen­ bestandes bloß periodisch einsetzt. Ähnlich ist es auch noch bei manchen Vielzelligen. Bekannt ist dafür das Beispiel der Blattläuse. Und hierbei ist deutlich zu sehen, daß die Ver­ einfachung des Reproduktionsmodus durch einige Generationen geschlechts­ los erzeugter Individuen den Vorteil der ungehemmteren Vermehrung mit sich bringt. Überschaut man diese Zusammenhänge, so scheint es erstaunlich, daß es die Parthenogenese bei relativ hoch organisierten Lebewesen gibt. Am merkwürdigsten sind die Fälle mancher Kulturpflanzen, die sich zwar in Freiheit geschlechtlich fortpflanzen, aber vom Menschen gezwungen, es ebensogut auch parthenogenetisch können. W as beweisen solche Fälle eigentlich? Im Grunde wohl nur, daß es im Bereich des Stammeslebens noch andere Möglichkeiten gibt, sich vor E ntartung zu schützen. Die einfachste von ihnen ist zweifellos die, daß die Festigkeit des Keimplasmas sich der effektiven Unveränderlichkeit nähert. E s kommt dann gar nicht zu Abnormitäten, die sich weiter steigern könnten; und es gibt dann nichts, wogegen es der Regulation bedürfte. D as stellt allerdings an die Stabilität des Keimplasmas in der zeillichen Kontinuität seines Hindurchgehens durch die wechselnden Individuen die allerhöchsten Anforderungen. Und allein darum schon ist es zu verstehen,

daß Parthenogenese bei Lebewesen von höchster Organisation und ent­ sprechender Komplexheit des Anlagesystems nicht mehr möglich ist, und daß sie überhaupt im Reiche des Lebendigen die Ausnahme bildet. Und dazu kommt nun noch, daß so hohe Erbfestigkeit sogar ein ent­ scheidender Nachteil sein kann. Die Artform nämlich ist mit ihr in sich gefangen, ste kann sich überhaupt nicht mehr umbilden, also auch nicht sich veränderten Lebensbedingungen anpassen. Welche lebende A rt aber kann der Dauer ihrer Lebensbedingungen derartig ficher sein, daß sie auf alle bewegliche Anpassung verzichten dürfte?

54. Kapitel. Die BariabllUät a. Natürliches System und Beweglichkeit der Arten

Die Arten des Lebendigen galten einst für unveränderlich. Darum hielt man ihren Formtypus für etwas Substantielles. So mußte es scheinen, solange man sich an zeitlich engbegrenzte Erfahrung hielt. Denn in den Zeitmaßen menschlicher Lebensdauer verändern fich die in der freien N atur lebenden Arten nicht. Genauer, ste verändern stch so langsam, daß die Abweichung vom einmal gegebenen Arttypus gemeinhin nicht in so kurzer Spanne konstatierbar ist. An den Haustieren und Hauspflanzen hat man zuerst das Gegenteil entdeckt. Auch das ist wohlverständlich: diese Arten leben unmittelbar unter den Augen des Menschen, an ihnen verfolgt er die Stammbäume und an ihnen versucht er sich a ls Züchter, d. h. als llmbilder der Artform. Aber es ist nicht die ihnen gewidmete Aufmerksamkeit allein, was zur Ent­ deckung der V ariabilität führt; vielmehr bewegt fich die Veränderung des Arttypus unter der Hand des Züchters bedeutend schneller fort, so daß unter günstigen Umständen ein Menschenleben sehr wohl ausreicht, um sichtbare Abänderung zu konstatieren. Im m erhin ist auch das die längste Zeit ein bloß praktisches Wissen der Züchter gewesen. I n die Theorie dringt die Erkenntnis einer V ariabilität lebender Arten erst im Ausgang des 18. Jahrhunderts durch, und zwar nicht von der Erfahrung der Praktiker aus, sondern vom damals aktuell gewordenen Problem der „natürlichen Klassifikation" her. Von langer Hand bemühte man sich um eine solche, in der Botanik so gut wie in der Zoologie: es galt, die Mannigfaltigkeit der Lebensformen in ein System zu bringen. Denn Verwandtschaften und Analogien hatte man natürlich immer schon gesehen. N ur hatte auch diese Bemühung zunächst einen mehr logischen Charakter, darum ist so lange und so lebhaft um das Principium divisionis

gestritten worden. M an dachte weniger an die Aufzeigung von biologisch fundamentalen Merkmalen als an die Heraushebung übersichtlicher und durchgehender Gemeinsamkeiten. So entstand eine Systematik der Pflanzen und Tiere, die sich mit Einteilung und Überschau begnügte, ohne im Ernst nach Wesensunterschieden zu fragen. Am bekanntesten geworden ist das Linnesche System der Pflanzen. Die Frage nach einem „natürlichen" System ist demgegenüber schon ein erheblicher Fortschritt. Dieser kommt mit dem Einsetzen der ver­ gleichenden Anatomie in der Zoologie auf. Gleich bei den ersten Schritten dieses neuen Wissenszweiges, beim Vergleichen tierischer Skelette, mutzte es auffallen, datz der innere Aufbau des Organismus verschiedener Arten viel größere Übereinstimmung zeigt, als das äußere Aussehen und die Lebensweise. Dieser Eindruck verstärkte sich, als man die weitgchenden Analogien der Organe bei äußerlich sehr verschiedener Gestalt herausfand. Von hier aus war es aber noch ein schwieriger Weg bis zum Aufdämmern der Einsicht, daß bei größerem Artenmaterial die scharfen Grenzstriche der Formtypen sich verflüchtigen und zusammenhängenden Reihen geringerer Wergänge weichen. Erst dadurch gewann der Gedanke eines „natürlichen Systems" der Pflanzen und Tiere festen Boden. Aber auch der an sich ganz andere Gedanke eines durchgehenden Abstammungszusammenhanges w ar nun nicht mehr aufzuhalten. Auf der Basis dieses neuen Aspektes konnte man an der Konstanz der Artformen nicht mehr festhalten. Die Umwälzung im biologischen Denken, die hiermit vor sich ging, ist eine grundlegende und wahrhaft kategoriale. E s wird nicht nur die alte Kategorie der „Formsubstanz" über Bord geworfen, sondern mit ihr zugleich auch die altgewohnte Anschauung von der Identität, Absolutheit und Ewigkeit der Arten. An chre Stelle tritt die Beweglichkeit des Arttypus in der Gene­ rationsfolge der Individuen. D as ist zwar noch keineswegs der Deszendenz­ gedanke, geschweige denn eine Deszendenztheorie. Freilich wurde man damit auf eine solche Theorie hingedrängt. Aber das gehört in ein anderes Kapitel.

b. Ursprüngliche Labilität des Keimvlasmas und „Streuung" der Art Die neuen Zusammenhänge, die damit in den Gesichtskreis treten» wirken auch unmittelbar auf die Auffassung des Stammeslebens und seiner Grundlage, des Keimzellenlebens, zurück. Denn zunächst widerstreitet die Abänderung des Arttypus, ja überhaupt jede Variabilität, dem oben entwickelten S inn der artgleichen Reproduktion der Individuen sowie dem auf qualitative Regulation des Artlebens ausgerichteten Prinzip der geschlechtlichen Fortpflanzung und der Amphimixis.

Hier aber zeigt sich eben, daß die bisherige Betrachtung einseitig war. E s ist wahr: die Stabilität des Arttypus im Wechsel der Individuen hängt ganz und gar an der Stabilität des Keimplasmas. Aber — so mutz man hinzufügen — auch die V ariabilität des Arttypus hängt ebensosehr an der V ariabilität des Keimplasmas. Dieser letztere Satz ist keine Selbstverständlichkeit. Noch Lamarck hatte ihn nicht begriffen, und gleich ihm viele der Späteren. E s scheint eben doch zunächst ganz anders: man meint es a priori greifen zu können, daß jeder dauernde Einfluß auf die Individuen, der sie in eine bestimmte Richtung der Form- oder Funktionsänderung drängt, zuletzt auch den Arttypus müßte verändern können. Indessen das Gesetz der Vererbung zieht hier eine klare Grenze vor: es gibt keine direkte Erblichkeit von Eigenschaften oder Fähigkeiten, die erst vom Individuum erworben find. Es ist dabei sogar relativ gleich­ gültig» ob es sich um Besonderheiten handelt, die durch äußere Einflüsse entstehen (wie Verletzungen) oder um solche, die durch aktive Funktions­ steigerung (Übung) erzielt find. W orauf es ankommt, ist nur das Eine. ob bloß das individuelle „Soma" des Organismus davon erfaßt wird oder auch das Keimplasma. Erst wenn gewisse „Gene" des Keimplasmas mit von der Veränderung ergriffen werden, können die neu auftretenden Eigentümlichkeiten sich vererben. Denn nur das Keimplasma bestimmt den morphogenetischen Prozeß der Neubildung der Individuen. Die „somati­ schen" Beschaffenheiten der zeugenden Individuen haben keinen Einfluß darauf. Über diese Sachlage täuscht auch den Erfahrenen immer wieder die augenfällige Tatsache, daß die am Individuum beobachteten Eigenheiten offenkundig an seinen Nachkommen wiederkehren. So ist es mit vielen Fähigkeiten des Menschen, so auch mit zahlreichen Eigentümlichkeiten der Haustiere und Hauspflanzen. M an beachtet dabei nur nicht, daß ja keines­ wegs alles sich vererbt, sondern stets nur einiges, und zwar niemals das vom Individuum in seinem Einzelleben erst Erworbene, sondern stets nur das, was bereits in seinen Anlagen enthalten war. Es ist nur im Einzel­ fall nicht immer leicht, eines vom anderen zu unterscheiden, zumal bei Fähigkeiten, die sich durch Übung steigern lassen. I n der Wiederkehr solcher Fähigkeiten ist eben das Vererbte nur die Grundlage; was dann der Mensch daraus durch Fleiß und Konsequenz macht, ist seine individuelle Leistung. Aber diese letztere vererbt sich nicht. Und noch ein Zweites ist es, was an diesem Punkte der Problem­ entfaltung zur Einsicht kommt. M an hat nämlich von jeher, wo und wie immer man auf Phänomene der Artveränderung stieß, gleichsam zwangs­ läufig nach „Ursachen" der Abartung gefragt. Die stillschweigende Voraus­ setzung dabei war eben, daß zunächst einmal der Typus der Art etwas Fest-

stehendes fei, so daß jede Abweichung von ihm besondere Ursachen haben müsse. Ohne recht zu wissen, was man damit tat, nahm man aus diese Weise eine absolute S tabilität des Keimplasmas für gegeben, also gerade das, was organologisch am wenigsten wahrscheinlich hätte sein dürfen. Denn man wußte es sehr wohl: alle organischen Gefüge find von Hause aus labil und erhalten fich nur vermöge besonderer aktiv arbeitender Regulationsfunktionen. Das mutz natürlich auch vom Anlagesystem gelten; und es hätte gerade von ihm um so mehr evident sein müssen, als es sich beim Leben des Keimplasmas um ein kontinuierliches Fortbestehen in Zeitmaßen ganz anderer Größenordnung handelt als beim Soma des Individuums. Jede Instabilität hat hier also von vornherein ganz anderen Spielraum , sich auszuwirken, als int Leben des Individuums. Auf dem Hintergrund dieser Labilität gewinnt ja auch erst die Einrichtung der geschlechtlichen Fortpflanzung und der Amphimixis des Keimplasmas S inn und Gewicht (Kap. 53 d, e). Dadurch bekommt die ganze Sachlage ein anderes Gesicht. Es handelt sich offenbar bei der Abartung nicht um besondere, gleichsam erst „hinzu­ kommende" (akzessorische) Ursachen der Veränderung, sondern zunächst einfach um die ursprüngliche Labilität, die das Keimplasma mit allen organischen Gefügen (und Teilgefügen) teilt. Das bedeutet, daß wir es int Stammesleben einer A rt von Hause aus mit einem gewissen Spiel­ raum des Formtypus selbst zu tun haben. I n der Sprache der Statistik kann man dieses Phänomen als die qualitative „Streuung" der A rt be­ zeichnen. Wobei weiter leicht einzusehen ist, daß auch der Umfang und die Richtung der Streuung sich verändern können. Denn feste Grenzen der Streuung kann es nur dort geben, wo allgemeine Gesetze walten, die ihr Grenzen vorschreiben. Solche Gesetze int Leben der Art vorauszusetzen, haben wir keinen Grund. Damit ändert sich die Problemlage von Grund aus. Lebende Arten, deren Keimplasma nicht absolut artfest ist, müssen von vornherein quali­ tativ beweglich sein. Und sie müssen auch wirklich abarten, sobald in den zur Nachzucht gelangenden Individuen eine bestimmte Variante sich häuft und gleichsam bevorzugt auftritt. Das aber geschieht dort, wo gewisse Lebensbedingungen einsetzen, die ihr den Vorzug in der Selbstbehauptung der Individuen geben. Varianten solcher A rt gewinnen eben int Leben der Individuen Selektionswert. c. Verfestigung und sekundäre S ta b ilitä t

Diese Einsicht ist ausschlaggebend für die Bewertung des natürlichen Celektionsprinzips. Da dieses Prinzip eine eigene Kategorie des Organi­ schen ausmacht, wird über sein Wesen erst später das Nähere auszumachen

fein. 2m Zusammenhang der einfachen V ariabilität des Arttypus kommt es hierbei nur auf einen Punkt an. M an hat gegen das Selektionsprinzip eingewandt, daß es ja die V aria­ bilität der A rt schon voraussetze,' da es aber die Ursache der Abartung aufzeigen wolle, so setze es ebendas voraus, was es beweisen wolle. D aran ist das erstere richtig, das letztere von Grund aus irrig. V ariabili­ tä t ist nicht Abartung. M an kann fie sehr wohl voraussetzen, ohne diese mit vorauszusetzen. Die V ariabilität ist überhaupt nur ein Moment der Inkonstanz des Anlagesystems, gleichsam seine Lofigkeit oder Locker­ heit, ein Faktor der Streuung oder des Pendelns um einen mittleren Arttypus herum. Daß aber bei solchem Pendeln fich die Ausschläge fort­ gesetzt nach einer bestimmten Seite vergrößern können und unter be­ stimmten äußeren Umständen vergrößern müssen, liegt keineswegs in ihrem Wesen. Um diese Vergrößerung aber handelt es fich in der Ab­ artung. Dazu bedarf es der selektiven Wirkung von äußeren Bedin­ gungen. Daß es andererseits auch eine Variation rein phänotypischer Art gibt, hervorgerufen durch äußere Einflüsse im Werdegange der Individuen (z.B . bei Pflanzen durch die Verschiedenheit des Nährbodens), ändert hieran nichts. M an sollte Phänomene dieser A rt von Rechts wegen auch gar nicht als Variation bezeichnen. N ur was auf Richtungsverschieden­ heit der Keimanlage beruht, verdient den Namen der Variation. Jeden­ falls ist hier nur von V ariabilität im letzteren Sinne die Rede. Die Streuung selbst also wird hier mit Recht vorausgesetzt, weil sie an keine besonderen Ursachen gebunden ist, sondern die Erscheinungsweise einet ursprünglichen Eigenschaft des Keimplasmas ausmacht: seiner Labilität. Daß dem so ist, ergibt fich aus der Diskufiion des Reproduk­ tionsvorganges und der mit ihm verbundenen Regulationsfunktion. W äre die Reproduktion der Individuen bei den höheren Lebewesen eine durchgehend parthenogenetische, eine solche also, die der Amphimixis nicht bedürfte, so könnte man daran allenfalls zweifeln. Bedarf es aber zur Festhaltung des Formtypus in der Eenerationsfolge bet Individuen einer fortgesetzten Kopulation der Keimzellen, eines ständigen Aus­ gleichs und einer Paralysierung von stets schon vorhandenen Abwei­ chungstendenzen, so liegt die Sache ganz anders: dieser ganze Regu­ lationsapparat ist dann der Beweis dafür, daß die V ariabilität im kontinuierlich lebenden Keimplasma selbst eine ursprüngliche ist, daß also das Anlagesystem einer lebenden A rt nicht von Hause aus formfest ist, sondern beweglich, labil.

Die Verfestigung gibt es freilich auch, aber wohl nur als Ausnahme und gewiß auch nicht unbegrenzt. So bei den parthenogenetifch sich fort­ pflanzenden Arten. Und diese Ausnahmen lehren, daß biologisch kein unbedingter Vorzug für das Leben der A rt darin liegt. M it der Verfesti­ gung des Keimplasmas fällt die Anpasiungskraft der A rt bei veränderten Lebensbedingungen hin. Und überhaupt muß man sich klar machen: das Erstaunliche im Leben der Arten ist nicht die Schwankung oder Streuung der Form, sondern vielmehr ihre relativ hohe Konstanz. F ü r jene liegen die Gründe nah, für diese bedarf es eines komplizierten Regulationsapparates. Wo es aber Regulation gibt, da ist unter allen Umständen Labilität schon vor­ ausgesetzt. Die A rt von Labilität nun, wie das Keimplasma sie zeigt, ist bei organischen Gefügen von vornherein eine notwendige und geradezu a priori einleuchtende. Nur eine ganz abwegige Analogifierung mit den mathematischen Naturgesetzen des Anorganischen konnte hier irreführen. Denn die Voraussetzungen solcher Gesetzlichkeit treffen hier ganz und gar nicht zu. E s gibt freilich allgemeinere Gesetze organischer Funktionen, die den physikalischen nahestehen und gleichsam deren Fortsetzung bilden. Aber nicht um solche handelt es sich hier. Die eigentlichen Artgesetze des Lebendigen find von anderer A rt; sie sind selbst bewegliche Gesetze a n d a ls solche stets nur bedingt gültig. D. h. sie teilen die V ariabilität der organischen Artform. D as Prinzip der V ariabilität läßt sich hierdurch in Kürze so aus­ sprechen: das Keimplasma einer A rt ist von Hause aus ein instabiles Gefüge. E s wird nicht durch immanente Naturgesetzlichkeit, sondern nur durch ständig selbsttätige Ausmerzung des Abwegigen bei seiner beson­ deren Artung festgehalten. E s variiert von Hause aus in freier Streuung. Und es wird faktisch nur selektiv durch seine „Zweckmäßigkeit" für das Stammesleben unter bestimmten Lebensbedingungen (solange diese eben währen) bei sich festgehalten. Seine Id e n tität also, wo nicht nachträgliche Verfestigung hinzutritt, hält sich nur in den Grenzen fortbestehender Angepaßtheit. Seine empirische Stabilität, die uns die Konstanz der Arten vor­ täuscht, ist keine ursprüngliche Festigkeit, sondern sekundäre Stabilität» getragen durch aktiv regulierende Funktionen des Artlebens. Darum kann sie jederzeit auch versagen. Denn alle Regulation funktioniert nur in gewissen Grenzen. M an kann das auch so ausdrücken: feine Gleichgewichtsform ist eine pendelnde, wobei die Pendelausschläge selbst durch die Grenzen der Angepaßtheit teguliett werden. Zu große Ausschläge find unzweckmäßig und scheiden in der Konkurrenz der Individuen von felbst aus.

SS. Kapitel. Me Regulation des Aetleteas a. Das lebende Individuum groben S tils

R u r vom Menschen aus, dessen Leben ein individuelles und ent­ sprechend kurzes ist, erscheint das Leben der Individuen als das „eigent­ liche Leben" im Reiche des Lebendigen. Teils ist es die dingliche Gegebenheit des Einzelorganismus, die dazu verleitet, teils der Stuten* aspekt des eigenen menschlichen Lebens, der ein Selbstbewußtsein des Individuum s ist und alle Akzente auf dieses verlegt. Dem setzt der wissen­ schaftliche Aspekt ein anderes Bild entgegen: die P rio rität des Stam mes­ lebens der Art, in welchem das Individuum nur eine vorübergehende Rolle spielt, in das es von Hause aus gebunden ist und dem es mit seinen wichtigsten Funktionen, denen der Fortpflanzung, dient. Diese P rio rität ist vom Jttdividuum au s nicht zu erkennen. Eine kon­ krete Vorstellung von ihr bekommt man erst von den Phänomenen des Keimzellenlebens aus, das sich in Formgefügen einer anderen Größen­ ordnung der direkten Wahrnehmung entzieht. Der räumlichen Kleinheit der Vorgänge in der Keimzelle entspricht die zeitliche Überlegenheit des Lebensprozesses, der sich in ihnen abspielt: das Keimplasma lebt konti­ nuierlich im Wechsel der Individuen fort. Sein Leben ist nur räumlich von niederer, zeitlich von höherer Größenordnung. Darum lassen sich nur von seinem Aspekt aus die Grundphänomene des Artlebens an den In d i­ viduen deuten: Tod und Zeugung, Kopulation und Reproduktion, Regu­ lation, Konstanz und V ariabilität des Artlebens. I n diesem Aspekt erscheint die „lebende A rt" folge der Generationen von Individuen a ls ein nung, ja im Nebeneinanderleben vieler Arten, W elt koexistiert, als ein „lebendes Individuum

mit ihrer Aufeinander­ Lebewesen höherer Ord­ mit denen sie in einer großen S tils".

D as ist mehr als ein bloßes Gleichnis. D as Stammesleben hat In d i­ vidualität, und zwar in einem strengeren Sinne als das Leben der Individuen: denn dieser sind viele, das Stammesleben aber ist wirklich ein einziges. E s hat sein zeitliches Dasein mit Ansang und Ende, hat seine Geschichte im Ganzen der Vorgänge auf der Erde: und seine jewei­ lige „Existenz" ist eine durchaus reale in einer stets endlichen Anzahl von Individuen (vgl. Kap. 51 c). Darüber hinaus aber hat sich nun noch gezeigt, daß im Keimplasma mit seiner eigentümlichen K ontinuität, welche die Individuen real verbindet, auch die materielle Einheit eines lebenden Individuum s höherer Ordnung vorliegt. Und diese Einheit hat

dieselbe Jdentitätsform wie das phänotypische Individuum: es assimiliert und lebt durch fortgesetzte Selbstteilung und Selbstwiederbildung fort. Nur seine qualitative Regulation ist von anderer Art, sie schlägt den Umweg über die Selektion der Individuen ein. D as lebende Individuum großen S tils ist zwar auseinandergerissen in die Vielzahl der Exemplare gleicher Art. Aber wieder nur vom Aspekt des einzelnen Exemplares au s ist es so, denn an Verbundenheit fehlt es nicht, ste liegt nur bei den Funktionen, welche der Art dienen, bei der Fortpflanzung. N ur bei rein parthenogenetisch reproduzierenden Arten können die Stammeslinien immer weiter auseinanderführen: sonst führen sie immer und notwendig durch fortgesetzte Kopulation der Keim­ zellen wieder zusammen. D as Geschlechtsverhältnis hält die scheinbar auseinanderstrebenden Lebensläufe der Individuen im ganzen und auf weite Sicht doch zusammen. Freilich liegen die Kopulationen der Keimzellen bei den Vielzelligen doch verhältnismäßig weit auseinander (anders als bei den Einzelligen): der ganze Werdegang des Individuum s mit unzähligen Zellteilungen bis zur Geschlechtsreife liegt dazwischen. Aber diese verhältnismäßig langen Zwischenzeiten reißen dennoch die Einheit des Artlebensprozesses nicht auseinander. Phylogenetisch angesehen sind sie auch nicht gar so lang: und das Leben der Keimzellen muß nun einmal in Zeitmaßen des Stammeslebens gemessen werden. Und ist denn überhaupt das räumliche Auseinandersein der In d i­ viduen ein Zerreißen der Einheit? Bei den Protisten trennen sich die durch Teilung entstehenden Zellen, bei den Vielzelligen bleiben sie zu­ sammen und lagern sich an; das Anlagerungsprodukt nennen w ir ein Individuum, die Menge der getrennt lebenden Zellen fassen wir nur a ls Vielheit auf. Aber vom Stammesleben au s gesehen ist der Unterschied nicht so groß; in beiden Fällen setzt nach einer Reihe von Teilungen doch wieder die Kopulation ein, und das Leben der A rt macht seine Einheit geltend. M an kann auch weiter so überlegen: selbst die Glieder und Organe eines vielzelligen Körpers sind doch räumlich „auseinander"; bedenkt man es nun recht, so ist von diesem Auseinandersein nur ein kleiner Schritt bis zur Verteilung von Eliedfunktionen und Organfunktionen an gesonderte Gruppen von Individuen, wie das int Bienen- und Ameisenund Termitenstaat der F all ist. D as Leben eines solchen S taates oder Volkes (man spricht vom „Ameisenvolk") ist trotz der Verteilung und Aufspaltung ein einheitliches Ganzes, das zum „Individuum" höherer Ordnung zusammengewachsen ist.

b. Ausrichtung der Regulation auf das formbewegliche Stammesleben

Vom Gesamtleben der Art aus erscheinen die Individuen mitsamt ihrem Entwicklungsgänge, der „Ontogenese", als bloße Abzweigungen von der kontinuierlichen Linie des Keimplasmas. Auch das ist zunächst buchstäblich zu verstehen. I n der Wiederbildung des vielzelligen Orga­ nism us beruht alles auf fortgesetzter Zellteilung; die Differenzierung der Zellen und ihre sehr verschieden gelenkte Anlagerung find schon durch fie begrenzt. Wie bei den Protozoen kommt auch hier die Zellteilung nach einer gewifien Anzahl von Teilungen zum Stehen. Um fie wieder in Gang zu bringen, bedarf es einer neuen Kopulation; aber diese geht nun nicht mehr in den differenzierten Teilen des Soma vor sich, sondern nur noch in den Keimzellen. Und bei diesem Vorgänge find die viel­ zelligen Individuen bloß die Vermittler — als die geschlechtlich diffe­ renten Träger des Keimplasmas. I n ihrer Zeugungsfunktion erscheinen fie deutlich als die Organe des kollekttven Lebewesens höherer Ordnung, defien Leben sie a n ihrem Teile darstellen und weitergeben. Sieht man die Reihe der Wiederbildungen entlang, in denen das Eefamtleben der A rt verläuft, so fällt die Gleichartigkeit der Lebens­ kurven nicht weniger als die der Form ins Auge. Die Individuen er­ heben sich im Durchschnitt bis zu einer gewifien Höhe der Formbildung. S ie bilden mit ihren artgleich wiederkehrenden Reifestadien ein einheit­ liches Niveau der Gestaltung und der Funktionshöhe, gewähren gleichsam das B ild einer auffallenden Jsokephalie. Dieses Bild ist der uns ge­ wohnte phänotypische Anblick einer lebenden Art. Der Anblick ist zwar nicht identisch mit dem „lebenden Individuum höherer Ordnung", das kein Organismus, wohl aber ein einheitliches Lebensganzes ist; dennoch spiegelt sich defien Bestehen deutlich in dem konkreten Bilde des Gleich­ artigen — einerlei ob w ir das eintönige G ras der Steppe vor Augen haben oder den natürlich gewachsenen Wald, den Heuschreckenschwarm, den Heringszug oder ein Volk von Menschen. Der Mensch sieht das einheitliche, im Keimzellenleben der Art real gebundene Gesamtleben nicht direkt, weil er gewohnt ist, dinghast aufzufafien; aber er spürt es in seiner produktiv einheitlichen Formungskrast und kann es so, ver­ mittelt durch sein eigenes gereiftes Lebensgefühl, auch sehr wohl konkret als ganzheitliche Einheit empfinden. Am Leben einer A rt als dem eines Eefamtindividuums lassen sich die einschlägigen Stabilitäts- und Variabilitätserscheinungen eindeutig als Regulationen verstehen, die aktiv von ihm selbst ausgeübt werden — in der Weise» wie die beiden vorausgehenden Kapitel es gezeigt haben. D as Wesentliche dabei ist aber, daß diese Regulattonen nicht einfach auf die qualitative Erhaltung der „A rt", d. h. des einmal gewordenen Form-

typus, ausgerichtet sind, sondern vielmehr auf die Erhaltung des lebenden Gesamtindividuums. Das ist durchaus nicht ein und dasselbe. Denn im Stammesleben kann der Formtypus der Individuen sich ändern, und auf lange Sicht ist er wohl stets in irgendeiner Veränderung begriffen. I n der Veränderung der „Art" aber bleibt das Stammesleben als solches gerade erhalten. Die Regulationen des Artlebens können also nicht vom „festen" Art­ typus aus verstanden werden, sondern nur vom beweglichen Formtypus des Stammeslebens aus. Auf kurze Sicht bedeutet das natürlich stets zugleich ein Festhalten am Typus. Aber gemesien am Rhythmus des Art­ lebens reicht kurze Sicht nicht zu, das Ganze in seiner Lebenseinheit zu fasten. Es läuft also in den Regulationen großen Stils nur sehr bedingt auf Stabilität der Form hinaus. Es sind im Grunde ebensosehr Regu­ lationen der Artveränderung, so weit diese der weiteren Erhaltung des Stammeslebens dienlich ist. Aus diesem Grunde ist der Spielraum der Labilität (Variabilität) im Keimplasma einer Art, und mit ihm die „Streuung" im Formtypus der Individuen, von vornherein eine zweckmäßige Einrichtung. Denn schließlich lebt eben doch jede Art unter Bedingungen, die sich eines Tages auch ändern können; und langsam ändern sich die Bedingungen wohl stets. Die Anpassung an sie reißt also wohl schwerlich jemals ganz ab. Sie kann aber nur in Gang bleiben, solange das Anlagesystem der Keimzellen seine Variabllität behält. Wäre die qualitative Regulation im Artleben auf den einmal ge­ wordenen Formtypus der Art als solchen ausgerichtet, so wäre jede Be­ weglichkeit des Keimplasmas unzweckmäßig, und die Regulation wäre lediglich eine Schutzwehr gegen sie. Ist sie aber auf die Erhaltung des Etammeslebens ausgerichtet, einerlei in welchem Maße dieses den ge­ wordenen Arttypus festhält, so ist die Sachlage die umgekehrte: gerade die Labilität des Keimplasmas und die Beweglichkeit des Arttypus find dann zweckmäßig für die Erhaltung des Stammeslebens. Denn sie machen die Hauptbedingung aus, unter der sich dieses einer veränderlichen Um­ welt fortlaufend anpassen kann. c. Quantitative Regulation des Artlebens

Die qualitative Regulation der Form ist nicht die einzige, die wir im Leben der Art kennen. Es steht neben ihr auch eine quantitative, die ein­ facher und primitiver, aber nicht weniger lebenswichtig ist. Sie betrifft die Anzahl der Individuen, in denen gleichzeitig das Stammesleben ver­ läuft. Auch diese Regulation ist nicht auf den Arttypus als solchen aus­ gerichtet; und zwar ist das an ihr noch unmittelbarer sichtbar als an der H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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qualitativen. Denn sie ist von vornherein offenkundig gleichgültig gegen die strenge Aufrechterhaltung des bestehenden Formtypus. Die quantitative Regulation betrifft den Ausgleich von Sterblichkeit und Reproduktion der JM viduen. S ie bildet darin ein genaues Ana­ logon zur quantitativen Regulation von Assimilation und Dissimilation im Leben der Individuen. Sie erstreckt sich hier wie dort auf das Wider­ spiel des abbauenden und aufbauenden Prozesses. N ur die Prozesse selbst find andere. Wie die Assimilation des Stoffes so ist auch die Fortpflanzung der Individuen nicht nur Ersatz des Verlorenen, sondern in der Regel Mehrersatz, leistet nicht nur Reproduktion, sondern auch Überproduktion. B ei manchen Arten geht die Überproduktion in jeder Generation ins Hundert­ tausendfache und mehr der jeweiligen Jndividuenzahl. Aber nirgends finden w ir bei solchen Arten eine entsprechende Überschreitung des quantitativen Gleichgewichts. Die Anzahl der ausgewachsenen Individuen schwankt wohl beträchtlich, aber doch in sehr viel engeren Grenzen. Der ungeheuren Überproduktion in solchen Fällen entspricht stets eine ebenso ungeheure Vernichtungsziffer der jugeMichen JM viduen. F ür die Ver­ nichtung sorgen im Haushalt der N atur andere lebende Arten, deren Nahrung eben diese jugeMichen Individuen find. I n Wirklichkeit ist das Bedingungsverhältnis hierbei natürlich das umgekehrte: das Leben der Art ist durch die hohe Vernichtungsziffer im Iugendstadium der JM v id u en mit dem Untergang bedroht; die lebende A rt aber fetzt dieser Bedrohung die Überproduktion entgegen. W enn sie das nicht könnte, müßte sie in der T a t schnell der Vertilgung durch ihre Feinde anheimfallen. Der gewaltige Mehrersatz ist die aktive Reaktion des Stammeslebens auf die übermäßige Bedrohung seiner Existenz, die Kompensation seiner fortgesetzten Dezimierung. Aber er ist keine auto­ matische Kompensation, sondern eine eminent „organische", eine selbst­ tätige. D. h. wir haben es hier mit der eigentümlichen A rt quantitativer Regulation zu tun, die das Stammesleben über seine eigene Ausbreitung ausübt. Eine Regulation solcher Form ist ohne Analogie im Leben des In d i­ viduums; sie ist nur dem Artleben eigen, ist also ein Novum der Lebens­ einheit höherer Ordnung. Das Auffallende und auf den ersten Blick unglaubhaft Wirkende an ihr ist die ungeheuerliche Verschwendung, die das Artleben mit seinen eigenen Trägern, den Individuen, treibt. Aber bei näherem Zusehen zeigt sich, daß es ein sehr menschlicher Gesichtspunkt ist, dem so etwas unglaubhaft erscheint. Freilich gibt es auch andere M ittel, das Leben der A rt gegen seine Feinde zu schützen; das gewöhn­ lichste ist die zweckmäßige Ausrüstung mit wirksamen Verteidigungs­ waffen oder mit der Fähigkeit überlegener Fluchtgeschwindigkeit; sub-

tiler noch find die Schutzfarben, die das Individuum in seiner Umgebung verschwinden lassen. Za, es gibt auch ganz raffinierte Schliche des Selbst­ schutzes, wie fie etwa in gewifien Formen der „Mimikry" vorliegen. Aber das alles hat seine Grenzen und kommt auch nicht bei jeder Lebens­ form in Betracht. Ohne Grenzen dürfte in der T at nur die einfache Überproduktion der Individuen sein, die primitivste, aber vielleicht wirk­ samste Form, die Q ualität des Artlebens zu stchern. Darum eben macht diese Form der Regulation den Eindruck der grenzenlosen Verschwen­ dung. I n Wirklichkeit ist die Verschwendung nicht grenzenlos, sondern gerade sehr zweckmäßig begrenzt, ist auch im Grunde keine Verschwendung, sondern sehr bestimmt ausgewogene Ökonomie. Daß aber die große Überproduktion vom Leben der A rt her reguliert ist, läßt fich schwerlich bestreiten. D as folgt einfach aus der Tatsache, daß w ir sie nur dort antreffen, wo wirklich entsprechend hohe Vernichtungs­ ziffern das Leben der A rt bedrohen. Sie treten eben nur da auf, wo fie nicht leere Verschwendung, sondern echte Lebensnotwendigkeit find. D as wird um so einleuchtender, wenn man sieht, daß im allgemeinen die Anzahl der Individuen nicht an Grenzen gebunden ist, die ihr von innen her vorgeschrieben find, sondern in weitem Spielraum schwankt. D as Schwanken hängt dabei zumeist an rein äußeren Bedingungen, am vorhandenen Lebensraum, an der Menge der zur Verfügung stehen­ den Nahrung, am Vorhandensein von Konkurrenten anderer A rt im Verbrauch der Nahrung und in weiterem Maße auch von den Feinden der Art. Da solche äußeren Bedingungen selbst großen Schwankungen unterliegen, ist es stets ein Vorteil für das Leben der Art, wenn eine gewifie Überproduktion von Individuen in jeder Generation vorhanden ist. Ohne sie ist es bei plötzlich eintretenden ungünstigen Verhältnissen sehr schnell dem Aussterben ausgesetzt. Deswegen ist es wichtig, daß es eine das Leben der A rt bedingende Höchstgrenze der Reproduktion nicht gibt. E s gibt kein Labilwerden der A rt durch zu große Jndividuenzahl. D as Gesamtindividuum des Stammeslebens ist eben kein geschlofiener organischer „Körper" wie das einzelne Exemplar der Art. E r wird von seiner eigenen Q uantität a ls solcher nicht gesprengt. — Darüber hinaus findet sich noch eine gegenseitige quantitative Regu­ lation der Arten, sofern sie im gleichen Lebensraume fich ausbreiten, fei es nun, daß sie sich Konkurrenz machen, oder daß eine die andere ver­ folgt. Am bekanntesten ist das an dem Verhältnis von Raubtier und Veutetier. Steigt die Anzahl der Beutetiere, so verbessern sich die Lebens­ bedingungen der Räuber,' nehmen diese aber infolgedessen an Zahl zu, so dezimieren fie jene bis unter die Normalziffer. W as zur Folge hat, daß ihre eigene Anzahl wieder finkt, worauf die der Beutetiere aufs neue zu steigen beginnt.

Hier haben w ir ein ausgesprochen pendelndes Gleichgewicht, das sich selbst reguliert. Aber es betrifft nicht mehr das Leben einer einzelnen A rt, sondern den Lebenszusammenhang zweier oder mehrerer Arten; es ist ein zwischen den Arten bestehendes, das über die weitesten Uyterschiede der Gattungen, Familien, Ordnungen und Klaffen der Lebewesen hinweggreist. Seine Regulation ist daher nicht eine aktiv vom Leben einer A rt her ausgeübte, sondern eine bloß automatische, vergleichbar denen der dynamischen Gefüge; also eine Regulation nicht von höherem, sondern von niederem Typus.

d. Versagen der Artregulation und Artentod

Vergleicht man nun den Regulationsapparat im Leben der A rt mit demjenigen im Leben des Individuums, so fallen zunächst fast nur Über­ einstimmungen auf. D as Widerspiel der Prozesse ist analog, die A rt des Ausgleichs ist analog, der Einschlag der Labilität ist derselbe, und der Modus der selbsttätigen Stabilisierung ist derselbe. Es scheint, nur die Größenordnung der Vorgänge ist eine andere. Und doch ist hier ein grundlegender Unterschied, der sich weder über­ sehen noch wegdeuten läßt. Er liegt darin, daß nur die Individuen stch reproduzieren, die Arten aber nicht. D as „Individuum großen S tils" steht allein da. E s hat wohl Gesamtgebilde gleicher Größenordnung neben stch, hinter sich, vor sich, aber nicht solche von gleicher Art. Das Leben der A rt hat kein lebendes Ganzes von höherer Ordnung mehr über sich, kein Individuum noch größeren S tils. Denn der Inbegriff der Arten, die zu einer Gattung, Familie oder Ordnung gehören, ist nicht mehr ein einheitlich lebendes Ganzes, nicht verbunden durch ein gemein­ sames Keimzellenleben mit fortgesetzter Vermischung, nicht ein organisches Gefüge. Es fehlt der Ausgleich der Anlagen und die reale Id e n tität des gemeinsamen Grundstockes, von dem die Arten Abzweigungen sind. Wohl lassen die Stammeslinien der Arten auf gemeinsamen Ursprung schließen, aber die gemeinsame Stam m art besteht nicht fort; und selbst, wo sie einmal wirklich noch unter den lebenden Arten fortbesteht, da stehen doch die vielen gewordenen Arten mit ihr nicht mehr in der Ver­ bundenheit eines gemeinsamen Keimplasmalebens. Das spricht sich sehr deutlich in der engen Begrenzung des Geschlechts­ instinktes der Individuen auf die eigenen Artgenossen aus; darüber hinaus aber auch in der Begrenzung der Befruchtungsmöglichkeit zwischen engverwandten Arten (was nicht dasselbe ist). Die Folge ist, daß versagendes Gleichgewicht im Leben der A rt — und zwar sowohl quantitatives wie qualitatives — sich nicht mehr auf einer nächsthöheren Stufe ausgleicht, nach der A rt etwa, wie das Labilwerden

des Individuum s (fein Altern und Tod) stch im Stammesleben durch Wiederbildung der Individuen ausgleicht. Das entspricht dem kategorialen Reproduktionsgefetz (Kap. 51 g ) : Reproduktion von Gebilden niederer Ordnung bedeutet Erhaltung des Gebildes höherer Ordnung. Wie aber, wenn es kein Gebilde höherer Ordnung mehr gibt? Dann gibt es offenbar auch keine Reproduktion in der niederen Ordnung. D as ist es, warum es keine Reproduktion des Artlebens gibt. E s gibt wohl den Artentod, und es gibt auch die Artentstehung. Aber diese ist nicht Wieder­ bildung des gleichen Artlebens. W as phylogenetisch neu entsteht, ist auch stets eine neue Form des Lebens, und die alte lebt in ihr nicht wieder auf. Dieses Verhältnis ist nicht umkehrbar. Denn gäbe es eine sich erhal­ tende organische Ganzheit noch höherer Ordnung, so müßte es die Wiederbildung des besonderen Artlebens geben. S ta tt dessen gibt es die zeitliche Begrenzung des Artlebens nach rückwärts wie nach vorw ärts: das erstmalige Entstehen der neuen A rt und den endgültigen Artentod. Auch das ist ein Komplementärverhältnis entgegengesetzter Vorgänge. Aber es ist kein Widerspiel der Prozesse wie das von Sterben und Wiederbildung der Individuen im Leben der Art, und keine von höherer Ganzheit au s geleitete Regulation waltet ausgleichend über ihm. Der Artentod ist denn auch, soviel w ir wissen, kein „natürlicher", keine Selbstbegrenzung, kein Faktor der Selbstregulation, wie der Tod des Individuum s ein solcher für das Artleben ist. E r ist vielmehr als ein bloßes Versagen der Regulation des Artlebens aufzufassen, und zwar vor allem der qualitativen, also als eine Grenze, die ihr dem Wechsel der äußeren Bedingungen gegenüber gezogen ist. Und auch an dieser Grenze steht man deutlich, daß sie nicht die Erhaltung der einmal gewordenen Artform betrifft, sondern das Stammesleben als solches mit seinem Form ­ wechsel. Denn solange die lebende A rt sich unter veränderten Lebens­ bedingungen umbilden und an neue Verhältnisse anpassen kann, stirbt sie nicht aus. Der Artentod ist das Versagen der Umbildungsfähigkeit und Anpassungskrast, und es liegt nah, seinen Grund in der Verfestigung des Keimplasmas zu suchen. Wo die Anpassungsfähigkeit fortbesteht, das Keimplasma sich als umbildungskräftig erweist, da findet zwar auch der bestimmte, einmal gewordene Arttypus sein Ende. Aber das Ende ist dann nicht das Auf­ hören des Stammeslebens, sondern seine Erhaltung durch Abartung. D as aber bedeutet zugleich das Auftreten der neuen Art, die Artent­ stehung. Und wie es scheint, ist dieser Prozeß meist verbunden mit S pal­ tung des Stammeslebens in verschiedene Zweige, die sich dann qualitativ immer weiter voneinander entfernen. M it diesem Phänomen rückt das Problem der Deszendenz in den Vordergrund.

e. Weitere Regulationsformen

E s gibt im Leben der Arten noch mancherlei Formen von Regulation. Meist hängen sie mit Anpassungserscheinungen zusammen. Vielleicht ist es überhaupt so, daß Anpassungsvorgänge schon auf regulativen Funk­ tionen m it beruhen. Zum mindesten wird man das für die Erhaltung von einmal gewordener Angepaßtheit an bestimmte Lebensbedingungen annehmen dürfen. I n erster Linie dürsten dafür die zahlreichen Fälle echter Symbiose in Frage kommen; denn sie bestehen in gegenseitig zweckmäßiger Formund Funktionsbildung von sehr weit verschiedenen Arten. Wenn Laub­ bäume und Wurzelpilze sich gegenseitig in ihrer Erhaltung fördern, Blütenpflanzen und bestimmte fliegende Insekten ohne einander nicht leben können, so ist offenbar im Stammesleben beider aufeinander ange­ wiesenen Arten ein Teil ihrer Funktionen so reguliert, daß sie zweck­ mäßig ineinandergreifen. Solche Regulation ist dann nicht mehr auf das eigene allein, sondern mittelbar ebensosehr auf das fremde Stammes­ leben ausgerichtet. Nimmt man weiter an, daß die vielzelligen Lebewesen sich au s ein­ zelligen entwickelt haben, so darf man auch ihr Aufkommen im Sinne eines dem symbiotischen ähnlichen Verhältnisses auffassen. An primitiven Metazoen, wie etwa dem „Bolvox", leuchtet das ohne weiteres ein. L in solches Verhältnis unterscheidet sich von der echten Symbiose heterogener Arten n u r dadurch, daß die Arbeitsteilung der Zellarten im Entwicke­ lungsgänge des Individuum s erst nachträglich geworden, ihr Ursprung aber ein gemeinsamer ist. Die Regulation, die hier das organische Ineinander­ greifen der Funktionen beherrscht, ist identisch mit der des individuellen Lebens im vielzelligen Organismus. D as bedeutet, daß wir es hier mit dem Übergangsgliede zwischen der Regulation des individuellen und des Artlebens zu tun haben. W oraus sich weiter ergibt, daß diese beiden scheinbar grundverschiedenen Formen der Regulation vielmehr im Grunde eines Ursprungs und einer Art sind. Da die verschiedenen Zellarten hier gleichen Ursprungs, aber von ver­ schiedenem Entwickelungsgänge sind, der letztere aber auf zweckmäßiger Abstimmung der Funktionen in bezug aufeinander hinausläuft, so muß auch die Regulation hier als eine solche des Entwickelungsganges auf­ gefaßt werden. Ausgerichtet ist fie auf das größere Ganze, den viel­ zelligen Organismus, von dem fie auch gesteuert ist; der Eesamtprozeß aber ist die Differenzierung in der fortschreitenden Zellteilung unter der Funktion der Lage im Ganzen.

III. Abschnitt

Die Phylogenese 56. Kapitel. Die Wartung a. Das Schicksal einer Entdeckung Die neue Kategoriengruppe, zu der die letzten drei Kategorien bereits hinübergeleitet haben, läßt sich als die der Deszendenz" bezeichnen. S ie geht in derselben Weise über das Artleben hinaus, wie dieses über das Leben der Individuen: in ihr find die lebenden Arten selbst in die Stammeseinheit aller Lebewesen auf der Erde zusammengefaßt und erscheiiren als deren Verzweigungen. Denn nicht so sehr auf die besonderen Abstammungslinien der einzelnen Arten, oder selbst der Gattungen, kommt es hier an — am wenigsten wohl auf die des Menschen, wie sehr auch menschliche Wissenslust fich gerade an diesen Punkt hängen mag —, als auf die Verzweigung selbst und den Stammeszusammenhang als solchen. Im letzteren verwurzelt ist das natürliche System der Orga­ nismen. Kategorial aber ist der Stammeszusammenhang nichts anderes als die Kehrseite der Beweglichkeit des Arttypus. Einst in der Zeit der großen Entdeckungen stand der Gedanke der Deszendenz im Mittelpunkt des biologisch-wisienschastlichen Interesses. Die von Darwin geschlagene Bresche eröffnete Aussichten, die auf viele andere Wifienschaften übergriffen. Heute hört man in der Wissenschaft selbst wenig mehr davon. W arum ist es so gekommen? S ind die neuen Probleme, welche der Ausblick auf die Entstehung der Arten herauf­ führte, etwa alle gelöst worden? Davon kann keine Rede sein. E s ging damit wie mit allen neuen Problemgebieten: je weiter man vordrang, um so mehr lernte man erst die Schwierigkeiten sehen, vor die man gestellt war. Dazu kam noch etwas Besonderes. Der große Gedanke wurde früh verunklärt, weil man ihn voreilig anwandte. M an konstruierte auf Grund geringer Sachkenntnis Stammbäume und verweilte nicht ohne Sen­ sationsbedürfnis bei dem des Menschen. I n diesem Punkte hat schon Darwin selbst vorschnelle Schlüsse gezogen. Die Nachfolger überboten ihn noch um vieles. So entstand eine Populärtheorie, die man m it geflissent­ licher Aufklärungstendenz gegen traditionelle Überzeugungen ausspielte. Auch in Deutschland hat es gegen Ende des Jahrhunderts nicht an leicht­ fertigem Gedankenspiel eines verspäteten M aterialism us gefehlt; der

Häckelsche „M onism us" konnte sich eine Zeitlang a ls Modephilosophie aufspielen, Welträtsel lösen, Religionsersatz vortäuschen. Kein Wunder, daß ein solches Getriebe nicht nur die Ablehnung, sondern auch die M iß­ billigung und Verachtung der Ernstgestnnten fand. D as wäre nun ein wohlverdientes Schicksal gewesen, wenn sich die ernste Forschung aus alledem herausgehalten hätte. Indessen auch daran hat es gefehlt. Die Ernüchterung nach den S aturnalien brachte auch eine allgemeine Abkehr vom Deszendenzgedanken, und diese griff auf die biologische Wisienschaft selbst über. Nicht a ls ob irgendein ernsthafter Biologe damals oder heute die Arten wieder für ewig feststehende Formen halten könnte; man weiß sehr wohl um ihre Beweglichkeit, man rechnet auch auf bestimmten Problemgebieten sehr reell mit ihr, aber man geht ihrem Problem nicht mehr um seiner selbst willen nach. Auch das hat natürlich seine berechtigten Gründe, soweit es sich um Konstruktion von Stammeslinien handelt; denn hier ist das M aterial beschränkt, a n das w ir uns halten können. Aber der eigentliche Grund­ gedanke, von allem Beiwerk verfrühter Schlüffe befreit, hätte so schnell nicht aus der lebendigen Problemfront verschwinden dürfen, wie sehr auch neue und ohne Zweifel näherliegende Fragen sich vordrängen mochten. Zum Unglück mischte sich in die verfahrene Sachlage auch noch der prinzipielle Gegensatz mechanistischer und vitalistischer Anschauungs­ weise. Der Selektionsgedanke wurde als mechanistisch abgestempelt und in dieser Verzerrung einer Kritik unterzogen, die an seinem Wesen voll­ kommen vorbeitraf, aber die Zustimmung aller derer gewann, die nicht „vom Affen abstammen" wollten. Und nun schien es, daß alles Heil vom Vitalism us zu erwarten sei. Der aber fiel sofort wieder in seinen alten Erbfehler, die teleologische Deutung reiner Naturvorgänge. Damit w ar die Streitfrage, um die es ging, endgültig auf das Gebiet der Philosophie hinübergespielt. Und nun hielt sich die positive biologische Forschung erst recht von ihr fern. D as Problem der Artenbildung w ar als spekulativ gestempelt und galt nahezu für verfehmt. Aber eben in dieser übertriebenen Reaktion der Wissenschaft auf den Fehlschlag vor­ eiliger Theorien steckt ein Fehler: der S inn für das Fundamentale und den Ernst der Grundfrage ging verloren. Indessen besteht natürlich die Grundfrage unverändert fort, und es hat keinen Sinn, die Augen vor ihr zu verschließen. Die Spezialforschung mag sich eine Weile ohne Schaden darüber täuschen dürfen, die Philosophie des Organischen darf es nicht. Und wenn auch die Kategorienlehre nicht darauf prätendieren kann, eine Philosophie des Organischen zu sein, die Prinzipienfragen des orga­ nischen Lebens kann sie doch nicht umgehen. Sie muß sich daher im P ro ­ blem der Phylogenese, soweit es ein grundsätzliches ist, wohl oder übel in Gegensatz zu den Beschränkungen setzen, die sich die biologische Wissen-

schast gut Zeit hat auferlegen lassen. Sie muss mit diesem Problem wieder dort einsetzen, wo seinerzeit die eigentlichen Entdeckungen gemacht wurden, bevor fie von fragwürdigen Populärtheorien entstellt wurden. b. Der Grundgedanke und die Theorien. Abartung als Aufstieg Z ur Einheit alles Lebens auf der Erde verhalten sich die lebenden Arten wie Individuen — und auch wiederum nicht wie Individuen. Sie entstehen und vergehen wohl in ihm, aber sie reproduzieren sich nicht. Sie bilden auch durchaus kein einfaches Kontinuum. E s gehen wohl gewisse Stammeslinien durch, es setzen sich auch wohl manche Hauptäste und Zweige mit großer Stetigkeit durch; aber in der allgemeinen Aufspaltung brechen doch viele Abzweigungen, ja ganze Hauptäste, irgendwo ab. Und gerade das sind vorzugsweise die hochentwickelten innerhalb ihrer S tam ­ meslinie. So starb einst das formenreiche Geschlecht der Saurier aus, und was von ihm übrigblieb, sind relativ unscheinbare Arten. D as Kontinuum des Lebens aber setzt sich gerade von den weniger hochorganifierten und weniger komplex angepaßten Gattungen aus fort. Es scheint, daß eben diese die umbildungs- und anpassungsfähigeren find. Im Bilde gesprochen: das Leben greift an solchen Wendepunkten auf seine primitiveren Formen zurück und versucht das Abenteuer der Höherbildung noch einmal von ihnen aus. Eines ist vor allem festzuhalten: Abartung ist nicht dasselbe wie Variation. Die Variation — wenn es sich in ihr überhaupt um erbliche Abweichungen handelt, und nur solche kommen hier in Frage — gleiiU sich gemeinhin aus, ist nur qualitative „Streuung" des Arttypus. S ie ver­ ändert von sich aus die A rt noch nicht. Auf ihr beruht darum ebensosehr die Erhaltung wie die Abartung der Art. Erst die Ausrichtung der A rt­ regulation entscheidet darüber, wohin fie ausschlägt. Bloße V ariabilität ist nur Labilität der Artform. Die Abartung dagegen ist Veränderung des Arttypus. Daß es solche Veränderung in kleineren Ausmaßen gibt, wußte man praktisch schon lange, wenigstens im Bereich der domestizierten Pflanzen und Tiere. Merkwürdigerweise hat dieses Wissen die alte Ansicht von der Absolut­ heit der Artform nicht erschüttert. Offenbar w ar hier das Dogma stärker a ls der Augenschein. Darum w ar es im Beginn des 19. Jahrhunderts ein neuer Gedanke, der in Lamarcks Philosophie zoologique (1809) seine erste theoretische Durchführung fand: daß es dieselbe Veränderung des Arttypus auch im Großen, und zwar in der freien N atur gibt, daß die Arttypen selbst ihre zeitliche Entstehung haben, und daß die ganze Mannigfalttgkeit des Lebens auf der Erde sehr wohl von einem einzigen Ab­ stammungszusammenhang umfaßt sein könnte.

D as Aufkommen dieses Gedanken zählt zu den größten Umwälzungen, die das menschliche Denken erfahren hat. E r ist an Tragweite durchaus vergleichbar der Kopernikanischen Revolution im kosmischen Erkennen. E r fußt auch wie dieser auf einem breiten Fundament von Tatsachen, ist aber darin anders gestellt a ls sie, daß er nicht so leicht auf die Einzelheiten der großen Phänomenmannigfaltigkeit anwendbar ist. Die kosmischen Verhältnisse ließen sich auf Grund des einmal erfaßten Prinzips wunder­ bar durchdiskutieren und neu darstellen; die Deszendenz der Pflanzen und Tiere dagegen erwies sich unter dem neuen Prinzip als ein einziges großes Bündel von Rätseln, in dem jeder Fortschritt der Forschung neue Rätsel brachte. E s ist daher richtig, den Gedanken der Deszendenz von den Theorien zu unterscheiden, mit denen man seine Geheimnisse zu durchdringen suchte. Diese Theorien haben manches erleuchtet, vieles aber im Dunklen gelassen. Der Grundgedanke selbst indessen hat, einmal erfaßt und in seiner Trag­ weite begriffen, sich nicht mehr erschüttern lassen. Dam it hängt ein Zweites zusammen. E s gibt eine Weife der Abartung, die in äußerer Veränderung eines fortbestehenden Typus aufgeht. D as gibt es bei beschränkter Anpassung hochdifferenzietter Arten an eine neue Umgebung, z. B . in der veränderten Färbung „polarer" Varianten. Solche Veränderung durchbricht den Grundtypus einer A rt noch nicht. Auf ihr kann die Entstehung neuer Arten nicht beruhen. Worauf es in der Deszendenz ankommt, ist eine tiefer greifende Form der Umbildung. Sie besteht im Erwerb neuer organischer Züge, nicht rat bloßen Wechsel anhaftender Eigenschaften. Eharatteristisch dafür ist der Zuwachs an Differenziertheit, Formung, Funktton, Fähigkeit, ja überhaupt an Organi­ sation. Das bedeutet: es handelt sich hier nicht mehr unt Umbildung allein, sondern um Höherbildung, Neuformung, kurz trat den Prozeß aufsteigender Neuschöpfung, in welchem das Alte, einmal Erreichte weit mehr bei­ behalten a ls abgestoßen wird. Denn das ist der Unterschied zwischen bloßer Umbildung und Höherbildung, ob das einmal Geschaffene wieder ver­ nichtet oder in die neue Form aufgenommen wird. Bereicherung der Organisation ist nur möglich, wo es festgehalten und in die höhere For­ mung hineingenommen wird. Selbstverständlich gibt es in den Umbildungsprozessen auch mancherlei Rückbildung, sowohl solche von einzelnen Organen als auch solche des ganzen somatischen B aus (letzteres z. B. vielfach bei Schmarotzern). Aber es läßt sich zeigen, daß in solchen Fällen die Zweckmäßigkeit der Form in der T at bei der niederen Organisation liegt, also auf Grund der be­ sonderen Lebensbedingungen „abw ärts" weist. W oraus man also jeden­ falls keine Regel machen kann. Aber auch wenn dem nicht so sein sollte,

beweisen solche Fälle doch nichts gegen die allgemeine Tendenz der Höher­ bildung. Tatsächlich zeigt ja auch die ganze heute lebende Tier- und Pflanzenwelt ein buntes Nebeneinander von Arten der verschiedensten Organisationshöhe, von den primitivsten bis zu den höchsten und diffe­ renziertesten Bildungen. Da aber die Entfaltung dieser Mannigfaltigkeit mit den ersteren begonnen hat und erst spät zu den letzteren gelangt ist, so bilden die aufsteigenden Umbildungprozesse eben doch die für das Gesamt­ bild maßgebenden. Denn an ihnen hängt'die Deszendenz. c. Deszendenz a ls ursprüngliche M orphogenese

S o erst gewinnt die Perspektive der Deszendenz ihre eigentlich maß­ gebende Bedeutung. Denn das Erstaunliche an ihr ist gerade der Eharakter des „Aufstieges" im Gange des Stammeszusammenhanges. „Deszendenz" in dem Sinne, den der Begriff nun einmal angenommen hat, bedeutet nämlich nicht das, was das W ort besagt, den „Abstieg", sondern das Gegenteil. M an könnte sie mit besserem Recht „Aszendenz" nennen. Denn sie beginnt nun einmal mit den niedersten Organismen und steigt bis zu den höchsten auf. D araus folgt weiter: die Deszendenz ist ein im strengen Sinne „morphogenetischer Prozeß". Sie ist eben der Artbildungsprozeß, die Phylogenese. S ie verhält sich zum Leben der A rt wie die Ontogenese zum Leben des Individuums. S ie ist Morphogenese großen S tils. Änd doch ist sie etwas ganz anderes als die morphogenetischen Prozesse kleineren S tils, als Assimilation und Jndividualreproduktion. Denn diese find bloß Nachformung, Wiederbildung, Eleichbildung nach der schon vor­ handenen Form. I n ihnen also ist dre Form selbst, welche reproduziert wird, schon formtätig — in der Assimilation direkt als „Angleichung", in der Reproduktion der Individuen vermittelt durch das determinierende Anlagesystem. Die Deszendenz dagegen ist Formbildung im ursprünglichen Sinne, erstmalige Morphogenese, formschöpferischer Prozeß ohne vorge­ gebene Form, ohne Anlagesystem, folglich auch ohne allen Entwickelungs­ charakter. Denn von Entwickelung kann man sinnvollerweise nur dort sprechen, wo Anlagen bestimmend find. 2m phylogenetischen Prozeß gibt es keine Anlagen und keine Entwickelung. Es müßte ja sonst in den primi­ tivsten Protisten die Mannigfaltigkeit der höchsten Lebensform ange­ legt sein. Dieser Unterschied ist ein grundlegender. Alle anderen Form iildungsprozesse sind bloß reproduktiv. Die Phylogenese allein ist reine Produk­ tion, produktive Morphogenese; nicht formgeleiteter Formungsprozeß, sondern der zur Form sich erstmalig hinfindende Prozeß.

Insofern handelt es sich hier um ein viel mächtigeres Prinzip als bei der Ontogenese, freilich auch um ein noch viel rätselhafteres. Darum haben sich auch die Theorien der Deszendenz so lebhaft darum gestritten, wie es wohl beschaffen sein mag. Denn die Erfahrung gibt uns hier nur Finger­ zeige, keine direkte Handhabe zu seiner Aufzeigung. Aber dieses Prinzip, wie es auch beschaffen sein mag, ist doch seiner funktionalen Stellung nach sehr wohl verständlich: es ist genau das, w as im Stammesleben der A rten die Stelle der fehlenden Reproduktion vertritt. D as Artleben reproduziert sich eben nicht, nur die Individuen reproduzieren sich. D as Leben im Großen also wäre dort, wo Arten zugrunde gehen, dem Untergange ver­ fallen, wenn es nicht die Artumbildung gäbe, bzw. das Heraufkommen neuer Arten aus niederen Stufen der Formung. Die Artumbildung ist der Modus der Lebenserhaltung im Leben der Arten. S ie vertritt hier in der T at die Funktion der Wiederbildung. Folg­ lich ist das Versagen der Umbildungsfähigkeit, die Verfestigung der Form , stets bereits die Gefahr des Unterganges; es brauchen dann nur die äußeren Lebensverhältnisse sich zu ändern, so ist der Artentod unvermeid­ lich. Aber die Höherbildung als vorwiegende Richtung der Veränderung brauchte darin noch nicht zu liegen. Sie kommt erst durch das Festhalten wefenüicher Elemente der erreichten Formung in der Umbildung zu­ stande. Dahinter aber wird gerade noch ein Zweckmäßigkeitszusammenhang sichtbar, den man dahin deuten kann, daß die aktive Anpassung im großen Ganzen der Stammesgeschichte — soweit wir nämlich dieses große Ganze übersehen — vorwiegend nur „aufwärts", in der positiven Neu­ bildung von Form gelingt, und höchstens ausnahmsweise einmal auch „abw ärts", in der Rückbildung vorhandener Form. Gemeinhin führt die Abartung, wo sie nicht zur Höherbildung führt, zur Ausartung und Entartung. Bei den Ausnahmen hiervon, etwa den Parasiten, weist die Zweckmäßigkeit selbst eindeutig „abwärts". Daß aber innerhalb einer Klaffe oder Ordnung von Lebewesen zuerst die höheren Arten vorherrschen und dann erst die niederen, wie wir das noch bei den Celachiern, Eanoiden, Sauriern u .a . verfolgen können, bedeutet etwas ganz anderes. Die später aufkommenden geringeren Arten find nicht Ab­ kömmlinge der früheren höheren, sondern parallele Abzweigungen, die nur später zur Ausbreitung gekommen sind, nämlich wenn jene unter veränderten Bedingungen ausgestorben find. Solche scheinbare Um­ kehrung der Reihenfolge tritt eben nur dort auf, wo eine ganze Gruppe von Gattungen und Arten dem Untergange ausgesetzt ist. I n ihrem Aufkommen, das wir nicht vekonstruieren können, werden die niederen Formen ohne Zweifel auch, wie überall, die früheren ge­ wesen sein.

d. Das veränderte Gesamtbild und seine Argumente M it dem Prinzip der Abartung hat sich der Biologie eine gänzlich neue Perspektive eröffnet. Sind die Arten konstant, so liegt es in ihrem Wesen, daß sie von Anfang an gewesen sein müsien, wie wir sie heute kennen. Dann kann ihre Entstehung nur ein Wunder sein, ein Schöpfungs­ akt; und dann erfordert die ganze lebende N atur das Prinzip einer zweck­ tätigen Vernunft. Denn auch die Aristotelischen Formsubstanzen genügen dann nicht; man müßte sie denn schon grob anthropomorph als vernünftigzwecktätige Wesen deuten. Der alte populärmetaphysische Eottesbeweis aus der Zweckmäßigkeit des Organischen, das sog. „physikotheologische Argument", ist dann eine kaum zu vermeidende Konsequenz. Sind die Arten variabel, so rückt eine natürliche Entstehungsweise in den Bereich der Realmöglichkeit, ja der hohen Wahrscheinlichkeit. Der T ypus kann durch fortgesetzte Umbildung aus viel einfacheren Formen des Lebendigen entstanden sein. Der Ursprung des Lebens überhaupt bleibt freilich nach wie vor im Dunklen. Aber das ändert nichts an dem Bilde aller weiteren Entstehung der Artenmannigfaltigkeit. Überhaupt ist ja diese llrsprungsfrage nur eine von vielen Irrationalitäten, die im Hinter­ gründe unserer Naturerkenntnis stehen bleiben, und muß als solche hin­ genommen werden. E s ist auch zuviel verlangt, daß eine einzige grund­ sätzliche Entdeckung gleich alle angrenzenden Probleme mitlöse. E s wurde schon oben berührt, wie das jahrhundertelange Berborgendleiben dieser großartigen Möglichkeit nicht nur an den alten Vorurteilen lag, auch nicht bloß an der scheinbaren Konstanz der Arten, sondern vor allein auch an der Verborgenheit der einschlägigen Grundphänomene. Die äußere Formenmannigfaltigkeit der Pflanzen und Tiere verrät eben die innere Strukturverwandtschaft nur spärlich. D as Wichtigste verschweigt sie ganz. Erst das Aufkommen der vergleichenden Anatomie, und zwar zunächst derjenigen der höheren Tiere, hat hier Bahn gebrochen. Sie zeigte an­ schaulich die strenge Wesensgleichheit des inneren B aues von äußerlich sehr verschiedenen Lebewesen — zuerst am Skelett, sodann fortschreitend an der M uskulatur, an Lagerung und Funktion der inneren Organe, am Gefäß- und Nervensystem. Diese Wesensgleichheit mußte unbegreiflich erscheinen, wenn sie nicht auf einen gemeinsamen Ursprung der ver­ glichenen Arten zurückwies. Bon hier aus kam man auf die „natürliche Klassifikation", und erst von dieser aus weiter auf den gemeinsamen Stam m baum der Lebewesen. Die eigentliche Entdeckung dabei bestand eben in der Einsicht, daß die natürliche Einteilung die nach der Abstammungs­ gemeinschaft ist. Den ersten Entdeckern mußte die Deszendenz noch als gewagte Hypo­ these gelten. Die mächtige Tradition der „festen Formen" ist erst allmählich

gewichen. And als das neue Prinzip erwiesen und längst nicht mehr anfechtbar war, da schadeten ihm seine Vertreter durch ihre spekulativen Konstruktionen spezieller Stammbäume. Die Angst vor dem Gedanken des Altdarwinismus, wir Menschen seien Abkömmlinge einstiger Eroßafsen, regt sich bis heute in manchen Kreisen,' fie war und ist vergeblich, diese Konstruktion hat sich als irrig erwiesen, andere, vorsichtigere, haben fie abgelöst, entschieden aber ist die Frage nicht. D as Problem der Mensch­ werdung hat sich als erheblich komplizierter erwiesen. Aber das Prinzip selbst ist von alledem nicht berührt worden. Seine Geltung hängt eben gar nicht an einer bestimmten Rekonstruktion der Stammeslinie. E s besteht auch bei völligem llnwissen über den besonderen Werdegang vollkommen zu Recht. Die Deszendenz als solche ist heute längst keine Hypothese mehr, sie darf als bestbelegte Tatsache gelten. Darüber hat ja auch in Wahrheit der S treit aufgehört. Die hypothetischen Einschläge haften ausschließlich an den Spezialfragen der Phylogenese. Gewisse Paradoxien, die dem Fernerstehenden auch heute noch Bedenken machen, gleichen denen, die der Kopernikanischen Anficht des Sonnensystems anhaften: die Sonne geht nach wie vor auf und unter, obschon w ir wissen, daß vielmehr die Erde sich dreht; so scheinen auch die Arten der Pflanzen und Tiere uns nach wie vor konstant, obschon w ir wiffen, daß fie im Flusse sind. Aber eine llberfülle rätselhafter Erscheinungen an ihnen ist auf Grund ihres Stammes­ zusammenhanges verständlich geworden. Auch das ist ein nicht geringes Argument. Ausschlaggebend wurden hierbei die paläontologischen Funde. I n den Sedimenten früherer Erdperioden fanden sich die Knochengerüste zahl­ reicher, heute nicht mehr lebender Tierformen; unter ihnen waren auch manche unverkennbare übergangsformen zwischen sehr verschieden ge­ arteten Klaffen — Überreste von Arten, welche den Vorfahren ganzer Gruppen heutiger Arten nahegestanden haben. Bahnbrechend für den Einblick in einen solchen Zusammenhang würde z. B. die Entdeckung des sog. „Archäopteryx", einer Zwischenform von Eidechse und Vogel. Nicht als ob sich damit so einfach „Lücken" in einer sonst schon bekannten Stammesfolge hätten schließen können. Dazu reichten und reichen noch heute unsere Kenntnisse nicht entfernt aus. Die Stammeslinien, die wir kennen, oder vielmehr hypothetisch annehmen, bestehen vielmehr in der Hauptsache aus Lücken, und die zufällig aus Fossilien bekanntgewordenen Glieder stehen relativ vereinzelt da. Aber selbst diese sporadischen Anhalts­ punkte sind schon durchaus beweisend für das Bestehen einer Stammes­ folge, nachdem diese durch die Tatsachen der vergleichenden Anatomie ein­ mal gefordert ist. Da genügen eben schon spärliche Tatsachengruppen zur Bestätigung. W as hier hypothetisch bleibt, ist immer nur die besondere Linie oder Kurve, welche die Umbildung genommen hat.

e. Das „biogenetische Grundgesetz"

Einen weiteren, vorerst nur indirekten Fingerzeig gab die Entwicke­ lung des Individuum s bei den Metazoen, die „Ontogenese". E s zeigte sich, daß die frühen Entwickelungsstadien von Embryonen höherer Tiere un­ verkennbar den Erundtypus niederer Tierformen aufweisen: den der Zelle, der Blastula, der Eastrula, des Wurmes, der Eidechse und even­ tuell noch einige mehr. Besonders auffallend wurde das Phänomen, wenn man neben die einzelnen Embryonalstadien nicht die ausgewachsenen Formen niederer Tiere, sondern gewisse Zugendstadien stellte. Ernst HLSel faßte diese Beobachtungen in summarischer Verallgemeine­ rung zu seinem „biogenetischen Grundgesetz" zusammen: die Ontogenese ist die abgekürzte Wiederholung der Phylogenese. D as will besagen: jedes Individuum einer A rt durchläuft in seinem Werdegange die Hauptstadien des Werdeganges der Art. Hält man sich bei solchen Formulierungen ausschließlich an das zu weit Verallgemeinerte und offenfichtlich llnerwiesene, so kann man ihrem biologischen S inn natürlich nicht gerecht werden. Die erste Entdeckung solcher Zusammenhänge verfällt immer leicht in Übertreibung. Die Nach­ folger haben es dann leicht, zu kritisieren. Wichtig aber ist nicht die Kritik, sondern das Herausheben des Wahrheitskernes. Und den sieht man am besten im Hinschauen auf die ganze eröffnete Perspektive. Der S inn der Sache läßt sich vielleicht so aussprechen: die Morpho­ genese des Individuum s folgt in gewissen Grundzügen der ursprünglichen und einmaligen Morphogenese der Art. Die N atur schlägt gleichsam ein­ mal einen bestimmten Weg der Formbildung ein und hält ihn dann in allen sekundären Wiederbildungen der gleichen Form fest. Selbstverständ­ lich können hierbei nicht Einzelheiten festgehalten werden, und deswegen auch nicht die ganzen phänotypischen Formen der Vorfahren, sondern nur gewisse Erundzüge von ihnen. Darum kommt die Übereinstimmung weit besser in der Vergleichung mit bestimmten Jugendstadien der niederen Arten zum Vorschein, überhaupt aber handelt es sich nicht um ein all­ seitiges Festhalten durchlaufener Formtypen, sondern nur um die Wieder­ kehr solcher Formen, deren Festhaltung in der Ontogenese sich für diese als zweckmäßig erweist. Und es ist leicht, einzusehen, daß das nicht auf alle Formstadien und Formteile zutreffen kann. Die Ontogenese hochdifferenzierter Arten würde ja sonst mit einer Unmenge überflüssiger und offenbar unzweckmäßiger Umwege belastet sein. Der einmal gebahnte Weg der Formwerdung wird insoweit festge­ halten, als er sich in der Erhaltung des Stammeslebens durch die Re­ produktion der Individuen bewährt. Darum ist die „Wiederholung" der

Phylogenese in der Ontogenese eine bloß partielle, eine nicht nur abge­ kürzte, sondern auch gleichsam verwischte. I n den späteren Stadien der Embryonalentwickelung ist von ihr nicht mehr viel zu spüren, wahrschein­ lich, weil die höheren Zwischenglieder des Stammesweges dafür viel zu spezialifiert sind. Denn natürlich stellen sie Anpassungen an sehr besondere Lebensverhältnisse dar, die ontogenetisch zu reproduzieren ganz unzweck­ mäßig und recht eigentlich „abwegig" wäre. N ur in solchen Grenzen also darf der Satz gelten, daß die Reproduk­ tion der Form in mdividuo ein Nachbild der ursprünglichen Formproduktion in genere ist. Versteht man das biogenetische Grundgesetz in solcher Einschränkung, so wird es nicht nur selbst durchaus haltbar, sondern gibt auch die Erklärung her für jene Unähnlichkeit der früheren Entwickelungs­ stadien des Embryo mit der fertig entfalteten Form, deren Entdeckung einst die Präformationshypothese zu Fall brachte. Der scheinbare Umweg über diese durchaus heterogenen Durchgangsstadien ist eben ein Rest von Nachzeichnung des einmal phylogenetisch gebahnten Weges. Der „gerade" Weg der Entwickelung, wie man ihn theoretisch wohl konstruieren möchte, wäre wahrscheinlich nicht der Wrzeste, sondern überhaupt kein gebahnter Weg. Nicht unwichtig ist es, sich hierbei klarzumachen, daß dieses Grund­ gesetz, wenn man es in die übrigen hier geltenden kategorialen Zusammen­ hänge folgerichtig einbaut» geradezu etwas a priori Einleuchtendes ge­ winnt. Da nämlich das Anlagesystem im Keimplasma sich im Wechsel der Individuen ununterbrochen fortsetzt und so den Weg der Phylo­ genese mit durchlaufen hat, bei seiner Konttnuität aber notwendig fest­ halten muh, was es einmal ausgebildet hat, so muh auch das Individuum in seiner Ontogenese die einmal ausgebildeten Grundzüge der durch­ laufenen Formen festhalten, soweit sie nicht durch eine belastend gewor­ dene Unzweckmäßigkeit der Rückbildung verfallen. Denn eben die Onto­ genese ist der Prozeß, der vom Keimplasma her sukzessiv determiniert wird. Sie kann hierbei wohl weite Umwege überspringen, abgekürzte Wege einschlagen, aber nicht vollkommen neue Wege bahnen. Sie muß gewisse Hauptetappen der ursprünglichen Morphogenese einhalten und in jedem Werdegang von Individuen immer wieder durchlaufen.

k. Das Ineinandergreifen von Produktion und Reproduktion

Die Entstehung der Arten ist nicht etwas Sekundäres, das erst hinzu­ käme — so wie sie im langsam eindringenden Denken des Menschen erst nachträglich auftaucht —, sondern dem Sein nach der ursprüngliche Werde­ gang, in den die Wiederbildungen mit ihrer unübersehbaren Reihe von

vornherein eingefügt sind. Beide, die einmalige Produktion und die stän­ dige Reproduktion, greifen ineinander wie die Räder eines Getriebes. Erhalten kann sich ein Stammesleben nur durch Reproduktion, nur als sich erhaltendes aber ist es umbildungsfähig, denn das Individuum ist viel zu kurzlebig' und wiederum reproduzierbar ist nur, was erst einmal produziert ist. Die beiden Stufen der sich überhöhenden Formbildungs­ prozesse sind also, kategorial verstanden, gegenseitig Bedingung und zugleich Bedingtes voneinander. Sie können offenbar nur miteinander und' fest ineinandergefügt bestehen. Hierbei mutz sich notwendig die ontogenetische Wiederbildung im Matze des phylogenetischen Formbildungsprozeffes fortgesetzt verlängern. Sie ist zwar in der jeweiligen Erhaltung eines einzelnen phylogenetischen Stadiums die tragende Voraussetzung, aber eben diese Voraussetzung bildet selbst schon eine Bedingungskette, die mit fortschreitender Phylo­ genese wächst. Die späteren Stadien der Ontogenese sind phylogenetisch jung, die früheren entsprechend alt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum diese in aller Höherbildung zäh festgehalten werden, während jene leicht übersprungen werden. Eine Regel freilich darf man auch hieraus nicht machen. E s gibt viele Arten, zumal bei den Insekten, in deren Entwickelungsgang ein phylo­ genetisch relativ spätes Stadium als freilebende Vorform (Larve) aus­ gebildet ist, um sich erst nachträglich umzubilden (Metamorphose). I n solchen Fällen lebt die A rt buchstäblich in zwei Artformen, die einander sukzessiv in jedem Individuum folgen, ohne doch jemals ineinander überzuflietzen. Überschaut man diese Verhältnisse im ganzen, so wird aus ihnen klar, warum mit der Höhe der lebenden A rt die Länge und Kompliziertheit der Ontogenese zunimmt, obwohl sich in ihr nicht entfernt alles wiederholt, was die Phylogenese an Formen durchlaufen hat. Das mutz man im Auge haben, wenn man das biogenetische Grundgesetz als Argument für das Deszendenzproblem richtig bewerten will. Es ist offenbar nicht so, datz w ir aus dem Entwickelungsgänge des Embryo eines hochorganisierten Säuge­ tiers die Entstehungsgeschichte seiner A rt ablesen könnten. Der Entwicke­ lungsgang gibt durchaus nur gewisie Fingerzeige, und auch das vor­ wiegend nur in den frühen Stadien. Aber darüber ist nicht zu vergessen, datz eben diese Fingerzeige doch von hohem W ert sind als Bestätigung des Deszendenzprinzips überhaupt. Und datz sie vorwiegend die Frühstadien betreffen, steigert diesen W ert noch beträchtlich, weil für die entsprechenden Frühformen des phylo­ genetischen Werdeganges uns keine Fosfilienbelege zur Verfügung stehen. Eine Bestätigung würde auch dann noch darin liegen, wenn w ir keine H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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phänotypischen Belege der Phylogenese hätten. Hat man den Zusammen­ hang von Produktion und Reproduktion einmal grundsätzlich erfaßt, so ist ein Wurmstadium in der Embryogenese der Säugetiere ein starker Hin­ weis auf ferne Vorfahren, die als Wurm gelebt haben. Trifft aber dieser Hinweis mit einer übersehbaren Serie von Formen zusammen, die w ir zwar nicht als Continuum, wohl aber mit gewissen Lücken streckenweise an lebenden Arten verfolgen können, so leidet das Abstammungsprinzip keinen Zweifel mehr.

57. Kapitel. Die Zweckmäßigkeit a. Der Phänomenbereich und das Problem

M it den Kategorien der Abartung und der Deszendenz (von der letz­ teren wird noch weiter zu handeln sein) ist nur ein Werdegang als solcher entworfen. W orauf er beruht, warum er überhaupt stattfindet, warum vollends er „aufwärts" führt, d. h. warum die Resultate im großen ganzen zu immer höherer Angepaßtheit, Form, Organisation führen, ist damit noch in keiner Weise gesagt. Hier liegt das weitere Problem, mit dem es die Kategorienlehre aufnehmen muß. I n Kürze ist es dieses: die ausgebildeten Artformen find in hoher Zweckmäßigkeit an bestimmte gegebene Lebensverhältnisse angepaßt; viele find auch weitgehend aneinander angepaßt in ihrem Zusammenleben. Und vollends in dem komplizierten Eefüge von Formen und Funktionen, welches der einzelne Organismus ist, finden w ir alles mit höchster Zweck­ mäßigkeit aufeinander abgestimmt, angelegt, ausreguliert. Alles In e in ­ andergreifen der Prozefie, alles Gleichgewicht zwischen ihnen und alle selbsttätige Aufrechterhaltung dieser Gleichgewichte zeigt dieselbe durch­ gehende Zweckmäßigkeit. M it Recht hat diese von jeher das Staunen und die andächtige Bewunderung des Menschen wachgerufen; und je tiefer und objektiver das wissenschaftliche Eindringen wurde, um so höher mußte das Staunen steigen. W er vor diesem überwältigenden, alles Beschreiben übersteigenden Phänomen die Augen schließen wollte — etwa um das eigene Denken nicht in spekulative Versuchung zu führen —, der würde an das Erundproblem des organischen Gefüges und seiner Lebendigkeit gar nicht herankommen. Denn die hier in Frage stehende Zweckmäßigkeit ist weit entfernt, etwas dem Leben Äußerliches oder bloß Anhaftendes zu sein. Sie ist, wenn schon nicht identisch mit ihm, so doch ein von Grund aus konstituierender Wesenszug des Lebendigen; und ihre Differenzierung ist unmittelbar seine Differenzierung. 2n der besonderen Form der inneren gegenseitigen

Zweckmäßigkeit der Teile und Teilvorgänge besteht eben gerade wesentlich der Arttypus eines Organismus; die sichtbare äußere Form des Körpers ist demgegenüber in der Tat sekundär. Denn hier liegt der Grund ihrer Lebensfähigkeit. Aber die große Frage bleibt in alledem: was ist der Grund dieser Zweckmäßigkeit? Wie ist sie überhaupt möglich in einem Getriebe von Funktionen, das doch nicht wie ein menschlicher Verstand Zwecke setzt und bewußt verfolgt? Und wie konnte sie entstehen in einem Werdegange, der doch keine vorsehend-werkmeisterliche Instanz in sich schließt? I n den Zeiten spekulativer und glaubensgebundener Metaphysik hatte man darauf schnell die Antwort bereit, ein zwecksetzendes und unausgesetzt M ittel zur Realisation der gesetzten Zwecke suchendes vernünftiges Wesen habe seine Hände im Spiele. Dafür eben bot sich bequem der alte Eottesbegriff an. Wie aber, wenn der Boden solcher Auskunft eingebrochen ist, wenn eine mündig gewordene Wissenschaft es ablehnen muß, solche entliehenen Erklärungsprinzipien in ihren Bestand, d. h. unter ihre Hypothesen auf­ zunehmen? Wie ist denn das Auftreten des durch und durch zweckmäßig Gefügten zu verstehen? Gibt es eine Entstehung des Zweckmäßigen ohne Wecktätige Hinleitung? Gibt es seine Entstehung aus dem Zwecklosen? Und wie soll der Mensch sich eine solche denken?

b. Die Tatsachen und der Apriorismus der Zweckmäßigkeit

E s ist kein Zufall, daß wir der Zweckmäßigkeit im Bereich des In d i­ viduums wie des Stammeslebens auf Schritt und T ritt begegnet sind. M an kann eben spezifisch organologische Probleme gar nicht anfassen, ohne auf sie zu stoßen. Und das steigert sich, je stärker der organische Cha­ rakter von Formen und Prozessen in die Augen springt. Am plastischsten ausgeprägt war das bei den Regulationsphänomenen sowie bei dem erstaunlichen Verhältnis zwischen Anlagesystem und entwickelter Form. Im Begriff des morphogenetischen Prozesses steckt eben schon von vorn­ herein dieselbe Zweckmäßigkeit; sie liegt einfach im Ausgerichtetsein des ganzen Vorganges auf die erst im Entstehen begriffene Form. Und ist der Formbildungsprozeß ein weit auslangender mit vielen Zwischen­ stadien, wie das in der Ontogenese der Vielzelligen der F all ist, so find trotz weitgehender Heterogeneität doch alle früheren Formstadien für die späteren zweckmäßig. Aber auch ohne Rücksicht auf den Entstehungsprozeß ist im Orga­ nismus nicht nur jede Teilform und jede Teilfunktion für die anderen zweckmäßig, sondern auch alle für das Ganze. Und ebenso ist das Ganze

als ihre Einheit und Eesamtfunktion wiederum für ste zweckmäßig. Hier beruht aller Lebensablauf und alle Erhaltung darauf, daß die Teilfunk­ tionen einander in die Hand arbeiten. Alles ist gegenseitig füreinander „zweckmäßig". Ausnahmen davon finden sich wohl nur bei Rückbildungen, d. h. an den Rudimenten von Organen, die in früheren Perioden des Stammeslebens zweckmäßig waren, dann aber unter veränderten Bedin­ gungen überflüssig oder gar störend wurden. Die Rückbildung pflegt in solchen Fällen nur so weit zu gehen, bis der störende Einfluß aufhört; was selbst wiederum als zweckmäßig verständlich ist, denn der Überrest des O rgans wird dann lebensindifferent. Darum bleiben manche an sich unzweckmäßig gewordene Rudimente bestehen. Soweit ist die Zweckmäßigkeit einfach Tatsache (Phänomen) und durchaus nicht etwas, was man bestreiten könnte. Als bloße Tatsache aber hat sie noch nicht strenge Allgemeinheit. Daher ist es von Wichtig­ keit, sich zu überzeugen, daß hier noch eine zweite Überlegung einsetzt, und zwar eine prinzipielle und apriorische, welche die Zweckmäßigkeit zu einem allgemeinen Gesetz des Lebendigen erhebt. Die Zweckmäßigkeit liegt nämlich auch im „Wesen" des Lebendigen. Sie ist deswegen an ihm auch allgemein und unabhängig von empirischen Einzelheiten erfaßbar. Die Überlegung ist diese: ein unzweckmäßig funk­ tionierendes Organ würde dem Lebensprozeß des Organismus hinderlich sein, es kann ihn sogar ganz aufheben. Ein Individuum oder gar eine Art, die mit etwas Unzweckmäßigem behaftet ist, gerät bei der Konkurrenz mit anderen Individuen oder Arten in Nachteil, ist diesen unterlegen und muß, wo der Kampf ums Dasein hart wird, zugrunde gehen. D as Leben kann sich eben nur erhalten, wo alle Formen und Funktionen zweckmäßig für fein Bestehen sind. Denn das Leben besteht nun einmal wesentlich in der Selbsterhaltung. Diese Überlegung ist so einfach, daß sie sich am Wesen des sich selbst erhaltenden Lebensprozesies beinah als Tautologie darstellt. Aus dieser apriorischen Selbstverständlichkeit heraus — und keines­ wegs erst auf Grund genauer Tatsachenanalyse — ist das Leben von alters her als das an sich selbst Zweckmäßige verstanden worden. Der Name „Organ" für den einzelnen funktionierenden Teil des Leibes besagt das ganz eindeutig. Denn das W ort heißt „Mittel" (Werkzeug). M ittel aber sind auf einen Zweck bezogen. Und als Zweck aller dieser M ittel schwebte dabei von jeher das Leben selbst vor — und zwar sowohl im Individuum als auch in der Art. Der Begriff des M ittels ist ja fast identisch mit dem des Zweckmäßigen. M ittel ist eben alles das, was „für" einen Zweck geeignet oder ihm „gemäß" ist. M an kann hiermit noch einen Schritt weitergehen: in gewissem Sinne läßt sich nämlich das ganze Wesen des organischen Gefüges als

ein Zweckmäßigkeitsgefüge bestimmen. I n jedem Gefüge haben die Formen und die Funktionen Wechselbezogenheit oder Wechselbedingtheit; das gilt auch schon vom dynamischen Gefüge. Im organischen Gefüge aber ist die Wechselbezogenheit eine solche der Zweckmäßigkeit. „Orga­ nisch" heißt ja auch nichts anderes als „zweckmäßig", nämlich „als M ittel für anderes dienend". Ein unzweckmäßiges „Organ" wäre also ein Widerspruch in sich selbst. Um den Umkreis des Zweckmäßigkeitszusammenhanges voll zu machen, bedarf es jetzt nur noch eines Blickes auf die Stufenordnung des Lebens­ prozesses. Denn auch diese wird von ihm umfaßt. Die Zelle, das viel­ zellige Individuum, das Stammesleben find durch gegenseitige Zweck­ mäßigkeit ineinander gebunden. Sie sind nicht nur jedes ein in sich ge­ schlossenes Zweckmäßigkeitssystem; sondern auch ihr Ineinander bildet wiederum ein Zweckmäßigkeitssystem. Das Hauptgewicht dieses Zu­ sammenhanges liegt nun ganz und gar auf der Seite der Funktionen: auf ihr Ineinandergreifen kommt es an, und zwar in erster Linie wiederum auf das der aufbauenden Prozesse. Es kommt also auf das Ineinandergreifen der morphogenetischen Prozesse nach ihrer Stufen­ folge an. Auch das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn es ist ja das Wesen des morphogenetischen Prozesses, daß er Gefüge verschie­ dener Ordnung miteinander verbindet. I n diesem Sinne besagte das Reproduktionsgesetz, daß Wiederbildung des niederen organischen Ge­ füges die Erhaltung des nächsthöheren ausmacht (Kap. 51 g). Hiernach steckt also in der Reproduktion deutlich greifbar eine eminente Zweckmäßigkeit für das Leben der nächsthöheren Ordnung. Die Folge davon ist, daß die in den morphogenetischen Prozessen steckende Zweck­ mäßigkeit eine aufsteigende Richtung nimmt: immer ist der Prozeß niederer Ordnung zweckmäßig für den Prozeß höherer Ordnung. Die Zweckmäßigkeit durchzieht so von unten nach oben die ganze Überlagerung der Lebensprozesse,' und die bestimmenden Momente ihrer Bezogenheil — das, wofür alles übrige zweckmäßig ist — müssen bei der höchsten Stufe liegen. So ist es schon überall im Widerspiel der Prozesse: Assimilation und Dissimilation „tragen" das Leben des Individuums, verhalten sich zu ihm wie „M ittel" seiner Erhaltung; Reproduktion und Sterblichkeit „tragen" das Leben der Art. Bei den Regulationen der organischen Gleichgewichte könnte es um­ gekehrt zu sein scheinen, denn sie gehen vom Gefüge höherer Ordnung aus. Aber sie kommen letzten Endes doch wieder diesem zugute und haben den Beziehungspunkt ihrer Zweckmäßigkeit in der höheren Stufe des Lebensprozesses. Denn so gerade zeigte es sich in der Überhöhung der Regulationen, daß immer dort, wo die niedere versagt, die höhere einsetzt und die verlorene Stabilität des organischen Gleichgewichts im Lebens­ prozeß größeren Ausmaßes wiederherstellt.

I n den Überlegungen der letzteren Art ist überall bereits das apri­ orische Element das ausschlaggebende. Der direkten Beobachtung find diese Stufenverhältnisse zwar grundsätzlich wohl zugänglich, aber doch keineswegs bis in ihre letzten Einzelheiten verfolgbar. Hat man aber das Prinzip erfaßt, so besagt es, daß die Zwecktätigkeit auch dort herrscht, wo w ir sie nicht mehr fasten können, weil das Leben anders nicht fort­ bestehen könnte.

c. Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit. Das kategoriale Problem

Gerade an dieser Allgemeingültigkeit erkennt man den kategorialen Charakter der organischen Zweckmäßigkeit. Damit tritt auch das große Problem in Erscheinung, das in ihr steckt: muß nicht der Zweckmäßig­ keit auch wirkliche Zwecktätigkeit entsprechen? Müsten ihr nicht reale Zwecke zugrunde liegen, welche die organische Funktion bestimmen? Der Schein wenigstens haftet den Funktionen doch an, als verfolgten sie den Zweck, die Form zu schaffen, das Leben zu erhalten, gestörtes Gleich­ gewicht wiederherzustellen usf. Das W ort „Zweckmäßigkeit" selbst, das hier doch nicht ein willkürlich gewähltes ist, sondern ein überall wieder­ kehrendes Realverhältnis ausdrückt, verschleiert diesen Schein gar nicht, sondern scheint ihm auch noch Recht zu geben. Vollends zwingend wird der Schein bei solchen Prozeßen wie der Ontogenese der Vielzelligen. Hier wird ein Formbildungsprozeß über eine ganze Reihe von Etappen hinweg auf ein offenbar vorgezeichnetes Ziel gelenkt. Wie sollte man dieses Ziel nicht als immanenten „Zweck" auffasten? Handelt es sich doch um „Entwickelung" im engen Sinne, wenn auch nicht im buchstäblichen Sinne der „Auswickelung". Im Anlagesystem steckt eben dieses eigenartige Verhältnis zur späteren Form, daß es in allen seinen Einzelheiten „auf sie angelegt" ist. Dasselbe Verhältnis steckt aber auch in allen einzelnen Entwickelungsphasen: in jeder von ihnen kommt es daraus an, was die „prospektive Potenz" eines Teiles ist und welche „prospektive Bedeutung" ihm — zusammen mit der fort­ schreitend sich verändernden „Funktion der Lage" — zukommt (vgl. Kap. 52 c). Wie soll man nun dieses Anlagesystem als ein solches verstehen, wenn nicht als ein weislich gewähltes und selbst schon zwecktätig reali­ siertes „M ittel" zum Zweck der Formbildung? Deutet nicht schon der hier offenkundig herpastende Begriff der prospektiven Potenz auf ein tele­ ologisches V erhältnis? Der Potenzbegriff hat ja von seinen Ursprüngen in der Aristotelischen Metaphysik her eben diesen Sinn, einer Deter­ mination vom Zweck her gleichsam den Boden zu bereiten. 2m Entwicke­ lungsvorgang aber ist die Zweckmäßigkeit so verwirrend komplex und

detailliert, dabei zugleich auch so in die Augen springend, daß man sich der Vorstellung immanenter Zwecke sowie einer von ihnen geleiteten Zwecktätigkeit gar nicht erwehren kann. Die Mißlichkeit einer solchen Konsequenz ist wohlbekannt. Von ihr wird noch mehr zu sagen sein. Einstweilen aber mutz das Hindrängen des Zweckmäßigkeitsphänomens auf ein konstitutives Zweckverhältnis in voller Gewichtigkeit berücksichtigt werden: in ihm liegt der Grund des „kategorialen" Problems der Zweckmäßigkeit. D as Problem selbst ist indesien auch hiermit noch nicht erschöpft. Die stärkste Verführung zum teleologischen Deuten liegt nicht einmal bei den inneren Verhältnißen des Organismus, sondern bei seinem Verhalten nach außen: in seinen Reaktionen und Aktionen, in den tierischen Jn stintten und „Handlungen". Schon bei den Protisten fängt es damit an, durchzieht das ganze Pflanzenreich — z. B. in den mannigfaltigen Tro­ pismen — und erreicht seine größte Sinnfälligkeit im Tun der höheren Tiere. Die Greifbarkeit des Zweckmäßigseins liegt hier überall darin, daß man die „Zwecke" des organischen Verhaltens geradezu selbst zu sehen meint. Denn das dem Individuum Zweckdienliche — bei seiner Nahrungssuche, Flucht, Angst, Verteidigung — ist unmittelbar verständ­ lich. Und der sichere Ansatzpunkt, den der Effekt einer Reaktionsweise darbietet, liefert, als Zweck des Verhaltens verstanden, auch durchaus das zutreffende Bild des Vorganges.

d. Relative, zufällige und organische Zweckmäßigkeit

Sehr verdächtig aber wird diese einfache und allzumenschliche Deutung der Zweckmäßigkeit, wenn man sieht, wie sie sich wahllos auf alles über­ trägt, was nur immer dem Lebewesen zuträglich ist, also auch auf äußere Lebensverhältnisie, die es vorfindet und an die es angepaßt ist. So ist der Kreislauf des Wassers auf der Erde für das pflanzliche Leben, der Sauerstoff der Luft, Licht und Wärme der Sonnenstrahlung für alles Leben zweckmäßig. Niemand wird diese Zweckmäßigkeit be­ streiten, aber auch niemand wird von ihr behaupten, daß in ihr ein „Zweck der N atur" verfolgt würde. I n der alten physikotheologischen Metaphysik sind freilich auch solche Dinge behauptet worden; wie man denn überhaupt damals den Aufbau der W elt teleologisch geschichtet ver­ stand: die materielle Welt als M ittel zum Zweck der organischen, die organische als M ittel des Menschenlebens. Alles zielte auf den Menschen als Krone der Schöpfung ab und w ar recht eigentlich für ihn da. D as ist ein Rudiment kreatianistischer Vorstellungen und bedarf heute keiner Widerlegung mehr.

Die Lehre, die hieraus zu ziehen ist, stellt sich überraschend destruktiv dar. M it bloßer Angepaßtheit und Zweckmäßigkeit ist über die deter­ minative N atur von Realverhältnissen nichts auszumachen. Beide unter­ liegen der Inversion. Zweckmäßig zum Sitzen ist jeder Baumstumpf im Walde, zum Ausstrecken jeder moosbewachsene Fleck. Angepaßt ist die Zusammensetzung des Sonnenspektrums (genauer, des von der Atmo­ sphäre durchgelassenen Ausschnittes) ebensogut dem menschlichen Auge wie das Auge ihm. D araus allein wäre nicht zu sehen, was zuerst und unabhängig da war und was sich aktiv angepaßt hat. Die Tatsache der Angepaßtheit enthält noch keinen Hinweis auf die Richtung der Ab­ hängigkeit. Kategorial aber kommt es gerade auf diese an. E s erweist sich also: Angepaßtheit und Zweckmäßigkeit sind zunächst überhaupt reine Verhältnisbegriffe. I n dieser Allgemeinheit sind sie fast nichtssagend, weil sie vollkommen „relativ" sind und zum Vedingungsverhältnis als solchem nichts Neues hinzufügen. I n diesem Sinne ist z. B. auch im dynamischen Gefüge jede Kraftkomponente und jeder Teil­ prozeß zweckmäßig für das Ganze. Za, so kommt es heraus, daß im ein­ fachen Kausalverhältnis jede Ursache zweckmäßig für ihre W ir­ kung ist. E s ist hiernach leicht einzusehen, daß es in der ganzen Natur, auch in der anorganischen, unübersehbar viel Zweckmäßigkeit ohne eigentlichen Zweck, Angepaßtheit ohne Anpassung, gibt. Aber sie ist vollkommen nichtssagend, eine rein relative Zweckmäßigkeit, und in der Regel auch eine teilt „zufällige" Zweckmäßigkeit, eine solche, die sich einfach im Zu­ sammentreffen der Umstände, au s der contingentia rerum, ergibt. I n methodologischer Hinsicht, d.h. im Hinblick auf mögliche wisienschaftliche Schlußfolgerungen, ist sie absolut unergiebig. Sie sagt dasselbe, w as auch ohne sie sichtbar war, nur noch einmal. Sie ist tautologifch. — Einen inhaltlichen Sinn gewinnt die Zweckmäßigkeit erst dort, wo zum mindesten die Richtung der Abhängigkeit in ihr eine eindeutige und bestimmte ist, also dort, wo auf der einen Seite der Relation auch aktive Anpassungsfähigkeit ist. Und das eben ist in den Lebewesen der Fall. D as Lebewesen ist das sich anpasiende organische Gefüge. Seine Formen und Funktionen sind wesentlich Anpassungsprodukte. Schwieriger wird die Sachlage schon, wo die Zweckmäßigkeit, und mit ihr die aktive Anpassung selbst, eine gegenseitige ist. D as ist fast überall innerhalb des Organismus der F all im Verhältnis der Teile und Teil­ prozesse; aber nicht nur dort, sondern öfters auch zwischen verschiedenen Arten zusammenlebender Lebewesen. Dieses Verhältnis kann sich steigern bis zu den Phänomenen „fremddienlicher Zweckmäßigkeit", wie wir sie in zahlreichen Symbiosefällen kennen. Aber auch in loseren Verhältnisien kehrt sie wieder, wie etwa in dem vieldiskutierten V erhältnis

zwischen Pflanzen mit farbigen oder duftenden Blüten und gewissen Arten von Schmetterlingen, Käfern, Bienen, Fliegen: die Blüte mit ihrem Nektar, ihrer auffallenden Färbung, ihren „Saftmalen" ist eigens zur Anlockung der Insekten eingerichtet; aber auch die Umbildung der Jnsektenkiefer in Säugrüssel, insonderheit bei den Schmetterlingen, ist eigens zum Eindringen in den tiefen Vlütenkelch eingerichtet, in vielen Fällen sogar spezialisiert für bestimmte Arten von Pflanzen. Die An­ passung liegt offenbar auf beiden Seiten, die Zweckmäßigkeit greift über die tiefe Heterogeneität der Arten hinweg: die Pflanze ist mit ihrer Be­ fruchtung auf das Insekt angewiesen, das Insekt mit seinem Nahrungs­ bedarf auf die Pflanze. Solche Zweideutigkeit hebt den eindeutigen S inn der Zweckmäßigkeit keineswegs auf. Hier sind beide Seiten des Verhältnisses anpassungs­ fähige Lebewesen. Darum hat es hier auch Sinn, auf beiden Seiten wenigstens nach dem „Zweck" zu fragen. Dieser liegt denn auch, rein inhaltlich verstanden, klar auf der Hand. N ur ob es wirklich ein vor­ gesetzter Zweck ist, kann fraglich sein.

e. Die Theorien. Teleologische Erklärungsweise

Die rein zufällige oder relative Zweckmäßigkeit kann hier aus dem Spiele bleiben. Sie wurde in die Problemanalyse nur hineingezogen, weil ihre Konsequenzen lehrreich find. Die eigentlich organische Zweckmäßig­ keit, a ls die dem Gebilde wesentliche, enthält allein die kategoriale Grundfrage, um die es hier geht. Um sie allein handelt es sich denn auch im Problem der phylogenetischen Formbildung. Denn diese ist der Weg der Entstehung des wesentlich Zweckmäßigen. D as Rätselraten um die organische Zweckmäßigkeit ist fast so alt wie die Philosophie. D as mythische Denken sah begreiflicherweise überall zwecktätige Vernunft; ihm schienen ja auch die Pflanzen beseelt, alles Lebendige schien nach A rt des Menschen zu „handeln". Die Mehrzahl der Theorien hat diesen Anthropomorphismus übernommen und teils aus­ drücklich, teils stillschweigend zugrunde gelegt. M an stößt hier nun wiederum auf die zwei bis heute noch in vielen Köpfen miteinander ringenden extremen Theorien, die „mechanistische" und die „vitalistische"; wofür man freilich genauer sagen sollte: die kau­ sale und lüe teleologische Deutungsweise. Erstere versucht im Ernst, alle Zweckmäßigkeit aus Ursachen zu verstehen, und zwar nach der Art, wie das bei der relativen Zweckmäßigkeit, die „zufällig" (d. h. bloß kausal) zustande kommt, auch geboten ist; wobei an den Organismen die „Zu­ fälle" doch verräterisch gehäuft erscheinen. Die andere Auffassung hält

daran fest, alle Zweckmäßigkeit durch bestimmte (konstitutive) „Zwecke" zu erklären; wobei es indessen nach wie vor unbegreiflich bleibt, wer diese Zwecke setzt und für sie mit erstaunlichem Raffinement die M ittel ersinnt. Und unverkennbar steht dahinter der Dualismus der beiden heterogenen Zugänge zum Organischen, des inneren vom Bewußtsein aus und des äußeren von der Wahrnehmung aus. Doch deckt sich jener Gegensatz nur noch teilweise mit diesem. Der Klassiker des alten Vitalismus, Aristoteles, prägte die N atur­ teleologie in so feste Formen, daß sie fast zwei Jahrtausende unangefochten blieb. Der Anthropomorphismus freilich ist in dieser Theorie ganz ver­ schleiert. Um so unverhüllter aber steht die Metaphysik der „immanenten Zwecke" da. S ie tritt hier schon mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf, wird auch gar nicht mehr besonders begründet, sondern gilt ihrer­ seits als feste Grundlage für anderweitige Folgerungen. Der Grund dafür liegt in der Lehre vom „Eidos" als der substantiellen Form, oder dyna­ misch ausgedrückt, in der „ersten Entelechie". D as Eidos nämlich ist nach dieser Lehre zwecktätig, es gestaltet und leitet den Werdegang. E s ist im Samenkorn ebenso enthalten wie in der entwickelten Pflanze, nur dort potentiell, hier verwirklicht. Dazu kommt die Ausgestaltung des antiken Seelenbegriffs. „Psyche" ist hier weit entfernt, bloß das Bewußtsein zu bezeichnen. Ih re niederste Stufe ist nach Aristoteles reines Bitalprinpiz, „zeugende und nährende Seele". Nicht die Nahrung nährt, sondern die Seele, nicht der Körper zeugt, sondern die Seele — das ist konsequent, wenn die Seele „erste Entelechie" ist, d. h. als tätiges Formprinzip für alle organischen Form ­ bildungsprozesse aufkommt. Denn im „Nähren" steckt ja die Assimilation des Stoffes, im „Zeugen" die Reproduktion des ganzen Individuums. Dieser Entelechiebegriff ist der Grundbegriff des späteren M talism us ge­ blieben, auch dort, wo er in der Terminologie nicht mehr direkt erkennbar ist. An ihm hängt die breite Entfaltung der konstitutiven Teleologie des Organischen bis in unsere Zeit hinein. M it ihm hängt es zusammen, daß in aller Folgezeit hinter den Phänomenen der Zweckmäßigkeit fast zwangsläufig immer wieder bestimmende „Zwecke" angenommen werden konnten, a ls verstünde sich das von selbst. Die mißliche Konsequenz aber w ar und blieb die alte: es muß dann auch in irgendeiner Form eine Vernunft (oder eine ihr äquivalente I n ­ stanz) angenommen werden, welche die Zwecke setzt und über ihrer Ver­ wirklichung wacht. Damit läuft die Naturteleologie auf einen metaphysisch primitiven Theismus hinaus, der die Vermenschlichung der organischen Erscheinungen gar nicht mehr verbirgt, das eigentliche Problem also auch gar nicht mehr steht. Diese Form der Naturteleologie hielt man im M ittelalter zäh fest, zwar in Einzelheiten vielfach abgewandelt, im

Grunde aber doch in erkennbarer Identität. Da man sie aber auch auf die unbelebte N atur anwandte, erfuhr sie m it dem Aufkommen der neu­ zeitlichen Naturwissenschaft ihre erste radikale Kritik; nicht radikal genug freilich, um auch das biologische Denken mit zu erfassen. M an durchschaute nun zwar die Erklärung durch Zwecke als tautologisch, aber die Säube­ rung der Wissenschaft von ihr erstreckte sich zunächst nur auf die Physik. Freilich drang das kausale Denken allmählich auch in die Auffassung des Organischen ein. Aber das allein konnte hier ja nicht zureichen. E s lieferte, schematisch verallgemeinert, zunächst nur Zerrbilder, arbeitete mit summarischen Vereinfachungen. Beispiele dafür haben wir in Gassendi und Descartes; letzterer sah in den Tieren nichts mehr a ls kom­ plizierte Mechanismen. Diese vorschnelle Übertragung eines Prinzips der niederen Seinsstufe auf die höhere schoß weit übers Ziel. Denn um Kausalität allein handelt es sich ja nicht einmal in den dynamischen Ge­ fügen, geschweige denn in den organischen. Es bedurfte hier eines viel tieferen Ansatzes. Die Zweckmäßigkeit des Organischen steht nicht auf einer Linie mit der relativen oder zu­ fälligen Zweckmäßigkeit. Sie ist etwas Wesenhaftes und aus dem Auf­ bau und Verhalten der Lebewesen nicht wegzudeuten. E s galt also vielmehr zu zeigen, wie das Zweckmäßige auf „natür­ lichem" Wege aus dem Zwecklosen entstehen kann. M an mußte den um­ gekehrten Weg gehen wie die Mechanisten: nicht die Zweckmäßigkeit abweisen — denn sie ist Phänomen und als solches nicht aufhebbar — , sondern es gerade mit ihr aufnehmen. M an mußte sie zuvor in ganzer Tiefe kennenlernen und dann zeigen, was es mit ihr auf sich hat. Nicht Ignorierung des Problems konnte helfen, sondern nur seine rückhaltlose Anerkennung, und zwar ohne sich dadurch zur Annahme konstitutiver Naturzwecke verführen zu lassen. D as ist es, was allererst die Kantische Philosophie geleistet hat, die freilich damit in ihrer Zeit allein blieb und es auch später noch lange geblieben ist.

f. Die Kritik der teleologischen Urteilskraft

Bei Kant finden wir von vornherein das allgemeine Faktum der organischen Zweckmäßigkeit zugrunde gelegt, und zwar in bewußter Unter­ scheidung von aller unwesentlichen, zufälligen oder bloß relativen Zweck­ mäßigkeit. Gefragt ist, was das Faktum zu bedeuten hat: ob Zwecke da­ hinter stehen oder nicht. Oder in methodologischer Fassung: mit welchem Recht legen wir in unserer Beurteilung der organischen Funktionen deren Resultate als „Zwecke" zugrunde, um ihre Leistungen auf diese zu beziehen?

Die Antwort lautet: lediglich mit dem Recht unseres Nichtwissens. I n Wirklichkeit muffen hier überall sehr bestimmte „besondere Gesetze" zu­ grunde liegen. Ihnen folgen die organischen Funktionen, nach ihnen bilden sich die zweckmäßigen Formen. Aber wir kennen sie nicht, können ihnen trotz mancherlei fruchtbarer Einsicht nicht auf den Grund sehen. Die „besonderen Gesetze" des Organischen sind tief verborgen. W ir können auf sie nur „reflektieren", um uns ihnen zu nähern; auf diesem Wege ist manche wiffenschaftliche Einsicht zu gewinnen, aber ganz bis zu den Gesetzen hin gelangen wir nicht. Solche Reflexion ist Sache der Urteils­ kraft, aber nicht der „bestimmenden", die vom Allgemeinen ausgeht und deduktiv zum Besonderen absteigt, sondern einer umgekehrt vom Beson­ deren aus aufwärts das Allgemeine suchenden und gleichsam nach ihm tastenden. Diese zweite Art der Urteilskraft nennt K ant daher die „reflektierende Urteilskraft". Den Ansatzpunkt der Reflexion aber bildet die an den Phänomenen des Organischen gegebene Zweckmäßigkeit. Indem wir, von ihr aus­ gehend, die organische Funktion oder Form so ansehen, „als ob" sie das Leben des Organismus (seine Erhaltung, Weiterbildung usw.) zum Zweck hätte, werden wir durch sie selbst auf die verborgene besondere Gesetzlichkeit, die in ihr steckt, hingelenkt. Konstitutive Prinzipien des Lebendigen sind hiernach nur die schwer zugänglichen und nie ganz erkennbar werdenden „besonderen Gesetze". Die Zweckmäßigkeit dagegen, die unsere Reflexion auf deren S pur hin­ leitet, ist nur ein „regulatives Prinzip" der Forschung. Hinter ihr imma­ nente Zwecke als konstitutive Prinzipien der Natur zu suchen, ist ein Irrw eg, der nicht nur sein Ziel verfehlt, sondern darüber hinaus auch noch den S inn des regulativen Prinzips illusorisch macht. Denn er nimmt eben das vorweg, was mit des letzteren Hilfe gesucht werden sollte. M it dieser einfachen Argumentation ist der alten teleologischen Metaphysik des Organischen der Boden entzogen. Diese eben bezog die vorgefundene Zweckmäßigkeit auf konstitutive Zwecke. Damit verschloß sie sich den Weg der Forschung nach den wirklich bestimmenden „besonderen Gesetzen" des Organismus. Ferner ist im Organismus jedes Organ zugleich organisierend und organisiert, zugleich Grund und Resultat der Formbildung. Teleologisch also läßt sich hier alles „wechselseitig als M ittel und Zweck voneinander auffaffen" (Krit. d. Urt.1 6.292, 296). Da aber jedes Mittel, wenn es einmal wirksam wird, seinen Zweck kausal hervorbringt, so läßt sich das­ selbe Verhältnis auch kausal ausdrücken, und im Realverhältnis der Teile deckt sich die Beziehung von Ursachen und Wirkungen mit der von

M itteln und Zwecken, obschon im einzelnen die eine die Umkehrung der anderen ist; vielmehr, bei einem durchgehenden Wechselverhältnis kann man auch sagen: gerade „weil" die eine die Umkehrung der anderen ist. Der hervorgebrachte Zweck ist Wirkung des M ittels, und das M ittel ist hervorbringende Ursache des Zweckes. Wo also alle Glieder eines Ganzen sich als M ittel und Zweck voneinander „verstehen lassen", da müssen sie vielmehr zugleich Ursache und Wirkung voneinander „sein". Das ist der Grund, warum die Zweckbetrachtung hier ohne weiteres für die Kausal­ erkenntnis und ihre Besonderungen eintreten kann, ohne sie aufzuheben und ohne ihren fruchtbaren Fortgang zu unterbinden; ja, daß sie dem Effekt nach ihr vielmehr auf die Sprünge helfen und bis in die Einzel­ heiten hinein den Weg weisen kann. Genau genommen ist es freilich mehr Erkenntnis der Wechselwirkung a ls der Kausalität, um die es sich hier handelt. Denn gerade in der kantischen Fassung des Eesamtphänomens überwiegt das Verhältnis der Gleichzeitigkeit. E s wurde schon oben gezeigt, warum K ants Fasiung der Wechselwirkung eine einseitige und gleichsam auf ein Nebengleis verschoben gebliebene ist. So ist es wohl verständlich, daß sich ihm auch hier das Kausalverhältnis vordrängt (vgl. Kap. 37 a). Am objektiven W ert seiner Überlegung ändert das aber nichts. Die Voraussetzung bei alledem ist freilich, daß wir die „Zwecke", unter deren Gesichtspunkt wir die Funktton eines Organs verstehen, nicht für wirklich ihm einwohnende (immanente) Realzwecke der N atur halten. Denn damit würden wir aus einem methodisch fruchtbaren „regu­ lativen" Prinzip ein sehr fragwürdiges „konstitutives" machen. Des­ wegen hat K ant hier das größte Gewicht auf eine Unterscheidung gelegt, die er als Grundsatz so ausspricht: „Ein Ding seiner inneren Form halber als Naturzweck beutteilen ist etwas ganz anderes, als die Existenz dieses Dinges für einen Naturzweck halten" (Krit. d. Urt.» S . 299). Diese Unterscheidung ist die Grundeinsicht, mit welcher er die konsti­ tutive Teleologie im Bereiche des Organischen überwindet. Aller Ver­ kehrung von Zweckmäßigkeit in Zwecktätigkeit' wird hiermit der Boden entzogen. Beurteilen können wir die Leistung eines O rgans in der T at nur, indem wir von deren Zweckmäßigkeit für den Organismus aus­ gehen und in diesem Sinne nach seinem „Zweck" fragen, den es im leben­ digen Ganzen erfüllt; das Organ eben verhält sich so, „als ob" es um dieses Zweckes willen da wäre. Aber deswegen setzt doch weder es selbst noch der Organismus den Zweck sich vor, so wie ein Verstand, „wenn­ gleich nicht der unsrige", ihn setzen und verfolgen würde. Denn weder in ihm noch über ihm einen solchen Verstand anzunehmen, haben wir Grund.

Die Wendung „als Naturzweck beurteilen" mag heute allenfalls miß­ verständlich erscheinen. M an wird sie denn auch in die heutige biologische Legrisfssprache schwerlich aufnehmen. I m Zusammenhang der Kantischen Sätze aber ist sie ganz eindeutig im Sinne des regulativen Prinzips, t>. h. des „Als ob" zu verstehen. Die „innere Form" aber, um derentwillen dem Organismus die „Beurteilung" als Naturzweck sinngemäß zu­ kommen soll, ist nicht die Aristotelische Vitalseele oder Entelechie, sondern ganz offenkundig etwas anderes: die durchgehende Abhängigkeit aller Organe und ihrer Funktionen voneinander, in der sie für einander zweck­ mäßig sind, ohne zwecktätig zu sein.

g. K ants „regulatives P rinzip" und die „besonderen Gesetze"

N ur insofern ist diese methodische Grundlegung heute überholt, als es sich nicht um Kausalität allein a ls Gegenstück zur Teleologie handelt, sondern noch um eine Reihe anderer Determinationsformen: von diesen ist bei den kosmologischen Kategorien die Rede gewesen. Kant sah hier alles noch unter der zu einfachen Alternative: Kausalität oder F inali­ tät. Faktisch spielen hier die spezielleren Determinationsformen des dynamischen Gefüges gleichfalls hinein. Und am Organismus sind bereits weitere hinzugetreten, u. a. die von Anlage und Entwickelung, die nicht in Kausalität aufgeht, aber auch mit dem substantiellen Formzweck der teleologischen Metaphysik nichts zu tun hat. Inwiefern es hierbei noch einen besonderen nexus organicus zu berücksichtigen gilt, wird weiter unten zu erörtern sein. Dem ist bei Kant grundsätzlich immerhin Rechnung getragen, und zwar in dem Gedanken der „besonderen Gesetze", die er auch gern „empi­ rische Gesetze" nennt, weil sie a priori nicht erkennbar sind. E s ist wichtig, sich hierbei klarzumachen, daß er auch mit ihrer völligen Unerkennbarkeit gerechnet hat; was hieße es sonst, daß es niemals einen „Newton des Grashalmes" geben werde. Das hinderte ihn nicht, gerade diese Gesetze für die eigentlich bestimmenden des Organismus zu halten. Sie bilden ein großes „X“ der Erfahrung, dem w ir uns nur in bescheidenen Schritten annähern können. Insofern tritt der Organismus bei Kant in eine gewisie Analogie zum transzendentalen Gegenstände, dessen Totalität und durchgehende Bestimmtheit wir nicht vorwegnehmen können. D as genügt freilich dem Problem noch nicht. E s handelt sich hier schwerlich um Gesetze allein, sondern noch um mancherlei anderes, um besondere Kategorien des Organischen. Den wichtigsten Punkt dürfte die A rt der Dependenz ausmachen, die den leer gewordenen Platz der F inali­ tä t ausfüllen könnte.

3 n allem übrigen ist K ants Analyse keineswegs überholt, am wenigsten durch die teleologische Metaphysik der Idealisten (Schelling, Hegel und ihre Nachfolger) oder durch den Neuvitalismus, der ohne Skrupel wieder bis auf die Aristotelische Entelechie zurückgegangen ist. Gewiß ist ein regulatives Prinzip nicht etwas Endgültiges, schon darum, weil es ein bloß methodologisches Prinzip ist und über die wirkliche B e­ schaffenheit des Gegenstandes nichts aussagt. Aber an ein Hinausgelangen über dieses Prinzip mit einem kühnen Schritt ist trotzdem nicht zu denken. N ur um ein langsam fortschreitendes Ersetzen durch konstitutivkategoriale Momente kann es sich hier handeln, nämlich im Maße des vom Regulativ der Zweckmäßigkeit geleiteten Eindringens der Erkennt­ nis in das Gefüge des lebenden Organismus. I n den 1»/r Jahrhunderten wiffenschaftlicher Arbeit seit der Kritik der Urteilskraft haben die Resultate solchen Eindringens sich bereits hoch aufgehäuft; auf manchen Teilgebieten haben sie sich auch zu sehr beacht­ lichen Gesamtbildern zusammengeschlosien. Aber bei der Abgründigkeit der organologischen Probleme haben sich auch entsprechend stets neue Rätsel gezeigt. Und darum geht es auch heute noch im wesentlichen um das methodisch zielgerechte Hinarbeiten auf verborgene Kategorien des Organischen. Die Zweckmäßigkeit spielt hierbei nach wie vor nur die Rolle einer spezifischen Erkenntniskategorie, ohne den Anspruch, selbst als Seinskategorie des Organischen gelten zu können. W as ihr an S eins­ kategorien wirklich entsprechen mag, das steht vielmehr erst zu unter­ suchen. Und weil von der Seite des Physischen her die Ansatzpunkte des Eindringens stets vorwiegend kausalen Charakter tragen, so ist bis zur Stunde in den biologischen Wissenschaften die Kausalforschung, als das mühsame analytische Vorgehen „von unten her", das maßgebende Ver­ fahren. Unter dem Gesichtspunkte der „besonderen Gesetze", auf die hier ja alles ankommt, stellt sich das methodologische Verhältnis folgendermaßen dar. Von diesen gesuchten Gesetzen des Lebens wissen wir wenigstens eines zum voraus: sie müsien notwendigerweise selbst „zweckmäßig" für das Lebewesen sein, entweder direkt für das Individuum oder vermittelt durch dieses für das Stammesleben der Art. Anders könnte die Art unter ihnen als ihren Artgesetzen gar nicht bestehen; sie könnte weder entstanden sein noch sich erhalten. Besteht also die A rt und erhält sich, so müssen ihre konstitutiven Gesetze notwendig so geartet sein, daß sie die Erhaltung der A rt zur Folge haben. D aran aber haben wir ein Kennzeichen, nach welchem wir diese Gesetze suchen können, oder mit dem Kantischen Wort, nach welchem wir auf sie „reflektieren" können. Diese Gesetze nämlich müssen so beschaffen sein, „als ob" gleichfalls ein Verstand,

wenngleich nicht der unsrige, fie zum Zweck der Erhaltung des Lebens gegeben hätte. An dem Zutreffen oder Nichtzutreffen dieses „Als ob" müssen die verborgenen ontischen Kategorien des Lebendigen kenntlich werden. Sie müssen sich gleichsam durch ihre Zweckmäßigkeit verraten, soweit sie über­ haupt menschlicher Einsicht zugänglich sind. Damit aber erweist sich die Zweckmäßigkeit, die wir ja an den Lebenserscheinungen so leicht erfassen, als ein eminent fruchtbares heuristisches Prinzip. W as unter diesem Prinzip gesucht wird, ist im Reiche des Lebendigen schlechterdings alles, was uns die unmittelbare Erfahrung nicht sagt: nicht nur die Gesetze selbst also, sondern Form- und Funktionszusammen­ hänge jeder Art. Die stärksten Belege der Tragkraft eines solchen „Finde­ prinzips" liegen nicht einmal auf theoretischem Gebiete, sondern auf dem praktischen. M an bedenke: Symptome der Krankheit sind Symptome der Unzweckmäßigkeit, der Mediziner aber hat an diesen den Anhalt, die Ursache eines gegebenen Störungszustandes zu erschließen. D as Unzweck­ mäßige hebt sich eben als Moment der Störung aufs schärfste gegen das Gefüge des in sich Zweckmäßigen ab. Die Philosophie aber steht angesichts dieser Sachlage noch vor einer anderen und um vieles schwereren Frage. Wenn all das Zweckmäßige in der Einrichtung der Lebewesen sich bloß so verhält, als wäre es um eines Zweckes willen geschaffen, in Wirklichkeit aber nicht auf Zwecktätigkeit beruht — weder auf einer eigenen, noch auf der eines höheren Ver­ standes —, so muß man doch fragen: wie kann denn Zweckmäßiges von solcher S ubtilität und in solcher Steigerung entstehen, ohne daß eine vorsehend zwecktätige Macht dahinter steht? Oder einfach: wie kann Zweckmäßiges aus dem Zwecklosen entstehen? K ant hat dieser Frage Rechnung getragen durch den scheinbar zwei­ deutigen Begriff der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck". Gemeint ist damit natürlich nicht Zweckmäßigkeit ohne einen denkbaren Zweck, sondern durchaus nur ohne „konstitutiven" Zweck; man könnte also auch sagen: ohne zwecktätige Entstehung. 2m Begriff der Zweckmäßigkeit, und also auch im regulativen Prinzip, ist natürlich die Zweckvorstellung voraus­ gesetzt. Aber eben dieses Vorausgesetzte soll nicht der Sache zugeschrieben, sondern in ihrem Begriff durch anderes ersetzt werden. Unabsehbar schwierig und ernst wird dieses philosophische Problem gerade dort, wo die Zweckmäßigkeit eine objektive und wesentliche, von der Sache nicht abtrennbare ist. D as aber ist sie überall da, wo es nicht um bloß relative und „zufällige" Zweckmäßigkeit geht, sondern um die organische.

58. Kapitel. Organische Selektion a. D a s Problem. Tastende Lösungsversuche

Hält man die beiden letzten Kategorien zusammen, so ergibt sich nun folgendes Bild. Die Abartung der Arten führt unweigerlich auf eine ursprüngliche Formentstehung der Lebewesen, ihre eigentliche Neubildung vor aller Wiederbildung, hinaus. I n ihr mutz also die erstmalige Ent­ stehungsweise des Zweckmäßigen innerhalb einer Welt des zwecklosen Geschehens liegen. Die Analyse der Zweckmäßigkeit aber hat gelehrt, daß hinter dieser Entstehung kein konstitutiver Zweck steht. E s kann also auch keiner hinter dem phylogenetischen Aufkommen der lebendigen Arten stehen. Aber wie in aller W elt entstehen dann die Arten? Und wie ist über­ haupt das Entstehen des Organisch-Zweckmäßigen inmitten des Zweck­ indifferenten zu verstehen? E s muß gleich zu Anfang gesagt werden, daß die Antwort auf diese Frage auf Grund unseres heutigen Wisiens nur lückenhaft gegeben werden kann. Die Frage zählt vielleicht zu den metaphysischen Problemen, die sich nicht bis zu Ende lösen lassen. Das hindert aber durchaus nicht, daß inner­ halb ihrer gewisse Teillösungen möglich find, die dann wenigstens eine -Seite des Gesamtproblems aufhellen und dadurch wiederum einen vor­ geschobenen Ansatzpunkt für weitere Vorstöße der Erkenntnis abgeben. M an darf solche Teillösungen nur nicht vorschnell verallgemeinern, darf also von ihnen aus auch nicht beliebig weit extrapolieren. Die bisherigen Theorien, die sich an das Problem gewagt haben, sind in diesem Punkte alle zu weit gegangen und haben sich damit ins Unrecht -gesetzt. Aber ihr Schicksal, deswegen verworfen und vergessen zu werden, w ar ein unverdientes. Hier gerade gilt es, sehr genau zwischen dem frucht­ baren Ansatz und der vorschnellen Grenzüberschreitung zu scheiden. N ur eine schrittweise vorgehende Beantwortung darf man bei einer so abgründigen Prinzipienfrage erwarten. M it den hergebrachten Schlag­ worten, wie „Entwickelung" und „Anpassung", die oft genug als Kate­ gorien ausgespielt worden sind, ist hier schlechterdings nichts anzufangen. Teils paffen sie nicht auf das Problem zu, teils setzen sie dessen Lösung schon voraus. Am meisten ist hier mit dem Begriff der Entwickelung gesündigt worden; man nahm ihn skrupellos für die Phylogenese in An­ spruch, ohne auch nur zu bedenken, w as das W ort eigentlich besagt. Bon „Entwickelung", wenn das W ort mehr bedeuten soll als einen beliebigen Prozeß, kann man mit S in n nur sprechen, wo es ein Anlagestadium gibt, von dem der Prozeß ausgeht und geleitet wird; in der Phylogenese gibt . H a 1 1m ö n n , Philosophie der Natur

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es aber kein Anlagestadium, keine Ausgangsbafis, die sich mit dem Keim­ plasm a der Geschlechtszellen vergleichen ließe. Entwickelung als solche ist ja auch niemals produktiv, sondern nur reproduktiv; die Phylogenese aber ist der ursprünglich hervorbringende Prozeß, die erstmalige Entstehung der organischen Form. Hier also handelt es sich um den wirklich schöpferischen Vorgang. Darum kann es sich nicht um Entwickelung eines schon Ange­ legten handeln. Das gedankenlose Reden von „schöpferischer Entwickelung" ist nicht nur fehlerhaft, sondern auch ein Widerspruch in sich selbst (vgl. K ap.266). Der Begriff der „Anpassung" aber setzt die Zweckbezogenheit, die er erklären sollte, schon voraus. Is t der Anpassungsoorgang nämlich kein „zufälliger", so ist er schon ein aus das Zweckmäßige hinarbeitender P ro ­ zeß, und dann ist kaum mehr zu vermeiden, daß er auch als zwecktätiger Prozeß verstanden wird. W as dann weiter unvermeidlich wieder auf die alte teleologische Metaphysik des Organischen hinausführt. Die Theo­ rien, die es mit solchen Kategorien versuchen, haben das meist nicht wahr­ haben wollen, haben ihren eigenen Teleologismus krampfhaft zu ver­ decken gesucht, haben ihn aber durch das Bersteckspiel nur noch gefährlicher gemacht. Schon Lamarck, der als erster mit einem solchen Versuch hervortrat (1809), verfiel dieser Selbsttäuschung. Sein Kalkül war dieser: ein jedes Organ erstarkt im Gebrauch und verkümmert im Nichtgebrauch; die dauernde Hypertrophie eines O rgans bei gesteigerter Anspannung muß also, wenn sie durch Generationen anhält, zur Umbildung des O rgans, und damit zur Abartung führen. So sollten die Schwimmhäute der Schwimmvögel durch dauerndes Spreizen der Zehen, die langen Stelz­ beine der Sumpfvogel durch anhaltendes Strecken beim W aten entstanden sein. Als Resultat steht dann immer die für eine bestimmte Lebensweise zweckmäßige Form da. M an erkennt hierin ohne weiteres das tastende Suchen nach einem Prinzip der Entstehung des Zweckmäßigen. Und soviel muß man diesem Versuch zugestehen: es gibt wirklich in den aktiv beweglichen Organismen, also in erster Linie in der Tierwelt, den Anreiz, den ein Organ von seiner eigenen Funktion erfährt; denn die Steigerung der Funktion zieht durch den höheren Verbrauch auch einen Mehrersatz nach sich. Dennoch blieb der Versuch Lamarcks schon im Ansatz stecken, und alle weit ausschauenden Folgerungen blieben Produkte einer kühnen Phantasie. Denn zwei Dinge waren hierbei nicht berücksichtigt. Erstens erstreckt sich eine solche Erklärung lediglich auf aktiv funktionierende Teile des Organismus, die große Menge der passiven aber bleibt aus dem S pille; zu diesen aber zählen so wichtige Bestandstucke der organischen Form wie das Hautskelett der Insekten, alle Behaarung, Färbung, Zeichnung, ja

fast alle pflanzlichen Formen. Und zweitens gibt es keine Erblichkeit der in einem Jndividualleben erworbenen Eigenschaften. Das aber wäre doch gerade die unerläßliche Voraussetzung einer Steigerung von Formcharak­ teren, die sich über eine ganze Folge von Generationen hin vollziehen soll. Jedes Individuum müßte doch die durch den Gebrauch erworbene Um­ formung auf feine Nachkommen übertragen können, wenn diese den Umformungsprozeß fortsetzen und nicht wieder von vorn anfangen sollen. Ganz anders stünde die Sache, wenn der Gebrauch eines O rgans auch die entsprechenden Teile des Keimplasmas, die feine ontogenetifchen Determinanten (Gene) sind, mit umzugestalten vermöchte. M an könnte dann wohl von Weitergabe der erworbenen Eigenschaft im Leben der Art, also auch von ihrer weiteren Steigerung sprechen. Aber solche Um­ gestaltung ist weder empirisch bekannt noch auf Grund der bekannt­ gewordenen Einrichtungen der Keimzellen zu erwarten. Ganz im Gegen­ teil: die Erhaltung der Art, soweit sie reicht, ist gerade dadurch sicher­ gestellt, daß Verletzungen, Verkümmerungen und Hypertrophien somati­ scher Teile des Individuum s sich nicht auf oas Keimplasma übertragen. W as wir dagegen manchmal am Menschen für Erblichkeit erworbener »Fähigkeiten" halten, beruht in Wahrheit bereits auf Varianten der Erbanlage; die letzteren entziehen sich nur unserer Beobachtung, darum neigen wir stets dazu, ihre Wirksamkeit sekundären Ursachen zuzuschreiben — am meisten natürlich da, wo diese in den Leistungen eines Individuum s augenfällig geworden sind.

b. Darwins Prinzip der natürlichen Zuchtwahl

Einen wirklich brauchbaren Ansatz zur Beantwortung der Haupt­ frage nach der Entstehung des Zweckmäßigen hat erstmalig — genau ein halbes Jahrhundert nach Lamarck — Charles Darwin in seinem Werk über die „Entstehung der Arten" (1859) gegeben. Die Orientierung dafür gewann er rein empirisch an der Züchtung der Haustiere, dort also, wo allein ein wirklicher llmbildungsprozeß empirisch verfolgbar gegeben ist. Der Züchter kennt offenbar aus Erfahrung das Geheimnis der N atur in der Umbildung eines Arttypus, wennschon dieses Kennen kein begreifen­ des Durchschauen ist. Und er weiß es sich auch zunutze zu machen. W as aber tut der Züchter? Er wählt zur Nachzucht diejenigen I n ­ dividuen aus, die für feine Zwecke die geeignetesten sind. Individuelle Unterschiede (Varianten), die diesen Zwecken entgegenkommen, findet er in der Regel vor; ihr Auftreten entspricht der „Streuung" des A rttypus und der naürlichen Labilität des Anlagefyftems. Diese Unterschiede sind nicht erworbene Eigenschaften, sondern vom Keimplasma determinierte, also ist mit ihrer Vererbung bei einem gewissen Prozentsatz der Nach-

kommen zu rechnen. F ährt der Züchter nun damit durch viele Generationen fort, d. h. trifft er immer wieder Auswahl der Individuen auf die gleichen Merkmale hin, so steigert sich damit die ihm erwünschte Eigenschaft der Art. Die Erfahrung lehrt nun, datz solche Züchtung sich fast auf jeden beliebigen Körperteil erstrecken kann, ja unter gewissen Umständen sogar auf mehrere zugleich. E s gibt, wie es scheint, keine absolut konstanten Formen, die unter der Hand des Züchters nicht in der einen oder der anderen Richtung verändert werden könnten. Darwin stellte jahrelang seine Experimente mit der Züchtung von Tauben an» und es ist erstaun­ lich, in welchem Matze das Experiment seine Vermutungen bestätigte. I n dieser Beobachtung birgt sich ein Prinzip von grotzer Tragweite. Zunächst mutz konstatiert werden, datz hier ein echter Anpasiungsprozetz vorliegt, in dem neue Form sich erstmalig bildet. Ebenso liegt hier ein Zweckmätzigwerden der Form vor, freilich nur ein solches für den Men­ schen; denn er wählt die Individuen unter Gesichtspunkten seiner Zwecke aus. Aber wenn der Mensch die gestreuten Variationen durch fortgesetzte Auswahl steigern kann, wie sollte nicht in der freien N atur der Faktor der sich ändernden Lebensbedingungen ebenso selektiv wirken? E r mutz sogar noch viel stärker wirken, weil er viel andauernder, konsequenter und rücksichtsloser jede unzweckmätzige Bildung zugrunde gehen lätzt und stets nur die zweckmätzigen Bildungen zur Nachzucht übrig lätzt. D as Resultat mutz dann offenbar ein phylogenetischer Formbildungsprozetz sein, in dem buchstäblich das Zweckmätzige aus dem Zwecklosen entsteht. Die Erblichkeit der Eigenschaften, die hierbei die Voraussetzung bildet, kann unter solchen Umständen nicht fraglich sein. Denn es handelt sich nicht um Eigenschaften, die im somatischen Leben des Individuum s er­ worben werden. Die Variation des Arttypus in den Individuen beruht ja von vornherein auf der Labilität des Keimplasmas (Kap. 54d). D as Anlagesystem ist eben in keiner lebenden A rt ein absolut festes. Und da es kontinuierlich durch die sukzessive Reihe der Individuen hindurchgeht, so mutz jede Tendenz der Abartung in ihm sich notwendig steigern, sobald ein seligierender Faktor dahin wirkt, datz die Amphimixis sich auf die Kopulation solcher Individuen beschränkt, deren Keimplasma diese Tendenz bereits mitbringt. Der ausschlaggebende Faktor ist also die qualitative Begrenzung in der Kombinatorik der Erbanlagen. Solche Begrenzung kommt überall da zustande, wo bestimmte äutzere Lebensbedingungen den Varianten einer Richtung den Vorzug vor anderen geben. D as Resultat ist dann die „natürliche Zuchtwahl". Diese bedeutet nichts anderes als das Übrig­ bleiben der am zweckmätzigsten angepahten Individuen in jeder Genera­ tion infolge der unvermeidlichen Konkurrenz der Individuen in ihrem Kampf um die Existenz.

c. Der Kamps ums Dasein und das überleben des Zweckmäßigen

Die Möglichkeit einer solchen „natürlichen Zuchtwahl" — so genannt zum Unterschiede von der künstlich-zwecktätigen Zuchtwahl des Menschen — hängt offenbar an vier Bedingungen, von denen drei bereits als erwiesen und gesichert, wenn auch keineswegs in allen Stücken als erklärt gelten dürfen. 1. Zugrunde liegt die numerische Überproduktion der Individuen in jeder Generation. Ohne sie müßte die lebende A rt bei fortgesetzter Selek­ tion zusammenschwinden. F ü r diesen Faktor ist bei den meisten lebenden Arten reichlich gesorgt, insonderheit dort, wo hohe Vernichtungsziffern die Zugendstadien bedrohen. 2. Der Arttypus mutz selbsttätig variabel fein; oder was dasselbe ist, das Keimplasma in den Individuen must eine gewisse Labilität zeigen. Auslese ist nur möglich, wo qualitative „Streuung" vorliegt, und zwar in genügender Abweichung vom Durchschnitt, um „Selektionswert" zu haben. Wobei unter dem letzteren das Relevantsein im Grade zweck­ mäßiger Angepatztheit zu verstehen ist. 3. Die Variationen ihrerseits müssen erblich sein, müssen also der Steigerung durch Kombination gleichartig abweichender Keimanlagen fähig sein. Denn nicht von sich aus können sie eine weitere Steigerung bewirken, sondern nur bei fortgesetzter Selektivwirkung in Richtung einer und derselben Abweichung. W as offenbar ihre Erblichkeit voraussetzt. 4. E s müssen seligierende Faktoren in den Lebensbedingungen der A rt liegen, die einer bestimmten V ariation den Vorzug vor anderen geben. Und sie müssen genügend stark und konstant sein, um Variationen anderer Richtung in einer längeren Eenerationenfolge von der Nachzucht aus$u* schließen. Von diesen Bedingungen unterliegt nur noch die letztere einer gewissen Fraglichkeit. E s handelt sich bei ihr darum, wer bei der natürlichen Zucht­ wahl die Rolle des Züchters übernimmt. Der menschliche Züchter nämlich handelt nach vorgesetzten Zwecken; deswegen bringt er das für diese Zwecke Zweckmäßige hervor, indem er die ersten drei Naturfaktoren ausnutzt. I n der freien N atur aber gibt es keine handelnde Instanz, die da Zwecke setzen und nach ihnen verfahren könnte. I n Kantischer Begrifsssprache könnte man nun hier sagen: der N atur­ prozeß der Auslese geht genau so vor sich, „als ob" gleichfalls ein Ver­ stand, wenngleich nicht der unselige, in ihm zum Zweck der Anpassung der A rt an gegebene Bedingungen die Auslese der Individuen betriebe.

Hier weist also das regulative Prinzip der Zweckmäßigkeit ganz eindeutig die Richtung, in welcher die Wissenschaft zu suchen hat. Die Aufgabe dabei ist, zu zeigen» was in Wirklichkeit hinter dem „Als ob" steckt. Die Theorie Darw ins antwortet genau auf diese Frage. Das seligierende Prinzip der Naturzüchtung liegt in demjenigen Verhältnis der Individuen einer A rt zueinander, welches die unmittelbare Folge ihres Zusammenlebens auf beschränktem Lebensraum ist: in ihrem „Kampf ums Dasein". D as ist nicht ein neuer teleologischer Begriff — wie es zunächst wohl scheinen könnte, denn Kämpfen steht nach zwecktätigem Tun aus —, son­ dern nur eine Abbreviatur für ein sehr llnnplexes natürliches Verhältnis. Dieses Verhältnis ist gegeben durch äußere Gefahren, die das Individuum bedrohen, durch Witterung, Beschränktheit der Nahrung, durch die „Feinde" der A rt (Raubtiere und Parastten), am meisten aber wohl durch die Konkurrenz miteinander, in welche die Individuen durch diese Faktoren gedrängt werden. Individuen, die in solchem Bedrohtsein durch irgendeine Eigenschaft den anderen gegenüber im Nachteil find, müssen von vorn herein dem Untergänge am meisten ausgesetzt sein. Und da das am meisten vom Jugendstadium gilt, gehen ste am leichtesten vorzeitig zugrunde und gelangen nicht zur Nachzucht. D as bedeutet aber, daß ihre weniger zweck­ mäßige Erbanlage stch nicht in weiteren Individuen fortsetzt. Sie wird durch die natürliche Auslese im Kampf ums Dasein ausgemerzt. Unter solchen Umständen muß umgekehrt jede Eigenschaft, die den Individuen einen Vorteil gewährt, notwendig zu einem seligierenden Faktor im pofitiven Sinne werden. Ih re Träger müssen in der allge­ meinen Konkurrenz bevorzugt dastehen, leichter stch durchsetzen und zur Nachzucht gelangen. Zu solchen Eigenschaften ist jede A rt Überlegenheit zu rechnen, körperliche Stärke, Gewandtheit, Geschwindigkeit im Fliehen oder Verfolgen, bessere Waffen, schärfere Sinne, aber auch die Instinktsicherheit (z. B. im Aufspüren der Nahrung) und gewiß nicht weniger die funktionale Leistungsfähigkeit der inneren Organe. Alles, was sich nur leise als Vorteil erweist, gewinnt bei solchen Verhältnisien Selektions­ wert,- es „wirkt selektiv" im Kampf ums Dasein. Hier ist nun der Faktor, der in der N atur die Hand des Züchters vollwertig ersetzt. Er bewirkt mit Notwendigkeit die Auslese in Richtung auf das Zweckmäßige, ohne doch irgend nach Zwecken zu verfahren oder Zwecke zu verfolgen, also ohne Vernunft und Voraussicht. E r bewirkt genau das, wonach gefragt w ar: die Entstehung des Zweckmäßigen aus dem Zwecklosen. Sein Produkt ist eben das, was Kant als durchgängigen Charakter der organischen Formen bezeichnete, die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck".

E s ist hier mancherlei eingewandt worden. Z. B. immer wieder dieses: wie sollen „Feinde" der A rt eine Auswahl unter den Beutetieren treffen können? M an meint, das blind waltende Verderben mutz doch wahllos starke wie schwache Exemplare treffen. Aber die Sache ändert sich sehr, wenn man sie von der anderen Seite ansteht. Das Raubtier bekommt am leichtesten nicht das schnellste und gewandteste Beutetier zu fasten, sondern das langsamste und ungewandteste; dem Hunger und der Kälte erliegt nicht das stärkste, sondern das schwächste Individuum zuerst. Wo immer es Feinde, Nahrungsknappheit oder ähnliche Bedrängnis gibt, welche die Fähigkeiten oer Individuen auf die Probe stellen, da mutz es notwendig auch im Durchschnitt das „überleben der Tüchtigsten" geben; das aber oedeutet das Überleben der am besten Angepatzten. Oder auch, wenn man es mehr kat'gorial ausdrücken will: das Überleben des Zweck­ mäßigen. Damit ist die scheinbar teleologische „Angepatztheit" einer Art an ihre gegebenen Lebensbedingungen auf einen natürlichen Anpastungsprozetz zurückgeführt, in dem das ständige „Überleben des Pastendsten" den be­ wegenden Faktor ausmacht.

d. Kategorialer Charakter und Apriorität des Selektionsprinzivs Diese natürliche Auslese mutz um so stärker wirken, je härter der Kampf ums Dasein ist und je stärker zahlenmäßig die Überproduktion der Individuen in jeder Generation ist. Wenn man von Epochen besonderer Ausbreitung der A rt (die nie lange andauern können) absieht, so ver­ langt es das quantitative Gleichgewicht der Art, daß im Durchschnitt stets n u r ein junges Individuum auf je ein elterliches überlebt. Bei zweifacher Überproduktion überlebt also normaler Weise nur die Hälfte der I n ­ dividuen, bei 10 000-facher nur Vioooo. Im letzteren Falle wird die Selek­ tion zu einer grausamen Ausrottung. Dabei ist die genannte Ziffer keine Phantafiezahl; wir kennen tatsächlich solche Fälle sowohl im Pflanzenwie im Tierreich. Und in einzelnen Fällen ist die Vernichtungsziffer noch erheblich größer. Das Leben der A rt ist grundsätzlich rücksichtslos gegen die Individuen, geht mit ihnen verschwenderisch um, es kennt keine Sentimentalität. Aber gerade diese Härte seines Prinzips ist seine Stärke. Durch sie ist die E r­ haltung des Stammeslebens weit bester gesichert, als durch bloße Beschir­ mung der Individuen mögli ch wäre. Denn in absoluter Formidentität ist jede Art nur auf kurze Sicht erhaltbar; auf die Dauer mutz sie stets sich neu anpasten. Und dieser Vorgang läuft am glattesten dort ab, wo . die seligierenden Faktoren von großer Härte sind, die Überproduktion der Individuen entsprechend hoch und die Streuung des Arttypus schon im

Anlagesystem eine genügend breite ist. Aus weite Sicht ist stets die Um­ bildung der A rt auf selektiver Grundlage die einzig mögliche Erhaltung des Stammeslebens. Wieviel oder wiewenig dieses Selektionsprinzip zu erklären verm ag^ ist noch eine besondere Frage. Offenbar kann es nicht allein für alle Formentstehung überhaupt aufkommen — wie das wohl Darwin selbst und viele seiner Nachfolger (in Deutschland etwa Hackel und Weismann) gemeint haben. Aber das setzt seinen grundsätzlichen W ert nicht herab. Denn soviel ist doch klar, daß dieses Prinzip grundsätzlich genau auf die Frage an t­ wortet, was hinter dem Kantischen „Als ob" steckt. D as Werleben des Zweckmäßigen im Kampf ums Dasein wirkt im Leben der Art genau so, „als ob" gleichfalls ein Verstand, wennschon nicht der unselige, die Zucht­ wahl bewußt ausübte, d. h. konsequent in jeder Generation nur die am zweckmäßigsten angepaßten Individuen zur Nachzucht kommen ließe. Dieses Prinzip gibt also eine durchaus positive Antwort auf das von K ant mit dem „Als ob" umrifsenen Problem. Bon den „besonderen Gesetzen", die sich hinter der konstatierbaren Zweckmäßigkeit der organischen Formen verbergen» ist hiermit wenigstens eines aufgezeigt, und zwar ein noch sehr allgemeines. M an kann zwar keineswegs sagen, die natürliche Zuchtwahl sei nun schlechterdings das gesuchte „konstitutive Prinzip", oder in heutiger Sprache die alles tragende Realkategorie, die das regulative Prinzip zu ersetzen bestimmt sei. Das wäre viel zu viel behauptet; es w ar vielmehr der Fehler des noch vor 50 Zähren herrschenden Altdarwinismus, daß er diesem Prinzip eine so unbegrenzte Tragweite zuschrieb. Aber ebenso fehlerhaft ist es, ihm den Charakter einer Realkategorie ganz abzu­ sprechen, wie es in der Folgezeit vielfach geschehen und noch heute das Übliche ist. W as dieses Absprechen anbelangt, so kann es keinem Zweifel unter­ liegen, daß dabei das innerste Motiv nicht in sachlichen Argumenten, sondern in einer ganz primitiven, gefühlsmäßigen Ablehnung zu suchen ist. Gerade das, w as die Kritik der Urteilskraft als theoretisch unzulässig erwiesen hat, die Ausdehnung des Zweckprinzips auf die organischen Prozesse (und zwar a ls deren konstitutive Kategorie), sucht man um jeden P reis festzuhalten, die Entstehung aus dem Zwecklosen um jeden P reis zu vermeiden. Unbelehrbar hält man a n den alten, metaphysisch-teleologi­ schen Vorstellungen fest, als wären sie zum Verständnis des Lebendigen notwendig. Daß hier eigentümliche, höhere Kategorien einsetzen, nicht ge­ ringer an Eigenart als die Finalität, und doch ganz anders geartete, ist eine Erkenntnis, die sich offenbar nur schwer durchzusetzen vermag. Aller besieren Einsicht zum Trotz empfindet man den Selektionsgedanken als mechanistisch und gleichsam des Lebendigen unwürdig. Darum stürzt man sich so begierig auf jeden neuen Einwand, der sich gegen ihn erhebt.

Und doch ist gerade er ein erster Ausweg aus der Verwirrung, wenn auch gewiß nicht ein für alle Teilfragen zureichender und endgültiger. E r ist es deswegen, weil er ein Mittelweg ist, der die Extreme vermeidet. Darum allein schon sollte man ihm die ruhige, von aller subjektiven P a tte i­ nahme freie Prüfung zugestehen. E s ist überhaupt ein Zeichen von Desorientiertheit, in solchen P rin ­ zipienfragen extreme Positionen einzunehmen. Die W ahrheit liegt, wie immer und überall, in der Mitte. Das kann nur die erste Eeneratton, die noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Entdeckung steht, nicht sehen; sie glaubt noch, alle Probleme mit dem neuen Prinzip lösen zu können. Aber auch die zweite sieht noch nicht objektiv; in ihr setzt die Reaktion ein, sie steht unter dem Eindruck der Einwände, die gegen die Merspannung des Prinzips mit Recht aufgekommen sind, aber nur um mit seiner Verwerfung genau ebenso übers Ziel zu schießen. Erst der ferner stehende Epigone kann ruhiger urteilen. Ih m scheint nun die ganze Erregung des hochgespannten Meinungsstreites Lberttteben, überholt, unsachlich; ihm fällt die wichtige Aufgabe zu, den Weg der Mäßigung zu finden» d.h. dem entdeckten Prinzip endlich sine ira et Studio die beschränkte Bedeutung zuzumessen, die ihm seiner objektiven Tragkraft entsprechend zufällt. D as Selektionsprinzip hat dieses Schicksal der anfänglichen Über­ spannung und des nachfolgenden Verkanntwerdens in einem M aße er­ fahren, wie selten ein neuentdecktes Prinzip sie erfährt. D as geschah z. T. deswegen, weil es von Anfang an fälschlich in eine gar zu enge Verbindung mit dem damals als hochaktuell empfundenen Deszendenzgedanken gebracht wurde. I n Wahrheit kann Deszendenz sehr wohl auch ohne Selettion und Selektion auch ohne Deszendenz bestehen. Außerdem ist die Deszendenz eine reine Tatsachenfrage, 'die ja auch vor Entdeckung des Selektions­ prinzips zu einer kaum mehr anfechtbaren Entscheidung gelangt war. Bei der Selettion dagegen handelt es sich um ein erschlossenes Prinzip, wobei jene Entscheidung als Ausgangsbasis des Schlusses diente. Dieses Prinzip stellt den ersten ernsthaften Versuch dar, die organische Zweckmäßigkeit auf eine konstttutive Kategorie zurückzuführen. Und da die Wissenschaft bis heute keinen zweiten auch nur annähernd gleich­ wertigen Versuch gebracht hat, so darf man sagen, daß das Selektionsprinzip sich in den Grenzen seiner Reichweite (die allerdings noch um­ stritten find) einstweilen als Realkategorie bewähtt hat. E s ist also an der Zeit, sich wieder auf den kategorialen Charakter dieses Prinzips zu besinnen. D as hat mit aller Vorsicht gegenüber vorschnellen Verallge­ meinerungen zu geschehen, aber auch mtt geklärtem Verständnis für seinen kategorialen Wert. Unter den zahlreichen Einwänden der einst so erbitterten Gegner — die meisten find heute antiquiert und belanglos geworden — ist einer, der

sich als lehrreich erwiesen hat. M an sagte, das Selektionsprinzip sei eigent­ lich „eine Selbstverständlichkeit"; es besage nichts, was nicht schon im Wesen des Lebendigen überhaupt liege. Natürlich „müsse" das Unzweck­ mäßige, wo es überhaupt einmal auftauche, zugrunde gehen, sobald es mit dem Zweckmäßigen konkurriere, dieses allein aber müsse übrigbleiben. Des­ wegen aber erkläre doch der Untergang des Unzweckmäßigen nicht die E nt­ stehung des Zweckmäßigen. M an überlege nun, ob das wirklich ein Einwand ist. Ist es nicht viel­ mehr gerade die schlichte Bestätigung des P rinzips? Freilich der letzte Satz sieht bedenklich aus. Aber er schwebt in der Luft. Gewiß erklärt der Untergang des einen nicht die Entstehung des andern; doch ist das auch nicht der S inn der Selektion. E s handelt sich ja in der Labilität des Keim­ plasm as nicht um einseitige Streuung „nach unten", auf das Unzweck­ mäßige zu — als hätte dieses rein statistisch einen Häufigkeitsvorzug —, sondern durchaus um allseitige Streuung, die sich um jedes Häufigkeits­ maximum, wie es sich auch verschieben mag, auf die Dauer doch wieder symmetrisch gruppiert. E s wird also unter den Varianten des Keim­ plasmas gerade auf Grund der statistischen Regeln auch immer wieder genügend Zweckmäßiges vertreten sein. Dann ist die weitere Frage nur noch die, auf welche Weise das Zweckmäßige aus dem Unzweckmäßigen herausseligiert wird. Und auf diese Frage antwortet eben das Prinzip. Daß es aber mit einer „Selbstverständlichkeit" antwortet, ist sein Schade nicht. W er das herausfindet, bestreitet das Selektionsprinzip nicht, sondern bestätigt es. E r liefert das Eingeständnis, daß dieses Prinzip einmal in seinem Wesen begriffen, auch rein in sich selbst einleuchtend ist. W as es besagt, ist eben kein bloßer Erfahrungssatz, sondern eine echt apriorische Einsicht. Die Erfahrungen des Züchters, von denen Darwin einst ausging, bilden hier nur die Hinführung auf das Prinzip. Das Prinzip selbst geht an Allgemeinheit weit über diese und jede andere Erfahrung hinaus. E s gilt denn auch gerade von solchen Umbildungs­ prozessen, die in keiner Weise mehr Gegenstände direkter Beobachtung sind. Denn diese Prozesse laufen in geologischen Zeitmaßen, also viel zu langsam für menschliche Beobachtung. Einsichten von solcher Allgemeinheit, wenn sie obejektiv in sich einleuchtend sind, haben eben den Charakter von Erkenntnissen a p rio ri. Diese Apriorität ist nichts anderes als die Kehrseite des kategorialen CharaÜers der organischen Selektion. Das widerspricht keineswegs der Tatsache, daß die organische Selektion als Erkenntniskategorie eine sehr späte Errungenschaft und bis heute weit entfernt ist, allgemein ins Bewußt­ sein durchgedrungen zu sein. Etwas Ähnliches gilt ja auch von den aprio­ rischen Einsichten der höheren Mathematik» die deswegen doch niemand

bestreiten wird. Im Gegenteil, dieses späte und vielfach gehemmte Durch­ dringen ins Bewußtsein ist sehr verständlich. Eine solche Kategorie muß sich eben gegen enorme Widerstände der naiven Weltanschauung durch­ setzen. Nimmt man hinzu, daß sich gerade die Entdecker und ersten Ver­ fechter dieser Kategorie durch hemmungslose Erenzüberschreitungen ins Unrecht gesetzt haben, so kann es nicht wunder nehmen, daß sie noch heute, über 90 Jah re nach ihrer Entdeckung, nicht in der theoretischen Biologie, geschweige denn im Bewußtsein weiterer Kreise heimisch geworden ist. Sie konkret anzuwenden, erfordert eben eine sehr hohe „Anstrengung des Begriffs". M it ihrer „Selbstverständlichkeit" ist es also nicht gar weit her. Soweit diese besteht, d. h. sich im wissenschaftlichen Bewußtsein des geistig F ort­ geschrittenen geltend macht, ist sie nichts anderes als die einsichtige Not­ wendigkeit des Apriorischen. Alle Erkenntnis a priori ist eben selbstver­ ständlich, sobald das Bewußtsein die Sachlage erfaßt hat, auf die sie sich bezieht. Aber dieses Erfaßthaben der Sachlage ist seinerseits nichts weniger als selbstverständlich. Es bedarf der weit ausholenden Erarbeitung.

e. Geschichtliches. Variabilität und Selektivität

Is t nun aber doch etwas „Selbstverständliches" in dem Prinzip, so muß man erwarten, es in der langen Geschichte des Problems auch schon früher auftauchen zu sehen, soweit wenigstens die in der organischen Zweck­ mäßigkeit steckende Grundfrage überhaupt gesehen worden ist. Dazu ist in den Jahrhunderten nach Aristoteles freilich kein Spielraum, weil durch ihn die teleologische Vorentscheidung derartig dogmatisch festgelegt war, daß die Richtung der Ausschau gegen sie keine Freiheit mehr hatte. Wohl aber gibt es in der griechischen Frühzeit einen Denker, der in kühner Vor­ wegnähme das Prinzip der organischen Selektion erschaut hat. Derselbe Empedokles von Akragas, der die W elt aus dem Widerspiel zweier entgegengesetzter Kräfte, Liebe und Haß, entstehen ließ, lehrte auch über die Entstehung der Lebewesen etwas Neues, den Zeitgenosien und Nachfahren unerhört Scheinendes. Zugrunde liegt die Vorstellung eines ungeordneten Durcheinander von für sich nicht lebensfähigen Teilen, wobei sie sich in mannigfaltiger Weise kombinieren. Dann aber heißt es weiter»): „Wo nun alles so zusammentraf, als ob es um eines Zweckes willen ent­ standen wäre, das blieb erhalten, weil seine Zusammensetzung eine zweck­ mäßige w ar; was aber nicht in dieser Weise zusammentraf» das ging zu­ grunde und geht noch zugrunde . . . " *) Nach dem Bericht des Aristoteles, Phye. B, 198 b, 29 ff.

E s ist leicht, in diesen Worten das Selektionsprinzip wiederzuerkennen, obschon die Voraussetzung des Zustandes, in dem die Selektion einsetzen soll, eine äußerst primitive ist. Epikur hat mit besserem Erfolg dasselbe Prinzip auf den Ursprung der Menschengemeinschaft bezogen, und in dieser Beschränkung ist seine Anwendung bei Lukrez und Gassendi nach­ gezeichnet worden. Seine allgemeinere Bedeutung ist also früh verloren­ gegangen. Und das ist verständlich, denn es ist eben noch keineswegs die spezifisch organische Selektion. E s steht den Selektionsformen der dyna­ mischen Gefüge noch nah (der selectio primitiva); es fehlt noch der eigent­ liche Zug des Organisch-Lebendigen, man ist hier noch weit entfernt von den Bedingungen natürlicher Zuchtwahl der Variabilität, Erblichkeit, Überproduktion, am nächsten noch kommt der Gedanke dem Kampf ums Dasein. K lar erkannt dagegen ist die Zweckmäßigkeit (das hrn-nSetccs) als Voraussetzung der Vestandfähigkeit, sowie ihre „zufällige" Entstehung im glücklichen Zusammentreffen (ovpßalvetv), vor allem aber das Erhalten­ bleiben des Zweckmäßigen im allgemeinen Zugrundegehen des Unzweck­ mäßigen. W as Empedolles sah, ist in der T at nichts Geringeres als die grundsätzliche Möglichkeit der Entstehung von Zweckmäßigem aus dem Zwecklosen, und zwar ohne konstitutiven Zweck. Das letztere ist deutlich ausgesprochen in der frappierenden Vorwegnähme des Kantischen „Als ob", und zwar gerade in eindeutiger Beziehung auf den Schein eines verborgenen Zweckes. Das ist auch der Grund, warum Aristoteles diesen Gedanken so nachdrücklich bekämpft: wo eine solche Möglichkeit unwiderlegt bestehen blieb, war sein ganzes teleologisches System in den Grundfesten erschüttert. E s fehlt also nicht an alten Spuren des Selektionsgedankens. Der Gedanke fiel nur dem Gewicht feiner eigenen Kompliziertheit und Schwie­ rigkeit zum Opfer, man kann vielleicht auch sagen, seiner mangelnden Selbstverständlichkeit. Und dieses selbe Hemmnis ist es, das auch in unserer Zeit noch dem gedanklich ausgereiften Selektionsprinzip entgegensteht. E s muß, um das zu demonstrieren, hier noch auf einen weiteren Ein­ wand eingegangen werden. Er hängt, unkritisch immer wieder nach­ gesprochen wie eine apologetische Parole, am Wesen der Variation. M an meint: Selektion kann doch nur isolieren, was an Abweichungen vom Formtypus schon da ist; sie setzt also die Abartung, die sie erklären soll, schon voraus. D as ist so recht das Musterbeispiel eines salsch gezogenen Schluffes. Die bloße Variation des Typus ist weit entfernt, schon Ab­ artung zu sein; sie bringt auch von sich aus gar keine Abartung hervor, sie ist überhaupt bloß Streuung, in der der Durchschnitt sich erhält, solange durch die Amphimixis des Keimplasmas immer wieder der Ausgleich geschaffen wird. Erst wenn eine Variante bestimmter Richtung dauernd isoliert wird, d. h. an der Vermischung mit entgegengesetzten V arianten

gehindert wird, kann es zu einer Steigerung der Abweichung kommen. Erst dann eben verlagert stch das Häufigkeitsmaximum innerhalb der S treu­ ung und mit ihr der ganze Umfang der Streuung. Die Isolierung ist eben im Selektionsprozeß die Hauptsache und keines­ wegs etwas Beiläufiges. Sie könnte an sich wohl auch auf andere Weife erreicht werden, wie das ja tatsächlich in der bewußten Züchtung durch den Menschen geschieht. Aber in der N atur wird sie durch das radikalste M ittel, das Zugrundegehen des Andersgearteten erreicht. Deswegen ist der Kampf ums Dasein in diesem Zusammenhang ein kategoriales Wesensmoment von höchster Bedeutung. An dem Beispiel dieses Einwandes kann man so recht den gemein­ samen Typus fast aller Einwände sehen, die gegen das organische Selektionsprinzip vorgebracht worden sind. S ie leiden alle an derselben Halt­ losigkeit: sie machen den Fehler, daß sie einzelne kategoriale Momente herausgreifen — einmal die Variation, ein anderes M al den Kampf ums Dasein usf. — und dann mit leichter Mühe zeigen, daß daraus allein keine Abartung resultieren kann. E s fehlt dabei immer und überall die Fähigkeit, den ganzen Kreis der kategorialen Bedingungen zusammen­ zuhalten und zu überschauen. Die Adartung als Resultante ergibt sich aber erst, wenn die Bedingungen ihrer Möglichkeit alle beisammen find. E s ist kaum zu glauben, in wie stereotyper Weise dieser kategoriale Fehler immer wiederkehrt, und wieviel leeres Gerede von fetten vor­ eingenommener und oberflächlicher Gegner im Laufe der Zeit verwirrend und verschleiernd über den an stch durchsichtigen kategorialen B au des Selektionsprinzips ausgebreitet worden ist. Bon dem allen gilt es sich freizumachen, um der Sachlage im Abartungsproblem wieder gerecht werden zu können. Die ältere Wissenschaft hat die kleinen Abweichungen vom A rttypus für etwas ganz Unwesentliches und Jgnorierbares gehalten. Sie galten ih r als zufällige Unvollkommenheiten. So mutzten sie erscheinen, solange man die A rt als unter einem festen „Eidos" stehend ansah. D as eben w ar der Fehler. Die Variation mitsamt ihrer Erblichkeit ist etwas dem Artleben eminent Wesentliches. Nur auf kurze Sicht erscheint sie als blotzes Schwanken; auf weite Sicht ist sie die innere Wandlungsfähigkeit des Keimplasmas, und mittelbar die des Arttypus. Phylogenetisch gesehen sind die unmerklich kleinen Varianten nichts Geringeres als die Diffe­ renttale möglicher Umbildung der Art. Der Jntegrattonsfaktor aber, der sie summiert und ins Große wachsen läßt, ist die Selektton des am besten Angepaßten unter dem Zwang des Kampfes ums Dasein. E r bestättgt sich hier noch einmal, daß die Labilität des Anlagesystems etwas für den Lebensprozeß im Großen unbedingt Notwendiges, man darf auch sagen, etwas eminent Zweckmäßiges, ist. Absolut artfeste Arten

können sich nicht mehr umbilden, sich also auch nötigenfalls nicht neu anpassen. S o gesehen stellt sich die V ariabilität selbst als eine Anpassung des Stammeslebens an die Veränderlichkeit der Lebensbedingungen dar. Und es ist auch sehr wohl selektiv zu verstehen, daß die im Kampf um ihre Existenz überlebenden Arten eben diejenigen sind, in denen sich die Beweglichkeit des Keimplasmas erhallen hat. f. Sekundäre Formen der Selektion. Der Grund der Höberbildung M it dem Prinzip der natürlichen Zuchtwahl läßt sich ohne Zweifel viel erklären, aber durchaus nicht alles, w as die phylogenetische Form­ bildung hervortreibt. Sein Hauptvorzug vor anderen Erklärungsweisen ist, daß es nicht auf aktiv funktionierende Organe beschränkt ist, sondern sich auf schlechthin alle Eigenschaften erstreckt, die nur irgend lebens­ relevant find. So erklären sich z. SB. ohne weiteres die Schutzfarben und mannigfache Schutzzeichnungen der Tiere, desgleichen die wunderbaren Erscheinungen der Mimikry, die sonst für besonders starke Beweise orga­ nischer Zwecktätigkeit gelten müßten. Aber es gibt Dinge, die sich so nicht erklären lasten, weil in ihnen kein Lebensvorteil liegt. Dcchin gehören im Tierreich die sekundären Geschlechts­ merkmale, zumal die der Männchen: die bunten Eefiederfarben der Singoogelmännchen, das leuchtende Kleid vieler Schmetterlinge und manches Ähnliche. Hier setzt ein anderes Selektionsprinzip ein, das der geschlecht­ lichen Zuchtwahl. Die Auslese geschieht dabei nicht durch den Daseins­ kampf, sondern durch die in Minderzahl stehenden Weibchen. Wenn etwa bei jedem Weibchen nur ein Männchen zur Begattung kommt, so werden die übrigen Männchen von der Nachzucht ausgeschlosten. Hier wirkt offen­ bar ein sexueller Instinkt der Weibchen, der wie die Erfahrung lehrt, qualitativ sehr differenziert sein kann. Im Matze der Konsequenz, mit der dieser Instinkt bestimmte an sich nicht lebenswichtige Eigenschaften bevorzugt, müssen diese sich allmählich ebenso steigern, wie wenn sie im Kampf ums Dasein zweckmäßig wären. Sie find aber nicht im Kampf ums Dasein, sondern nur im Kampf um die Nachzucht zweckmäßig. Dementsprechend betrifft die geschlechtliche Zucht­ wahl auch nur sekundäre Eigenschaften, meist rein äußerliche. Sie bildet der Sache nach eine A rt Zwischenglied zwischen der bewußten Zuchtwahl des Menschen und der allgemein wirksamen „natürlichen" Zuchtwahl. D as seligterende Prinzip ist hier weder Vernunft noch die brutale Gewalt der Konkurrenz, sondern eine eigenartige Lebensäußerung der Weibchen, eine spezifische Reaktion auf spezifische Reize. M an hat diese Reaktivität viel­ fach dem ästhetischen Geschmack verglichen — wie ja der gleiche geschlecht­ liche Auswahlinstinkt auch dem Menschen eigen ist, und zwar in beiden Geschlechtern —, aber der Vergleich ist mit Vorsicht zu nehmen.

M it der elementaren Wucht der natürlichen Zuchtwahl hält die ge­ schlechtliche den Vergleich nicht aus. Sie kann ja auch nur bei hoch­ ausgeprägter Differenzierung der Geschlechter eine Rolle spielen. Solche Differenzierung ist aber selbst schon ein phylogenetisch spätes Produkt. Sie ist übrigens nicht die einzige A rt sekundärer Zuchtwahl. Im Pflanzen­ reich hat sie z. B. eine Analogie in der Farbenpracht der Insektenblütler, nur daß hier nicht der Eeschlechtspartner seligierend wirkt, sondern das den Pollen übertragende Insekt. — Allen Formen der Selektion gemeinsam ist die Richtung auf neue Mannigfaltigkeit, also die Umbildung auf höhere Differenzierung zu. Denn alle Ausbildung neuer Form, Funktion, Fähigkeit, ja selbst Färbung, ergibt neue Komplexheit der Organisation, d. h. Höherbildung, Aufstieg. Unter dem Druck der Konkurrenz im Kampf ums Dasein wird die Amphimixis selbst aus einem nivellierenden Moment zu einem variations­ steigernden. Aber sie hört damit nicht aus, Regulation des Stam mes­ lebens zu sein. Vielmehr die Transformation des Arttypus ist ihrerseits als eine Selbstregulation des Artlebens, d. h. des „lebenden Individuum s höherer Ordnung" aufzufassen. Sie ist nur nicht mehr eine solche des gegebenen Arttypus, sondern Regulation des Eesamtlebensprozesses. I n diesem Prozeß bildet der jeweilige Arttypus nur eine phylogenetisch vor­ übergehende Erscheinung. Es ist eben unmöglich, daß der Typus einer A rt sich unter gewandelten Seinsverhältnissen unverändert erhalte. Die Selbstumbildung der A rt ist also nicht Preisgabe der Erhaltung, sondern gerade die höhere Form der Erhaltung des Lebens. M an kann auch sagen, sie ist die höhere Form der Konsistenz (Kap. 24 b, 49 d). So entspricht es der Reihe von unten auf: der organisierte Stoff kann sich nicht erhalten, also muß das Individuum ihn reproduzieren, dieses erhält sich, indem der Stoff wechselt; das Individuum kann sich nicht erhalten, also muß es selbst reproduziert werden, und die Art erhält sich, indem die Individuen wechseln. Ebenso aber kann auch die Art sich nicht dem Typus nach dauernd erhalten; und da sie sich nicht reproduzieren kann, muß sie sich auf selektivem Wege um­ bilden. Das Resultat ist, daß die Arttypen wechseln, indem das Stammes­ leben sich erhält. — W arum aber ist die Richtung der Umbildung, im ganzen gesehen, eine solche des Aufstieges, der Höherbildung? Die Frage wurde schon oben gestellt, ist aber erst auf Grund der Selektionskategorie beantwort­ bar. Die Antwort nämlich muß beim seligierenden Prinzip liegen, also beim Kampf ums Dasein. W arum asso gibt der letztere der höheren Organisation in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle einen Lebensvorzug vor der niederen? Das ist jetzt leicht zu sagen: darum, weil die höhere Organisation in der Regel auch die höhere Leistungsfähigkeit

und Widerstandskraft aufbringt, ja überhaupt die größere Fülle der Mög­ lichkeiten eröffnet, der Bedrohung des Lebens zu begegnen. Der höhere Form- und Funktionstypus ist in der Konkurrenz des Daseinskampfes der zweckmäßigere. Dieses sich klarzumachen, ist wichtig. Denn an sich könnte ein selektives Prinzip natürlich auch der einfacheren Form den Vorzug geben und die Umbildung der A rt „abwärts" lenken. Aber so ist es in der lebendigen Statur gemeinhin nicht. Den Vorzug im Leben hat das leistungsfähigere Individuum, soweit wenigstens nur irgend an der Leistung (einerlei welches Gliedes oder Organs) eine Überlegenheit in der Konkurrenz der Artgenossen hängt. Dafür liegt die Probe aufs Exempel bei den immerhin zahlreichen Fällen von RücSildung. Denn freilich gibt es solche. Aber sie bestätigen gerade den gesetzlichen Zusammenhang zwischen Kampf ums Dasein und Höherbildung, denn in diesen Fällen handelt es sich um weit­ gehende Aufhebung des Kampfes ums Dasein. D as ist es, was uns überzeugend die Parafitenforschung gelehrt hat. F ü r die Schmarotzerkrebse find die hochausgebildeten Bewegungsorgane und das Hautskelett nicht mehr zweckmäßig, weil sie ihre Nahrung im Leibe ihrer „W irte" fertig vorfinden. Die Rückbildung erfolgt, weil aus­ nahmsweise die niedere Organisation die beffer angepaßte ist.

g. Selektion und Anlagedetermination

Und nun ist es mit der Selektion wie mit der Abartung, deren Grund­ lage sie ist: erst durch die im allgemeinen vorwiegende Aufwärtsrichtung erhält sie ihre große Bedeutung, und erst dadurch wird das Prinzip der Selektion zu einem Prinzip der Morphogenese. Denn alle Formbildung ist Aufstieg von niederer zu höhererer Geformtheit. Der Aufstieg ist bei der Phylogenese von viel größerer Bedeutung als bei der Ontogenese oder gar bei der Assimilation. Die letzteren beiden sind ja bloß reproduktive Morphogenese, die Phylogenese dagegen ist reine, ursprüngliche Produktion, ohne vorgegebenen Formtypus. Der Neu­ vitalism us (Driesch), der den Begriff der Formbildung mit Recht ganz ins Zentrum der biologischen Probleme rückte, hat nichtsdestoweniger diese Tatsache völlig ignoriert. Er schloß gleichsam die Augen vor dem Hauptproblem, um bei den sekundären Arten des morphogenetifchen Prozesses stehen zu bleiben. Solche Bescheidung ist gerechtfertigt, wenn die Problemlage noch ungeklärt oder rückständig ist, nicht aber, wenn die Dis­ kussion der einschlägigen Kategorien schon in vollem Gange ist, und von der Wissenschaft eine Klärung der Hypothesen und Schlüsse erwartet werden kann, die ohnehin weitere Kreise beschäftigen.

E s wurde schon oben gezeigt, wie das Selektionsprinzip von seinen Gegnern viel zu früh beiseitegerückt worden ist. I n W ahrheit galt die Ablehnung ja auch gar nicht ihm selbst, sondern nur gewissen, vorschnellen Konsequenzen. M an gab sich damals nicht Rechenschaft» daß man nichts an seine Stelle zu setzen hatte. Denn an dem Problem selbst konnte man mit der vorschnellen Ablehnung nichts ändern. D as Problem aber läuft darauf hinaus, daß die phylogenetische Formbildung der ontogenetischen auf irgendeine Weise schon zugrunde liegen muh. S ie ist ja die ursprüng­ liche Formproduktion, während die letztere bloß Reproduktion des Produ­ zierten ist. D afür ist ja auch der dem „biogenetischen Grundgesetz" zugrunde liegende Phänomenbestand, selbst wenn man ihn sehr bescheiden faßt, eine klare Bestätigung. R un beruht die Ontogenese auf der Wirkung des Anlagesystems. Die Herkunft des Anlagesystems aber ist ihrerseits der dunkle Punkt in der Ontogenese. Offenbar nämlich ist seine Entstehung um nichts leichter zu begreifen als die der expliziten Artform selbst: I n diesem Sinne ist alle Erklärung des Vorganges durch die „Anlagen" eine bloße Verschiebung des eigentlichen Problems. Die Selektionskategorie aber gestattet auch hier wenigstens einen Durchblick. Das Anlagesystem hat ja selbst den ganzen Weg der Phylo­ genese hinter sich. Und es mutz notwendig auf diesem Wege genau ebenso entstanden sein wie die somatische Form, die es ontogenetisch determiniert. D as Keimplasma, das ja kontinuierlich fortlebt, wird eben zugleich mit dem sichtbaren Formtypus gezüchtet, und zwar nicht in einem zweiten Selektionsprozeß, sondern in demselben,' wie denn überhaupt nur solche Eigenschaften des Organismus erblich weitergegeben werden und sich durch Selektion steigern können, die von vornherein schon in den Varianten des Keimpläsmas wurzeln. M it der Auslese der Individuen wird aber jederzeit auch zugleich das Keimplasma ausgelesen. D as kann man nun auch so ausdrücken: das Keimplasma mitsamt seiner determinierenden Funktion mutz selbst als eine von den zweck­ mäßigen Einrichtungen im Leben der A rt verstanden werden, die hohen Selektionswert haben und auf die in erster Linie der Züchtungsprozeß sich richtet. Denn ohne die höchste Steigerung der Reproduktionsfunktion ist offenbar die Erhaltung des Lebens nicht möglich. So steht der Aufstieg kleinen S tils mit dem Aufstieg großen S tils in Wechselbedingtheit; und der Lebensprozeß als Höherbildung der Form wird erst durch dieses Ineinandergreifen prim ärer und sekundärer Formbildung möglich. Hier find zwei Ordnungen der Morphogenese einander überlagert und aufeinander bezogen, entsprechend den beiden Ordnungen des Lebendigen, die in ihnen entstehen, dem Individuum und der Art. Das H a r t m a u n , Philosophie der Natur

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Prinzip der individuellen Formbildung ist die Determination vom Anlage­ system her, das der Artbildung ist die Selektion unter dem Druck des Kampfes ums Dasein. Diese beiden Prinzipien find einander sehr ungleich. Die Selektion — soweit eben ihre Wirkung reichen mag — ist grundsätzlich verständlich, die Änlagewirkung dagegen ist es keineswegs. Einsehen aber läßt sich, daß die Entstehung der letzteren bereits Selektion voraussetzt. Diese Entstehung mutz beim ersten Austreten vielzelliger Organismen gesucht werden. E s konnten sich da offenbar nur solche Artformen halten, die eine Keimanlage herausbildeten, welche die Wiederbildung von Individuen zu deter­ minieren vermochte. Bei jeder später hinzukommenden Differenzierung des Organismus muß dann wiederum nur diejenige Form erhaltungsfähig gewesen sein, die zugleich die entsprechende Differenzierung des Keim­ plasm as herausbildete. Und so muß die Ontogenese der höheren Orga­ nismen, die immer verwickelter werdende Determinationsfunktion, sich phylogenetisch schrittweise durch Selektion herausgebildet haben. M an verstehe das recht. E s handelt sich nicht um Rückführung aller Formentstehung auf Selektion, sondern nur darum, daß wenigstens nicht ohne sie ein Werdegang des Zweckmäßigen möglich ist. Im übrigen ist pe durchaus nur eine von den hier zugrunde liegenden Kategorien. Soweit aber, wie w ir hindurchschauen können, kommt ihr eine zentrale Stellung zu. Dafür ist es charakteristisch, daß sie auch der Anlagedetermination nicht einfach nebengeordnet, sondern übergeordnet dasteht. D as steht zunächst unmöglich aus, denn Selektion setzt Vererbung doch schon voraus, muß also auf die Determination vom Anlagesyftem her schon angewiesen sein; denn ohne diese vererbt fich bei höheren Lebensformen nichts. Aber bei näherem Zusehen stellt fich die Sachlage doch anders dar. E s gibt ja auch Übertragung der Eigenschaften ohne Ab­ sonderung von Keimzellen, nämlich in dem weiten Reiche der Protozoen und Protophyten. Hier geht die Tochterzelle noch unmittelbar aus der Mutterzelle hervor, durch Teilung; und selbst an der Kopulation sind noch die ganzen Individuen beteiligt. Und doch ist auch hier überall schon die natürliche Selektion Beteiligt, was ja auch bereits aus den gewaltigen Vermehrungsziffern bedrohter A rten hervorgeht. Die ganze Aufteilung des Organismus in Soma und Keimzellen, mit ihr also auch das Determinationsveryälinis zwischen beiden, kann auf diese Weise sehr wohl als ein Produkt von Selektionsprozesten verstanden werden. M an kann von hier aus noch weiter „abwärts" vordringen, freilich nur hypothetisch. Denn auch die Einzelligen sind zum Teil recht komplexe Gebilde. Wie aber die einfacheren Anfänge des Lebens ausgesehen haben mögen, ist nicht mit Sicherheit zu erschließen. Vielleicht sind bei ihnen Assimilation und Reproduktion noch ungeschiedene Prozesse gewesen. Aber

auch hier werden sich stets nur die am besten angepaßten Formen a ls A rt haben erhalten können. Und auch die Entstehung der Zellenform dürste, von ihnen au s gesehen, ein Selektionsprodukt fein. Wie aber dem auch fei, solchen Anfängen gegenüber ist die Artenbildung der Vielzelligen nur eine relativ späte Fortsetzung. Der Determination durch Keimzellen bedürfen aber nur die Vielzelligen. Also ist es nicht nur möglich, sondern auch ganz unzweifelhaft notwendig, daß diese A rt der Determination stch phylogenetisch erst von einer relativ hohen Stufe der Einzelligen aus durch Selektionsprozeffe herausgebildet hat. E s ergibt sich so das merkSürdige Bild, daß die natürliche Selektion auf den niede­ ren Stufen des Lebens die Bedingungen erst schafft, deren sie auf den höheren bedarf. Und auch das ist nicht mehr, a ls sie schaffen kann, denn fie hat dazu sowohl den Spielraum als auch die Macht. Der Spielraum ist durch Zeitperioden von geologischen Ausmaßen gegeben, die Macht aber liegt in der Überproduktion der Individuen und in der Härte des Kampfes ums Dasein.

59. Kapitel. Die Mutation a. Grenzen der selektiven Erklärung

Selektion erklärt nur grundsätzlich, wie überhaupt Zweckmäßiges von hoher Organisation aus dem Zwecklosen entstehen kann. Aber gesetzt auch, es gäbe keine lebende Art, an der sie nicht wesentlich mitgeformt hätte und die ihr nicht dauernd unterläge — von den primitivsten unterhalb der Zelle bis zu den höchsten —, so folgt daraus doch nicht, daß man deren Entstehung auf fie allein zurückführen könnte. I n dieser Richtung ist die Kritik, die am Darwinismus geübt worden ist, zum Teil sogar die von vitalistischer Seite kommende, auf der ganzen Linie lehrreich. M an darf nur auch fie nicht in ihren Übertreibungen und Entgleisungen nehmen, und am wenigsten in ihren vorschnellen theoretischen Konsequenzen, sondern nur in ihren wertvollen Hinweisen auf unberückfichtigte Schwierig­ keiten und übersehene Phänomengruppen. Fragwürdig in dieser Kritik ist z. B. alles, was die grundsätzliche Scheu vor dem „Zufälligen" zum Motiv hat. Da liegt überall mangelndes Ver­ ständnis für das kategoriale Verhältnis dieser A rt Zufälligkeit zur Realnotwendigkeit zugrunde — ein weit verbreiteter Fehler, dessen Wurzel anderweitig aufgedeckt worden ist (vgl. M. u. W., Kap. l b , c; 25 d, e; 52 e). Festzuhalten ist jedenfalls, daß es sich hier stets nur um das Finalzufällige handelt, nicht um das überhaupt Realzufällige, am

wenigsten aber um das Kausalzufällige. Ebenso fragwürdig ist alles Argumentieren, das unter Ignorierung der spezifisch organologischen Kategorien dem Selektionsprinzip ein „mechanistisches" Bild zugrunde legt und nun apologetisch gegen dieses wie gegen ein Schreckbild der Wissenschaft vorgeht. Organische Selektion ist eine weit höhere, durchaus unmechanistische Kategorie, die ihrerseits schon sehr hoch differenzierte spezifisch organische Funktionen voraussetzt. Diese find oben aufgezählt worden (Kap. 58 c) und dürfen natürlich nicht ignoriert werden^ Von größerer prinzipieller Bedeutung ist ein anderer Einwand. E r betrifft das Wesen der Variationen. E s gibt nämlich eine A rt Streuung der Form, und besonders der Größenverhältnifie, die nachweisbar nicht erblich, sondern nur durch äußere Bedingungen des Wachstums (Ernäh­ rung) im Leben des Individuum s hervorgerufen ist. Bekannt wurde diese Tatsache durch Versuche an gewissen Bohnensamen. Die Gegner der Selektion waren daraufhin schnell bereit, hierin den Beweis zu sehen, daß individuelle Varianten einer lebenden Artform überhaupt nicht erblich seien, also für natürliche Auslese nicht in Frage kämen. Die ZüchtungsPhänomene, von denen einst Darwin ausgegangen war, deutete man nun anders: es mußten in jeder für einheitlich gehaltenen „A rt" mehrere quafttativ verschiedene „reine Linien" (erblicher Form) stecken, und diese ließen fich durch Züchtung in genäherter Reinkultur darstellen. Die Züchtung selbst bringt dann offenbar nichts Neues hervor. Dabei übersah man frei­ lich, daß solche Versuche ja nicht erweisen konnten, ob wirklich alle V ariation von dieser „fluktuierenden" A rt sei, d. h. auf somatischen Ein­ flüssen beruhen müsse, wie es offenbar bei der schwankenden Größe von Samenkörnern der F all ist. Experimente können hier nur zeigen, daß es auch nicht-erbliche Abweichungen der Form gibt, nicht aber daß es über­ haupt keine erblichen gibt. Im m erhin lehrten fie, daß man mit dem Variationsbegriff einige Vorsicht walten lassen müsse, und daß man zwischen echter, keimbedingter Formabwandlung (Jdiovariation) und einer bloß äußeren, phänotypischen streng zu scheiden habe. Sehr ernst zu nehmen find dagegen alle Einwände, welche die Grenzen der E rllärung von Formentstehung durch Selektionsprozesse betreffen. E s wurde schon oben auf die Unmöglichkeit hingewiesen, alle organischen Phänomene selektiv zu erklären, insonderheit wenn man das Selektions­ prinzip isoliert und nichts anderes mehr neben ihm gelten lassen will, so wie es ja tatsächlich die ältere Darwinistische Schule versucht hat. Zw ar dürfte es schwer halten, die Grenze hier überall richtig zu ziehen, und wahrscheinlich haben ebenso die Kritiker wie die Verfechter des Selektions­ prinzips sie verfehlt. Aber ohne Zweifel muß fie irgendwo gezogen werden; und wenn man ihre Linie auch nicht genau angeben kann, so muß man fie doch grundsätzlich voraussetzen.

S o machen einzelne Umbildungen von Organen, Gestalt, Gliedern, Färbung usw. der selektiven Erklärung keine Schwierigkeiten. Aber fraglich wird es schon, ob es Selektion der Individuen auf mehrere oder gar sehr viele Teile zugleich hin gibt; es müßte doch die Auslese auf den einen Vorzug hin die auf den anderen hin stören. Es find ja doch dieselben Individuen, die zugleich auf verschiedene Gefichtspunkte hin ausgelesen werden müssen. Zwar darf man hier mit sehr langen Zeiträumen rechnen; aber bei vielseitigen Umbildungen, z. B. der gewisser S aurier in Vögel, ist dann nicht einzusehen, wie die unvollständig umgebildeten Zwischen­ stufen lebensfähig gewesen sein sollten. Dasselbe gilt natürlich von zahl­ reichen anderen Übergängen, zumal solchen wie beim Hervorgehen der vielzelligen Organismen au s den einzelligen, das stch ja wahrscheinlich in mancherlei verschiedenen Arten parallel vollzogen hat. Aber auch abgesehen davon ist es fraglich, ob kompliziert funktio­ nierende Organe der höheren Tiere — wie das Auge der Wirbeltiere, die spezifisch sezernierenden Drüsen mit ihren subtil wirkenden Sekreten, die Entstehung der Ganglien und der ganzen ineinandergreifenden Nerven­ systeme — sich selektiv erklären lassen. (Es ist zwar leicht zu sehen, daß gerade auch bei solchen Organen vieles auf Selektionsprozesse hinweist, aber es bleibt deswegen doch durchaus wahr, daß die aufs feinste aufein­ ander abgestimmten Teile solcher Organe und Einrichtungen, die erst im Zusammenwirken zweckmäßig sind, nicht einzeln nacheinander in lang­ währenden Züchtungsprozessen entstanden sein können. E s läßt sich noch sehr vieles weitere anführen, was an diesen Ein­ wänden stichhaltig bleibt, auch wenn man geflissentlich alles beiseite läßt, was in der Schlußweise fragwürdig oder unsicher ist. W as aber folgt daraus? Eine Widerlegung des Selektionsgedankens folgt schwerlich. M an bleibt zuletzt ja doch wieder auf ihn als einzige einigermaßen trag­ fähige Auskunft angewiesen. Wohl aber folgt, was schon oben immer wieder einsichtig wurde: daß die Selektion nicht die einzige Kategorie sein kann, die bei diesen großen llmbildungs- und Hinaufbildungsprozessen im Spiele ist. M an muß viel­ mehr nach weiteren Kategorien suchen, um die große Lücke unseres Wissens, die sich hinter dem Phänomen der organischen Zweckmäßigkeit birgt, auszufüllen.

b. Bedingungen der M utation und Mutationsverioden

Hier setzt nun der Mutationsgedanke von de Vries ein. E r stellt an sich noch keineswegs ein kategoriäles Prinzip dar, könnte aber sehr wohl den Weg zu einem solchen weisen. E r besagt, was anzunehmen ohnehin

naheliegt, daß noch besondere, plötzlich einsetzende Änderungen der A rt­ form auf Grund entsprechender selbsttätiger Änderungen desKeimplasmas vorkommen; Änderungen also, die nicht au s unmerklichen Abweichungen langsam herausseligiert, sondern ein unmittelbares Umspringen im Auf­ bau des Anlagesystems sind. Daß es überhaupt neben der überall vorhandenen Streuung ein solches Umspringen gibt, dafür spricht außer den belegbaren Tatsachen der Stammesgeschichte, soweit w ir diese kennen, noch eine Reihe gewich­ tiger Gründe. 1. Das Keimplasma ist, wie alles Organische, von vornherein als ein labiles Gebilde aufzufasien, das sich selbst nicht ohne Regulationen bei seiner Eeformtheit erhalten kann. M an muß bei ihm stets mit einer gewissen Formbeweglichkeit rechnen. Die oben gebrachten Überlegungen haben gezeigt, daß es seine Regulation erst auf dem Umwege über die Selektion der Individuen findet. Wo aber überhaupt regulärerweise Abweichungen vom Typus vorkommen, da können unter besonderen Umständen auch einzelne Varianten weit vom Typus abirrend aus­ fallen. Is t eine solche Variante erblich — und das darf angenommen werden, da die Änderung von Hause eine solche des Keimplasmas ist —, so ist mit ihr die M utation da. 2. Es kann und muß auch physische Einflüsse geben, die das Keim­ plasm a direkt treffen. E s ist dabei gleichgültig, ob der Einfluß unmittelbar „von außen" kommt oder durch die somatischen Funktionen des Orga­ nism us vermittelt ist. Beides ist denkbar. F ü r das letzere kann man viel­ leicht in den Rückbildungserscheinungen einen Beleg erblicken; das erstere ist experimentell durch Einwirkung von Röntgenstrahlen auf Keimzellen nachgewiesen. Freilich ist in diesem Falle die Einwirkung mehr als eine bloß schädigende anzusehen. Aber da das Keimplasma lebende Substanz ist, so ist anzunehmen, daß der Schädigung auch irgendeine innere Reaktion entspricht. Und die kann einen durchaus positiven Charakter haben. Bei starker Veränderung der äußeren Lebensbedingungen können w ir also M utationen des Keimplasmas erwarten, und zwar nicht nur in ein­ zelnen Keimzellen eines Individuums, sondern als Gesamterscheinung an einer ganzen lebenden Art. 3. Das Wichtigste aber ist wohl, daß es auch ohne äußere Ursache die spontane Umbildung der „Eene" von innen heraus geben kann. D as Keimplasma kann durch seinen eigenen Lebensprozeß inneren Verände­ rungen unterliegen, oder kategorial ausgedrückt, es kann durch seine Eanzheitsdetermination den einzelnen Teil oder selbst ganze Gruppen von Teilen umgestalten. Über Vorgänge dieser A rt läßt sich näheres natürlich

nicht ausmachen, obgleich neuere Forschungen in die Anordnung und Auf­ reihung der Eene in den Chromosomen wenigstens einen ersten Schimmer von Licht gebracht haben. I n diesem Falle liegt es nah, an bestimmte innere Perioden zu denken, in denen derartige Umbildungen sich voll­ ziehen. Die Theorie spricht daher von „Mutationsperioden" der Arten, denen im sichtbaren Leben der Individuen die plötzlich einsetzende Ab­ artung oder auch eine Spaltung in Unterarten entspricht. Dieser Ge­ danke kommt der phylogenetischen Erscheinung solcher radikaler Ver­ änderungen entgegen, wie wir sie bei der Entstehung neuer Ordnungen von Lebewesen annehmen muffen, für die bloße Selektionsvorgänge offenbar nicht ausreichen. 4. Ein Anlaß der M utation kann schließlich auch in der Kreuzung vermutet werden. Diese funktioniert nur zwischen nahe verwandten Arten; aber auch da könnten die Unterschiede in der Struktur der Keimsubstanz doch schon groß genug sein, um bei der Befruchtung einen Gegensatz der Gene abzugeben, der sich in der Determination des Entwickelungsganges auswirkte. 5. Eine direkte Einwirkung des somatischen Lebens der Individuen auf das Anlagesystem gibt es im allgemeinen wohl nicht. Aber es ist doch die Frage, ob nicht nach längeren Perioden mit mannigfacher Umbil­ dung das vielfach veränderte Soma auch auf die Keimzellen eine Rück­ wirkung ausübt. I n dem Falle wäre auch hier ein Grund der M utation zu erblicken. Dieser ganze Mutationsbegriff ist dem heutigen Wissen gemäß unv llständig und in mancher Hinsicht hypothetisch. Daß ihm aber etwas Reelles int wirklichen Verhalten des Artenwandels entspricht, kann kaum be­ zweifelt werden. Wichtig ist dabei, daß es sich um einen Faktor der Ab­ änderung handelt, der unabhängig von Selektionsprozessen auftritt und überdies die umgekehrte Wirkungsweise hat, die eines ruckweisen Ein­ setzens. D as letztere ist das eigentlich Entscheidende. Denn auf diese Weise lassen sich gerade solche Wandlungsvorgänge verstehen, bei denen langsame Übergänge mit vielen Zwischenstadien nicht annehmbar find. Und deren gibt es nicht wenige. Unter den aufgezählten Gründen möglicher M utation ist der dritte deswegen von besonderer Tragweite, weil er der einzige ist, der eine selbst­ tätige Funktion der Anlageänderung voraussetzt. Von wirklich tote« gorialem Charakter ist eigentlich nur diese Form der M utation, obgleich sie mehr noch a ls die anderen für hypothetisch gelten muß. N ur sie ist ein spezifisch organischer Faktor. Daß man in ihr Geheimnis nicht näher hineinleuchten kann, will demgegenüber wenig besagen. Das gilt in gleichem Maße auch für andere organische Funktionen.

c. Gegenseitiges Verhältnis von Mutation und Selektion Wahrscheinlich gibt es der Gründe für das Einsetzen der M utationen noch manche mehr. Prinzipiell aber ist nicht das von Wichtigkeit, sondern lediglich ihre Wirkungsweise. An dieser indessen ist das Wesentliche, daß Umbildung der A rt durch M utation niemals für sich allein dasteht, son­ dern notwendig gleich bei ihrem Auftreten unter das Selektionsprinzip fällt. Auch das ist ein apriorischer Satz. E r widerspricht auch keineswegs der Selbständigkeit der Mutationen, d.h. der Unabhängigkeit ihres U r­ sprungs von Selektionsvorgängen. Änderungen des Anlagesystems können, wenn sie Selektionswert haben, gar nicht umhin, der Auslese zu unterliegen. Deswegen aber können sie ihrerseits sehr wohl unabhängig von ihr zustande kommen. Indessen, gerade weil Selektion und M utation verschiedenen U r­ sprungs find, liegt auf ihrem Zusammentreffen und Ineinandergreifen besonderes Gewicht. Denn von vornherein ist ja evident, daß nicht jede durch ein Umspringen im Anlagesystem bewirkte Änderung zweckmäßig, ja auch nur lebensfähig zu fein braucht. D as gilt unabhängig davon, ob das Umspringen selbst ein organisch spontanes oder ein seinerseits von außen her bewirktes ist. E s ist viel wahrscheinlicher, daß zahlreiche M u­ tationsprodukte zugrunde gehen, ja vielleicht gleich bei ihrem Auftreten wieder verschwinden, weil sie sich neben zweckmäßigeren Formen nicht halten können. Gibt es aber überhaupt zweckmäßige und unzweckmäßige M utationen nebeneinander, so müssen sie notwendig ebenso wie die kleinen Variationen unter die Einwirkung der natürlichen Selektion fallen; es können somit auch von ihnen nur die zweckmäßigen über­ leben. K at man sich dieses klargemacht, so ergibt sich als weitere Konsequenz, daß M utation und Selektion im Leben der Arten überhaupt eng zu­ sammengehören, und ohne einander kaum denkbar sind. E s wird dann auch wahrscheinlich, daß Mutationen viel häufiger auftreten dürften, als sie uns nachweisbar sind, daß aber die meisten a ls lebensunfähig sofort wieder ausgemerzt werden, während stets nur einige wenige übrig­ bleiben. D as dürfte insonderheit von den Frühstadien der Phylogenese gelten, vielleicht auch noch von heute lebenden Organismen niederster Stufe. Es ist möglich, daß der heutige Zustand der gesamten Lebewelt mit ihren hochgradig erbfest gewordenen Arten überhaupt ein S p ät­ stadium ist, von dem aus es schwer fällt, sich ein Bild früherer Epochen mit größerer M utabilität und Formbeweglichkeit zu machend M an möchte glauben, daß je weiter hinauf in die Verästelung des großen Stam m ­ baumes alles Lebendigen, die großen Umspränge immer seltener werden.

D as würde bedeuten, daß auch der Selektion in Bett Anfängen des Lebens ein viel breiterer Spielraum zur Verfügung stand, als wir uns das nach heutigen Verhältniffen vorstellen können. Denn Selektionsprozeste spielen stets nur so weit, wie die Beweglichkeit der Keimanlagen reicht. Dafür aber ist die Große und Häufigkeit der Mutationen, und vollends der ganzen Mutationsperioden» die ausschlaggebende Bedingung. Hierbei ist es weiter verständlich, daß auch zwischen Variation und M utation ein bestimmtes Verhältnis bestehen muß. Da beide in gleicher Weise, nur in sehr verschiedenem Ausmaße, der Selektion das M aterial darbieten, so liegt der Gedanke nah, daß fie im Grunde ein und das­ selbe Schwanken des Keimplasmas sein könnten, dieselbe Labilität der Eene in den Chromosomen. Dieser Gedanke läßt sich nicht ganz von der Hand weisen. Und dem entspricht die Tendenz namhafter Forscher, alle echte (d. h. erbliche) Variation als M utation zu verstehen und mit unter ihren Begriff zu fasten. Aber wie dem auch sei, als bloße Streuung läßt sich die M utation schwerlich auffasten. Und wenn es wahr ist, daß es periodisch auftretende einschneidende Abänderungen des Keimplasmas gibt, die nicht von außen verursacht, sondern spontan hervorgetrieben sind, so wird man den Unter­ schied von der V ariation wohl als einen tieferen verstehen müssen. Die Entscheidung hierüber kann beim Stande unseres heutigen Wissens nicht gefällt werden. F ü r die kategoriale Erwägung kommt es auf eine solche Entscheidung auch nicht so sehr an. F ü r Kategorien ist stets nicht so sehr ihre Selbständigkeit gegeneinander wie ihr Zusammenhang miteinander von Gewicht. Denn alle Isolierung ist ihrer Kohärenz gegenüber sekun­ där und besteht oft nur in der nachträglichen Begriffsbildung. D as gilt in ganz eminentem Sinne auch für das Verhältnis von M utation und Selektion. Die Wirkung aller natürlichen Auslese hängt am Umfang der Abweichungen, die im Keimplasma auftreten. Halten diese sich nach der Weise bloßer V ariation in den Grenzen enger Streuung, so ist die Wirkung der Auslese auf nähere Sicht ebenso eng­ begrenzt. Treten aber M utationen auf, die diese Grenzen durchbrechen und unvermittelt neuartige Bildungen darbieten, so ist damit offenbar eine ungeheure Erweiterung der Selektionswirkung gegeben. Und damit wächst dann auch die Aussicht, mit ihr tiefer in das große Rätsel der ursprünglichen Morphogenese einzudringen. S o kommt es, daß der Selektionsgedanke gerade vom M utations­ prinzip her, das sich zunächst gegen ihn zu richten schien, einen neuen und unerwartet starken Auftrieb gewonnen hat. I m übrigen aber muß man sich darüber klar sein, daß wir mit alledem noch durchaus am An­ fang des Eindringens stehen, und daß auch Selektion und M utation zu­ sammen noch keineswegs zureichen, die Rätsel der phylogenetischen

Formentstehung zu lösen. E s sind eben gerade nur die ersten Kate­ gorien, die im Ringen um deren Klärung herausgesprungen find. Und es ist schon viel, daß sich mit ihnen wenigstens grundsätzlich begreifen läßt, wie überhaupt Zweckmäßiges au s dem Zwecklosen entstehen kann. D as Problem der „besonderen Gesetze" Kants, die hinter der Zweckmäßigkeit stehen, hat damit eben erst sich zu lichten begonnen. Um es vollwertig zu beantworten, wird es ohne Zweifel noch der Entdeckung weiterer Kate­ gorien bedürfen. Aber eben Entdeckungen lassen sich nicht vorwegnehmen oder erraten. S ie lassen sich auch nicht willkürlich beschleunigen. Die Wissenschaft muß ihr Spruchreifwerden abwarten. Dazu find w ir im heutigen Stobium der Forschung auf gutem Wege. Gerade daß es auffallend still geworden ist um die Problemgruppe der Phylogenese, daß die biologischen Untersuchungen auf anderen, scheinbar ab­ liegenden Problemgebieten (wie z.B . dem der Vererbung) in regestem Fortschreiten begriffen sind und eine bewußte Scheu vor aller übereilten Anwendung ihrer Resultate auf andere Fragegruppen zeigen, ist das klare Symptom solchen Abwartens. R ur freilich sollte man darüber das bereits Gefundene und Geleistete nicht verkleinern und in Vergessenheit geraten lassen.

80. Kapitel. Ursprüngliche Formbildung a. Abstammung und Aufstieg der Formen

Biologisch angesehen ist die „Deszendenz" im ganzen nicht Abstieg, sondern Aufstieg. 2 n dieser Bedeutung bleibt das W ort irreführend. Seine andere Bedeutung, die „Abstammung", ist zutreffend, paßt aber nur auf die Hälfte des großen Gesamtphänomens. Bedenkt man, daß in dieser Abstammung sich fortgesetzt die Formbildung großen S tils vollzieht, und daß diese ohne jeden Entwickelungscharakter verläuft, ohne P r ä ­ formation und ohne Anlagesystem, daß sie also reine Epigenesis, d.h. eigentliche Neubildung ist, so erweist sich auch das Abstammen selbst als ein bloß dünner Faden, der die gewaltige Verästelung, die Umwege und Sackgassen, sowie den Reichtum der entstehenden und teilweise wieder aussterbenden Formen durchaus nicht faßt. M an Formen daß die könnten. letzteren

darf also in die bloße Genealogie der bestehenden organischen kein Übermaß an Bedeutsamkeit hineinlegen. E s ist niemals so, antezedenten Formen die Fülle der konsequenten „erklären" E s find immer nur gewisse Erundzüge der ersteren, die in den bestehen bleiben. Aber kein Lebewesen besteht aus lauter Grund-

ziigen. Von den Einzelligen z. V. haben die Säuger nur noch die Zellsunktionen als solche, die Assimilation, die Zellteilung u. a. m.; alles Weitere ist erst von späteren Zwischengliedern erworben worden. Aber gerade in diesem Weiteren liegt der eigentliche Aufstieg, die phylogenetische Formbildung. Qualitativ und strukturell als Formerbe gesehen, erstreckt sich das „Abstammen" stets bloß auf relativ allgemeine Grundlagen, sowohl den Form- a ls den Funktionselementen nach. Und zwar find diese um so allgemeiner und ärmer, je weiter der genetische Abstand ist. Freilich find ste auch entsprechend um so grundlegender. D araus ist zu folgern: die Abstammung als solche ist weit entfernt, ein Prinzip zu sein, aus dem heraus die Entstehung der Arten sich be­ greifen ließe. Nur das eine Moment läßt sich ihr entnehmen: warum gewisse Form- und Funktionselemente, einmal entstanden, durch die ganze weitere Phylogenese hin festgehalten werden. Aber man mache sich klar: gerade das Festhalten ist kein Umbilden, und wohl am wenigsten ein Höherbilden. W orauf es asso in der Phylogenese ankommt, ist nicht so sehr die Ab­ stammung (Deszendenz) a ls das Anderswerden, die Morphogenese der A rten; d. h. dasjenige, was nicht durch Erb- und Ahnengut von niederen Vorfahren her bestimmt ist, sondern epigenetisch neugeschaffen wird. Freilich fußt auch die Neuschöpfung auf jenem Ahnengut, auch auf dem primitiven aus präkambrifchen Zeiten, aber doch nur wie auf einer Vor­ bedingung. Die Abstammung bedeutet hier überall nur die Rückgebunden­ heit an das Fundamentalere und Primitivere. Und insofern ist denn auch dessen Festgehaltenwerden unerläßliche Bedingung des Ausstieges zum höheren Formtypus (Kap. 56 g). Aber der Aufstieg selbst beruht nicht auf ihr, sondern auf anderen Faktoren. Unter diesen anderen Faktoren, soweit wir ste kennen, hat sich die Selektion als der wichtigste herausgestellt, nicht freilich sie allein, sondern in Verbindung mit einer Reihe anderer Bedingungen, an denen sie selbst schon hängt. Von den letzteren durften die Variation und die M utation der Keimplasmaelemente kategorialen R ang beanspruchen. Von hier aus wird es erneut durchsichtig, wie sehr die zu enge Ver­ bindung von Deszendenz und Selektion, die oft bis zur Eleichsetzung ge­ trieben worden ist, sich im Irrtu m befindet. Deszendenz könnte es an sich auch sehr wohl mit anderer Richtungsbestimmung geben, mit absteigender oder schwankender Richtung. E s ist schwer vorzustellen, daß der Umbildungsprozeß dann noch selektiven Charakter haben könnte. Denn zur Selektion gehört nun einmal das W erleben der zweckmäßigeren Form, und das ist im allgemeinen die höher organisierte.

Selektion wiederum gibt es auch ohne alle Deszendenz. E s gibt sie in primitiver Form sogar außerhalb des Organischen, an den dynamischen Gefügen, die einander nicht wiederbilden und ihre Eigenschaften nicht vererben. Aber auch wenn man davon absieht und bei der rein orga­ nischen Selektion bleibt, so gibt es diese doch sehr wohl auch innerhalb des sich gleichbleibenden Artlebens als dessen qualitative Regulation (Kap. 53 d, e), ganz ohne daß deswegen die Mannigfaltigkeit der leben­ den Arten gemeinsame Vorfahren und einheitlichen Stammbaum zu haben brauchten. Schroff zugespitzt bedeutet das: die Selektion ist der Deszendenz grund­ sätzlich ebenso äußerlich wie die Deszendenz der Selektion. Daß aber beide trotzdem so eng miteinander verbunden sind, liegt an einem dritten Moment: daran, daß Selektion bei sich ändernden Lebensbedingungen zur Höherbildung tendiert. Kurz, es liegt am Aufstieg der Formen. Dieses kategoriale Moment ist zwar ein durch jene anderen bedingtes und inso­ fern abhängiges; aber'im Ganzen der Lebenserscheinungen macht es doch einen Grundzug aus. Denn es ist zugleich das Richtungsmoment aller Morphogenese. A ls solches waltet es schon in der Assimilation und in der Reproduktion der Individuen. Vollends ausschlaggebend aber wird es in der ursprünglichen, reinen Formbildung, der Phylogenese.

b. D ie sog. „Urzeugung" und die fortgesetzt erstmalige Morphogenese

Die ungeheuren Hoffnungen, die man seinerzeit auf die „alles erklä­ rende" Macht des Deszendenzprinzips setzte, haben sich als trügerisch erwiesen. Die Deszendenz erklärt nur die weitgehende Verwandtschaft der Arten, also das Gleiche, genauer das relativ Identische in der M annig­ faltigkeit. D as Selektionsprinzip dagegen hat, wenn es auch überspannte Erwartungen enttäuschen muß, doch mehr gehalten, als es zunächst ver­ sprach. Denn es wirft wenigstens einen ersten Schimmer von Licht auf die große Linie der Differenzierung als solcher. Und damit reicht es immerhin an das Hauptproblem der ursprünglichen Formentstehung heran. Worum es hier also wirllich geht, ist der Aufstieg des Lebens, seine Geschichte als großer Formbildungsprozeß. Dabei aber liegt die Sache so, daß an diesem Aufstiege gerade von den Ursprüngen her nur wenig zu begreifen ist, alles irgendwie Wichtige und Entscheideiche in der suk­ zessiv abgestuften Neuformung liegt-also nicht in den Anfängen, sondern im Fortgänge des Prozesses und in seiner besonderen Art, sich abzu­ spielen. E s ist daher auch ganz abwegig, wie manche Theorien des Lebens getan haben, das Hauptgewicht auf die sog. „Urzeugung" zu verlegen.

M it diesem heute kaum mehr verständlichen W ort meinte man das erste Auftauchen des Lebens auf der Erde, also den Übergang vom Anorga­ nischen zum Organischen. D as W ort w ar auch von vornherein falsch ge­ wählt, denn gerade um Zeugung kann es sich hierbei gar nicht handeln. Zeugen kann nur ein schon bestehendes organisches Wesen, hier aber soll ja keines vorbestehen. Im übrigen besteht das Problem, das man meinte, durchaus zu Recht. Aber von seiner Lösbarkeit sind w ir doch um vieles weiter entfernt als vom Begreifen des ganzen nachfolgenden Aufstieges. I m ausgehenden 19. Jahrhundert hat man das Gewicht dieses P ro ­ blems indessen doch erheblich überschätzt, verführt vielleicht durch meta­ physische Aussichten, die man sich machte. M an meinte, wenn man die erste Entstehung von Lebewesen überhaupt begriffen hätte, so wäre damit grundsätzlich auch alles weitere Entstehen der Arten begreiflich gemacht, ja sogar das Rätsel der Lebendigkeit selbst so gut wie gelöst. Ganz das Gegenteil ist der Fall. „Urzeugung" als einmaliger Anfang der Phylogenese erklärt noch sehr wenig. Im Verlaufe des weiteren Auf­ stieges der Formen gibt es fortgesetzt Neubildungen von ebenso großer Schrittweite. E s handelt sich hier ja um eine einzige lange Reihe solcher Neubildungen aus niederen Formen, wobei die letzteren das Entstehen der höheren ebensowenig erklären, wie komplexe Molekularverbindungen das lebende P lasm a des ersten Organism us zu erklären vermögen. M an müßte also vielmehr sagen: der Aufstieg der Formen ist eine lange Reihe ebensolcher „Urzeugungen", denn auf jeder Stufe kehrt das erstmalige Zustandekommen neuer organischer Form wieder, die von dem, w oraus sie entsteht, nicht bestritten werden kann. Es ist damit ähnlich wie mit dem alten Problem des Anfanges der Bewegung: in Wirklich­ keit ist es dasselbe Problem wie das der Bewegungsänderung, denn alle Bewegung und Ruhe ist relativ. E s ist also ein viel allgemeineres Problem ; und tatsächlich gibt es bei fortgesetzter Beschleunigung auch den fortgesetzten Anfang der Bewegung. 2n diesem selben Sinne gibt es in der Phylogenese auch die fortgesetzte „erstmalige Formbildung". Der ganze langatmige, auf vielen divergierenden Geleisen ablaufende Prozeß ist die sich immer weiter fortsetzende und sich differenzierende „ursprüng­ liche Morphogenese". c. Anfänge und Fortgang der Formenmannigfaltigkeit

I n diesem Sinne ist der Anfang der Reihe kein eigentliches Sonderproklem neben den vielen übrigen Problemen der Phylogenese. Er bildet höchstens ein Grenzproblem, an das man mit sehr ausgedehnten Extra­ polationen schließlich gerade noch herankommt.

I n s Positive gewandt, bedeutet das aber, daß auch auf den Anfang bereits dasselbe Prinzip anwendbar ist, das überall in der Entstehung der Artenmannigsaltigkeit mit im Spiele ist: der Selektion. Es handelt sich eben doch um die erstmalige Entstehung eines assimilierenden Ge­ bildes. Da nun die Assimilation des Stoffes die primäre zweckmäßige Form der Erhaltung ist, also von allerhöchstem und gleichsam elemen­ tarem Selektionswert sein muß, so ist schon hier die Vorbedingung mög­ licher Selektionsprozesse gegeben. D as bedeutet, daß die ersten assimilie­ renden Wesen, wie immer sie sich zusammengefunden haben mögen, von Anfang an unter das Prinzip der Auslese des Zweckmäßigen fallen müssen. Konkreter gesprochen: setzt man etwa voraus, daß solche organische llrwesen in größerer Zahl entstanden wären — was plausibel ist, da die physischen Bedingungen dafür schwerlich bloß an einem Punkte bestanden haben —, so müßten von allen verschiedenen Bildungen notwendig die­ jenigen erhalten bleiben, die der eigenen Form genügend Stoff anzu­ gleichen imstande waren, um einen Stoffwechsel in Gang zu halten; und die übrigen mußten zugrunde gehen. Einer daneben austretenden Repro­ duktionsform w ird es hier noch gar nicht bedurft haben, da die Wieder­ bildung des Individuum s von der Angleichung des Stoffes noch nicht wesentlich verschieden sein konnte. Schon das einfache Auseinanderfallen der Gebilde im Anwachsen kann dafür genügt haben. Diese Überlegung ist zugleich unabhängig davon, wie im besonderen das Zustandekommen assimilierender Gefüge selbst zu denken ist. Darüber gibt es eine Reihe interessanter Hypothesen, aber auch durchaus nicht mehr als das. Hier waltet bis zur Stunde noch undurchdringliches Dunkel. Das kann ja auch nicht anders sein, denn hier geht es um den Zusammen­ hang zweier Seinsschichten, den Übergang von der einen zur anderen. An den anderen Schichtengrenzen finden wir ja auch dieselbe I r ra tio ­ nalität. Aber da ein erstes Entstehen doch in irgendeiner Weise statt­ gefunden haben muß, so darf man auch mit der Tatsache rechnen, und diese besteht ganz indifferent dagegen, „wie" der Vorgang zu den­ ken ist. K lar ist hierbei nur eines: sobald physische Gefüge sich bis zu dem Punkte erhoben, an dem die innere Selbstwiederbildung in Form der Stoffangleichung einsetzte, mußten sie eben damit unter einen neuen Bereich von Prinzipien fallen, die dann von dieser Höhengrenze ab alles weitere beherrschen. Diese neuen Prinzipien sind eben die Kategorien des Organischen, von denen hier einige aufgezählt und auf ihre Trag­ kraft hin untersucht worden find. S ie teilen mit dem Tatsachenbereich, für den sie stehen, den unaufhebbaren Einschlag des Irrationalen. Soviel aber ist doch deutlich zu erkennen, daß Selektionsprozesse schon in die

Anfänge des Lebens Hineinspielen. Denn Selektion ist, wie gezeigt wurde, ein allgemeineres Prinzip, das schon unterhalb des Organischen einsetzt. Sie hört an dieser Grenzscheide nur auf, die selbstverständliche selectio primitiva zu sein,die allen Gefügen gemeinsam ist. S ie wird zur organischen Selektion, sobald die Gebilde beginnen, sich in irgendeiner Weise zu repro­ duzieren. Denn damit setzt schon die erbliche Erhaltung der Eigenschaften ein; und bei gegebener Labilität (Streuung) ist dann nicht einzusehen, wie eine entsprechende Auslese des Zweckmäßigen ausbleiben sollte. D as aber ist grundsätzlich schon dasselbe, was in allem späteren Auf­ stieg der Formen von Stufe zu Stufe die treibende K raft der Höherbildung ausmacht. Denn auch hier überall bleibt die eigentlich erste Form­ neuerung im Dunkel; die Abweichung innerhalb des Keimplasmas bleibt Sache jener contingentia, deren Gesetzlichkeit und Notwendigkeit wir nicht fassen.

IV. Abschnitt

Organische Determination 81. Kapitel. Da» organische Gleichgewicht a. Labilität und Stabilität lebender Ganzheiten

Die vierte Gruppe der organologischen Kategorien bildet keinen ge­ schlossenen Zyklus, wie ihn die ersten drei wenigstens dem Problem­ gebiet nach, wennschon nicht der Vollständigkeit nach bilden. S ie liegt inhaltlich quer zu ihnen, hat es mit denselben Phänomenen zu tun, gcht aber mehr ins Grundlegende. Sie hat es mit lauter metaphysischen Restproblemen zu tun, d. h. mit solchen, die sich nicht bis zu Ende losen lasten. I n ihren Kategorien steigert sich daher der Einschlag des Unerkennbaren. Gerade darum aber stößt man mit diesen Kategorien erst auf die onto­ logischen Fundamente durch. Diese Kategorien find jetzt alle schon als Momente der vorausgegan­ genen Kategorien bekannt, konnten aber in deren Rahmen noch nicht voll zu ihrem Rechte kommen. Inhaltlich also bringen sie zunächst nichts Neues, müssen aber nun erst als Prinzipien herausgehoben werden. Der

gemeinsame Titel „organische Determination" will hier nur soviel be­ sagen, daß die besondere Form des Nexus spezifisch organischer Prozesse unter ihnen die zentrale Stelle einnimmt. Von organischem Gleichgewicht ist vollends schon viel die Rede ge­ wesen. Es ist das den Regulationsvorgängen zugrunde liegende und von ihnen aufrechterhaltene Verhältnis. Auf zwei Stufen fanden w ir das Gleichgewicht des Lebensprozesses wieder, am Individuum und am Gesamtleben der Art. Beidemal waren es ja zwei einander entgegen­ arbeitende Prozesse der niederen Stufe, die sich die Wage halten und dadurch ein Gleichgewicht auf der höheren herstellen. Der positive Prozeßfaktor ist in beiden Fällen wiederbildende Morphogenese, d.h. Repro­ duktion vorbestehender organischer Form. Im Gleichgewicht von Assi­ milation und Dissimilation wurzelt die Erhaltung des Individuums, im Gleichgewicht von Fortpflanzung und Tod der Individuen die Erhaltung des Lebens der Art. I n diesem Verhältnis sind zwar die Hauptfaktoren, die beiden Re­ produktionsprozesse selbst, in mehr als einer Hinsicht ungeklärt geblieben, entsprechend dem heutigen Stande unseres Wissens; aber das hindert nicht die generelle Einsicht, die das Reproduktionsgesetz aussprach: jede A rt der Selbstwiederbildung organischer Form ist zugleich Selbsterhal­ tung des Lebens der nächsthöheren Stufe (Kap. 51 g). Die Reproduktion stellt das durch den Selbstverbrauch gestörte Gleichgewicht wieder her. Dieses Gleichgewicht ist also von Hause aus, und zwar im Unterschied von den dynamischen Gleichgewichten, ein labiles; es pendelt sich nicht auto­ matisch aus, sondern muß durch besondere regulierende Funktionen aktiv aufrechterhalten werden. Der funktionale Reiz des Zerfallsprozesses spielt zwar deutlich greifbar die Rolle des auslösenden Momentes für das Ein­ setzen des erneuernden Aufbauprozesses; aber er kann diesen nicht einfach „bewirken" oder in Gang bringen. Das kann nur die besondere selbst­ tätige Reaktionsweise des Ganzen, im einen Falle also die des indivi­ duellen Organismus, im anderen die des Stammeslebens. Die Regulation des Gleichgewichts erfolgt also in beiden Fällen von der höheren Ganzheit des Lebens aus. Und erst auf dem Umwege über sie wird das von Hause aus labile organische Gleichgewicht in ein relativ stabiles umgewandelt. Schon in diesem ersten Punkte ist der fundamentale Unterschied des organischen Gleichgewichts vom dynamischen eindeutig greifbar. Aber es ist nicht der einzige Punkt. M it ihm beginnt erst das besondere Ver­ hältnis der sich überhöhenden organischen Gleichgewichte, wobei die auf jeder Stufe zurückbleibenden Momente unüberwundener Labilität zum konstituierenden Moment für die nächsthöhere Stufe werden.

b. Erhaltung und Umbildung. Das Durchbrechen der ursprünglichen Labilität Die Stufenfolge, die dem Reproduktionsgesetz zugrunde liegt, spielt offenbar auch dieselbe Rolle in der Überhöhung der organischen Gleich­ gewichte. Denn alle Erhaltung im Reiche des Organischen beruht auf dem Stabilbleiben von Gleichgewichten. I h r M ittel aber ist die Re­ produktion. Die Stufenfolge selbst geht indessen in diesem Verhältnis nu r bis zum Leben der A rt aufwärts, nicht darüber hinaus. Die A rt reproduziert sich ja nicht, nur die Individuen reproduzieren sich. Und solange sie das tun, braucht auch die A rt keine Reproduktion, denn eben damit „erhalten" ste ja die Art. Dagegen setzt im Leben der Art ein anderes Prinzip der Lebenserhaltung ein: dort, wo die A rt als einmal gewordener Typus sich nicht mehr halten kann, da kann sie sich selbst umbilden. Damit aber geht die lebenerhaltende Funktion von der Reproduktion auf die u r­ sprüngliche Formproduktton über. D as Resultat dieses Überganges ist die Mannigfaltigkeit der Arten und ihre Stammesgeschichte. Blickt man nun auf die weiteren Zusammenhänge hin, so liegt ein Hauptgrund dieser Erscheinung darin, daß der Lebensprozeh der A rt keine natürliche, von ihr selbst bestimmte Grenze hat. Es gibt keinen n atür­ lichen Artentod. E s gibt wohl die gewaltsame Ausrottung einer Art, es gibt auch ihr Aussterben bei ungünstig gewordenen Lebensbedingungen. Aber im Leben der A rt entspricht dem nur das Versagen der zweckmähigen Umbildung. Und dieses Versagen beruht dann weiter auf einem Mangel an selektionswertigen Mutattonen, also auf Verfestigung des Keim­ plasmas. Die letztere aber ist nichts anderes als zu hohe S tabilität. Hier wird das Gleichgewicht im Leben der A rt diesem selbst hinderlich. E s ist also wohl zu verstehen, daß es in eine andere A rt der Ausbalan­ cierung übergeht, in die der Abartung und Neuanpasiung. Und an diesem Punkte nun ist es mit Händen zu greifen, warum die organischen Gleichgewichte alle von Hause aus labil find: ihre S tabilität wäre Verfestigung und Unfähigkeit zur Umbildung, eine Zwangsjacke, die sich das Leben selbst angelegt hätte und aus der es nun nicht mehr heraus könnte. Die Konsequenz ist schlagend: die Labilität der organischen Gleich­ gewichte ist in hohem Grade zweckmäßig. Alle Beweglichkeit der Form und Funktion, alle schmiegsame Anpasiungsfähigkeit der A rt beruht auf ihr. Sie ist insofern überhaupt eine charakteristische Grundlage der höheren Seinsordnung im Unterschiede von der des Anorganischen. Darum kann der unumgänglich nötige Grad von S tabilität hier nicht auf direktem Wege, sondern nur durch besondere Ausgleichsfunktionen von innen her H a r t m a n n , Philosophie bei Natur

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zustande gebracht und aufrechterhalten werden. Daher denn auch die große Rolle der selbsttätigen Regulationen auf allen Stufen lebendiger Ganzheit. Diese Regulationen dürfen nicht automatisch werden, weil das unzweckmäßig wäre. S o haben die organischen Gefüge von unten auf den Vorzug, daß sie fich nicht so leicht in ihrer eigenen S tabilität verfangen und versteifen. Wie tief dieses kategoriale Moment greift, davon macht man fich viel­ leicht am besten ein Bild, wenn man sich vor Augen hält, daß Leben überhaupt — Lebendigkeit als solche — im wesentlichen Beweglichkeit, und zwar spontan einsetzende, nicht bewegte, sondern bewegende Beweg­ lichkeit ist. I m Leben der A rt erfährt die Labilität des Arttypus ihren Aus­ gleich durch den ständig nachregulierenden Selektionsvorgang. Aber eben dieser ist nur in den Grenzen gleichbleibender Lebensverhältnisse ein rein erhaltender. E r ist nicht fest an die einmal gewordene Artform gebunden, sondern an das dem Stammesleben Zweckmäßige. D as -Zweckmäßige aber liegt bei veränderten Lebensverhältnissen auch immer wieder in anderer Richtung. Die Instanz des Ausgleichs und der selbsttätigen Stabilerhal­ tung des Gleichgewichts erweist fich somit bei verlagerter Richtung de? Zweckmäßigen ohne weiteres als Instanz der Veränderung. Die ur­ sprüngliche Labilität des organischen Gefüges tritt wieder hervor; fie dringt durch die darübergelagerte, nur von ständiger Aktivität aufrecht­ erhaltene S tabilität hindurch und bildet nun die Grundlage ebenso aktiver Umbildung. D as Leben, im Ganzen genommen, ist eben nicht auf Erhaltung, sondern auf Neuformung eingerichtet. D as schöpferische Moment der Formbildung (der ursprünglichen Morphogenese) ordnet sich dem der Formbewahrung zuletzt doch wieder über. Das Leben erhält sich im Ganzen seiner Formenmannigfaltigkeit» indem es die einzelnen Formen auf die Dauer ebenso wieder fallen läßt, wie das Stammesleben die Individuen, und sie durch neue Form ersetzt.

c. Indifferenz der untergeordneten Gleichgewichte gegen die Abänderung des Arttypus

Hier setzt nun aber ein bei weitem komplizierteres Verhältnis ein. Die Dynamik der Phylogenese, verstanden in ihren kategorialen M o­ menten der Beweglichkeit und des Auftriebes, darf die Statik der niederen Stufen, also der eigentlich organischen Gefüge, niemals aufheben. Sie kann selbst nur fortgehen, umbilden, weiterbauen, wo diese als relative Konstanz und S tabilität intakt erhalten bleibt. Die Individuen müssen

eben doch lebensfähig bleiben,' und die A rt muß, soweit sie nicht zweck­ mäßig abartet, auch qualitativ im Typus sich erhalten. Die T rans­ formation der Art fetzt also dieselbe Stabilität, die sie durchbricht, doch zugleich weitgehend voraus, nämlich als bestehendes Gleichgewicht sowohl des Individuum s als auch der lebenden Art. Aber freilich setzt sie das Gleichgewicht im einen wie im andern nicht als ein vollkommen ver­ festigtes, sondern als ein bewegliches, d. h. als ein im Grunde labiles und nur durch selbsttätige Regulationen stabilisiertes, voraus. D as Gleichgewicht des Individuum s und des Stammeslebens muß sich in der Abänderung des Typus erhalten, mutz sich in ihr fortsetzen. L s muß also gegen den Formtypus relativ indifferent werden. Das bedeutet aber, daß es selbst neue Formen mutz annehmen können. D as gilt ohne Vorbehalt vom Verhältnis der Prozesie im Leben der Art, von Tod und Reproduktion der Individuen. E s mutz aber auch ebensosehr vom Prozeßverhältnis im Individuum gelten. Wo das Gleichgewicht von Assimilation und Dissimilation versagt, da stockt der Stoffwechsel, da endet das Leben des Individuum s; genau so wie das Leben der A rt endet, wo das Gleich­ gewicht von Tod und Reproduktion versagt. Auch die veränderte A rt besteht ja immer noch aus Individuen, und auch ihr Fortleben spielt sich in deren wechselvollem Kommen und Gehen ab. Da nun das Leben selbst sich doch in aller Umbildung des Typus er­ hält, so müssen auch int Widerspiel der komplementären Prozesse die Gleich­ gewichte sich erhalten, und zwar auf beiden Stufen, im Individuum wie im Stammesleben. Wo der aufbauende Prozeß sich ändert, muß auch der abbauende Prozeß sich ändern, anders kann sich kein Gleichgewicht her­ stellen, und ohne dieses geht das Leben zugrunde. Im qualitativ ver­ änderten Stoffwechsel muß sich der Ausgleich erhalten, desgleichen in dem der Form nach verschobenen Leben der A rt das Wechseln der I n ­ dividuen. D as ist auch selektiv ohne weiteres zu verstehen, weil Abartungen, welche diese Gleichgewichte nicht festhalten, zugrunde gehen müssen. D as klingt wie eine Selbstverständlichkeit — wie übrigens die meisten selek­ tiven Regeln —, denn wir kennen ja gar keine lebenden Arten, in denen diese Forderung nicht erfüllt wäre. Aber das ist Täuschung. M an bedenke nur, daß es im Laufe der Stammesgeschichte sehr wohl Abartung mannig­ facher Richtung gegeben haben kann, welche die Forderung nicht erfüllte, die elementaren Prozeßgleichgewichttz nicht festhielt. Diese Abarten müssen eben dann schnell ausgestorben sein, und übrigbleiben konnten nur die­ jenigen Umbildungen, welche die Gleichgewichte beider Stufen festhielten und so der veränderten organischen Form Bestand gaben.

Diese Erhaltung des organischen Gleichgewichts bei weitgehender Ver­ änderung in den Prozetzkomponenten selbst macht eben das aus, w as man die Indifferenz des Gleichgewichts gegen die Artveränderung nennen kann. Denn natürlich bedeutet Veränderung eines Arttypus notwendig zugleich Veränderung der untergeordneten Teilprozesse. Die S tabilität der Gleichgewichte niederer Ordnung mutz also in der Staffelung der Gleichgewichte denen der höheren Ordnung des Lebens­ prozesses einen gewissen Spielraum lasten, innerhalb besten ihre Beweg­ lichkeit sich entfalten kann. Damit aber kommen wir auf ein zweites Ver­ hältnis von S tabilität und Labilität im Reiche des Organischen hinaus.

d. Die Rolle des Ungleichgewichts in der Staffelung der Gleichgewichte

Dieses neue Verhältnis kann man so formulieren: in der Überhöhung der organischen Gleichgewichte mutz auch notwendig das Gleichgewicht niederer Ordnung eine gewiste Labilität behalten. Ohne diese ist ein Gleich­ gewicht höherer Ordnung nicht möglich. Ein Gleichgewicht höherer O rd­ nung setzt eben überhaupt nur da ein, wo die S tabilität eines Gleich­ gewichts niederer Ordnung versagt. E s tff nur dort für die Erhaltung des Lebens notwendig. F ü r die Staffelung der organischen Ganzheiten und ihrer Lebensprozeste ist das von ausschlaggebender Bedeutung: von Hause aus ist es der Einschlag des Ungleichgewichts, was das Leben zur Überhöhung in Stufen und Ordnungen zwingt. Jede Labilität einer gegebenen Stufe des Lebensprozestes verlangt die Überhöhung, weil sie sich erst auf der nächsthöheren Stufe ausgleichen kann. M an vergegenwärtige sich dazu die Etappen. Schon beim Zellplasma der niedersten beobachtbaren Lebensformen fängt es damit an: alles P lasm a ist von Hause aus mit dem Selbstverbrauch behaftet, ist in einer Weise labil wie kein dynamisches Gefüge es ist. Diesem Zerfall setzt es in der Assimilation die aktive Ungleichung des Stoffes entgegen, es ent­ steht das Gleichgewicht der primären Prozeste, der Assimilation und Dissi­ milation. Dieses Gleichgewicht ist selbst kein durchaus stabiles. Es reguliert sich nur in gewisten Grenzen; es führt zur llberbilanz im Wachstum und zur Unterbilanz im Altern und Tod. D as Sterben des Individuums beweist, daß das Gleichgewicht des aufbaueüden und abbauenden Prozestes kein automatisches ist, sondern nur durch ständige Regulation aufrechterhalten wird. Erst die nächsthöhere Stufe des Lebens, das Leben des Art, über­ windet diese Labilität.

Aber es überwindet sie anders, als die inneren Regulationsfunktionen des Einzelorganismus es zu tun suchten: es stellt überhaupt nicht das alte Gleichgewicht her, sondern ein neues, es reproduziert das ganze I n ­ dividuum. Es löst damit das Weitergehen des Lebens vom einzelnen Organismus ab. E s bildet damit freilich auch das alte Gleichgewicht der Prozesie wieder, und zwar mitsamt seiner Selbstregulation, aber wiederum nur als ein begrenztes, labiles. Ein stabileres stellt sich erst im Leben der A rt am Lebensprozeß höherer Ordnung her, das Gleichgewicht von Tod und Reproduktion der Individuen. I n diesem neuen Gleichgewicht ist die abbauende Prozeßkomponente, das Absterben der Individuen, identisch mit der Labilität des Gleichgewichts niederer Ordnung, dem Versagen des Ausgleichs von Assimilation und Dissimilation. Die Labilität des Gleich­ gewichts niederer Ordnung ist also die Vorbedingung eines sich ihm über­ lagernden Gleichgewichts höherer Ordnung. D as höhere Gleichgewicht leidet indesien an derselben Labilität, es hält sich zwar unvergleichlich länger, aber gemesien an der zeitlichen Erößenokdnung des Stammeslebens, ist es doch grundsätzlich ebenso in­ stabil. Es kann sich gleichfalls nur durch selbsttätige Regulation halten. Die Reproduktion der Individuen ist ein komplizierterer Prozeß, und wenn man ihn bis zur Geschlechtsreife rechnet, ein von vielerlei Bedrohung gefährdeter. Das Artleben setzt der Gefährdung die Überproduktion ent­ gegen; aber einer allgemeinen Veränderung der Lebensbedingungen kann es auch damit nicht begegnen. W ird der Formtypus der A rt unzweckmäßig, so hilft überhaupt keine Wiederbildung mehr, sondern nur noch Um­ bildung. D as entstehende Ungleichgewicht auf der Stufe des Artlebens wird also nicht mehr durch Überlagerung eines höheren Gleichgewichts kompensiert, sondern durch eine neue Formschöpfung. Das Stammesleben läßt den Arttypus fallen und bildet neue Arten. e. Das Gesetz des organischen Gleichgewichts

Hier fällt nun ohne weiteres ins Auge, daß ein und dasselbe Ver­ hältnis in Stufen sich überhöhend wiederkehrt» bis es eine obere Grenze findet, an der es einem anderen Verhältnis weicht. Es steht, da es offen­ kundig die Ordnungen des Lebensprozesies miteinander verbindet» im eng­ sten Zusammenhang mit demjenigen Verhältnis, welches das Reproduk­ tionsgesetz aussprach (Kap. S ie ), und läßt sich daher in Analogie zu diesem als Gesetz des organischen Gleichgewichts so formulieren: jede Labilität eines Gleichgewichts im Widerspiel organischer Prozesse ist, wenn sie auf ihrer Stufe nicht mehr zum Ausgleich gebracht werden kann, zu­ gleich die negative Vorbedingung eines neuen Gleichgewichts, aber nicht der gleichen, sondern der nächsthöheren Stufe des Lebens.

Dieses Gesetz besagt nicht, daß sich ein höheres Gleichgewicht notwendig bilden müsse, sondern nur daß es auf Grund einer solchen Vorbedingung möglich ist. Ob es sich wirklich einstellt, hängt davon ab, ob überhaupt eine höhere Ordnung des Lebensprozesses sich über der niederen erhebt. Die obere Grenze der Stufenfolge widerstreitet also dem Gesetz nicht. M an kann demnach das Gesetz auch so fassen: alles gestörte und in stch nicht wiederherstellbare Gleichgewicht im Reiche des Organischen stellt sich, wenn überhaupt, so erst in der nächsthöheren Ordnung des Lebensprozesses wieder her. E s stellt sich also nicht a ls das, was es war, wieder her, son­ dern a ls ein anderes; das Gleichgewicht des P lasm as als das des I n ­ dividuums, in welchem es wechselt; das Gleichgewicht des Individuum s als Leben der Art, in dem die Individuen wechseln. Aber die höhere Ord­ nung des Lebens kommt gar nicht zustande, ohne die Labilität der niederen. D as Ungleichgewicht der niederen Ordnung ist es, was eine höhere Ord­ nung des Lebensprozesses, und mit ihr das höhere Gleichgewicht, erst möglich macht. Ein Prozeß, der im Sichbilden und Sichauflösen ganzer Gefüge besteht, kann nur laufen, wenn die Gefüge vergänglich sind. Die Vergänglichkeit organischer Gefüge, wo sie nicht in der Zufälligkeit äußerer Vernichtung besteht, kann nur die Form einer inneren, nicht ganz behebbaren Labilität ihres Gleichgewichts haben. So läuft der Stoffwechsel in einem O rga­ nismus nur, weil der zum Plasm a heraufgebildete Stoff in dieser hoch­ geprägten Form instabil ist; und das Stammesleben einer Art läuft nur fort, weil auch die Individuen sich auf die Dauer als instabile Gefüge er­ weisen. M an kann hinzufügen: auch die Bildung der Arten — und mit ihr der Gattungen usf. — erhält sich als fortlaufender Prozeß nur, weil die „Arten" sich dem Formtypus nach nicht erhalten, d. h. weil sie selbst auf lange Sicht instabil find. Hier aber führt nun die Instabilität nicht mehr zu einem Gleichgewicht höherer Ordnung, weil die Art als solche sich nicht reproduziert. Die Her­ ausbildung eines höheren Gleichgewichts ist eben nicht „nur" an die Labilität, sondern auch an die Reproduktion der niederen Gebilde ge­ bunden. Die Stufenfolge der Gleichgewichte läuft nach oben zu in ein nicht mehr reparables Ungleichgewicht aus. Der Eesamtprozeß des Lebens auf der Erde hat nicht mehr die Gestalt einer stch immer wiederherstellenden Lebensform» sondern die einer sich fort und fort umbildenden. Die Bildung neuer Arten steht wohl noch in einer gewisien Parallele zur Bildung neuer Individuen. Aber darin unterscheidet sie sich radikal von dieser, daß sie nicht mehr Wiederbildung ist, sondern Neubildung. Darin, daß die Überhöhung nach oben zu eine Grenze in der Arten­ bildung findet, kann man den Ausdruck einer weiteren Erundgesetzlichkeit alles Lebendigen erblicken. Umreißen läßt sich diese Gesetzlichkeit etwa so:

alle Erhaltung ist Stillstand» alles Leben aber ist im Grunde Bewegung» Prozeß, Anderswerden, Formbildung, Aufstieg; es ist ein Irrtu m , das Wesen des Lebens in der Erhaltung zu suchen. Erhaltung ist auf allen Stufen nur ein Moment in der Struktur des Prozesses. D as Leben bringt es zwar durch selbsttätige Regulation zu erstaunlich hohen Formen der Erhaltung, ist aber doch zugleich auf jeder seiner Stufen deren Aufhebung. Und was auf der höchsten Stufe sich „erhält", ist gerade das kategoriale Gegenstück eigentlicher Erhaltung, die permanente Veränderung. Sieht man den lebenden Organismus als die höchste Stufe der natür­ lichen Gefüge an, so bedeutet die Überlagerung der Lebensprozesse vom P lasm a über das Individuum zur A rt nichts anderes als ein Etappen­ system relativer Gleichgewichts- und Ruhelagen, deren Reihe schließlich auf eine Ebene gelangt, in der jeder Stillstand sich wieder in Bewegung auflöst. Diese Ebene ist die der Phylogenese. Und da das Leben nicht mit ruhenden Individuen ohne Stammes­ leben anfängt, wie ein sehr naives Phänomenbewußtsein meinen könnte, sondern mit den sich bildenden Arten, so ist gerade diese Beweglichkeit das Prim äre, und alles Stillstehende ist — nicht anders als im physischen Prozeß — nur Durchgangsstadium, ephemerer Zustand. Das gilt auch von der Konsistenz der Arttypen. R ur das Tempo der Umbildung entzieht uns das Bild des Prozesses.

62. Kapitel. Der Lebensprozeß a. Sudstantialisierung der Lebendigkeit

D as Leben als solches ist das gemeinsame Thema aller organologischkategorialen Untersuchung. Insofern brauchte es jetzt nicht noch einmal zum Sonderthema gemacht zu werden. Aber die Untersuchung hat sich in so viele Teilprobleme gespalten, daß das Gesamtphänomen darüber fast in den Hintergrund gerückt ist. Außerdem ist das kategoriale Hauptmoment der Lebendigkeit, der Lebensprozeß als solcher, erst durch die größeren Perspektiven der zuletzt behandelten Kategorien mehr ins Licht gerückt worden. W as jetzt noch zu erörtern steht, sind Kategorien, die es in eminentem S inne mit den ewigen Rätselfragen des Lebens zu tun haben. Solche Kategorien lassen sich nur annähernd herausarbeiten, sie verharren mit ihrem eigentlichen Wesen in unaufhebbarer Irratio n alitä t und bilden in der Erkenntnis des Organischen eine unausfüllbare Leerstelle, die der Gedanke nur eingrenzen kann. I n der lebendigen N atur selbst bilden sie

freilich gerade die wichtigsten Grundlagen. Konnten w ir diese mit einiger Adäquatheit positiv erfassen, es würde sich wahrscheinlich von ihnen aus mit einem Schlage sehr vieles Hären, worum heute die Theorien sich ver­ geblich bemühen. Trotz ihrer Unfaßbarkeit rechnen wir doch in unserem biologischen Denken ständig mit ihnen. Und dabei geschieht es immer wieder, daß metaphysisch ungeklärte Anschauungen und Begriffe sich unterschieben. Auf­ gabe der Kategorialanalyse ist es, diesen entgegenzutreten und an ihre Stelle kritischere Begriffe zu setzen, d. h. solche, die das Unerkennbare voll anerkennen und mit ihm als solchem rechnen. Die Lebendigkeit a ls solche gehört zu den Dingen, die w ir im Leben unbedenklich und unbegriffen hinnehmen. S ie scheint das Selbstverständ­ liche zu sein, und was zuerst an ihr rätselhaft erscheint, das ist ihr Auf­ hören, der Tod; als wäre nicht vielmehr das Lebendigsein das Wunder, und der Tod ein simples Zerstörungswerk. Daher die Harmlosigkeit, mit der noch die älteren Theorien alle das Leben substantialisiert haben. M an sagt ja ohne Rechenschaft „das Leben" — in diesem unbestimmten.Sin­ gular — und meint etwas, was allgemein besteht und ein ganzes Reich des Bestehenden bildet, neben den Reichen des Raumes und der M aterie, des Bewußtseins, des Geistes und der Geschichte. Und dann macht man es, als wäre es ein Substrat, zum Träger besonderer Bestimmungen, Formen, Leistungen, Schicksale. D as „Leben" wird dann sehr bald wie eine M aterie höherer Ordnung verstanden, aus der sich das Einzelwesen erst herausformt. Von den alten Milesischen Hylozoisten bis auf Bruno und Schelling reißt dieser Gedanke nicht ab; auch dort nicht, wo man alles Materieartige sonst leidenschaftlich abwehrt, z. B. int ganzen Neuplatonismus. Dieser spekulative Lebensbegriff muß zuallererst abgebaut werden; schon allein darum, weil er überall, wo er sich festsetzt, auf teleologische Methaphysik hinausführt, sodann aber auch, weil er den Teilphänomenen des wirklichen „Lebens", wie die Wissenschaft sie aufgedeckt hat, sowie den oben entwickelten Kategorien in keiner Weise entspricht. Diese Kategorien bilden eben zusammen schon einen Aufbau der Lebensphänomene, der den Abbau jedes subsiantialistischen Lebensbegriffs zur Voraussetzung hat.

b. Energetischer und organischer Prozeß

Die wirkliche Lebendigkeit hat nicht die kategoriale Form des S ub­ strates, sondern die des Prozesses. Von den beiden Momenten der Substanz kommt ihr nur die Erhaltung zu; aber es ist, wie sich zeigte, nicht die Erhaltung durch Subsistenz, sondern die durch Konsistenz. Und auch die ist nur eine begrenzte.

Die Lebendigkeit als solche ist das organische „Werden", diejenige Form des Prozesses, die dem Organischen eignet und es vom ontisch niederen wie vom ontisch höheren Werden (dem physischen und etwa dem geschicht­ lichen) in gleicher Weise unterscheidet. Auch das darf man sich nicht so vorstellen, als haftete diese Prozeßform dem Organismus bloß an, wie eine seiner Bestimmungen. Unausrottbar, obgleich von der Wisienschaft längst überholt, hat sich die Aristotelische Vorstellung festgesetzt, a ls hätte der organisierte Körper als solcher nur „der Potenz nach" Leben, während das wirkliche Leben ihm erst von einem anderen Prinzip her (der „ersten Entelechie") käme. Gerade umgekehrt ist es: der Prozeß des Lebens muß als das eigentliche Erundwesen des Organischen selbst verstanden werden, an dem alle Form, Organisation und alle Stufen des organischen Gefüges bloße Bestimmungen find. Das ist die unvermeidliche und an sich einfache Konsequenz der vorausgegangenen Kategorialanalyse. D as bedeutet keineswegs, daß hiermit das „Leben" doch wieder substantialisiert würde — so wenig wie im Reiche des Physischen das Zu­ grundeliegen des Prozesses als Seinsform dessen Substantialität bedeutet. Daß „Leben" als solches hier die Rolle eines Erundwesens spielt, hat viel­ mehr den einfachen Sinn, daß alle Form des Lebendigen funktionale Form ist, d. h. von Haufe au s nur als funktionierende besteht, daß alle Organi­ sation und alles Gefüge nur Organisation der Vorgänge, nur Gefüge von Teilprozessen eines Eesamtprozesses ist. S o entspricht es genau dem oben herausgearbeiteten Begriff des organischen Gefüges. Dieses geht niemals im Gefüge der Formen auf, ist auch von einem solchen aus niemals zu verstehen. E s ist stets im Grunde das Gefüge der Prozesse, deren Widerspiel seine wirkliche und eigentliche Seinsform ausmacht. Und stets ist das wichtigste konstituierende Glied im Prozeßgefllge ein morphogenetischer Prozeß; auf ihm beruht die relative Konsistenz des unausgesetzt zerfallenden Gefüges. Der Vergleich mit der Rolle des „Prozesses" überhaupt im Physischen ist also berechtigt. Prozeß ist die kategoriale Seinsform des Realen im Allgemeinen, nicht seine Substanz. Die verschiedenen Schichten des Realen aber haben jede ihre besondere Prozeßform. Die Lebendigkeit ist die be­ sondere Prozeßform des Organischen und damit in der T at seine kategoriale Grundform; an der alle weiteren Besonderungen erst einsetzen. S ie ist also weder ein dem Organischen bloß anhaftendes Attribut noch ein Substrat hinter ihm. Diese Prozeßform aber ist eine überaus komplexe. Die in den auf­ gezählten Kategorien greifbar gewordenen Momente erschöpfen sie noch nicht. Solche Momente wie die antithetische Stellung der Teilprozesse und

deren Überhöhung, die Staffelung der Gleichgewichte und ihre Regula­ tionen, die Erscheinungsformen der Morphogenese u. a. m. leuchten wohl entscheidend in das Geheimnis des Lebensprozesses hinein, enträtseln es aber nur zum Teil, führen auch selbst wieder neue Rätsel herauf. Freilich handelt es sich auch nicht darum, es ganz zu entschleiern; das dürste ein Ding der Unmöglichkeit sein. Wohl aber müßte sich das Ganze dieser Teil­ momente noch anders charakterisieren lassen, und zwar gerade im Hin­ blick auf das in ihnen unerkennbar Gebliebene. M an muß dazu die ganze Überschichtung der organischen Prozetzgefüge mit in die Überschau hineinnehmen. Denn diese Gefüge find ja ontisch selbst mit in den Prozeß hineingezogen, sie werden in ihm aufgelöst und wieder­ gebildet. E s zeigt sich dann, daß das kategoriale Reproduktionsgesetz und das Eleichgewichtsgesetz in ihrem ganzen Eeltungsumfang noch denselben Prozeßcharakter des Lebens betreffen, und zwar von unten auf. E s ist die Eigenart des Lebensprozesses, daß er, solange die physischen Bedingungen für ihn gegeben sind, von sich aus nicht zu Ende läuft. Wo er in einem Gefüge auf Grund seiner Eigenstruktur zu Ende kommt, da bringt er sofort wieder sich selbst neu in Gang, entzündet sich gleichsam wieder in einem neuen Gebilde. Und das geschieht nicht automatisch, son­ dern selbsttätig durch aktiven Einsatz. Der organische Prozeß verhält sich darin ganz anders als der energetische Prozeß. Zwar setzen sich auch in ihm physische Energien um; aber sein Eigentümliches besteht doch darin, daß er seine Energien selbsttätig aus seiner physischen Umgebung an sich zieht, ja sich je nach deren Vorhandensein oder Fehlen seine Umgebung sucht, wechselt, schafft. Schafft er doch auch seinen Trägern weitgehend die dazugehörige Raumbeweglichkeit. Und zur letzteren ist ja nicht n u r die augenfällige tierische Selbstbewegung zu rechnen» sondern auch die passive Beweglichkeit der Mikroorganismen, der Pflanzensamen, des Pollens, der Sporen usw., in der die Ausbreitungsweise vieler Arten besteht. Darüber hinaus aber ist das Leben der Prozeß, der von unten auf die Richtung zur Überschreitung seiner eigenen Formen, Produkte und Gebilde hat. Auch das aber gilt hier nicht in der Weise wie beim energetischen Prozeß, in dem ja auch die Gefüge sich wieder lösen können; denn der organische Prozeß folgt nicht dem Gefälle. Es gilt hier vielmehr in dem ganz anderen Sinne, daß der Lebensprozeß über die geformten Gebilde hinaus und höher hinauf tendiert. W as „Tendenz" hierbei bedeutet, da es doch nicht ein eigentliches Hinstreben sein kann, bleibt dabei freilich noch ein ungelöstes Rätsel; denn auch die Selektionskategorie bildet hier nur ein einseitiges Auskunftsmittel. Aber die Rätselhaftigkeit ändert nichts daran, daß dieser Lebensprozetz nicht richtungslos ist, sondern im ganzen aufwärts gerichtet.

c. Geschichteter Aufstieg. Erhaltung nicht realisierter Möglichkeiten

Von dieser Aufwärtsrichtung sahen wir, daß sie an der höchsten Stufe des Prozeffes, der Phylogenese, wohl grundsätzlich zu verstehen ist, weil im allgemeinen die höhere organische Form positiven Selektionswert hat. An den Aufstiegsformen der niederen Stufen aber ist sie durchaus nicht ebenso verständlich. Da fehlt uns eben das Prinzip des Auftriebes, an dem die Morphogenese hängt. 2n diesem Sinne sind die Assimilation und die Jndividualreproduktion schwerer verständlich als die Artentstehung, obgleich sie im Gegensatz zur letzteren bloß reproduktive Formbildung sind. Jndesien lasten sich die drei Stufen des Lebensprozestes gar nicht von­ einander trennen. Die Artenbildung läuft nicht ab ohne ständige Wieder­ bildung der Individuen, und diese nicht ohne ständige Assimilation des Stoffes. Und fo bildet das Ganze des Lebensprozestes eine einzige untrenn­ bare Einheit der sich überschichtenden Prozeßformen, von denen jede in ihrer Weise und innerhalb ihres Bereiches schon Aufstieg, Formbildung und Überschreitung nach oben zu ist. Der Aufstieg ist selbst ein geschichteter. D as ist nun wieder ein anderer Aspekt desselben Lebensprozestes. M an macht es sich meist nicht klar, daß die aufsteigende Richtung dem Lebensprozeß auf jeder Stufe eigentümlich ist. Alle Morphogenese, einerlei ob im Großen oder im Kleinen, ist schon Aufstieg von niederer zu höherer Eeformtheit. Schon die Assimilation ist Hinaufbildung des aufgenommenen Stoffes, seine Ubersormung; die Ontogenese und Phylogenese tragen noch sichtbarer den Charakter des Aufstieges. Wie diese drei Stufen der Hinauf­ bildung zusammengehören, warum sie nicht auseinanderreißbar find, davon ist oben ausführlich die Rede gewesen. Summarisch kann man das so ausdrücken: keine dieser Prozeßformen kann sich ohne die andere dauernd erhalten. Daß die höheren der niederen bedürfen, ist ohne weiteres evident; daß aber auch die niederen der höheren bedürfen, mußte besonders gezeigt werden. Der springende Punkt hierbei liegt in den unaufhebbaren Ein­ schlägen der Labilität im Gleichgewicht der Prozesse auf jeder Stufe. Damit aber stehen wir bereits bei der Kehrseite dieses ganzen Aufbauverhältnisses. Denn auf jeder der drei Stufen kommt die eigentliche Be­ wegtheit dadurch hinein, daß das Leben seine eigenen Gebilde fallen läßt, sobald sie für den größeren Eesamtprozeß und die Ganzheit höherer Ord­ nung nicht mchr zweckmäßig sind. D as Leben des Individuum s läßt das hinaufgeformte P lasm a fallen, sobald es sich verbraucht hat; das Artleben läßt das Individuum fallen, wenn es durch Zeugung ihm seinen Dienst geleistet hat. D as Gesamtleben der Arten läßt die einzelne A rt fallen, wenn sie nicht mehr anpassungsfähig ist, und bildet von niederen Ord­ nungen des Lebendigen her neue Arten.

Blickt man nun auf das letzte Glied dieses gestaffelten Aufstieges, ein­ schließlich des gleichfalls gestaffelten Fallenlassens und Abstoßens des Geschaffenen, so fällt dabei ein neuer grundlegender Unterschied vom physikalischen Prozeß auf. Die Analyse der allgemeinen Prozeßkategorie (Kap. 21 b) zeigte, daß im Fortschreiten des Geschehens der K reis der Möglichkeiten immer enger wird, bis nur eine übrig bleibt, die sich dann zur Realmöglichkeit verdichtet. I n dieser Vielheit der Möglichkeiten handelt es sich zwar nur um Teilmöglichkeiten, den Bedingungen nach sind diese aber auch etwas real Bestehendes. Die Akkumulation der Realbedingungen bringt es mit sich, daß eine Möglichkeit nur verwirklicht werden kann, indem die anderen nach und nach ausgeschaltet werden. Dieses Gesetz trifft natürlich auch auf den Lebensprozeß zu, und zwar auf alle drei Stufen. Auch die Phylogenese verwirklicht in jeder ihrer Richtungen von vielen Möglichkeiten immer nur eine; bei der großen Vielzahl paralleler Werdegänge reicht das hin, jene Mannigfaltigkeit der Form en hervorzutreiben, in der das Reich des Organischen besteht. Aber sie merzt dabei die anderen Möglichkeiten nicht gleich aus. Sie erhält sie sich, gleichsam als zurückgestellte Chancen, in den niederen Formen, die der aufsteigende Prozeß durchläuft; denn der Gesamtprozeß der Arten­ bildung läuft auf vielen, sich immer weiter spaltenden Geleisen fort, und stets bleiben ganze Gattungen, Familien, Ordnungen von Arten auf halber Höhe stehen. 3 n diesen aber bleibt die Möglichkeit anders gerichteten Aufstieges bestehen. Denn das weniger differenzierte Keimplasma ist im allgemeinen auch das beweglichere, mutationsreichere und selettiv ergiebigere. Darum ist es auch stets das anpassungsfähigere. Und da das Keimplasma auch in den Arten niederer Stufe kon­ tinuierlich forttebt, so erhält es sich dort relativ unverändert und jeden­ falls in seinen Umbildungsmöglichkeiten unverbraucht, solange die Chance der Höherbildung dieser Arten durch äußere Verhältnisse (z. B. durch das Vorherrschen höher entfalteter Arten- einer anderen Stammeslinie) ver­ sperrt ist. E s regt sich aber und realisiett seine Möglichkeiten in ganzen Gruppen neuer Arten, sobald jene sich, einmal verfestigt, in veränderten Lebensverhältnissen nicht mehr halten können und auszusterben beginnen. Der modale B au des Lebensprozesses im Großen ist also zwar im Grunde derselbe wie der aller Realprozesse; aber er hat vor den physischen dieses voraus, daß er die nicht verwirklichten Möglichkeiten in den rück­ ständigen Formen des Organischen weitgehend festhält und gleichsam auf­ bewahrt, um sie bei eintretender Gelegenheit zu aktualisieren. D as widerspricht nicht dem allgemeinen Modalgesetz, daß sich in allem Geschehen stets nur eine Möglichkeit verwirklicht. Denn diese Einzahl der Realmöglichkeit bezieht sich jederzeit nu r auf den einzelnen Werdeprozeß,

gleichsam auf eine bestimmte Linie des Geschehens. F ü r den phylo­ genetischen Lebensprozeß aber ist es charakteristisch, daß er sich unausgesetzt spaltet und auf vielen Bahnen zugleich in parallelen Formbildungs­ prozessen verläuft. Hier ist also breiter Spielraum für gleichzeitige Ver­ wirklichung mannigfaltig divergierender Formen, und damit zugleich für die Erhaltung und nachträgliche Aktualisierung von nichtverwirklichten Teilmöglichkeiten.

d. Modaler Bau der Ontogenese. M ultivotentialität und Regeneration

Dieser Aspekt gewinnt nun noch erheblich an Bedeutung, wenn man steht, wie das gleiche Verhältnis in gewissen Grenzen auch an der Onto­ genese des Individuum s wiederkehrt. M an sollte meinen, daß hier eine P lu ra litä t von Möglichkeiten gar nicht eintreten könne, weil der Prozeß ja ein bloß reproduktiver ist, nicht ein frei laufender, sondern ein vom Anlagesystem her determinierter. Determination eines Prozesses bedeutet aber nichts anderes als den Ausschluß der Vielheit von Möglichkeiten. Der Ausschluß müßte auch unweigerlich stattfinden, wenn die Deter­ mination, die vom Anlagesystem ausgeht, eine vollständige wäre. D as aber ist nicht der Fall. Neben ihr besteht noch sehr viel einfache Kausal­ determination, die sich von Stadium zu Stadium ändert und sich a ls „Funktion der Lage im Ganzen" zusammenfassen läßt (vgl. Kap. 52 d—6). Damit hängt es zusammen, daß auch die Bestimmung des Prozesses vom Anlagesystem her keine ganz eindeutige ist. Sie ist gleichsam auf eine Viel­ heit äußerer Eventualitäten hin angelegt und muß sich mit diesen ändern. I n den frühen Embryonalstadien ist die Differenzierung der sich ver­ mehrenden Zellen noch eine „multipotentielle" (Driesch). Die prospektive Potenz der Teile (etwa im Gegensatz von Extoderm und Entoderm) deckt sich hier noch nicht mit der bestimmten prospektiven Bedeutung; denn zu dieser gehört die Funktion der Lage mit hinzu. Die aber kann durch S tö­ rung von außen anders ausfallen als im normalen Verlauf. Das Potential der einzelnen Zelle enthält hier eben noch mehr Möglichkeiten als die­ jenige, die im regulären Entwickelungsgänge verwirklicht wird. Hier kann noch ein Teil die Funktion des anderen übernehmen, kann einspringen für ihn, wenn dieser zerstört oder verletzt ist. Bei vielen niederen Organismen setzt sich diese wunderbare Eigenschaft der M ultipotentialität bis in die späteren Entwickelungsphasen hinein fort, ja bis zur Reife des Individuums. Sie tritt dann am ausgewachsenen Organismus als Regenerationsfähigkeit auf. Regeneration eines Körper­ teils beweist eben, daß die am Ansatz des Gliedes oder O rgans gelagerten

Zellen noch das Keimplasma des Gliedes enthalten. I n Fällen voll­ kommener Restitution des ganzen Organismus au s einem Teil (wie bei den P lanarien) geht diese Fähigkeit noch weiter; sie kommt hier schon nahe heran an die A rt der Fortpflanzung vieler Pflanzen durch „Ableger". Hier scheint es, daß alle Zellen noch das ganze Keimplasma des O rganis­ mus enthalten. E s genügte dafür freilich auch, wenn es in allen Teilen nur einige wenige in das Gewebe eingestreute Zellen wären, auf die das zuträfe; aber diese mühten dann schon über das ganze Soma verteilt sein, und in ihnen müßte die Vielfachheit möglicher Form und Funktion noch wirklich nebeneinander bestehen. S ie müßten in ihren Chromosomen tat­ sächlich ein multipotentielles System enthalten. Von solcher Potentialität zu sprechen, ist natürlich nur dann berech­ tigt, wenn man damit keine teleologischen Vorstellungen verbindet. Und da wir über die Wirkungsweise der „Eene" in der Differenzierung der Zellen so gut wie nichts wissen — selbst die Hypothesen sind hier sehr vage —, so muß man hinzufügen: man darf von prospektiver Potenz und der in ihr enthaltenen Vielheit der Möglichkeiten nur sprechen, wenn man es völlig offen läßt, in welcher Weise sie den Gang des Entwickelungsprozesses bestimmt. F ü r den Zusammenhang der sich ausschließenden Möglichkeiten selbst ist die Bestimmungsweise auch gleichgültig. Wesentlich ist nur, daß es im Entwickelungsgänge neben der Linie der Formbildung, die sich ver­ wirklicht, noch andere Linien gibt, die sich nicht verwirklichen, und daß diese in einer gewissen P luralität neben jener bestehen bleiben können — als Teilmöglichkeiten, von denen unter Umständen noch die eine oder die andere zur Realmöglichkeit werden könnte. Dieses Bestehenbleiben macht eine wesentliche Eigentümlichkeit im modalen B au der Ontogenese aus» und zwar int Unterschied zu dem von anorganischen Werdeprozessen, zugleich aber auch in überzeugender Analogie zum phylogenetischen Werde­ gänge der organischen Formen. E s steht so aus, als wäre auch in dieser Hinsicht die Ontogenese die verkleinerte Nachbildung der Phylogenese, wennschon die Erhaltung unausgewerteter Möglichkeiten bei ihr auf etwas ganz anderem beruht und anderen Einschränkungen unterliegt. D as Auf­ fallende und kategorial Bemerkenswerte ist eben nur, daß die Besonderheit des modalen B aues selbst auf beiden Stufen des morphogenetischen P ro ­ zesses annähernd dieselbe ist. E s bliebe hiernach zu erörtern, ob nicht am Ende auf der niedersten Prozeßstufe, in der Assimilation des Stoffes, gleichfalls dasselbe Verhält­ nis vorliegt. Darüber aber läßt sich Entscheidendes nicht sagen. Auch sie freilich ist reproduktive Morphogenese, nicht anders a ls der Werdegang des Individuums. Aber wir haben keinen Anhalt, auszumachen, ob auch

in ihr unverwirklichte Möglichkeiten aufbewahrt werden, um bei bestimm­ ter Gelegenheit realisiert zu werden. Dafür verläuft der Prozeß zu sehr im Kleinen sowohl den räumlichen wie den zeitlichen Ausmaßen nach. So etwas um der Analogie willen a priori anzunehmen ist wertlos. Also muß die Frage offen bleiben. e. D as Problem der Jntraselektion

Bon hier ist es nur noch ein Schritt zu der Frage: w as entscheidet im Werdegange des Individuum s darüber, welche der parallelen Möglich­ keiten sich jeweilig verwirklicht? Hier muß doch offenbar eine A rt Auslese stattfinden,' und die Frage ist dann, welche Instanz die Auslese be­ stimmt. M it dem bloßen Hinweis auf einen „normalen" Gang der Entwicke­ lung kann man hier nicht antworten. Damit verschiebt man die Frage nur; denn alsdann muß man fragen, was denn die Norm bestimmt. E s müssen wohl auf irgendeine Weise in jedem Stadium der Entwickelung die vorhergehenden Stadien sein, die hier entscheidend mitsprechen; aber wenn „Störungen" eintreten und gewisse Zellen eine andere Funktion übernehmen als die im Normalfalle ihnen zufallende, wie kommt es dann, daß gerade diejenige Möglichkeit aktualisiert wird, die das Unnormale ausgleicht und den ganzen Prozeß wieder auf seine normale Bahn zu­ rücklenkt? Auf solche Fmgen läßt sich nicht zureichend antworten, weil sie unserem Wissen weit vorgreifen. Aber da es sich um Auslese handelt, so liegt es nah, an eine besondere Form der Selektion zu denken, für die es dann das seligierende Prinzip zu finden gälte. I n der T at fehlt es nicht an Ver­ suchen der Theorien, diesen Weg zu beschreiten. W enn überhaupt lebende Einheiten, die in Konkurrenz stehen, einer Auslese unterliegen, so ist nicht einzusehen, wie es mit den Zellen innerhalb des sich entwickelnden Orga­ nismus anders sein sollte. Ist das aber der Fall, so greift das Selektions­ prinzip von der Phylogenese auf die Ontogenese über, und es ergibt sich eine weitere Verwandtschaft zwischen den beiden Stufen des Lebensprozesses. Dem stehen mancherlei Schwierigkeiten entgegen. Die Ontogenese des Individuum s ist kein „freier" Prozeß, sondern vom Keimplasma deter­ miniert; die Differenzierung der Zellfunktionen ist auf diese Weise oorbestimmt. Wenn also hier Selektion stattfindet, so nur auf sehr beschränk­ tem Spielraum : sie kann sich nur auf das erstrecken, w as von der Anlagedetermination unbestimmt bleibt. Aber eben einen solchen schmalen, von der Anlage unberührten Spielraum gibt es, und zwar in allen Phasen der Embryonalentwickelung. E s ist die „Funktion der Lage im Ganzen".

Don dieser wurde schon gezeigt, wie durch sie erst die prospektive Potenz der Zellen (mitsamt ihrer M ultipotentialität) an bestimmter Stelle des Körpers zu einer eindeutig bestimmten ,Bedeutung" für die späteren Entwickelungsphasen eingeschränkt wird. Ob man hierfür noch den Ausdruck „Selektion" gebrauchen will oder nidji, ist Geschmacksache. M an hat dafür den Namen „Jntraselektion" geprägt. Am Namen aber liegt wenig. Wichtig ist nur, daß hier über­ haupt etwas den natürlichen Ausleseprozesien Verwandtes vor sich geht: eine Auslese der bereits spezialistisch differenzierten Zellen, aber auch eine solche der verschiedenen Funktionsmöglichkeiten einer und derselben Zellenart, und zwar beides in Abhängigkeit von der im räumlichen An­ lagerungsverhältnis gegebenen - Stelle. I n diesem S inne hat W . Roux vom .Kam pf der Teile" als einem Entwickelungsfaktor gesprochen; ein Prinzip, das seine Analogie zum Kampf ums Dasein der Individuen nicht verleugnet. N ur die Unterordnung unter den Begriff der „Entwickelungsmechanik" ist hierbei fragwürdig. M it Mechanik gerade hat das wenig zu tun. Die Überlegung ist vielmehr diese: es gibt eine Anpassung der Teile an den Gebrauch, denn jedes Organ wächst mit dem Gebrauch, und manche ver­ ändern ihre Wirkungsweise auch qualitativ durch die A rt der Bean­ spruchung. Der funktionale Reiz, der an die bestimmte Körperstelle ge­ bunden ist, begünstigt das Fortkommen bestimmter Zellen an bestimmter Stelle; jede A rt von Zellen kommt am besten dort fort, wo sie ihrer Eigenart gemäß funktionieren kann. Denn die gesteigerte Funktion löst auch gesteigerten Stoffwechsel und beschleunigte Zellteilung aus. So etwa kann man es sich zurechtlegen, daß an bestimmten Stellen des werdenden Organismus eine Auslese unter den schon differenzierten oder in der Differenzierung begriffenen Zellarten vor sich geht. Oder aber, was davon nur wenig verschieden ist, die Auslese erstreckt sich auf die verschiedenen Funktionsmöglichkeiten einer und derselben Zellenart, wobei dann die letztere erst den Anstoß zur Differenzierung (Aktualisie­ rung bestimmter Gene) erfährt. Wo z. B. der Funktionsreiz in Druck und Zug besteht, wie bei Knochen, Ligamenten, Sehnen, beim Chitinskelett der Gliederfüßler usw., mutz sich eine sehr bestimmte räumliche Anordnung der spezifisch funktionierenden (den Baustoff ablagernden) Zellen ergeben, weil die mechanischen Funktionsreize nur in bestimmten Druck- und Zug­ linien wirksam sind. Und innerhalb dieser Linien sind dann die ent­ sprechend funktionierenden Zellen „bevorzugt". Auf diese Weise kann man durch „Jntraselektion" relativ einfach eine Reihe hochdifferenzierter Eewebestrukturen erklären, für deren Einzel­ heiten sich schwerlich eine durchgehende Koimdetermination annehmen läßt. D as kategorial Bedeutsame aber ist die relative Selbständigkeit, die

hierbei den Zellen innerhalb des sich entwickelnden Körpers zufällt. Denn erst diese Selbständigkeit macht eine Konkurrenz zwischen ihnen sowie ihre Auslese nach lokalen Funktionsvorgängen möglich. Und damit erst wird die Parallele zwischen dem reproduktiven Formbildungsprozeß der Ontogenese und dem ursprünglich-produktiven der Phylogenese durch­ sichtig. Und so kommt man der rätselhaften Einheit des gestaffelten Lebensprozesses, der diese Stufen in eins umfaßt, wieder einen Schritt näher.

f. Hypothetische Ausblicke Wenn es nun eine Jntraselektion der Zellen im vielzelligen O rganis­ mus gibt, so taucht folgerichtig die Frage auf, ob es etwas Ähnliches nicht auch schon innerhalb der Zelle geben könnte. Natürlich wird man mit einer solchen Ausdehnung des Prinzips äußerst vorsichtig zu Werke gehen müssen. M it strikten Behauptungen ist hier nichts auszurichten, dafür fehlt die erforderliche Tatsachenbasis. E s kann sich nu r um eine viel losere A rt von Erwägungen handeln, bei der es darauf ankommt festzustellen, 1. ob innerhalb der Zelle überhaupt die Vorbedingungen von Selektionsprozessen gegeben sind, und 2. wie die Konsequenzen solcher Vorgänge aussehen würden. W as den ersteren Punkt anlangt, so hängt hier alles an der Frage, ob es innerhalb der Zelle eine relative Selbständigkeit kleinerer Lebens­ einheiten (Plasm ateile) gibt, die etwa durch Begrenztheit von Raum und Nahrung in Konkurrenz miteinander treten könnten. Dafür, daß dem so ist, gibt es immerhin einige Anzeichen. Wenigstens bei den uns am meisten interessierenden Teilen des Zellkernes, den Chromosomen, dürfen w ir eine Zusammensetzung aus kleineren Einheiten mit gewisser Selbständigkeit annehmen, so wie es die Theorie mit dem Begriff der „Eene" seit langem tut. Bestätigend kommt hier hinzu, daß in verein­ zelten Fällen auch mikroskopisch eine entsprechende Feinstruktur der Chromatinfäden sichtbar geworden ist. W as aber von bestimmten Teilen der Kernmasse gilt, wird auch von manchen anderen Zellteilen mit Wahrscheinlichkeit gelten dürfen. Trifft nun diese Voraussetzung zu — was freilich nicht als aus­ gemacht gelten darf —, so sind die Konsequenzen von erheblicher Trag­ weite. Erstens muß eine Jntraselektion innerhalb des Zellkörpers eine mächtigere Wirkung haben als im vielzelligen Organismus. Denn sie ist hier nicht durch den Tod des Individuum s begrenzt, wenigstens nicht in den freilebenden Zellarten; aber auch nicht in den Keimzellen der Viel­ zelligen. I m einen wie im anderen Falle geht die Zellteilung ununter­ brochen durch die Reihe der Generationen fort. Die Auslese, sofern hier H a r t m a n n , Philosophie der Natur

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eine stattfindet, beginnt also nicht in jedem Individuum neu wie im Som a der Vielzeller, sondern setzt sich kontinuierlich fort, nicht anders als die der freilebenden Individuen. Die Zellteilung kann diesen Prozeß schwer­ lich unterbrechen, da sie sich an den wichtigsten Bestandteilen der Zelle durch den Vorgang der Mitose als qualitätsgleiche Teilung vollzieht. Zweitens aber mutz in diesem Falle eine tiefgreifende Wechselwirkung zwischen zwei verschiedenen Stufen von Selektionsvorgängen und den entsprechenden Ordnungen des Aufstieges einsetzen: zwischen der J n tra selektion der Zellteile und der Selektion der Individuen. Und das mutz dann notwendig eine Steigerung der Umbildung und der phylogenetischen Formbildung überhaupt zur Folge haben. Denn hierbei mutzte natürlich das Wechselspiel zwischen dem Keimplasma und den vielzelligen In d i­ viduen einer A rt besonders aktuell werden. Es ließe sich dann wohl kaum bezweifeln, daß gerade die für alle Auslese der Individuen entscheiden­ den Vorgänge im Keimplasma ihre Wurzel in Prozessen der Z ell-Jntraselektion haben könnten. E s wäre dann also sehr wohl daran zu denken, das Auftreten spontaner M utationen und vielleicht gar das der erblichen Variationen überhaupt, auf Vorgänge solcher A rt zurückzuführen. L s ist selbstverständlich, daß solche Perspektiven nicht entscheidungsreif sind. E s hat aber durchaus Sinn, sie als hypothetische durchzuüberlegen. Worauf es ankommt, ist ja zunächst nur, die Tragkraft der wenigen organologischen Kategorien, die w ir überschauen, in ihren möglichen Konsequenzen einschätzen zu lernen. Der Lebensprozetz hat sich als ein nach Ordnungen der lebenden Einheiten gestaffelter Aufstieg erwiesen; Assimilation, Reproduktion der Individuen und Artbildung überhöhen einander als Stufen der Morphogenese und hängen in der Einheit eines Eesamtlebensprozesses ineinandergreifend zusammen. Nimmt man aber die Formen der Jntraselektion mit in dieses Einheitsbild hinein, so gibt es eine Möglichkeit, auch die aufsteigende Grundrichtung des Lebens­ prozesses von unten auf zu verstehen. M an überlege nun mit allen Vorbehalten hypothetischer Erwägung folgendermaßen weiter. Enthalten die höheren lebenden Einheiten die niederen in sich und unterliegen diese innerhalb ihrer der inneren A us­ lese, so haben wir in der Ganzheit höchster Ordnung, dem Stammesleben einer Art, ein gestaffeltes Gefüge von ineinandergreifenden, sich gegen­ seitig beeinflussenden und dennoch relativ selbständigen Selektionspro­ zessen, denen allen im Effekt die aufwärtsführende Richtung gemeinsam ist. D as ergibt das großartige Bild einer durchgehenden, die Stufen ver­ bindenden Wechselbedingtheit auf selektiver Grundlage, in der von unten wie von oben her durchgehende Abhängigkeit besteht, die Richtung des Aufstieges aber alle Stufen gleichmäßig durchzieht.

M an kommt hiermit auf ein weiteres allgemeines Lebensgesetz hin­ aus, welches in Parallele zu den Gesetzen der Reproduktion und des Gleichgewichts tritt. Die beiden letzteren allein würden im oberen Gliede der Stufung auf ein konstantes, stabiles Verhältnis hinausführen. D as Selektionsgesetz löst diese S tabilität wieder auf — in die Beweglichkeit der Arten. Tatsächlich bringt es die Reproduktion auf keiner Stufe zu einem absoluten Gleichgewicht, es bleibt stets ein Moment der Labilität übrig. Bei diesem setzt der Faktor der Auslese ein: die obere Resultante jeder Stufe des Prozesses wird wieder dynamisch; nicht Selbsterhaltung, sondern Selbstumbildung behält das letzte Wort. -D as Gesetz selbst läßt sich etwa so fassen: Konkurrenz der Lebenseinheiten niederer Ordnung fällt immer wieder unter ein seligierendes Prinzip und führt darum zur Anpasiung und Hinaufbildung der Lebens­ einheit höherer Ordnung. Dieses Gesetz des Aufstieges enthält die Gesetze der Reproduktion und des Gleichgewichts als seine Voraussetzungen in sich, setzt sie aber in das Prinzip einer durchgehenden Lebens­ dynamik um. Das ist freilich kein nachweisbares Gesetz mehr. E s hat nur den W ert eines hypothetischen Ausblickes. Aber es liegt auf der Linie der gefun­ denen Kategorien. Seine objektive Gültigkeit kann sich erst herausstellen, wenn weitere Tatsachengebtete sich eröffnen und weitere Kategorien des Organischen sichtbar werden.

83. Kapitel. Der nexus organicus a. Die falsche Alternative der Theorien

E s zeigte sich schon bei den Kategorien des Individuums, und dann immer wieder, daß die Determinationsweise der organischen Prozesse eine höchst komplexe ist. Aber sie ist weder in allen organischen Prozessen die gleiche noch auf einen Erundtypus zu bringen. Denn der Lebensprozeß ist nach Stufen gestaffelt und auf jeder Stufe ein anderer. Auf jeder Stufe haben wir ein Widerspiel von Prozessen, die einander ebenso ungleich sind. I n allen diesen Vorgängen gibt es Momente reiner Kausaldetermination; es gibt aber auch solche, die dem Finalgeschehen verblüffend ähnlich sehen. Zu den ersteren gehören die bestimmenden Faktoren der absteigenden Prozesse (der Verfallsprozesse), aber auch viele Momente der aufsteigen­ den (morphogenetischen). Doch ist es für die letzteren charakteristisch, daß ihre Determination darin nicht aufgeht. An ihnen hängt der unaufheb­ bare Schein der teleologischen Bestimmung.

I m großen ganzen läßt sich sagen, daß in den Theorien der S treit nur um die morphogenetischen Prozesse gegangen ist. S ie eben sind die eigentümlichen Wesensstücke des Lebensvorganges. Rätselhaft ist nicht der Formzerfall, sondem der Formaufbau. Die Stadien dieser Prozeffe, und am meisten die der Ontogenese, verhalten sich zum Endresultat, der aufgebauten Form, genau so als wären sie eine Reihe weise ausgewählter M ittel zum Zweck der Formentstehung. Sie stehen für jede A rt der Be­ trachtung unter der Kategorie der Zweckmäßigkeit, also für eine kritische Betrachtung unter dem Kantischen „Als ob". Denn in der T at beruht gerade der morphogenetische Charakter dieser Prozesse auf der Zweck­ mäßigkeit aller Durchgangsstadien für die Entstehung der organischen Form. D a s gilt im Grunde schon für den Assimilationsvorgang, freilich ohne daß es hier so greifbar in die Erscheinung tritt; denn wir können diesen Vorgang nur schematisch verfolgen. E s gilt dann in eminentem Sinne für die Reproduktion der Individuen, weil hier ein komplizierter Prozeß mit verzweigten Teilprozessen auf ein weiter hinausgerücktes Formziel gerichtet und in allen Einzelheiten straff bezogen ist. E s gilt aber auch für den phylogenetischen Prozeß, der von Anbeginn mit jenen beiden zusammen im Gange ist und grundsätzlich nur durch seine Unbegrenztheit von ihnen verschieden ist. E s ist wohlbekannt, daß am Determinationsproblem dieser Prozesse, insonderheit des zweiten, sich der Gegensatz der biologischen Theorien zu­ gespitzt hat. Sogar die Schlagwörter Bitalism us und Mechanismus haben hier ihre Wurzel. Diese Namen sind heute freilich überholt. Worauf es aber immer noch ankommt, ist der Gegensatz teleologischer und kausaler Deutung. Denn da wir die Prozesse nicht in alle Einzelheiten hinein ver­ folgen können, geht es in der Tat in beiden Lagern um Deutung. Um es gleich zu sagen: beide Ism en fassen das Wesen des morpho­ genetischen Prozesses nicht. Der V italism us nimmt — offen oder ver­ kappt — einen kategorial zu hohen Determinationstypus an» den er der Sphäre menschlichen Handelns entlehnt, sucht die Schwierigkeit eines zwecksetzenden Bewußtseins durch das unklare Denkschema der „imma­ nenten Zwecke" zu umgehen und ignoriert dabei ganz die eindeutige Widerlegung der konstitutiven Teleologie, wie schon die Kritik der U r­ teilskraft sie gebracht hat. Der Mechanismus aber, auch in seinen sehr kritisch gewordenen Formen, macht den umgekehrten Fehler, ein kate­ gorial zu einfaches Schema zugrunde zu legen. Die lineare Kausalität reicht schon bei den dynamischen Gefügen nicht aus, wie sollte sie bei den organischen ausreichen? So kann man immer nur einzelne Momente der organischen Funktionen verstehen, nicht ihr Gefüge in der Ganzheit, ge­ schweige denn den Entstehungsprozeß des Ganzen, die Morphogenese.

An diese Dinge braucht hier nur erinnert zu werden. Weniger ge­ läufig ist es aber, daß auch die ganze Alternative „entweder F inalität oder Kausalität", in der bis heute der S treit wurzelt, eine falsche ist, nämlich eine unvollständige Disjunktion. Es gibt noch andere Formen der Determination als die des Kausalnexus und des Finalnexus; diese beiden sind nur die bekanntesten, darum bieten sie sich einem zu Einseitig­ keiten stets geneigten Denken so aufdringlich an. M an mutz sich hier erinnern, wie bereits unterhalb des Organischen noch andere Typen der Determination aufgetaucht sind, in denen zwar der Kausalnexus die Grundlage bildet, aber nicht die Eigenart bestimmt. Diese stehen zu ihm grundsätzlich nicht viel anders als der Finalnexus auch: sie überformen ihn. Nur greifen sie mit der Überformung nicht so hoch, sind nicht dem Phänomen einer ganz anderen Seinsschicht (dem Tun des Menschen) abgelauscht und setzen keinen vorsehenden Beistand voraus. Bon dieser A rt ist schon die allgemeine Wechselwirkung, sowie die spezielle des dynamischen Gefüges; sodann die Naturgesetzlichkeit mit ihrer mathematischen Determination und schlietzlich die besonderen Formen innerer Gebundenheit, die Zentraldetermination und die Eanzheitsdetermination. Unter diesem Aspekt ändert sich die Sachlage von Grund aus. Es wird höchst unwahrscheinlich, ratz in den organischen Prozesien mit ihrer er­ staunlichen Ausrichtung auf die entfaltete Form und das Zweckmätzige nicht eine weitere, uns unbekannte Form der Determination, ein beson­ derer nexus organicus, enthalten sein sollte. Bei dem ungeheuren Reich­ tum und der geschichteten Bezogenheit dieser Prozesse sollte man a priori eher glauben, es müssten ihrer mehrere sein.

b. Problem-Übergewicht der Reproduktion über die Produktion

Gegen die Zwecktheorien hat K ant Abstand geschaffen. Es gibt zwar vitalistische Doktrinen, die das bis heute nicht begriffen haben. Aber das ändert nichts daran, daß hinter dem „Als ob" der Zwecktätigkeit keine wirkliche Zwecktätigkeit steht. Die „Zweckmäßigkeit" des Prozesses aber besteht nur relativ auf das Resultat. Und das ist ein blotz tautologisches V erhältnis; denn hätte der Prozeß ein anderes Resultat, so wäre er eben für dieses genau so zweckmäßig. Dazu kommt nun, daß es für den morphogenetischen Prozeß höchster Ordnung, den phylogenetischen, bereits grundsätzlich gelungen ist, der scheinbaren Zweckläufigkeit mit einer eigenartigen Determinationskate­ gorie beizukommen. Diese Kategorie ist die organische Selektion — zwar

nicht für sich allein, wohl aber im Zusammenhang mit anderen Kate­ gorien. Der Selektionsvorgang eben ist der Werdegang des Zweckmäßigen vom Zwecklosen her. Ob er viel oder wenig erklärt, ist eine sekundäre Frage; jedenfalls ist hier grundsätzlich eine Determinationsform greifbar geworden, die irgendwie mitten inne steht zwischen der einfachen Kausali­ tä t und dem viel zu hoch komplizierten Finalnexus. D as Lehrreiche am Selektionsprinzip ist also gerade dieses, daß die lenkende Vernunft und Zielsetzung (die „Hand des Züchters") in ihr durch einen Faktor ersetzt ist, der durchaus vernunftlos und zwecklos sich auswirkt: die natürliche Konkurrenz der Individuen und das überleben des Zweckmäßigen. Der Rest ist ein zwar komplexes und in vieler Hin­ sicht ungeklärtes, aber doch im wesentlichen kausales Geschehen. Etw as Derartiges ist es, was nun auch für die niederen Stufen der Morphogenese gesucht werden muß, insonderheit für die Ontogenese des Individuums. Aber hier gerade fehlt es an einem aufzeigbaren Faktor analoger Art. Alle bisherigen Kategorien lasten uns hier im Stich. M an hat natür­ lich auch hier an Jntraselektion gedacht, aber die ist viel zu eng begrenzt im Rahmen des individuellen Lebens. Außerdem gehört sie der „Funktion der Lage im Ganzen" an, und diese ist ja gerade der zweite Faktor, neben der Determination vom Keimplasma aus, setzt also diese schon überall voraus. Gerade bei der letzteren aber liegt das große Rätsel. Denn eben die Wirkungsweise eines Anlagesystems ist das Unbegreif­ liche. S ie aber macht den Unterschied der Ontogenese von der Phylo­ genese aus; um ihretwillen ist hier der Prozeß ein echter Entwickelungsprozeß, was er dort nicht ist, und darum hat er ausgeprägte Erenzstadien, Anfang und Ende. Er ist eben vom Anlagesystem beherrscht und gelenkt, und zwar auf eine Formentfaltung hin, welche diesem System ganz un­ ähnlich ist. Dieser Prozeß nun ist Reproduktion, nicht Produktion. D as Erstaunliche aber ist, daß in ihm sich die Reproduktion als der rätsel­ haftere Prozeß erweist. F ü r sie, nicht für die ursprüngliche Produktion der Form, ist der Determinationsmodus gesucht. Und um diese ihre Deter­ mination handelt es sich recht eigentlich im Problem des nexus orgamcus. Im Vergleich mit ihr darf man sagen, daß sogar die Determinationsform der ursprünglichen Formbildung noch relativ durchsichtig ist. Wobei frei­ lich nicht zu vergesten ist, daß in dieser die Erblichkeit der Eigenschaften schon vorausgesetzt ist, die ihrerseits aber schon auf der formgetreuen Reproduktion der Individuen beruht, also auf demselben gesuchten orga­ nischen Nexus. An diesem Problempunkte schaltet sich ganz von selbst die Staffelung des Lebensprozesses mit ihrem Ineinandergreifen der Morphogenesen

verschiedener Stufen ein. Keine dieser Stufen besteht für sich; Assi­ milation, Reproduktion und Artbildung setzen einander voraus, keine von ihnen läßt sich isolieren, es sei denn in der Abstraktion. Sieht man nun diesen gestaffelten Gesamtprozeß als ein Zusammenwirken von P ro ­ duktion und Reproduktion an, so fällt in der kombinierten Fragestellung das Hauptgewicht nicht auf die Produktion, sondern auf die Reproduktion. Hier liegt das zentrale Novum der organischen Determination. N ur durch das Zugrundeliegen der erbgetreuen Wiederbildung von Individuen erlangt die natürliche Selektion in der Phylogenese eine so hochgesteigerte Bedeutung, daß sie in das Wunder der Entstehung von Zweckmäßigem hineinleuchten kann. Ohne jene wäre sie die bloß automatische selectio primitiva, könnte also keine Steigerung und keinen Aufstieg der Formen hervortreiben. So entfällt denn nicht nur die Hauptschwierigkeit, sondern auch das sachliche Hauptgewicht aus den Determinationsmodus der Reproduktion. Darum laufen hier noch einmal alle Fäden der organologischen Proble­ matik zusammen. c. Die genauere Fragestellung. Verhältnis zu anderen Determinationsformen

Es muß in aller Entschiedenheit ausgesprochen werden, daß die kategoriale Eigenart des organischen Nexus zur Zeit noch ungeklärt und nahezu undurchdringlich ist. W as wir hier begreifen, beschränkt sich immer auf die prinzipielle Zuordnung von Determinanten (Genen) des Keim­ plasm as auf bestimmte Teilformen und Teilfunktionen des Organismus. E s führt auch nur wenig weiter, wenn w ir hören, daß nach neueren Forschungen nicht direkt die Körperformen determiniert werden, sondern n u r die Differenzierung der Zellen in der fortschreitenden Zellteilung. M it alledem begreifen wir weder die A rt des Determiniertseins selbst, noch können wir einzelne Determinanten aufweisen und einzelnen Zell­ gruppen des Körpers zuordnen. N ur ihr Vorhandensein als System ist nachweisbar. Aber auch dabei ist alles rückerschlossen aus der Deutung sekundärer Strukturen und Vorgänge in der Kernsubstanz der Keim­ zellen. Auf diese Strukturen und Vorgänge ist oben hingewiesen worden. S ie bestehen vor allem in der Gestalt und Bewegung der ChrSmosomen, in der Rolle der Zentrosomen, dem charakteristischen Vorgang der Mitose, den Reduktionsteilungen u. a. nt.; darüber hinaus haben wir nur gewisse Experimentaltatsachen der frühen Embryonalstadien. Alles weitere ist erschlosien. F ü r eine eigentliche Analyse der determinativen Wirkung, die vom Anlagesystem ausgeht, reichen diese Daten nicht ent­ fernt zu.

Der andere Entwickelungsfaktor, die „Funktion der Lage", ist natür­ lich um vieles besser begreiflich und in manchen Einzelheiten auch direkt experimentell aufweisbar. Aber er steht nicht für sich da und funk­ tioniert nur auf Grund einer schon bestehenden Anlagedetermination der Zellen. D as llnbegreifbare als solches kann man nicht begreifbar machen. Aber man kann es näher eingrenzen. Dafür ist vom Bekannten auszu­ gehen. Die begreifbare Seite ist nun, daß der Gang des Geschehens auch hier ein in den Einzelheiten kausaler ist. D as ist nicht verwunderlich und hat mit „mechanistischen" Vorurteilen nichts zu tun; das gleiche gilt ja auch von noch viel höheren Formen der Determination. Is t doch sogar im wirklich final geleiteten Prozeß (im menschlichen Tun) der Gang des realen Geschehens selbst ein kausaler (vgl. Kap. 27 a, b), denn in der Realisation von Zwecken wirken die M ittel als Ursachen. Und ähnlich w ar es ja auch in der Determinationsform der Selektion, desgleichen in denen der dynamischen Gefüge (Zentral- und Eanzheitsdetermination). N ur die Anordnung der llrsachenmomente ist hier eine sehr besondere, in ihr aber bestehen die kategorialen Überformungen des Kausalverhält­ nisses. Der Kausalnexus liegt eben überall wie eine Elementarform schon zugrunde. Darum ist es auch so leicht, ihn überall wieder durch geeignete Analyse ans Licht zu ziehen. Aber man irrt sich, wenn man deswegen meint, es läge nichts anderes als Kausalverknüpfung vor. I n der beson­ deren A rt der überformung muß darum auch das Geheimnis der orga­ nischen Determination in der Ontogenese gesucht werden. Beim Finalnexus sind es das erste und zweite Glied der Bindung, welche die Überformung, d. h. die eigentümliche Anordnung der Ursachen­ momente, zustande bringen. Der Realprozeß hat eben hier sein Vorspiel im Bewußtsein, die Zwecksetzung und die W ahl der M ittel. Eben darum kann dieser Nexus nicht der organische sein. Ähnlich w ar es bei der orga­ nischen Selektion die Hauptfrage: welcher Faktor übernimmt die Rolle des Züchters? Die Antwort ließ sich hier wenigstens grundsätzlich geben: der Kampf ums Dasein. S o ist nun auch hier zu fragen: welche Instanz übernimmt in der Ontogenese die ordnende Funktion, welche den Prozeß auf ein bestimmtes Endresultat hin ausrichtet und fortlaufend steuert? Es ist die Funktion, die so verführerisch nach einer leitenden und plan­ mäßig arbeitenden Vernunft aussieht, nach Vorsehung, Zwecksetzung und Selektion der Mittel. Welcher Faktor bringt das geschlossene und für den Gang der „Entwickelung" entscheidende System bewirkender Faktoren zustande? Von dieser Form der Fragestellung muß man ausgehen. F ü r ihre Behandlung aber gilt es, eine Reihe früher herausgearbeiteter Momente im Auge zu haben. Unter diesen steht an erster Stelle die Begrenztheit

und Geschlossenheit des Prozesses selbst, die Ganzheit des in sich geglie­ derten Prozesses, also das zeitlich-prozeßhafte Gefüge, das hier als kategoriales Novum auftritt und seinerseits den Rhythmus der Diffe­ renzierung und Gliederung hergibt, kurz die Prozeßkurve als zeitliche Ganzheit (Kap. 46 c, d). D as Rätsel darin ist dieses: wie können die späteren Prozeßstadien, die doch zu dieser Ganzheit gehören, auf die früheren einwirken? Sie können das natürlich überhaupt nicht — man müßte denn schon wieder zur Präform ation, zur Entelechie, zum „immanenten Zweck" greifen. D as gerade soll ja vermieden werden. An Stelle dessen sollte das Funktio­ nieren des Anlagesystems treten. Aber damit ist das Rätsel nur noch ein­ mal ausgesprochen; die Funktion eben dieses Systems ist vielmehr das Problem. Denn es ist nichts anderes als das in sich geschlossene, auf das Endstadium hin zusammengebrachte und angelegte llrsachensystem. Ferner ist daran zu erinnern, daß die reproduzierende Morphogenese ein Prozeß ist, der zwischen Form und Form eingespannt ist, wobei die Form selbst int wesentlichen identisch bleibt (Kap. 47 d). Aber er läuft nicht unvermittelt von Form zu Form, sondern zwischen Ausgangs- und Endform ist ein anderes, ganz unähnliches Formgebilde eingeschaltet, das Anlagesystem. Und an diesem hängt alles weitere. Die entfaltete Form ist also zwar selbst formtätig, aber nicht in der Weise, daß sie direkt sich wiederbildete. Sie macht den Umweg über das ganz andere Formsystem, dessen determinative Funktion die Reproduktion der Artform am In d i­ viduum ist. D as Problem des nexus organicus ist, von hier aus gesehen, gerade dieses: wie kann ein ganz anders geartetes Formsystem diese determina­ tive Funktion ausüben? Hier kommt kein nisus formativus in Betracht, ja nicht einmal direkte Formdetermination. Die „Determinanten" be­ stimmen unmittelbar nur B au und Funktion der Zellen, die bei der fort­ gesetzten Teilung der Eizelle entstehen; und da in diesen Vorgang die periodisch einsetzende llngleichteilung eingestreut ist, sy bestimmen sie auch die Differenzierung der Zellen. Aber die Lagerung und Anordnung im vielzelligen Organismus, also gerade das, was die sichtbare Form aus­ macht, bestimmen sie nicht. Das hängt vielmehr an der Funktion der Lage. Als Determination der phänotypischen Form ist also die Anlage­ wirkung eine weit vermittelte. Dieser Punkt ist von größerer Wichtig­ keit, als sich von hier au s ermessen läßt. Er verschiebt das organische Determinationsproblem vom Makroprozeß der Embryogenese auf den Mikroprozeß der Zellreproduktion. Dort aber ist die Sachlage eine ganz andere.

d. Organische Zentraldetermination. Der geschlossene llrsachenkomvler

M an kann jetzt versuchen, an die Beanwortung der Frage heranzu­ treten, welcher Faktor in der Reproduktion der Individuen die „Rolle der lenkenden Vernunft" übernimmt. Es braucht sich dabei freilich nicht um einen einheitlichen Faktor zu handeln; die Rolle kann auch wie bei der Selektion auf eine Vielheit von Faktoren verteilt fein. Die Frage läuft im wesentlichen darauf hinaus, wie die Wirkungs­ weise der „prospektiven Potenz" zu verstehen ist. Denn dieser Faktor ist es, der sich unter den übrigen — den äußeren Bedingungen und der Lagefunktion — von vornherein als ein ganz anders gearteter heraus­ hebt. An ihm in erster Linie hängt ja auch der unaufhebbare Schein der Teleologie. Und diesen gilt es nicht nur aufzuheben, sondern durch ein kategorial affirmatives Moment zu ersetzen. Driesch hat für eine solche Wirkungsweise den Terminus der „Ganz­ heitskausalität" eingeführt. Die Tendenz darin ist unbedingt anzu­ erkennen, denn es ist offenkundig ein Versuch, den höheren Deter­ minationstypus als solchen zu fassen, ohne gleich wieder in die übliche Finalvorstellung zu fallen. Dennoch ist der Terminus irreführend, und zwar nach zwei Seiten. Erstens soll es ja gerade nicht Kausalität sein. Und wenn auch in einem komplexen Determinationstypus kausale Momente enthalten sein müssen — denn es kann sich ja nur um Überformung des einfachen Grundverhältnisses handeln —, so kommt es doch jetzt nicht auf die Kausalität an, sondern auf die Überformung als solche. Und diese kann nicht wieder eine kausale sein. Bester ist es also, hier den neutralen Oberbegriff der „Determination" einzusetzen und die gesuchte Wirkungs­ weise als „Eanzheitsdetermination" zu bezeichnen. Zweitens ist aber auch das kategoriale Moment der Ganzheit hier nicht das maßgebende. M an bedenke: Eanzheitsdetermination ist ja viel­ mehr der andere Faktor des Entwickelungsprozesses, und darum heißt er „Funktion der Lage im Ganzen". E r eben bedeutet eine Rückwirkung des im jeweiligen Entwickelungsstadium entstandenen Gefüges auf den Teil. Hier kann man also mit Recht von Ganzheitsdetermination sprechen. Aber die determinierende Ganzheit ist nicht diejenige, auf welche der Prozeß hinausläuft (die ist ja noch nicht da), sondern die einer Über­ gangsphase. Und an der kann keine prospektive Potenz hängen. Der Faktor der „prospektiven Potenz" einer Zelle — oder auch eines Keimplasmateiles — liegt also nicht bei der Ganzheit. Diejenige Ganz­ heit, auf die hin er „prospektiv" ist, soll ja erst entstehen, und zwar durch

ihn. S ie könnte also nur als „immanenter Zweck" in den sich teilenden Zellen wirksam sein. Und gerade das ist ganz unmöglich, weil überhaupt keine zwecksetzende Instanz vorhanden ist. M an mutz sich also nach einer anderen Auskunft umsehen. E s bietet sich da zunächst die gleichfalls vom dynamischen Gefüge her bekannte Kategorie der Zentraldetermination an. E s ist keineswegs so, daß damit eine niedere Kategorie für ein spezifisch organisches Phänomen ein­ gesetzt würde. Vielmehr, wie neben dem dynamischen Gefüge das orga­ nische Gefüge seine Besonderheit hat, so auch neben der dynamischen die organische Zentraldetermination. A ls eine solche nur läßt sich der in Frage stehende determinative Faktor ohne weiteres auffassen. Wieviel damit gewonnen ist, bleibt natürlich eine andere Frage. Aber als Rahmenkategorie ist diese die gegebene. E s handelt sich hier also um eine sehr bestimmte, neuartige, nicht bloß energetische Zentraldetermination. D as kommt im Wesen des An­ lagesystems deutlich zum Ausdruck: die Anlage spielt im Entwickelungs­ gänge in der T at die Rolle eines bestimmenden Zentrums, dessen Funktion sich in der Teilung und Differenzierung der Zellen langsam weitergibt, sich entfaltet und so schließlich das Ganze durchdringt. Es wird hiernach als ein erster Punkt festzuhalten sein, daß die gegenseitige Ergänzung von prospektiver Potenz und Funktion der Lage nichts Geringeres bedeutet als ein wechselseitiges Sich-Durchdringen von ursprünglicher Zentraldetermination und jeweiliger Ganzheitsdetermi­ nation in jedem Stadium der Entwickelung. Da aber die Ganzheit, die a ls jeweilige Funktion der Lage wirkt, erst epigenetisch entsteht und suk­ zessiv von Stadium zu Stadium eine andere ist, die Stadien selbst aber durch Zellvermehrung und -disferenzierung bestimmt sind, so fällt trotz allem das Hauptgewicht in der Entwickelung auf die „prospektive Potenz", also kategorial ausgedrückt, auf die Zentraldetermination vom Anlage­ system aus. Es fragt sich also, ob w ir die besondere A rt dieser letzteren näher bestimmen können. Sie enthält zwar ein Unerkennbares, aber dieses läßt sich vielleicht noch enger umgrenzen. Jeder Schritt einer solchen Eingrenzung hat den Charakter einer positiven Einsicht. R un wissen wir aus früheren Erörterungen: ein straffes Ausgerkchtetsein eines Prozesses auf ein bestimmtes Endstadium, so daß gerade dieses und nichts anderes herauskommen muß, ist nur möglich auf Grund eines fest geschlossenen Ursachenkomplexes. Hierbei bedeutet die Ge­ schlossenheit, daß die Kollokation der Ursachenmomente keine ander­ weitigen Momente mehr aufnimmt, sondern die seinigen gegen Einflüsse der übrigen W elt isoliert. Das ist es, was dem Kausalnexus als solchem fehlt; dieser nimmt vielmehr beliebig Komponenten von außen auf. E r

ist eben auf kein Endstadium ausgerichtet und hat daher keinen ge­ schlossenen Verband bewirkender Momente. Das ist es aber gerade, w as der Finalnexus jederzeit hat, und darum ist er auf ein Resultat aus­ gerichtet. E r bringt das durch die Auswahl der M ittel vom Zweck aus zustande. Jede weitere Komponente ist hier störend, lenkt den Prozeß von seiner Richtung ab. Der Finalnexus im menschlichen Tun pariert deshalb solche Ablenkung, gleicht sie aus, muß aber dazu neue M ittel finden und einsetzen. Ein solcher geschloffener Ursachenkomplex liegt nun auch im Anlage­ system des Keimplasmas vor. Und das eben heißt es, daß das Anlage­ system ein System von „Determinanten" ist — einerlei was diese letzteren im übrigen auch sein mögen. Und eben das heißt es, daß ein jedes Glied dieses Systems eine prospektive Potenz für bestimmte Teile des Orga­ nismus in bestimmter Entwickelungsphase hat.

e. Die zweckmäßige Auslese der Ursachenmomente im Keimvlasma

Auf Grund dieser Sachlage läßt sich die Determination im Entwickelungsprozeß weiter diskutieren. W as der Finalnexus durch Setzung des Zweckes und Auswahl der Mittel von ihm aus erreicht, das wird in der Reproduktion der Individuen durch das Anlagesystem erreicht. Die Deter­ minanten dieses Systems spielen hierbei die Rolle von „M itteln", ohne freilich eigentliche M ittel zu sein. S ie bilden eben nur den auf das End­ resultat angelegten geschloffenen Ursachenkomplex. D araus wird die Um­ ständlichkeit der Vorgänge im Inneren des Zellkernes verständlich, wie sie bei jeder Teilung einsetzen. Es kommt eben auf die genau qualitäts­ gleiche Teilung, d. h. auf die exakte Erhaltung des Ursachenkomplexes in seiner Eeschloffenheit an. Denn es leuchtet ein, daß diese Erhaltung bei einer Durchteilung des ganzen Systems gefährdet ist. Überlegt man das nun genauer int Zusammenhang mit dem LebensProzeß großen S tils, so findet man, daß die Analogie zum Finalnexus sogar noch einen Schritt weiter geht. Wie dort die Reihe der M ittel seligiert ist, so sind auch hier die ursächlichen Komponenten, die das „geschloffene System" bilden, auf das Resultat des Prozesses hin „seli­ giert" — nur freilich nicht von einem vorsehenden Verstände, sondern nach der Weise organischer Selektion, nämlich durch die Konkurrenz der Individuen im gemeinsamen Leben der Art. Jedes Individuum ist ja Träger des Keimplasmas, und das Keimplasma selbst ist auch phylo­ genetisch entstanden, muß also Selektionsprozeffe hinter sich haben, in denen seine Zweckmäßigkeit sich herausgebildet hat. Und das ist ja evident, daß es seine eigene Kontinuität durch die Reihe der Individuen

hin nur dort durchsetzen und so sich selbst erhalten kann, wo es wirklich den Reproduktionsprozeß mit genügender Genauigkeit bei dem Arttypus festhält und dauernd Individuen dieses Typus hervortreibt. D as sieht widersprechend aus, wenn man die einzelne hochorgani­ sierte A rt isoliert betrachtet: da ist dann natürlich umgekehrt die Anlage­ determination in jeder Wiederbildung die Voraussetzung möglicher Selektionsprozesse. Anders aber sieht sich die Sache an, wenn man bedenkt, daß die Anlagedetermination zu den frühesten Errungenschaften der Vielzelligen gehört, weil sie ja sonst sich nicht reproduzieren könnten, ja, wenn man sie überall dort annehmen darf, wo sich Mitosevorgänge bei der Zellteilung nachweisen lasten — w as sich wohl kaum bezweifeln läßt —, so reichen ihre Anfänge bis tief in die Lebensformen der Ein­ zelligen hinab. Auf jeder Stufe der Artenbildung muß das Anlagesystem von höchster Zweckmäßigkeit für das Leben der A rt sein. M an darf wohl annehmen, daß es von allen Organen und Einrichtungen des Organismus den höch­ sten Selektionswert hat. Das bedeutet, daß ein solches System mitsamt dem Inbegriff der „prospektiven Potenzen", die ihm auf irgendeiner Stufe seines Werdeganges eigen sind, sich ebensogut wie die entsprechende phäno­ typische Artform auch seinerseits als Selektionsprodukt im Artbildungsprozeß verstehen läßt. Und gerade die Geschlossenheit und innere Ordnung der Ursachenmomente in ihm ist dann als eine gezüchtete zu verstehen: auf der ganzen weiten Strecke der Phylogenese können sich eben doch jederzeit nur lebende Arten gehalten haben, deren Anlagesystem ihrer Erhaltung oder auch ihrer Neuanpastung und Umbildung am besten angemesten war. Es konnte eben auch in dieser Hinsicht stets nur das Zweck­ mäßige überleben. Der Selektionsprozeß aber, in dem das Keimplasma der höheren Arten sich herausbildet, ist keinesfalls ein zweiter neben dem der A rt­ bildung selbst, sondern offenbar mit diesem identisch. I n der Auslese der Individuen steckt ja stets schon ein ganzes Bündel von Selektionsprozesten, deren jeder die Um- und Ausbildung einzelner Teile, Organe und Funk­ tionen betrifft. Diese selben Teile, Organe und Funktionen sind es aber, die in jedem Individuum reproduziert werden, also im Anlagesystem ihre zugehörigen „Determinanten" haben müsten. Soviel also wird man allgemein behaupten dürfen: es kann gar nicht anders sein, als daß jeder selektive Teilprozeß zugleich das Keimplasma und den Arttypus — das determinierende „Een" und das determinierte O rgan — betrifft, wobei dann die Umbildung des einen und die des anderen vielmehr eine und dieselbe Umbildung sind. E s muß eben doch alle S e k tio n schon von der Abänderung im Keimplasma, von seinen

Variationen und M utationen, ausgegangen fein; und nur was von ihm her a ls Variante am Individuum bestimmt ist, kann sich überhaupt weiter steigern. Denn nur das ist erblich. Der Vergleich des Anlagesystems mit den „seligierten M itteln" ist also trotz aller Andersheit doch sehr buchstäblich zu nehmen. Die einzelnen determinierenden Komponenten in ihm müssen in der T at schon ebenso phylogenetisch herausseligiert sein wie die Teile des Soma, welche sie bestimmen, und zwar ohne daß deswegen das Gefüge der ineinander­ greifenden Selektionsprozesie sich weiter zu komplizieren brauchte. Der Beweis dafür liegt in der Tatsache, daß einzelne Organe oder Teile von Organen, ja sogar höchst sekundäre Eigenschaften des Arttypus, wie F ä r­ bung, Zeichnung u .a . m. sich relativ selbständig abändem können. Eie haben also im System der „Eene" ihr eigenes determinierendes Element; und dieses ist von solcher Selbständigkeit, daß es unabhängig von anderen Elementen sich selektiv umbilden kann. S o läßt sich, ohne neue Hypothesen einzuführen, der geschlossene Ursachenkomplex im Anlagesystem bis in seine Einzelheiten hinein als ein seligierter verstehen; nur freilich nicht durch einen vorsehenden Verstand seligiert, sondern durch die natürliche Auslese der Individuen im Laufe eines phylogenetisch langen Werdeganges. Auf den geschlossenen llrsachenkomplex aber kommt es in erster Linie an, denn nur ein solcher kann fest auf ein Endresultat ausgerichtet sein, ohne doch zwecktätig zu sein. Auf diesem Wege wird es verständlich, warum die Wirkungsweise der Anlage­ elemente im Entwickelungsgänge des Individuum s sich uns als „prospek­ tive Potenz" darstellt: so nämlich, als ob gleichfalls ein Verstand, wenn­ schon nicht der unsrige, sie zum Zwecke der formgetreuen Wiederbildung ausgelesen hätte. Als eine Bestätigung dieser Dinge darf es gelten, daß der Ursachen­ komplex, der im Anlagesystem steckt, noch lange nicht die Totalität der Bedingungen darstellt, die zur Entwickelung der organischen Form gehört. E r bildet ja nur einen von drei Erundfaktoren, die Funktion der Lage und die äußeren Bedingungen zählen auch noch mit dazu. Und diese tragen noch weit mehr den Charakter überformter Kausalität; der eine ist der kategorialen Form nach Eanzheitsdetermination, der andere einfache Wechselwirkung. M an kann also sagen: die Ursachenkomplexe sind zwar in ihrer A rt „geschlossen", aber sie sind nicht Eesamtursache dessen, woraufhin sie an­ gelegt sind. S ie bleiben vielmehr in ihrer Auswirkung auf sehr bestimmte anderweitige Faktoren angewiesen. Und wenn diese fehlen, treten auch sie nicht in Aktion. Ih re Auswirkung, zumal in den vorgeschrittenen Stadien der Entwickelung, kommt nur in fortgesetzter Wechselwirkung mit

diesen zustande. Sie nehmen also in ihrer Auswirkung sehr wohl aus­ wärtige Ursachenmomente auf, ja sie müssen von Schritt zu Schritt neue aufnehmen, teils immer dieselben, teils wechselnd immer andere. Aber auch hierbei bleibt ihnen mittelbar der Charakter der Geschlossenheit, denn sie nehmen keineswegs beliebige Ursachenmomente auf, sondern durchaus nur bestimmte, und zwar in jedem Prozeßstadium wiederum nur die­ jenigen, die zu diesem als die ergänzenden gehören. Und dabei determiniert offenbar die sukzessive Anordnung ihres eigenen Inkrafttretens den Um­ kreis der äußeren Faktoren, die in jedem Stadium in die Eesamtdetermination aufgenommen werden. Bei dieser Wirkungsweise bleibt der ursprüngliche engere Ursachenkomplex des geschlosienen Systems auf der ganzen Linie der Entwickelung auch in bezug auf die akzessorischen Faktoren die bestimmende und gleichsam steuernde Instanz. Kategorial kann man das so ausdrücken: die Zentraldetermination, die von den „Eenen" ausgeht, bestimmt fortlaufend die Auslese derjenigen äußeren Ursachenmomente mit, die aus der jeweiligen Eanzheitsdetermination des Entwickelungsstadiums und aus seiner Wechselwirkung mit der umgebenden W elt in den Prozeß Hineinspielen dürfen. Die determinie­ renden Eene erweisen sich damit zugleich als seligierendes Prinzip der­ jenigen Entwickelungsbedingungen, die nicht in ihnen selbst enthalten sind. Der von ihnen gesteuerte Prozeß ist eben von ihnen daraufhin deter­ miniert, in bestimmten Stadien bestimmte äußere Einwirkungen in seinen Verlauf aufzunehmen. Und so kommt es heraus, daß sie mittelbar dennoch ein Ursachensystem von erstaunlich vollkommener Eeschlosienheit bilden, und zwar für das Ganze des in viele Einzelvorgänge aufgespaltenen Prozeßablaufes. An Eeschlosienheit ist diese Determination der teleologi­ schen, wie wir sie im menschlichen Tun kennen, in mancher Hinsicht überlegen. D as ist natürlich nur möglich, wenn die äußeren Verhältnisie den fortgeschrittenen Entwickelungsstadien auch wirklich die entsprechenden Faktoren darbieten. Und hier liegt eine Voraussetzung, welche kein An­ lagesystem von sich aus schaffen kann. Die Eanzheitsdetermination kann durch äußere Verletzung gestört werden, die äußeren Naturbedingungen — bis herab zu so allgemeinen wie Wärme, Licht, Wasier, Luft — können auch einmal fehlen oder aussetzen. Im allgemeinen aber ist für sie gesorgt. Ein Artleben entfaltet sich eben nur, wo die Lebensbedingungen von einer gewisien Konstanz sind; und nur an relativ konstante Bedingungen kann sich ein Arttypus anpasiem Die Funktion der Lage aber wird bei ent­ sprechender Störung durch das Einspringen anderer Zellengruppen weit­ gehend selbsttätig ausgeglichen. Auch an Störungen eben ist der Prozeß durch die M ultipotentialität der Zellen in den Grenzen des Notwendigen angepaßt.

k. D as Ineinandergreifen organischer Ganzheits- und Zentraldetermination

Damit ist das Irrationale im nexus organicus der Ontogenese nach einer Seite hin eingeschränkt. Aber die Grenze der Erkennbarkeit ist nur verschoben, nicht aufgehoben. Verständlich ist nur geworden, wie über­ haupt ein nicht final geschaffener, geschlossener Ursachenkomplex zustande kommen kann und wie er sich in einem geschlosienen Prozeß sukzessiv aus­ wirkt, in den daneben noch so viel andere Faktoren Hineinspielen. Da nun die Rolle der fehlenden Vernunft hierbei vom Selektions­ prinzip ausgefüllt wird, Selektion selbst jedoch nur grundsätzlich in ihrer Wirkungsweise erfaßt und keineswegs im einzelnen durchverfolgt werden kann — so wenig wie wir die Phylogenese selbst an ihrer Hand durchver­ folgen können —, so bleibt auch hiermit die eigentliche Determinations­ weise des organischen Nexus in der Ontogenese immer noch unberührt. W ir ersehen aus der grundsätzlichen Möglichkeit einer selektiven Ent­ stehungsweise des Anlagesystems noch keineswegs, „wie" eigentlich die Determinanten des Keimplasmas sich in der Morphogenese des I n ­ dividuums auswirken. Auch nach dieser Seite aber ist es möglich, das für uns Unerkennbare noch weiter einzuschränken. Das geschieht durch Besinnung auf die T at­ sache, daß das Keimplasma die organische Form eines Zellorgans hat, die von ihm determinierte Morphogenese aber die Form fortgesetzter Zellteilung mit gleichzeitiger Differenzierung und Anlagerung der Zellen zeigt. D as überbrückt offenbar die Heterogeneität zwischen Anfang und Ende des Prozeffes, zwischen Anlage und entwickelter Form. Hierbei ist auszugehen von dem Satz, daß die Determinanten des Keimplasmas nicht direkt die Form des entstehenden Organismus be­ stimmen, nicht also Lagerung und Anordnung der Zellen in den Geweben, sondern unmittelbar nur den B au und die Funktionsweise der Zellen. Das Ganze des Zellkernes bestimmt überdies noch die fortgesetzte Zell­ teilung selbst sowie die sukzessive Differenzierung ihrer Funktion, was auf ein etappenweise einsetzendes Sichausteilen des Keimplasmas an die ver­ schiedenen Zellengruppen hinausläuft. Die entstehende organische Gesamt­ form der Gewebe und Organe ist dagegen durch die Lagefunktion wesent­ lich mitbestimmt, die von Stadium zu Stadium eine andere ist und stets a ls Ganzheitsdetermination wirkt. Dadurch verschiebt sich, wie schon oben ersichtlich wurde, das Problem­ gewicht des organischen Nexus vom Makroprozeß der Embryogenese auf den Mikroprozeß der Zellreproduktion. Bei diesem aber liegen die Bedin­ gungen der Wiederbildung wesentlich anders. Hier ist der ganze Vorgang ein Teilungsprozeß, die Struktur des Zellkörpers wird in zwei Hälften

gespalten; und wenn auch verschiedene Zellorgane sich neu bilden, so beweist doch der ganze Vorgang der Mitose, daß der wichtigste Teil der Kernstruktur genaue Eleichteilung erfährt. I n der Hauptsache geht also hier aus der Ganzheit unmittelbar wieder Ganzheit hervor. Die Durch­ teilung läßt es nicht anders zu. I n der Zellreproduktion ist also nicht Zentraldetermination, sondern Eanzheitsdetermination das Maßgebende. Diese aber steht der mit Wechsel­ wirkung der Teilursachen verbundenen Kausalität noch näher und ist von ihr aus wenigstens grundsätzlich faßbar (a ls Überformung linearer K tu« salität). Der ganze Vorgang ist der Morphogenese niederer Ordnung in der Assimilation des Stoffes noch nah verwandt. Auch diese beruht auf Eanzheitsdetermination durch die vorbestehende Form, wiewohl im Kleinen; hier wie dort wirken noch alle Teile der organischen Struktur direkt mit, was in der Morphogenese des vielzelligen Organismus nicht mehr der F all ist. Nun aber beruht die letztere auf eben derselben Zellteilung wie die Fortpflanzung der Einzelligen, auf der fortgesetzten Teilung der befruch­ teten Eizelle, nur mit dem Unterschiede, daß die entstehenden Zellen zusammenbleiben, sich anlagern und Gewebe bilden. Wobei dann ein Ganzes höherer Ordnung entsteht, in dem es nun die fortlaufend sich ändernde Funktion der Lage gibt. Der andere Unterschied, der freilich ebenso wichtig ist, besteht in der Differenzierung der Zellen. Aber der ändert nichts am Charakter der Eanzheitsdetermination; hängt er doch selbst wesentlich an der entstehenden Ganzheit höherer Ordnung, sofern diese den funktionalen Reiz der Lage im Ganzen hergibt. „Wie" dieser Reiz es bewerkstelligt, andere und andere Teile des Keimplasmas in Funktion treten zu lasten, bleibt hierbei freilich unerkennbar. Ungelöst bleibt auch die Frage nach dem Übergang der Eleichteilung in Ungleichteilung und wieder zurück zur Eleichteilung; was ja, soweit die M ultipotentialität reicht, mit der funktionalen Diffe­ renzierung nicht identisch ist. Im m erhin wird doch soviel einsichtig, daß es sich nicht um unmittelbare Determination der vielzelligen Gewebe und Organformen durch die „Gene" handelt, sondern nur um vermittelte. Und das schränkt die Rätselhaftig­ keit doch sehr wesentlich ein. Direkt werden eben in der Reihe der Zell­ teilungen nur die jeweilig entstehenden „Tochterzellen" determiniert. Und daß bei der Durchteilung des Zellkörpers — auch wenn diese nur für einen Teil eine vollständige ist — sich die Zellstruktur erhält, ist doch um vieles begreiflicher. So wird wenigstens grundsätzlich die Determina­ tion eines Zellenaggregats als einer festen Lebensgemeinschaft stammver­ wandter Zellen vom Keimplasma aus verständlich. Eine solche Lebens­ gemeinschaft' aber ist eben der vielzellige Organismus. H a r t m a n n . Philosophie der Natur

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g. Überschichtung und Gefüge der Determinationen

I n diesen Überlegungen ist der irrationale Rest des organischen Nexus immer enger eingegrenzt worden. Verglichen mit der „direkten Deter­ mination heterogener Organformen", von welcher das Problem ausging, erscheint er jetzt doch erheblich reduziert. D as Hauptgewicht der Frage ist auf die niedere Ordnung der Reproduktion übergesprungen, diese aber ist immerhin weniger rätselhaft. Dagegen tritt jetzt erst das Irratio n ale in der Differenzierung der Zellen in den Vordergrund. Denn hierbei handelt es sich nicht nu r um Wiederbildung, sondern um Umbildung des Zelltypus, nicht um Gleich­ teilung der Zellstruktur, sondern auch um Ungleichteilung. E s ist zu fragen, ob auch dieser irrationale Rest sich weiter eingrenzen läßt. Gesetzt, die Chromosomen enthalten die struktur- und funktions­ bestimmenden Elemente aller später auftretenden Zellarten des Soma, dann ist es denkbar, daß in der fortgesetzten Zellteilung immer diejenigen Determinanten in den neuentstehenden Zellarten funktionsbestimmend werden, die den Zellen eine der Eesamtfunktion des Ganzen jeweilig ent­ sprechende (d.h. angepaßte) Teilfunktion verleihen. Wenn dem so ist, so entfällt auch im Differenzierungsproblem ein Hauptfaktor auf die Funktion der Lage, also auf die jeweilige Ganzheitsdetermination. Daß aber dieser Faktor sich seinerseits im Laufe der Entwickelung „differenziert" — und zwar streng gesetzmäßig in bestimmten Etappen und bestimmter Ordnungs­ folge —, dafür ist durch die Zellvermehrung und die jeweilig voraus­ gegangene Zelldifferenzierung ausreichend gesorgt. E s wäre also auf diese Weise nicht nötig, daß auch das Jnfunktiontreten der einzelnen „Gene" bei der ihm entsprechenden n-ten Teilung schon vom Keimplasma her determiniert wäre. I h r Einspringen in die Zelldetermination kann ganz und gar auf der Auslösung des funktionalen Reizes durch die sich ändernde Funktion der Lage beruhen. Daß unter dem Druck dieser Funktion die Zellteilung in der bestimmten Phase zur llngleichteilung wird, läßt sich dann weiter dahin verstehen, daß stets nur ein bestimmendes Element der Kernsubstanz (oder eine bestimmte Gruppe von ihnen) die Zellfunktion bestimmen kann, nicht aber alle zugleich. Offenbar würde die Zellfunktion sonst überdeterminiert sein. Die ver­ schiedenen Gene, oder auch ganze Gruppen von Genen, müssen dann aber in einer A rt Konkurrenz stehen. Und dabei würde der Funktion der jeweiligen Lage im Ganzen die Rolle des seligierenden Prinzips zu­ fallen.

Nach diesem Prinzip müssen in jedem Entwickelungsstadium neue Gruppen determinierender Elemente drankommen, je nachdem welcher Zellfunktion die jeweilige Einordnung in das Ganze einen Vorzug gibt. Und je nach der determinierenden Gruppe müssen dann auch B au und Funktion der Zellen anders ausfallen. D as ist an sich eine hypothetische Überlegung. Doch spricht für die T at­ sächlichkeit einer solchen Wirkung des Lagefaktors nicht wenig; so z. B. die bekannte Beobachtung, daß die Zellen der frühen Embryonalstadien um vieles mehr multipotentiell sind als die der späteren. Don ihnen haben Experimente gezeigt, daß sie im Falle künstlicher Störungen noch in vollem M aße die Funktion von amputierten Zellen übernehmen, während diese Fähigkeit in den späteren Stadien mehr und mehr versagt. So wenigstens bei den höheren Tieren. D as kann nur bedeuten, daß die Zellen früherer Stadien noch das volle Keimplasma besitzen, während die der späteren nur noch einen Teil enthalten, und die letzten wohl nur noch die spezielle Determinanten­ gruppe, welche ihre eigene funktionierende Kernsubstanz ausmacht. Und sofern besten Glieder die Art der Zellfunktion bestimmen, bedeutet die Auf­ teilung mittelbar die Differenzierung der Zellen. — E s wurde oben in der Diskussion des „Lebensprozesses" gezeigt, wie die Stufen des organischen Aufstieges ineinanderstecken. Assimilation, Fort­ pflanzung und Artbildung bedingen sich gegenseitig. Ein Gleiches scheint sich jetzt auch für die Arten der Determination zu ergeben, die im Auf­ bau des organischen nexus zusammenlaufen. I n der Ontogenese der Vielzeller greifen Zentraldetermination und Eanzheitsdetermination mannigfach ineinander. Jene haftet am Keim­ plasma, diese an der Funktion der Lage. Nun aber zeigte sich, daß das Keimplasma direkt nur die Zellen bestimmt; da deren Vermehrung aber auf Teilung beruht, und diese wiederum die Form einer Eanzheitsdeter­ mination hat, so folgt, daß hier eine Zentraldetermination höherer Ord­ nung auf einer Eanzheitsdetermination niederer Ordnung basiert ist. Andererseits hängt hierbei die Differenzierung der Zellen an dem funk­ tionalen Reiz der „Lage im Ganzen", und diese ist Eanzheitsdetermination der höheren Ordnung. So greifen hier offenbar drei verschiedene Deter­ minationen harmonisch ineinander: eine Zentraldetermination höherer Ordnung, teilweise beruhend auf Ganzheitsdetermination niederer Ord­ nung, kreuzt sich mit einer Eanzheitsdetermination der höheren (also ihr gleichen) Ordnung. Und da dieses ganze Gefüge von Determinationen ein phylogrnetisch gewordenes ist, so steht seine Entstehung unter einer Determination noch größeren S tils, der des Stammeslebens und seiner Formbeweglichkeit.

Diese aber ist weder Zentral- noch Eanzheitsdetermination; die einzige Seite an ihr, die wir bis heute kategorial durchschauen, ist die des Selek­ tionsprinzips. M an mutz sich also wohl oder übel — d. h. solange w ir keine bessere Auskunft wiffen — für die weitergreifenden Zusammenhänge an dieses Prinzip halten. Nun halte man das aber mit dem zusammen, was sich oben über Selektionsprozesie ausmachen liefe: diese funktionieren nicht ohne Reproduktion der Individuen. E s ergibt sich also, datz das ganze Gefüge ein viergliedriges ist; es stecken von vornherein vier verschiedene Determinationen inein­ ander, und zwar verteilt auf drei verschiedene Ordnungen der Form ­ bildung. Im Leben der vielzelligen Organismen durchdringen sie alle sich dergestalt, datz keine ohne die andere funktionieren kann. Dem vollen Sinne des nexus organicus kommt man am nächsten, wenn man ihn in dieser Überschichtung und gegenseitigen Abhängigkeit der vier Determinationsweisen zu fassen sucht. Sein Kernstück mag immer­ hin in der Zentraldetermination der mittleren Ordnung liegen. I n dieser allein aber besteht er nicht. M an würde ihn überhaupt vergeblich in einer isolierten Dependenzform suchen. Gerade die Hochkomplexe Synthese hete­ rogener Determinationsformen ist für ihn charakteristisch. D as kategoriale Novum der Synthese aber entbehrt zur Zeit noch der ihr angemesienen übersichtlichen Fassung.

84. Kapitel. D ie Artgesetzlichkeit

a. Stellung der „besonderen Gesetze" Der Einschlag der Gesetzlichkeit im Aufbau der belebten Welt ist ein so grotzer und an allen organologischen Kategorien greifbarer, datz es sich erübrigt, von ihm gesondert zu handeln. W as sich an Grundsätzlichem in Form und Funktion der Organismen ergeben hat, lätzt sich fast alles auch in die Form von Gesetzlichkeit fassen, was ja bei vielen Kategorien auch geschehen ist. Der Typus der Gesetze selbst hebt sich dabei ganz von selbst als ein spezifisch organischer von dem der physikalischen Gesetze ab, nicht anders a ls organische Gefüge und Prozesse sich von dynamischen Ge­ fügen und energetischen Prozessen abheben. M an könnte auf die Heraus­ arbeitung solcher Gesetze hinausgelangen, wenn diese überall ebenso durch­ schaubar und formulierbar wären wie die physikalischen. Davon kann natürlich nicht die Rede sein, schon deswegen, weil je höher hinauf ins Spezielle, um so mehr die am besten fatzbare Seite der Gesetze, die quanti­ tative, zurücktritt. Hier liegt ja auch der Grund, warum die Biologie sich auf weiten Problemgebieten enger an die äutzeren Erscheinungen, an das M aterial der Beobachtung, Beschreibung und unvollständigen Induktion

halten muh. Die dahinter stehenden Gesetze werden wohl teilweise sichtbar, aber zumeist nicht exakt greifbar. Gleichwohl ist das nur die allgemeine Gesetzlichkeit des Lebendigen. Darüber hinaus gibt es besondere Gesetzlichkeit des pflanzlichen und tieri­ schen Lebens, mit der es die Kategorienlehre gar nicht mehr zu tun hat, wohl aber die biologische Wisienschaft: Gesetze der Klaffen, Ordnungen, Familien» Gattungen und Arten von Lebewesen. Und es liegt auf der Hand, daß diese mit der zunehmenden Enge ihres Geltungsbereichs immer komplizierter werden. Jede lebende A rt hat ihre besondere Artgesetzlichkeit, genau so gut wie ihre besondere Form und Lebensweise; und mit der Form steht sie auch insofern auf einer Linie, a ls Form und Gesetz das Allgemeine der A rt ausmachen. Das ist bis in die äußere Erscheinung hinein tief charakteristisch; denn dieses Allgemeine der A rt ist zum Teil etwas sehr Konkretes. Anschau­ liches, direkt Beobachtbares, wenn auch meist nicht exakt Fahbares. Nichts liegt der Wahrnehmung näher als das Allgemeine der Form und des Verhaltens; nichts bietet sich der Beobachtung so aufdringlich dar wie die Lebensweise, die Bewegungsweise, die Reaktionen und sogar manche I n ­ stinkte. I n diesen kündigt sich die Artgesetzlichkeit an. Freilich ist das nur Außenseite; vielleicht erst weit hinter der Grenze des Gegebenen mag die besondere Gesetzlichkeit der inneren Organfunktionen, des Stoffwechsels, der Fortpflanzung, der Lebensdauer und Lebenskurve, der Regulation usw. liegen. Von den „besonderen Gesetzen" des Organischen hat Kant als von den konstitutiven Wesensmomenten des Lebendigen gesprochen. E r verstand sie als die unbekannten Gesetze, an die wir nur von ferne auf empirischem Wege herankommen, indem die „reflektierende Urteilskraft" sich suchend und tastend auf sie ausrichtet, die aber auf apriorische Grundlagen zu bringen wir nicht die Kategorien haben. Sie find es, die sich überall hinter der in die Augen fallenden Zweckmäßigkeit der Formen, Prozesse und Lebensäußerungen verbergen. Daher freilich auch die wenigstens grund­ sätzliche Möglichkeit, sich ihnen erkennend zu nähern. Der Leitfaden dazu ist das „regulative Prinzip" der Zweckmäßigkeit. Diese Kantische Fassung der Sachlage trifft sehr genau auf die A rt­ gesetzlichkeit im strengen Sinne zu; weniger vielleicht auf die durchgehenden allgemeinen Gesetze des Organischen überhaupt. Denn gerade in den be­ sonderen Gesetzen der einzelnen lebenden A rt handelt es sich um das, was unserem Nachspüren zumeist wirklich nur von der Seite der Zweckmäßig­ keit her zugänglich ist. Und in der T at sind unzählige offenbar gesetz­ mäßige Zusammenhänge, zumal in den Funktionen der Organe, an dem Leitfaden aufgespürt worden, daß die Organe sich so verhalten, „als ob" sie bewußt zum Zweck einer Leistung so eingerichtet wären, wie sie find.

b. Die phylogenetische Beweglichkeit der Artgesetze

D a nun Form und Gesetz im Organischen eng zusammengehören, so mutz von der Gesetzlichkeit Ähnliches gelten wie von der Form. Von der Form zeigte sich, daß sie einerseits den Charakter des Zustandes hat, und zwar des Dauerzustandes, andererseits aber doch auf allen ihren Stufen im Flusse ist. S ie wandelt sich zwar nur langsam, und der Mensch hält sich daher bei ihr vorwiegend an die Seite des Zustandes. I n größeren Zeit­ maßen gesehen gibt es sie aber nur im Wandel, int Formungsprozeß, in ständiger Morphogenese. Dadurch löst sie sich wieder in den Prozeß auf. Am Zustandscharakter hängt das entscheidende Moment der Konsistenz, Las aber seinerseits den Modus des aktiven Sichselbsterhaltens durch Wiederbildung zeigt. Damit ist die Formerhaltung selbst schon auf Form ­ beweglichkeit angewiesen. E s gibt keine träge Beharrung der Form. Zu­ gleich zeigte sich, daß auch im Großen die Form beweglich ist, sich selbsttätig umformt, anpaßt und gleichsam jederzeit auf dem Wege zu neuer Form ist. Die Phylogenese erweist sich als formschöpferischer Prozeß. W ie steht es nun damit bei der Artgesetzlichkeit? D as erstere kann man von ihr offenbar nicht sagen. Sie teilt zwar die Konsistenz der Form, aber sie „erhält" sich nicht durch Selbstwiederherstellung,' das hat bei einer Gesetzlichkeit offenbar keinen Sinn. D as Verhältnis ist vielmehr dieses, daß alle Individuen der A rt „unter sie fallen", und zwar jedes Stadium der Formbildung wieder unter seine besonderen Gesetze. Wobei die letzteren natürlich mit zu der vollen Artgesetzlichkeit zählen. Ebenso kann man von der Artgesetzlichkeit nicht sagen, daß sie. „auf dem Gefüge der Prozesse ruhte", wie das von der organischen Form gilt. Vielmehr, ste ist gerade wesentlich die Gesetzlichkeit der Prozesse, auf deren Gefüge die Form sich relativ „ruhend" erhält. S ie hastet ganz an der Artung der Teilprozesse und ihres Jneinandergreifens, sowie an der A rt ihrer Regulation, welche die Labilität des Prozeßgleichgewi hts aus­ gleicht. Sie ist von den stabilisierenden Momenten des Gefüges gar nicht abtrennbar. Dagegen teilt die Artgesetzlichkeit mit der Artform die Eigentümlich­ keit, daß sie nicht absolut fest ist. S ie läßt auch in ihrem Bereich Spielraum für eine gewisse Labilität, Variabilität, Streuung und Abwandlung. Sie hat also nicht die Striktheit der mathematischen Naturgesetze. Und das ist es, w as sie von diesen eindeutig abhebt, sie neben ihnen zu einer eigenen, spezifisch organischen Gesetzlichkeit macht, das kategoriale Novum in ihr. S o allein ist es zu verstehen, daß sie auch mit der Form die phylo­ genetische Beweglichkeit teilt. Diese Gesetze beherrschen zwar innerhalb des Lebens der Art, soweit dieses sich gleich bleibt, alle Individuen und alle

individuellen Vorgänge, und in diesen Grenzen haben sie auch durchaus objektive Allgemeinheit. Aber sie haben nicht die Konstanz derjenigen Allgemeinheit und Notwendigkeit, welche die Gesetze der anorganischen N atur auszeichnet. Echte Naturgesetze find unveränderlich, sie entstehen und vergehen nicht, sie walten überzeitlich im Zeitlichen. Ob sie in einem bestimmten Hier und Jetzt in K raft treten oder nicht, hängt lediglich daran, ob die Seinsverhältnisse, Vorgänge oder Gebilde, die hier und jetzt vorliegen, unter sie fallen oder nicht. Organische Artgesetzlichkeit dagegen wandelt sich mit der Form und dem sie tragenden Prozeßgefüge. S ie ist phylo­ genetisch entstandene Gesetzlichkeit, geworden unter dem Druck natürlicher Selektion, zu der ihre eigene „Streuung" in dm Individuen den Ansatz darbietet. D as ist ein kategoriales Novum der Artgesetzlichkeit. Und dieses Novum ist von hoher Bedeutung, die Höhe der ganzen Seinsschicht des Organischen hängt wesentlich mit an ihm: durch eben diese Beweglichkeit ist sie ebenso anpasiungsfähig wie die organische Form. Und nur, weil sie anpassungs­ fähig ist, fällt sie unter das Prinzip der organischen Selektion — in der­ selben Weise wie die organische Form und der organische Prozeß unter dieses Prinzip fallen — und kann sich steigern, komplizieren, intensivieren, sich höher hinaufbildm. J a , dadurch erst ist sie jener unabsehbaren Diffe­ renzierung und Mannigfaltigkeit fähig, gegen welche die physische Gesetz­ lichkeit sich arm ausnimmt.

c. llneigentliche Gesetze. F orm w an d el und Gesetzeswandel

Insofern liegt denn auch bei der besonderen Gesetzlichkeit der Arten noch einmal eine eigene Kategorie des Organischen. Daß es Gesetze geben soll, die sich wie reale Gebilde zeitlich wandeln, ist „physikalisch" ein Widerspruch in sich selbst. Entweder etwas ist N atur­ gesetz oder es wandelt sich, aber nicht beides zugleich. Organologifch aber ist es kein Widerspruch, weder in sich selbst, noch im Zusammenhang mit anderweitig Geltendem. Hier ist das „Entweder — Oder" nicht disjunktiv zu verstehen. Diese Gesetzlichkeit ist eben nicht eigentliche und nicht strenge Naturgesetzlichkeit, sondern gleichsam eine . A rt Mimikry der Naturgesetze — genau so wie die Artformen ja auch stets die Täuschung absoluter Kon­ stanz hervorgerufen haben, also eine A rt Mimikry der Wesenheiten (bei essentiae der alten Metaphysik) darstellen. Sie sind eben selbst keine echten „Gesetze", sowenig wie die organischen Formen echte Wesenheiten find.

Darum heben sich auch von ihnen die wirklich allgemeinen Gesetze des Lebendigen durch einen scharfen Erenzstrich ab. Gesetzen der letzteren A rt sind wir vielfach begegnet. Zu ihnen zählen die Gesetze des Stoffwechsels, der Morphogenese, des Gleichgewichts der Prozesse, der Reproduktion und Erhaltung, der S tabilität, der Variation und der Selektion. Am Einschlag des Apriorismus in ihrer Einsichtigkeit tritt es am deutlichsten zutage, daß es sich hier um echte Naturgesetze handelt, d. h. um solche mit Allge­ meinheit, Notwendigkeit und Überzeitlichkeit der Geltung im Zeitlichen. Solche Ersetze kann man ohne weiteres neben die sog. exakten Gesetze der Physik stellen, wennschon sie sehr anders beschaffen, nicht mathematisch fundiert und nicht in gleicher Exaktheit faßbar sind. M an könnte sich nun freilich damit helfen, die besonderen Artgesetze dennoch auch als strenge Naturgesetze zu fassen, nur eben a ls Ersetze von so hoher Spezialität und Kompliziertheit, daß das Feld ihrer Fälle sehr eng wird. Sie würden sich dann immer noch aus „alle" Individuen der lebenden Art erstrecken, nämlich solange diese unverändert fortbesteht; dem würde es nicht witwrsprechen, wenn die Individuen der verändetten A rt nicht mehr unter dieselben Gesetze fallen, sondern unter andere. Einer solchen Auffassung steht in der T at nichts im Wege. N ur ist dabei die Ausdehnung des strengen Gesetzesbegriffs nicht angetan, die (Eigenart der „Artgesetzlichkeit" als solcher erkennen zu lassen. Diese aber besteht eben dattn, daß sie mit der besonderen Artform phylogenetisch auftaucht und mit ihr wieder verschwindet. Prakttsch tu t man bester, sie anders zu fasten. Diese Gesetze ordnen sich zwanglos in eine Reihe mit den sekundären, von temporären Bedingungen abhängigen Gleichartigkeiten der kosmischen Berhältniste ein, die ja auch von hoher Konstanz sind, also etwa mit dem Wechsel von Tag und Nacht oder Sommer und W inter auf der Erde, oder gar in bestimmten Breiten. Solange die Lage der Pole auf der Erdoberfläche sich nicht verschiebt, sind diese Formen des Wechsels für bestimmte Orte konstant. Ähnlich ist es mit Ebbe und Flut, mit dem Kreislauf des Masters, mit der Erostonstätigkeit der Wasterläufe. Hier überall können wir leicht erkennen, daß die Bedin­ gungen der Konstanz bloß zeitweilige sind. Trotzdem kann man auch hier am Gesetzescharakter festhalten, ohne dessen S in n zu verändern. Aber das Felö der Gesetzesgeltung bleibt zeitlich beschräntt. Eindeutiger vielleicht noch ist die Analogie zwischen den Artgesetzen und den geschichtlich sich wandelnden Gesetzen der Menschengemeinschaft. Alle Normen des posittven Rechts, die M oral und Lebensformen sind von dieser A tt: sie gelten in bestimmter Zeit für einen Menschenschlag be­ stimmter Att. N ur sind die Artgesetze des Organischen keine Normen; sie beherrschen die Individuen nicht wie bloße Forderungen (die auch über-

schritten werden tonnen), sie walten vielmehr in ihren Grenzen ganz wie Naturgesetze — „als ob" sie solche w ären —, wie inhaltlich bestimmende Machte in den Individuen. Die Art, wie die Ameise sich bewegt, Nahrung sucht und zusammenträgt, wie sie kämpft, den B au verteidigt uff. ist Sache der Artgesetze. Und was diesen etwa nicht entspricht, schlägt eben au s der Art. I n allem Übrigen ist die Analogie eine strenge. Sie zeigt sich auch in der Verborgenheit der Zeitbedingtheit. Wie bei den „positiven" Gesetzen des geistigen Lebens die R elativität auf Zeit und Volk erst besonders entdeckt werden mutzte, so auch an der Artgesetzlichkeit des Organischen die zeitliche Abwandlung und die phylogenetische Entstehung. I n Wahrheit steht hinter der scheinbaren Konstanz der Artgesetze die selektiv entstandene Angepatztheit der organischen Funktionen an bestimmte gegebene Bedingungen. Die besondere FunktionsgesetzlWeit ist eben an diese Bedingungen genau so sehr angepatzt wie die Formen und Funk­ tionen selbst. Und sie ist von gleicher Begrenztheit der Konstanz wie diese. Bewegliche Gesetzlichkeit dieser A rt gibt es unterhalb des Organischen nicht. S ie ist ein Novum der Lebendigkeit. Alle Artbildung ist zugleich Gesetzesbildung, Schaffung neuer besonderer Artgesetzlichkeit. M an möchte sich versucht sehen zu sagen, sie sei Gesetz­ gebung. Aber dazu fehlt es an der gebenden S tim m st. K lar ist dagegen, datz alle Selektion der Individuen auf Formmomente hin zugleich Selektion auf Gesetzesmomente hin ist. Denn diese „besonderen Gesetze" haben hohen Selektionswert, ihre Zweckmätzigkeit für das Gesamtindividuum des A rt­ lebens steht nutzer Zweifel. Die werdende Gesetzlichkeit ist dabei einfach die Umbildung der Funktion zusammen mit der Umbildung der Form. Datz es das gibt, ist und bleibt etwas überaus Wunderbares; aber auch eine Sache von gröhter Tragweite. Denn weiter aufw ärts im seelischen und geistigen Sein ist gerade der ständige Wechsel der besonderen Gesetze in der Zeit das Wesentliche. Alle Konsistenz rückt ihm gegenüber zu einem blohen „interim“ herab.

Merke von Tticolcu k^artmann I. Hauptwerke i m V e r l a g W a l t e r de E r u y t e r L C o . Erundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. 1921; vierte Auflage 1949. Er.-Oktav. XVI, 572 S . Br. DM 22,—, gbd. DM 24,— Ethik. 1926; dritte Auflage 1949. Er.-Oktav. XXII, 823 6 . B r. DM18,60, gbd. DM 20,— D as Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Eeisteswissenschasten, 1933, zweite Auf­ lage 1949. Er.-Oktav. XVI, 564 6., B r. DM 18,—, gbd. DM 20,— «Zur Grundlegung der Ontologie, dritte Auflage 1949. Er.-Oktav. XX, 322 6 . B r. DM 12,60, Halb!. 14,50 «Möglichkeit und Wirklichkeit (Ontologie B and 2), 1938. Zweite Auflage 1949. Er.-Oktav. XIX, 481 S. Br. DM 17,60, Halbl. 19,50 «Der Aufbau der realem Welt, Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre (Ontologie Band 3), 1940; zweite Auflage 1949. Er.-Oktav XVII, 616 6 . B r. DM 21,60, Halbl. 23,50 Die Philosophie des deutschen Idealismus: I. Teil: Fichte, Schelling und die Romantik, 1923, Er.-Oktav. VIII, 282 Seiten DM 3,—, geb. 4,—. Vergriffen. II. Teil: Hegel, 1929, Er.-Oktav X, 392 Seiten DM 9,—, geb. DM 10,— II.

Frühere Arbeiten

in a n d e r e n

Verlagen

P latos Logik de» S ein s (Philosophische Arbeiten III). Berlin, Alfred Tövel-

mann, 1909. Oktav. X, 512 Seiten. Vergriffen De» Proklos Diadochus philosophische Anfangsgründe der Mathematik (Philos.

Arbeiten IV. 1). Bin., A. Töpelmann. 1909. Oktav. 57 6 . Philosophische Grundfragen der Biologie (Sb. 6 der Sammlung „Wege zur

Philosophie"). Güttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht. 1912. 172 6 . Vergr.

III. Aufsätze und Beiträge Zur Methode der Philosovhiegeschichte. Kantstudien, Sb. XV. 1910. Syftembildnng und Idealism us, in Philosophische Arbeiten. Berlin, Bruno

Cassierer, 1912. Systematische Methode. Logos, Bb. III. 1912. über die Erkennbarkeit de» Apriorische«. Logos, Sb. V. 1914—15. Logische und ontologische Wirklichkeit. Kantstubien. Bb. XX, 1915. * Erscheint als einmalige Lizenzausgabe im Westkulturverlag, Meisenheim/Glan.

Die Frage der Beweisbarkeit des Kausalgesetzes. Kantstud. Vd. XXIV, 1919 Aristoteles und Hegel, Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealism us,

Bd. III, 1923; 2. Aufl. (Sonderdruck) Erfurt, Kurt Stenger, 1933 Diesseits vo« Idealism us und Realismus, ein Beitrag zur Scheidung des

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Natorp, Berlin, W alter de Eruyter, 1924 Kategoriale Gesetze, ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen Kategorien­

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berichte der Preuh. Akademie d. Miss., Phil.-Hist. Klasse 1935. XV (auch als Sonderdruck, DM 2,50) Hegel und da» Problem der Realdialektik. B lätter für deutsche Philosophie,

Bd. IX. 1935 Der philosophische Gedanke und seine Geschichte. Abhandlungen der Preuh. Akad.

d. Wissenschaften. Phil.-Hist. Klasse 1936, V (auch als Sonderdruck. DM 3,—) Der Megarisch« und der Aristotelische Möglichkeitsbegrifs, ein Beitrag zur Ge­

schichte des ontologischen Modalitätsproblems. Sitzungsber. d. P r. Akad. d. Wissensch., Phil.-Hist. Kl. 1937, X (auch als Sonderdruck), DM 1,— Zeitlichkeit und SubftautialitSt. Blätter für deutsche Philos.. Bd.XII, 1938 Heinrich M aiers Beitrag rum Problem der Kategorien. Sitzungsberichte der

Preuh. Akad. d. Wissensch., Phil.-Hist. Klasse, 1938, VIII (auch als Sonder­ druck, DM 1,—) Aristoteles und das Problem des Begriffs. Abhandlungen der Preuh. Akad.

d. Wissensch., Phil.-Hist. Klasse, 1939, V (als Sonderdruck vergriffen) Zur Lehre vom Eidos bei Platon und Aristoteles. Abh. d. P r. Akad. 1941 Rene Weg« der Ontologie, 2. Ausl. Stuttgart, Kohlhammer 1947 Die Ansänge des Schichtungsgedanke«» in der Alten Philosophie. Abhandlungen

d. Preuh. Akad. 1943 Die Wertdimeustonen der Rikomachischen Ethik. Ebenda 1944 Raturphilosovbie und Anthropologie. Blätter für deutsche Philosophie, 1944 Leidniz a ls Metaphysik«. Berlin, W alter de Gruyter, 1946 Ziele und Wege der Kategorialaaalyse. Zeitschr. f. philos. Forschung II. 1948

Leibntz zu seinem 300. Geburtstag (1643—1946) M it Beiträgen von: E.Benz, I . Döhl, K. Dürr, N. Hartmann, E. Hochstetter, I . E. Hofmann, R. F. Merkel, K. Reidemeister, I . Stendel, R. Zocher u. a. Herausgegeben von E. Hochstetter

Aus der Einleitung: „ ...O h n e einen Ersatz für die nur im Geiste eines Ein­ zelnen gestaltbare Monographie geben zu wollen, werden wir die Welkanschauung und das Werk dieses umfassenden Denkers auf den verschiedenen Gebieten, die er beherrschte, von heute auf diesen Gebieten jeweils führenden und namhaften Vertretern zur Darstellung bringen lassen: Seinen Glauben und seine Stellung zu den christlichen Konfessionen, seine Logik, seine Mathematik, seine Erkenntnis­ theorie, seine Psychologie, Metaphysik, Dynamik, Anthropologie und Ethik, seine Leistungen als Jurist, Historiker, Politiker, Sprachforscher, Techniker und Orga­ nisator der wissenschaftlichen Arbeit sowie sein Wirken für die Medizin und das Sanitätswesen. Die bedeutsamen Fragen seiner Voraussetzung in der philo­ sophischen Tradition und seines Nachwirkens im deutschen Geist werden be­ handelt werden. Svezialuntersuchungen werden u. a. die Entwicklung seiner Mathematik in P aris, seine Beziehungen zu Peter dem Groben und seine Stellung zu China schildern. Als späterer Abschluß ist eine Biographie vor­ gesehen." Das Werk wird zunächst in Lieferungen erscheinen, die später sachlich geordnet in Bandform zusammengefaßt werden sollen. Bisher sind erschienen: 1. Lfg. Leibniz als Metaphyfiter vonNicolaiHartmann.28 S. 1946. DM

1,50

2. Lfg. Leibniz undPeter der Grobe vonE. Bens. 88 S. 1947.

DM 3,50

3. Lfg. Zu Leibniz' Gedächtnis. Eine Einleitung von E. Hochstetter. 82 6 . 1948.

DM 3,—

4. Lfg. Leibniz' mathematische Studien in P a ris von Joseph E. Hofmann. 70 S. 1948.

DM 4,80

5. Lfg. Leibniz' Forschungen im Gebiet der Syllogistik von Karl Dürr. 40 S. 1949. DM 2 — 6. Lfg. Leibniz als Historiker von Werner Conze. 80 6 . 1950.

etwa DM 3,50

Weitere Lieferungen folgen. Berlag Walter de Sruyter & Co., Berlin W 35