Philologische Kommentarkulturen: Abu Ubaidas Magaz al-Qur'an im Licht spatantiken Exegesewissens
 3447106964, 9783447106962

Table of contents :
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Diskurse der Arabistik Herausgegeben von Hartmut Bobzin und Angelika Neuwirth Band 23

2016

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

Nora Schmidt

Philologische Kommentarkulturen Abū ʿUbaidas Maǧāz al-Qurʾān im Licht spätantiken Exegesewissens

2016

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

Die Publikation ist die überarbeitete Fassung der gleichnamigen Doktorarbeit, die im April 2015 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin (Siegelziffer D 188) eingereicht wurde.

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Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2016 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-6807 ISBN 978-3-447-10696-2 e-ISBN PDF 978-3-447-19566-9

Für Marc

Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX 1. „Philologische Exegese“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Abū ʿUbaidas Stellung in der arabischen Sprachwissenschaft  aus klassischer und moderner Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Formaler Werkauf‌bau und Überlieferung des Maǧāz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Maǧāz al-Qurʾān als „turn des tafsīr“?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Beurteilung der arabischen Philologie in der Forschung. . . . . . . . . . . . 1.5 Maǧāz al-Qurʾān als Kommentar der „vorrhetorischen“ Phase  arabischer Sprachwissenschaft?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Der Begriff maǧāz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



2. Dialektik von Allegorese und literaler Interpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Historische Perspektive auf die Allegorese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Systematische Perspektive auf die Allegorese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Allegorie und Literalsinn als heuristische Begriffe  zur Untersuchung frühislamischer Korankommentare. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Koranphilologie im spätantiken Denkraum?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?.. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Devotionalität, Repräsentationscharakterund semantische Klärungsbedürftigkeit des Korans im 7. Jahrhundert.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ausdifferenzierung des Textbegriffsin den ʿulūm al-Qurʾān im 8. Jahrhundert.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Textbegriff des Qurʾān in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān. . . . . . . . . . . 3.4 Begründung für die Notwendigkeit der Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Der Vorwurf der Auslegung nach Gutdünken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Formen der Glossierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Formen der Segmentierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Autorisierungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Überlegungen zu den Funktionen der Dichtung im philologischen Korankommentar und zusammenfassende Rückschau. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5. Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Aṣl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Sabab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Waǧh.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Maṯal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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6. Schriftgebrauch und Buchkultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 ‚Graphophobie‘ und ‚Bibliophilie‘ der arabischen Philologen.. . . . . . . . . . . 6.2 Soziale und materiale Voraussetzungen der arabischen Philologie. . . . . . 6.3 Intellektuelle und gesellschaftliche Kontroverse um Buch und Verschriftlichung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der frühen Abbasidenzeit. . . . . . . 6.5 Mündlichkeit und Schriftlichkeit als kommunikative und epistemische Formen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Abū ʿUbaid als Fallbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Zusammenfassung und Ausblick — ‚Episteme‘ der Schrift. . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 English summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Vorwort Im Jahr 2009 hat Lale Behzadi im Vorwort zu ihrer Monographie zur Sprach- und Erkenntnistheorie al-Ǧāḥiẓ’ (gest. 225/868) darauf aufmerksam gemacht, dass bei der Diskussion um Methoden zur Erforschung arabischer Literatur zu wenig auf die literaturkritischen, philologischen und hermeneutischen Texte der „klassischen“ Zeit eingegangen würde. Die hier vorgelegte Arbeit zu einem der frühesten Vertreter der arabischen Philologie, Abū ʿUbaida, ist aus der Wahrnehmung dieses Desiderats heraus entstanden. Der Leser wird eine methodische Heterogenität der einzelnen Kapitel dieses Buches bemerken. Im Mittelpunkt aller Teile steht der Philologe Abū ʿUbaida — nicht immer als Autor seines Korankommentars, sondern auch als gesellschaftlich Handelnder und als agent provocateur. Der Methodenpluralismus hat zu tun mit dem hier verfolgten Anspruch, einen ‚formativen‘ sprachwissenschaftlichen, exegetischen Text der arabisch-islamischen Wissenschaften — Maǧāz al-Qurʾān — kulturwissenschaftlich zugänglich zu machen. Erfolgreich wäre dieses Buch in meinen Augen dann, wenn es dazu beitragen würde, die arabische Philologie und Koranexegese als lehrreichen und bedeutenden Teil einer globalen Wissens- und Philologiegeschichte auszuweisen und das Gespräch zwischen arabistischer und allgemein kultur-, literatur- und religionswissenschaftlicher Forschung anzuregen. Mein Dank gilt Andreas Ismail Mohr und Ghassan al-Masri, die mir zuerst als Lehrer, dann als Kollegen und schließlich als Freunde dabei geholfen haben, den philologischen Korankommentar zu durchdringen. Ohne ihren Rat und ihre Hilfe, die sie in zahlreichen gemeinsamen Lektüresitzungen geleistet haben, hätte ich meine Doktorarbeit, die dieser Publikation zugrunde liegt, und die im Juli 2015 an der Freien Universität Berlin angenommen wurde, nicht vollenden können. Ich danke den Mitgliedern der Promotionskommission Prof. Rainer Kampling, Prof. Beatrice Gründler und Prof. Sebastian Conrad für ihre Lektüre und einzelne wertvolle Hinweise. In erster Linie bin ich aber Prof. Angelika Neuwirth zu Dank verpflichtet, die diese Arbeit angeregt und betreut hat. Obwohl das Projekt zunächst durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert wurde, war ich in die Arbeit des Teilprojektes „Von Logos zu Kalām“ im Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit“ seit dessen Gründung integriert. Angelika Neuwirth gebührt Anerkennung für die Öffnung ihrer eigenen Forschungsfragen für die wissenstheoretischen und methodischen Fragen des SFBs und dafür, viele wertvolle Begegnungen mit KollegInnen innerhalb und außerhalb der deutschsprachigen Arabistik geschaffen zu haben. Ihre Rücksicht

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Vorwort

auf familiäre Verpflichtungen möchte ich ebenso dankend hervorheben wie ihren ansteckenden Enthusiasmus und ihre forschungsprogrammatische Entschlossenheit. Prof. Gyburg Uhlmann, der Sprecherin des SFBs „Episteme in Bewegung“, danke ich für die Lektüre meiner Arbeit und das mir entgegen gebrachte Vertrauen etwa durch die Beauf‌tragung mit der Leitung einer Konzeptgruppe im SFB. Meinen Kollegen Nora Katharina Schmid, Islam Dayeh, Manolis Ulbricht, Adrian Pirtea und Jacob Veidt danke ich für eine kollegiale Zusammenarbeit und viele Anregungen während der letzten Jahre. Auch Tobias J. Jocham bin ich zu Dank für seine Hilfe bei der Drucklegung dieser Arbeit verpflichtet. Zuletzt danke ich meiner Familie dafür, während der Zeit des Studiums und der Promotion um mich herum gewachsen zu sein und mich in Berlin beheimatet zu haben. Nora Schmidt, Berlin im September 2016

1. „Philologische Exegese“ „Als ich meine Reise vorbereitete, beschäftigte mich vor allem die Frage, welches englische Wort dem arabischen Begriff taʾwīl entspricht. Ibn Arabi, die Muʿataziliten und all die anderen Korankommentatoren nannten es taʾwīl, wenn sie den Koran deuteten. Sollte ich unter „interpretation“ nachschlagen? Einige Professoren rieten mir unter „suprainterpretation“ oder „ultrainterpretation“ zu suchen, aber das Resultat war dürftig. Hasan Hanafi sagte mir: Hermeneutik! Und genau so war es. […] Ich stürzte mich auf die grundlegenden Werke der Hermeneutik. Ich fing bei den Griechen an, stieß zu Schleiermacher vor, erreichte Wilhelm Dilthey und Martin Heidegger, kehrte zurück zu Gadamer und ging weiter zu Paul Ricœur. […] Nach und nach merkte ich, dass die Welt, die mir so fremd war, weil ich deren Begriffe nicht kannte, immer mehr meine eigene wurde. Und plötzlich entdeckte ich in dieser Welt Ibn Arabi. […] Die Welt, die ich in der Universitätsbibliothek von Philadelphia erkundete, war seine Welt. Es war die Welt zwischen dem Leser und dem Text. […] Während ich gleichzeitig Gadamer, Heidegger, Ricœur und Ibn Arabi las, fragte ich mich, ob es tatsächlich eine westliche und eine östliche Philosophie gab. Es erschien mir immer unwahrscheinlicher. Gewiss waren es andere Wörter, eine andere Syntax, andere Metaphern, aber in all den Texten ging es um eine Sache: die Beziehung zwischen dem Text und dem Leser. […] In der Beschäftigung mit Ibn Arabi und der Hermeneutik verlernte ich meine apodiktischen Urteile über die Wahrheit eines Gegenstandes oder einer Aussage, […]. Ich verlernte zu sagen, diese oder jene Interpretation sei falsch, nur die eine sei richtig.“ 1

Diese Studie ist aus demselben Interesse an — und einer ähnlichen Leidenschaft für — „philologische Erkenntnis“ erwachsen, wie sie der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid in seiner Autobiographie beschrieben hat. Die überwältigende Begegnung Abu Zaids mit den unterschiedlichen Hermeneutiktheorien während eines Studienaufenthalts an der University of Philadelphia führte ihn zu der Einsicht, dass „Hermeneutik“ nie ein rein europäisches Projekt gewesen ist, sondern dass dieselben Fragestellungen — die Beziehung zwischen Leser und Text, Geschichte und Gegenwart, Subjekt und Objekt — in ähnlicher Weise in der arabischen Philosophie diskutiert wurden und ihren Einfluss auf die Entwicklung von Methoden der Interpretation des Korans gezeitigt haben. Abu Zaids Zögern hinsichtlich der Übertragung des arabischen Begriffs taʾwīl in den englischen Begriff interpretation ist ebenso vielsagend wie berechtigt. Nicht die Techniken und Strategien, sondern die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von „Interpretation“ unterliefen im 20. Jahrhundert eine intensive Neuperspektivierung. Dabei wusste Abu Zaid zur 1 Nasr Hamid Abu Zaid (zusammen mit Navid Kermani), Ein Leben mit dem Islam, Freiburg 2001, S. 114f.

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Zeit seiner Entdeckung in der Universitätsbibliothek von Philadelphia nicht, dass sein späteres Schicksal die Dialektik von literaturwissenschaftlicher Deutung und politischer Wirklichkeit auf groteske Weise unter Beweis stellen würde. 2 Seine Amtsenthebung als Professor für Arabistik an der Universität in Kairo und seine Flucht ins europäische Exil nach einer öffentlichen Denunziation als Feind der islamischen Religion haben direkt mit der in seinen wissenschaftlichen Arbeiten angewandten, in der ägyptischen Gesellschaft der 90er Jahre für „ketzerisch“ befundenen Koranhermeneutik zu tun. Das Verhältnis von „östlicher“ und „westlicher“ Hermeneutik ist in den vergangenen Jahren mehrfach zum Thema der Wissenschaft geworden. So überdachte etwa der niederländische Religionswissenschaftler Jacques Waardenburg die Übertragbarkeit des Begriffs Hermeneutik in vergleichbare „islamische“ Konzepte jüngst aus einer der von Abu Zaid entgegengesetzten Perspektive: „In welchem Sinne lässt sich für den Islam von Hermeneutik sprechen? Im Sinne von Auslegungsregeln, die v. a. auf heilige Texte angewandt werden? Gibt es überhaupt eine bestimmte Denkweise, die der tafsīr genannten exegetischen Arbeit zugrunde liegt?“ 3 Auch in Monographien zu einzelnen Texten der Koraninterpretation ist in den vergangenen Jahren mehrfach nach den Prinzipien einer „arabischen Hermeneutik“ gefragt worden, allerdings meist mit Blick auf die „klassische“ Koranexegese ab dem 10. Jahrhundert unserer Zeit. 4 Was die frühislamische — und frühislamisch meint hier die Anfänge der gelehrten Auseinandersetzung mit dem Koran ab der Mitte des 7. bis zum Anfang des 9. Jahrhunderts — betrifft, liegen die Dinge anders. In der Forschung zu den Anfängen der arabischen Wissenschaftskultur hat lange eine ‚Arbeitsteilung‘ zwischen den verschiedenen Disziplinen bestanden. Arbeiten zur arabischen Grammatik, zum islamischen Recht oder zur Koranexegese beziehen die ‚Fächer‘ des entstehenden arabischen Wissenskanons aufeinander oft lediglich 2 Rotraud Wieland hat den „Fall Abu Zaid“ zum Ausgangspunkt einer Erörterung von „Schwierigkeiten innerislamischer Gespräche über neue hermeneutische Zugänge zum Korantext“ aufgegriffen. Siehe „Wurzeln der Schwierigkeit innerislamischen Gesprächs über neue hermeneutische Zugänge zum Korantext“, in: The Qurʾān as Text, hg. von Stefan Wild, Leiden 1996, S. 257–282. Auch Cornelia Schöck diskutiert die Koranhermeneutik Abu Zaids, hier unter dem Gesichtspunkt des ‚Rationalismus‘. Siehe Cornelia Schöck, „Der moderne Islam zwischen Traditionalismus und Rationalismus. Geistesgeschichtliche Hintergründe der aktuellen Krise“, in: Soziale und kulturelle Herausforderungen des 21. Jahrhunderts (Zeitdiagnosen 6), hg. von Karl Acham, Wien 2005, S. 87f. 3 Jacques Waardenburg, „Gibt es im Islam hermeneutische Prinzipien?“, in: Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen Dialog, hg. von Hans-Martin Barth und Christoph Elsas, Hamburg 1996, S. 54. 4 Bruce Fudge hat den Kommentar des schiitischen Autors aṭ-Ṭabrisī (gest. 1154) auf seine semantische Zielsetzung („how is meaning extracted from the words of the text?“) und exegetische Strategien hin untersucht. (Bruce Fudge, Qurānic Hermeneutics. Al-Ṭabrisī and the craft of commentary, New York 2011.) Walid Saleh lenkte den Blick auf den Korankommentar aṯ-Ṯaʿlabīs, eines in der Forschung vernachlässigten Zeitgenossen Abū Ǧaʿfar Muḥammad aṭ-Ṭabarīs, dessen Hermeneutik Saleh vor allem mit Blick auf gesellschaftspolitische Diskurse behandelte. Siehe Walid Saleh, The Formation of the Classic tafsīr Tradition. The Qurān Commentary of al-Ṯaʿlabī, Leiden 2004.

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mit Blick auf den Gebrauch von Begriffen oder Techniken; selten aber werden sie in einen gemeinsamen intellektuellen Diskurs verankert. 5 Ein solcher „frühislamischer“ Text, der Korankommentar des Philologen Abū ʿUbaida Maʿmar ibn al-Muṯannā (gest. 209/824 oder 25, im Folgenden Abū ʿUbaida), Maǧāz al-Qurʾān, steht im Zentrum der nun folgenden Untersuchung. Abū ʿUbaida nimmt in der arabischen Geistesgeschichte eine kontroverse Stellung ein. In einem der Bildungszentren des von den Abbasiden regierten Reiches, in Basra, erlebte Abū ʿUbaida eine Zeit des kollektiven Identitätstransfers von einer arabischen in eine ‚islamische‘ Gesellschaft, an welchem die Disziplin der Philologie maßgeblich beteiligt war. Konkurrierende Ansprüche auf Autorität über das arabische Erbe und die politische Herrschaft bilden den Hintergrund für die Entstehung einer ‚arabischen Nationalphilologie‘, die sich zum einen mit der Sammlung und Systematisierung der Überlieferung der Araber vor dem Islam und zum anderen mit dem Text des Korans befasste. Dieser Transfer ist in Maǧāz al-Qurʾān selbst erkennbar. Dort werden Verse des Korans mit dem Hinweis auf Verse der altarabischen Dichtung erklärt und so das ‚alte‘ und das ‚neue‘ Weltbild in ihren beiden Überlieferungsformen in eine Beziehung gesetzt, die bei vielen von Abū ʿUbaidas Zeitgenossen erhebliche Irritationen hervorgerufen haben muss. Sein Kollege und Rivale ʿAbd al-Malik ibn Quraib al-Aṣmaʿī 6 (gest. 213/828) warf Abū ʿUbaida vor, den Koran „nach Gutdünken“ auszulegen. 7 Die kontemporären basrischen Grammatiker sollen ihn nicht als ihresgleichen akzeptiert haben, weil Abū ʿUbaida sich bei der Rezitation von Poesie und Koran zu sehr auf sein Sprachgefühl verlassen habe. 8 Zudem soll Abū ʿUbaida den altarabischen Gedichten eigene Interpretationen hinzugefügt und den Koran grammatisch fehlerhaft rezitiert haben. 9 Aufgrund seiner Nachlässigkeit im Verweis auf Autoritäten kam Abū ʿUbaida nicht als Überlieferer von Poesie und Prosa (rāwī oder aḫbārī) infrage. Brockelmann weiß sogar darüber zu berichten, dass in Basra niemand dem Leichenzug Abū ʿUbaidas gefolgt sei, weil er sich durch die Sammlung von Schmähungen altarabischer Stammesfürsten in seinem Kitāb al-Maṯālib zu viele Feinde gemacht habe. 10  5 Eine Ausnahme bietet Amal Marogys Studie zu dem frühislamischen Grammatiker Sībawaih. (Kitāb Sībawayhi. Syntax and Pragmatics, Leiden 2010.) Nun auch die Studie von Isabel Toral-Niehoff zur Stadt al-Hira. (Al-Ḥīra: Eine arabische Kulturmetropole im spätantiken Kontext, Leiden 2013.)  6 Abu Saʿīd ʿAbd al-Malik ibn Quraib al-Bāhilī l-Aṣmaʿī ist selbst vor allem als Überlieferer von Dichtung und als Lexikograph bekannt. Siehe Fuat Sezgin, GAS, Bd. 9, S. 66.  7 Zu diesem Vorwurf siehe Kapitel „3.5 Der Vorwurf der Auslegung nach Gutdünken“ (S. 89) und Kapitel „6.1 ‚Graphophobie‘ und ‚Bibliophilie‘ der arabischen Philologen“ (S. 199).  8 Fuat Sezgin, „Muqaddima“ (Einleitung des Herausgebers), in: Maǧāz al-Qurʾān, Istanbul 1954, Bd. 1, S. 14–15 (Abū ʿUbaida fī raʾy muʿāṣirīhi: Abū ʿUbaida aus der Sicht seiner Zeitgenossen).  9 Muḥammad ibn al-Ḥasan az-Zubaidī, Ṭabaqāt an-naḥwīyīn, hg. von Muḥammad Abū l-Faḍl Ibrāhīm, Kairo 1954, Bd. 3, S. 193. 10 Carl Brockelmann, GAL, Bd. 1, S. 103. Zur Gattung der maṯālib Literatur siehe Charles Pellat, Eintr. „Mathalib“, in: EI². Den Sammlern von Schmähsprüchen wurde oft auch der Vorwurf des Antiarabismus gemacht.

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In der modernen Arabistik wird Maǧāz al-Qurʾān dem ‚philologischen‘ Korankommentar zugerechnet und in mehreren neueren Darstellungen der frühislamischen Koranexegese als Wendepunkt hin zu einer wissenschaftlich fundierten Koraninterpretation diskutiert. 11 In der Tat markiert Abū ʿUbaidas Arbeit nicht nur einen Anfangspunkt zunehmend systematischer und wissenschaftlich fundierter Koraninterpretation. Vielmehr ist der Autor ebenfalls bekannt für seine Kompilationsarbeit an der altarabischen Dichtung und der arabischen Sprache in Form von Wörterbüchern, aber auch der Sammlung von Sprichwörtern (amṯāl) und Prosaberichten (den aiyām al-ʿarab). Abū ʿUbaida genießt in dieser Hinsicht den Status eines ‚Gründervaters der arabischen Philologie‘. 12 Die lose Gattungsbezeichnung des ‚philologischen Korankommentars‘ besagt dabei mehr als vielleicht intendiert. Sie macht deutlich, dass das gelehrte Bemühen um den Koran in den arabisch-islamischen Bildungszentren des 2./8. Jahrhunderts auch aus einem Interesse an der arabischen Sprache bzw. der literarischen Überlieferung erwächst. Wir könnten diese Arbeit beginnen mit der Frage, was Philologie eigentlich ist. Ist sie eine Hilfswissenschaft zur zielgerichteten Auslegung fundierender Texte etwa aus dem Bereich der Theologie oder des Rechts? Oder ist die Philologie eine Wissenschaft mit einem eigenständigen Forschungsgegenstand, der Sprache und der Literatur eines spezifischen Kulturkreises? Ist sie, wie der moderne Literaturwissenschaftler Peter Szondi fragt, überhaupt Wissenschaft? 13 Eine Hinwendung zu außereuropäischen Formen von Interpretation und Textbegriffen ist aus europäischer literaturwissenschaftlicher Sicht zunächst naheliegend angesichts der Krise, in die die Hermeneutikdebatte im deutschen und angelsächsischen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geraten war. Die existenzialphilosophische Hermeneutik Gadamers, die für Abu Zaid noch einen Schlüssel für die Öffnung in interkulturelle Debatten dargestellt hatte, ist in Deutschland scharf kritisiert worden. Die postmoderne Skepsis gegenüber dem Primat der Bedeutung und die damit verbundene Veränderung der Perspektive auf den Literaturwissenschaftler ist andernorts als „Hermeneutik-Krise“ 14 beschrieben worden, die anti-hermeneutische oder dekonstruktivistische Gegenmodelle zu „klassischen“ oder „modernen“ — generell mit dem Vorwurf des Positivismus oder der Methodenblind11 Siehe z. B. Claude Gilliot, „Kontinuität und Wandel in der islamischen Koranexegese (II./VII.-XII./ XIX. Jh)“, in: Der Islam, Band 85/1 (1990), S. 1–155. Nicolai Sinai, Fortschreibung und Auslegung. Studien zur frühen Koraninterpretation, Wiesbaden 2009 und Cornellis Versteegh, Arabic Grammar and Quranic Exegesis in Early Islam, Leiden 1993. Zur Einschätzung der beginnenden Wissenschaftlichkeit siehe auch weiter unten Kapitel „1.3 Maǧāz al-Qurʾān als „turn des tafsīr“?“ (S. 16). 12 B. Lewin, Eintr. „al-Aṣmaʿī“, in: EI²: „Al-Aṣmaʿī and his contemporaries Abū ʿUbayda and Abū Zayd al-Anṣārī constitute a triumvirate to which later philologists owe most of their knowledge about Arabic lexicography and poetry.“ 13 Peter Szondi, „Über philologische Erkenntnis“, in (ders.): Hölderlin-Studien, Frankfurt a. M. 1973, S. 9–34. 14 Siehe z. B. Harro Müller, „Hermeneutik oder Dekonstruktion?“, in: Ästhetik und Rhetorik, hg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt a. M. 1993, S. 98ff.

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heit belasteten — Zugängen zu Text und Bedeutung nach sich zog. 15 Der in dieser Studie verfolgte Weg zur Überwindung der krisenbelasteten Hermeneutikdebatte besteht in der Verlagerung des Diskurses auf die historische Ebene. Statt der Beantwortung der Frage, wie Bedeutung in (literarischen, sakralen oder kanonischen) Texten konstituiert und wie ein angemessener Zugang zu ihr geschaffen werden könnte, oder aber statt der listenreichen Kritik an solchen Bemühungen, soll die Entwicklung hermeneutischer Zugänge in der Geschichte dargestellt werden. Damit soll keine primäre Textkritik betrieben, sondern Methoden von Textkritik außerhalb des europäischen modernen ‚Mainstreams‘ nachvollzogen werden. Es soll nicht um die pauschale Frage gehen, ob ‚so etwas wie Hermeneutik‘ im arabischen Sprachraum und der islamischen Kultur überhaupt zu finden sei, sondern darum, welche Textbegriffe der arabischen Philologie zugrunde liegen und wie die Leistung der Interpretation bewertet und gelenkt wird. Ziel dieser Arbeit ist es, Abū ʿUbaidas Korankommentar Maǧāz al-Qurʾān im Hinblick auf die grundlegende Verfahrensweise beginnender arabischer Philologie sichtbar zu machen. Bereits wegen der doppelten Eingebundenheit des Werkes und seines Autors in den exegetischen sowie in den literarisch-linguistischen, den ‚philologischen‘ Diskurs, eignet sich Maǧāz al-Qurʾān als Richtungsweiser zum Verständnis der Anfänge arabischer Gelehrsamkeit. Indem hier ein Philologe der Frühzeit arabischer Sprachwissenschaft und Koraninterpretation in den Vordergrund gestellt wird, soll aber gerade nicht ein singuläres Phänomen in einer als autochthon verstandenen arabischen Kulturgeschichte fokussiert werden, sondern der Text und die Techniken in Maǧāz al-Qurʾān zunächst als ein Beispiel für eine vormoderne Hermeneutik außerhalb Europas mit der ihr gebührenden Aufmerksamkeit gelesen werden. Insofern versteht sich diese Arbeit als ein Beitrag zu der an Perspektiven der „world history“ 16 und „world literature“ 17-Debatten anschließenden Heuristik der „world philologies“, 18 die in den USA vor allem durch den Sanskritologen Sheldon Pollock geprägt worden ist und in Deutschland zum Beispiel von dem Arabisten Islam Dayeh entwickelt werden. Vor allem angesichts des unleugbaren Eurozentrismus der Hermeneutik-, Literatur- und Text‌theorien des 20. Jahrhunderts ist die historische Erforschung einzelner nicht-europäischer Interpretationsmodelle und deren ‚Übersetzung‘ in europäische Sprachen und Diskurse so vielversprechend. Über den unmittelbaren akademischen Nutzen hinaus zielt die an Modellen der Verflechtungsgeschichte orientierte Erarbeitung der arabisch-islamischen Kommen15 Siehe auch Hans-Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2004. 16 Z. B. Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013. 17 Siehe z. B. David Damrosch, What is World Literature?, Princeton 2003. Theo D’haen, David Damrosch und Djelal Kader (Hgg.), The Routledge Companion to World Literature, Routledge 2009. 18 Siehe vor allem Sheldon Pollock, Benjamin A. Elman und Ku-Ming Kevin Chang (Hgg.), World Philology, Boston 2015. Und nun auch die von Islam Dayeh herausgegebene Schriftenreihe Philological Encounters und darin ders., „The Potential of World Philology“, Leiden 2016, S. 396–418.

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tarliteratur darauf ab, hartnäckig erhaltenen und heute durch politische Ideologien erhärteten Vorurteilen über die Unvereinbarkeit von arabischem und europäischem Denken, sowie die Unübersetzbarkeit des Korans in nichtarabische Sprachen und die Methoden seiner Erschließung entgegen zu wirken. Für die Näherung an die Anfänge der arabischen Philologie und das konstitutive Stadium der Koraninterpretation des ausgehenden 8. Jahrhunderts bietet sich ein zweifacher Zugang an, der sich im Auf‌bau dieser Arbeit widerspiegelt: Jüngere Forschungsprojekte haben das Thema der kulturellen Positionierung zu und Bewältigung von Mehrdeutigkeit als ein zentrales Thema exegesespezifischer Untersuchungen aufgegriffen. Nicht erst Thomas Bauer, der der arabisch-islamischen Kultur eine spezifische Ambiguitätsaffinität attestierte, hat Mehrdeutigkeit als heuristisches Paradigma für die Beschreibung kultureller Dynamiken dingfest gemacht. 19 In der Philosophie 20 und den verschiedenen Theologien 21 haben Untersuchungen zu erkenntnistheoretischen Dimensionen von Metapher, Allegorie und Allegorese längere Traditionen, die in dieser Arbeit in Teilen rekapituliert werden sollen. Das zweite Kapitel ist daher der Erarbeitung der Begriffe Allegorie und Literalsinn als heuristischen Begriffen zur Untersuchung kultureller und religionspolitischer Dynamiken der Spätantike gewidmet. In der arabistischen Forschungsliteratur, deren Positionen zum Thema im ersten Kapitel dargestellt werden, gilt der ‚philologische Korankommentar‘ im Allgemeinen und Abū ʿUbaidas Ansatz im Besonderen als spezifisch literal operierende Hermeneutik. Aufgrund des Einflusses der arabischen Sprachwissenschaften auf die Koranhermeneutik des 8. Jahrhunderts hätten Abū ʿUbaida und seine Zeitgenossen die Bedeutungen (wie durch den Gebrauch der Begriffe maʿnā und maǧāz gekennzeichnet) in innerlinguistischen Referenzzusammenhängen, nicht in der Beziehung zwischen Sprache und außertextueller Wirklichkeit gesucht. 22 Das semantische System, das diese Exegeten applizieren, soll hier vor dem Hintergrund der zu erarbeitenden Analysebegriffe Allegorie und Literalsinn aus dem unmittelbaren Kontext der Entstehungsgeschichte der arabischen Sprach- und Textwissenschaften herausgelöst und in ein größeres intellektuelles Feld eingefügt werden, das wir als „spätantiken Denkraum“ 23 beschreiben, in dem die Diskussion 19 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 20 Siehe z. B. Hans Blumenberg, Paradigmen einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1997; Paul Ricœur, Die Interpretation, Frankfurt a. M. 1965 oder auch: Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1929. 21 Siehe z. B. Daniel Boyarin, Sparks of the Logos. Essays in Rabbinic Hermeneutics, Leiden 2003. Im Anschluss an Bauers Amibiguitätstheorie siehe jetzt auch Christel Meier, „Unusquisque in suo sensu abundet (Röm 14,5). Ambiguitätstoleranz in der Texthermeneutik des lateinischen Westens?“, in: Abrahams Erbe. Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter, hg. von Klaus Oschema, Ludger Lieb und Johannes Heil, Berlin 2015, S. 3–33. 22 Vgl. Kees Versteegh, „The Arabic Tradition“, in: Wout J. van Bekkum, Jan Houben, Ineke Sluiter und Kees Verstegh, The Emergence of Semantics in Four Linguistic Traditions, Leiden 1999, S. 229. 23 Zum Begriff des Denkraums siehe jetzt: Denkraum Spätantike. Reflexionen von Antiken im Umfeld des Koran, hg. Nora Schmidt, Nora K. Schmid und Angelika Neuwirth, Wiesbaden 2016. Dort auch

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um die Bedeutungsebenen von Sprache, das Verhältnis von Sprache und Denken und die Ziele und Bedeutung von Interpretation vor allem im Umgang mit Offenbarungsschriften bereits vielfach geführt wurden. 24 Im dritten Kapitel soll darauf‌hin zunächst nachvollzogen werden, welchen Textbegriff Abū ʿUbaida für den Koran entwickelt und wie er sich selbst zum Gegenstand seiner Interpretation positioniert. Im Anschluss daran möchte ich in den Kapiteln vier und fünf die Techniken der Interpretation, von denen Abū ʿUbaida in seinem Kommentar Gebrauch macht, in einer systematischen Darstellung präsentieren. Die Analyse mehrerer Textbeispiele soll dem Leser einen Eindruck von den Funktionsweisen und Zielsetzungen seines Korankommentars vermitteln und dabei moderne Charakterisierungen der frühislamischen Koranexegese prüfen. Zusätzlich werden, wenn dies notwendig oder hilfreich erscheint, die koranphilologischen Werke von Abū ʿUbaidas Zeitgenossen, dem kufischen Grammatiker al-Farrāʾ (gest. 206/822) und seinem Kollegen aus Basra al-Aḫfaš al-Ausaṭ (gest. 213/828) in den Blick genommen, die vermutlich kurz nach Maǧāz al-Qurʾān entstanden und starke Ähnlichkeiten aufweisen. Das primäre Ziel dieses systematischen Überblicks soll sein, textanalytische Begriffe zu erarbeiten, um die Einordnung von Maǧāz al-Qurʾān in eine Entwicklung der frühen arabischen Koran-, aber auch Sprach- und Textwissenschaften zu präzisieren. Natürlich muss ein ebenso einflussreicher wie umstrittener Text wie Maǧāz alQurʾān auch vor dem Hintergrund seines historischen Kontextes gelesen werden. Um die Suggestion eines bereits erschlossenen Panoramas islamischer Gelehrsamkeit im ausgehenden 8. Jahrhundert in den arabischen Bildungszentren Basra, Kufa und Bagdad zu vermeiden, möchte ich einen historischen ‚Rahmen‘ jedoch nicht vorab anzeigen. Stattdessen soll im sechsten Kapitel anhand einer theoretischen Erarbeitung der Bedingungen fachlich ausdifferenzierter, wissenschaftlicher Philologie das Stichwort des ‚philologischen‘ Korankommentars noch einmal neu belastet werden. Dabei soll vor allem den gesellschaftlichen und epistemischen Folgen der Einbeziehung von Schrift in die Überlieferungs- und Wissenschaftspraxis nachgegangen werden. Diese Herangehensweise an Abū ʿUbaidas exegetische Praxis vor dem Hintergrund des Wandels im Gebrauch von Medien ist dadurch begründet, dass die islamische Geschichtsschreibung Abū ʿUbaida als einen dezidierten Befürworter des im späten 8. Jahrhundert noch neuen Mediums des Buches in Form des Kodex be-

zum Allegorie- und Ambiguitätsprinzip die Beiträge von Adrian Pirtea, „Konkrete und Abstrakte Räume in der spätantiken Allegorese. Exegetische Methodik und die Deutung des Perlengleichnisses (Mt 13,45–46) bei Klemens von Alexandria und Origenes“, S. 235–267 und Nora Schmidt, „Hermeneutiken des Literalsinns. Spätantike Debatten um Allegorie und Allegorese im frühislamischen Korankommentar“, S. 268–295. 24 Zu literaler Interpretation im islamischen Kontext siehe auch: Robert Gleave, Islam and Literalism. Literal Meaning and Interpretation in Islamic Legal Theory, Edinburgh 2013.

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schreibt. 25 Das Selbstverständnis des Philologen, seine exegetische Methode und nicht zuletzt sein Umgang mit dem Primärtext, dem Koran, sind von dieser Haltung zum neuen Medium Buch mitbestimmt. Da die Errungenschaft einer wissenschaftlichen Disziplin der Philologie im arabischsprachigen Raum zeitlich sehr dicht an die sukzessive Etablierung von schriftlicher Kommunikation und Tradition fundierter Texte heranreicht, eignet sich der Anfang der arabischen Philologiegeschichte außerordentlich gut für den Versuch eines Nachvollzugs der Entwicklung eines konturierten und kritischen Textbegriffs ‚vor der Philologie‘ oder aber ‚durch die Philologie‘. Die Diskussion von kulturwissenschaftlichen Theorien in diesem und teilweise den übrigen Kapiteln dieses Buches ist einerseits meiner Überzeugung geschuldet, dass das selbstkritische Hinterfragen von Methoden für den Umgang mit — oder die Bewältigung von — klassischen Texten in arabischer Sprache wichtig und erforderlich ist. Der Text Maǧāz al-Qurʾān ist nicht nur aufgrund seines eigenwilligen, wenig technischen Gebrauchs einzelner Begriffe und aufgrund seines Alters ein Text, zu dem Zugang zu finden nicht leicht ist. Vor allem der ‚elliptische‘ Stil der Argumentation und die Abhängigkeit von Kontexten, die vom modernen Leser rekonstruiert werden müssen, machen Maǧāz al-Qurʾān schwer zu lesen und noch schwerer zu übersetzen. Andererseits aber hoffe ich, durch die Verbindung dieses Textes mit Theorien des Transfers, der Institutionenbildung und der Hermeneutik Abū ʿUbaida und damit einen Teil der frühen arabischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte für Leser über die Arabistik hinaus zugänglich machen zu können. Dieses Buch versteht sich insofern als ein Beitrag zur Einbeziehung der arabischen Literatur in interdisziplinäre Erforschung von Textkritik und Philologie. Formale Hinweise Bei Zitaten aus Maǧāz al-Qurʾān werden Verse oder Versteile aus dem Koran fett gedruckt und von den jeweiligen Versnummern begleitet. Diese Versangaben und Markierungen sind eine Einfügung meinerseits und in Abū ʿUbaidas Kommentar nicht enthalten. Verse aus der Dichtung, Sprichwörter oder andere Sprüche (ḥadīṯ) sind kursiv gesetzt. Obwohl ich mich bemüht habe, Abū ʿUbaidas Kommentarsprache möglichst wortgetreu zu übersetzen, sind aufgrund des elliptischen Stils des Kommentars an vielen Stellen ergänzende Erklärungen nötig, die in den zitierten Kommentarausschnitten in (runden Klammern) eingefügt sind, um dem Leser umständliche Verweise zu ersparen. Wenn diese Erklärungen lediglich eine syntaktische Ergänzung zu einer besseren Lesbarkeit der Ausdrucksweise des Philologen beibringen, sind diese Änderungen in [eckige Klammern] gesetzt. Ich habe mich darum 25 Siehe dazu Beatrice Gründler, Book Culture before Print: The Early History of Arabic Media, (The Margaret Weyerhaeuser Jewett Chair of Arabic. Occasional Papers), Beirut 2012. Einige der historiographischen Anekdoten, die Gründler in ihrem Text bespricht, werden unten diskutiert, siehe Kapitel „6.1 ‚Graphophobie‘ und ‚Bibliophilie‘ der arabischen Philologen“ (S. 199).

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bemüht, die Ebenen der Argumentation in den Glossen differenziert darzustellen. Begriffe oder Syntagmen, die aus den auszulegenden Koranversen stammen und in den exegetischen Glossen wiederholt werden, setze ich kursiv, direkte Paraphrasen der koranischen Lemmata in Anführungszeichen. Ich habe mich entschieden, alle Endungen vollständig zu transkribieren, auch wenn dies — etwa bei Namen — als ungewöhnlich wahrgenommen werden mag. Ich hoffe, dass diese Darstellung das Verständnis der zitierten Passagen aus Maǧāz al-Qurʾān letztlich erleichtert.

1.1 Abū ʿUbaidas Stellung in der arabischen Sprachwissenschaft  aus klassischer und moderner Perspektive Abū ʿUbaida Maʿmar ibn al-Muṯannā wurde um das Jahr 110/728 — Berichten zufolge am Todestag des Theologen al-Ḥasan al-Baṣrī 26 — in der in seiner Kindheit noch umayyadisch regierten Stadt Basra geboren. Vor allem unter der Herrschaft der Abbasiden ab dem Jahr 750 wurde Basra zu einer der intellektuellen Hauptstätten der arabisch-islamischen Kultur. Abgesehen von wenigen Reisen an den Kalifenhof in Bagdad soll Abū ʿUbaida sein Leben vollständig in seiner Heimatstadt verbracht haben, wo er im Jahr 824 oder 25 starb. Über eine Zugehörigkeit Abū ʿUbaidas zu einer der sprachwissenschaftlichen oder auch exegetischen „Schulen“, 27 die ab der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts in Basra und Kufa existierten 28 und eine rege Debattenkultur entwickelten, wissen wir nichts. 29 Die historiographischen Quellen geben lediglich Auskunft über einzelne Lehrer Abū ʿUbaidas. Zu diesen zählen der Philologe und Koranleser Abū ʿAmr ibn al-ʿAlāʾ (gest. 153/770) und der Grammatiker und Lehrer Sībawaihs Yūnus ibn Ḥabīb (gest. 182/798). 30 Unter den Schülern Abū ʿUbaidas treten vor allem der Dichter Abū Nuwās (gest. 198/815), der Literat al-Ǧāḥiẓ (gest. 255/868) und der Philologe Abū ʿUbaid al-Qāsim ibn Sallām (gest. 233/838) hervor. Statt als Vertreter einer Schule

26 Siehe Sezgin, „Muqaddima“, S. 20. 27 Es ist historisch umstritten, ob im Frühislam tatsächlich bereits institutionelle „Schulen“ der beiden Städte miteinander konkurrierten. Augenfällig unterscheidet sich die grammatische Terminologie der in Basra und Kufa ansässigen Gelehrten. Siehe Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 9–15. 28 Zu einer vollständigen Diskussion der Historizität der beiden Grammatikerschulen siehe Ramzi Baalbaki, The Legacy of the Kitāb. Sībawayhi’s Analytical Methods within the Context of the Arabic Grammatical Theory, Leiden 2008. Amal Marogy bestreitet die Existenz institutioneller Schulen. Ausgehend von ihrer Neubewertung der Anfänge der arabischen Grammatik durch die besondere Rolle der Stadt al-Hira nimmt sie an, dass eine Konkurrenz zwar nicht zwischen Schulen, wohl aber zwischen den Städten selbst bestand. Vgl. Marogy, Syntax and Pragmatics, S. 19. 29 Der Philologe al-ʿArābī soll ausgesagt haben, nur eine einzige Sitzung (maǧlis) bei Abū ʿUbaida besucht zu haben, in der er drei Worte (grammatisch) falsch verstanden habe. (az-Zubaidī, Ṭabaqāt an-naḥwīyīn, Bd. 3, S. 194) 30 Siehe H.A.R. Gibb, Eintr. „Abū ʿUbayda“, in: EI².

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wird Abū ʿUbaida gern als freidenkender Außenseiter unter den Philologen seiner Zeit gehandelt: Insofern das Buch al-Farrāʾs Maʿānī al-Qurʾān die Methode der kufischen Grammatik und Lexikographie repräsentiert, stellt Maǧāz al-Qurʾān eine Methode des freien Umgangs mit den Regeln der beiden Schulen in Basra und Kufa dar. 31

Abū ʿUbaida war als nichtarabischer „Klient“ (maulā) des Stammes Taim aufgewachsen. Die persische Herkunft seiner Familie und die etwaige jüdische Prägung seiner Genealogie durch einen aus Persien stammenden Vater oder Großvater 32 wurden in der Geschichtsschreibung bisweilen überbetont. 33 Haben sie dem vermeintlich weltbürgerlichen Abū ʿUbaida in den westlichen Orientwissenschaften den Ruf eines „great humanist among the Arabic philologists“ 34 und „the most universal scholar of his age“ 35 eingetragen, führte die Betonung dieser biographischen Details in der arabischen Rezeption eher zum Ausschluss Abū ʿUbaidas aus dem wissenschaftlichen Kanon. Abū ʿUbaidas vermeintliches Bekenntnis zur ḫāriǧitischen Gruppierung der ṣufrīya wird in mehreren biographischen Quellen 36 ebenso postuliert wie seine Unterstützung šuʿūbitischen Antiarabismus, 37 die angesichts seiner Haltung in seinen Schriften selbst — etwa dem Insistieren auf die reine Arabischsprachigkeit des Korans — eher zweifelhaft erscheint. Ignaz Goldziher nahm das historiographische Anekdotenmaterial und die Aussage des Philologen Ibn Qutaiba (gest. 276/889), Abū ʿUbaida „hasste die Araber“, 38 noch ernst genug, um den Methoden des Philologen 31 Muwaffaq as-Sarrāǧ, „Abū ʿUbaida al-Taimī. Manhaǧuhu wa-maḏhabuhu fī Maǧāz al-Qurʾān“, in: Maǧallat at-turāṯ al-ʿarabī 18, Damaskus 1985, S. 5: („Wa-iḏā kāna kitāb al-Farrāʾ Maʿānī l-Qurʾān yumaṯṯilu l-maḏhaba l-kūfīya n-naḥwīya wa-l-luġawīya fa-inna Maǧāz al-Qurʾān, lā yakādu yumaṯṯilu maḏhaban siwā ar-raʾyi l-mutaḥarrari mina l-quyūdi llatī kānatā l-madrasatāni l-baṣrīyatu wa-l-kūfīyatu.“) 32 Gibb, Eintr. „Abū ʿUbayda“, in: EI². 33 Goldziher, der selbst den Namen Abū ʿUbaida für einen „Schimpfnamen für Juden“ hielt, berichtet, der Philologe selbst habe sich seiner jüdischen Herkunft gerühmt. Siehe Ignaz Goldziher, Muhammedanische Studien, Halle 1889, Bd. 1, S. 195. 34 Arthur Jeffery, The Foreign Vocabulary of the Qurʾān, Baroda 1938, S. 10. 35 Hamilton Gibb, Studies in Islamic Civilization, Princeton 1982, S. 68. 36 Siehe az-Zubaidī, Ṭabaqāt an-naḥwīyīn, Bd. 3, S. 192, Ibn Ḫallikān, Wafayāt al-aʿyān wa-anbāʾ abnāʾ az-zamān, Bd. 2, S. 157, Yāqūt, Iršād, Bd. 19, S. 156. Beide zitiert in Sezgin, „Muqaddima“, S. 15. Al-Ǧāḥiẓ fasste allerdings seine Anerkennung gegenüber seinem Lehrer in die Worte: „Es gibt auf Erden keinen ḫāriǧitischen Gelehrten, der mehr wusste als Abū ʿUbaida.“ Siehe Ṭabaqāt an-naḥwīyīn, Bd. 3, S. 192. Hellmut Ritter hingegen zitiert al-Ǧāḥiẓ (aus der Einleitung von Baṭalyausīs Edition des Dīwān des Imruʾ al-Qais) mit der kritischen Meinung, dass während man von al-Aṣmaʿī nichts als Informationen über lexikalische Probleme in der Dichtung erhalte, Abū ʿUbaida lediglich Auskunft über die (legendenhaften) Kontexte der Dichtung der Araber geben könne, aber keine eigentlichen Interpretationen. Tieferes Wissen hätten nur die kuttāb. Siehe „Einleitung“ in: Die Geheimnisse der Wortkunst (Asrār al-balāġa) des ʿAbdalqāhir al-Curcānī. Aus dem Arabischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Hellmut Ritter, Wiesbaden 1959, S. 10. 37 Siehe dazu Goldziher, Muhammedanische Studien, Bd. 1, S. 195. 38 Ebd.

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grundsätzlich anti-arabische Ambitionen zu unterstellen. Goldziher mutmaßte: Abū ʿUbaida „spürte eifrig in allen Winkeln, um [die] genealogischen Angaben [seiner ethnisch arabischen Zeitgenossen] ad absurdum zu führen.“ 39 Seine Sammlung von Schmähversen (maṯālib) zu den altarabischen Stammesfürsten habe dem Zweck gedient, die arabischen Eliten, die in der frühen Abbasidenzeit noch Vorrang beanspruchten, zu diffamieren. Stattdessen habe Abū ʿUbaida intensiv nach fremden, insbesondere persischen Einflüssen auf die arabische Literatur geforscht, ebenfalls mit dem Zweck „jede fremde Blume aus dem Ruhmeskranz der stolzen Araber heraus[zu]reißen.“ 40 Hamilton Gibb dahingegen hielt den Vorwurf des Anti-Arabismus Abū ʿUbaidas für „a contradiction in terms“. 41 Der Philologe habe seine Studien zur arabischen Sprache und der Überlieferung der altarabischen Literaturen keinesfalls mit dem Zweck der Diskreditierung beduinischer genealogischer Werte betrieben. Mit der šuʿūbīya könne Abū ʿUbaida allenfalls insofern in Verbindung gebracht werden, als diese im 8. Jahrhundert eine religiöse, nicht wie später eine gesellschaftspolitisch motivierte Bewegung gewesen sei, die — ganz ähnlich den Ḫawāriǧ — auf die Gleichrangigkeit aller Menschen in der islamischen Glaubensgemeinschaft insistierte und insbesondere den Herrschaftsanspruch des Stamms der Quraiš 42 abgelehnt habe. In rejecting any exclusive superiority attaching to the Arabs, the Kharijite shuubis equally rejected any superiority of the Persians; whereas the third-century shuubis proclaimed the superiority of the Persians (or of other non-Arab races) to the Arabs, and defended their claim by social and cultural, not religious, arguments. 43

Die pauschale Verurteilung Abū ʿUbaidas als „Feind der Araber“ sei, Gibb zufolge, durch die Darstellung späterer Philologen, insbesondere Ibn Qutaibas, zustande gekommen. Sie rühre von einer Identifikation der šuʿūbīya mit der politischen, dezidiert anti-arabischen und pro-persischen Bewegung im 9. Jahrhundert her, die es während Abū ʿUbaidas Lebenszeit allerdings noch nicht gegeben habe. Dass Abū ʿUbaida durchaus nicht von allen seinen Zeitgenossen abgelehnt wurde, bestätigt neben zahlreichen Überlieferungen, die seine charakterlichen Tugenden und wissenschaftliche Versiertheit belobigen, die Tatsache, dass Abū ʿUbaida in der 39 Goldziher, Muhammedanische Studien, Bd. 1, S. 198. 40 Ebd. S. 199. Goldziher stellt die Provokation Abū ʿUbaidas gegenüber den alt eingesessenen arabischen Eliten nicht als ein intellektuelles Querulantentum, sondern durchaus als einen realen Konflikt mit seinen Zeitgenossen dar: „Wenn die Familien Nāfiʿ und Abū Bakra stolz verkündeten, dass sie von dem berühmten arabischen Heilkünstler Hāriṯ b. Kalada (…) abstammten, so weist Abu ʿUbejda nach, dass dieser Bauerndoktor gar keinen Sohn hinterlassen habe, […].“ 41 Gibb, Civilization, S. 68. 42 Der Prophet gehörte dem Stamm der Quraiš an. Nach dem Tod des Propheten beanspruchten Mitglieder seines Stammes/Clans eine Vorrangstellung innerhalb der islamischen Gemeinschaft. Vgl. Albrecht Noth, „Früher Islam“, in: Geschichte der Arabischen Welt, hg. von Ulrich Haarmann, München 1987, S. 73–100. 43 Gibb, Civilization, S. 67.

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Redaktion der Prophetenbiographie (sīra) durch Ibn Hišām als der meistzitierte Experte für Koranfragen herangezogen wird. 44 Darüber hinaus hat sich Abū ʿ­Ubaida als Philologe vielfach hervorgetan. Im Fihrist des Ibn an-Nadīm (gest. 385/995) werden ihm 105 Werke zugeschrieben, 45 bei deren Großteil es sich vermutlich nicht um auktorial verfasste Werke, sondern um Unterrichtsaufzeichnungen oder Mitschriften von Schülern handelt. Die zahlreichen koranhermeneutischen Werke mit den Titeln Maʿānī al-Qurʾān, Ġarīb al-Qurʾān und Iʿrāb al-Qurʾān sind vermutlich lediglich unterschiedliche Titel des Buches, das uns unter dem Namen Maǧāz al-Qurʾān erhalten ist. 46 Erhalten sind außerdem ein semantisches Lexikon über Pferde mit dem Titel Kitāb al-Ḫail 47 und die Anthologie des Dichterwettstreites der berühmten umayyadischen Dichter al-Ǧarīr und al-Farazdaq Šarḥ Naqāʾiḍ al-Ǧarīr wa-l-Farazdaq. 48 Zudem werden Abū ʿUbaida zwei Sammlungen der aiyām al-ʿarab (der „Schlachtentage der Araber“) unterschiedlichen Umfangs zugeschrieben, die in späteren Quellen, vor allem dem Kitāb al-Aġānī von Abū l-Faraǧ al-Iṣfāhānī und al-ʿIqd al-farīd des Andalusiers Ibn ʿAbd Rabbihī ausführlich zitiert werden. Beide Werke, die Naqāʾiḍ und die Bücher zu den aiyām al-ʿarab, stellen in der arabischen Literaturgeschichte innovative Projekte dar, die mit gängigen frühislamischen Überlieferungsmethoden zum Teil brachen. Statt der Kompilation eines Stammes-Dīwāns fokussierte Abū ­ʿUbaida die Gedichte der beiden Dichter Ǧarīr und al-Farazdaq über die Dialektik ihres Wettstreits. Ebenso wurde die Gattung der „Schlachtentage der Araber“ von Abū ʿUbaida erstmals zum Gegenstand einer singulären Sammlung gemacht, wodurch nicht nur das Verhältnis von mündlicher Überlieferung und schriftlicher Dokumentation, sondern ebenso dasjenige zwischen Dichtung und erzählender Literatur in den Themenkreis der arabischen Philologie rückte. 49 Der primäre Gegenstand der Kritik seiner Zeitgenossen war aber mit großer Wahrscheinlichkeit Abū ʿUbaidas Korankommentar Maǧāz al-Qurʾān selbst. Es erfordert eine längere Beschreibung der Debatten um die Erfordernis und Erlaubnis

44 Gibb, Civilization, S. 67. 45 Muḥammad ibn Isḥāq Ibn an-Nadīm, al-Fihrist, hg. von Gustav Flügel, 1966 (Nachdruck), S. 53 (aḫbār Abī ʿUbaida). Zu modernen Editionen der Werke des Philologen siehe außerdem Reinhard Weipert, Classical Arabic Philology and Poetry. A Bibliographical Handbook of Important Editions from 1960–2000, Leiden 2002, S. 120f. 46 Siehe Sezgin, „Muqaddima“, S. 13–14. 47 Abū ʿUbaida, Maʿmar b. al-Muthannā, al-Ḫail. hg. von Muhammad ʿAbd al-Qādir Aḥmad, Kairo 1986. 48 Naqāʾiḍ Ǧarīr wa-l-Farazdaq, hg. von A.A. Bevan, Leiden 1905. Siehe dazu auch Ali Ahmad Hussein, „The formative period of naqāʾiḍ poetry. Abū ʿUbayda’s naqāʾiḍ Jarīr wa-l-Farazdaq, in: JSAI 34 (2008), S. 499–528. 49 Vgl. dazu Isabel Toral-Niehoff, „Talking about Arab Origins: The Transmission of the ayyām al-ʿarab in al-Kūfa, al-Baṣra und Baghdād“, in: The Place to Go. Contexts of Learning in Baghdād, 750–1000 C.E., hg. von Jens Scheiner und Damien Janos, Princeton 2015, S. 47–75.

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von Koranexegese im Frühislam, um den Vorwurf von Abū ʿUbaidas Rivalen 50 al-Aṣmaʿī, Abū ʿUbaida würde durch seine Interpretation tafsīr bi-r-raʾy, Auslegung nach Gutdünken, betreiben, 51 zu kontextualisieren. Die Innovation, die diesem Vorwurf vermutlich zugrunde liegt und die vielleicht am maßgeblichsten zu der Diskreditierung Abū ʿUbaidas als klassischem Gelehrten (ʿālim) 52 beigetragen hat, besteht in der Praktik des istišhād, dem Beibringen von Belegstellen aus der altarabischen Dichtung bei der Interpretation des Korans und der damit einhergehenden Verbindung von ‚profaner‘ und ‚sakraler‘ Literatur und Sprache. 53 Diese Praktik war zuvor zwar schon in der Lexikographie und Grammatik, 54 nicht aber bei der Koraninterpretation gebräuchlich. Eine Ausnahme stellen lediglich die Masāʾil genannten Dialoge zwischen dem Ḫāriǧitenführer Nāfiʿ ibn al-Azraq und ʿAbd Allāh Ibn ʿAbbās dar, deren Datierung allerdings umstritten ist. 55 Da eine Überlieferung (riwāya) der Masāʾil auch auf Abū ʿUbaida zurückgeführt wird, 56 bietet sich ein Vergleich beider šawāhid-Gebräuche — zum einen in den Masāʾil, zum anderen im Maǧāz — an, den ich unten anstellen möchte. Vorab sei bemerkt, dass auch 50 Sezgin zweifelt die Historizität dieser in vielen Anekdoten betonten Rivalität zwischen den beiden Gelehrten an. Siehe Sezgin, „Muqaddima“, S. 15. 51 Siehe Ella Almagor, „The Early Meaning of Majāz and the Nature of Abū ʿUbayda’s Exegesis“, in: Orientalia memoriae D. H. Baneth dedicata, Jerusalem 1979, S. 326. 52 Auch das Konzept des ʿālim ist im frühen 9. Jahrhundert noch neu. Siehe dazu Dimitri Gutas, Greek thought, Arabic culture — The Graeco-Arabic translation movement in Baghdad and Early Abbasid Society (2nd/8th to 5th/10th centuries), New York 1993, S. 6 mit dem Hinweis auf Stephen R. Humphrey, „Islamic History. A Framework for Inquiry“, Princeton 1991, S. 187–208. 53 Der durch Abu ʿUbaidas Kommentar ausgelöste Skandal wird in der modernen Arabistik in der Regel vor dem Hintergrund einer solchen Grenzüberschreitung zwischen sakralem und profanem Text bzw. sakraler und profaner Sprache interpretiert. Siehe z. B. Issa Boullata, „Poetry Citation as interpretive illustration in Qurʾān exegesis: Masāʾil Nāfiʿ ibn al-Azraq“, in: Tafsīr, hg. von Mustafa Shah, Bd. 2, S. 73: „I do not discount or ignore the Arab proclivity to cite proverbs or poetic verses orally to corroborate ideas in certain circumstances. This is a very old Arab trait which Ibn ʿAbbās like many others could have possibly had. However, the application of this proclivity to Qurʾān exegesis may have been timid at first, because it involved the comparison of a sacred text with profane literature.“ Da die Philologen und Exegeten selbst einen solchen Statusunterschied zwischen ‚profan‘ und ‚sakral‘ nicht betonen, sollten auch andere Möglichkeiten bedacht werden, wie zum Beispiel die Bedeutung von Schrift für die sich etablierende Wahrnehmung von Gattungsgrenzen. Siehe Nora Schmidt, „Bedarf die Abgrenzung von Text und Kontext der Schrift? — Überlegungen zur frühen arabischen Philologie“ in: Text und Medien im Kontext. Von den Tontafeln der Antike bis zu den digitalen Medien des 21. Jahrhunderts, hg. von Jürgen E. Müller, Charles Nouledo und Hendrik Stiemer, Münster 2016 [im Druck]. 54 Sowohl im Kitāb al-ʿAin als auch im Kitāb Sībawaih werden Verse der Dichtung als ‚Belegstellen‘ für den ‚alten‘ arabischen Sprachgebrauch angeführt. Für einen Überblick siehe z. B. Michael Carter, „Arabic Lexicography“, in: Religion, Learning and Science in the Abbasid Period, hg. von M.J.L. Young (u. a.), Cambridge 2006, S. 106–117. 55 Zur Kontroverse um die Datierung der Masāʾil siehe Boullata, „Poetry Citation“ und Herbert Berg, The Development of Exegesis in Early Islam, Surrey 2000. Außerdem Kapitel 4.3.3 ab S. 134. 56 Siehe Abū l-ʿAbbās Muḥammad ibn Yazīd al-Mubarrad, al-Kāmil fī l-luġa wa-l-adab, hg. von William Wright, Leipzig 1864–92, Bd. 1, S. 163–165.

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in modernen Forschungsbeiträgen die Gattungsbeschreibung ‚Exegese‘ (tafsīr) für Abū ʿUbaidas Werk keineswegs unumstritten ist. Im frühen 20. Jahrhundert las der ägyptische Literaturkritiker Ṭāhā Ḥusain Maǧāz al-Qurʾān als ein Werk der arabischen Rhetorik. 57 In der sprachwissenschaftlich orientierten Arabistik wird der Text zumeist im Kontext der entstehenden arabischen Linguistik genannt, wobei das Verdienst Abū ʿUbaidas weniger in einer frühen Erklärung des Korans, als in einer enzyklopädischen Sammlung des altarabischen Wortschatzes gesehen wird. 58 In modernen Geschichten des tafsīr wird Abū ʿUbaida nicht diskutiert, 59 hingegen wird ihm in arabischsprachigen Handbüchern zur Sprachwissenschaft 60 ein gewichtiger Platz eingeräumt.

1.2 Formaler Werkauf‌bau und Überlieferung des Maǧāz Maǧāz al-Qurʾān ist einer der ersten Kommentare zur Gesamtheit der koranischen Suren gemäß der in der kanonischen Form des muṣḥaf festgelegten Reihenfolge. Der kursorischen Kommentierung einzelner Verse, Wörter und Syntagmen ist eine ausführliche Einleitung vorangestellt, die Erklärungen zur exegetischen Methode, zum Begriff des maǧāz und zum Begriff des Korans selbst enthält. In der Forschung zu Maǧāz al-Qurʾān, die sich stark auf diesen einleitenden Text stützt, wird meist stillschweigend vorausgesetzt, dass die Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān von demselben Verfasser stammt wie der Kommentartext. 61 Angesichts terminologischer Unterschiede (etwa dem Gebrauchs des Begriffs maǧāz) in Einleitung und im Kommentar 62 und der in der Philologie noch neuen Genrekonvention der Einleitung 63 wäre das 57 Tāhā Ḥusain, Ḏikrā Abī l-ʿAlāʾ, Kairo 1905, S. 116, zitiert in: Kamal Abu Deeb, „Studies in the Majāz and Metaphorical Language of the Qurʾān“, in: Literary Structures of Religious Meaning in the Qurʾān, hg. von Issa Boullata, Surrey 2000, S. 310. 58 Ein Beispiel für die sprachwissenschaftlich interessierte Analyse eines Korankommentars stellt Naphtali Kinbergs umfangreiche Arbeit zu al-Farrāʾs Maʿānī al-Qurʾān dar. Siehe Naphtali Kinberg, A lexicon of al-Farrāʾ’s terminology in his Qurʾān commentary: with full definitions, English summaries, and extensive citations, Leiden 1996. 59 Siehe Muḥammad Ḥusain aḏ-Ḏahabī, at-Tafsīr wa-l-mufassirūn, Kairo 1961. Dort wird Maǧāz alQurʾān als „Vorgeschichte zum tafsīr“ angeführt; und Šams ad-Dīn Muḥammad ibn Aḥmad ad-Dawūdī, Ṭabaqāt al-mufassirīn, Beirut 1985. Hier taucht Abū ʿUbaida zwar als Kenner des Korans auf; das Werk Maǧāz al-Qurʾān bleibt aber unbeachtet; und Amīn al-Ḫūlī, Āṯār al-Qurʾān fī taṭawwur al-balāġa al-ʿarabīya, Kairo 1960. Hier wird Abū ʿUbaida als Vorbereiter der arabischen Rhetorik diskutiert. 60 Siehe z. B. Muḥammad Ḥusain Āl-Yāsīn, ad-Dirāsāt al-luġawīya ʿinda al-ʿarab, Beirut 1980 und Hādī al-Ġaṭlāwī, Qaḍāya al-luġa fī kutub at-tafsīr — manhaǧ — taʾwīl — al-iʿǧāz, Susa 1998, S. 55–60. 61 So z. B. Mustafa Shah, „Introduction“, in: Tafsīr. Interpreting the Qurʾān, hg. vom dems., London/ New York 2013, Bd. 1, S. 13. 62 Siehe dazu weiter unten Kapitel „1.6 Der Begriff maǧāz“ (S. 32). 63 Die zeitgenössischen koranhermeneutischen Werke al-Farrāʾs und al-Aḫfaš al-Ausaṭs haben keine vergleichbaren Einleitungen, sondern beginnen direkt mit Erklärungen zur Fātiḥa.

Formaler Werkaufbau und Überlieferung des Maǧāz

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Gegenteil allerdings ebenfalls denkbar. Anderen zum Teil noch später datierten Büchern arabischer Philologen, wie zum Beispiel dem Kitāb al-Amṯāl Abū ʿUbaids, wurden Vorworte und (editorische) Einleitungen erst im Lauf der Überlieferung von Rezensenten zugefügt. Die benachbarten koranhermeneutischen Werke der maʿānī oder ġarīb-Gattung enthalten keine vergleichbaren Vorworte ihrer Verfasser. 64 Ohne Mutmaßungen über den Sitz im Leben des Maǧāz vorwegzunehmen, den erst die Untersuchung der Interpretationstechniken erweisen soll, muss der Hinweis auf die Jugend der Kodexform in der arabischen Wissenschaftskultur einhergehen mit der Frage nach seiner Funktion. Die Forschungen Gregor Schölers und Stefan Leders haben gezeigt, dass Buchkodizes im Anfang der auch auf Schrift zugreifenden Wissenschaftsgeschichte nicht unabhängig von mündlicher Unterrichtspraxis in Umlauf gebracht wurden, sondern Buch und Autor/Lehrer noch lange gemeinsam für die Wissenstransmission einstanden. 65 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein Kodex den Text des philologischen Korankommentars bereits im 8. Jahrhundert enthielt. Dass dieser Text aber mit einem Vorwort ‚eingeleitet‘ wurde, wodurch die Unabhängigkeit des Kommentarwissens von den Personen und Institutionen der Lehre suggeriert würde, ist unwahrscheinlich. Leider wissen wir wenig über den in der Einleitung genannten Überlieferer al-Aṯram (gest. 231/844), 66 den Sezgin für einen möglichen ‚Urheber‘ der Einleitung hält, außer, dass er ebenfalls Schüler al-Aṣmaʿīs war. In der Einleitung werden zwei Überlieferungen (riwāyāt) genannt. Zum einen von Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn ʿAbd al-ʿAzīz durch den Schüler Abū ʿUbaidas Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn al-Muġīra al-Aṯram und eine zweite Überlieferung von Abū Muḥammad Ṯābit ibn Abī Ṯābit durch al-Aṯram. Zwei weitere Überlieferungen, von denen sekundär berichtet wird, sind nicht erhalten; diese sind die des Grammatikers Abū Ḥātim as-Siǧistānī durch Abū Saʿīd as-Sukkarī und die des Grammatikers Ṯaʿlab durch al-Aṯram. Das Werk liegt in einer zweibändigen Edition von Fuat Sezgin vor, die die Grundlage der vorliegenden Untersuchung darstellt. Übersetzungen in europäische Sprachen gibt es bislang nicht. Die Handschriften, auf denen die Edition Sezgins beruht, stammen aus dem 10.–12. Jahrhundert. Sezgin hat dafür insgesamt fünf Manuskripte 64 Vgl. Āl-Yāsīn, Ad-Dirāsāt al-luġawīya, S. 110. Die beiden Werke sind: Abū Zakarīyā Yaḥyā ibn Ziyād al-Farrāʾ, Maʿānī al-Qurʾān, (3 Bände), hg. von Aḥmad Yūsuf Naǧātī und Muḥammad ʿAlī n-Naǧǧār, Kairo 1980. Und: Abū l-Ḥasan Saʿīd ibn Masʿada al-Balḫī al-Baṣrī (al-Aḫfaš al-Ausaṭ), Maʿānī al-Qurʾān, hg. von Ibrāhīm Šams ad-Dīn, Beirut 2002. 65 Gregor Schöler, The Oral and the Written in Early Islam, hg. von James Montgomerey, übers. von Uwe Vagelpohl, New York 2006; Stefan Leder, Spoken word and written text — Meaning and social significance of the institution of riwāya, Tokyo 2002 und ders., „Understanding a text through its transmission: Documented samāʿ, copies, reception“, in: Manuscript notes as documentary source, hg. von Andreas Görke und Konrad Hirschler, Beirut 2011, S. 59–72. 66 Von ihm selbst sind allerdings keine Werke überliefert. Er gehört, anders als der zweite Überlieferer as-Siǧistānī, nicht zu den berühmten Persönlichkeiten der Grammatik. Es könnte sich sogar um einen Laienhörer handeln. Siehe Brockelmann, GAL, Bd. 1, S. 108.

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ausgewertet, die aus Ankara, Tunis, Kairo und Mekka stammen und die er in der Einleitung zu seiner Edition kurz beschreibt. 67 Seit der Edition Sezgins in den Jahren 1954 und 1962 sind weitere Editionen des Werkes in arabischen Wissenschaftsverlagen erschienen, die allerdings zum Teil erhebliche Veränderungen der Manuskriptvorlagen enthalten und die als Grundlage wissenschaftlicher Arbeiten wenig taugen. In der Edition des libanesischen Herausgebers Aḥmad Farīd al-Mazyadī aus dem Jahr 2006 etwa sind die von Abū ʿUbaida gebrauchten Namen/Überschriften für die Suren des Korans durch moderne Surennamen ersetzt. 68 Die Benennung der Suren, die im ausgehenden 8. Jahrhundert noch nicht einheitlich war, kann selbst als ein Stadium der Textgeschichte begriffen werden, die damit in al-Mazyadīs Edition unkenntlich gemacht ist. Die Entstehung des Werkes wird in einer Anekdote mit dem Jahr 188/803 veranschlagt, womit der Text 16 Jahre vor dem vermuteten Entstehungsdatum des Maʿānī al-Qurʾān Werks des Grammatikers al-Farrāʾs und 19 Jahre vor 69 dem gleichnamigen koranhermeneutischen Werk al-Aḫfaš al-Ausaṭs entstanden wäre. 70

1.3 Maǧāz al-Qurʾān als „turn des tafsīr“? Anders als die Behandlung von Abū ʿUbaidas Werk im 20. Jahrhundert überwiegt in jüngerer Zeit eine Perspektive auf Abū ʿUbaidas Kommentar, die durch ein Bemühen zur Integration des Werkes in die Geschichte der Koraninterpretation charakterisiert werden kann. 71 Zu diesen gehört Claude Gilliots 1990 erschienener Text Kontinuität und Wandel in der „klassischen“ islamischen Koranauslegung. Gilliot unterscheidet vier Phasen der Koranexegese, innerhalb derer Abū ʿUbaidas Korankommentar eine zentrale Stellung einnimmt: Mit der formativen Phase werden hier die Anfänge des exegetischen Schrift‌tums bis zur Einbeziehung der philologischen, grammatischen Wissenschaften in die exegetische

67 Sezgin, „Muqaddima“, S. 22ff. und ders., GAS, Bd. 9, S. 66. 68 Maʿmar ibn al-Muṯannā Abū ʿUbaida, Maǧāz al-Qurʾān (the metaphor in the holy Qurʾān), hg. von Aḥmad Farīd al-Mazyadī, Beirut 2006. 69 Diese Datierung nennt al-Ġaṭlāwī, „Abū ʿUbaida at-Taimī“, S. 2. 70 Wenn diese Datierungen richtig sind, liegt John Wansbrough falsch mit der Annahme al-Farrāʾs Maʿānī al-Qurʾān sei das erste koranhermeneutische Werk, das ‚Zeugen‘ aus der Dichtung anführt. Siehe John Wansbrough, Quranic Studies. Sources and Methods of Scriptural Interpretation, hg. von Andrew Rippin, New York 2009, S. 218. 71 Claude Gilliot legitimiert die Bezeichnung von Maǧāz al-Qurʾān als tafsīr dadurch, dass der arabische Begriff tafsīr sowohl das Verbalsubstantiv „das Interpretieren“ als auch einen konkreten Kommentar bezeichne und daher keine Fixierung auf Schriftlichkeit impliziere. (Vgl. Claude Gilliot, „Exegesis of the Qurʾān: Classical and Medieval“, in: EQ, Bd. 2, S. 99.)

Maǧāz al-Qurʾān als „turn des tafsīr“?

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Arbeit gemeint. Der Terminus ad quem wäre Abū ʿUbaydas […] 72 Kommentar Maǧāz al-Qurʾān […] und al-Farrāʾ’s Maʿānī al-Qurʾān […]. 73

Gilliot sieht den ‚philologischen Korankommentar‘ als eine Zäsur, die durch eine stärkere Verwissenschaftlichung und eine Hinwendung zu linguistischen (und eine Abwendung von semantischen) Erklärungen in der Koranexegese gekennzeichnet ist. Gilliots typologische Einteilung von „Stadien“ der Koranexegese geht auf Ignaz Goldziher zurück. 74 1920 legte Goldziher seinem später maßgebenden Werk Die Richtungen der islamischen Koranauslegung die Unterscheidung von vier Grundtypen der Exegese zugrunde. Die Charakterisierung einer primitiven, einer traditionellen, einer rationalistischen und einer mystischen Koranauslegung 75 dient nicht primär der Chronologisierung, denn die „Typen“ der Exegese überlappen einander. Goldziher stellte die philologische Koranauslegung der theologischen Perspektive auf den Koran gegenüber. Erstere sah er in der Nachfolge der den Text konstituierenden Stufe des Kommentars, die im Koran selbst begonnen habe und sich über die Beschäftigung mit Konsonanten und Lesartenvarianten fortsetzte. 76 Die philologische Koranexegese kann, dieser Darstellung zufolge, als Teil des Kanonisierungsprozesses des Korans beschrieben werden. Sie lässt ein Bedürfnis der ‚Ambiguitätszähmung‘ des Korans erkennen. 77 Dem gegenüber stehe, Goldziher zufolge, die aus der Klasse der Geschichtenerzähler (quṣṣāṣ) erwachsene theologische Schule, die ihren Zugang zum Koran durch die Autorität des Propheten begründe und statt an sprachlich formaler Bewältigung an der Klärung sachlicher Fragen interessiert sei. Auch Gilliot grenzt die Korankommentare der Philologen des späten 8. und frühen 9. Jahrhunderts von den früheren narrativen oder juristisch interessierten Texten als der „formativen Phase“ der Koraninterpretation ab. Innerhalb der formativen Phase unterscheidet Gilliot den „umschreibenden“ vom „paraphrastischen“ und „erzählend erbaulichen“ Kommentar. In letzteren seien vor allem legendenhafte Erzählstoffe (isrāʾīlīyāt) eingeflochten, die teilweise so sehr überwögen, dass Gilliot urteilt, „in dieser Gattung scheint der koranische Text oft nur eine Gelegenheit zum Erzählen zu sein.“ 78 Als „Muster und Vorbild“ 79 gelten die tafsīr-Werke Daḥḥāk ibn Muzāhims (gest. 105/723) und Muqātil ibn Sulaimāns 72 Bei dem von Gilliot angegebenen Sterbedatum 885 muss es sich um einen Druckfehler handeln, es wird hier ausgeklammert. 73 Gilliot, „Kontinuität und Wandel“, S. 7. Gilliot wiederholt seine Darstellung in seinem Eintrag „Exegesis of the Qurʾān: Classical and Medieval“, in: EQ, Bd. 2, S. 99–123. 74 Goldziher ist der Text Gilliots auch gewidmet. 75 Ignaz Goldziher, Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1920 (Nachdruck). 76 Goldziher, Koranauslegung, S. 1–54. 77 In eine ähnliche Richtung geht Neuwirths Erwähnung des Werkes in ihrer historischen Darstellung der Genese des Korans und der frühen Koranwissenschaften in: GAP, Bd. 2, S. 119–127. Zum Begriff der ‚Ambiguitätszähmung‘ siehe Bauer, Ambiguität, S. 54. 78 Gilliot, „Kontinuität und Wandel“, S. 10. 79 Ebd, S. 12.

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(gest. 150/767). 80 Daneben nennt Gilliot Kommentare, die rechtliche Fragen in den Vordergrund stellen; und schließlich beginne im 9. Jahrhundert die Wissenschaft von den „Lesarten des Korans“ (luġāt al-qurʾān), zu denen Gilliot bemerkt: Denn es gibt im Koran Formen, die mit dem sprachlichen System des Arabischen schlichtweg unvereinbar oder fehlerhaft sind und da sie nun einmal im Koran vorkommen, keine Fehler mehr sein durften, und das war zu beweisen. So wurden die koranischen Lesungen ein Zweig der koranischen Wissenschaften. 81

Gilliot begründet die Beschäftigung der „linguistischen (philologischen) Kommentatoren“ mit schwierigen/seltenen/fremden (ġarīb) Wörtern mit eben diesem Korrekturbedürfnis von sprachlichen ‚Anomalien‘ im Koran. Sie ist für ihn demnach nicht — wie für Goldziher — die Fortsetzung einer Bemühung um die Konstitution eines sprachlich integren Textes, die noch während der Korangenese selbst begann, sondern eine nachträgliche Anpassung des Korantextes an die von der Sprachwissenschaft erarbeitete Nomenklatur der arabischen Sprache. Die typologische Einteilung der Koranwissenschaften in Stadien unterschiedlichen Erkenntnisinteresses und unterschiedlicher Professionalität ist zweifellos nützlich, um das exegetische Material der ersten islamischen Jahrhunderte zu ordnen. Beispiele wie dieses machen jedoch deutlich, dass die Typologisierung der Quellen den von den Kommentatoren selbst inaugurierten Status des Korans, seiner Deutungsbedürftigkeit und damit das exegetische Selbstverständnis oder auch das Verhältnis von Koran und arabischer Sprache bzw. Koran und Dichtung oft als gegeben voraussetzt. 82 Neue Wege zur Erforschung des frühislamischen Korankommentars wurden vor allem von literaturwissenschaftlicher Seite beschritten. Nicolai Sinai hat sich der Koraninterpretation der „formativen Phase“ von dieser Seite genähert. Um eine Präjudikation hermeneutischer Erkenntnisinteressen in den exegetischen Werken der Frühzeit zu vermeiden, analysierte Sinai den tafsīr unter formalen Gesichtspunk80 Zu weiteren Autoren und ‚Werken‘, die dem „narrativen“ tafsīr subsumiert werden, siehe Gilliot, „Exegesis of the Qurʾān“, in: EQ, Bd. 2, S. 102f. 81 Ebd, S. 18. 82 Auch Versteegh kritisierte den ebenfalls typologischen Zugang John Wansbroughs zu den frühislamischen exegetischen Texten aus diesem Grund. Siehe Grammar and Exegesis, S. 47: „Quite apart from the question whether or not the terminology of Jewish exegetical literature really fits the situation in the Islamic world, our problem with this approach is that basing the chronology of exegetical literature on a typology leads to circular reasoning. This may be perceived clearly when Wansbrough declares elements in exegetical works which do not fit his typology, to be Fremdkörper.“ Jüngere Publikationen zu verschiedenen Teilbereichen der islamischen Theologie und Koranhermeneutik haben daher eine neue Erarbeitung klassischer Texte gefordert. Walid Saleh stellt in seiner Monographie über aṯ-Ṯaʿlabī zum Beispiel die dominierende Stellung des tafsīrs von aṭ-Ṭabarī in der islamischen Tradition in Frage. Dieser habe als ‚Opus magnum‘ der frühislamischen Exegese zu lange benachbarte und ebenfalls relevante Quellentexte verdrängt. Siehe Saleh, Classical Tafsīr Tradition, S. 10.

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ten. Er stellte vor allem die Techniken des von ihm untersuchten tafsīr Muqātil ibn Sulaimāns dar. 83 Statt wie Gilliot als Geschichte einer zunehmenden Professionalisierung beschreibt Sinai die Geschichte der Koranexegese als eine Auseinandersetzung mit der zunehmenden Notwendigkeit der semantischen Durchdringung des Korans. Auch Sinai setzt um das Jahr 800 einen „linguistic turn“ der Koranexegese an, den er ausmacht durch die „zunehmende Anwendung der sich konstituierenden arabischen Grammatik auf den Koran, wie sie etwa die Maʿānī l-Qurʾān-Werke von al-Farrāʾ und al-Aḫfaš al-Awsaṭ erkennen lassen“. 84 Da große Teile frühislamischer Korankommentare von der sprachwissenschaftlich orientierten Arabistik auf das Vorkommen technischer Begriffe hin untersucht wurden, ist durchaus bereits ein Fundament für die literaturwissenschaftliche Textkritik geschaffen. Insbesondere Kees Versteegh hat nach den semantischen Grunddispositionen frühislamischer Exegeten gefragt, d. h. die Frage gestellt, wo die Bedeutung erklärungsbedürftiger koranischer Lemmata lokalisiert wird. Zur Beurteilung der Funktion des Korans in den jeweiligen „Phasen“ der Kommentierung sind diese Forschungsergebnisse wegweisend. Versteegh zufolge hatten die Koranexegeten im 8. Jahrhundert (der „formativen Phase“) den Kommunikationscharakter des Korans in den Vordergrund gestellt. 85 An den Techniken des frühen Korankommentars ist deutlich erkennbar, dass Bedeutung (maʿnā) als Ziel bzw. Ergebnis von Kommunikation veranschlagt wird. 86 Auch Versteegh spricht von einer „formativen Phase“ der Koranexegese, die durch Applikation der Verse des Korans auf außertextuelle Realität gekennzeichnet sei. In den „paraphrastisch“ verfahrenden Kommentaren der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts von Sufyān aṯ-Ṯaurī (gest. 161/778) und Muǧāhid ibn Ǧabr (gest. 104/722) bezeichnet der Terminus taʾwīl die Applikation eines Koranverses auf eine juristische, rituelle oder ethische Fragestellung. Typically we may find in such a discussion, for instance, as a criticism against somebody’s view of the text: aḫṭaʾta t-taʾwīl „you have applied this verse incorrectly to a given situation“ (ʿAbd ar-Razzāq, Muṣannaf IX, 242) or taʾauwalti Kitāb Allāh ʿalā ġayr taʾwīlihi „you have applied the Book of God otherwise than it was intended“ (ʿAbd

83 Auch Sinai setzt die Entwicklung der Koraninterpretation mit dem Koran selbst an, der den Parameter einer „molekularen Sichtweise“ bereits festgelegt habe. Die „Endgestalt des Korantextes“ habe einen „homogenisierenden Textbegriff […] auch für die nachprophetische Koranrezeption“ festgeschrieben. (Fortschreibung und Auslegung, S. 259). Was den frühislamischen tafsīr selbst angeht, folgt Sinais „diachrone Deutung“ im Wesentlichen Strukturkriterien, wie dem „Aufkommen glossatorischer Koranexegese“ um 700 und dem der „kursorischen Exegese“. (Fortschreibung und Auslegung, S. 267) 84 Ebd., S. 161. 85 Die Bedeutung des Begriffs maʿnā in den Texten der frühen paraphrastisch verfahrenden Koranexegese wurde von Versteegh untersucht. Er hält dafür, dass ‚Bedeutung‘ in der arabischen Grammatik meist innerlinguistisch, d. h. nicht in deiktischer Referenz auf außertextuelle Wirklichkeit, gesucht werde. Siehe Versteegh, „Arabic Tradition“, S. 229. 86 Ebd.

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ar-Razzāq, Muṣannaf VII, 209). In a similar sense the verb taʾauwala is used, meaning „to apply a verse to a given situation.“ 87

Dieser Wille zur Applikation koranischer Verse, Begriffe oder Namen auf außertextliche Wirklichkeit äußert sich zum Beispiel in der Suche nach historischen Offenbarungsanlässen (asbāb), die das richtige Verständnis des infrage stehenden Verses festlegen. Für die Einbindung von sabab-Erzählungen in die Interpretation des Korans gilt vor allem der Tafsīr Muqātil als charakteristisch. 88 Die (Re)Konstruktion einer Geschichte, die einen Kontext für nicht (mehr) verständliche Verse bildet, geht mit einem Bedürfnis der Identifikation im Text angesprochener Namen, Orte, Sachverhalte und Situationen einher. 89 Diese Prämisse schlägt sich auch in der Zuordnung abrogierender und abrogierter Verse, welche die historische Chronologisierung der Suren voraussetzt, nieder. 90 Auch in der sprachwissenschaftlichen Untersuchung der frühislamischen Kommentartexte markiert Abū ʿUbaidas Maǧāz al-Qurʾān eine „transitional phase“. 91 Die Kommentatoren dieser Generation (ca. ab dem Jahr 800) seien nun nicht mehr darum bemüht, das konkrete Ereignis bzw. die kommunikative Intention hinter der Verkündigung zu rekonstruieren, sondern sie operierten mit dem bereits im Kanon still gestellten Textkorpus des muṣḥaf. An die Stelle historischer Identifikation tritt grammatische Norm. Statt an historischen asbāb sind die grammatisch oder philologisch geschulten Kommentatoren interessiert an Dialekteinflüssen, mit deren Hilfe schwierige koranische Wörter mit kontemporären alltagssprachlichen Äquivalenzen ausgetauscht werden können. The specialists in this field were also grammarians and philologists, who tried to explain the difficult or strange/rare words or expressions of the Qurʾān by appealing to the science of grammar, the dialectical forms of the Arabs and ancient poetry. 92

87 Versteegh, Grammar and Exegisis, S. 63. 88 Zu den interpretativen Techniken und der Abgrenzung der „narrativen“ von der „paraphrastischen“ Exegese siehe auch Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 217ff. 89 Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 69. 90 Beispielhaft Aufschluss über den Stellenwert der Frage nach der Abrogation gibt das Werk des ʿAbd ar-Razzāq ibn Hammām aṣ-Ṣanʿānī (gest. 211/827) al-Muṣannaf. Vgl. Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 71ff.: „Implicit in such discussions is, of course, the chronology of the revelation, and in some cases the authorities who are quoted, simply refer to chronological priority without even mentioning the term nasaḫa.“ ʿAbd ar-Razzāq erkundigt sich meist aufgrund einer ethischen oder juridischen Dilemmasituation bei den Autoritäten: „Has this verse not been abrogated?“ Der Hinweis auf die Chronologie der Offenbarung führt zur Lösung für den Fragesteller. Siehe auch David Powers, „The exegetical genre nāsikh al-qurʾān wa-mansūkhuhu“, in: Tafsīr, hg. von Mustafa Shah, Leiden 2013, Bd. 3, S. 341–359. Und Andreas Radtke, Offenbarung zwischen Gesetz und Geschichte. Quellenstudien zu den Bedingungsfaktoren frühislamischen Rechtsdenkens, Wiesbaden 2003, S. 59–74. 91 Gilliot, „Exegesis of the Qurʾān“, in: EQ, Bd. 2, S. 101. 92 Ebd.

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Neben der Beschäftigung mit schwer verständlichen Wörtern und mit den Dialektvarianten ist das dritte Merkmal des philologischen — den Text statt die dem Text vorausgegangene Geschichte bzw. die im Text dokumentierte Kommunikation inaugurierenden — Kommentars der Verweis auf poetische „Zeugen“, sog. šawāhid, meist aus vorislamischer Zeit, die herangezogen werden, um die Bedeutung eines koranischen Begriffs durch den Hinweis auf sein Vorkommen in anderen Kontexten zu illustrieren. 93 Die Erklärung des Korans vor dem Hintergrund des Sprachgebrauchs der Araber, wie er in der arabischen Dichtung vorlag, wurde im Lauf des 9. Jahrhunderts zu einer gängigen und durchaus wissenschaftlich fundierten Interpretationsmethode. 94 Auch al-Farrāʾ und al-Aḫfaš al-Ausaṭ waren gleichermaßen religiös wie sprachlich gebildete Persönlichkeiten, deren Korankommentare Verse aus der Poesie enthalten, um schwer verständliche Begriffe und grammatikalische Formen im Koran zu erhellen. Diese Werke verdeutlichen ebenso wie die Dialoge des Ibn al-Azraq mit Ibn ʿAbbās, 95 dass die altarabische Dichtung nicht nur Fundgrube für eine sprachorientierte Koranhermeneutik war, sondern ebenfalls Prüfstein für den koranischen Stil. Das Verhältnis von Koran und Dichtung war sehr wahrscheinlich von Anfang an keiner statischen Hierarchie unterworfen, sondern beide Korpora wuchsen aneinander. 96 93 Neuwirth stellt die Frage nach der Zielsetzung und den Konsequenzen der Verbindung von Poesieund Koranelementen im Korpus der Masāʾil. Siehe Angelika Neuwirth, „Die Masāʾil Nāfiʿ ibn al-Azraq — Element des ‘Portrait mythique d’Ibn ʿAbbas’ oder eine Stück realer Literatur? Rückschlüsse aus einer bisher unbeachteten Handschrift“, in: Zeitschrift für arabische Linguistik 25 (1993), S. 234: „Die Nachfrage des Nāfiʿ ‚Kannten das die Araber in der ǧāhilīya?‘ könnte durchaus auch im Sinne von ‚Und ist das auch Poesie-gemäßes, gutes Arabisch?‘ gedeutet werden. So betrachtet ginge es im Masāʾil-Kontext primär weder um die sprachliche Erklärung individueller Lexeme, noch um die Rechtfertigung der Methode des Rückgriffs auf die Poesie zur Beleuchtung von Koranlexemen, sondern um die Rechtfertigung bestimmter — ja keineswegs unverständlicher, sondern eher sprachlich ungewöhnlicher — Koranstellen, für deren ʿarabīya dann Ibn ʿAbbās zum einen und die altarabische Tradition zum anderen als Zeugen aufgerufen worden wären.“ 94 Lothar Kopf, „Religious Influences on Medieval Arab Philology“, in: The Qurʾān — Formative Interpretation, hg. von Andrew Rippin, Brookfield 1991, S. 215–242. 95 Die Debatte um die Historizität der Person ʿAbd Allāh ibn ʿAbbās und die Authentizität der mit seiner Person verbundenen Überlieferungen ist nicht abgerissen. Für einen Überblick siehe z. B. Boullata: „Poetry Citation“. Herbert Berg hat die Forschungsmeinungen zur frühen, mit Ibn ʿAbbās in Verbindung gebrachten Exegese zusammengefasst und in unterschiedliche ‚Lager‘ geteilt. Siehe Herbert Berg, The Development of Exegesis in Early Islam, Surrey 2000. Die von Berg diskutierten Autoren haben allerdings zum Teil die dort mit ihnen selbst identifizierten Thesen kritisiert. So zum Beispiel Harald Motzki zu einem Missverständnis der von ihm angewandten isnād-cum-matn Methode in: Analysing Muslim Traditions, Studies in Legal, Exegetical and Maghāzī Ḥadīth, Leiden 2009, S. 233ff. 96 Erst in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts wurde die arabische Sprache als Ganze als Begründung für den ‚Wundercharakter‘ des Korans beschrieben und dann — in der Rhetorik des 10. und 11. Jahrhunderts — die Lehre von der Unnachahmlichkeit des Korans aufgrund seiner sprachlichen Unübertreff‌lichkeit diskutiert. Vgl. Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert der Hidschra, Berlin/New York 1992, Bd. 3, S. 408ff. Siehe auch die inspirierende Einleitung in Hava Lazarus-Yafeh, Intertwined Worlds. Medieval Islam and Biblical Criticism, Princeton 1992, S. 3–18.

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Da die Entstehungsgeschichte der beiden für die anfängliche Philologie konstitutiven Korpora, Koran und Dichtung, während der Zeit mündlicher Textüberlieferung in der orientwissenschaftlichen Forschung vielfach in Frage gestellt worden ist, müssen diese Kontroversen hier kurz skizziert werden.

1.4 Die Beurteilung der arabischen Philologie in der Forschung Die Erforschung der Anfänge der arabischen Philologie ist von Zweifeln an den Quellentexten selbst geprägt. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts sind zunächst Samuel Margoliouth und Ṭāhā Ḥusain 97 mit der Behauptung hervorgetreten, die altarabische Dichtung sei nicht die mündlich tradierte Literatur der paganen, vorislamischen Araber, die von Philologen im 8. und 9. Jahrhundert kompiliert und verschriftlicht wurde, sondern sie sei erst ein Erzeugnis der späteren Zeit, mit anderen Worten, die Fiktion einer bereits urbanen und wissenschaftlich organisierten Elite der Städte des heutigen Irak. Wenn diese These auch wenige Befürworter gefunden hat, war eine verstärkte Skepsis gegenüber der Überlieferungsgeschichte, wie sie die arabische Tradition beschreibt, doch die Folge. Mit unterschiedlichen Methoden und unterschiedlichen Ergebnissen bemühten sich in den 60er Jahren sowohl Fuat Sezgin als auch Michael Zwettler um den Nachweis einer Kontinuität der arabischen Dichtung vom 5. und 6. Jahrhundert bis zu deren erhaltener schriftlicher Niederlegung in islamischer Zeit. Dabei legte Zwettler das Augenmerk auf die mündliche Komposition der altarabischen qaṣīda, indem er versuchte, die Kriterien für „mündliche Literatur“, die die amerikanischen Altphilologen Parry und Lord am Gegenstand des griechischen Epos entwickelt hatten, 98 auf die arabische Dichtung zu übertragen. Dem gegenüber trat Fuat Sezgin gerade für die These einer noch vorislamischen Schriftlichkeit der arabischen Dichtung ein. Beide Argumentationen wurden in den folgenden Jahrzehnten für ihre Einseitigkeit kritisiert. 99 Die Kriterien der „formulaic poetry“ der Parry/Lord-These schienen angesichts der starken Durchkomponiertheit der altarabischen qaṣīda unzutreffend. Das Korpus, an dem Zwettler die Theorie zu überprüfen versuchte, erschien zu klein und zu wenig repräsentativ.

97 Zur Authentizität der altarabischen Dichtung und einer Zusammenfassung der kritischen Meinungen siehe Renate Jacobi, „Arabische Dichtung“, in: GAP, Bd. 2, S. 21. 98 Zur Parry/Lord-These siehe Walter Ong, Orality and Literacy: The Technologizing of the Word, New York 1982. Zur Parry/Lord-These in der Arabistik: Jacobi, „Arabische Dichtung“, in: GAP, Bd. 2, S. 21–23 und Islam Dayeh, „Intertextuality and Coherence in the Meccan Surahs“, in: The Qurʾān in Context, hg. von Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai und Michael Marx, Leiden/Boston 2010, S. 461–498. 99 Jacobi erwägt vor allem die Gattungsunterschiede zwischen der altarabischen qaṣīda und den für die Parry/Lord-These signifikanten Texten der Homerischen Epen. Siehe Jacobi, „Arabische Dichtung“, in: GAP, Bd. 2, S. 22.

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Nochmals in Zweifel gezogen wurde die Leistung der arabischen Philologie in den 70er Jahren durch John Wansbroughs Quranic Studies, wiederum vor dem Hintergrund der Annahme einer Spätdatierung des Korans und der altarabischen Literaturen. Wansbrough stellte die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Korans, wie sie die islamische Tradition beschreibt, grundlegend infrage, indem er das Korpus des Korans als das Ergebnis schriftlicher Redaktionsarbeit beschrieb, die erst nach dem Jahr 800 zu einem Abschluss gekommen sei und somit chronologisch nach den übrigen islamischen Literaturen bzw. aus diesen heraus entstanden sei. 100 Die mit dem Namen Wansbroughs und einigen seiner SchülerInnen verbundene skeptische Haltung hat die Koranwissenschaften weitaus heftiger erschüttert als die Debatte der 20er Jahre. Es ist sicher richtig, dass sich einer Stellungnahme zu der Wansbrough-These immer noch keine koranwissenschaftliche Arbeit enthalten kann; 101 da bis heute allerdings so zahlreiche Autoren qualifiziert Stellung zu einzelnen Argumenten der Quranic Studies bezogen haben, 102 möchte ich die Debatte an dieser Stelle nicht eigens aufarbeiten, sondern lediglich hinsichtlich der Rolle der arabischen Philologie kurz einige Stichpunkte aufgreifen: Der zweite Teil der Quranic Studies ist der arabischen Sprache gewidmet. Da Wansbrough davon ausgeht, dass der Koran nicht im Ḥiǧāz, sondern in Mesopotamien entstanden ist und erst nachträglich in den urgestalthaften Hintergrund der arabischen Halbinsel vor der arabischen Expansion eingepasst wurde, sieht er das historische Phänomen der Arabisierung der eroberten Gebiete losgelöst von dem der Islamisierung. Den ersten Prozess definiert Wansbrough als eine Diversifizierung von Kommunikation vor dem Hintergrund einer sich verändernden gesellschaftlichen Realität, in erster Linie der territorialen Expansion der arabischen Herrschaftsgebiete. Den zweiten Prozess hingegen beschreibe ein „Bildungsprinzip“, zu dem die Schaffung der kanonischen Bestände in „klassischem Arabisch“, unter anderem des Korans, zähle. Metaphorisch ausgedrückt sei die Arabisierung „the expression of a centrifugal force and figure of expansion“, wohingegen die Islamisierung verstanden werden könne „as a centripetal force and figure of contraction. […] Linguistically Arabicization is characterized by a concept of language as the most convenient means for meeting the demands of normal communication (Mit‌teilungsbedürfnis), and Islamization by a concept of language as an instrument of education (Bildungsprinzip).“ 103

Als Beispiel für die „diversifizierende“ und „natürliche“ Entwicklung der Arabisierung nennt Wansbrough die administrativen Reformen mit dem Ziel der Etablierung des Arabischen als Verwaltungssprache unter dem Umayyadenkalifen ʿAbd 100 Wansbrough, Quranic Studies, S. 15ff. 101 So Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 23ff. 102 Vgl. ebd. 103 Wansbrough, Qurānic Studies, S. 89.

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al-Malik. Hingegen sei ein Beispiel für das „ideologische“ und „monopolisierende“ Bildungsprinzip der Islamisierung der Koran selbst. Die nachträgliche Konstruktion der Sprache des Korans als lingua sacra habe der Begründung einer ethnischen Superiorität des Arabischen und der Aufwertung der arabischen Sprache als Offenbarungsmedium gedient und sei damit wiederum Ausdruck eines „Bildungsprinzips“, nicht Folge eines „Kommunikationsbedürfnisses“. Auch die „Gattungen“ der arabischen Literatur — Wansbrough nennt dafür neben der Dichtung, dem Koran, den aiyām al-ʿarab auch die Prophetentradition, den ḥadīṯ — seien aus einem edukativen Interesse, nicht aus einem Kommunikationsbedürfnis heraus entstanden. Beleg dafür sieht Wansbrough in der verhältnismäßig späten Praxis der lexikalischen Erklärung einzelner Wörter in Dichtung und Koran und der ebenso späten Einbindung der Poesie in die Koranexegese. 104 Ein weiteres Argument für die Annahme einer nachträglichen Konstruktion der Korpora Dichtung und Koran besteht, Wansbrough zufolge, in dem Umstand, dass erst in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts, also ca. 150 Jahre nach der traditionellen Datierung der koranischen Verkündigung, semantische Erklärungen der koranischen Sprache unter Zuhilfenahme anderer literarischer Quellen stattgefunden hätten. The implication must be that the text of scripture, like those of pre-Islamic poetry, was faithfully transmitted and intelligently read/recited and heard for a very long time indeed, without once provoking the question about its meaning and its form with which the literature of the third/ninth century is filled. Logic alone might preclude serious consideration of this version of Islamic history. 105

Es ist Wansbrough zufolge „unlogisch“, dass die arabische Dichtung (und der Koran) über nahezu zwei Jahrhunderte hinweg mündlich tradiert worden seien, um erst im 9. Jahrhundert Gegenstand grammatischer und lexikographischer Untersuchung zu werden. Die fehlende Unterscheidung von Textgattungen in den schriftlichen Quellen der frühen arabischen Philologie sieht Wansbrough als Begleiterscheinung dieser Eingebundenheit der literarischen Korpora in Prozesse der Bildung, das heißt der ideologischen Imagination einer islamischen Urgeschichte. A concomitant homogeneity of subject-matter is reflected in the overlapping of genres: poetry placed within a narrative frame, prose relieved by poetic insertions both as exegesis and ornatus, juridical and lexical problems solved by reference to scripture, scriptural problems solved by reference to jurisprudence and lexicography, all with approximately the same end in view: historical description of a situation two centuries earlier. 106 104 Wansbrough, Qurānic Studies, S. 89: „The fact that it [ancient Arabic poetry] had not [achieved the status of linguistic canon], in one field at last, can be shown: the absence of poetic shawāhid in the earliest forms of scriptural exegesis might be thought to indicate that appeal to the authority of Jāhilī (and other) poetry was not standard practice before the third/ninth century.“ 105 Ebd., S. 101. 106 Ebd., S. 90.

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Mit anderen Worten: die Arbeit der arabischen Philologie habe nicht — wie mit der islamischen Tradition angenommen — in der Teilhabe an einem Kommunikationsprozess bestanden, der seit dem 5. Jahrhundert geführt und der nun unter veränderten sozialen und medialen Bedingungen fortgesetzt wurde, sondern in einer ideologisch durchdrungenen und edukativ ausgerichteten Konstruktion einer arabischen Identität und Vergangenheit. Die Rolle, die der arabischen Philologie zukommt, schwankt also, je nach dem Blickwinkel auf die von den Philologen bearbeiteten Quellen, zwischen der Selektion, Ordnung, Bewertung und schriftlichen Niederlegung einer lebendigen mündlichen Literatur einerseits und der nachträglichen Schaffung derselben andererseits. Die These der Spätdatierung der arabischen Dichtung und des Korans in das 8. oder 9. Jahrhundert kann heute als widerlegt gelten. Nicht nur haben die Untersuchung und Auswertung einzelner Papyrus- und Pergamentfunde eine Datierung von Koranblättern in das 7. Jahrhundert wahrscheinlicher gemacht, 107 sondern auch detaillierte philologische Arbeiten am Text des Korans haben enge Beziehungen zu der syrisch-christlichen, rabbinischen und patristischen Literatur ersichtlich gemacht, die insgesamt eine historische Verortung des Korantextes in das von der islamischen Tradition angesetzte Milieu erfordern. 108 Zwar hat gerade im deutschsprachigen Raum die „skeptische Schule“ um das Jahr 2000 wieder neue Verfechter gefunden; 109 dem gegenüber wurde aber gerade von Seiten der Literaturwissenschaft auf die Notwendigkeit der Einbeziehung der altarabischen Literaturen (der Dichtung und der aiyām al-ʿarab) bei der Erforschung des Korans hingewiesen. 110 Diskursive und vergleichende Studien der Quellentexte selbst haben in den letzten Jahren dazu beitragen, das Hintergrundmilieu für die Entstehung der arabischen Sprach- und 107 Siehe François Déroche, Islamic Codicology. An Introduction to the Study of Manuscripts in Arabic Script, London 2005. Siehe auch die Publikationen des Projektes Corpus Coranicum: www. corpuscoranicum.de. Jetzt auch den Beitrag von Tobias J. Jocham und Michael Marx, „Zu den Datierungen von Koranhandschriften durch die 14C-Methode“, in: Koranforschung. Ausrichtung und Hermeneutik. (Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien), hg. von Ömer Öszoy, Frankfurt 2015, S. 9–37. 108 Siehe insbesondere den Sammelband The Qurʾān in Context. Historical and Literary Investigations into the Qurʾānic Milieu, hg. von Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai und Michael Marx, Leiden/ Boston 2010. 109 Im deutschsprachigen Raum erschien im Jahr 2000 das bis heute in 4. Auf‌lage vorliegende und im Jahr 2010 ins Englische übertragene Buch von Christoph Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran: Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2000. Darauf folgend z. B. Karl-Heinz Ohlig (zusammen mit Gerd Puin), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 2005. Zu einer Kritik an diesen Ansätzen siehe Stefan Wild, „Lost in Philology? The Virgins of Paradise and the Luxenberg Hypothesis“, in: The Qurʾān in Context, S. 625–648. 110 Thomas Bauer, „The Relevance of Early Arabic Poetry for Qurʾanic Studies Including Observations on Kull and on Q 22:27, 26:225, and 52:31“, in: The Qurʾān in Context, S. 699–732 und Toshihiko Izutsu, God and Man in the Qurʾān. Semantics of the Qurʾānic Weltanschauung, Kuala Lumpur 1956 und ders., Ethico-Religious Concepts in the Qurʾān, Kuala Lumpur 2007 (Nachdruck).

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Textwissenschaften schlüssiger zu zeichnen. 111 Vor allem im Umfeld des Corpus Coranicum Projekts der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Potsdam haben Studien zu den literarischen, theologischen und materiellen Kontexten des Korans dazu beigetragen, den Koran in zeitgenössische Diskurse der Spätantike zu verankern. 112

1.5 Maǧāz al-Qurʾān als Kommentar der „vorrhetorischen“ Phase  arabischer Sprachwissenschaft? Neben dem Merkmal der beginnenden Wissenschaftlichkeit wurde Abū ʿUbaidas koranhermeneutisches Werk in der westlichen Wissenschaft oft mit einem zweiten Stichwort beschrieben. Maǧāz al-Qurʾān kennzeichne ein „vorrhetorisches“ Stadium der arabischen Sprachwissenschaft und Textkritik. Während dieser „vorrhetorischen“ oder auch „vorsystematischen“ 113 Phase habe ein vergleichsweise unreflektierter Umgang mit den Funktionsweisen und Bedeutungsebenen von Sprache geherrscht. Erst der berühmte Rhetoriker und Grammatiker ʿAbd al-Qāhir al-Ǧurǧānī (gest. 480/1078) habe die Leistung einer Differenzierung der semantischen und pragmatischen Bestandteile von Sprache hinsichtlich des Zusammenspiels und der Diskrepanz von Form und Inhalt erbracht. 114 Al-Ǧurǧānīs rhetorische Hauptwerke Asrār al-balāġa (die Geheimnisse der Beredtsamkeit) und Dalāʾil al-iʿǧāz (Beweise für die Unnachahmlichkeit des Korans) wurden nicht nur von der westlichen Arabistik, sondern auch von modernen arabischen Literaturtheoretikern als regelrechte Revolution wahrgenommen. 115 Dabei bestehe al-Ǧurǧānīs Leistung nicht in der erstmaligen Problematisierung, sondern in der theoretischen Fundierung unterschiedlicher Funktions- und Bedeutungsebenen von Sprache. Diese manifestiert sich unter anderem in al-Ǧurǧānīs Reflexion über den literarischen Tropus, die eine Unterscheidung von 111 Siehe vor allem Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike, Berlin 2010 und dies., Scripture, Poetry and the Making of a Community, Oxford 2014. Außerdem Gabriel Said Reynolds, The Qurʾān in its Historical Context, Routledge 2008; Uri Rubin, „On the Arabian Origins of the Qurʾān. The Case of al-Furqān“, in: Journal of Semitic Studies 54/2 (2009), S. 421–433 und Jan Retsö, The Arabs in Antiquity. Their History from the Assyrians to the Umayyads, London 2009. 112 Siehe dazu Michael Marx, „Ein Koran-Forschungsprojekt in der Tradition der Wissenschaft des Judentums: Zur Programmatik des Akademienvorhabens Corpus Coranicum“, in: Im vollen Licht der Geschichte. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der Koranforschung, hg. von Dirk Hartwig, Walter Homolka, Michael J. Marx und Angelika Neuwirth, Würzburg 2008, S. 41–54. 113 Siehe Wolfhart Heinrichs, „Poetik, Rhetorik, Literaturkritik, Metrik und Reimlehre“, in: GAP, Bd. 2, S. 178ff. Sinai spricht von der „vorlinguistischen“ Phase. Siehe Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 161. 114 Siehe die klare Einschätzung Heinrichs: „But the literary theorists were slow in recognizing the potential of the majāz theory for a logical structuring of their own technical vocabulary, and it took a genius of ʿAbd al-Qāhir al-Jurjānī (d. 471/1078 or later) to achieve this goal.“ („Contacts between scriptural hermeneutics“, S. 37f.) 115 Siehe dazu Kamal abu Deeb, Al-Jurjānī’s Theory of Poetic Imagery, Surrey 1997.

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auf dem Vergleich basierender Metapher (tašbīh) und der Kombination mehrerer Objekte im Gleichnis oder Symbol (tamṯīl) beinhaltet. 116 In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem arabischen Rhetoriker wurde meist auch diskutiert, ob alǦurǧānīs Lehrgebäude mit der aristotelischen Rhetorik kompatibel bzw. von ihr beeinflusst sei. 117 Unter den Literaturtheoretikern des frühen 20. Jahrhunderts, die al-Ǧurǧānīs Auf‌fassung von Sprache und Text eine starke Aktualität abgewinnen konnten, trat Ṭāhā Ḥusain mit der These hervor, al-Ǧurǧānī stehe nicht nur in der Tradition aristotelischer Rhetorik, sondern sein Werk stelle den kulminativen Punkt in der Geschichte der arabischen Sprachwissenschaften dar, in dem „the trend of Arabic criticism influenced by the Greeks met and was unified with the purely Arabic trend.“ 118 Abū ʿUbaida würde in dieser Konstruktion zu den Vertretern einer „rein arabischen“ Textkritik gehören, die sich unberührt von fremden Einflüssen — etwa den Diskussionen um den Erkenntniswert von Sprache, die seit der klassischen Antike und im Hellenismus geführt wurden — direkt aus dem paganen arabischen Sprachwissen heraus entwickelt hätte. 119 In der Tat wurde Maǧāz al-Qurʾān, wie das Stichwort des „Vorrhetorischen“ verrät, in der Arabistik oft in Abgrenzung von späteren Werken, wie dem al-Ǧurǧānīs, gelesen und insofern weniger die eigenen Verfahrensweisen des Korankommentars untersucht, als vielmehr das Fehlen später entwickelter Techniken bemerkt. 120 Die Kennzeichnung des „Vorrhetorischen“ schlage sich zum Beispiel in dem Umgang des Philologen mit literarischen Stilformen und Tropen nieder. Ein solcher ‚vorrhetorischer‘ Charakter ist vor allem aufgrund des Gebrauchs des Begriffs maǧāz (dem technischen Begriff für die Metapher in der späteren arabischen Rhetorik) bemerkt worden. 121 Abū ʿUbaida sieht — trotz der Suggestion des Titels, es handle sich um ein Buch über „the metaphor in the Qurʾān“ 122 — über metaphorische Elemente in der Sprache des Korans mit verblüffender Konsequenz hinweg. Metaphern im Koran werden im philologischen Korankommentar entweder unkommentiert belassen oder auf rein sachlicher Ebene behandelt. „At least 27 verses which are based on istiʿārī [metaphorical] usage are quoted in the book, but the istiʿārī element in them 116 117 118 119

Siehe dazu Kamal abu Deeb, Eintr. „al-Djurdjānī“ in: EI². abu Deeb, Poetic Imagery, S. 244ff. Zitiert nach ebd., S. 308. Bekannt ist die Trennung von „arabischen“ und „alten“ (qadīma) Wissenschaften, die al-Ḫuwārizmī in der Einleitung seines Werks Mafātiḥ al-ʿulūm programmatisch begründet. Siehe Heinrichs, „Contacts between scriptural hermeneutics“, S. 26. 120 Siehe dazu Lale Behzadi, Sprache und Verstehen. Al-Ǧāḥiẓ über die Vollkommenheit des Ausdrucks, Wiesbaden 2009, S. 9. 121 Wolfhart Heinrichs, „On the Genesis of the Ḥaqīqa-Maǧāz Dichotomy“, in: Studia Islamica 54 (1984), S. 111–140. 122 Der Untertitel der Edition des Werks von Aḥmad Farīd al-Mazyadī lautet noch „the metaphor in the Holy Qurʾān“. Gilliot übersetzt den Begriff maǧāz mit „literary expression“ (Gilliot, „Exegesis of the Qurʾān“, in: EQ, Bd. 2, S. 105).

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is completely ignored. Most of them are not even called majāz.“ 123 Dem Erstaunen, das diese Beobachtung des Arabisten Kamal Abu Deeb ausdrückt, liegt dessen Wissen um die spätere, „rhetorische“ Bedeutung des Terminus maǧāz zugrunde. Abu Deeb suggeriert eine Intentionalität der scheinbaren Reduktion der koranischen Sprache auf einen ‚Wortsinn‘ durch Abū ʿUbaida, indem er unterstreicht: „The word which renders the verse metaphorical is [simply] dropped“. 124 Selbst diejenigen Verse, die aufgrund ihrer Assoziation der Anthropomorphie Gottes von zeitgenössischen Kommentatoren allegorisch aufgefasst wurden, scheinen für Abū ʿUbaida keine besondere Deutungsnotwendigkeit zu besitzen. „He does not seem to have been aware of what bearings majāz can have on anthropomorphism.“ 125 Vergleichbar mit den Versen anthropomorpher Gottesvorstellung verfährt Abū ­ʿUbaida mit Personifikationen und Vergleichen im Korantext. Zum Beispiel kommentiert er den Vers (27:86) wa-n-nahāra mubṣiran („und den Tag sehend“ 126) mit dem Hinweis darauf, dass der Tag selbst nicht sehen könne (an-nahāru lā yubṣiru 127). Auf Personifizierungen, die im Koran vorkommen, reagiert Abū ʿUbaida vorrangig mit dem Hinweis: „Dies ist eine Äußerung über unbelebte Dinge und Tiere nach der Art des Redens von Menschen.“ (hāḏā maǧāzu l-mawāti wa-l-ḥayawāni llaḏī yaḫruǧu bi-maḫraǧi l-ādamīyīna 128) Damit zeigt er zwar eine Kenntnis der rhetorischen Form der Personifizierung, geht aber nicht so weit, sie mit einer Funktion zu belegen und dem entsprechend die Bedeutung des Verses jenseits von dessen Wortsinn zu suchen. Auch von den mit Abū ʿUbaida zeitgenössischen Vertretern der „vorsystematischen“ oder „vorrhetorischen Phase“ der arabischen Literaturkritik wurden tropische Elemente in der altarabischen Dichtung mit einem Realismus verhandelt, der den modernen Leser bisweilen erstaunt. 129 Wolfhart Heinrichs näherte sich der Wahrnehmung literarischer Stilelemente in der mit dem philologischen Korankommentar zeitgenössischen Dichtungskritik über eine Analyse des Begriffs der Metapher (istiʿāra). Heinrichs differenzierte zwei unterschiedliche Formen der Metapher in der 123 Abu Deeb, „Studies in the Majāz“, S. 314. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 315. 126 Der gesamte Vers lautet in der Übersetzung Parets: „Haben sie denn nicht gesehen, dass wir die Nacht gemacht haben, damit sie in ihr ruhen und den Tag, (an dem alles deutlich) zu sehen ist.“ Dieser Übersetzung zufolge enthält der Vers überhaupt keine Personifizierung, da sich das Wort mubṣiran nicht auf den Tag selbst, sondern auf den Menschen bezieht, der dank des Tageslichts deutlich sehen kann. 127 Maǧāz II, S. 96. 128 Zum Beispiel in Maǧāz II, S. 38f. 129 Siehe z. B. die Kommentare zum Ausdruck „der Rücken der Nacht“ im Vers von Labīd von Ibn alMuʿtazz, die sich auf den Hinweis darauf beschränken, dass die Nacht keinen Rücken und keinen Hinterleib habe: „All this belongs to the category of borrowing (badal), because the night does not have a back and hindquarters.“ (Wolfhart Heinrichs, The Hand of the Northwind. Opinions on Metaphor and the Early Meaning of istiʿāra in Arabic Poetics, Wiesbaden 1977, S. 17.) Ebenso den Kommentar aṯ-Ṯaʿlab’s zu einem vergleichbaren Vers des Imruʾ al-Qais: „Death has no claw.“ (Heinrichs, Northwind, S. 9).

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frühen Literaturtheorie, die für ihn wiederum die Zeit vor ʿAbd al-Qāhir al-Ǧurǧānīs rhetorischen Werken betrifft. Der frühe Gebrauch des Begriffs istiʿāra unterscheidet sich, Heinrichs Untersuchung zufolge, maßgeblich von dem aristotelischen Metaphernverständnis, das konstitutiv für die römische Rhetorik Quintilians und Ciceros war. Aristoteles hatte den „häufigsten und bei weitem schönsten Tropus“ 130 der Metapher beschrieben als „das Übertragen eines anderen Wortes, entweder von der Gattung zur Art oder von der Art zur Gattung oder von der Art zur Art oder gemäß der Analogie“. 131 Die aristotelische Metapher beruht demnach auf einer Operation der semantischen Übertragung eines Wortes, das von Haus aus eine andere Sache bezeichnet und damit auf der Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen Wortkörper und Wortinhalt. In der lateinischen Rhetorik wurde die dem Tropus (der Metapher) zugrunde liegende Trennung von (linguistischen) Zeichen (verba) und durch sie repräsentierten Sachverhalten (res) ausdrücklich thematisiert und die Beziehung zwischen Sprache und Denken häufig selbst auf bildlicher Ebene besprochen: Cicero bediente sich […] des Bildes vom Einkleiden dessen, was in der inventio gefunden wurde. Nach Quintilian geht es darum, das in Gedanken Gefasste zum Vorschein zu bringen. In all dem bekundet sich die Idee einer Gedankenwelt, die im Mit‌teilungsvorgang zu materialisieren ist: also ein Nebeneinander von (reinen) Gedanken und (konkreter) Sprache. 132

Für die römischen Rhetoriker wie auch für Aristoteles stellt der Tropus keinen von der Norm abweichenden oder ungewöhnlichen Sprachgebrauch dar, sondern „alle Leute unterhalten sich, indem sie metaphorische, gemeinübliche oder wörtliche Ausdrücke verwenden“. 133 Die Materialisierung von Gedanken in Sprache ist für Quintilian nicht allein der Notwendigkeit zur Kommunikation von Gedanken geschuldet, wodurch sie für das Denken selbst unerheblich wäre, sondern: In der Notwendigkeit der Versprachlichung wurde vielmehr eine Möglichkeit der Hervorbringung, ja Steigerung von Gedanken gesehen. Stilistischer Schmuck etwa in Form einer Metapher oder der sprach-rhythmischen Durchgestaltung eines Satzes bedeutet danach mehr als bloßer (und damit entbehrlicher) Schmuck. 134 130 Aristoteles, Poetik 1457b 6, übers. in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Üding, Darmstadt 2001, Bd. 5, S. 1111. 131 Ebd. 132 Karl-Heinz Göttert, Einführung in die Rhetorik, Paderborn 2009, S. 39. 133 Aristoteles, Rhetorik, 1404v 34, zitiert in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, S. 1111. Die Metapherntheorie der lateinischen Rhetorik wird oft mit der Vorstellung assoziiert, die Metapher sei lediglich ornamental. Die Abwertung der rhetorisch ausgeschmückten Rede, die ihren Sitz im Leben im öffentlichen Vortrag, vor allem bei Gericht, besaß, rührt von einer Kontroverse zwischen Rhetorik und Philosophie her. Die Philosophen fürchteten, die metaphernreiche Sprache des Rhetors könne die Wahrheit verhüllen und ihre Überzeugungskraft gesellschaftliche und politische Ungerechtigkeit fördern. 134 Göttert, Einführung in die Rhetorik, S. 39.

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Ganz anders funktioniert die von Heinrichs beschriebene „alte Metapher“ der „vorsystematischen Phase“ arabischer Literaturkritik. Sie reflektiert nicht eine Variation von bezeichnendem Wortkörper und bezeichnetem Wortinhalt, sondern eine „Entleihung“ (badal) von Eigenschaften gleichsam „realer“ Objekte auf derselben (gedanklichen und sprachlichen) Ebene. Als paradigmatisch für die „alte“ Metapher der altarabischen Dichtung, gilt Heinrichs die Formulierung „die Hand des Nordwindes“ in einem Vers des Labīd: Thus Labīd, in forming the metaphor „the hand of the northwind“, borrowed the hand from the rider and lent it to the northwind just as in the accompanying metaphor „rein of the morning“ he borrowed the horse’s rein to give it to the morning. 135

Erst in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts beginne, laut Heinrichs, die aristotelische Metapher und damit ein veränderter Begriff von Sprache und deren Beziehung zum Denken in der arabischen Dichtungskritik eine Rolle zu spielen. Fortan würde der Begriff istiʿāra für — mit dem aristotelischen Metaphernkonzept vergleichbare — sprachliche Bilder mit Vergleichsmoment gebraucht. Zu dem Zeitpunkt, da die „neue“ istiʿāra den „alten“ Gebrauch des Begriffes ablöste, wurden alte istiʿārāt, wie die „Hand des Nordwindes“ oder der „Rücken der Nacht“ ihrerseits nicht mehr als istiʿārāt bezeichnet. 136 Der „semantic shift“, 137 den der Begriff istiʿāra in den ersten Jahrzehnten arabischer Literaturkritik erfahren hat, ist über seine Erfassung als sprachhistorisches Phänomen hinaus aufschlussreich für das dem Tropus der Metapher zugrunde liegende Bedeutung konstituierende Referenzverhältnis zwischen Name und Ding. Die Metaphorizität in der altarabischen Dichtung und deren Beschreibung durch die „vorrhetorischen“ Literaturkritiker des 8. und frühen 9. Jahrhunderts scheinen nämlich zu suggerieren, dass die gedankliche Erkenntnis nicht von deren sprachlicher Realisierung unterschieden wird. Auch Versteegh nahm deshalb für die frühislamische Sprachwissenschaft an, dass „unlike the Greek tradition, the Arabo-Islamic study of words did not develop an epistemological dimension by applying the knowledge of words to the knowledge of things.“ 138 Und Ella Almagor postulierte: „[t]he medieval Arab speaker did not apparently feel the need for a clear distinction between the lexical meaning of a word, the abstract idea, which it comes to convey, and the mode of conveying this idea.“ 139

135 Heinrichs, Northwind, S. 9. 136 Ebd., S. 15. 137 Ebd. 138 Versteegh, „Arabic Tradition“, S. 232. 139 Almagor, „Early Meaning of Majāz“, S. 315.

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Diese vermeintliche oder tatsächliche Identifikation der Namen mit den Dingen bzw. Begriffen ist „vormodernen“ Kulturen vielfach diagnostiziert und unterschiedlich begründet worden. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieb der Philosoph Ernst Cassirer die Gleichsetzung von Zeichen und Dingen in einem Durchlauf durch antike Modelle von Sprachsemantik als ein Bestandteil eines vorkritischen, „mythischen“ Denkens: So ist es für die ersten gleichsam naiven und unreflektierten Äußerungen des sprachlichen Denkens wie für das Denken des Mythos bezeichnend, daß sich für sie der Inhalt der „Sache“ und der „Zeichen“ nicht deutlich scheidet, sondern daß beides in völliger Indifferenz ineinander überzugehen pflegt. Der Name einer Sache und diese selbst sind untrennbar miteinander verschmolzen — […] 140

Andernorts ist die ‚fehlende‘ Wort-Zeichen-Unterscheidung als notwendige Begleiterscheinung mündlicher Kommunikation und Tradition gesehen worden: „The Platonic bipolarity between the sensible versus the intelligible, which typifies the character of signs, is unworkable as for as oral discourse is concerned, if only be­ cause speech does not partake in the tangibility of writing. Our sense of the disjunction between signifier and signified ‚is created by writing‘.“ 141 Heinrichs begründet den „alten“, auf badal basierenden Metaphernbegriff nicht mit der vorrangigen Mündlichkeit der arabischen Dichtung bis zum frühen 9. Jahrhundert und er deutet die Identifikation von Wörtern und Dingen in der ‚vorrhetorischen‘ Phase arabischer Sprachwissenschaft nicht ausdrücklich als Zeichen eines mangelnden Abstraktionsvermögens. Trotzdem wird auch auf die aus den oben genannten Beispielen bereits hervorgehende Einsicht, dass Abū ʿUbaida den Begriff maǧāz nicht wie die spätere arabische Rhetorik im Sinn „übertragener Rede“ (bzw. konkret: Metapher) gebraucht, in der Forschung zumeist im Kontext der geringen Technizität der Sprachwissenschaft und Kommentartradition in der zweiten Hälfte des zweiten islamischen Jahrhunderts verwiesen. Abū ʿUbaidas philologische Praxis sei eben Bestandaufnahme einer „vorsystematischen“ Phase arabischer Philologie, in der Metaphern noch nicht als solche identifiziert bzw. die Möglichkeit sprachlicher Expressivität in ihrer Tiefendimension noch nicht erschlossen seien. 142 Mangelt es Abū ʿUbaida an Gespür für die Funktionen übertragener Rede oder folgt die Interpretation der koranischen Sprache nach dem linguistischen ‚Literalsinn‘ einer Intention und Systematik?

140 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg 2010, Bd. 1, S. 19. 141 Werner H. Kelber, „In the Beginning were the Words“, in: Imprints, Voiceprints and Footprints of Memory, Atlanta 2013, S. 82 (mit dem Zitat von Stephen Tyler). Mit unterschiedlichen Begründungen haben sich Walter Ong und Niklas Luhmann dafür ausgesprochen, dass erst Schrift eine Bedingung der Möglichkeit kritischer Sprachreflexion darstelle. Vgl. Kapitel „Schrift als Bedingung der Möglichkeit von Sprachkritik“ (S. 211). 142 Siehe Heinrichs, „Rhetorik“, in: GAP, Bd. 2, S. 177ff. Versteegh, „Arabic Tradition“, Almagor, „Early Meaning of Majāz“, S. 310ff. und Heinrichs, „Dichotomy“, S. 111ff.

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1.6 Der Begriff maǧāz In der Einleitung zum Kommentar skizziert der Verfasser vorab Beispiele koranischer Sprache, die hinsichtlich ihrer grammatischen oder stilistischen Form auf‌fällig sind. Obwohl der Begriff des maǧāz (pl. maǧāzāt) als Beschreibung dieser sprachlichen Sonderformen aufgegriffen wird, dient die Liste in der Einleitung des Buches nicht einer klaren Definition des Begriffs, sondern der Begriff maǧāz hat ganz offenkundig mehr als eine Bedeutung. Die häufigste Verwendung des Begriffs maǧāz in der Einleitung zu Maǧāz alQurʾān, die allerdings im Kommentar selbst nur sehr selten aufgegriffen wird, ist die Formulierung: „min maǧāz mā…“ als Einleiteformel eines darauf‌hin diskutierten sprachlichen Sonderfalls. Zum Beispiel wird hier das oben angesprochene Phänomen der anthropomorphen oder subjekthaften Bezeichnung unbelebter Dinge benannt: „Zum maǧāz gehören Formen der Rede, in denen von Tieren und unbelebten Dingen nach der Art des Redens über Menschen gesprochen wird.“ (Min maǧāzi mā ǧāʾa min lafẓi ḫabari l-ḥayawāni wa-l-mawāti ʿalā lafẓi ḫabari n-nāsi 143) Eine solche generelle Beschreibung ist stets gefolgt von einem Beispiel oder mehreren Beispielen aus dem Koran, in diesem Fall Vers 4 von Sure 12 (Yūsuf): „Ich sah elf Sterne und die Sonne und den Mond. Ich sah sie sich vor mir verneigen.“ (raʾaitu aḥada ʿašara kaukaban wa-š-šamsa wa-l-qamara raʾaituhum lī sāǧidīna). Wir können den Begriff maǧāz in diesem Beispiel und in der Einleitung vielleicht am besten als Stilform übersetzen. Der Begriff steht eventuell etymologisch mit dem Begriff ǧāʾiz mit der Bedeutung „erlaubt sein“ in Verbindung. Die maǧāzāt in Abū ʿUbaidas Gebrauch wären demnach Formen der „usual“ oder „permitted speech“ 144 der Araber zur Zeit der koranischen Verkündigung. Die eigenwillige Formulierung: „Min maǧāz mā…“ suggeriert eine Systematik im Umgang mit den maǧāz genannten Formen im Koran, als schwebe dem Verfasser der Einleitung eine abgegrenzte Anzahl anomalischer Sprachformen vor, die er anhand einfacher Beispiele aus dem Koran illustriert. Insgesamt sind es 39 Formen, die mit dieser Einleiteformel vorgestellt werden, die jedoch erhebliche Redundanzen aufweisen. John Wansbrough hat diese „39 types of majāz“, 145 die in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān genannt werden, mit zum Teil griechischen, zum Teil lateinischen Begriffen der Rhetorik und Grammatik übersetzt. Wansbroughs Überblick stellt, wie schon die Kombination mehrerer Terminologien zeigt, nicht den Versuch dar, eine historische direkte oder indirekte Beeinflussung der Facetten des Begriffs maǧāz in Abū ʿUbaidas Gebrauch durch die antike griechische oder lateinische Sprachwissenschaft 143 Maǧāz I, S. 15. 144 Gilliot, „Exegesis of the Qurʾān“, in: EQ, Bd. 2, S. 99. 145 John Wansbrough, „Majāz al-Qur’ān: Periphrastic Exegesis“, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 33/2 (1970), S. 247–266.

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zu postulieren, vielmehr muss er als Hilfsmittel zum Verständnis des von ihm „paraphrastisch“ genannten Korankomentars gelesen werden. So hilfreich diese Übersetzungen in dem westlichen Leser vertrautere Begriffe sind, birgt die Vermengung der griechischen und lateinischen mit den arabischen Termini mehrere Gefahren. Ella Almagor hat darauf hingewiesen, dass Wansbroughs Fokussierung auf den Begriff des maǧāz beim Leser den Irrtum hervorruft, es handle sich bei den 39 Typen um literarische Tropen. Dem setzt Almagor die Beobachtung entgegen, der Korankommentar selbst sei nicht um die tiefenstrukturelle Interpretation literarischer Kunstformen besorgt: While any random passage from the exegesis proper would immediately show that the book has nothing to do with rhetoric aspects, the stylistic phenomena listed in the introduction, by virtue of the fact that they represent irregularities of diction, might, as indeed has happened, be mistaken for tropes. 146

Diese Korrektur Almagors ist so zentral für das Verständnis der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān, weil sie auf die Differenz zwischen dem frühislamischen Konzept von Semantik und dem der aristotelischen Rhetorik insistiert. Insofern weist sie in dieselbe Richtung, die Heinrichs durch seine Untersuchung des Begriffs istiʿāra nahegelegt hat. Es plädieren nämlich beide Autoren, wie auch Kamal Abu Deeb in seinem oben zitierten Aufsatz zu Abū ʿUbaidas Gebrauch des Begriffs maǧāz, für eine Unabhängigkeit der frühislamischen Sprachwissenschaften und Koranexegese von antiken (aristotelischen) Konzepten von Sprache und Bedeutung. Am Beispiel der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān und dem dort erkennbaren Gebrauch des Begriffs kann illustriert werden, wie weitreichend diese These ist: Problematik der Übersetzung der „Formen des maǧāz“ in rhetorische Begriffe Unproblematisch scheint Wansbroughs Methode der Zuschreibung „fremder“ rhetorischer Begriffe, solange sich die Beispiele aus dem Koran auf syntaktische Phänomene beziehen, das heißt auf Formen von maǧāz, die ohnehin keine Tropen im Sinn einer „semantischen Übertragung“ darstellen. Diese werden meist vom Verfasser der Einleitung selbst hinreichend beschrieben. Zum Beispiel bezeichnet Wansbrough die Redundanz von Bindewörtern (ḥurūf az-zawāʾid) als Pleonasmus. 147 Der beigebrachte Versteil (2:26) lautet: inna llāha lā yastaḥyī an yaḍriba maṯalan (mā) baʿūḍatan fa-mā fauqahā. („Gott scheut sich nicht ein beliebiges Gleichnis zu prägen, mit einer Mücke oder etwas [geringfügig] Höherem.“) Die Bezeichnung der Auslassung der Partikel mā mit dem griechischen Begriff des Pleonasmus ist unproblematisch, da sich die Besonderheit auf ein syntaktisches Phänomen bezieht 146 Almagor, „Early Meaning of Majāz“, S. 309. 147 Wansbrough, „Periphrastic Exegesis“, S. 250.

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und nicht die Wortsemantik betrifft und somit keine Aussage über das Verhältnis zu den durch die Worte bezeichneten Dingen impliziert. Für einige „Formen des maǧāz“ werden in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān selbst Begriffe verwendet, die einen gewissen technischen Status beanspruchen können, da sie im Kommentar wie auch in den Werken kontemporärer Sprachwissenschaftler gebräuchlich sind. Dazu gehört der Ausdruck taqdīm wa-taʾḫīr 148 für die Beschreibung eines syntaktischen Phänomens, das Wansbrough als „hyperbaton“ bzw. „chiasmus“ identifiziert. 149 Anders als Aristoteles oder die römischen Rhetoriker legt Abū ʿUbaida keine kommunikative Absicht fest, die mit dem Gebrauch dieser Formen erzielt würde. Die sprachlichen ‚Anomalien‘ im Koran haben für ihn keine poetische oder rhetorische Dimension etwa in der Steigerung der Aufmerksamkeit oder in der poetischen Verfremdung einer Aussage. Die Schwierigkeit von Wansbroughs ‚fremder‘ Klassifizierung der maǧāz-Formen wird deutlicher, wenn es sich um „Typen des maǧāz“ handelt, die vom Verfasser der Einleitung (im Folgenden der Einfachheit halber: Abū ʿUbaida) zwar lose beschrieben, jedoch mit keinem Begriff versehen werden. Wir begreifen den Einwand Almagors, es handle sich bei den „Typen des maǧāz“ nicht um Tropen im rhetorischen Sinne besser, wenn wir uns folgendes Beispiel ansehen: Wansbroughs 24. Form des maǧāz betitelt er als: „Action of nomen agens transferred (by metonymy) to nomen rectum“. 150 Den Vers, der mit diesem Typ korrespondiert, kommentiert Abū ʿUbaida folgendermaßen: mā inna mafātiḥahu la-tanūʾu bi-l-ʿuṣbati (28:76), wa-l-ʿuṣbatu hiya llatī tanūʾu bi-mafātiḥihi. [so schwer, dass] die Schlüssel [zu den Schätzen] für eine Schar von Männern eine [ächzende] Bürde gewesen wären (28:76), 151 die Schar ist es, die unter ihren Schlüsseln (der Last ihrer Schlüssel) [ächzt].

Die Metonymie, die in der griechischen Rhetorik in der Nachfolge Aristoteles oft in Abgrenzung zur Metapher beschrieben wird, unterscheidet sich von letzterer darin, dass die metonymische Beziehung auf Nachbarschaft, nicht auf semantischer Übertragung zweier Begriffe basiert. In der Metonymie wird ein Wort in der Bedeutung eines anderen Wortes verwendet, das semantisch mit dem verwendeten Wort in einer realen Beziehung (res consequens) steht, also nicht wie bei der Metapher in 148 Die Begriffe taqdīm und taʾḫīr gehören zu den technischen Begriffen der arabischen Grammatik bereits vor dem Maǧāz. Siehe Geert van Gelder, Eintr. „Poetic Licence“, in: EAL, Bd. 4, S. 649–650. 149 Wansbrough, „Periphrastic Exegesis“, S. 251. 150 Ebd. 151 Der ganze Satz in der Übersetzung Parets: „Wir gaben ihm so viel Schätze, dass die Schlüssel dazu von einer (ganzen) Schar kräftiger Männer kaum getragen werden konnten, d. h. dass sie darunter ‚ächzen‘ würden.“

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einer Vergleichsbeziehung (similitudo). 152 Ein Beispiel dafür wäre der Gebrauch des Begriffes „Brot“ für den gesamten Komplex der Erwerbserträge in der Formulierung: „Er verdient sich ein Zubrot mit dem Austragen der Zeitung.“ Die „reale Beziehung“, die zwischen den in der Metonymie gebrauchten Begriffen — wie dem Brot und dem Lebensunterhalt — besteht, kann sehr unterschiedlich sein. Sie betrifft unter anderem die Beziehung zwischen Eigentümer und dessen Eigentum, Schöpfer und Geschaffenem, zwischen Gefäß und dessen Inhalt oder zwischen Grund und Folge. 153 Es geht Abū ʿUbaida im obigen Beispiel nicht darum, eine semantische Nachbarschaft der Schlüssel (mafātiḥ) und der Schar von Menschen (al-ʿuṣba) im Sinn einer so verstandenen Metonymie zu beschreiben, sondern die Paraphrase macht deutlich, dass es die syntaktische Besonderheit ist, die den Philologen interessiert. So nennt er auch die „Form des maǧāz“, zu der dieses Beispiel gehört, „die Verkehrung der Handlung eines Subjekts (fiʿl al-fāʿil) in ein Objekt (mafʿūl).“ Es handelt sich um einen syntaktischen Sonderfall, nicht um eine metonymische Übertragung. Wansbrough scheint sich dieser Differenz nicht bewusst zu sein, wenn er gleichermaßen seinen 35. Typ von maǧāz beschreibt als „change of gender by metaphorical application“. 154 Das Beispiel für diesen Typ von maǧāz ist: as-samāʾu munfaṭirun bihi (73:18), ǧuʿilati s-samāʾu badalan mina s-saqfi bi-manzilati taḏkīri samāʾi l-baiti. 155 Der Himmel wird sich an ihm (dem jüngsten Tag) spalten (73:18), der Himmel wurde zum Tauschgegenstand [des Begriffs] des „Daches“ durch die maskuline Behandlung [des Himmels als Dach] „Himmel des Hauses“.

Es ist wiederum eine grammatische Anomalie, die das Lemma für Abū ʿUbaida klärungsbedürftig macht: Der Himmel (as-samāʾ) ist zwar grammatikalisch weiblich, wird aber im Vers von einem männlichen Partizip (munfaṭir) begleitet. Allerdings weist Abū ʿUbaidas Begründung für diese anomalische Verwendung tatsächlich in den Bereich der metaphorischen Übertragung: Der Begriff des Himmels wird nämlich mit dem Begriff des Daches (as-saqf) 156 vertauscht. Da sich dieser Tausch (badal) lediglich auf die Regierungsverhältnisse im Satz auswirkt und keine weitergehende Bedeutungsänderung evoziert, bleibt die von Wansbrough beigebrachte Identifikation dieser Form des maǧāz mit der Metapher allerdings irreführend. Neben diesen „Typen von maǧāz“, die mit derselben Einleiteformel gekennzeichnet eine gewisse Vollständigkeit suggerieren, fallen Verwendungen des Begriffs 152 Siehe Cicero Or. 27, 92 zum Unterschied zwischen res consequens und similitudo, siehe auch Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1990 (3. Auf‌lage), S. 292ff. 153 Ebd. 154 Wansbrough, „Periphrastic Exegesis“, S. 251. 155 Maǧāz I, S. 15. 156 Vgl. auch Q 21:22 und 52:15.

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maǧāz auf, die eine ganz andere Übersetzung erfordern. Ein Beispiel ist Abū ʿUbaidas Beschreibung eines syntaktischen Phänomens, das Wansbrough als Ellipse erkennt: […] min maǧāzi mā ḫtuṣira wa-fīhi muḍmirun, 157 qāla: wa-nṭalaqa l-malaʾu minhum ani mšū wa-ṣbirū (38:6), fa-hāḏā muḫtaṣarun fīhi ḍamīrun maǧāzuhu: „wa-inṭalaqa l-malaʾu minhum“ ṯumma ḫtuṣira ilā fiʿlihim wa-uḍmira fīhi: „wa-tawāsau ani mšū“ au „tanādau ani mšū“ au naḥwa ḏālika. 158 Zum maǧāz gehört die Verkürzung [eines Ausdrucks] und das Verbergen eines Elements, es heißt (im Koran): Die Vornehmen unter ihnen entfernten sich, (mit den Worten): Geht und habt Geduld! 159 (38:6), [Der Satz] ist verkürzt und darin steckt ein verborgenes Element, dessen vollständige Form (maǧāz) ist: „Die Vornehmen unter ihnen gingen“, dann verkürzt Er (Gott) [die Aussage] auf ihr Handeln und verbirgt darin: „Sie riefen einander dazu auf: Geht!“ oder „Sie riefen einander zu: Geht!“ oder dergleichen.

Im zweiten Vorkommen des Begriffs maǧāz in dieser Passage bedeutet er die Form der im Koranvers ursprünglich „elliptischen“ Formulierung nach der Rekonstruktion des „fehlenden“ Satzelements. Abū ʿUbaidas Argument hat die Struktur: Die koranische Formulierung A ist elliptisch. Ihr maǧāz ist B. In diesem Fall erscheint der Begriff maǧāz weitestgehend synonym zu den Paraphrasepartikeln maʿnā oder yaʿnī, die auch im Kommentar selbst gebraucht werden. Heinrichs übersetzt den Begriff maǧāz in Abū ʿUbaidas Gebrauch daher mit „explanatory re-writing“. 160 Der Begriff ist nun nicht Klassifizierung einer prototypisch beschreibbaren Stilform oder Anomalie, sondern ein Begriff, der die „wiederhergestellte“ und damit gerade die „korrekte“ Form der Rede kenntlich macht. Dies ist der Grund für Wansbrough, von Maǧāz al-Qurʾān als „periphrastic exegesis“ zu sprechen. Den Begriff maǧāz identifiziert er mit der von späteren Sprachwissenschaftlern taqdīr genannten Operation der Rekonstruktion eines anomalisch konstruierten Satzes. 161 Bei der Klassifizierung von Maǧāz al-Qurʾān als „paraphras157 Der Begriff iḍmār gehört zu den Begriffen der arabischen Grammatik und wird im Kitāb Sībawaih (als Gegenbegriff zu taqdīr) sowie im Tafsīr Muqātil verwendet. Er bedeutet zum einen „the anaphorical pronouns (also called ḍamāʾir).“ Und er wird gebraucht für „des éléments sans valeur phonique identifiables en temes catégoriels et ayant un effet sur la séquence phonique, cet éffet etant un ʿamal’“. Siehe Versteegh, „Grammar and Exegesis — The Origin of Kufan Grammar and the Tafsīr Muqātil“, in: Der Islam LXVII Heft 2 (1993), S. 232. Im Maǧāz wird der Begriff muḍmir mit der Bedeutung von „verborgen“ meist im Sinne eines in einer Ellipse oder schlicht aufgrund eines Pronomens ausgesparten Satzelements verwendet. 158 Maǧāz I, S. 8. 159 Paret übersetzt: „Geht hin und haltet euren Göttern die Treue!“ 160 Heinrichs, „Contacts between scriptural hermeneutics“, S. 26. 161 Wansbrough leitet diese Behauptung von zwei Beobachtungen her. Zum einen dem Gebrauch des Begriffs taqdīr in den grammatischen Werken des 10. Jahrhunderts, aus dem er Ibn al-Anbārī anführt: „Within the framework of Ibn al-Anbārīs terminology taqdīr is contrasted with lafẓ and ẓāhir and, as an exegetical device, must be subordinated to the notion of textual integrity

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tischem Kommentar“ bleibt jedoch die andere, in der Einleitung vorherrschende Bedeutung des maǧāz-Begriffs, (charakterisiert durch die Formulierung „min maǧāz mā…“) ausgeklammert. Diese Doppeldeutigkeit des maǧāz-Begriffs ist wegweisend für die Arbeitsweise des philologischen Korankommentars, denn der Begriff maǧāz ist zum einen auf den auszulegenden Primärtext selbst, zum anderen auf die Angabe einer interpretativen („paraphrastischen“) Variante gerichtet. Ella Almagor hat diese „dual function“ des Begriffs maǧāz in Abū ʿUbaidas Gebrauch klar gesehen und wiederum in Beziehung zu dem im philologischen Kommentar zugrunde liegenden Verständnis von Sprache und Bedeutung gesetzt. Denn: Majāz in this early use seems to refer at one and the same time to the mode of expression (as in wa-min majāz mā… of the introduction) and to the designation or interpretation of the thing expressed (as in majāzuhu…) inasmuch as interpretation consists in substituting one expression for another. 162

Gerade diesen gegenseitigen Verweischarakter von Text und Kommentar durch die doppelte Beziehung des Begriffs maǧāz sowohl zum Primärtext als auch zu dessen Paraphrase wertet Almagor als ein Argument für die Einheit von Wort und Bedeutung im philologischen Korankommentar. Die präsumierte Bewertung einer Einheit zwischen Wort und Bedeutung aufgrund des terminologischen Gebrauchs und der innerlinguistischen Interpretationsmethode im philologischen Korankommentar soll hier neu kontextualisiert werden, nämlich gerade nicht in Abgrenzung von den Techniken und Konzepten der späteren arabischen Rhetorik, sondern mit den Sprach- und Textwissenschaften, die der philologischen Bemühung um den Koran vorausgingen, insbesondere Techniken allegorischer gegenüber bewusst literalen Interpretationsformen.

implicit in both. […].“ („Periphrastic Exegesis“, S. 257f.) Außerdem werde der Begriff taqdīr in der Literaturkritik gebraucht, um — ganz ähnlich wie Abū ʿUbaida in seiner Einleitung — Phänomene sprachlicher Mehrdeutigkeit zu bewältigen: „In profane literature taqdīr may be employed to eliminate ambiguities resulting from ḍarūrāt al-shiʿr, […]. But as taqdīr had by that time become the basis of grammatical analogy, its application was limited, by a kind of circular logic, to phenomena susceptible of analogical restoration.“ („Periphrastic Exegesis“, S. 256) 162 Almagor, „Early Meaning of Majāz“, S. 315.

2. Dialektik von Allegorese und literaler Interpretation Um diese Herangehensweise zu begründen müssen zwei Begriffe vorab erarbeitet werden, nämlich die von Allegorie und Literalsinn selbst. 1 Die Allegorie kann in einer schlichten Bestimmung als eine sprachliche Form aufgefasst werden, „die auf eine Mehrdeutigkeit abhebt“ 2 und sich in der Annahme multipler Bedeutungen eines Textes (mehrerer Schriftsinne) niederschlägt. So gesehen steht die Allegorie prinzipiell einem Literalsinn gegenüber. 3 Hier soll nicht die Figur der Allegorie selbst, 4 sondern die hermeneutische Technik der Allegorese als ein Konzept entwickelt werden, das insbesondere in ihrem Spannungsverhältnis zur literalen Interpretation konstitutiv für spätantike Deutungen heiliger Schriften ist. Die hohe Relevanz der Allegorie-Frage in der Spätantike mag eine Begleiterscheinung dessen sein, was der Religionsphilosoph Guy Stroumsa als „Aufschwung der Buchreligionen“ 5 beschrieben hat. Dem spätantiken Judentum, dem Christentum, dem Manichäismus und schließlich dem Islam ist der Glaube gemeinsam, dass Erkenntnis durch das Studium von Schriften zu gewinnen sei. 6 Jan Assmann erklärt die exklusive Rolle von Offenbarungsschriften für die religiöse Erkenntnistheorie mit der Transzendenz Gottes in den monotheistischen Glaubenssystemen: Der Schritt in die Transzendenz war ein Schritt aus der Welt — man möchte fast von einer Auswanderung, einem Exodus sprechen — in die Schrift. In letzter Konsequenz ersetzt die kanonisierte Schrift die Kunst, das öffentliche Leben, die Welt. Die Welt wird als solche zum Gegenstand der Idolatrie erklärt und diskreditiert. Die sich an den 1 Teile dieses Kapitels sind in meinen Aufsatz „Hermeneutiken des Literalsinns. Spätantike Debatten um Allegorie und Allegorese im frühislamischen Korankommentar“ aufgenommen. 2 Christoph Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, München 2006, S. 50. 3 Vgl. Ebd. 4 Ich verzichte darauf, den vermutlich hinlänglich diskutierten Allegorie-Begriff eigens zu thematisieren und beschränke mich auf den Hinweis, dass generell meist eine Unterscheidung von ‚rhetorischem‘ und ‚theologischem‘ Allegorie-Begriff getroffen wird, wobei ersterer den Tropus der Allegorie als Stilform mit spezifischen Funktionen behandelt und letzterer die Allegorie als eine besondere Wissensform auf‌fasst. Den hier besprochenen spätantiken Interpretationen der Bibel liegt ein solcher theologischer Allegorie-Begriff zugrunde. Siehe Jon Whitman, Allegory. The Dynamics of an Ancient and Medieval Technique, Oxford 1987, S. 3f. 5 Guy Stroumsa, Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike, Berlin 2011, S. 53f. 6 Andererseits waren neuplatonische Philosophen zu der Überzeugung gekommen, dass Weisheit sich den Prinzipien diskursiven Denkens und insbesondere der geschriebenen Sprache entziehe. Das Bild, etwa auch die Metapher oder die Allegorie, nimmt gegenüber dem begriff‌lichen sprachlichen Zeichen einen höheren Stellenwert ein. Die Allegorie soll nicht durch Auslegung überwunden werden, sondern sie besitzt einen eigenen Wahrheitsgehalt, der nicht in diskursive Sprache zu übersetzen ist. Siehe z. B. Sarah Rappe, Reading Neoplatonism. Non-discursive Thinking in the Texts of Plotinus, Proclus, and Damascius, Cambridge 2000.

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Dialektik von Allegorese und literaler Interpretation

Schöpfer wendende Anbetung darf sich nicht im Geschaffenen verfangen. Der radikalen Außerweltlichkeit Gottes entspricht die radikale Schriftlichkeit seiner Offenbarung. 7

Die Rezitation, Lektüre und Pflege von heiligen Schriften habe damit Praktiken der „rituellen Kohärenz“ 8 abgelöst, die zuvor die Interaktion mit dem Göttlichen und damit den Fortbestand der Welt gesichert hatten. Die Sorgfalt, zu welcher der Leser und vor allem der kommentierende Gelehrte von Offenbarungsschriften angehalten ist und die Rechenschaft, die er für die Wahl seiner Methoden ablegen muss, kann angesichts dessen kaum unterschätzt werden; ist er doch mit nicht weniger konfrontiert als der einzig zuverlässigen Quelle von Erkenntnis. 9 Es ist diese universale Dimension von Offenbarungswissen, die deutlich macht, dass die Haltung zu allegorischer Interpretation nicht nur eine Methodenwahl, sondern eine ganze Erkenntnisweise bestimmt. Die rhetorische Diskussion um den Wert der Allegorie als einem Element des „Redeschmucks“ mit besonderen Funktionen tritt dabei in den Hintergrund. Vor der nun historisch und systematisch zu entwickelnden Begriffsbestimmung möchte ich kurz eine Differenzierung festlegen, nämlich zwischen ‚allegorischer‘ Interpretation und ‚interpretativem Pluralismus‘. 10 Dieser besteht darin, dass ein Kommentar mehrere Bedeutungen einer Schriftstelle als gleichrangig erachtet und damit eine Vielzahl interpretativer Zugänge duldet oder sogar fordert. Interpretativer Pluralismus kann, wie zum Beispiel in sprachwissenschaftlichen Korankommentaren der iʿrāb-Gattung, 11 etwa durch die Angabe von Lesevarianten, grammatikalischen Fällen oder Vokalisierungszeichen veranschlagt werden. Trotz des geduldeten Deutungspluralismus in dieser Kommentarliteratur sind die einzelnen Kommentatoren nicht um die Auf‌findung eines Sinns über die Wortbedeutung hinaus bemüht. Der allegorische Sinn ist hingegen eine epistemische Kategorie, die den Verstehensakt selbst betrifft, insofern die durch Allegorese gewonnene Deutung eine andere als ‚tiefer‘ wahrgenommene, wenn auch der literalen Bedeutung des Textes nicht prinzipiell widersprechende Bedeutung zu Tage fördert.

 7 Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, S. 164.  8 Zu einer ausführlichen Gegenüberstellung von „ritueller“ und „textueller“ Kohärenz siehe Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 80ff.  9 Natürlich ist die Rolle heiliger Schriften nicht auf diesen Aspekt zu beschränken. Die Funktion und der Besonderheit sakraler Schriften liegt nicht primär in deren Erkenntnisgehalt, sondern ebenso in deren Wert für Gemeinschaftsrituale, Rezitationspraktiken u. a. 10 Siehe dazu Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 13ff. 11 Siehe Bauer, Ambiguität, S. 30f.

Historische Perspektive auf die Allegorese

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2.1 Historische Perspektive auf die Allegorese Historische Darstellungen der hermeneutischen Technik der Allegorese beginnen meist mit den entmythisierenden, „physikalischen“ und „ethischen“ Deutungen der Epen Homers durch Philosophen wie Anaxagoras und Theagenes von Rhegion. 12 Vor dem Hintergrund der Herausforderung der entstehenden diskursiven Philosophie in Griechenland wurden die Handlungen der Götter des Pantheons als Beispiele für kosmische Gesetze bzw. als „Vorbilder für Tugend und Gerechtigkeit“ 13 allegorisch gedeutet. Die Allegorese diente damit der ethischen Rechtfertigung der Texte der Mythologie, aber auch ihrer Unterordnung unter eine Verstandesprämisse. „Klassikerkanon“ und mythisches Denken — der Rückgriff auf Allegorese in Alexandria In Folge der griechischen Interpretation Homers wurde die Technik der Allegorese von den Juden der alexandrinischen Diaspora aus ganz ähnlichen Gründen bei ihrer Interpretation der Bibel zum Einsatz gebracht. Auch dort waren es ‚mythische‘ Züge des Gottes der Hebräischen Bibel, die einer ‚Korrektur‘ durch die Allegorese bedurften. Die Technik der Allegorese wird in der Regel mit der Notwendigkeit der neuen Sinngebung der religiösen Tradition in der sozial und politisch veränderten Wirklichkeit des modernen, d. h. hellenistischen Judentums und mit der wachsenden Bedeutung griechischer Bildungsinhalte erklärt: [S]oon, they [the Jews of Alexandria] were thoroughly Greek in their education and outlook. Thus, when they read the books of the Bible, it was in Greek translation; most likely, many of them knew not a word of Hebrew. In seeking to interpret the Bible, they also went about things in a thoroughly Greek way. They allegorized it. 14

Die Stadt Alexandria, die im letzten Jahrhundert vor Christus nicht nur zu einer der Hauptstätten hellenistischer Philosophie, sondern auch zu einer Metropole jüdischer Diaspora wurde, ist durch mehrere prominente Gelehrte für die Errungenschaft allegorischer Interpretationstechniken bekannt geworden. In Nachfolge des ersten „Meisters“ der biblischen Allegorese, Aristobul (gest. 160 v. Chr.), der vor allem um die Korrektur anthropomorpher Gottesvorstellungen in der Bibel besorgt war, 15 sprach sich Philo von Alexandrien (gest. 40 n. Chr.) für eine grundsätzliche Zweiteilung des biblischen Schriftsinns aus. Die Unterscheidung von Literalsinn und allegorischem Sinn hat für Philo zunächst eine didaktische Pointe. Während der buchstäbliche 12 Siehe z. B. Christoph Blönningen, Der griechische Ursprung der jüdisch-hellenistischen Allegorese und ihre Rezeption in der alexandrinischen Patristik, Frankfurt a. M. 1993, S. 191ff. 13 Ebd. 14 James Kugel, How to Read the Bible. A guide to Scripture, then and now, New York 2008, S. 17f. 15 Ebd.

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Dialektik von Allegorese und literaler Interpretation

Sinn der Bibel dem Erhalt der Gottesfurcht gewöhnlicher Gläubiger durch Ehrfurcht erweckende Darstellungen und Geschichten diene, erschließe sich der allegorische Sinn nur gebildeten Eingeweihten. 16 Weiterentwickelt wurde Philos Hermeneutik weniger durch rabbinische Bibelkommentatoren, die den alexandrinischen „Modernisten“ des Judentums oft skeptisch, wenn nicht gar feindselig gegenüber standen, 17 als vielmehr mit der ebenfalls in Alexandria beheimateten christlichen Patristik ab dem 3. Jahrhundert. Die hartnäckig erhaltene Assoziation der jüdischen Bibelhermeneutik mit rein literaler Interpretation lässt sich auf den polemischen Vorwurf Origenes’ (gest. 243) zurückführen, dem zufolge die Juden die Bibel auf den „fleischlichen, d. h. buchstäblichen Aspekt“ 18 reduzierten. Während auch im jüdischen Midrasch allegorische Interpretationen einzelner Texte der Hebräischen Bibel eine wichtige Rolle spielen, beruht diese Zuschreibung der rabbinischen Hermeneutik als literal — wie James Kugel vermutet — auf einem Missverständnis des Apostels Paulus. Dieser hatte in dem Brief an die Galater das Judentum und das Christentum als zwei unterschiedliche Beziehungen des Menschen zu Gott beschrieben, wobei er für das Judentum die Befolgung der Gesetze der Tora für ausschlaggebend erklärt, während der neue Bund des Christentums „nicht die Schrift (den Buchstaben), sondern den Geist“ 19 betreffe. Anders als die folgenschwere Rezeption dieser These etwa durch Origenes und Clemens von Alexandria (gest. 215) suggeriert, ist im rabbinischen Midrasch allegorische Interpretation der Tora vielfach gebräuchlich, allerdings oft auf bestimmte Texte beschränkt. 20 Allegorese im Religionsstreit — Monopolisierung des Deutungsanspruchs Das Verhältnis von jüdischer und christlicher Bibelhermeneutik offenbart in paradigmatischer Weise die latente Involviertheit der Haltung zur Allegorese in Fragen der Religionspolitik. So spielt die christliche Allegorese eine Hauptrolle bei der Begründung der exegetischen Stimmigkeit bzw. des Verweischarakters von Altem und Neuem Testament. Sie ist neben der Typologie die wichtigste Interpretationstechnik, welche den christlichen Deutungs- und in einzelnen Fällen geradezu den Besitzanspruch auf den jüdischen Kanon garantieren soll. Figuren und Ereignisse der Hebräischen Bibel werden als Präfigurationen der Evangeliengeschichten bzw. christlicher 16 Blönningen, Der griechische Ursprung, S. 201. 17 Vgl. Stemberger, Der Talmud, S. 30ff. 18 Siehe Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 53. 19 Vgl. Kugel, How to Read the Bible, S. 21f. Zu Paulus und dessen Bedeutung im islamischen Kontext siehe jetzt auch: Timo Güzelmansur und Tobias Specker SJ (Hgg.), Paulus von Tarsus, Architekt des Christentums?, Regensburg 2016. 20 Zum Beispiel wurde das Hohelied wegen seiner „profanen Erotik“ allegorisch als Darlegung der Beziehung Israels zu Gott, vor allem der Erlösung durch Gott, gelesen und bei der für Pesach bestimmten Schriftlesung in Verbindung mit der Exodus-Geschichte gebracht (Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, S. 50).

Historische Perspektive auf die Allegorese

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Wahrheit, so etwa das zentrale Ereignis des Hindurchschreitens des Volkes Israel durch das Rote Meer allegorisch als eine Präfiguration der Taufe, gedeutet. 21 Nicht alle christlichen Autoren artikulieren die in der Typologie und Allegorese enthaltene Abwertung der älteren Religion so unverhohlen wie der anonyme Autor des ebenfalls in Alexandria entstandenen Barnabas-Briefs. Dieser postulierte, die Juden hätten ihre Offenbarungsschrift durch ihre falsche, nämlich bloß gesetzmäßige, Deutung an die Christen verloren. 22 Auch die Allegoresen und Typologien von Clemens von Alexandria und Origenes implizieren oft eine Abwertung des Judentums als „Gesetzesreligion“, die von der Wahrheit Christi abgelöst worden sei. 23 Die vermittels des Verhältnisses von „Altem“ und „Neuem Testament“ bzw. von literaler und allegorisch/typologischer Interpretation ausgefochtene Dynamik der „Anziehung und Abstoßung“ 24 der spätantiken religiösen Gemeinschaften wird hier besonders augenfällig. Aber auch innerhalb religiöser Gruppen stellt die Haltung zu allegorischer Deutung oft ein Politikum dar. Die rabbinische Exegese differenzierte sich in der Spätantike dahingehend weiter aus, dass zwischen mehreren Bedeutungsebenen unterschieden wurde. 25 Interessanterweise nahmen im 9. Jahrhundert, also zeitgleich mit der Entstehung der arabischen Philologie und islamischen Exegese, wiederum jüdische Forderungen der Beschränkung der Bibelauslegung auf den Literalsinn zu. 26 Vor allem die Gruppe der Karäer, deren Kontakt mit islamischen Gelehrtenkreisen nachgewiesen ist, 27 insistierte auf eine rein literale Bibelauslegung und grenzte sich damit vom rabbinischen Gebrauch der Halacha ab. 28

21 Vgl. Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, S. 51. 22 Vgl. Blönningen, Der griechische Ursprung, S. 157. 23 Clemens geht — wie später al-Ǧāḥiẓ — davon aus, dass die verschiedenen Völker durch unterschiedliche Formen dieselbe Wahrheit erkennen würden. Die Griechen seien durch die Philosophie und die Juden durch das Gesetz zur Gerechtigkeit und damit letztlich „zu Christus“ erzogen worden. Allerdings sei die Philosophie angesichts der christlichen Lehre nur mehr ein „Docht, dessen Licht in der Nacht zwar nützlich“ ist, der aber „bei Tage vom Tageslicht überstrahlt wird“. (Blönningen, Der griechische Ursprung, S. 159). 24 So der Titel einer Studie von Peter Schäfer, die sich nicht mit allegorischer und literaler Bibelinterpretation beschäftigt, sondern Beispiele aus den kanonischen und nichtkanonischen Bibeltexten (Enoch) für die Reziprozität des Identitätstransfers zwischen „Juden“ und „Christen“ während der ersten Jahrhunderte vorführt. Siehe Peter Schäfer, Anziehung und Abstoßung (mit Übersetzungen von Paul Silas Peterson), Tübingen 2015. 25 Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, S. 53. 26 Siehe ebd. 27 Siehe Sabine Schmidtke, „The Karaites Encounter with the Thought of Abū l-Ḥusain al-Baṣri (d. 436/1044). A Survey on the Relevant Materials in the Firkovitch-Collection, St. Petersburg“, in: Arabica 53 (2006), S. 108–142. 28 Stemberger, Der Talmud, S. 287f.

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Lesen als innerer Prozess — Allegorese und Buchkodex Die christliche Befürwortung von Allegorese in den auf Origenes folgenden Jahrhunderten hängt auch mit einer in moderner Forschung als mediale Revolution 29 akzentuierten Ablösung der Pergamentrolle durch den Kodex zusammen. Die Tatsache, dass der Kodex das favorisierte Medium der christlichen Religiosität war, während im spätantiken Judentum die Bibel nach wie vor auf Rollen geschrieben und vor allem in den mündlichen Gemeinderitus eingebunden wurde, kann auch in den Kontext der religiösen Selbstbehauptung und -abgrenzung beider Religionsgemeinschaften gestellt werden. Die einfachere Handhabbarkeit, Transportierbarkeit und kostengünstigere Herstellung des Kodex korreliert mit einem neuen Textbegriff der Christen und neuen Kultformen, die sich durch „Privatheit und Innerlichkeit“, 30 andererseits aber auch durch das Verblassen der Annahme einer inhärenten Heiligkeit von Schrift auszeichnen. Die Idee des bis in seine Buchstaben hinein heiligen Textes verblaßte rasch bei den frühen Christen (ohne jedoch vollkommen zu verschwinden). Bis zu einem gewissen Grade wurde der biblische Text bei den Christen zum technisch-materiellen Träger des göttlichen Wortes, des Logos. 31

Guy Stroumsa hat mehrere Aspekte der Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Brüchen im Kontext der technischen Entwicklungen des Kodex und der christlichen Hermeneutik der Allegorese herausgearbeitet. Es sei nämlich in Folge der Kodexreform das leise und im monastischen Kontext vor allem das „meditative“ Lesen 32 üblich geworden. Das Lesen als „innerer Prozess“ habe sich in der christlichen Spätantike zu einer zentralen religiösen Tugend entwickelt, die vor allem die Festigung der Beziehung zwischen Lektüre und Selbstreflexion gefördert habe: „Die Christen lesen das Gesetz Gottes mit dem Ziel, sich selbst zu verstehen und sich selbst neu zu gestalten.“ 33 Dass die Schrift vor allem im monastischen Kontext aber doch auch einen höheren Stellenwert besaß als bloß Träger der Überlieferung zu sein, wird deutlich in der Identifizierung des Mythos vom Leben, der Hinrichtung und Auferstehung Jesu mit dem Text, der diese Geschichte enthält. 34 Diese Identifizierung 29 G. Cavallo, „Du volumen au codes: La tecture dans le monde romain“, in: Histoire de la lecture dans le monde occidentale, hg. von R. Chartier und G. Cavallo, Paris 1997, S. 85–114. Und: David Stern, „The first Jewish Books and the Early History of Jewish Reading“, in: The Jewish Quarterly Review 98/2 (2008), S. 163–202. 30 Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 83. 31 Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 69. 32 Guy Stroumsa, „Augustine and Books“, in: A Companion to Augustine, hg. von Mark Vessey, Oxford 2012, S. 155. 33 Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 54. 34 Stroumsa verweist auf einen anonymen Brief an Diognetus, in dem argumentiert wird, die Christen seien „ein Volk, das sich durch seinen Glauben an einen einzigen, in einer Heiligen Schrift festgehaltenen Mythos definiert“, das heißt: nicht durch „Land, Sprache, Kleidung“ oder andere äußere Identitätsmerkmale. Siehe Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 55.

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habe so weit geführt, dass Heilige, die sich der Imitatio Christi verschrieben hatten, wie ein Text dargestellt und verehrt wurden, der gelesen und kommentiert werden könne. 35 Eine Person, mit der sowohl die Kodexreform als auch die hermeneutische Technik der Allegorese in Verbindung gebracht wird, ist der nordafrikanische Kirchenvater Augustinus. 36 Anders als Origenes legte der in der klassischen römischen Rhetorik ausgebildete Augustinus seiner Lesung der heiligen Schrift keinen kontextunabhängigen, philosophisch begründeten Wahrheits- und Textbegriff zugrunde, sondern Augustinus begriff Sprache gerade als eine Übereinkunft zwischen Sprecher und Hörer, wodurch sich auch die Begründung für das Vorhandensein von Mehrdeutigkeit und die Legitimität von Allegorese veränderte. In seinem System von den res et signa gehören die Wörter in die Kategorie der Zeichen, das heißt sie haben lediglich eine auf die Sachen und letztlich auf die einzig wahrhafte res, auf Gott, verweisende Funktion. Dabei ist die Schrift ein Mittel, dem gesprochenen Wort Dauer zu verleihen und damit wiederum nur Zeichen für Zeichen. 37

Die Auf‌fassung von dem Zeichencharakter der Schrift 38 ist ein Grund dafür, dass Augustinus keine Schwierigkeiten darin sieht, die Bibel zu übersetzen. 39 Die Mehrdeutigkeit der Worte der heiligen Schrift sei nicht nur unvermeidlich, sondern die Pluralität der Interpretationen sogar vom heiligen Geist vorhergesehen. Jan Ziolkowski nennt Augustinus aus diesem Grund eine „Schlüsselfigur“ für die Annahme einer Sinnvielfalt im geschriebenen Text. 40 Augustinus’ Theorie der Mehrdeutigkeit von Schrift als einem Medium des im gesamten Kosmos auf‌findbaren Verweischarakters auf ihren göttlichen Urheber/Schöpfer geht mit dem Plädoyer für allegorische Interpretation einher. 41 Etwa zur selben Zeit wurde die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, zu der auch Augustinus beitrug, profiliert: Ihr gemäß konnten alle Schriftstellen der Bibel unter unterschiedlichen Fragestellungen interpretiert werden. Der buchstäbliche (oder historische) Sinn diente der Klärung des sachlichen Inhalts 35 Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 57. 36 In den Confessiones selbst beschreibt Augustinus die Ehrfurcht vor seinem in meditatives, leises Lesen versunkenen Lehrer Ambrosius, Siehe Augustinus, Bekenntnisse, (zweisprachige Ausgabe) hg. von Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987, S. 249. 37 Eva Schulz-Flügel, „Augustinus’ textkritische Beschäftigung mit dem Bibeltext“, in: Handbuch Augustinus, hg. von Volker Henning Decroll, Tübingen 2007, S. 240. 38 Im Gegenzug fasst Augustinus auch die physische Welt als eine zu entziffernde Schrift, ein „book of nature“, auf. Siehe Ziolkowski, „Text and Textuality, Medieval and Modern“, in: Der unfeste Text, hg. von Barbara Sabel und André Bucher, Würzburg 2001, S. 130. 39 In einem Brief an Hieronymus äußerte Augustinus seine Skepsis gegenüber den Bemühungen einiger Christen, Hebräisch zu lernen, um die Bibel im Original lesen zu können mit der Begründung, dass der heilige Geist die Übersetzung der Septuaginta ohnehin überwacht habe. (Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 65.) 40 Ziolkowski, „Text and Textuality“, S. 130. 41 In Augustinus’ Sprachtheorie wird dieser Aspekt ethisch mit der menschlichen Selbstüberschätzung begründet, die mythisch im Turmbau zu Babel greif‌bar werde. Vgl. Schulz-Flügel, „Augustinus’ textkritische Beschäftigung“, S. 240.

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einer Bibelstelle, insbesondere der Bezüge zu konkreten historischen Ereignissen. Der moralische Sinn betraf die Gründe für Geschehnisse, Taten oder Worte, die in der Bibel genannt werden und soll die ethischen Entscheidungen des Lesers lenken. Der anagogische Sinn zielte auf die Hoffnung auf seelisches Heil bzw. das „Emporkommen“ der Seele ins Jenseits. Der allegorische Sinn erlaubt die Übertragung der Bedeutung (etwa im Hinblick auf den Glauben). 42 Alle diese Interpretationstechniken sind — nach Augustinus — dadurch legitimiert, dass Jesus Christus und die Apostel sie selbst angewandt hätten. Im Hinblick auf die christliche „Kodexobszession“ 43 ist wichtig zu betonen, dass gewöhnliche Christen mit der Bibel selten als vollständigem Schriftstück in Berührung kamen. [T]he Bible […] was read aloud in public, preached about at church or in open markets; its stories were illustrated on stained glass windows and mosaic floors and the carved capitals of columns; it was recounted in poems, sung in hymns, and retold in passion plays — in these ways the Bible was everywhere, and no one escaped its influence. But its interpretation was not up for discussion; that had been decided a long time ago. 44

Wenn Stroumsa davon spricht, dass sich die Lektüre von der Schriftrolle zum Kodex „intensiv“, nicht „extensiv“ entwickelte, deutet er an, dass mit der stillen, tiefen, meditativen selbstreflektiven Lektüre der Bibel durch einzelne Eliten eine Reduktion der tatsächlichen Bibelexemplare in der Gesellschaft einherging. Der Transfer der Bibel in ein Buch „between two covers“ 45 hat die Bedeutung der klerikalen Autorität ebenso gefestigt wie die Durchsetzung des Vierfachen Schriftsinns als „interpretativer Schlüssel“ des spätantiken Christentums. 46

42 Siehe Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, S. 49ff. 43 Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 67 mit dem Hinweis auf Robin Lane Fox, „Literacy and Power in Early Christianity“, in: Literacy and Power in the Ancient World, hg. von Alan K. Bowman und Greg Woolf, Cambridge 1994, S. 126–147. 44 Kugel, How to Read the Bible, S. 24. 45 Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 81. 46 Stroumsa selbst bemerkt, dass „die große Verwandlung, die das Lesen im Römischen Reich durchmachte — Konsequenz der Ersetzung der Schriftrolle durch den Kodex, dann das Innerlichwerden der Lektüre durch den Übergang vom lauten zum stillen Lesen —, keine genaue Parallele im frühen Islam hat.“ (Ende des Opferkults, S. 80) Da während der Verkündigungszeit und dem unmittelbaren Nachleben des Propheten der Koran ein Text sei, der vorrangig im mündlichen, öffentlich praktizierten Gemeinderitual seinen Platz hat, werde erst mit der Urbanisierung die islamische Kultur zu einer vergleichbaren Textkultur.

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Sprachphilosophische Aspekte von Allegorese — Nichtdiskursives Denken und die Allegorie als Wissensform Über konkrete hermeneutische Bekenntnisse und polemische Zuschreibungen hinaus hat die Figur der Allegorie und die hermeneutische Technik der Allegorese eine sprachphilosophische Komponente, die sich in unterschiedlichen Beurteilungen des menschlichen Erkenntnisvermögens kosmischer Wirklichkeit und transzendentaler Wahrheit niederschlägt. Hier soll uns insbesondere ein in allegorischer Interpretation zu Bewusstsein gebrachtes Modell von Sprachsemantik und dessen Rückbindung an weltanschauliche/soziale/politische Wirklichkeiten ineressieren. Ein Streitpunkt in den hellenistischen Sprachwissenschaften betraf die Frage, ob die menschliche Sprache thesei oder physei sei, das heißt, ob sie auf Übereinkunft und Konvention beruhe, oder auf einem natürlich gegebenen Zusammenhang zu den Dingen. 47 Dabei traten vor allem der Stoa zugehörige Grammatiker mit der Meinung hervor, es bestünde ein innerer Zusammenhang zwischen dem Namen einer Sache und der Sache selbst. 48 Diese sprachtheoretische Annahme schlug sich philologisch in einem besonderen Interesse an Etymologien, oder aber linguistischen Sonderformen wie Homonymen und Synonymen nieder. Chrysippos aus Soloi etwa forschte nach Anomalien, das heißt, „Unstimmigkeiten zwischen der sprachlichen Form und dem Wortinhalt, die nach stoischer Auf‌fassung im Laufe der Zeit durch den Sprachgebrauch entstanden sind, der die ursprüngliche Übereinstimmung zwischen Wort und Sache verwischt habe.“ 49 Krates von Mallos wandte das Konzept der sprachlichen Anomalien insbesondere auf die Flexionslehre an. 50 Auch im „innerlinguistischen“ Semantikkonzept der Stoa spielt die Allegorie eine besondere Rolle. 51 Die allegorische Interpretation — etwa der Epen Homers — soll nicht eine übertragene, sondern die eigentliche, das heißt ursprüngliche Bedeutung von Sprache zutage fördern. Die Spekulation über einen inneren Zusammenhang zwischen den Namen der Dinge und den Dingen selbst war in der Stoa nicht neu. Ernst Cassirer hält die Diskussion sogar für das „Lieblingsthema“ unter den Sophisten im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, die ausgiebig nach der Beziehung zwischen der Sprachform und der Seinsform, zwischen dem Wesen der Worte und dem der Dinge forschten. Den Bruch

47 Zum Beispiel Krates von Mallos (gest. 145 v. Chr.) und Chrysippos aus Soloi (gest. 208 v. Chr.). Siehe Eintr. „Philologie“, in: Hatto Schmitt und Ernst Vogt (Hgg.), Lexikon des Hellenismus, Wiesbaden 2005, S. 795. 48 Da in der Stoa die Sprachlehre innerhalb der Logik, die sich in Dialektik und Rhetorik gliederte, eine wichtige Rolle spielte, haben sich die Stoiker intensiv mit sprachlichen Problemen beschäftigt. (Vgl. ebd.) 49 Schmitt und Vogt, Lexikon des Hellenismus, S. 796. 50 Ebd. Dem Konzept der „Anomalie“ steht das z. B. von Aristarch vertretene Prinzip der „Analogie“ gegenüber. 51 Siehe auch die Unterscheidung von dihairetischer und substitutiver Allegorese bei Proklos, Herakleitos und Plutarch in Wolfgang Bernard, Spätantike Dichtungstheorie, Berlin 1990.

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mit der sophistischen Sprachtheorie stellt für Ernst Cassirer die Platonische Philosophie dar, die ein dialektisches Verhältnis von Erkenntnis und Sprache vorschlage: Die These, dass es für jegliches Sein eine „natürliche“ Richtigkeit der Bezeichnung gebe, wird jetzt in der überlegenen Ironie [des Phaidrosdialogs] in sich selbst zerstört und in dieser naiven Form für immer beseitigt. Aber mit dieser Einsicht ist für Platon nicht jegliche Beziehung zwischen Wort und Erkenntnis abgebrochen, sondern es ist an Stelle des unmittelbaren und unhaltbaren Ähnlichkeitsverhältnisses zwischen beiden vielmehr ein tieferes mittelbares Verhältnis getreten. 52

Ausgerechnet die Spätantike spart Cassirer bei seiner Geschichte der Bezeichnungstheorie jedoch vollständig aus und setzt sie erst mit der frühneuzeitlichen Erkenntnistheorie René Descartes fort. Dabei bringen die christliche Theologie und insbesondere die neuplatonische Philosophie für die Allegorese relevante sprachphilosophische Argumente bei. Adam Becker zufolge stellte die Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit den Ausgangspunkt für die neuplatonische Erkenntnistheorie dar: „Investigation into something begins with how we speak about it, […] Semantics is the first step towards epistemology and ontology.” 53 Insbesondere im dritten Jahrhundert sprachen sich unter dem Begriff der „Gnosis“ bzw. des „Gnostizismus“ 54 zusammengefasste religiöse Autoritäten für den Vorrang der Metapher bzw. der Allegorie aus, der sich nicht nur in der Schriftinterpretation manifestiere, sondern die menschliche Erkenntnis und Orientierung im Kosmos überhaupt bestimme. Hans Jonas fand für die „gnostische“ Theorie einer Metaphorizität aller irdisch vorhandenen Dinge den treffenden Begriff eines „Logos der Gnosis“. Die gnostische Allegorese dient, Jonas zufolge, der „Rettung des Mythos vor dem Forum der Vernunft und umgekehrt einer Sanktionierung der rationalen Erkenntnisse durch die uralte Weisheit bildlicher Erkenntnis“. 55 Sie ist damit den gegenteiligen Zielen der „klassischen“ Allegorese in Griechenland und Alexandria verpflichtet, welche mittels allegorischer Deutung die Einschränkung mythischer Elemente in den Epen Homers bzw. der Bibel verfolgten. Es ist in den gnostischen Systemen gerade die bildhafte Sprache, die ein Korrektiv zur Vernunfterkenntnis darstellt bzw. den Menschen mit der Inkommensurabilität seiner diskursiven Erkenntnisfähigkeit konfrontiert und ihn zurück in die „Bildersprache des Mythos“ 56 führt. Ähnlich argumentierte auch die Gräzistin Sara Rappe über die von ihr als „nicht-diskursiv“ eingestufte Philosophie des Neuplatonismus: „Beyond any formal criterion shaping the tradition, Neoplatonists shared the belief that wisdom could 52 Cassirer, Symbolische Formen, Bd. 1, S. 58f. 53 Adam Becker, The Fear of God and the Beginning of Wisdom. The School of Nisibis and Christian Scholastic Culture in Late Antique Mesopotamia, Philadelphia 2006, S. 134. 54 Zu einer Differenzierung der Begriffe Gnosis und Gnostizismus siehe Christoph Markschies, Die Gnosis, München 2001, S. 21ff. 55 Hans Jonas, Gnosis und Spätantiker Geist, Göttingen 1930, Bd. 1, S. 219. 56 Ebd.

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not be expressed or transmitted by rational thought or language.“ 57 Plotin etwa gehe davon aus, dass Sprache ein dem eigentlichen Erkenntnisprozess nachgeordneter und daher verkomplizierender Schritt der Medialisierung und Übersetzung der Wahrheit sei, deren „essence is to break free of discursive structures.“ 58 Dem Plädoyer für die „nichtdiskursive“, intuitive oder illuminierte 59 Erkenntnis transzendentaler Wahrheit liegen Debatten zugrunde, die Adam Becker mit Blick auf das Fortleben neuplatonischer Semantik- und Erkenntnislehre im syrischen Gelehrtenzentrum in Nisibis zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert beschrieben hat. 60 Uns soll hier zunächst genügen, das Verhältnis von Sprache, Denken und Begriff bzw. Wirklichkeit als eines der zentralen Probleme spätantiken Nachdenkens über das menschliche Erkenntnisvermögen (Gottes) festzuhalten. Die Allegorie wird über ihre textspezifische Funktion hinaus als Erkenntnisfigur entwickelt, welche den Kosmos als kryptisch oder chaotisch, die göttliche Wahrheit als fern oder unbegreif‌bar und die menschliche Sprache als problematisches Medium der Vermittlung beschreibt. Die Ambiguität der Allegorie wird als angemessene Darstellungsform gegenüber begriff‌licher Erkenntnis aufgewertet.

2.2 Systematische Perspektive auf die Allegorese Der Altphilologe David Dawson skizzierte drei Perspektiven auf die exegetische Technik der allegorischen Auslegung: eine „traditionelle“, eine „moderne“ und eine „postmoderne“. Der traditionelle, oft theologisch motivierte Leser discover[s] the deeper or more spiritual meaning beneath the letter of scripture, expressing their hermeneutical insights in the form of allegorical compositions such as Dante’s Devine Comedy or allegorical commentaries, such as those on the Song of Songs. 61

Hingegen sei der „(spät)moderne“ Zugang zu Allegorie von einer generellen Selbst-Skepsis durchdrungen, da der allegorische Sinn sich trotz der Unbestreitbarkeit seiner Existenz als zunehmend unerreichbar erweise. Der „postmoderne“ Leser habe schließlich nicht nur die Möglichkeit des Erkennens, sondern die Prämisse allegorischer Tiefe „hinter“ literaler Materialität in Zweifel gezogen. „[T]he complete

57 Rappe, Reading Neoplatonism, xiii. Siehe auch Margalit Finkelberg, „Greek Distrust in Language“, in: The Poetics of Grammar and the Metaphysics of Sound and Sign, hg. von S. La Porta, Leiden 2007, S. 80ff. 58 Rappe, Reading Neoplatonism, S. xiii. 59 Vgl. Beckers Ausführungen zu Porphyrius und Proklos in Fear of God, S. 140ff. 60 Ebd. 61 David Dawson, Allegorical Readers and Cultural Revision in Early Alexandria, Berkeley 1992, S. 2.

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hermeneutical initiation consists of the knowledge that everyone is an outsider to textual meaning and truth.“ 62 Techniken der allegorischen und literalen Interpretation werden hier, in Anlehnung an dekonstruktivistische Bedeutungstheorien, nicht als singuläre Phänomene, sondern in ihrer dialektischen Beziehung zueinander aufgefasst. Dawson geht davon aus, dass jede Form der allegorischen Interpretation zwangsläufig ein Verhältnis zu ‚literaler Interpretation‘ offenlegt und auch ein ‚Literalsinn‘ stets in Abgrenzung zu übertragener Interpretation existiert. Das dialektische Verhältnis von ‚Literalsinn‘ und ‚allegorischem Sinn‘ trete vor allem dann zutage, wenn die beiden Interpretationsmodi extrem weit auseinanderfallen: If allegory loses tension with the literal sense altogether it simply becomes a literal sense itself — either the old literal sense it once challenged or the new literal sense readers now take it to be. 63

Als Beispiel nennt Dawson das Übereinkommen der christlichen Gemeinde mit Paulus, dass der von Moses Stab aufgebrochene Fels in der Wildnis wahrhaftig Jesus Christus, nicht Symbol für Christus sei. 64 Die ehemals allegorische Bedeutung wurde in den Rang eines Literalsinns aufgenommen. Ein weiteres, vielleicht signifikanteres Beispiel wäre sicher die Interpretation des Hohenlieds als Allegorie für die Beziehung des Volkes Israel zu seinem Gott. Nach einer Phase der allegorischen Deutung des erotischen Liebesliedes als universale Metapher, verlor die „ursprüngliche“ Sinnebene des Hohenlieds ihre Signifikanz: „The religious [d. h. the allegorical] meaning became the only [the literal] meaning.“ 65 Aus Dawsons Beobachtung gehen zwei mir wichtig erscheinende Aspekte von allegorischer und literaler Interpretation hervor: 1. Literalsinn und allegorischer Sinn werden nicht als textintrinsische Größen, sondern als Ergebnis von kommunikativen, kulturell oder religionspolitisch meist konstitutiven Übereinkünften verhandelt. Allegorische Deutung steht oft nur einem spezialisierten Experten zu und erfordert das Beherrschen einer spezifischen Technik oder aber eine besondere Lebensweise. Wie dies bei dem Beispiel von Philo, Clemens von Alexandria, Origenes und Augustinus, aber auch einzelner arabischer

62 Dawson, Allegorical Readers, S. 2. 63 Ebd., S. 15. 64 Siehe den Brief des Paulus an die Korinther 10 (Das warnende Beispiel Israels): „Sie tranken nämlich von dem geistlichen Felsen, der ihnen folgte; der Fels aber war Christus. […].“ (Luther-Übersetzung). 65 Kugel, How to Read the Bible, S. 517. Die Interdependenz von Allegorie und Literalsinn ist in dieser Hinsicht analog zu dem Verhältnis von Metapher und Begriff, wie sie Jaques Derrida beschreibt. Vgl. Alexander Friedrich, „Meta-Metaphorologische Reflexionen. Zur technotropischen Geschichte des Metaphernbegriffs“, in: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte I (2012), S. 3: „Gerade Abstrakta seien oft nur tote Metaphern, die sich infolge ihres wiederholten Gebrauchs abgenutzt haben, wie eine Münze, deren Prägung längst abgegriffen ist.“

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Gelehrter wie Ibn Qutaiba 66 greif‌bar wird, stellt die mit allegorischer Interpretation verbundene Trennung der Menschen in ‚verständige‘ und ‚gewöhnliche‘ eine Strategie der Autoritätsbekundung dar. Im christlichen Umfeld entschieden beispielsweise Mönche mit asketischer Lebensführung 67 aufgrund eines esoterischen Wissens über ‚richtiges‘ und ‚falsches‘ Verstehen des Textes. Literale Interpretation identifiziert das ‚richtige Verstehen‘ dahingegen oft in einer klassischen Autorität, wie zum Beispiel dem als ursprünglich erachteten Hörerverständnis oder der ‚ursprünglichen‘ Absicht des Urhebers des auszulegenden Textes. 68 Das Festhalten am Wortsinn rührt dann von der Überzeugung her, dass kein außertextuelles Wissen in den Text hineingetragen werden dürfe. Gerade die rabbinische Literatur, welche oft als oppositionär zur christlichen Allegorese oder aber zur alexandrinischen ‚philosophischen‘ Hermeneutik beschrieben wird, enthält vielfach Äußerungen darüber, dass alles Wissen in der Tora enthalten sei und der Text nicht den sich ständig wandelnden Erkenntnissen, die auf rationalem, empirischem, philosophischem Wege erlangt wurden, angepasst werden darf. Wenn der rabbinische Philologe Ben Bag Bag fordert: „Wende sie und wende sie [die Tora], denn alles ist in ihr.“ 69 insistiert er darauf, dass kein außertextuelles Wissen nötig sei, um die Gesamtheit der Bibel zu verstehen, denn anders als die einander potenziell widersprechenden menschlichen Erkenntniswege sei das Gesetz Gottes unfehlbar. Die Befürwortung von Allegorese steht aber nicht zwangsläufig in einer Verbindung mit ‚rationalistischem‘, ‚philosophischem‘ oder ‚außertextuell gewonnenem‘ Erfahrungswissen. Allegorese kann auch aus dem Gegenteil erwachsen, nämlich aus einer Abgrenzung gegenüber diskursiver Wahrheitsfindung, wie die gnostische und neuplatonische Aufwertung der Allegorie als Erkenntnisfigur gezeigt haben. Allegorie und Literalsinn sind demnach nicht in ein statisches Verhältnis von Logos zu Mythos, von Philosophie zu Offenbarung oder von diskursiver Erkenntnis zu Traditionsbewusstsein zu übersetzen, sondern die Dialektik von Allegorese und Literalsinn entfaltet sich vor dem Hintergrund der Bedürfnisse der jeweiligen historischen Fürsprecher und Kontrahenten. 2. Die Kategorien von Literalsinn und allegorischem Sinn sind weder auf das Inventar aristotelischer Tropenlehre noch christlicher Bibelhermeneutik beschränkt, 66 In seinem koranhermeneutischen Werk Taʾwīl Muškil al-Qurʾān definiert Ibn Qutaiba (ca. 70 Jahre nach Abū ʿUbaidas Maǧāz al-Qurʾān) den Begriff maǧāz als eine Form der Rede, die eine bildliche und eine begriff‌liche Sinnebene enthält. Der Koran enthalte solche maǧāzāt, damit der Wissende vom Unwissenden (für Gott?) unterscheidbar sei. (Abū Muḥammad ʿAbd Allāh Ibn Qutaiba, Taʾwīl muškil al-Qurʾān, hg. von Aḥmad Ṣaqr, Kairo 1973, S. 142ff.) 67 Origenes und später Evagrios artikulierten die Idee, dass sich die Bücher der Bibel auf Stufen des asketischen Lebens beziehen: Mit der „ethischen Stufe“ korrespondieren die Sprüche Salomos; Die erste Stufe der „Theoria“ sei durch das Buch Ecclesiastes gekennzeichnet. Die „Schau Gottes“ ergebe das Hohelied. (Mit Dank an Adrian Pirtea). 68 Siehe dazu auch Günter Stemberger, Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel. Ein­füh­ rung — Texte — Erläuterungen, München 1989, S. 40ff. 69 Zitiert in Stemberger, Midrasch, S. 25.

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sondern sie sind in die Interpretation von Texten involviert, auch wenn diese Interpretation sich nicht explizit als der einen oder der anderen Zielsetzung verpflichtet begreift. Unsere Unterscheidung zwischen Literalsinn und allegorischem Sinn versteht sich als ein heuristisches Hilfsmittel, um das Erkenntnismodell einer Hermeneutik ermitteln zu können. Gerade für die Beschäftigung mit einem Text aus der „formativen“ Phase arabischer Textkritik wie Abū ʿUbaidas Maǧāz ist eine solche weitmaschige kategorielle Begriff‌lichkeit nützlich, weil sie den frühislamischen Korankommentar vom Stigma der Vorwissenschaftlichkeit zunächst befreit. Ohne die Vertrautheit Abū ʿUbaidas mit den Methoden und Fragestellungen antiker und/oder hellenistischer Sprachphilosophie pauschal zu präjudizieren, wollen wir — mithilfe der hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmung — die ‚Literalität‘ des Korankommentars als eine Haltung innerhalb eines bereits bestehenden Diskurses erkenntlich machen.

2.3 Allegorie und Literalsinn als heuristische Begriffe  zur Untersuchung frühislamischer Korankommentare Gewiss soll hier nicht einer unkritischen Übertragung antiker und spätantiker Begriffe und Konzepte von Sprache und Bedeutung auf den philologischen Korankommentar das Wort geredet werden. Und natürlich können die komplexen und vielschichtigen Voraussetzungen antiker Sprachphilosophie und Hermeneutiktheorie hier nur angedeutet werden. Diese Skizzen sollen nicht den Nachweis eines Einflusses antiker/hellenistischer auf frühislamische Geistesgeschichte erbringen. Vielmehr dienen die obigen Beispiele der Klärung der Begriffe der Allegorie und des Literalsinns wie sie hier verstanden werden sollen. Die Beispiele sollen zeigen, dass die Entscheidung für oder gegen die Suche einer allegorischen Bedeutung immer vor dem Hintergrund weltanschaulicher und oft religionspolitischer Entwicklungen zu begreifen und in hermeneutische Debatten involviert ist, die den spätantiken Denkraum maßgeblich prägen. Wir wollen den philologischen Korankommentar mit Blick auf dieses hermeneutische Erbe und Umfeld lesen. Ella Almagors genereller Hinweis, die Repräsentanten der arabischen Sprachwissenschaft des 8. und 9. Jahrhunderts hätten nicht wie die später philosophisch geschulten Rhetoriker zwischen der inhaltlichen Bedeutung eines Wortes und dessen sprachlicher Form unterschieden, 70 darf mit Hilfe dieser Begriffsbestimmung nicht als Merkmal der „Vorwissenschaftlichkeit“, sondern als ein — mehr oder weniger bewusst geführtes — Argument in dem spätantiken Diskurs um das Verhältnis von allegorischer und literaler Bedeutung heiliger Schriften aufgefasst werden. In der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān finden wir zudem einen Hinweis darauf, dass diese „innerlinguistische“ Kommentartechnik des Philologen nicht seiner ge70 Almagor, „Early Meaning of Majāz“, S. 314f.

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ringen technischen oder rhetorischen Versiertheit geschuldet ist, sondern dass sie einem eigenen sprachtheoretischen Konzept folgt. Die Übereinstimmung zwischen dem Namen einer Sache (ism aš-šaiʾ) und der Sache selbst (aš-šaiʾ bi-ʿainihi) wird hier explizit angesprochen. 71 bi-smi llāhi, innamā huwa bi-llāhi li-anna sma š-šaiʾi huwa š-šaiʾu bi-ʿaīnihi, qāla Labīd: ilā l-ḥauli ṯumma smu s-salāmi ʿalaikumā // wa-man yabkī ḥaulan kāmilan fa-qadi ʿtaḏarā. Im Namen Gottes, das heißt „mit Gott“, weil der Name einer Sache die Sache selbst meint, Labīd sagt: Bis in einem Jahr, dann gelte der Name (das Wort): Frieden über Euch beide! // Denn wer ein ganzes Jahr lang weint, hat sich entschuldigt.

Der Kontext, in dem die Aussage einer Identität zwischen Name und Ding in der Einleitung des Maǧāz gemacht wird, ist argumentativ zunächst schmal. Trotzdem scheint gerade dieses Argument eine semantiktheoretische Debatte in den arabischen Sprachwissenschaften angestoßen zu haben. Abū ʿUbaida wird in mehreren Berichten der folgenden Philologengenerationen mit diesem Argument in Verbindung gebracht und die Annahme einer Identität zwischen Name und Ding wird als Methode Abū ʿUbaidas (maḏhab Abī ʿUbaida) 72 bezeichnet. Dabei wird immer auch der Vers von Labīd diskutiert. Abū ʿUbaid al-Qāsim ibn Sallām argumentiert, die Konstruktion ismu s-salām (der Name „Frieden“) bedeute as-salām (der Frieden) genauso wie die Konstruktion waǧhu llāh (Gottes Angesicht) Gott selbst meine. 73 Hier ist die Einbettung der philologischen Diskussion in theologische Debatten, etwa die Zurückweisung anthropomorphistischer Gottesbegriffe, offensichtlich. Der Philologe al-Wāṣiṭī hingegen soll eine Kontraposition eingenommen haben. Sowohl Abū ʿUbaid als auch Abū ʿUbaida hätten den Vers Labīds falsch gedeutet. Der „Friede“ sei hier ein Wort, das kein Signifikat (musammā) besitze, wie auch der Begriff (ism) „Gott“ kein Signifikat besitze. 74 Aus der Textstelle im Maǧāz selbst wird nicht einwandfrei deutlich, in welchem Zusammenhang das Argument mit dem angeführten Belegvers von Labīd steht. Am ehesten ist eine argumentative Verbindung in der Ansprache eines pragmatischen Moments von Sprache zu suchen. Es folgt im Vers auf den Wiedersehensgruß (ṯumma ismu s-salāmi ʿalaikumā) ein Trost und damit das Ende der Trauer während des Jahres der Trennung. Das Aussprechen des Grußes bewirkt die Tröstung über die Trauer des Verlustes, weshalb der Name der Sache — der Gruß — gleichbedeutend ist 71 Maǧāz I, S. 17. 72 Maǧāz I, S. 17 (Fußnote 8). 73 Ebd. 74 Ebd.

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mit der Sache selbst, nämlich dem durch den Gruß bewirkten Trost. Insofern wäre auch der Kontext der basmala (der Formel bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm) erklärt als die Evokation Gottes durch die Aussprache seines Namens. Nehmen wir die sprachtheoretische Reichweite der Aussage ismu š-šaiʾi huwa š-šaiʾu bi-ʿainihi („Der Name einer Sache ist die Sache selbst.“) ernst, wird die Operation des Tropus im Sinne einer Variation im Verhältnis zwischen Wortkörper und Wortinhalt obsolet. Mit dem Postulat einer Identität zwischen Name und Ding ist dem aristotelischen Begriff des Tropus regelrecht die Voraussetzung genommen. Hatte Almagor sich für eine undifferenzierte Beziehung zwischen „abstract idea“ und „verbal expression“ in der frühislamischen Philologie ausgesprochen, 75 können wir ebenso die intendierte Annahme einer Einheit von Bezeichnetem und Bezeichnendem in Abū ʿUbaidas Denken in Erwägung ziehen. Zweifellos steht eine solche Behauptung auf einem schmalen Textfundament. Eine Generation nach Abū ʿUbaida legte allerdings sein vielleicht berühmtester Schüler, al-Ǧāḥiẓ, seine Meinung zum Verhältnis zwischen Wortinhalt (maʿnā) und Wortkörper (lafẓ) bereits systematischer dar. 76 Es entspann sich im neunten Jahrhundert eine Kontroverse um das Verhältnis dieser Begriffe, die stark auch Fragen der Theologie und des Rechts betraf und vor allem hinsichtlich der philosophischen Lehre von den Attributen Gottes dogmatischen Charakter annahm. 77 Abū ʿUbaidas Werk lässt eine Positionierung zur Funktion und semantischen Reichweite von Sprache zwar noch vermissen, wir können aber vermutlich davon ausgehen, dass eine sprachlich und religiös hochgebildete Persönlichkeit wie Abū ʿUbaida nicht unempfänglich oder indifferent gegenüber diesen, kurze Zeit später auch ausdrücklich geführten Diskussionen gewesen ist.

2.4 Koranphilologie im spätantiken Denkraum? Im Hinblick auf die apriorische Dialektik der Kategorien Allegorie und Literalsinn möchte auch diese Arbeit keinen Beitrag zu der Diskussion um Zweck und Wert von allegorischer Interpretation leisten. Der „literale“ Umgang Abū ʿUbaidas mit dem Korantext soll vielmehr als Argument in einer Diskussion gelesen werden, die im geistesgeschichtlichen Kontext der Spätantike in vorausgegangenen und benachbarten Philologien und Exegesetraditionen vielfach geführt wurde. Der Einschluss der frühislamischen wissenschaftlichen Errungenschaften in einen solchen spätantiken Diskurs muss erst begründet werden. Das Fundament für eine ebensolche Annahme besteht — so die hier vertretene These — in zwei Aspekten. 1. in der Verankerung des Korans selbst in religiöse De-

75 Almagor, „Early Meaning of Majāz“, S. 314. 76 Siehe Behzadi, Sprache und Verstehen, S. 57ff. 77 Siehe Zusammenfassung bei Gleave, Islam and Literalism, S. 29–35.

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batten der Spätantike und 2. in dem Wissen um die kulturelle und religiöse Vielschichtigkeit der frühislamischen Gelehrtenzentren. 2.4.1 Die Verortung des Korans in die Spätantike Wenn auch durch zahlreiche historische, religions- und literaturwissenschaftliche Forschungsarbeiten vorbereitet, 78 ist die pointierte Formulierung der These einer Verortung des Korans in sein spätantikes Umfeld das Verdienst Angelika Neuwirths. Im programmatischen ersten Band zu ihrem umfassenden Kommentar zum Koran, Der Koran als Text der Spätantike, fasst Neuwirth die in ihren Augen verzerrte Wahrnehmung vom Koran in den westlichen Orientwissenschaften in folgendes Bild: Das „Phänomen Koran“ sei der verfremdenden Vorschaltung zweier „Zerrspiegel“ zum Opfer gefallen. Der erste dieser Zerrspiegel bestehe in einer teleologischen Lektüre, die auf die durch die Auseinandersetzung mit dem Gründungstext überhaupt erst konstituierte Religionsgemeinschaft und späteren Weltreligion Islam gerichtet ist. Diese Perspektive ist vom Status des Korans als heiliger Schrift der Muslime bestimmt, die jedoch, Neuwirth zufolge, eine hermeneutische Errungenschaft sei, die vor allem das Nachleben des Propheten betreffe. Aufgrund dieses Zerrspiegels würde der Koran von westlichen Lesern als fremder und ahistorischer Text wahrgenommen, der sich nicht-muslimischen, vielleicht sogar nicht-arabischen Lesern prinzipiell verschließe. 79 Der andere „Zerrspiegel“, den Neuwirth beschreibt, besteht in einer Reduktion der koranischen Lektüre auf das bereits in der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament erlangte religiöse Wissen, das durch den Propheten Muḥammad lediglich in arabische Sprache übersetzt worden wäre. Diese vor allem in der frühen Wissenschaft des Judentums 80 entstandene Wertung des Korans als Epigone der (spät)

78 Siehe z. B. Cornellis Versteegh, Greek elements in Arabic linguistic thinking, Leiden 1977. Gutas, Greek thought, Arabic culture. Gotthard Strohmeier, Hellas im Islam, Wiesbaden 2003. Benjamin Jokisch, Islamic Imperial Law. Hārūn-Ar-Rashīd’s Codification Project, Berlin 2007. 79 Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, S. 37ff. 80 Trotz des „Epigonalitätssyndroms“ der im 19. Jahrhundert entstandenen kritischen Koranforschung durch deutschsprachige Juden, möchte Neuwirth die Innovation Abraham Geigers und seiner Nachfolger als erste Verankerung des Korantextes in sein spätantikes Entstehungsmileu wertschätzen. Sie selbst formuliert den Vorbehalt in: Angelika Neuwirth: „Im vollen Licht der Geschichte“, in: Im vollen Licht der Geschichte, hg. von Dirk Hartwig u. a., Würzburg 2008, S. 30: „Es ist freilich nicht zu verkennen, dass die in der Koranforschung der Wissenschaft des Judentums eingenommene Perspektive, Muhammad als von den früheren Traditionen sklavisch abhängig zu sehen und die koranischen Texte als Reproduktionen, noch öfter sogar als verzerrte Wiedergaben oder entstellende Missverständnisse älterer Texte zu werten, der unbestrittene Schwachpunkt dieser Forschungsrichtung ist.“

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antiken Religiosität, führt wiederum zu dessen Abwertung gegenüber den ihm vorausgegangenen jüdischen und christlichen „Originalen“. 81 Eine für Neuwirths eigene Perspektive auf den Koran unabdingbare Entscheidung, die auch einen Ausweg aus dem Dilemma der verzerrenden Darstellung des Korans als Epigone der biblischen Texte oder aber als fremdem und nicht-muslimischen Lesern zwangsläufig verschlossenem religiösen Gründertext darstellt, besteht in ihrer Differenzierung von zwei „Gesichtern“ des Korans. Die durch eine Chronologisierung der einzelnen Suren des Korans teilweise rekonstruierbare Geschichte der Verkündigung bleibt in Neuwirths Arbeiten streng unterschieden von der — im Kanon des muṣḥaf bereits redaktionell durchwirkten — Endfassung der heiligen Schrift. Erst durch diese kategoriale Unterscheidung von Textgeschichte und Textkanon zeigt sich schließlich beim möglichst genauen Nachvollzug der Geschichte der Verkündigung durch die literaturwissenschaftliche Analyse „ein ‚orientalisch-europäischer Text‘“. Denn damit, dass sich der Koran in das vielschichtige kulturelle Palimpsest Spätantike als die jüngste weltgeschichtlich bedeutende Schrift eingeschrieben hat, hat er die vorausgehenden Texte ein für allemal intertextuell durchwirkt. Mag der Koran kraft seiner historischen Wirkung als heilige Schrift auch das exklusive Erbe der Muslime sein — er ist angesichts seines Selbsteintrags in den westlichen Textkanon gleichzeitig auch ein bedeutsames Vermächtnis der Spätantike an Europa. 82

Die These von der Kontextualisierung der Entstehungsgeschichte des Korans in die für Europa selbst konstitutive Zeit der Spätantike 83 manifestiert sich, Neuwirth zufolge, „über die Wiederaufnahme narrativer Plots“ 84 der Bibel hinaus im Koran auch in Stellungnahmen zu den hermeneutischen Figuren der Allegorie und Typologie. In ihren Publikationen spricht Neuwirth von koranischen Narrativen als „Mythenkorrekturen“ und an anderer Stelle von „Entallegorisierungen“, die im Koran stattfinden. Ohne Neuwirths Argumentation an dieser Stelle im Einzelnen nachgehen zu können, soll hier lediglich auf den theoretischen Rahmen verwiesen werden, vor dem diese Begriffe eingeführt werden können. Neuwirth geht nämlich, wie bereits durch das Stichwort der „Intertextualität“ angedeutet, von einer engen Beziehung des Korans zu den Vorgängertexten, der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament, aber auch zu den rabbinischen und patristischen Kommentarlite81 Karl Josef Kuschel beschreibt sehr ähnliche Probleme als „Sackgassen des Koranverständnisses“ mit den Begriffen der „religionsgeschichtlichen Relativismus“ und „Selbstimmunisierung“. Siehe Karl Josef Kuschel, Juden, Christen, Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, S. 88–92. 82 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 67. 83 Der Begriff Spätantike ist in Neuwirths Ansatz nicht primär historisch konturiert. Zur Debatte um die diskursive und interdisziplinäre Erweiterung des Begriffs siehe den Sammelband: Schmidt, Schmid, Neuwirth (Hgg.), Denkraum Spätantike. Reflexionen von Antiken im Umfeld des Koran, Wiesbaden 2016 und hierin die Einleitung: „Spätantike. Von einer Epoche zu einem Denkraum“ (S. 1–35). 84 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 576.

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raturen aus, die sich in mehr oder weniger expliziten Verweisstrukturen im Koran nachweisen lassen. 85 Der Begriff der Intertextualität ist insofern nicht selbsterklärend, als Neuwirth auf den Debattencharakter des Korans insistiert und gerade der Vorstellung vom Koran als einem auktorial verfassten Buch entgegenwirkt. Weniger die konkrete Textvorlage der Bibel oder einzelner postbiblischer Kommentartexte, als vielmehr ein mündlich tradiertes, von Identitätsdiskursen vielfach überlagertes und interpretiertes Textwissen habe auf die Entstehung des Korans eingewirkt. 86 Die Begriffe „Entallegorisierung“ oder „Mythenkorrektur“ setzen auf diese Annahme auf‌bauend voraus, dass Konzepte von Allegorie und Mythos den beteiligten Akteuren der koranischen Verkündigung bekannt waren und einer bewussten oder wenigstens teilweise bewussten Revision unterzogen wurden. Unserer historischen Perspektive auf die Allegorese zufolge ist die hermeneutische Technik von vornherein eng mit dem Konzept von Mythos verknüpft, da Allegorese in der Antike und Spätantike zur Einschränkung oder ethischen Umdeutung der Mythen Homers bzw. später mythischer Elemente in der Hebräischen Bibel zur Anwendung kam. Indem wir die Begriffe der Entmythisierung und Entallegorisierung hier aufgreifen, um die Teilhabe des Korans an spätantiken Diskursen zu ermitteln, soll — statt konkreter narrativer Fortschreibung oder terminologischer Kontinuitäten — ein Transferkonzept in den Vordergrund gerückt werden, das den Koran weniger als Text, denn als Diskurs vorstellt, der argumentativ auf Wissen und religiöse Praktiken der Spätantike zurückgreift. Die Kontexte, in denen Neuwirth von Mythenkorrekturen oder Entmythisierung im Koran spricht, setzen einen solchen Transfer von spätantikem Exegesewissen in das koranische Verkündigungsmilieu voraus. Zum einen bemerkt Neuwirth eine „Korrektur“ ehemals mythischer Erzählungen der Bibel 87 in deren neuer narrativer Ausgestaltung im Koran. Im Kontext der Untersuchung eines koranischen Paradigmas von Märtyrertum resumiert sie: „Keine blutige Zeugnisablegung, kein sühnendes Opfer, keine imitatio eines 85 Das in der Literaturwissenschaft entwickelte Konzept der Intertextualität stellt (literarische) Texte als prinzipiell einander bedingend, aneinander anschließend und aufeinander verweisend dar. Jeder Text sei „aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen“. Siehe Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 190f. 86 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 22ff. 87 Siehe zum Beispiel die koranische Erzählung von Abraham und seiner Bereitschaft zum Sohnesopfer, die kein dramatisches Erlösungsmoment involviert, sondern auf einer Übereinkunft zwischen Vater und (erwachsenem) Sohn beruht, und in der Funktion des Opfers nicht als Sühnehandlung figuriert, sondern als zu Bewusstsein gebrachte Demonstration der von Abraham und seinem Sohn geteilten Gottesfurcht. Die Geschichte wird erstmals erzählt in Q 37:99–109, wo sie auf die Zerstörung der Götzen durch Abraham und sein Fortgehen von seinem Stamm folgt. Eine bewusste Korrektur ‚mythischer‘ Kultformen, im Sinne einer direkten, kultischen Interaktion mit dem Göttlichen, ist damit deutlich angezeigt.

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Normen sprengenden Erlösers — der Koran ist eine Schrift mit stark entmythisierender Tendenz.“ 88 Entmythisierend heißt hier, dass — ganz ähnlich wie in den von Stroumsa als „Mutationen der Spätantike“ 89 beschriebenen Veränderungen religiöser Kultpraktiken — die Kommunikation zwischen Gott und Mensch als angewiesen auf Repräsentationsmedien vorgestellt wird, statt auf direkte kultische Handlungen, wie das Opfer. Insofern habe der Koran das Verhältnis zwischen Gott und Mensch neu beschrieben und das spezifisch ‚mythische‘ Element des Gottesbegriffes der älteren Religionen getilgt. 90 Tatsächlich legen mehrere Textbeispiele aus dem Koran nahe, dass der ganze Kosmos — ganz ähnlich wie in Augustinus’ Denken — ein System von Zeichen (āyāt) sei, die letztlich insgesamt auf Gott verweisen. 91 Etwa in der spätmekkanischen Sure 43:3–4: wa-fī ḫalqikum … āyātun // wa-fī ḫtilāfi l-laili wa-n-nahāri … āyātun. („In eurer Schöpfung sind Zeichen // und im Wechsel von Tag und Nacht sind Zeichen.“) Die insgesamt auf die Allmacht des Schöpfers selbst hinweisenden Zeichen sind aber nicht kryptisch und nur für wenige Eingeweihte dechiffrierbar, sondern klar verständlich für jeden, der der prophetischen Verkündigung Gehör schenkt bzw. mit dem Intellekt/der Vernunft (bayān) zu begreifen. Eine Episteme der ‚verschlüsselten Zeichen‘ ist höchstens erkennbar in der koranischen Erzählung von einer Begegnung Mose mit einer von der islamischen Tradition als al-Ḫiḍr identifizierten Gestalt, die Mose den „wahren Sinn“ dreier Handlungen demonstriert, welche auf den ersten Blick ethisch nicht zu rechtfertigen bzw. nicht sinnvoll wären. 92 Prägend für die koranische Bewertung der hermeneutischen Figur der Allegorie ist zunächst die Tatsache, dass für den Koran in der Nachfolge der jüdischen und christlichen heiligen Schriften keine „Notwendigkeit der Umdeutung von zwar autoritätstragenden, aber nicht mehr mit dem neuen Weltbild [zu] vereinbaren[den] 88 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 559. 89 Stroumsa, Ende des Opferkults, S. 22ff. 90 Ein Beispiel für eine Erzählung mit mythischen Elementen wäre dahingegen die koranische Erzählung der Geburt Jesu, die stark auf die Erfahrung Marias in der Wüste fokussiert ist. Ein mythisches Element erkennt Neuwirth in der Palme, an der die gesellschaftlich isolierte Maria während der Geburt des koranisch als Prophet geborenen ʿIsā Zuflucht findet. Die Palme versorgt die Gebärende mit nahrhaften Datteln, Wasser und einer tröstenden Stimme. 91 Neuwirth spricht, in Anlehnung an Gottfried Müller, von einer ‚Zeichentheologie‘ des Korans. Siehe Text der Spätantike, S. 433f.: „Wie bereits von der Etymologie des arabischen Wortes āya (pl. āyāt; syr. atha, ‚Wunderzeichen, Schriftzeichen, Buchstabe‘) nahegelegt, weisen die Schöpfungs-āyāt über sich selbst hinaus und bilden mit ihrer inhärenten Referenzfunktion eine eigene koranische Textsorte. Sie dienen hermeneutisch dem Erweis der Präsenz und Allmacht Gottes.“ Zu Begriffen des Offenbaren und Verborgenen in der koranischen „Kosmologie“ siehe außerdem Hans Zirker, Der Koran. Zugänge und Lesarten, Darmstadt 1999, S. 135ff. 92 Die Koranstelle selbst findet sich in Q 18:60–82. Siehe zu den Versen und der Bedeutung in der späteren Literatur Patrick Franke, Begegnung mit Khiḍr. Quellenstudien zum Imaginären im traditionellen Islam, Stuttgart 2000.

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Szenarien der vorausgehenden Heilsgeschichte“ 93 bestand, wie dies für das frühe Christentum der Fall gewesen war. Eine mit der frühchristlichen Typologie und Allegorese vergleichbare Anstrengung der hermeneutischen Aneignung der heiligen Schriften einer Vorgängerreligion wird im Koran nicht unternommen. An ihrer Stelle steht der Vorwurf, die Juden und Christen hätten ihre Offenbarungen verfälscht, oder einen Teil davon vergessen. 94 Dieser Vorwurf des taḥrīf ist insofern mit der Hermeneutik der Typologie vergleichbar, als er den Einschluss des jüdischen und christlichen Kanons in die eigene Heilsgeschichte impliziert und gleichzeitig den Anspruch der Deutungshoheit über die früheren Texte erhebt. Der Vorwurf besteht letztlich darin, die Juden und Christen hätten Gott durch das Vergessen ihrer Schriften die Treue gebrochen. 95 Gleichzeitig wird in vielen Versen des Korans die im spätantiken Christentum kultivierte Behauptung der Deutungsnotwendigkeit des Gotteswortes zurückgewiesen, indem insbesondere während der mekkanischen Verkündigungsperiode eine spezifische Deutlichkeit (bayān) der Offenbarung Gottes betont wird. 96 Eine ‚entallegorisierende‘ Tendenz ist im Koran insofern vor allem in der neuen Bewertung des Mediums der Offenbarungssprache erkennbar. Durch sie ist dem Menschen nicht nur ein Medium der Orientierung in der diesseitigen Welt, sondern vor allem auch Einsicht in das sinnhafte System der Schöpfung geboten. 97 Vermittels des (sprachlich manifesten) Offenbarungswissens erweist sich eine harmonische Ordnung der Schöpfung, die der einzelne zu erkennen und zu respektieren angehalten ist. Das koranische Diktum der Deutlichkeit (bayān) der göttlichen „Herabsendung“ (von Schrift) kann in diesem Sinn verstanden werden als ein Argument für die Bewältigung der in der Gnosis und im Neuplatonismus als diskursiv nicht überbrückbar wahrgenommenen ontologischen Distanz zwischen diesseitiger Wirklichkeit und transzendentaler Wahrheit. Da die Autorität des Korans als heiliger Schrift gleichermaßen auf dem Prestige der Schrift wie dem der mündlichen Rezitation beruht, hat auch die Niederschrift und Organisation des Korans in Kodizes ab dem 8. Jahrhundert nicht dieselben Folgen für das Leseverhalten und den islamischen Textbegriff gehabt wie für das Christentum. Trotz des raschen Vorhandenseins von schriftlichen Koranexemplaren behielt die mündliche Textpflege lange die Priorität und hat bis heute maßgeblichen Anteil am islamischen Textbegriff. Die Verbindung des Mediums Kodex mit der exegetischen Technik der Allegorese als Resultat individuellen Schriftstudiums und individueller Sinnsuche, wie sie Stroumsa für das christliche 5. Jahrhundert beschrieben hat, stellen der Koran bzw. die Koranwissenschaften nicht her. Da gerade im Kontext der schnellen Verbreitung von Koranexemplaren in Buchform im frühen 9. Jahrhundert 93 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 590. 94 Zum Konzept des taḥrīf siehe Lazarus-Yafeh, Intertwined Worlds, S. 19–28. 95 Vgl. z. B. Q 5:12–13. 96 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 146ff. 97 Siehe vor allem Q 55 (ar-Raḥmān) und Q 90 (al-Balad). Dazu die Kommentare von Neuwirth in Text der Spätantike, S. 217ff.

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vielfach exegesekritische Stimmen laut wurden, 98 kann auch in dieser Hinsicht von einer bewussten ‚Beschränkung‘ der Lektüre des Korans auf dessen Literalsinn gesprochen werden. 2.4.2 Religiöse und kulturelle Vielschichtigkeit der frühislamischen Gelehrsamkeit Die (Selbst-)Verortung des Korans in bestehende Traditionen von Text- bzw. Schriftkultur kann als ein Anhaltspunkt für die Integration des Korans in die Geschichte religiöser Gelehrsamkeit der Spätantike gedeutet werden. Inwiefern auch die frühislamischen Koranwissenschaften in den kulturellen Raum der Spätantike integrierbar sind, muss sich erst noch erweisen. Dimitri Gutas hatte zunächst die Bedeutung der wirtschaftlichen Einigung der über Jahrhunderte politisch getrennten Gebiete des ehemaligen Sasanidenreichs und des Weströmischen Reichs durch die arabisch-islamische Eroberung unterstrichen: [T]his allowed for the free flow of raw materials and manufactured goods, agricultural products and luxury items, people and services, techniques and skills, and ideas, methods, and modes of thought. 99

Über die Erschließung neuer Transportwege, 100 den konkreten Transfer materieller Güter und Handfertigkeiten und die erhöhte individuelle Mobilität hinaus, ist für den Wissenstransfer vor allem die Verbindung traditioneller Gelehrtenzentren und institutioneller Schulen in den eroberten Territorien bedeutsam. With the advent of Islam, all these centers were united politically and administratively, and, most important, scholars from all of them could pursue their studies and interact with each other without the need to pay heed to any official version of ‚orthodoxy‘, whatever the religion. We thus see throughout the region and throughout the seventh and the eight centuries numerous ‚international‘ scholars active in their respective fields and working with different languages. 101

Die Publikationen Adam Beckers, die sich vor allem auf die Schule von Nisibis konzentrieren, 102 zeigen, dass nicht nur in den klassischen Gelehrtenzentren des Westen Athen, Antiochia und Alexandria, sondern auch im sasanidisch regierten Mesopotamien die „klassische“ urbane Gelehrtenkultur fortgesetzt wurde. Dass sich die rabbinischen Akademien (yešivot) während des 5. Jahrhunderts von Stu 98 Siehe Abū ʿUbaid, al-Qāsim ibn Sallām, Fadāʾil al-Qurʾān, Beirut 2006, S. 140.  99 Gutas, Greek thought, Arabic culture, S. 12. 100 Diese betont auch Agnes Imhof (Religiöser Wandel und die Genese des Islam, Würzburg 2004, S. 18ff. mit Literaturangaben) 101 Gutas, Greek thought, Arabic culture, S. 15. 102 Siehe insbesondere Becker, Fear of God, und ders., „Comparative Study Scholasticism in Late Antique Mesopotamia: Rabbis and East Syrians“, in: AJS Review 34, Cambridge 2010, S. 91–113.

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dienkreisen um einzelne charismatische Lehrer zu „Stätten der Gelehrsamkeit“ 103 entwickelt hatten, die über den Tod individueller Meister hinaus intakt blieben, und es zeitgleich zu einer Institutionalisierung der christlich-nestorianischen Schulen in Nisibis und Ktesiphon kam, ist — Becker zufolge — keine Koinzidenz. Neben der geographischen Nähe zwischen der im 6. Jahrhundert von einem nestorianischen Christen gegründeten Schule von Seleukia zu den rabbinischen Akademien in Babylonien seien christliche und jüdische Gelehrsamkeit vor allem durch die gemeinsame syrische Sprache sowie eine von Juden und Christen geteilte „imaginary world, which included notions of magic, mysticism, eschatology, revelation and the need for inquiry into the meaning of that revelation“ 104 verbunden. Die Institutionalisierung der Vermittlung und Kultivierung von Wissen in den an den geographischen Raum der Stadt gebundenen Schulen geht mit der Ausbildung eines „gelehrten Habitus“ 105 einher, welcher kommunizierte Werte und geteilte Identitätskonstruktionen von Schülern und Lehrern einschließt. Während Gutas das Verhältnis von antiken philosophischen und medizinischen Wissenschaften auf die arabische Wissenskultur im abbasidischen Reich dargestellt hat, bleibt die Einflussnahme antiken Sprachwissens gerade auf die arabische Philologie und Grammatik, die für den philologischen Korankommentar konstitutiv sind, umstritten. In der islamischen Tradition wie auch in der modernen westlichen Forschung wurden die sprachbezogenen Wissenschaften oft als genuin arabische Wissenschaften beschrieben, die — bis zur Übersetzungsbewegung am Kalifenhof, bzw. bis zu einzelnen, als intellektuelle Revolutionäre stilisierten Persönlichkeiten wie al-Ǧurǧānī — unberührt von fremden Einflüssen seien. Erste Bemühungen um das Auf‌brechen der Konstruktion einer rein arabischen Wissenschaftsgenese haben, abgesehen von zahlreichen Hypothesen zu fremden Einflüssen auf die arabischen Wissenschaften, durchaus bereits stattgefunden. 106 Amal Marogy hat das Werk des Grammatikers Sībawaih (gest. ca. 180/796) ausdrücklich im Hinblick auf das multikulturell geprägte Hintergrundszenario der Stadt al-Hira gelesen. Die Handelsstadt 103 Vgl. Becker, „Comparative Study“, S. 106. 104 Ebd., S. 107. 105 Vgl. ebd („scholarly habitus“). 106 Hinsichtlich der arabischen Grammatik ist immer wieder nach Einflüssen durch die griechischen, syrischen, persischen oder indischen Sprachwissenschaften geforscht worden. Zu Theorien der griechischen Beeinflussung der arabischen Grammatik siehe z. B. Frithiof Rundgren, Integrated Morphemics. A short outline of a theory of morphemics, Stockholm 1976 oder Versteegh, Greek elements. Heute überwiegt die Meinung, dass die arabische Grammatik sich unabhängig von hellenistischen Einflüssen entwickelt habe und die Berücksichtigung griechischer Vorläufer das Studium der arabischen Grammatik eher verunkläre als erhelle. Siehe Georges Bohas, Morphologie et Phonologie, Damaskus 1984; Jonathan Owens, The foundations of Grammar. An introduction to medieval Arabic grammatical theory, Amsterdam 1988. Die moderne westliche Forschungsmeinung stimmt darin mit der Darstellung der arabischen Tradition überein. Zu einer Zusammenfassung traditioneller arabischer Lehrmeinungen über die Ursprünge der arabischen Grammatik siehe Marogy, Syntax and Pragmatics, S. 35–40.

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und Geburtsstadt des berühmten Übersetzers philosophischer und medizinischer Texte aus dem Griechischen, Ḥunain ibn Isḥāq, 107 lag in geringer Entfernung zu den Metropolen arabischer Grammatik Basra und Kufa. Auch die arabische nasḫī-Schrift soll ihren Ursprung in al-Hira haben. 108 Marogy folgert: The Arab kingdom of Hira is advanced as the missing link in the search for satisfactory answers to some pending issues related to the formative stage of Arab lingusitics in general and to Sībawayhi’s intellectual and social milieu in particular. […] Without al-Hira Sībawayhi’s linguistic heritage and the opposition with which he and his work were faced, can only be understood as a series of fragmented survivals from a misty older past. 109

Al-Hira, eine Stadt, die bis zur Eroberung durch Saʿd ibn Abī Waqqās im Jahr 637 enge Handelsbeziehungen mit dem Ḥiǧāz besaß und in abbasidischer Zeit von mehreren Kalifen als Residenz gewählt wurde, war auch selbst Gegenstand sprachwissenschaftlicher Studien. Der kufische Grammatiker und Zeitgenosse Abū ʿUbaidas, Hišām al-Kalbī 110 (gest. 204/819), erforschte die Sprache und Überlieferungen der arabischen Stämme al-Hiras mit besonderem Interesse. 111 Auch die Hafenstadt Basra, die im frühen 7. Jahrhundert als Heerlager gegründet worden war, hatte sich keine hundert Jahre später zu einer „Metropole“ entwickelt, die durch ihren gesellschaftlichen Pluralismus gekennzeichnet war. 112 Dass die Philologen, Grammatiker und Lexikographen ihre Zugehörigkeit zu ihrer Stadt (nicht unbedingt zu einer „Schule“, wie Marogy vermutet) ausdrücken, lässt selbst wiederum ein Anknüpfen an die prestigeträchtigen Traditionen der spätantiken urbanen Gelehrtenzentren erkennen. Ohne Antiochia, Harran, Alexandria oder Nisibis wären die frühislamischen Gelehrtenstädte Kufa und Basra vermutlich kaum denkbar. Dass beispielsweise Kufa architektonisch „nach hellenistischem Vorbild“ gestaltet wurde, haben bereits Montgomery Watt und Walter Dostal bemerkt. 113 Trotzdem bleibt die Frage offen, auf welchen Wegen hellenistisches Wissen in den Kontext arabischer Wissenschaft transferiert wurde, denn unbestreitbar liegen zwischen den kirchenväterlichen, etwa bibelhermeneutischen, Schriften und der Entwicklung einer Kommentarliteratur zum Koran nicht nur geographische Distanzen, 107 Gutas, Greek thought, Arabic culture, S. 14. 108 Irfan Shahid, Byzantium and the Arabs, Washington 2009, Bd. 2, S. 297. 109 Marogy, Syntax and Pragmatics, S. 1. 110 Abū l-Munḏir Hišām ibn as-Sāʾib al-Kalbī hat sich vor allem für altarabische Genealogien interessiert und soll eine Geschichte der Laḫmiden verfasst haben, für die er Inschriften in den Kirchen von al-Hira verwandte. (Sezgin, GAS, Bd. 1, S. 269). 111 Marogy, Syntax and Pragmatics, S. 11. 112 Charles Pellat fasst blumig zusamen, in Basra lebten „Araber und Nichtaraber, Asketen und Landstreicher, Dichter und Prosaiker, Verfechter einer strengen Orthodoxie und Anhänger der Mu‘tazila, Matrosen und Arbeiter, Kauf‌leute und Handwerker, Bürger und Adelige“ zusammen (Arabische Geisteswelt, Zürich 1967, S. 14). 113 Hinweis in Imhof, Religiöser Wandel, S. 33.

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sondern auch etwa 300 Jahre. Da einzelne frühislamische Texte, Argumentationsmuster oder Genres aber trotzdem spätantikes Wissen spiegeln, hat der Arabist Fahmi Jadaane vorgeschlagen, neben einem „direkten“ auch von einem „diffusen“ Wissenstransfer auszugehen. Jadaane hat in seiner Dissertation zu den Beziehungen zwischen der arabischen Geistesgeschichte mit der Philosophie der Stoa auch die Vermittlungswege von der griechischen zur arabischen philosophischen Lehre problematisiert. Er unterschied in seinem Buch L’influence du stoicisme sur la pensé musulmane eine „voie érudite“ von einer „voie diffuse“. Auch Jadaane setzte an den kulturellen und geistigen Ballungszentren an, um einen „diffusen“ Austausch arabischer und stoischer Philosophie zu begründen: Il est sûr que des traditions vivantes régnaient dans les populations conquises par les Musulmans: en Syrie, en Mésopotamie, dans le delta du Nil autour d’Alexandrie qui avait été un centre intellectuel si vivace, en Sicile aussi. Des éléments de culture grecque ont pu ainsi survivre aux vicissitudes de l’historie et se transmettre après l’islamisation et l’arabisation des peuples conquis par l’Islam. 114

Allerdings bleiben geographische Begründung für einen Wissenstransfer in den angesprochenen Bildungszentren und der Vorschlag einer „diffusen“ Wissensvermittlung im Einzelfall unbefriedigend. Der Rückgriff auf spätantike Wissensbestände im Koran hat in den späteren Koranwissenschaften keine derart offenbare Entsprechung. Einzelne Beispiele, wie die Ähnlichkeit der Begründung der Unnachahmlichkeit des Koran durch islamische Theologen zur christlichen Logos-Theologie wurden bereits hervorgehoben. Lazarus-Yafeh etwa vermutet, islamische Theologen „may have unconsciously made an attempt to build an Islamic parallel to the Logos doctrine, or perhaps they followed some vague notions derived from Latin rhetorics.“ 115 In jüngerer Zeit haben nun vor allem die Publikationen von Sidney Griffith, James Kugel, Daniel Boyarin, Peter Schäfer und Guy Stroumsa gezeigt, dass Text- und Wissenstransfers im spätantiken Mittelmeerraum nicht durch lineare Transmission nachverfolgt werden können und dass diese erst recht nicht an kulturellen oder religiösen Grenzen haltmachen. Vielmehr befinde man sich in einem „labyrinth of religious traditions“, 116 in dem der Religionshistoriker, wie Daniel Boyarin sich ausdrückt, eine „story of possibilities“ 117 schreibe. Zum einen spielt die vorrangige Mündlichkeit des überlieferten Materials und auch die Bedeutung ritueller Organisation von Wissen eine zentrale Rolle etwa für das Verständnis der ‚Intertextualität‘ zwischen Koran und Bibel. Griffith hat vielfach betont, dass nicht die kanonische Bibel als ‚Quelle‘ für den Koran betrachtet werden könne, sondern die mündlich praktizierten und theologisch neu ausgerichteten Erzählstoffe und die Hermeneutik 114 Fehmi Jadaane, L’influence du stoicisme sur la pensée musulmane, Beirut 1968, S. 45. 115 Lazarus-Yafeh, Intertwined Worlds, S. 13. 116 Ebd., S. 4. 117 Vgl. Boyarin, Jewish Gospels, S. 24.

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Dialektik von Allegorese und literaler Interpretation

der Bibel dem koranischen Verkündungskontext zugrunde liegen. Neben der Bereicherung des Hintergrundszenarios für die koranische Textgeschichte zielt Griffiths Argument — ganz ähnlich wie die Forschung Daniel Boyarins und Peter Schäfers, die sich auf den vorislamischen Zeitraum spätantiker Religionsgeschichte konzentrieren — auf die Wechselseitigkeit der ‚Beeinflussung‘ von Bibel und Koran ab. Nicht nur absorbiert der Koran biblisches Wissen, sondern vielmehr liefert der koranische Verhandlungsprozess seinerseits Erkenntnisse über den Sitz im Leben der Bibel im spätantiken Juden- und Christentum. Dank dieser Forschung ist eine Hybridität religiöser Identitäten vor allem in den ersten Jahrhunderten nach Christus inzwischen allgemein anerkannt. 118 Und sie trifft auf eine globalhistorisch orientierte Forschung in Europa, die sich der Unzulänglichkeit herkömmlicher historiographischer „Container“ bewusst ist. 119 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie auch die koranphilologischen Werke an den hier skizzierten spätantiken Debatten inhaltlich teilhaben. Ich bin dabei ebenfalls nicht um den Erweis eines linearen Einflusses besorgt, sondern vielmehr darum, dem komplexen Bild einer auch die frühislamische Geschichte umfassenden Spätantike einzelne Aspekte zuzufügen. Ich lasse mich dabei von der Hypothese leiten, dass das geistige Umfeld der frühislamischen Gelehrtenzentren, in denen die ersten Korankommentare entstanden, ebenso vielschichtig war wie die ihnen benachbarten Städte, Zirkel und Schulen der jüdischen und christlichen Tradition. Wenn wir an einzelnen Stellen etwas über die „Grammatik der Tranferprozesse“ 120 selbst lernen können, d. h. über die Art und Weise wie Wissen beansprucht, vermittelt, übersetzt und übertragen wird, wäre dies umso besser.

118 Boyarin, Jewish Gospels, S. 24: „Christology, or the early ideas about Christ, is also a Jewish discourse and not — until much later — an anti-Jewish discourse at all. […] Thus the basic underlying thoughts from which both the Trinity and the incarnation grew are there in the very world into which Jesus was born and in which he was first written about in the Gospels of Mark and John.“ 119 Martin Mulsow formuliert die Herausforderung einer global orientierten und auf die Beobachtung konkreter „lokaler“ Entwicklungen eingehenden Geschichtsschreibung so: „Der neue Impuls der ‚big history‘, der uns auf unbekanntes Territorium entlässt, sollte mit irgendeiner Art von Mikrogeschichte verbunden werden, die der Diffusion ins Gestaltlose entgegenarbeitet. […] Wenn wir die Errungenschaften der kontextuellen Verortung von Ideen […] nicht preisgeben wollen, aber dennoch weit ausgreifen mögen, dann müssen wir eine Kette von solchen Kontextualisierungen vorführen, die uns beispielsweise von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert führt, in einer miteinander verbundenen Reihe von Mikrogeschichten.“ (Martin Mulsow, „Vor Adam. Ideengeschichte jenseits der Eurozentrik“, in: Lange Leitung. Zeitschrift für Ideengeschichte IX/1 (2015), S. 48) 120 Stroumsa sprich von „transformative grammar“ in The Making of the Abrahamic Religions in Late Antiquity, Oxford 2015, S. 2.

3. Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts? Ausgehend von der Tatsache, dass jegliche Lektüre und Interpretation auf heuristischen und epistemischen Vorannahmen beruht, die das Verständnis regeln und mitbestimmen, hat der Bibelwissenschaftler James Kugel in seinem Buch How to Read the Bible diese Verständnisannahmen antiker Interpretatoren der Hebräischen Bibel in „four assumptions“ festzulegen versucht. Ohne dass diese Annahmen theoretisch diskutiert worden wären, kämen alle antiken Bibelkommentatoren darin überein, dass die Bibel 1. ein kryptischer Text sei, dessen wahre Bedeutung von der offenkundigen Bedeutung des Wortlauts unterschieden sein könne. 2. dass die Bibel eine überzeitliche Relevanz besitze, die sich dadurch bemerkbar mache, dass sie Weisungen für das Verhalten des Lesers auch in großer zeitlicher Distanz zur Entstehung des Textes beinhalte. Die Geschichten der Bibel haben in dieser Hinsicht exemplarischen Charakter: „It [the bible] may seem to talk about the past, but it is not fundamentally history. It is instruction, telling us what to do: be obedient to God just as Abraham was and you will be rewarded, just as he was.“ 1 3. dass die biblischen Texte, trotz der Vielfalt ihrer Entstehungskontexte und -zeiträume frei von Widersprüchen seien. Die Bibel als Ganze enthalte eine kohärente Botschaft und könne nicht fehlerhaft sein. Offensichtliche Kontradiktionen oder Wiederholungen in den Texten hätten dem zufolge (entsprechend der ersten Annahme) einen Sinn, den aufzufinden Aufgabe des gläubigen Lesers sei. Die 4. Annahme betrifft den göttlichen Ursprung der biblischen Texte. Die Bibel stellt, in den Augen der antiken Leser, insgesamt die direkte oder durch Propheten vermittelte Rede Gottes dar und sei somit „essentially a divinely given text“. 2 Kugel ist weniger darum bemüht herauszufinden, wie diese vier hermeneutischen Annahmen, die über große geographische und zeitliche Distanzen hinweg eingehalten und verfochten wurden, entstanden sind, sondern darum zu zeigen, wie tief das Verständnis der antiken Leser und Kommentatoren die spätere Wahrnehmung der Bibelinhalte geprägt hat. Erst durch diese hermeneutischen Errungenschaften, die Zuschreibungen von Widerspruchsfreiheit und Weisungscharakter, göttlichem Ursprung und Kryptik der Texte sei die Bibel geworden was sie ist. 3 Einige der von Kugel beschriebenen hermeneutischen Annahmen zum Bibeltext scheinen auch auf den frühislamischen Umgang mit dem Koran zuzutreffen. Dass der Koran göttlichen Ursprung beansprucht und als durch den Propheten vermittelte Rede Gottes gilt, ist am leichtesten als Gemeinsamkeit zu erkennen. Eine Wider1 Kugel, How to Read the Bible, S. 14–17. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 47ff.

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

spruchsfreiheit der einzelnen Text‌teile des Korans und ein genereller Weisungscharakter der koranischen Botschaft werden von vielen klassischen und modernen islamischen Theologen ebenfalls vertreten. Ob der Koran, wie die Bibel, kryptisch ist, seine Worte eine andere als die augenfällige Bedeutung beinhalten, ist weniger unumstritten, da in mehreren Versen des Korans gerade seine Deutlichkeit betont wird. Einzelne Argumente über den Status der Textualität, Skripturalität, des göttlichen Ursprungs und den Funktionen des Textes finden sich bereits im Koran selbst. Formativen Charakter erhält der koranische Textbegriff allerdings erst mit der Arbeit der Auslegung nach der kanonischen Schließung, das heißt, mit der Etablierung der „Wissenschaften vom Koran“ (ʿulūm al-Qurʾān). Diese Entwicklung nachzuvollziehen ist Gegenstand dieses Kapitels. Ausgehend von der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān sollen das Bild, das Abū ʿUbaida vom Koran zeichnet und seine eigene Selbstverortung als Kommentator beschrieben werden. Von den von Kugel veranschlagten hermeneutischen Prämissen antiker Bibelleser wollen wir uns dabei die Richtung weisen lassen, ohne unsere Analyse auf diese zu beschränken. Bevor wir uns der Einleitung des Maǧāz widmen, soll allerdings ein Abriss über die Forschungsarbeiten zum Status des Korantextes in der Zeit vor dem philologischen Kommentar, d. h. während der ersten beiden islamischen Jahrhunderte, gegeben werden:

3.1 Devotionalität, Repräsentationscharakterund semantische Klärungsbedürftigkeit des Korans im 7. Jahrhundert Einer der Gründe für den Zweifel daran, dass der Koran zur angenommenen Lebenszeit des Propheten auf der arabischen Halbinsel entstanden sein könnte, bestand Patricia Crone zufolge darin, dass einzelne, im frühislamischen Recht getroffene Urteile nicht mit den in Teilen des Korans selbst enthaltenen Rechtsvorschriften überein stimmten. Hätte der Koran bereits im 7. Jahrhundert als konstitutiver Glaubenstext vorgelegen, wären diese Dissonanzen nicht erklärbar. 4 Um diese Einschätzung argumentativ auszuräumen, setzte Nicolai Sinai zu einer Neubewertung nicht der Textgeschichte, sondern der Funktion des Korans im ersten islamischen Jahrhundert an. Die „Dissonanzen“ zwischen frühislamischem Recht und dem Koran bzw. der formativen exegetischen Literatur würden keine exegetischen „Verständnislücken“ 5 bloßlegen, die zur Folge der Spätdatierung des Korantextes führen müssten, sondern der Koran sei — auch aufgrund seiner hochsprachlichen Stilebene 6 — während der 4 Patricia Crone, „Two Legal Problems Bearing on the Early History of the Qur’ān“, in: JSAI 18 (1994), S. 1ff. 5 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 36. 6 Seit den Anfängen der europäischen Orientwissenschaften sind der Gebrauch und die Funktion der arabischen Sprache zur Zeit der Verkündigung des Korans immer wieder diskutiert worden. In neueren Darstellungen überwiegt die Einschätzung der arabīya als eine „literarischem und formellem Gebrauch vorbehaltene Hochsprache“ (Neuwirth, „Koran“, in: GAP, Bd. 2, S. 113), die

Devotionalität, Repräsentationscharakter…

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Verkündigungszeit in Mekka und Medina nicht vollauf semantisch durchdrungen worden und ein lückenloses Verstehen des Offenbarungstextes auch gar nicht das vorrangige Anliegen der Muslime dieser Zeit gewesen. Der Koran habe vielmehr zunächst eine liturgisch-devotionale Funktion besetzt. Die von Shlomo Goitein ins Feld geführte Beobachtung, dass sich in der islamischen Tradition keine gesonderte liturgische Literatur herausgebildet hat, 7 kann als Argument dafür angebracht werden, den Sprechern unterschiedlicher arabischer Dialekte bereits von der Dichtung her bekannt war, die sich allerdings von der dialektalen Alltagssprache maßgeblich unterschied. Die These von der literarischen Funktion der arabischen Sprache wird in einzelnen Meinungen zu gesellschaftspolitischen Annahmen erweitert: Navid Kermani betont die Bedeutung der ʿarabīya als alle Araber unterschiedlicher gesellschaftlicher Zugehörigkeit vereinendes Medium: „It was the language that constituted the unifying element, transcending all conflicts on the seventh century Arab peninsula. While many tribal dialects were unintelligible, the formalized language of poetry, towered above all dialects.“ (Navid Kermani, „Poetry and Language“, in: The Blackwell Companion to the Qurʾān, hg. von Andrew Rippin, Oxford 2006, S. 108.) In anderen Zusammenhängen ist die Frage nach der ‚Stilebene‘ des Korans vor allem mit Blick auf innerkoranische Aussagen über die Offenbarungssprache gestellt worden. In mehreren Versen finden sich Aussagen über die Deutlichkeit und Klarheit (bayān, bzw. in adjektivischer Form mubīn) der Verkündigung (qurʾān) oder der Schrift (kitāb). Allerdings lassen diese Verse recht unterschiedliche Interpretationen zu. Neuwirth hält für wahrscheinlich, der Koran sei insofern mubīn, als er die Eindeutigkeit göttlicher Rede beanspruche. „In view of the fact that the Qurʾān, the recitation of the Qurʾān itself, is considered as the most sublime speech act, bayān can be understood as an evocation, first and foremost, of Quranic language.“ (Angelika Neuwirth, „Qurʾanic Readings of the Psalms“, in: The Qurʾān in Context, S. 754) Für Neuwirth ist es nicht die unmittelbare, spontane Verständlichkeit der Verkündigung für ihre Hörer, sondern die Autorität hinter dem Text, die dessen Deutlichkeit evoziert. Den Begriff des bayān bringt Neuwirth mit dem Paradigma des sich im Koran im Medium der Sprache manifestierenden logos in Verbindung, wodurch sie das koranische Argument für die Deutlichkeit des Korans klar aus dem historischen Szenario der Ansprache einer konkreten Hörerschaft herauslöst. Anders argumentiert hingegen Islam Dayeh, der die Selbstinszenierung des Korans als „Verkündigung in deutlichem Arabisch“ nicht im Hinblick auf eine Diglossie zwischen Hochsprache und dialektalem Arabisch gedeutet sehen möchte, sondern gerade als Zurückweisung von antiquierter Formsprache: „The Qurʾān is not defining the language in which it is composed, for that is evident, but what it is stating is that the language employed is a comprehensible one, a language that the audience of the Qurʾān can understand. […] The Qurʾān therefore makes a clearly conscious and courageous preference for a comprehensible language which the audience will comprehend, over a scriptural language whose only virtue is its antiquity.“ (Dayeh, „Meccan Surahs“, S. 482). 7 Shlomo Goitein, Studies in Islamic History and Institutions, Leiden 1966, S. 88: „[…] the Koran itself is the prayer book of Islam. It was intended to be so from the outset […] and it has remained so ever since. Formally, the Koran is the word of God addressed to man, but it contains many hymnical elements and a considerable number of prayers, either put into the mouth of the prophets mentioned, or spoken by Muhammad (introduced by „Say!“ or otherwise), or unconnected with the frame of the Koran as a book of revelation. Thus the reading of the Koran is to a certain extant tentamount to the recitiation of a liturgy.“ Goitein akzentuiert gleichzeitig die Bedeutung des Gebets für die islamische Glaubensgemeinschaft noch während der Verkündigungszeit selbst: „Muhammad’s belief is one who pronounces the name of his Lord and prayers.“ (87:15). Muslims are „those who pray and are perserving in their prayers“, while, in another very ancient sura, the sinners who are burning in hell-fire, when asked about their crimes, confess: „We were not of those who pray. (70:22–23, 74:43–44) (Goitein, Studies, S. 74). Siehe auch Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 39.

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

dass diese Funktion von Anfang an der Koran selbst übernommen habe und — wie Sinai spekuliert — dass in der islamischen Frühzeit sogar die primäre Funktion des Korantextes sein liturgischer Gebrauch gewesen sei. Die Semantik der Offenbarungsverse sei vor allem nach der „Entbettung“ des Textes aus seinem Entstehungsmilieu im Jahr 632 teilweise suspendiert worden, denn es sei nicht der informative Gehalt der koranischen Verkündigung, der für die Selbstbehauptung der jungen Gemeinde ausschlaggebend war, sondern: One might say that the principal function of the Qurʾān was to stand more as a reminder and as evidence that God had adressed the Arabs than as the complete record of what God had, or has, to say. 8

Die partielle semantische Irrelevanz und primär devotionale Funktion des Korans bis zum ausgehenden 7. Jahrhundert scheint unmittelbar in der von James Kugel als 4. Prämisse antiker Bibelkommentatoren, der Identifikation der heiligen Schrift als der Rede Gottes, aufzugehen: Gerade die präsumierte göttliche Provenienz des Koran könnte […] in vielen Situationen, in denen frühe Muslime den Koran hörten oder selbst rezitierten, ein Grund dafür gewesen sein, nicht systematisch über die Verstehensinseln hinausszufragen, die der Text zumindest für arabische Muttersprachler zweifellos aufwies: Die allgemeine Tatsache, dass man hier mit der wörtlichen Rede Gottes konfrontiert war, überwog ihren konkreten Informationsgehalt. 9

Die Überzeugung von der göttlichen Urheberschaft des Korans bzw. der göttlichen Stimme der Verkündigung braucht nicht zwangsläufig mit der Grundlegung des Textes für die Rechtsprechung oder zur ethischen Orientierung zu korrelieren. Vielmehr stand, dieser These zufolge, in der Zeit unmittelbar nach dem Tod des Propheten bis zur Jahrhundertwende das emphatische Bekenntnis zum Faktum der Offenbarung und der Anhängerschaft des Propheten im Vordergrund. Für die Zeit der frühislamischen Expansion und des Wachstums der Glaubensgemeinschaft lassen sich freilich auch sozialhistorische Gründe dafür finden, dass die Funktion des heiligen Textes anderswo zu suchen ist als in inhaltsweisender Lektüre. Tilman Nagel etwa wies auf die vermutlich geringe Zahl literater Muslime dieser Zeit hin. 10 Die nachprophetische islamische Gemeinschaft habe vielmehr aus Kriegern bestanden, über die selbst die klassische arabische Überlieferung berichtet, dass ihnen ein sachliches Verständnis des Korantextes weitgehend gefehlt habe. 11

 8 Daniel Madigan, The Qurʾān’s Self-Image. Writing and Authority in Islam’s Scripture, Princeton 2001, S. 52.  9 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 40. 10 Siehe Tilman Nagel, Geschichte der Islamischen Theologie, München 1993, S. 55. 11 Ebd.

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Neben dem Sitz im Leben des Textes im devotionalen Ritus ist eine weitere Funktion in der Erfüllung eines Repräsentationsbedürfnisses der islamischen Gemeinschaft nach außen hin wahrscheinlich. Der Koran nimmt den Platz eines „Symbols islamischer Identität“ 12 ein, wie die Inschriften auf dem Felsendom vermutlich am besten zeigen. Auch die Prägung von Sure 112 auf islamischen Münzen nach der Verwaltungs- und Münzreform zwischen den Jahren 690 und 705 13 würde in diese Richtung weisen. Zahlreiche Berichte aus der Frühzeit arabischer Geschichtsschreibung geben zudem Auskunft über einen repräsentativen Einsatz des Korans im Kriegsgeschehen der futūḥ. Das Tragen einzelner Pergamentblätter mit Koranaufschriften an den Schwert- und Lanzenspitzen der Kämpfer für den ersten Umayyadenkalifen Muʿāwiya während der Schlacht von Ṣiffīn ist wohl der bekannteste. 14 Vielsagend für den Status des Korans in kodifizierter Form ist eine Anekdote, auf die Travis Zadeh in einem ähnlichen Kontext hingewiesen hat, in welcher der Kalif ʿUṯmān ibn ʿAffān, dessen Person unzweifelhaft mit der Errungenschaft der frühislamischen Kodifizierung und Kanonisierung des Korantextes in Verbindung steht, bei seiner Ermordung in einem Exemplar des muṣḥaf gelesen habe, worauf‌hin ein Blutspritzer auf einen Vers (2:137) gesickert sei, welcher dem zu Unrecht Verfolgten göttlichen Beistand zusicherte. 15 Den Hinweisen auf die primär repräsentative — und im Fall der Anekdoten magisch mythifizierte — Funktion des Korantextes zum Trotz lassen einzelne Hinweise auf eine inhaltliche Bezugnahme zum Koran bereits in der Mitte des 7. Jahrhunderts auch auf dessen semantische Bedeutsamkeit schließen. 16 Allgemein betrachtet seien — Sinai zufolge — aber erst während der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts „semantische (Re)Fokussierungen“ 17 erforderlich geworden, im Zuge derer sich die

12 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 43. 13 Siehe van Ess, Theologie und Gesellschaft, Bd. 2, S. 9f. 14 Travis Zadeh, „Touching and Ingesting. Early Debates over the Material Qurʾān“, in: Journal of the American Oriental Society 129/3 (2009), S. 143ff. 15 Zur Anekdote und den symbolischen Gebrauch von Korankodizes im 7. und 8. Jahrhundert siehe Zadeh, „Touching and Ingesting“, S. 143. Die Legende um das Blut des Kalifen, das auf den Koran gesickert sein soll, ist sehr bekannt und wird z. T. sogar mit Flecken auf den aus der Zeit der ersten Kalifen erhaltenen Koranhandschriften in Verbindung gebracht. Diese Handschriften sind von dem Theologen Tayyar Altıkulaç in Istanbul in Faksimileeditionen publiziert worden. 16 Solche Beispiele sind die Sendschreiben des Ḥasan al-Baṣrī und Ḥasan ibn Muḥammads, in welchen versucht wird, Argumente für und wider die Prädestinationslehre im Koran selbst zu finden. Darüber hinaus werde im frühen fiqh vereinzelt semantisch auf den Koran Bezug genommen. Sinai beobachtet allerdings, dass zitierte Koranverse dort nicht exegetisch ausgedeutet werden, sondern vielmehr der Koran als „Stichwortgeber“ zu bereits formierten Rechtsurteilen fungierte. (Fortschreibung und Auslegung, S. 46) 17 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 46.

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

„formative Vernetzung zwischen Koran und gemeindlichem Selbst- und Weltbild“ 18 eingestellt habe. 19

3.2 Ausdifferenzierung des Textbegriffsin den ʿulūm al-Qurʾān im 8. Jahrhundert Die Statuswechsel des Korans scheinen um die Wende zum 2. islamischen Jahrhundert 20 insofern zu einem relativen Endpunkt gekommen zu sein, als der Text nun Gegenstand gelehrter Auslegung wird. 21 Mit der „Rekanonisierung“ des Korantextes ist allerdings die Bestimmung der Funktion, die der Koran fortan für die kaum weniger rasanten politischen und sozialen Veränderungen unterworfene islamische Glaubensgemeinschaft besaß, keineswegs ad acta zu legen. Allerdings sind die Funktionen, die der Koran in der Wahrnehmung dieser Generation einnimmt, leichter zu bestimmen, da nun eine Vielzahl gelehrter Abhandlungen Stellungnahmen zum Koran enthalten. 22 Diese nicht immer exegetischen, aber in der Regel wissenschaftlich fundierten Arbeiten über den Koran, können — mit Jan Assmann gesprochen — insofern mit Recht als Abschluss des koranischen Kanonisierungsprozesses gelten, als sie belegen, dass der muṣḥaf Gegenstand spezialisierter Ausdeutung geworden ist. 23 Mit der Spezialisierung einzelner Gelehrter und der Institutionalisierung von Arbeitskreisen zu „Fächern“ der Koran- und Sprachwissenschaften ist seit ihren Anfängen im 8. Jahrhundert eine Debatte verbunden, die das Verhältnis von demütiger Haltung gegenüber dem Offenbarungstext und seiner sprachwissenschaft-

18 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 46. 19 Dabei geht Sinai davon aus, dass Teile der islamischen Literaturen erst allmählich koranisiert wurden. Er greift die Metapher der Osmose auf, um zu veranschaulichen, dass vereinzelt koranische Inhalte in Lehrstoffe und Erzählmaterial „übergeschwappt“ sein könnten und erst später, d. h. nach der vermehrt semantischen Erschließung des Textes, an die dort vorgefundenen Sinninhalte angepasst worden seien. Dem gegenüber steht die Hypothese Marco Schöllers, Teile der prophetenbiographischen Literatur seien aus einem „exegetischen Interesse“ heraus, also bereits aus einer sehr frühen inhaltlichen Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten des Korans entstanden. Siehe Marco Schöller, Exegetisches Denken und Prophetenbiographie. Eine quellenkritische Studie der Sīra-Biographie zu Muḥammads Konflikt mit den Juden, Wiesbaden 1998. 20 Wansbrough nennt das Jahr 200/815 als den „Anfang der arabischen Literatur“ freilich mit anderer Zielführung. (Quranic Studies, S. 144) 21 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 93: „Nicht schon der heilige, sondern erst der kanonische Text erfordert die Deutung und wird so zum Ausgangspunkt von Auslegungskulturen. […]“ 22 Vor allem Abū ʿUbaids Faḍāʾil al-Qurʾān und Ibn Qutaibas Tafsīr muškil al-Qurʾān. Beide Werke sind anders als die „Glossensammlungen“ des frühen 8. Jahrhunderts und anders als die kursorischen Kommentare des späten 8. und frühen 9. Jahrhunderts Werke mit systematischem Ansatz zum Korantext und nach Themen strukturiert. 23 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 90ff.

Textbegriff des Qurʾān in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān

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lichen Bearbeitung betraf. 24 Ibn Mālik Quraib al-Aṣmaʿī ist eines der bekanntesten Beispiele für eine sprachwissenschaftlich hochgebildete Persönlichkeit, die sich strikt weigerte, ihr philologisches Wissen auf die heilige Schrift anzuwenden. Andere, wie sein und Abū ʿUbaidas gemeinsamer Lehrer Abū ʿAmr al-ʿAlāʾ (gest. 154/770) und der kufische Grammatiker Abū ʿAmr aš-Šaibānī (gest. 213/828), stellten die frommen Motive ihrer philologischen Arbeit dadurch unter Beweis, dass sie Buße durch Abschreiben von Koranexemplaren taten, die sie an Gemeindemitglieder verteilten oder Askese übten. 25

3.3 Textbegriff des Qurʾān in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān Im Folgenden soll auch mithilfe des begriff‌lichen Repertoires der koranspezifischen Kanonforschung ein Begriff von den Funktionen des Korantextes in der Darstellung Abū ʿUbaidas als einem Repräsentanten dieser zunehmend fachlich ausdifferenzierten Koranexegese beschrieben werden. Im Hinblick auf die Eingebundenheit des Korankommentars in Prozesse der wissenschaftlichen Spezialisierung ist eine von dem Theologen Geza Vermes getroffene und durch Norman Calder 26 und Nicolai Sinai 27 in die Koran- bzw. tafsīr-Forschung eingeführte begriff‌liche Unterscheidung vorab auszuformulieren sinnvoll, nämlich die zwischen „applikativen“ und „explikativen“ Interpretationsformen. Der philologische Korankommentar kann gegenüber den „applikativen“ Interpretationen der früheren Zeit (der „formativen Phase“ des früheren 8. Jahrhunderts) als „explikative“ Exegeseform beschrieben werden, insofern der Kommentar nicht mit der Bewältigung lebenspraktischer Probleme befasst ist: Explikative Interpretation geht […] zumeist von textimmanenten Anomalien oder Verständnisproblemen aus — sie füllt Lücken im Handlungs- oder Gedankengang, fragt nach der Bedeutung ungewöhnlicher Worte, stellt unterschiedliche grammatische Analysen eines Verses gegenüber oder harmonisiert scheinbare Widersprüche zwischen unterschiedlichen Schriftstellen. 28

24 Vgl. Alexander Knysh, „Multiple areas of influence“, in: The Cambridge Companion to the Qurʾān, hg. von Jane McAuliffe, Cambridge 2007, S. 213. 25 Siehe ebd. 26 Norman Calder, „Tafsīr from Ṭabarī to Ibn Kathīr: Problems in the Description of a Genre, Illustrated with Reference to the Story of Abraham“, in: Approaches to the Qurʾān, hg. von Gerald Hawting and Ahmad Sharif, Routledge 1993, S. 101–140. Siehe auch die Anekdote, in der Aḥmad ibn Hanbal den Philologen Abū ʿUbaid ermahnt, eine Arbeit zu unterlassen, die darin bestehe, die die grammatischen Exegesen al-Farrāʾs und Abū ʿUbaidas miteinander zu verbinden. (Shah, „Introduction“, S. 14) 27 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 13. 28 Ebd., S. 14.

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

Explikative Interpretation lese, so die Folgerung Sinais, den Text „um seiner selbst willen“. Sie greife auf den Text als eine „world within itself“ zu, insofern er eben nicht als Richtungsweiser für ethisches oder juristisches Urteilen ausgedeutet, sondern seine Struktur und Komposition verstanden, nachvollzogen, analysiert und ggf. „harmonisiert“ werde. Zunächst unter Berücksichtigung der Stellungnahmen zum Koran und der Notwendigkeit seiner Interpretation in der Einleitung zu Maǧāz alQurʾān soll nun geprüft werden, ob diese Prämisse und demzufolge die Beschreibung von Maǧāz al-Qurʾān mit dem Stichwort der „explikativen“ Interpretation zutreffend und hinreichend ist. Harmonizität und Lebenshilfe Die Einleitung zu Abū ʿUbaidas Korankommentar, die der kursorischen Glossierung einzelner Verse des muṣḥaf vorangestellt ist, gibt Auskunft nicht nur über die interpretatorische Methode und den Begriff des maǧāz, sondern zuallererst über einen Begriff vom Koran selbst. Al-qurʾānu smu kitābi llāhi ḫāṣṣatan, wa-lā yusammā bihi šaiʾun min sāʾiri l-kutubi ġairuhu, wa-innamā summiya qurʾānan li-annahu yaǧmaʿu s-suwara fa-yaḍummuhā. Wa-tafsīru ḏālika fī āyatin mina l-qurʾāni; qāla llāhu ǧalla ṯanāʾuhu: inna ʿalainā ǧamʿahu wa-qurʾānahu (75:17), maǧāzuhu: taʾlīfu baʿḍihi ilā baʿḍin, ṯumma qāla faiḏā qaraʾnāhu fa-ttabiʿ qurʾānahu (75:18), maǧāzuhu: fa-iḏā allafnā minhu šaiʾan fa-ḍamamnāhu ilaika fa-ḫuḏ bihi, wa-ʿmal bihi wa-ḍumhu ilaika. 29 Der Koran ist im Spezifischen der Name des Buches Gottes. Keines der anderen Bücher heißt so. Es (das Buch) heißt Koran, weil es die Suren vereint und sammelt. Die Darlegung (tafsīr) dafür enthält ein Vers des Korans. Gott, gepriesen sei er, sagt (75:17): Uns obliegt seine Sammlung und Vereinigung (qurʾānahu). Das bedeutet: Das Zusammenstellen (taʾlīf) des einen mit den anderen, 30 dann sagt er (75:18): Wenn wir ihn gesammelt haben, dann folge seiner Sammlung (qurʾānahu). 31 Das bedeutet: wenn wir etwas von ihm zusammenstellen und dir übergeben, dann nimm es an und verhalte dich ihm entsprechend und mache es dir zueigen.

Die Bedeutung des Begriffs qurʾān als Tätigkeit bzw. Ergebnis einer Tätigkeit des Sammelns und Vereinens stellt Abū ʿUbaida über die Wurzel q-r-ʾ her. Ein Vers des 29 Maǧāz I, S. 1f. 30 Die Wurzel ʾ-l-f wird in mehreren Versen des Korans gebraucht als „zusammenbringen“ im Sinne von Harmonisierung, Einverständnis: Siehe Q 3:103, 8:63, 24:43, 106:1–2. (Mit Dank an Ghassan el-Masri). 31 Üblicherweise wird der Begriff qurʾān in diesem Vers nicht mit dem abstrakten „Sammeln“, sondern mit der Lesung, d. h. dem Vortrag der bereits verkündeten Verse übersetzt. Paret übersetzt die Verse 16–17: „Bewege deine Zunge nicht damit (d. h. mit dem Koran, bzw. dem Vortrag eines Korantextes), so dass du nicht damit übereilst! Und (erst) wenn wir ihn (dir vor)rezitiert haben, dann folge seiner Rezitierung!“

Textbegriff des Qurʾān in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān

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Dichters ʿAmr ibn Kulṯūm bezeugt den Gebrauch des Verbes qaraʾa für die organische Zusammensetzung eines Kindes im Mutterleib. Diese Bedeutung des Verbs aufgreifend argumentiert Abū ʿUbaida: „Man sagt von einer Frau, die noch nicht schwanger war: sie hat noch kein Kind „gesammelt“ (mā qaraʾat salan qaṭṭu). 32 Die Analogie des die Suren integrativ vereinigenden Korans mit dem Wachsen eines Embryos im Mutterleib unterstreicht das organische Abhängigkeitsverhältnis der einzelnen Teile des Textkorpus voneinander und damit seine Harmonizität und Geschlossenheit. Auf‌fällig an Abū ʿUbaidas mehrmaliger Definition des Begriffs qurʾān ist seine Vernachlässigung der Bedeutung des „lauten Lesens“, des „Rezitierens“, das in der modernen Koranforschung — durch den Hinweis auf die etymologische Herkunft des Wortes aus dem Syrischen — mit dem „Lektionieren“ heiliger Schriften identifiziert wird. 33 Abū ʿUbaidas Angabe der Bedeutung des Begriffs qurʾān ist zunächst gerade nicht kontextualisierend, sondern rein lexikalisch und abstrakt. Sie hat eine Entsprechung in der lexikographischen Beschäftigung mit dem Begriff. 34 Die zwei Verse aus Sure 75 (al-Qiyāma), die Abū ʿUbaida für den koranischen Gebrauch des Begriffs qurʾān anführt, sind im Kontext der Sure aus dem Pluralis majestatis gesprochen und richten sich an den Verkünder. Die frühmekkanische Sure ist thematisch stark eschatologisch geprägt. Im Kontext der Sure selbst „fügen sich [die zitierten Verse] semantisch in die Überlegungen zur Verantwortung des Menschen ein“, 35 die zuvor in der Mahnung angesprochen war: „Der Mensch ist gegen sich selbst Augenzeuge. Mag er auch seine Entschuldigungen vortragen. Bewege deine Zunge nicht mit ihm, damit du es nicht übereilst.“ (75:14–16) Die von Abū ʿUbaida isoliert zitierten Verse mahnen, dem Kontext der Sure 75 entsprechend, die angemessene Weitergabe der Verkündigung an, die nicht übereilt werden darf. 36 Dieser inhaltliche Kontext der Sure klingt durchaus in der Glosse des Philologen an. Die Paraphrasen „nimm ihn [den verlesenen Text] an, verhalte dich ihm entsprechend und mache ihn dir zueigen“ beziehen sich vermutlich nicht auf die Inhalte des verlesenen Gottesworts, sondern auf den demütigen und sorgsamen Umgang mit dem Text selbst.

32 Maǧāz I, S. 3. 33 Siehe z. B. Graham/Kermani, „Recitation and Aesthetic Reception“, in: The Cambridge Companion to the Qurʾān, hg. von Jane MacAuliffe, Cambridge 2007, S. 115–144. 34 Auch in dem ersten (etymologischen) Wörterbuch, dem Kitāb al-ʿAin ist die Bedeutung der Wurzel q-r-ʾ zuerst mit „Sammeln“, „Vereinen“ verzeichnet, bevor an dritter Stelle das rezitatorische Lesen genannt wird. 35 Angelika Neuwirth, Der Koran. Frühmekkanische Suren. Poetische Prophetie, Berlin 2012, S. 243. 36 Offen bleibt im koranischen Kontext, worauf sich das Personalpronomen -hu in bihi, ǧamāʿahu, qurʾānahu und bayānahu (Vers 19) bezieht. Angelika Neuwirth interpretiert dies als „ein freischwebendes Personalpronomen […], das wie zumeist auf al-qurʾān im Sinne von „das Wort Gottes“ zielt.“ (Neuwirth, Frühmekkanische Suren, S. 243.)

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

Welche Rolle spielt dabei (noch) der kommunikative Verkündigungskontext der Verse? Abū ʿUbaida ist nicht um die Differenzierung des Sprechers der zitierten Verse von dem durch sie (ursprünglich) angesprochenen Adressaten besorgt, sondern er scheint von einem göttlichen Sprecher auszugehen, der einen unspezifischen Hörer adressiert. In seinen Erläuterungen zu den Versen 75:17 (inna ʿalainā ǧamʿahu wa-qurʾānahu) und 18 (fa-iḏā qaraʾnāhu fa-ṭ-ṭabiʿ qurʾānahu) spielt das Verhältnis des Begriffes qurʾān zu dem folgenden Personalpronomen -hu keine Rolle, da die Bestimmung des Begriffs keine Unterscheidung des Aktes des Sammelns (qurʾān) von dessen Ergebnis (qurʾān) vorsieht. Ein externer Handlungsträger, ein kompilierendes, vereinendes oder vortragendes Subjekt wird lediglich indirekt durch Beibringung eines weiteren Verszitats angesprochen: wa-fī āyatin uḫrā iḏā qaraʾta l-qurʾāna (16:98), maǧāzuhu: iḏā talauta baʿḍahu fī aṯari baʿḍin, ḥattā yaǧtamiʿa wa-yanḍamma baʿḍuhu ilā baʿḍin, wa-maʿnāhu yaṣīru ilā maʿnā t-taʾlīfi wa l-ǧamʿi. 37 Und ein anderer Vers Wenn du den Koran vorträgst (16:98) hat die Bedeutung: Wenn du dem einen auf der Spur (in Abhängigkeit) des anderen folgst, bis sich das eine mit dem anderen zusammenfügt, dann erhält es die Bedeutung (maʿnā) des Zusammenfügens und Sammelns.

Nun scheint es nicht Gott, sondern der Leser/Hörer selbst zu sein, der mit der Aufgabe der Vereinigung der Teile der Verkündigung betraut ist. Abū ʿUbaida unterscheidet nicht zwischen dem konkret objektreferenziellen Namen qurʾān, dem Textkorpus qurʾān und der Handlung des „Sammelns und Vereinens“ bzw. der Rezitation des Textes, sondern der materielle Text und seine rituelle Verwirklichung sind aus Sicht des Philologen identisch. 38 Auch die Analogie des Korpus qurʾān mit dem wachsenden Embryo in Abū ʿUbaidas Argument wertet das Medium der Sprache als existenzentscheidend auf. Der Akzent in Abū ʿUbaidas Argumentation scheint allerdings auf einem Plädoyer für die von James Kugel als zweite Prämisse antiker Bibelexegese artikulierte Widerspruchsfreiheit der einzelnen Teile des Korantextes zu liegen. Auch hinsichtlich der Beschreibung des Kommentars als „explikativer Interpretation“ ist diese Beobachtung aufschlussreich. Die „applikative“ Interpretation würde eine Diskrepanz zwischen Textwelt und gelebter Wirklichkeit voraussetzen. 37 Maǧāz I, S. 3. 38 Eine Generation später soll Abū ʿUbaid als erster die Überlegung angestellt haben, die Rezitation (al-qirāʾa) und der Gegenstand der Lesung (al-qurʾān) seien identisch. Bei der gelehrten — auch philologischen — Debatte um die Ewigkeit oder Erschaffenheit des Korans sollte diese Identifikation von Korpus und Lesung wenig später sehr kontrovers und mit dogmatischer und religionspolitischer Virulenz diskutiert werden. Siehe zur philologischen Überlegung Gérard Lecomte, Ibn Qutaiba — l’homme, son œuvre, ses idées, Damaskus 1965, S. 226. Und zu den theologischen Implikationen Josef van Ess, „Verbal Inspiration? Language and revelation in classical Islamic theology“, in: The Qurʾān as Text, hg. von Stefan Wild, Leiden 1996, S. 177–194.

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Die Bedeutungen des Textes würden mittels Exegese in eine jeweils aktuelle Lebenswirklichkeit übersetzt. Dahingegen besteht — wie vor allem Norman Calder hervorgehoben hat — der Sinn (philologie)exegetischer Anstrengung gerade nicht darin, ein Urteil über die Bedeutung(en) zu fällen, sondern vielmehr in einem Nachvollzug der Komposition des Textes. Sinai hatte der rabbinischen und islamischen Exegese aus ähnlichen Gründen eine grundsätzliche Lebensferne attestiert und sich damit vor allem gegenüber dem Kanonbegriff Jan Assmanns profiliert. 39 Dieser hatte das kanonische Moment eines Textes auch über die lebensrelevante Ausdeutung zu bestimmen versucht, die allerdings in weiten Teilen der jüdischen und islamischen Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel und dem Koran fehlt. Durch das Stichwort der Lebensferne des in der Philologie entwickelten Textbegriffs sind wir — ebenso wie durch das beschriebene Spannungsfeld von organischer Ganzheitlichkeit und gliedernder Differenz — an das mit dem platonischen Textbegriff angesprochene Diktum der Harmonizität des logos erinnert, der frei von Redeabsichten und anderen weltlichen Kontexten zu sein habe. 40 Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass der von Abū ʿUbaida entwickelte Textbegriff die Notwendigkeit der (rituellen) Realisierung des Textes einschließt. Bereits die hier dargestellten Text‌teile aus der Einleitung des Maǧāz zeigen an, dass Abū ʿUbaida keine „Umsetzung von Text in Leben“ inform einer politischen, ethischen, juristischen Ausdeutung des Textes und dessen Applikation auf gelebte Wirklichkeit anstrebt. Trotz des Postulats der strukturellen Harmonizität und Vollkommenheit des Korans (entsprechend dem philosophischen logos-Begriff) möchte Abū ʿUbaida den Koran jedoch nicht als „lebensfernen“ Text installieren, sondern er scheint im Gegenteil von einer existenziellen Verschränkung von Text und Leben auszugehen. Überspitzt ausgedrückt ist es nicht der Text, der dem Leser bei dessen Lebensführung hilft, sondern der Rezipient des Textes, der durch dessen Rezitation und Vergegenwärtigung seiner (vollkommenen) Struktur dazu angehalten ist, den Text „am Leben zu halten“, indem er dessen Gesetzmäßigkeiten akzeptiert, internalisiert und sie sich „zu eigen macht“.

39 Siehe Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 16. 40 Platon hatte die Rede mit der Funktion der Belehrung über philosophische Wahrheiten (logos) mit einem Lebewesen (zoon) verglichen, das seinen „eigenen Leib ha[t], so dass sie weder ohne Kopf noch ohne Füße, sondern Mitten und Enden hat, die so geschrieben sind, dass sie zueinander und zum Ganzen in einem passenden Verhältnis stehen.“ (Platon, Phaidros, hg. und übers. von Wolfgang Buchwald, München 1964, S. 111) Die natürliche Proportionalität und Abgeschlossenheit des logos schlägt sich bei Platon nieder in der Forderung nach einer Rede bzw. einem Text, der „frei“ ist von empirischen Kontexten, d. h. von der Erwartung eines Hörers und der Meinung des Sprechers. Diese Meinungen und Erwartungen könnten — so Sokrates im Phaidrosdialog — auf falschen Prämissen beruhen und in die Irre führen, weshalb philosophisches Wissen die Grundlage der Rhetorik darstellen müsse.

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

Teil und Ganzes Abū ʿUbaida setzt mit einer Beschreibung der Untergattungen des Korans, der Suren und Verse fort: wa-l-āyatu mina l-qurʾāni: innamā summiyat āyatan li-annahā kalāmun muttaṣilun ilā nqiṭāʿihi. maʿnāhu qiṣṣatun ṯumma qiṣṣatun, wa-li-suwari l-qurʾāni asmāʾun: fa-min ḏālika anna „al-ḥamdu li-llāhi“ tusammā „umma l-kitābi“, li-annahu yubdaʾu bihā fī auwali l-qurʾāni wa-tuʿādu qirāʾatuhā fa-yuqraʾu bihā fī kulli rakʿatin qabla s-sūrati, wa-lahā smun āḫaru yuqālu lahā: „Fātiḥatu l-kitābi“ li-annahu yuftataḥu bihā fī-lmaṣāḥifi fa-tuktabu qabla l-qurʾāni. 41 Der Vers des Korans: Er heißt deswegen Vers (oder Zeichen), weil er eine verbundene Rede darstellt, bis zu seiner Unterbrechung (d. h. Pausa oder Versenden). Erzählung nach Erzählung. Auch die Suren des Korans haben Namen: Deshalb heißt al-ḥamdu li-llāh die ‚Mutter der Schrift‘, weil man mit ihr die Koranrezitation beginnt und weil ihre Rezitation vor jeder weiteren Sure wiederholt wird. Sie hat einen weiteren Namen: die die Schrift Eröffnende, weil mit ihr die Koranexemplare eröffnet werden und sie vor dem Koran geschrieben steht.

Die besondere Erwähnung der Fātiḥa mit der Funktion der Eröffnung des Gebets und der Rezitation führt uns von der allgemein lexikalischen Bestimmung des Begriffs qurʾān zur spezifischen Bestimmung seiner Textgestalt. Diese scheint für Abū ʿUbaida vor allem in einem Moment der Praktizierung zu bestehen. Die Eröffnungssure etwa ist zum einen Eingangstext der schriftlichen Textvorlage (maṣāḥif); zum anderen kommt ihr eine zentrale Rolle in der Rezitation und im Gebet zu. Interessant ist vor allem die Formulierung „Sie [die Fātiḥa] steht vor dem Koran geschrieben“, welche eine Differenzierung der formal und funktional tatsächlich einzigartigen ersten Sure von der Gesamtheit des übrigen Textkorpus zu suggerieren scheint. 42 Im Folgenden werden unterschiedliche Segmente und Textgruppen im Korantext aufgelistet. Die erste dieser Textgruppen sind die miʾūn, die auch „die sieben Langen“ (as-sabʿ aṭ-ṭiwāl) genannt werden. Sie bezeichnen die Suren zwei bis sieben und neun, die mehr als einhundert Verse beinhalten. Die zweite Textsorte, die Abū ʿUbaida namentlich hervorhebt, ist die Bezeichnung der beiden Verse 109:1 und 112:1 als „die zwei Feienden“ 43 (al-muqašqišatān), weil durch sie eine Befreiung „vom Unglauben und Zweifel und von der Heuchelei“ bewirkt werde. 44 Die Intention dieser Spezifizierung der Benennung von Textsorten innerhalb des Korpus Qurʾān wird deutlicher, wenn wir schließlich die ‚Schüttelreime‘ hinzuziehen, 41 Maǧāz I, S. 5f. 42 Siehe die ausführliche Diskussion der Funktion der Fātiḥa und ihrem Verhältnis zum Rest des Korantextes in Neuwirth, „Referentiality and Textuality in Sūrat al-Ḥijr. Some Observations on the Qurʾānic ‘Canonical Process’ and the Emergence of a Community“, in: Literary Structures of Religious Meaning in the Qurʾān, hg. von Issa J. Boullata, Routledge 2000, S. 162ff. 43 So übersetzt Tilman Nagel, Der Koran. Einführungen, Texte, Erläuterungen, München 1991, S. 29. 44 Maǧāz I, S. 6.

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die in der Einleitung folgen. Anders als die überwiegende Zahl der poetischen Verse, die im Kommentar der Authentifizierung von Argumenten dienen, werden diese Verse anonym zitiert: ḥalaftu bi-s-sabʿi llawātī ṭuwwilat // wa bi-miʾīna baʿdahā qad umʾiyat wa-bi-maṯānin ṯunniyat fa-kurrirat // wa-bi-ṭ-ṭawāsīni llatī qad ṯulliṯat wa-bi-l-ḥawāmīmi llawātī subbiʿat // wa-bi-l-mufaṣṣali llawātī fuṣṣilat 45 Ich schwöre bei den sieben, die sich längen // und bei den Hundertern, die sich hundern und bei den oft wiederholten, die doppelt sind und wiederkehren // und bei den ṭawāsīn, die sich dreien und bei den ḥawāmīm, die sich siebenen // und bei den kurzen Suren, die in kurzen Abschnitten vorliegen.

Das Gedicht enthält mehrere ästhetisierte „Gattungsbegriffe“, die in Reimpaaren einzelne Charakteristika koranischer Textformen kennzeichnen. Die ṭawāsīn, nämlich diejenigen Suren, denen die Buchstaben ṭā-sīn 46 bzw. ṭā-sīn-mīm 47 vorangestellt sind, „dreien sich“ (ṯulliṯat), während die ḥawāmīm sich „siebenen“, denn es sind sieben Suren, die mit den Buchstaben ḥā-mīm überschrieben sind 48 und deren Interrelation durch die subsumptive Benennung einer Textgruppe suggeriert wird. Ebenso werden die „sieben langen“, nämlich jene Suren, die mehr als einhundert Verse enthalten, als „sich längend“ bzw. „sich hundernd“ aufgegriffen. Durch eine solche Ästhetisierung koranischer ‚Gattungsbegriffe‘, die im ausgehenden 8. Jahrhundert vermutlich noch neu waren, 49 wird auch deren Einprägung erleichtert. Bei allen benannten Textsorten steht die Wiedererkennung formaler Ähnlichkeiten im Vordergrund. Vergleichbar mit der Anbringung masoretischer Kennzeichnungen im schriftlichen Text, dient die Benennung von Surengruppen mit formalen, an quantitativen Gesetzmäßigkeiten orientierten Charakteristika aller Wahrscheinlichkeit nach der kontemplativen Vergegenwärtigung der Struktur des Korantextes während des mündlichen Vortrags. Die Formkriterien wären demzufolge eine mnemotechnische Hilfe bei der Einprägung und rezitatorischen Wiedergabe des Korans. 50 Die Grenze des Korans Wo verläuft nun die Grenze zwischen dem als organische Einheit und durch die Dialektik zwischen Teil und Ganzem hermeneutisch integeren Text zu seinem Kontext? 45 Maǧāz I, S. 7. 46 Q 27. 47 Q 26 und Q 28. 48 Q 40, Q 41, Q 43, Q 44, Q 45 und Q 46. 49 Eine erste Beschäftigung mit koranischen Formkriterien stellen vielleicht die mutašābihāt-Sammlungen dar. Vgl. die Argumentation von Dayeh, „Meccan Surahs“, S. 470. 50 Siehe ausführlicher unten, S. 160-162.

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Eine Abgrenzung erfolgt über die Sprache des Korans, das Arabische. Sehen wir uns zunächst den einschlägigen Abschnitt aus der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān an, um Abū ʿUbaidas Sicht auf die Sprache des Korans zu skizzieren: Man sagt: Der Koran wurde in klarem Arabisch herabgesandt. Die Bestätigung dafür enthält ein Vers des Korans. 51 In einem anderen heißt es: Wir entsandten keinen Gesandten außer mit der Sprache seines Volkes. (14:4) Die Altvorderen (salaf) und diejenigen, die die Offenbarung (waḥy) erreichte, bedurften des Propheten nicht, so dass sie ihn nach ihrer Bedeutung gefragt hätten, weil sie Arabisch sprachen. Aufgrund ihres Wissens von ihr (der Offenbarung) bedurften sie nicht der Nachfrage nach ihren Bedeutungen und nach dem, was darin ist von der Sprache der Araber an Variationenen (wuǧūh) und knappem Ausdruck (talḫīṣ). Der Koran enthält was in der arabischen Sprache an Flektion 52 (wuǧūh al-iʿrāb) und an Schwerverständlichem (ġarīb) 53 und Bedeutungsschattierungen 54 (maʿānī) enthalten ist. 55

Abū ʿUbaida postuliert also — im Gegensatz zu den meisten modernen Koranwissenschaftlern — eine Identität der Sprache des Propheten mit der Sprache des Korans. 56 Für die ersten Hörer Muḥammads sei die gesamte Verkündigung verständlich gewesen, weil Gott die Araber in ihrer eigenen Sprache adressierte. Es ist jedoch wichtig, die Einbettung dieses Arguments, mit dem Abū ʿUbaida vor allem in der modernen Orientwissenschaft Karriere gemacht hat, 57 in den Kontext der Einleitung von Maǧāz al-Qurʾān zu berücksichtigen. Die Passage beginnt mit dem Hinweis auf die deutliche Verständlichkeit der arabischen Sprache, auf die auch bereits in mehreren Versen des Korans insistiert wird, freilich ohne unmissverständlich auszusprechen, worin die „Deutlichkeit“ oder „klare Verständlichkeit“ der koranischen Botschaft bestünde. 58 Bezeichnenderweise wählt Abū ʿUbaida jedoch nicht einen der Verse, die die Deutlichkeit der Sprache oder Schrift an sich in den Vordergrund stellen, sondern den Vers 14:4, der die Übereinstimmung der Sprache des Propheten mit der Sprache der an ihn adressierten Offenbarung betont. Das Argument der deutlichen Verständlichkeit ist für Abū ʿUbaida ein Argument für die unmittelbare, 51 Gemeint ist vermutlich Q 12:2 („Wir haben sie (die Schrift) als eine arabische Lesung (qurʾānan ʿarabīyan) herabgesandt“). Siehe die Parallelstellen bei Paret, Kommentar und Konkordanz, S. 246. 52 Flektion an den Wortenden, d. h. sowohl die Deklination von Nomen (Kasusendungen) als auch die Konjugation von Verben umfassend. 53 Normalerweise „schwierige Ausdrücke“ bzw. „erklärungsbedürftige Wörter“. 54 Almagor übersetzt: „shades of meaning“ („Early Meaning of Majāz“, S. 309). Aufgrund des syntaktischen Parallelismus und angesichts der Bedeutung des maʿnā-Begriffs in den zeitgenössischen Maʿānī al-Qurʾān-Werken, vermute ich, dass der springende Punkt hier eigentlich die Gegenüberstellung von schwer verständlichen, ungebräuchlichen Begriffen (ġarīb) und offenbaren, leicht zugänglichen Bedeutungen (maʿānī) ist. 55 Maǧāz I, S. 8. 56 Siehe hierzu auch die Zusammenfassung von Mustafah Shah in „Introduction“, S. 13. 57 Almagor („Early Meaning of Majāz“, S. 310), Gilliot („Kontinuität und Wandel“, S. 19) und Rippin (Eintr. „Foreign Vocabulary“, S. 229) stellen hauptsächlich auf dieses Argument ab. 58 Siehe Q 12:2, Q 41:44, Q 43:3.

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spontane Verständlichkeit, die präzise Ansprache des Propheten und seiner Hörer in ihrer eigenen Sprache, nicht eine Aussage über die Überlegenheit der arabischen Sprache oder das theologische Diktum der Deutlichkeit göttlicher Rede (des logos) an sich. Die resultierende Behauptung, die Zeitgenossen des Propheten hätten der Erklärung des Korans nicht bedurft, liefert zudem einen Hinweis auf das Selbstverständnis des Auslegers. Erst durch den historischen Abstand zur Offenbarung und zur Verkündigung der Verse, wird exegetisches Eingreifen erforderlich. Das „richtige Verstehen“ wird — wie für literale Interpretationen typisch 59 — in dem Verstehen eines ursprünglich adressierten Hörerpublikums veranschlagt. Es ist wert zu betonen, dass erst nach den Erklärungen über Surengruppen und die Struktur des Korans die sehr viel bekannteren Annahmen des Philologen über das unmittelbare, spontane Verständnis des Propheten der im ‚Buch Gottes‘ still gestellten Sendung folgen. Abū ʿUbaidas Auf‌fassung, dass die ersten Hörer des Korans die an sie ergangene Offenbarung vollauf verstanden haben, ist wohl am ehesten mit der mit dem tannaitischen Rabbinen Rabbi Jischmael und seiner Schule assoziierten Annahme vergleichbar, dass die Tora die Sprache der Menschen spricht 60 und dieselben Stilmittel enthält wie diese. 61 Auch Rabbi Jischmaels Folgerung, ungewöhnliche sprachliche Formen in der Tora nicht überzubewerten, 62 ist für Abū ʿUbaidas Umgang mit den maǧāzāt erhellend. Die grammatischen oder stilistischen ‚Anomalien‘ im Koran verdienen zwar — in Abū ʿUbaidas Einleitung — eine eigene Behandlung, indem sie einzeln aufgefächert und typologisiert werden, im Kommentar selbst werden — vermutlich aufgrund des postulierten Kommunikationscharakters des Korans in der Sprache des Propheten — keine weitreichenden Schlüsse hinsichtlich der poetischen, ästhetischen, rhetorischen etc. Funktion dieser Sonderformen gezogen. Die maǧāzāt in Abū ­ʿUbaidas Kommentar sind Formen der gewöhnlichen „Sprache der Menschen“ — keine „Tropen“, die einen besonderen hermeneutischen Zugang erforderten. Rabbi Jischmaels Hermeneutik der „einfachen“ Bibellektüre wird oft mit der seines Zeitgenossen Rabbi Aqiba kontrastiert, der die Forderung formulierte, man solle jeder stilistischen oder schriftspezifischen Eigenart der Tora eine Bedeutung abgewinnen. 63 Ganz ähnlich scheint Abū ʿUbaida bewusst Abstand von exklusiven, ‚esoterischen‘ Interpretationsweisen zu nehmen. Trotzdem wird die Arabizität des Korans von Abū ʿUbaida nicht als ein beliebiges sprachliches Charakteristikum aufgefasst. So

59 Siehe Kapitel 2.3 ab S. 52: Der Kontrast zur Allegorese wird in diesem Punkt besonders deutlich, wenn wir Abū ʿUbaida dem Kirchenvater Origenes gegenüberstellen, der den Bedeutungspluralismus der heiligen Schrift gerade dadurch begründet sah, dass der Hörerkontext des Evangeliums sich verändert habe. Siehe Christoph Markschies, Origenes und sein Erbe. Gesammelte Studien, Berlin 2006, S. 8. 60 Sifre Num § 112, H. 121. 61 Ebd. Vgl. auch Stemberger, Midrasch, S. 25. 62 Ebd. 63 Ebd.

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liegt dem Philologen am Herzen, dass kein einziges Wort des Korans einer fremden Sprache entstammt. Nazala l-Qurʾānu bi-lisānin ʿarabīyin mubīnin, fa-man zaʿama anna fīhi ġaira l­ -ʿarabīyati fa-qad aʿẓama l-qaula, […] wa-qad yuwāfiqu l-lafẓu l-lafẓa wa-yuqāribuhu maʿnāhumā wāḥidun, wa-aḥaduhumā bi l-ʿarabīyati wa-l-āḫaru bi-l-fārisīyati au ġairihā. 64 Der Koran ist in klarer arabischer Sprache herabgekommen; wer aber behauptet, dass in ihm etwas anderes als Arabisch enthalten sei, spricht Ungeheuerliches. […] Der eine Ausdruck mag dem anderen entsprechen und formal ähneln, wobei die Bedeutung beider dieselbe ist, und zwar der eine auf Arabisch und der andere auf Persisch oder einer anderen Sprache.

Abū ʿUbaidas Plädoyer für die reine Arabischsprachigkeit des Korans richtet sich zunächst gegen die Behauptung des Vorhandenseins von Wörtern anderer Sprachen, wie etwa dem Persischen. Der Philologe weist darauf hin, dass der Gleichklang von Begriffen in unterschiedlichen Sprachen nicht deren Verwandtschaftsverhältnis beweist, sondern dass ungewöhnliche Begriffe — Abū ʿUbaida nennt etwa die „geheimnisvollen Buchstaben“ ṭā-hā, über deren nabatäischen Ursprung gemutmaßt worden sein muss 65 — in den unterschiedlichen Sprachen einander zwar ähneln können, diese aber trotzdem rein arabisch seien. Spätere arabische Theologen und Rhetoriker 66 führten — vermutlich aufgrund dieser strikten Begrenzung des Korans auf die arabische Sprache — die Lehre der Unnachahmlichkeit des Korans (iʿǧāz) auf Abū ʿUbaida zurück. Das Insistieren auf die Sprache des Korans als reinem Arabisch stellt nach der Meinung von Andrew Rippin und anderen 67 eine frühe Auseinandersetzung mit der Begründung seiner Superiorität dar und bereite das Postulat seiner „Unnachahmlichkeit“ vor. 68 „To the early philologist Abū ʿUbayda is ascribed the statement, who suggests there is 64 Maǧāz I, S. 17. 65 Andrew Rippin, „Foreign Vocabulary“, in: EQ, Bd. 2, S. 226f. 66 Siehe Jeffery, Foreign Vocabulary, S. 5: „It is clear that in the earliest circle of exegetes it was fully recognized and frankly admitted that there were numerous foreign words in the Qurʾān. Only a little later, however, when the dogma of the eternal nature of the Qurʾān was being elaborated, this was as strenuously denied, so that al-Jawāliqī can quote on the other side the statement of Abū ʿUbayda as given by al-Ḥasan: ‘I heard Abū ʿUbayda say that whoever pretends that there is in the Qurʾān anything other than the Arabic tongue has made a serious charge against God’, and he quoted the verse ‘Verily we have made it an Arabic Qurʾān.’ The question is discussed by many Muslim writers, and is excellently summarized by as-Suyūṭī in the introduction to his treatise Al-Muhadhdhab, and further in chap. xxxviii of his Itqān (Calcutta ed., pp. 314–326).“ 67 Gilliot scheint Rippins Interpretation wiederzugeben, wenn er deklariert: „His (Abū ʿUbayda’s) aim is not, however, purely literary but includes searches for literary evidence to demonstrate the then-nascent notion of the miraculous character of the Qurʾān, which became a full doctrine only in the fourth/tenth century.“ („Exegesis of the Qurʾān“, in: EQ, Bd. 2, S. 105) 68 Siehe Rippin, „Foreign Vocabulary“, in: EQ, Bd. 2, S. 229.

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anything other than the Arabic language in the Qurʾān has made a serious charge against God.“ 69 Eine explizite Verbindung von arabischer Sprache und der Authentizität der Offenbarung ist in Abū ʿUbaidas Werk selbst allerdings nicht nachvollziehbar. Zweifellos geht Abū ʿUbaida davon aus, dass der gesamte Koran die durch den Propheten vermittelte Rede Gottes darstellt. Die Divinität des Textes und dessen Arabischsprachigkeit sind allerdings verschiedene Argumente, die erst die spätere Tradition miteinander identifiziert und diese Identifikation mit Abū ʿUbaidas Hermeneutik in Verbindung gebracht hat. Die Dichtung als Konnektion Ehe wir unten das Verhältnis von Koran und Dichtung im philologischen Korankommentar näher zu beschreiben versuchen und auch die poetischen Belegverse in Abū ʿUbaidas Kommentar selbst untersuchen, möchte ich hier zunächst eine Arbeitshypothese bezüglich des (kanonischen) Korans vorschlagen, für die der von Nicolai Sinai beschriebene Begriff der „Konnektion“ aufgegriffen werden soll: Texte im Stadium entstehender Kanonizität attrahieren (oder generieren) für die Gemeindeidentität konstitutive Vorstellungen und Werte bzw. werden gezielt mit diesen verknüpft; darin — und nicht notwendigerweise in ihrer praktischen ‚Applikation‘ — besteht ihre gemeindliche Relevanz. 70

Die altarabische Dichtung stellt für das Herkunftsmilieu des Korans und auch noch während der Entstehungszeit der arabischen Philologie zweifellos ein Medium „konstitutiver Vorstellungen und Werte“ dar, dessen Relevanz für die koranische Entstehungsgeschichte selbst vielerorts unterstrichen wurde. 71 Im Übergang von der vorislamischen zur islamischen Gesellschaft hat die Dichtung einen Transfer von dem wichtigsten öffentlichen Kommunikationsmedium und intellektuellen Ausdrucksmittel in ein „Archiv“ der Vergangenheit durchgemacht, welches zum abbasidischen Entwurf einer arabischen ethnischen Identität beitrug. 72 Dieser Transfer der Dichtung kann selbst mit den Begriffen der Kanonbildung beschrieben werden. Zwar wird während des 8. und 9. Jahrhunderts weiterhin in arabischer Sprache und nach altarabischer Tradition gedichtet, doch die neue Berufsgruppe der Literaturkritiker trägt — etwa durch Differenzierungen von „alten“ und „neuen“ Dichtern und der Einführung von wissenschaftlichen Kriterien zur Beurteilung der Dichtung 73 — dazu 69 Rippin, „Foreign Vocabulary“, in: EQ, Bd. 2, S. 229. 70 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 19. 71 Siehe Bauer, „The Relevance of Early Arabic Poetry“; Georges Tamer, Zeit und Gott. Hellenistische Zeitvorstellungen in der altarabischen Dichtung und im Koran, Berlin 2008. 72 Siehe Rina Drory, „The Abbasid Construction of the Jahiliyya. Cultural Authority in the Making“, in: Studia Islamica, Leiden 1996, S. 38–49. 73 Vgl. Behzadi, Sprache und Verstehen, S. 9–21.

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

bei, dass ein Korpus der Gedichte der altarabischen „Meister“ (fuḥūl) allmählich geschlossen wird. 74 Während in der Lexikographie und Grammatik des 8. Jahrhunderts Verse der Dichtung als ‚Quellen‘ zur Beschreibung und Erläuterung des altarabischen Wortschatzes bereits beigebracht wurden, war Abū ʿUbaida vermutlich der erste Koranphilologe, der beide Textsorten (Koran und Dichtung) in seinem Kommentar aufeinander bezog. Entgegen der Beschäftigung mit historischen asbāb stellt die Kontextualisierung des Korans mit der Dichtung keine primär historische Rahmung des Korantextes, sondern die Verknüpfung zweier bis dato parallel zueinander verlaufender, wenn auch inhaltlich und stilistisch vielfach aufeinander bezogener 75 Textströme 76 dar. Die philologische Erarbeitung des Korans mit Hilfe der arabischen Dichtung ist daher nicht nur eine „Applikation“ der Dichtung zum besseren Verständnis des ‚Primärtextes‘ Koran, sondern auch eine mit dem Stichwort der „Konnektion“ beschreibbare Konfrontation des Korans mit einem überkommenen und konstruierten „Archiv“ des in der Poesie verwahrten Wissens in arabischer Sprache. Die von Abū ʿUbaida isoliert zitierten und inhaltlich kaum gedeuteten Verse der Dichtung haben vermutlich nicht nur den Zweck, ein besseres Verständnis einzelner Worte und Satzkonstruktionen im Koran zu garantieren, sondern sie dienen — neben der, aus der Lexikographie und Grammatik bekannten Methode der Illustration des Wortschatzes — der Kontextualisierung des Korans mit der prominentesten Literaturgattung der Zeit. Die Option für die arabische Dichtung (und andere Überlieferungen zur Lebensweise während der Prophetenzeit) ist allerdings nicht folgenlos. Denn die Dichtung schleppt neben dem informativen Gehalt über den (vermuteten) Wortschatz und die sprachlichen Stilformen der Araber vor dem Islam ihre eigenen ‚Mythen‘ und eine eigene, dem Koran gegenüber stehende Weltanschauung mit. Abū ʿUbaidas Methode der Beibringung von Belegstellen aus der Dichtung zur Verifizierung/Authentifizierung seiner Interpretation stellt insofern vielleicht am ehesten eine Alternative zu den narrativen Exegeseformen dar, die Rückgriffe auf (gleichfalls mythische) Erzählstoffe der qiṣaṣ al-anbiyāʾ oder isrāʾīlīyāt gemacht hatten. Da die Verse der Dichtung im philologischen Korankommentar ebenso wie die Verse des Korans lediglich lexikalisch interpretiert werden und sie insofern ebenso lebensfern bleiben, ist die Innovation Abū ʿUbaidas weniger in der Überschreitung der Grenze zwischen ‚profaner‘ und ‚sakraler‘ Literatur und Sprache als in der Konfrontation des Offenbarungszeugnisses mit einer als Mythos bzw. kulturellem Archetypus fungierender Literatur zu suchen.

74 Behzadi, Sprache und Verstehen, S. 9–21. 75 Siehe Bauers These der Relevanz der altarabischen Dichtung für den Koran in Form „negativer Intertextualität“, in: „The Relevance of Early Arabic Poetry“, S. 704ff. 76 Jan Assmann spricht von dem „Strom der Traditionen“ (Das kulturelle Gedächtnis, S. 91ff.).

Textbegriff des Qurʾān in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān

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Rede oder Schrift Gottes? In der Einleitung zu Abū ʿUbaidas Korankommentar ist explizit nicht von der Rede Gottes, sondern vom Buch oder der Schrift Gottes die Rede: Al-Qurʾānu smu kitābi llāhi ḫāṣṣatan. 77 Im Hinblick auf die Frage nach dem Status des Korans in den Augen des Philologen kann diese Beobachtung kaum überschätzt werden. Bereits in den verschiedenen als „selbst-referenziell“ charakterisierten Versen des Korans stellt sich das Verhältnis zwischen dem Medium der Offenbarung, der Verkündigung und Rezitation (qurʾān) und dem autoritativen Textkorpus (kitāb) keinesfalls als das einer einfachen Synonymie dar. 78 Mit Recht wurden die beiden Begriffe in den vergangenen Jahren mehrfach Gegenstand philologischer Untersuchungen. Daniel Madigan hob in seinem Buch The Qurʾān Self-Image vorwiegend auf die selbstbezüglichen Charakterisierungen als kitāb oder qurʾān ab und verwies darauf, dass in den meisten Versen, in denen von einem kitāb die Rede ist, das Substantiv nicht auf ein geoffenbartes Schriftkorpus bezogen ist. 79 Nicolai Sinai erweiterte in seinem einschlägigen Aufsatz über den Begriff des kitāb Madigans Ergebnisse um das chronologische Moment. 80 Kitāb bezeichnet im Koran nicht vorrangig ein Korpus der an den Propheten ergangenen Offenbarungstexte, da ein solches während des Verkündigungsprozesses nicht vorlag. Contrary to the traditional Islamic identification of both terms, in some middle and late Meccan texts kitāb and qurʾān are actually kept carefully distinct. Even though qurʾān from a certain stage on can refer to the corpus of recitations that have so far been revealed — a corpus, though that has not yet reached closure —, it frequently specifies merely the characteristic mode of display in which al-kitāb is being delivered unto and by Muhammad. 81

Bis zu Abū ʿUbaidas Schaffenszeit werden die beiden Begriffe qurʾān und kitāb zunehmend synonym verwendet, da die unter Berücksichtigung der Chronologie der Verkündigung zwar erkennbare Differenz von kommunikativer Manifestation und kanonischem Korpus im Medium der Schrift nicht mehr zu den vordergründigen Fragen der Gläubigen und Gelehrten im 8. und 9. Jahrhundert gehörte und nun vor allem die Schrift als Gabe Gottes an die Menschen bzw. die muslimische Glaubensgemeinschaft als wichtig anerkannt wurde, hinter der das Ereignis und die Geschichte der Verkündigung zurücktrat.

77 Maǧāz I, S. 1. 78 Siehe Neuwirth, Text der Spätantike, S. 120ff. 79 Daniel Madigan, Eintr. „book“, in: EQ, Bd. 1, S. 244. 80 Madigan hatte die „semantischen Felder“ der Begriffe kitāb und qurʾān untersucht, ohne die Entwicklung ihrer Bedeutung im Prozess der Verkündigung zu verfolgen. Siehe Madigan, The Qurʾān’s Self-Image. 81 Nicolai Sinai, „Qurʾānic self-referentiality as a strategy of self-authorization“, in: Self-referentiality in the Qurʾān, hg. von Stefan Wild, Wiesbaden 2006, S. 120.

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

Trotzdem ist auch in den Werken früher Kommentatoren, die den Koran in Form eines Buches vorliegen hatten, eine synonyme Verwendung von kitāb und qurʾān nicht immer selbstverständlich. Der komplexen Beziehung zwischen dem Ereignis der Offenbarung, ihrer göttlichen Quelle und ihrem Ergebnis im für die Glaubenspraxis und das Selbstverständnis der islamischen Gemeinde konstitutiven Textkorpus wird sich nun von anderer Seite genähert. Es sind zunehmend philosophische und theologische Fragen, die gelöst werden müssen. Madigan benennt „vier Phasen“ der komplizierten Beziehungen, auf die sich einzulassen der Status des Korans als „Gottes Rede“ (kalām allāh) und autoritative Schrift den Gläubigen abverlangt: die Beziehung zwischen Gott selbst und Gottes Sprechen; sodann die Beziehung zwischen dem Sprechen Gottes und dem prä-existenten (also dem schon immer, das heißt schon vor seiner Niederschrift existierenden) Koran; ferner die Beziehung zwischen dem prä-existenten Koran und dem eigentlichen, offenbarten Koran; und schließlich die Beziehung des Wortes Gottes zu dem nun niedergeschriebenen und rezitierten Koran. 82

In Exegese und Theologie haben sich islamische Gelehrte um die Entwirrung des von Madigan skizzierten Beziehungsgeflechts bemüht. Auch während Abū ʿUbaidas Lebenszeit sind die sprachliche Verfasstheit, die Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit der Verkündigung und der transzendente Ursprung des Korans diskutiert worden. 83 Trotzdem spielen diese oft politisch begründeten und doktrinär verfochtenen Diskussionen für die Bestimmung dessen, was Abū ʿUbaida unter al-Qurʾān versteht, keine erkennbare Rolle. Der Unterschied zwischen einem „Lektionar“ des Korans und einem schriftlich, in der Transzendenz oder im Kanon fixierten kitāb wird durch die erste Definition: Al-Qurʾānu smu kitābi llāhi ḫāṣṣatan scheinbar nivelliert. Auch im Kommentar selbst lässt Abū ʿUbaida die Themen der Natur der Offenbarung — etwa wiederkehrende Hinweise auf die „wohlverwahrte Tafel“ (al-lauḥ al-maḥfūẓ) 84 oder den Hinweis auf eine „Mutter der Schrift“ (umm al-kitāb) 85 — unbeachtet. Für mögliche mythische oder philosophische Begründungen von Offenbarung scheint der Philologe sich nicht zu interessieren. Im Gegenteil: Die Begründung der Bedeutung von qurʾān über die Etymologie der Wurzel könnte als bewusste Entmythisierung des Textgegenstands bzw. eine bewusste Beschränkung auf formale, ‚äußerliche‘ Aspekte des Textes gedeutet werden. 86 Mehrere Beispiele aus dem 82 Daniel Madigan, „Gottes Botschaft an die Welt: Christen und Muslime, Jesus und der Koran“, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio, hg. von Anton Schmid u. a, Ostfildern 2003, S. 103. 83 Der Theologe Ibn Kullāb, aber auch der Philologe Ibn Qutaiba und der ḥadīṯ-Gelehrte al-Buḫārī argumentierten für eine Unterscheidung der ewigen Rede Gottes (kalām allāh) von deren schriftsprachlicher Manifestation und damit gegen die hanbalitische Doktrin der Erschaffenheit des Korans. Siehe Josef van Ess, „Verbal Inspiration?“, S. 177–194 und ders., Eintr. „Ibn Kullāb“, in: EI². 84 Q 85:21. Zu Parallelstellen Paret, Kommentar und Konkordanz, S. 506. 85 Q 43:4, 3:7. Zu weiteren Parallelstellen Paret, Kommentar und Konkordanz, S. 60f. 86 Einen Hinweis auf eine Verbindung des Begriffs qurʾān mit benachbarten Textbegriffen enthält lediglich Abū ʿUbaidas Kommentar zu Q 96:1, dem traditionell „ersten“ Offenbarungstext. Gilliot

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Kommentar zeigen, dass der Schriftcharakter der Botschaft Gottes für Abū ʿUbaida unstrittig ist. Etwa wird Vers 3:70 „Leugnet nicht die Zeichen Gottes“ (āyāt allāh) paraphrasiert mit: „seine Schriften“ (bi-kutubi llāhi). 87 Ähnlich argumentiert er auch in seinen Paraphrasen zu den Versen am Anfang mehrerer Suren, die aufgrund des Demonstrativpronomens jene (tilka) in Bezug auf Verse, bzw. Schrift (kitāb) deutlich nicht ein bereits herabgesandtes Korpus, sondern die himmlische Vorlage der Offenbarung thematisieren. 88 Hier stellt Abū ʿUbaida klar, dass diese Formulierungen zu verstehen seien als „diese Verse gehören zum Koran“ (hāḏihi l-āyātu mina l-Qurʾāni). Die Bedeutungsvarianz der Pronomen (tilka und hāḏā) wird dabei übergangen und der Unterschied zwischen transzendenter Ur-Schrift und dem Korpus der herabgesandten Verse eingeebnet. Auch den Begriff ummī, der als Attribut zum Verkünder des Korans modern als „heidnisch“ oder aber „den nichtjüdischen Glaubensgemeinschaften zugehörig“ 89 übersetzt wird, paraphrasiert Abū ʿUbaida im Hinblick auf die Fähigkeit zu schreiben. 90 In Vers 62:2 heißt es, ein Gesandter werde „unter den Nicht-Juden“ (fī l-ummīyīna) auf‌treten. Abū ʿUbaida paraphrasiert: „Unter den Nicht-Juden (62:2), 91 unter denjenigen, die nicht schreiben“ (allaḏīna lā yaktubūna). 92 Das Insistieren des Philologen auf die Schrift als Medium der Manifestation Gottes bzw. der göttlichen Kommunikation mit den Menschen bleibt nicht auf Erklärungen zum Koran beschränkt, sondern ebenso substituiert Abū ʿUbaida das „Wort“ (kalima), durch das Jesus Vers 3:39 zufolge erschaffen wurde mit „der Schrift“ (bi-kitābin mina llāhi). 93 Diese Betonung des schriftlichen Charakters des Korans bzw. anderer göttlicher „Sprechakte“ kann als ein Indikator für die Abgrenzung gegenüber der vorausgegangenen Kommentargeneration der „formativen Phase“ gedeutet werden, welche den Kommunikationscharakter des Offenbarungsgeschehens stark in den Vordergrund argumentiert, Abū ʿUbaida „understands what could have been the first revelation delivered by Muhammad: iqraʾ bi-smi rabbika as ‚Proclaim, Call upon the name of Thy Lord.‘“ Gilliot sieht in dieser Paraphrase Abū ʿUbaidas des „Lies/Rezitiere im Namen deines Herrn“ als „Bekenne dich zu deinem Herrn und rufe seinen Namen an“ eine Assoziation mit ähnlichen Formeln der jüdischen qera be-shem Adonai oder des Syrischen qera b-shem māryā. Gilliot vermutet ein Bewusstsein Abū ʿUbaidas von der etymologischen Verwandtschaft der Verben oder sogar von dem Begriff qurʾān als Lehnwort aus dem Hebräischen bzw. Syrischen. (Claude Gilliot, „Creation of a Fixed Text“, in: The Cambridge Companion to the Qurʾān, S. 41.) 87 Maǧāz I, S. 97. 88 Siehe die Kommentare zu Q 10:1, Q 11:1, Q 31:1. 89 Vgl. Paret, Kommentar und Konkordanz, S. 21ff. 90 Siehe hierzu auch Maǧāz I, S. 90 (die Kommentare zu Q 3:19–20). 91 Der vollständige Vers lautet in der Übersetzung von Paret: „Er ist es, der unter den Heiden einen Gesandten aus ihren eigenen Reihen hat auf‌treten lassen, der ihnen seine (d. h. Gottes) Verse (w. Zeichen) verliest, sie (von der Unreinheit des Heidentums) läutert und sie die Schrift und die Weisheit lehrt. — Früher befanden sie sich offensichtlich im Irrtum. — “ 92 Maǧāz II, S. 207. 93 Maǧāz I, S. 91.

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gestellt hatte. 94 Hinzu kommt eine zunehmende Kultivierung von Schrift und von Büchern in der arabischen Wissenschaftstradition zu derselben Zeit, welche sich auch auf die Wahrnehmung des Schriftcharakters des Korans ausgewirkt haben dürfte. 95 Als „Gründervater der arabischen Philologie“ ist der Philologe des frühen neunten Jahrhunderts an der Konstitution nicht nur des Korans als Text, sondern eines arabischen Textbegriffs überhaupt beteiligt. Das Spannungsverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit betrifft dabei nicht nur den Koran, sondern ebenso die „profane“ Überlieferung der Dichtung und Prosa und nicht zuletzt die Wissenschaftspraxis selbst. Hermeneutisch gesehen lässt das Insistieren auf den Schriftcharakter der göttlichen Botschaft insbesondere in Kombination mit dem zuvor entwickelten Argument einer Harmonizität und kompositionellen Vollkommenheit des Textkorpus die Deutung zu, dass Abū ʿUbaida sich mit dem Argument für die Schriftlichkeit des Korans gegen Willkür bei dessen Auslegung verwahrt bzw. dass er gerade mit dem schriftlichen Korantext einen unbedingten Wahrheitsanspruch und eine inhaltliche wie strukturelle Vollkommenheit verbindet. Wiederum scheint es hilfreich, eine Parallele zur rabbinischen Philologie anzuzeigen. Der erwähnte Philologe Rabbi Akiba (gest. 135) plädierte dafür, dass „Wiederholungen von Worten und Sätzen, für das Verständnis eines Satzes nicht notwendige[r] Wendungen, sondern auch das Fehlen von Details, die man erwarten würde“ 96 wichtig seien und dass gleichermaßen „auf kleine stilistische Abweichungen zwischen parallelen Aussagen und Erzählungen, verschiedene Möglichkeiten, ein nicht vokalisiertes Wort“ 97 zu achten sei. Gleichzeitig sprach er sich dafür aus, dass eine Chronologisierung oder Hierarchisierung der einzelnen Text‌teile nicht zielführend sei, da die „geschlossene Einheit“ 98 des Textes mit der Einheit der göttlichen Botschaft korrespondiere. Ein solches Eintreten für die im schriftlichen Text besonders deutlich zutage tretende Gleichrangigkeit aller Textelemente steht in einem Spannungsverhältnis zur historischen Perspektive auf das Offenbarungsgeschehen, wie sie die ‚einfache‘ Hermeneutik Rabbi Jischmaels repräsentiert. Da Abū ʿUbaidas Schaffenszeit von einem Transfer des Gebrauchs von Medien gekennzeichnet ist, überrascht es nicht, dass der Philologe, was die Forderung der Einfachheit (korrespondierend mit der Veranschlagung der Bedeutung des Textes in dessen „ursprünglichen Wortsinn“) bzw. der Genauigkeit der Textinterpretation

94 Siehe Kapitel 1.3 ab S. 16. 95 Siehe Gregor Schöler, „Writing and Publishing: On the use and function of writing in early Islam“, in: The Oral and the Written in Early Islam, übers. von Uwe Vagelpohl, hg. von James E. Montomery, New York 2006, S. 62ff. 96 Stemberger, Midrasch, S. 25. 97 Ebd. 98 Ebd.

Begründung für die Notwendigkeit der Auslegung

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(korrespondierend mit dem „zeitlosen Gehalt“ 99 des schriftlichen Textes) angeht, eine Zwischenstellung einnimmt. Die Analyse des Begriffs vom Koran in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān lässt bisher die Folgerung zu, dass der Koran für Abū ʿUbaida ein formal ganzheitliches Korpus darstellt, dessen einzelne Teile in Wechselwirkung zueinander stehen. Jeder Vers muss „in Abhängigkeit“ (bi-aṯar) der anderen Verse gelesen werden. Zudem suggeriert die Benennung einzelner formaler Gruppen und deren Ästhetisierung eine kompositionelle Vollkommenheit des Korans. Sie verbürgt die Integrität des Textes, der weniger als Ergebnis einer — bereits in der Historie zu verortenden — Kommunikation zwischen Gott und dem Propheten, denn als vollkommener und vollständiger „Organismus“ wahrgenommen wird (Kugels Prämisse 2). Von der semantischen Werthaftigkeit dieses Textes — etwa als Quelle juristischer oder halachischer Weisung — ist in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān lediglich an einer Stelle die Rede, an der Abū ʿUbaida auf das koranische Epitheton al-furqān zu sprechen kommt. Es sei die Unterscheidung von Recht und Unrecht und die Trennung von Rechtschaffenen und Zweif‌lern, die der Koran ebenfalls enthalte. 100 In dieser Pauschalität kann das Argument nicht mit dem von James Kugel als 3. Prämisse antiker Bibelkommentatoren identifizierten Weisungscharakter der heiligen Schrift in Verbindung gebracht werden. Die Figuren und Narrative des Korans werden von Abū ʿUbaida nicht heilsgeschichtlich ausgedeutet. Eine generelle Annahme des koranischen Weisungscharakters wird nicht argumentativ erläutert, sondern sie scheint in der Annahme vom Koran als direktem Gotteswort (Kugels 4. Prämisse) aufzugehen.

3.4 Begründung für die Notwendigkeit der Auslegung Die Anekdote, die über den Anlass und die Legitimation des Beginns von Abū ʿUbaidas Tätigkeit als Korankommentator berichtet, ist ebenso oft zitiert worden 101 wie sie vielsagend ist. Im Jahr 803 wurde der bereits durch Kompilation und Kommentierung von arabischer Dichtung akkreditierte Philologe aus Basra an den Kalifenhof nach Bagdad berufen, wo er mit dem Wesir al-Faḍl ibn ar-Rabīʿ eine Unterredung hielt, die ihn ermutigte, seine Arbeit an einem „Buch über den Koran“ aufzunehmen. 102 Der Wesir befragte Abū ʿUbaida nach der Bedeutung der Satansköpfe am Höllenbaum (šaǧarat az-zaqqūm), von dem in Sure 37:62 die Rede ist. Wie könne Gott den Mekkanern mit einer Sache drohen, die kein Mensch je gesehen hatte? Abū ʿUbaida beantwortete die Frage des Wesirs mit dem Hinweis auf einen Vers der altarabischen  99 Stemberger, Midrasch, S. 25. 100 Maǧāz I, S. 7. 101 Abu Deeb, „Studies in the Majāz“, S. 310–353; Almagor, „Early Meaning of Majāz“, S. 307–326 und Neuwirth, „Masāʾil“, S. 233–250. 102 Siehe Aḥmad b. ʿAlī al-Ḫaṭīb al-Baġdādī, Taʾrīḫ Baġdād, (o. Hg.), Beirut 1966, Bd. 13, S. 252–258.

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Poesie. In der Muʿallaqa des Imruʾ al-Qais gelinge es dem Dichter, die Schärfe seines Schwertes durch den Vergleich mit den Zähnen des ġūl zu veranschaulichen, ohne dass jemand eine(n) ġūl je zu Gesicht bekommen habe. Die bloße Nennung des Begriffs habe ausgereicht, um die Zuhörer zu erschrecken. 103 Am prägnantesten lässt sich die Pointe der Anekdote, die vor allem aufgrund der erstmaligen Beantwortung einer koranexegetischen Frage durch den Hinweis auf einen Vers der altarabischen Dichtung bemerkenswert ist, in einem Kontrast darstellen: In modernen Koranstudien wurde der koranische Höllenbaum (šaǧarat az-zaqqūm) ebenfalls zum Gegenstand philologischer Untersuchung. Für den Arabisten Matthias Radscheit sind es etymologische Evidenzen und die Einbeziehung von historischem bzw. intertextuellem Wissen um Bäume in eschatologischen Szenarien, über welche er die Bedeutung der Konstruktion šaǧarat az-zaqqūm herleitet. 104 Während den modernen europäischen Leser des Korans die Rückverfolgung der historischen Entwicklung des im Kontext der koranischen Sure nicht unmittelbar verständlichen Begriffs überzeugt, 105 gilt für Abū ʿUbaida die Wirkung der koranischen Sprache auf den (ursprünglich adressierten) Hörer als entscheidend für das Verständnis des poetischen Bildes. Das Verstehen erfolgt bei der mündlichen Verkündigung spontan, nicht als ein Resultat technischer Auslegung; der Verkünder oder, im Fall von Imruʾ al-Qais der Dichter, appelliert weniger an das analytische Erkenntnisvermögen als an die Affektivität seiner Hörer. 106 Diese Beobachtung rückt Abū ʿUbaidas Hermeneutik wiederum in die Nähe der in der rabbinischen Exegese mit Rabbi Jishmael assoziierten Forderung nach ‚einfacher‘ Schriftauslegung, die von der komplizierten philologischen Interpretation einzelner Details des schriftlichen Textes Abstand nimmt. Aber auch der von James Kugel als dritte Prämisse angeführte Glaube, die heilige Schrift habe einen kohärenten, ethisch zu verwirklichenden Weisungscharakter, die wir im Maǧāz bisher nicht wiedergefunden haben, kann über dieses Argument eingeholt werden. Die ursprünglichen Hörer der koranischen Verkündigung haben insofern weniger einen ethischen als einen hermeneutischen Vorbildcharakter für Abū ʿUbaida, als ihre spontane Reaktion auf die an sie adressierten Verse das richtige Verständnis des Textes festlegt. Der Prophet und seine Zeitgenossen werden nicht generell zu — etwa an heilsgeschichtlichlichen Paradigmen orientierten — Vorbildern stilisiert, sondern lediglich ihre gefühlsmäßige Reaktion auf den Offenbarungstext erwähnt, als habe nicht nur

103 al-Ḫaṭīb al-Baġdādī, Taʾrīḫ Baġdād, Bd. 13, S. 252–258 104 Matthias Radscheit, „Der Höllenbaum“, in: Der Koran und sein religiöses Umfeld, hg. von Tilman Nagel, München 2010, S. 97–134. 105 Siehe auch Walid Saleh, „The Etymological Fallacy and Qurʾanic Studies: Muhammad, Paradise, and Late Antiquity“, in: The Qurʾān in Context, hg. von Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai und Michael Marx, Leiden 2010, S. 649–698. 106 Ob eine onomatopoetische Dimension der Begriffe ġūl und zaqqūm in diesem Argument ebenfalls angesprochen wird, können wir nur erahnen.

Der Vorwurf der Auslegung nach Gutdünken

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der verantwortungsvolle, besonnene, sondern auch der emotional angemessene Umgang mit dem Koran den Charakter einer ethischen Maxime.

3.5 Der Vorwurf der Auslegung nach Gutdünken Die Haltung einzelner Gelehrter oder religiös vorbildhafter Persönlichkeiten zur Erforderlichkeit und Erlaubnis von Exegese während der ersten beiden islamischen Jahrhunderte ist bei der Erforschung des frühen tafsīr seit Ignaz Goldziher diskutiert worden. Im Vordergrund stand zunächst eine Anekdote, der zufolge der Kalif ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb seinen Zeitgenossen Ṣabīġ ibn ʿIsl 107 physisch bestrafen ließ, weil dieser Erklärungen zu mehrdeutigen Begriffen (mutašābihāt) im Koran gefordert hatte. 108 Goldziher nahm an, dass bereits während der ersten hundert Jahre nach der Offenbarung ein Verbot von „Auslegung nach Gutdünken“ (tafsīr bi-r-raʾy) gegolten habe, der gegenüber die erlaubte Methode des tafsīr bi-l-ʿilm darin bestanden habe, exegetisches Wissen auf autoritative Gewährsmänner — meist den Propheten selbst oder einen seiner unmittelbaren Gefährten — zurückzuführen. 109 Diese Ansicht wurde von Harris Birkeland, der die Historizität der Ṣabīġ-Episode bestritt, dahingehend infrage gestellt, dass eine ablehnende Haltung zu Koranexegese erst gegen Ende des 1./7. Jahrhunderts in ultrafrommen muslimischen Kreisen artikuliert worden sei, worauf‌hin die Etablierung von Methoden eines „wissenschaftlichen“ tafsīr um das Jahr 200/815 den legitimen exegetischen Umgang mit dem Koran erarbeitet und von ‚heterodoxen‘ Lehrmeinungen und -methoden abgegrenzt habe. 110 Die eigentliche Frage, die Wissenschaftler in der Nachfolge Goldzihers und Birkelands beschäftigte, kreiste weniger um ein Für und Wider eines vollständigen Exegeseverbots im Frühislam, sondern vielmehr darum, welche Art der Koranauslegung missbilligt wurde. Nabia Abbot argumentierte, wiederum ausgehend von dem Wortlaut der überlieferten Episode um Ṣabīġ und ʿUmar, dass es nicht tafsīr bi-r-raʾy, sondern tafsīr al-mutašābihāt (Auslegung mehrdeutiger Verse) sei, was verboten gewesen

107 Abbot hält die Person Ibn ʿIsl für „legendary“, vor allem da von ihr unter verschiedenen Namen (ʿAbd Allāh ibn Ṣabīġ, Ibn Ṣabīġ, al-ʿIrāqī) berichtet wird. (Nabia Abbot, Studies in Arabic Literary Papyri II: Qurʾānic Commentary and Tradition, Chicago 1967, S. 107f.) 108 Den Anekdoten der islamischen Geschichtsschreibung stehen zahlreiche ḥadīṯe gegenüber, die aussagen, dass der Prophet und seine unmittelbaren Zeitgenossen selbst Auslegung betrieben hätten. (Fred Leemhuis, „Origins and Early Development of the tafsīr Tradition“, in: Tafsīr, hg. von Mustafa Shah, London/New York 2013, Bd. 1, S. 191.) Gilliot selbst weist auf die geringe Zahl exegesekritischer Gelehrter im tafsīr aṭ-Ṭabarīs hin. (Gilliot, „Exegesis of the Qurʾān“, in: EQ, Bd. 2, S. 100) 109 Vgl. Goldziher, Koranauslegung, S. 62ff. 110 Vgl. Harris Birkeland, Old Muslim Opposition against Interpretation of the Koran, Oslo 1955, S. 13ff.

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Was ist der Koran für die Philologen des 8. Jahrhunderts?

sei, 111 wobei der Begriff der mutašābihāt — wie Fred Leemhuis betonte — seinerseits schwer zu definieren bleibe. 112 Der Abū ʿUbaida gegenüber geäußerte Vorwurf, den Koran nach Gutdünken auszulegen, 113 ist ebenfalls in einer Anekdote überliefert, die in dem Werk Taʾrīḫ Baġdād enthalten ist. Hier provozierte der Philologe seinen Kollegen al-Aṣmaʿī mit der Frage: „Was bedeutet Brot?“ (mā maʿnā ḫubz?) 114 Die unschuldige Antwort al-Aṣmaʿīs lautet: „Das was man backt und isst.“ Abū ʿUbaida soll nun seinerseits mit der Behauptung reagiert haben, al-Aṣmaʿī habe Auslegung nach Gutdünken betrieben, denn Brot als ein Wort der arabischen Sprache komme ebenfalls im Koran vor und dürfe, al-Aṣmaʿīs eigener Logik folgend, nicht interpretiert werden. Die Pointe dieses Berichts besteht weniger bloß in der Darstellung des Konkurrenzverhältnisses, sondern vielmehr des scheinbaren Missverständnisses beider Philologen über das Verhältnis des Korans zum gesprochenen Arabisch. Während al-Aṣmaʿī ein pauschales Exegeseverbot des Korans postuliert, artikuliert Abū ʿUbaida durch seine Frage nach der Bedeutung des Begriffs Brot ein Bewusstsein für die Diskrepanz zwischen der Sprache in ihrem kommunikativen Gebrauch einerseits und der Sprache als Medium der heiligen Schrift andererseits. Abū ʿUbaidas Werk fällt chronologisch in die Übergangsphase zwischen der — ob generell als einer Opposition zu tafsīr bi-r-raʾy oder tafsīr al-mutašābihāt verstandenen — Exegese-Kritik der Frühzeit und der Etablierung unterschiedlicher wissenschaftlicher Koranhermeneutiken, die unter anderem die Zuverlässigkeit von Überliefererketten (isnād, pl. asānīd) als Kriterium der Glaubwürdigkeit einforderte. 115 Da der Philologe in seinem Kommentar nicht inhärent mehrdeutige Verse (mutašābihāt) in den Vordergrund stellt, und auch nicht in seiner Interpretation auf tiefenstrukturelle Bedeutung abhebt, ist der Vorwurf der Auslegung nach Gutdünken gegenüber Abū ʿUbaida vermutlich nicht, wie Abbot dies für die Vorgängergeneration vorgeschlagen hatte, mit einem solchen hermeneutischen Spezifikum zu begründen, sondern vielmehr als der generelle Vorwurf des nachlässigen, methodisch nicht abgesicherten Arbeitens zu verstehen. Nachdem wir unseren vorläufigen Eindruck von Abū ʿUbaidas Umgang mit dem Koran bisher aus dessen Aussagen in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān und den sekundären historiographischen Berichten gewonnen haben, wollen wir nun den Kommentar selbst in den Blick nehmen. Wir gehen dabei so vor, dass ein Querschnitt 111 Vgl. Abbot, Literary Papyri, S. 106ff. 112 Leemhuis, „Origins and Early Early Development“, S. 193. 113 Der Vorwurf, Abū ʿUbaida würde schlecht interpretieren wird auch mit anderen Worten ausgedrückt: aḫṭaʾa wa-fassara l-Qurʾān ʿalā ġair mā yanbaġī. (az-Zubaidī, Ṭabaqāt an-naḥwīyīn, Bd. 3, S. 194) 114 al-Ḫaṭīb al-Baġdādī, Taʾrīḫ Baġdād, Bd. 15, S. 341. 115 Vor allem im Vergleich mit den Werken seines Schülers Abū ʿUbaid (Faḍāʾil al-Qurʾān) ist dieser Generationenbruch auf‌fällig. Während Abū ʿUbaid ausführlich alternierende Lehrmeinungen mit vollständigen Überliefererketten zu belegen sucht, finden sich in Abū ʿUbaidas Werk keine isnāde.

Der Vorwurf der Auslegung nach Gutdünken

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durch die Interpretationstechniken Abū ʿUbaidas angeboten wird. Mir ist bewusst, dass dieses Darstellungsmittel bereits eine Selektion bedeutet. Diese nehme ich in Kauf, da die Alternative, die Darstellung der Kommentierung einer vollständigen Sure oder weniger kurzer Suren, nicht repräsentativ erscheint.

4. Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān Die Hermeneutik des philologischen Korankommentars soll nun durch die Darstellung einzelner Beispiele und den Nachvollzug einzelner Argumente erkennbar werden. Dazu werden zunächst die Gründe für ein interpretatorisches Eingreifen gesammelt und geordnet. Bei dem Versuch einer Systematisierung der Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān kann auf unterschiedliche Weise vorgegangen werden. Hier sollen zunächst drei Aspekte im Vordergrund stehen, deren Erarbeitung in diesem Kapitel insgesamt zu einem Verständnis von den Methoden des philologischen Korankommentators, dessen Umgang mit dem Primärtext und der exegetischen Selbstpositionierung ihm gegenüber führen soll. Freilich kann eine methodisch an den Literaturwissenschaften orientierte Interpretation des Textes keine sehr weitreichenden Schlüsse zu den Aufgaben, der sozialen Verortung und institutionellen Teilhabe des Kommentars oder aber zu theologischen Einstellungen des Philologen bieten. Da wir für die Schaffenszeit Abū ʿUbaidas kaum über historische Berichte verfügen, die uns ein zuverlässiges Hintergrundbild für die Entstehung und den Sitz im Leben des Kommentars bieten würden, müssen Fragen der gesellschaftlichen und politischen Funktion des Kommentars, seiner Adressaten und seines Verfassers zwangsläufig über die Beobachtung der Kommentartechniken selbst beantwortet werden. Da Abū ʿUbaida wie die kontemporären Philologen gleichfalls keine ‚Theorie‘ der Bedeutung anbietet und nur sehr vereinzelt von ihm selbst verwendete Begriffe und Methoden erläutert oder legitimiert, müssen wir auch die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Text und Kommentar und von linguistischem Zeichen und dadurch Bezeichnetem über die Beobachtung der exegetischen Praktiken selbst erschließen. Wir unterscheiden dabei: 1. Formen der Glossierung 2. Formen der Segmentierung 3. Autorisierungsstrategien Im Anschluss daran wird der Gebrauch ausgewählter, für die Fragestellung aufschlussreicher Begriffe in Maǧāz al-Qurʾān dargestellt.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

4.1 Formen der Glossierung Formen der Glossierung haben bei der Erforschung frühislamischer Korankommentare immer eine gewisse Rolle, jedoch selten die Hauptrolle gespielt. 1 Die Form der Glossierung soll hier Auskunft geben über die in Maǧāz al-Qurʾān beanspruchte Notwendigkeit des exegetischen Eingreifens und über die Formen der exegetischen Argumentation. Die im folgenden taxonomisch dargestellten Glossentypen sind im Kommentar selbst nicht formal unterschieden und funktional nirgends klar zu unterscheiden. In der folgenden Taxonomie werden formale und inhaltliche Kriterien miteinander verbunden. Sie soll als vorläufige, heuristische Hilfe zu einer systematischeren Lektüre des Maǧāz verstanden werden. 4.1.1 Substitution Die quantitativ überwiegende Form der Glossierung in Maǧāz al-Qurʾān ist die Paraphrase einzelner koranischer Begriffe oder Versausschnitte. In der Paraphrase von einzelnen Wörtern wird deren grammatische Rolle in der Regel beibehalten. Zum Beispiel bleibt die Konjugation des Verbs in der paraphrastischen Glosse bestehen: Inna l-malaʾa yaʾtamirūna bika (28:20), maǧāzuhu yahummūna bika wa-yatawāmarūna 2 fīka wa-yatašāwarūna fīka wa-yartaʾūna. Qāla n-Namiru bnu Taulaba: arā n-nāsa qad aḥdaṯū šīmatan // wa-fī kulli ḥādiṯatin yuʾtamar 3 Die Vornehmen konspirieren gegen dich [in der Absicht dich zu töten] (28:20), 4 das bedeutet, sie stellen dir nach und verschwören sich gegen dich und machen sich [falsche] Vorstellungen [von dir]. An-Namir ibn Taulab sagt: Ich sehe die Leute, dass sie Zwietracht gesät haben // bei jedem Vorfall entsteht ein Komplott (yuʾtamar).

Der poetische Belegvers wird hier beigebracht, weil er das klärungsbedürftige Verb ītamara (*iʾtamara, 8. Stamm) mit seiner Bedeutung von konspirativem Verschwören enthält. Wie in diesem Beispiel wird in den Glossen meist nicht auf den inhaltlichen Kontext des koranischen Lemmas — hier die Erzählung der Flucht Mose aus Ägypten — eingegangen. Diese Form der einfachen Wortparaphrase mit der Beibehaltung der grammatischen Rollen nennen wir (1) Substitution. 5 1 Sinai stellt die Formen der Glossierung im Tafsīr Muqātil dar. Versteegh weist auf das Verhältnis von Lemma und Glosse bei der Differenzierung von Paraphrasepartikeln (yaʿnī, maʿnāhu, ai etc.) hin. Siehe Versteegh, „Arabic Tradition“, S. 235. 2 Die gewöhnliche Form wäre eigentlich: yataʾāmarūna. 3 Maǧāz II, S. 100. 4 Im Vers gemeint ist Mose, der aufgrund der Warnung eines Mannes nach Midian flieht. 5 Sinai unterscheidet zwischen „lexikalischen, referenziellen oder konkretisierenden Äquivalenzen“ (Fortschreibung und Auslegung, S. 189). Ich nehme hier zunächst keine funktionale Abgrenzung vor.

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Paraphrasen dienen meist der lexikalischen, seltener der grammatischen oder stilistischen Erklärung eines Wortes bzw. einer Satzkonstruktion. Neben einfachen Substitutionen bietet Abū ʿUbaida Paraphrasen von halben und ganzen Sätzen an, die oft mit partiellen Kontexterklärungen oder grammatischen Erklärungen einhergehen. Der Kontext, vor dessen Hintergrund ein koranischer Begriff erläutert wird, ist nie der inhaltliche Kontext in der betreffenden Sure des Korans, sondern stets ein außerkoranischer Kontext, der in der Lebensweise der Araber vor dem Islam bzw. dem System der arabischen Sprache gesucht wird. Zum Beispiel erklärt Abū ʿUbaida den „östlichen Ort“, den Maria in der Erzählung der Geburt Jesu in Sure 19 aufsucht, folgendermaßen: makānan šarqīyan (19:16), mimmā yalī l-mašriqa wa-huwa ʿinda l-ʿarabi ḫairun mina l-ġarbīyi llaḏī yalī l-maġriba. 6 An einen östlichen Ort (19:16), an einen Ort, der Richtung Sonnenaufgang ist. Dieser ist bei den Arabern vorzüglicher (besser) als der Westen, der Richtung Sonnenuntergang liegt.

Der vollständige Vers lautet: „Und gedenke in der Schrift der Maria! [Damals] als sie sich vor ihren Angehörigen an einen östlichen Ort zurückzog.“ Abū ʿUbaidas Erklärung zu der vermeintlichen Einstellung der Araber gegenüber den Himmelsrichtungen des Ostens und Westens hat mit der Semantik des Koranverses nur insofern zu tun, als auch im Koran eine Assoziation des Ostens mit positiven Charakteristika wie dem Neubeginn oder der Zukunftshoffnung angedeutet wird. Im Narrativ der Sure selbst ist der Hinweis auf den „östlichen Ort“, der vermutlich eine typologische (Neuwirth zufolge eine „entallegorisierende“) Referenz auf die Ankündigung des Messias durch das östliche Tor des Jerusalemer Tempels impliziert, mehrdeutig. 7 Die Interpretation des Philologen stellt stattdessen eine Abstraktion von der Bedeutung des Begriffs innerhalb des koranischen Narrativs dar. Der Kontext, auf den der Begriff bezogen wird, ist nicht die Erzählung über die Geburt Jesu, sondern eine pauschal angenommene weltanschaulich begründete Haltung der (paganen) Araber zur Himmelsrichtung des Ostens.

6 Maǧāz II, S. 3. 7 Vgl. Neuwirth, Text der Spätantike, S. 480: „Was koranisch wie eine beliebige Lokalisierung aussieht, ist Ergebnis der Entallegorisierung einer christlichen Tradition, die mit der symbolischen Deutung Marias als Tempel zusammenhängt. Dessen geschlossenes Ost‌tor, dessen Schließung nach Ez. 441f. von Gott selbst verfügt wurde, soll sich jüdischer und später christlicher Tradition zufolge erst durch den Messias öffnen. Die alte Kirche (Hieronymos, Ambrosios) übertrug bei ihrer Tempelallegorese diese Prophezeiung auf Christus und damit auf Maria als seiner jungfräulichen Gebärerin: […]“

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4.1.2 Explikative Glossen Eine andere Form der Glossierung stellen die (2) Explikationen dar, die zum einen auf eine größere Klärungsbedürftigkeit des paraphrasierten Lemmas schließen lassen und zum anderen der exegetischen Stimme eine erhöhte Wahrnehmbarkeit verleihen. Eine explikative Glosse ist zunächst ebenso wie die Substitution auf die Erklärung eines Wortes oder Satzteils gerichtet, aus welcher dann eine generelle Feststellung über ein grammatikalisches Phänomen abgeleitet wird. Zum Beispiel die explikative Glosse mit grammatikalischer Belehrung: fa-bi-mā naqḍihim mīṯāqahum (5:13), 8 fa-bi-naqḍihim, wa-l-ʿarabu tastaʿmilu mā fī kalāmihā taukīdan wa-in kāna llaḏī qablahā bi-ǧarrin ǧararta l-isma llaḏī baʿdahā, wa-in kāna marfūʿan rafaʿta l-isma wa-in kāna manṣūban naṣabta l-isma. 9 Da sie (die Israeliten) ihr Versprechen brachen (mit Emphasepartikel mā) (5:13), 10 da sie ihr Versprechen brachen (ohne Partikel); die Araber benutzen [die Partikel] mā zur Bekräftigung. Wenn das vorausgehende Wort eine Präposition ist, setzt du das folgende Nomen in den Genitiv, wenn es ein Nominativ ist, setzt du das Nomen in den Nominativ und wenn es ein Akkusativ ist, setzt du das Nomen in den Akkusativ.

Wiederum ist Abū ʿUbaida nicht an der Erklärung des betreffenden Lemmas im Kontext der angestammten Sure besorgt, sondern er weist generell auf die Funktion der Partikel mā als einem Emphasesteigerungsmittel hin. In der weiterführenden grammatischen Erklärung stellt er darauf‌hin klar, dass der Einsatz oder das Weglassen dieser Partikel keine Auswirkungen auf den Kasus des folgenden Satzteils hat. Diese Erklärung ist nicht nur im Hinblick auf den Koranvers selbst verständlich, sondern sie kann auch als eigenständige kurze Lektion in arabischer Grammatik verstanden werden. Anders verhält es sich jedoch in der folgenden explikativen Glosse mit lexikalischer Erklärung: aḍġāṯu aḥlāmin (12:44), wāḥiduhā ḍiġṯun, maksūrun wa-hiya mā lā taʾwīla lahā mina r-ruʾyā, arāhu ǧamāʿātin tuǧmaʿu kamā yuǧmaʿu l-ḥašīšu fa-yuqālu ḍiġṯun ai milʾu kaffin minhu. Qāla ʿAufu bnu l-Ḫariʿi t-Taimīyu: wa-asfala minnī nahdatan qad rabaṭtuhā // wa-alqaitu ḍiġṯan min ḫalan mutaṭaiyabī ai taṭaiyabtu lahā aṭāyība l-ḥašīši. Wa-fī āyatin uḫrā wa-ḫuḏ bi-yadika ḍiġṯan faḍrib bihi (38:44). 11  8 Das identische Lemma wird bereits in Q 4:155 von Abū ʿUbaida zitiert, hier allerdings mit kürzerer Glosse.  9 Maǧāz I, S. 157. 10 Der Versanfang in Parets Übersetzung: „Und weil sie ihre Verpflichtung brachen, haben wir sie verflucht. Und wir machten ihre Herzen verhärtet, so dass sie die Worte (der Schrift) entstellten (indem sie sie) von der Stelle weg(nahmen) an die sie hingehören. Und sie vergaßen einen Teil von dem, womit (oder: woran) sie erinnert worden waren. …“ 11 Maǧāz I, S. 312.

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Wirrheiten 12 (aḍġāṯu) von Träumen (12:44), der Singular ist die Wirrheit (ḍiġṯun) und das sind die Träume, die nicht zu deuten sind. Ich betrachte [den Begriff als zugehörig zu den] Gruppen [von Worten], die einen Plural ausdrücken wie [die unspezifische Menge] Gras. Man sagt auch „Gemisch“ (ḍiġṯun) und meint „eine Hand voll“. ʿAuf ibn al-Ḫariʿ at-Taimī sagt: Unter mir eine Stute, die ich angebunden hatte // und der ich eine Hand voll (ḍiġṯ) duftender [Kräuter] aus den offenen Weiden hingeworfen hatte. Das heißt: Ich hatte für sie das Beste an duftendem Gras ausgewählt. So auch in einem weiteren Vers [im Koran]: Nimm in deine Hand ein Bündel [dünner Zweige] (ḍiġṯ) und schlag damit zu (38:44).

Die explikative Paraphrase, die sich auf das lexikalische Verständnis des Begriffs ḍiġṯ, pl. aḍġāṯ richtet, ist zunächst insofern durch den Kontext des Koranverses bestimmt, als sie auf den Themenbereich der Träume und deren Deutbarkeit bezogen ist. Der Vers gehört in der Sure in die Erzählung der Träume des Pharao, der seine Untertanen dazu auf‌fordert, die Traumbilder von sieben Kühen und sieben Ähren zu deuten. Diese bezeugen ihr Unvermögen zur Deutung der Trauminhalte mit dem Ausruf: „Welch Bündel von wirren Träumen! 13 Wir wissen über die Deutung der Träume nicht Bescheid.“ Abū ʿUbaidas Paraphrasierung des Begriffs mit „undeutbare Träume“ nimmt diese Bedeutung des Begriffs zunächst auf. Sie wird dann aber durch den Hinweis auf dessen Bedeutung in anderen Kontexten ergänzt. Der nun folgende poetische šāhid enthält den Begriff im Singular mit der Bedeutung von (wirrem) Gras. Auch in dem zweiten den Begriff ḍiġṯ enthaltenden Koranvers steht der Begriff im Singular für die unspezifische Menge, das ‚Mischmasch‘ eines Bündels Sträucher. Für den Philologen scheint der Begriff im Hinblick darauf deutungsbedürftig zu sein, dass er formal einen Singular darstellt, aber inhaltlich einen Plural ausdrückt. Der Begriff ḍiġṯ im Singular bedeutet die konkrete Erfahrung des Mischens, beispielsweise von Gräsern oder Sträuchern in der Hand, während der Pluralbegriff aḍġāṯ die abstrakte Bedeutung von Wirrheit im Sinne einer diffusen Menge besitzt. 14 In der Regel werden substitutive und explikative Elemente in Maǧāz al-Qurʾān miteinander verbunden. Es wird eine Alternative zu der koranischen Verwendung eines Wortes oder zu einer stilistischen Form vorgeschlagen und der koranische Gebrauch darauf‌hin mit Hinweis auf den Sprachgebrauch oder die Lebensweise der Araber gleichfalls „explikativ“ legitimiert. 12 Wörtlich „Gemische“. 13 Paret übersetzt: „(Das ist) ein Bündel von wirren Träumen.“ 14 Im Lisān al-ʿArab werden die beiden Bedeutungen voneinander differenziert. Zuerst wird die Undeutbarkeit der aḍġāṯ genannten Träume erläutert. Dann wird die allgemeine Bedeutung von „Mischen“ genannt. Obwohl die Beispiele und genannten Begriffe starke Ähnlichkeiten mit denen im Maǧāz haben, wird Abū ʿUbaida nicht erwähnt und der hier angeführte Vers nicht zitiert. Siehe Ibn Manẓūr, Lisān, Eintr. „ḍ-ġ-ṯ“.

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Explikative Glossen sind meist weniger an einer generellen Regel der Grammatik als an dem pragmatischen Sprachgebrauch orientiert. Die Notwendigkeit für ein interpretatives Eingreifen können wir, neben der Erklärungsbedürftigkeit einzelner vermutlich unverständlicher oder ungebräuchlicher Lexeme, oft beim Vorkommen von grammatischen Besonderheiten feststellen, die — für denjenigen, der sich der grammatischen Regeln nicht bewusst ist — entweder zu Lesefehlern oder zu Missverständnissen führen könnten. Hier greift der Philologe erklärend ein. Zum Beispiel wenn die Syntax des Koranverses missverständlich ist: fa-nẓur ilā āṯāri raḥmati llāhi kaifa yuḥyī l-arḍa baʿda mautihā inna ḏālika la-muḥyī l-mautā wa-huwa ʿalā kulli šaiʾin qadīrun (30:50), al-muḥyī l-mautā huwa llāhu, wa-lam taqaʿ hāḏihī ṣ-ṣifatu ʿalā raḥmati llāhi, wa-lākinnahā waqaʿat ʿalā anna llāha huwa muḥyī l-mautā, wa-huwa ʿalā kulli šaiʾin qadīrun, wa-l-ʿarabu qad tafʿalu ḏālika fa-taṣifu l-āḫira wa-tatruku l-auwala; yaqūlūna: „raʾaitu ġulāma Zaidin annahu ʿanhu la-ḥalīmun“, ai anna Zaidan ʿan ġulāmihi wa-ʿan ġairihi la-ḥalīmun. 15 Schau auf die Spuren der Barmherzigkeit Gottes, wie er die Erde nach ihrer Leblosigkeit lebendig macht. 16 Dies ist derjenige, der auch die Toten wieder lebendig macht. Er hat zu allem die Macht. 17 (30:50) Der die Toten Belebende ist Gott. Die Eigenschaft [des Belebens] bezieht sich nicht auf die Barmherzigkeit Gottes, sondern meint, dass Gott der Beleber der Toten ist und er Macht über alle Dinge hat. Die Araber machen es so, dass sie das letzte [Satzelement] beschreiben und dabei das erste [Satzelement] auslassen. Sie sagen: „Ich sah den Diener Zaids, dass er ihm gegenüber sanftmütig ist“, das heißt, dass Zaid seinem Diener und anderen gegenüber sanftmütig ist.

Die ungewöhnliche Konstruktion des Verses, der mit dem Hinweis auf die Spuren der Barmherzigkeit Gottes beginnt, dann aber mit einer Beschreibung der Größe Gottes als Beleber der Toten fortfährt, wird in der Glosse zunächst aufgelöst, indem das Subjekt der Handlung der Belebung der Toten (d. h. Gott) benannt wird. Es scheint, als wäre der Philologe darum bemüht, die Suggestion zu korrigieren, dass es die Spuren der Barmherzigkeit Gottes seien, die eine Wiederbelebung der Toten bewirken. Eine solche Korrektur könnte Abū ʿUbaida aus theologischen Gründen, etwa dem in der Muʿatazila diskutierten Verhältnis zwischen Wesenseigenschaften und Attributen Gottes, für notwendig erachtet haben. Das Beispiel am Ende der Glosse verdeutlicht allerdings, dass für den Philologen ein syntaktisches Phänomen im Vordergrund steht; nämlich die Beziehung eines Prädikats zu einem zuvor nicht explizit genannten Subjekt. Im Beispielsatz: „Ich sah den Diener Zaids, er ist ihm 15 Maǧāz II, S. 124. 16 Paret übersetzt: „… wie er die Erde nach ihrem Tod wieder lebendig macht.“ 17 Wörtlich „Er hat Macht über alle Dinge“. In der theologischen Kontroverse um die Attribute Gottes wird auch die Eigenschaft der Barmherzigkeit dahingehend diskutiert, ob sie dem Wesen Gottes zugehörig ist, oder sich lediglich in seinen Handlungen manifestiert.

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gegenüber sanftmütig.“ könnte auf den ersten Blick der Diener mit der Eigenschaft der Sanftmütigkeit beschrieben sein. Das Personalsuffix -hu bezieht sich jedoch auf Zaid, der nicht direkt, sondern (wie auch Gott im Koranvers) als Teil einer Genitivverbindung angesprochen wird. In ähnlicher Weise erklärt Abū ʿUbaida in folgender rein explikativer Glosse die unterschiedliche grammatische Rolle von Adjektiven und „adverbialen Bestimmungen“ 18 aus der Erfahrung des Sprachgebrauchs der Araber: wa-mā yudrīka laʿalla s-sāʿata qarībun (42:17), lam yaǧiʾ maǧāzuhā ʿalā ṣifati ttaʾnīṯi fa-yaqūlu: „inna s-sāʿata qarībatun“ wa-l-ʿarabu iḏā waṣafūhā bi-ʿainihā ka-ḏāka yaṣnaʿūna, wa-iḏā arādū ẓarfan lahā au-arādū bihā ẓ-ẓarfa ǧaʿalūhā bi-ġairi l-hāʾi, wa-ǧaʿalū lafẓahā lafẓan wāḥidan fī l-wāḥidi wa-l-iṯnaini wa-l-ǧamīʿi mina ḏ-ḏakari wa-l-unṯā, taqūlu: „humā qarībun“ wa-„hiya qarībun“. 19 Vielleicht steht die Stunde nahe bevor (42:17); der Ausdruck steht hier nicht in weiblicher Form, so dass sie (die Araber) sagen würden: „die Stunde ist nah“ (mit Femininendung des Adjektivs). Die Araber verwenden diese Form, wenn sie eine Sache selbst beschreiben. Wenn sie aber den (temporalen) Umstand einer Sache meinen oder die Sache selbst der Umstand ist, sprechen sie ohne (Femininendung) -hā. Dann bleibt die Form [des Wortes] dieselbe im Singular, Dual und Plural, gleich ob männlich oder weiblich. Du sagst: Sie beide (Dual) sind nah (qarībun) und sie (feminin Singular) ist nah (qarībun).

Trotz der Erklärung wie auch des Gebrauchs des Begriffes ẓarf (gramm. „adverbiale Bestimmung“) in Abū ʿUbaidas Glosse hat der Begriff qarībun im Kontext des koranischen Lemmas eigentlich nicht die grammatische Rolle eines Adverbs. Der Hinweis auf dessen „anomalische“, grammatisch nicht dem weiblichen Stubstantiv „die Stunde“ angepasste Form, könnte auch mit der Ehrwürdigkeit (ebenfalls ẓarf) des Gegenstands (der „Stunde“ des jüngsten Gerichts) selbst begründet werden. Die Auskunft des Philologen darüber, weshalb im Vers qarībun, nicht qarībatun, gelesen wird, hat ihren Zweck vielleicht primär darin, Fehlern bei der Rezitation vorzubeugen, statt ein Phänomen der Grammatik vollauf zu erläutern. Gerade Beispiele wie dieses legen die Vermutung nahe, dass Abū ʿUbaidas kommentierende Lemmata im Kontext von Lehrsituationen, oder generell gesprochen: als Antwort auf Nachfragen, entstanden sind.

18 Vgl. Wolfdietrich Fischer, Grammatik des klassischen Arabisch, Wiesbaden 1987, § 293b, siehe auch § 120 zu beschränkt kongruenzfähigen Adjektiven der Morphemtypten faʿīlun. 19 Maǧāz II, S. 199.

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4.1.3 Hinweise auf Anomalien in Tempus, Numerus und Genus Eine Sonderform der explikativen Glossierung in Maǧāz al-Qurʾān sind Hinweise auf koranische Anomalien in der Verwendung von Tempus, Numerus oder Genus, etwa bei der Verwendung eines weiblichen Adjektivs in Verbindung mit einem männlichen Substantiv oder einer Inkongruenz zwischen den Numeri in Subjekt und Prädikat. Von den beschriebenen explikativen Glossen unterscheiden sich diese Hinweise auf Anomalien formal lediglich durch die Wiederkehr stereotyper Erklärungsmuster, etwa durch die Zitation desselben Belegverses oder die Wiederholung derselben explikativen Formel. ṯumma nuḫriǧukum 20 ṭiflan (22:5), maǧāzuhu annahu fī mauḍiʿi aṭfālin wa-l-ʿarabu taḍaʿu lafẓa l-wāḥidi fī maʿnā l-ǧamīʿi. 21 Dann lassen wir euch als Kind herauskommen 22 (22:5). Sein formales Spezifikum (maǧāzuhu) ist, dass hier der Singular an Stelle [des Plurals] „Kinder“ gebraucht wird. Die Araber gebrauchen [manchmal] die Singularform in der Bedeutung eines Plurals.

Wiederum ist es der mutmaßliche Sprachgebrauch der Araber, der erklärend herangezogen wird. Dasselbe Argument des anomalischen Gebrauchs von Plural und Singular im Sprachgebrauch der Araber bringt Abū ʿUbaida im Hinblick auf die Redeweise einer einzelnen Person von sich selbst im Plural an. Er unterscheidet hierbei nicht zwischen dem koranisch geläufigen rhetorischen Mittel des göttlichen Pluralis majestatis und alltagssprachlichen Redensarten. 23 Dieselbe formelhafte Erklärung findet sich etwa auch für das Vorkommen des personalen Zahlwortes aḥad (einer) mit einem Verb im Plural: min aḥadin ʿanhu ḥāǧizīna (69:47), ḫaraǧa ṣifatuhu 24 ʿalā ṣifati l-ǧamīʿi li-anna aḥadan yaqaʿu ʿalā l-wāḥidi wa-ʿalā l-iṯnaini wa-l-ǧamīʿi mina ḏ-ḏakari wa-l-unṯā. 25 [K]einer [von euch] hätte uns von ihm abgehalten 26 (69:47), [das Verb] steht im Plural, weil [das Zahlwort] aḥad sich sowohl auf den Singular, als auch auf den Dual oder den Plural in maskuliner oder femininer Form beziehen lässt.

20 Im Maǧāz steht hier: yuḫriǧukum (er lässt euch herauskommen). 21 Maǧāz II, S. 44. 22 Paret übersetzt: „Danach lassen wir euch als kleine Kinder hervorkommen“ und setzt demnach den Begriff ṭiflan bereits in einen semantischen Plural. 23 Vgl. Maǧāz I, S. 108 (in der Glosse zu Q 3:173). 24 Auf‌fällig ist hier die Inkongruenz zwischen der Verbalform (männlich singular) und dem femininen Substantiv. Insofern dies nicht auf ein Versehen zurückzuführen ist, könnte die Glosse auch lauten: ḫarraǧa (2. Stamm) ṣifatahu… 25 Maǧāz II, S. 268. 26 Paret übersetzt: „Und keiner von Euch hätte (uns) dann von ihm (und dieser seiner Bestrafung) abhalten können.“

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Die meisten dieser Feststellungen von numerusspezifischen Sonderfällen haben keine rhetorische Signifikanz. Eine Ausnahme stellt die Aussage des Philologen dar, mit dem Stern in einem Schwur des ersten Verses von Sure 53 seien Sterne im Plural gemeint: wa-n-naǧmi iḏā hawā (53:1): qasamun, wa-n-naǧmu n-nuǧūmu, ḏahaba ilā lafẓi l-wāḥidi wa-huwa fī maʿnā l-ǧamīʿi. Qāla Rāʿī l-Ibili: wa-bātat taʿuddu n-naǧma fī mustaḥīratin // sarīʿin bi-aidī l-ākilīna ǧumūduhā. 27 Beim Stern wenn er sinkt (53:1): [Dies ist] ein Schwur. Mit dem (Wort) Stern sind die (d. h. alle) Sterne gemeint. Der Ausdruck steht im Singular, aber gemeint ist ein Plural. Raʿī al-Ibili sagt: Sie verbrachte die Nacht, indem sie die Sterne zählte in der Fettbrühe 28 // die rasch fest wurde in den Händen derer, die sie aßen.

Die Begründung für die Notwendigkeit der Umdeutung ist in eben diesem Fall durchaus relevant für die Bedeutung des Verses selbst. Hinter dem Hinweis auf die pluralische Bedeutung des formalen Singulars naǧm (Stern) steckt vermutlich die Vorstellung, dass alle Sterne in das eschatologische Szenario einbezogen würden. Oder aber Abū ʿUbaida assoziiert die rhetorische Form des Schwurs selbst als eine Stilform, in der das Objekt (der Stern) pars pro toto für alle Himmelsgestirne steht. Der folgende poetische šāhid weist allerdings in eine andere Richtung. Auch im Vers des Dichters Raʿī al-Ibili kommt der Begriff naǧm mit der Bedeutung von „Sternen“ im Plural vor. Er ist allerdings Bestandteil einer erdenklich profanen Metapher, nämlich der von den „Sternen“ (in der deutschen Metaphorik den „Augen“) im Fett einer Speise, deren Substanz sich während des Verzehrens verfestigt. Das Beibringen eines Verses mit dieser Bedeutung zur Erklärung des im Koran eschatologisch konnotierten Schwurgegenstands ist irritierend. Entweder dient der šāhid hier tatsächlich lediglich der Illustration des prinzipiellen Vorhandenseins des Singular/Plural-spezifischen anomalischen Gebrauchs des Begriffs naǧm in der altarabischen Dichtung, oder aber die Konfrontation von dichterischer und koranischer Bildersprache stellt eine bewusste „Entmythisierung“ des koranischen Bildes dar. Indem Abū ʿUbaida das eschatologische Moment des „Sterns“ mit den „Fettsternen“ (d. h. „Fettaugen“) auf dem Teller eines Mädchens vergleicht, bricht er dem koranischen Vers nicht nur inhaltlich die Pointe ab, sondern gibt die koranische Rhetorik nahezu der Lächerlichkeit preis. Die emotional angemessene Reaktion des tremendums 29 angesichts des sinkenden Sterns als Boten des Weltenendes wird in ein ridiculum verwandelt. 27 Maǧāz II, S. 235. 28 Edward William Lane, An Arabic-English Lexicon, S. 685c (al-mustaḥīratu: „broth containing much grease“). 29 Rudolf Otto hatte fascinosum und tremendum — Faszination und Furchterregen — als die zwei wichtigsten Empfindungen des Menschen gegenüber ‚dem Heiligen‘ beschrieben. Siehe Rudolf Otto, Das Heilige, (4. Auf‌lage), Breslau 1920, S. 13ff.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

Von solchen rhetorisch deutbaren Argumenten unterschieden sind Hinweise auf Inkongruenzen im Numerus zwischen Subjekt und Prädikat, wie im Beispielvers 66:4: wa-l-malāʾikatu baʿda ḏālika ẓahīrun („die Engel (im Plural) werden Helfer sein (im Singular).“) 30 Auch hier bringt Abū ʿUbaida dieselbe Formel an, die Araber würden Ausdrücke im Singular mit der Bedeutung eines Plurals gebrauchen. (wal-ʿarabu qad taǧʿalu fiʿla l-ǧamīʿi ʿalā lafẓi l-wāḥidi) Das beschriebene Phänomen unterscheidet sich allerdings deutlich von den rhetorischen Mitteln wie dem Schwur oder der Rede einer Person von sich selbst im Plural. Es geht in diesen Beispielen lediglich um eine grammatische Inkongruenz, die mit keiner kommunikativen Funktion hinterlegt ist, sondern tatsächlich am ehesten als ‚Anomalie‘ erkannt werden kann. 31 Ein Grund für die recht ausführliche Behandlung solcher Sonderfälle (— gleich vier der in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān aufgelisteten „Typen von maǧāz“ beziehen sich auf numerusspezifische Formen des anomalischen Sprachgebrauchs —) könnte in der bereits angesprochenen Wichtigkeit der rezitatorischen Praxis auch für den „wissenschaftlichen“ Korankommentar bestehen. Koranische Formulierungen, die Abū ʿUbaidas Zeitgenossen möglicherweise schwer über die Lippen gingen und die drohten, vom dialektalen, grammatikalisch nicht immer korrekten Sprachgebrauch verschliffen zu werden, bedurften der besonderen Aufmerksamkeit, welche die Erklärung des Philologen zweifellos bewirkte. Die sprachlichen Phänomene, die in Maǧāz al-Qurʾān mit dem Hinweis auf eine numerusspezifische Anomalie aufgeführt werden, sind erkennbar vielfältig und auf kein einheitliches grammatisches oder stilistisches Phänomen zu reduzieren. In den Fällen, in denen die koranische Ausdrucksweise tatsächlich grammatikalisch ‚anomalisch‘ ist und keine rhetorische Funktion hinter dem inkongruenten Gebrauch von Numeri steckt, lassen die Kommentarbeispiele den Willen des Philologen erkennen, die arabische Sprache den Regeln einer generell verstandenen Logik anzupassen, in der Substantive im Plural mit Verben im Plural, Feminine mit Femininen etc. korrespondieren und Ausnahmen von dieser Regel einzeln gerechtfertigt werden müssen. Dies wird besonders deutlich am folgenden Beispiel: wa-asarrū n-naǧwā llaḏīna ẓalamū (21:3), ḫaraǧa taqdīru fiʿli l-ǧamīʿi hāhunā ʿalā ġairi l-mustaʿmali fī l-manṭiqi li-annahum yaqūlūna fī l-kalāmi „wa-asarrū n-naǧwā llaḏīna ẓalamū“ maǧāzuhu maǧāzu iḍmāri l-qaumi fīhi wa-iẓhāru kifāyatihim fīhi llatī ẓaharat fī āḫiri l-fiʿli, ṯumma ǧaʿalū „allaḏīna“ ṣifata l-kināyati l-muẓharati, fa-kāna

30 Maǧāz II, S. 211. 31 Versteegh deutet die Diskussion arabischer Grammatiker genus-spezifischer Anomalien der arabischen Sprache wiederum sprachtheoretisch: „Presumably, the grammarians believed that there was some link between the categorial meaning and the extra-linguistic world for instance when they say that a world like ʾumm, [mother] which lacks a feminine ending, is feminine ‘in meaning’, but masculine ‘in form’.“ Versteegh, „Arabic Tradition“, S. 249.

Formen der Glossierung

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maǧāzuhu: „wa-asarra l-qaumu llaḏīna ẓalamū n-naǧwā“. Fa-ǧāʾat „allaḏīna“ ṣifatan li-hāʾulāʾi l-muḍmarīna, li-anna „faʿalū ḏālika“ fī mauḍiʿi „faʿala l-qaumu ḏālika“. 32 geheime Gespräche führen diejenigen, die Unrecht tun 33 (21:3): Die Form des Verbs im Plural erscheint hier wider den üblichen Sprachgebrauch, denn sie (die Araber) sagen in ihrer Redensart wa-asarrū n-naǧwā llaḏīna ẓalamū. Die grammatische Besonderheit (maǧāz) besteht in dem Verbergen der „Leute“ (qaum, d. h. dem Subjekt) und dem Offenbarmachen ihrer Anzahl (kifāya) in der Verbalendung [-ū]. Dann machen sie (d. h. die Araber) „diejenigen, welche“ zu einer [nachgeschobenen] Erklärung (ṣifa) des [zuvor in der Verbalendung] sichtbar gemachten [Subjekts]. Die korrekte Form der Aussage ist: „die Leute, die Unrecht tun, reden im Verborgenen.“ Das Personalpronomen (allaḏīna) wurde zum Stellvertreter für den [im Satz] verborgenen Handlungsträger, denn „sie machten“ steht an Stelle von „die Leute machten“.

Abū ʿUbaida verweist auf den üblichen Sprachgebrauch (mustaʿmal fī l-manṭiq) hier im Kontext einer syntaktischen Anomalie des scheinbaren ‚Fehlens‘ eines Subjekts in Verbindung mit einem Verb im Plural. Die gesprochene Sprache der Araber, die im Beispiel nur en passant erwähnt werden, bildet den Referenzrahmen für die ‚korrekte‘ Sprache. Grammatische Systematik und kommunikativer Gebrauch fallen dadurch in eins, oder anders gesehen: Der Rede der Araber der ǧāhilīya wird eine apriorische Grammatikalität unterstellt. 4.1.4 Metakommentare Eine Form der Glossierung, die sich in mehreren frühislamischen Korankommentaren findet, bezieht sich auf die kommunikativen Absichten, die einem koranischen Vers als Aussage Gottes an den Propheten zugrunde liegen. John Wansbrough hat für diese Form der Glossierung den Begriff der „stage direction“ geprägt, der von Kees Versteegh und Nicolai Sinai unter dem Stichwort „Regieanweisung“ bzw. „Meta-Kommentar“ aufgegriffen wurde. 34 Diese Form der Erklärung eines koranischen Lemmas hinsichtlich der ihm zugrunde liegenden kommunikativen Funktion, findet sich auch in Maǧāz al-Qurʾān. Dabei setzt Abū ʿUbaida — anders als beispielsweise Muqātil — nicht ausschließlich Gott als Sprecher eines erklärungsbedürftigen Verses fest, dessen kommunikative Absicht durch den Philologen zu erschliessen ist, sondern meist wird auf den Sprachgebrauch der Araber hingewiesen, um die kommunikative Funktion einer Äußerung zu ermitteln. Zum Beispiel:

32 Maǧāz II, S. 34. 33 Paret übersetzt: „Und die Frevler tuscheln im Geheimen.“ 34 Wansbrough, Quranic Studies, S. 124; Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 210; Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 208.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

Li-yastaḫfū minhu, a-lā ḥīna yastaġšūna ṯiyābahum (11:5), wa-l-ʿarabu tudḫilu a-lā taukīdan wa-īǧāban wa-tanbīhan. 35 Um sich vor ihm zu verbergen, aber gewiss, wenn sie sich in ihre Kleider verhüllen, [weiß Gott doch was sie geheim halten] 36 (11:5), die Araber fügen [die Partikel] a-lā (ist es nicht so, dass… d. h. „aber gewiss“) ein mit der Funktion der Bekräftigung, der Verpflichtung und der Ermahnung. 37

Den vielfachen Hinweis auf den arabischen Sprachgebrauch als Begründung für die sprachlichen Formen im Koran können wir als einen Schritt zur erstarkenden Wahrnehmung der Textualität des Korans, das heißt der Loslösung aus einem konkreten Kommunikationsszenario deuten. Abū ʿUbaida nähert sich dem Koran nicht mehr, wie noch eine Generation zuvor die Exegeten der „formativen“ Phase der Koraninterpretation, als dem Zeugnis eines kommunikativen Geschehens, dessen Bedeutung in der Intention des einen göttlichen Sprechers zu suchen wäre, sondern er nähert sich dem Koran als einem Text, der vor dem Hintergrund eines bereits als historisch wahrgenommenen Kontextes erschlossen wird. Es finden sich allerdings daneben durchaus auch Metakommentare, die Gott als Sprecher identifizieren: Māḏā arāda llāhu bi-hāḏā maṯalan (2:26), wa-hāḏā min qauli l-kuffāri ṯumma ḫtuṣira ilā qauli llāhi wa-uḍmira fīhi „qul yā Muḥammadu“, yuḍillu bihi kaṯīran (2:26), fa-hāḏā min kalāmi llāhi. 38 Was wollte Gott mit diesem Gleichnis (2:26), dies gehört zur Rede der Ungläubigen. [Die Aussage] ist verkürzt zu einer Aussage Gottes, denn darin ist [die Anrede] verborgen: „Sprich o Muḥammad“. Er lässt viele dadurch irregehen (2:26), dies ist die Rede Gottes.

Bereits aufgrund der im Vers gestellten Suggestivfrage liegt eine Diskussion von Kommunikationsabsichten hier nahe, da durch sie selbst metakommunikativ auf die koranische Rede (die Rede in Gleichnissen) rekurriert wird. 39 So findet sich auch in Abū ʿUbaidas Paraphrase an dieser Stelle keine lexikalische oder grammatische Deutung, sondern die polemische Frage „Was bezweckt Gott mit solchen Gleichnissen?“ wird als die Nachfrage der Ungläubigen erkannt und so aus der Gesamtheit der als Rede Gottes anerkannten Textgrundlage externalisiert. Abū ʿUbaidas Aussage, der Vers sei verkürzt und spare den Appellativ „Sprich, o Muḥammad“ aus, ist überra35 Maǧāz I, S. 285. 36 Paret übersetzt den ganzen Vers folgendermaßen: „Sie verschließen ja ihre Brust, um sich vor ihm zu verstecken. (Aber) wenn sie sich in ihr Gewand verkriechen, weiß er ja (trotzdem), was sie geheim halten, und was sie bekanntgeben.“ 37 Wörtlich: „deutlicher Hinweis“. 38 Maǧāz I, S. 8. 39 Zu diesem Vers und dem koranischen Paradigma des Gleichnisses siehe Kapitel „5.4 Maṯal“ (S. 182).

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schend und fügt noch eine weitere Dimension von Kommunikation hinzu. Es wird nämlich nun wiederum Gott als Sprecher installiert, der seinem Propheten die Rede der Ungläubigen in den Mund legt, bzw. über diese rapportiert. Ein Metakommentar ist diese Argumentation insofern in doppelter Hinsicht. Zum einen bemerkt Abū ʿUbaida, dass der Koran mehrere dialogische Stimmen enthält, so etwa auch den Zweifel, Spott oder die Kritik an seinem Verkünder. Zum anderen gibt der Philologe eine — in das Gewand eines syntaktischen Arguments über elliptische Sprache (uḫtuṣira) und Amendation eines Elementes (qul yā Muḥammadu) gekleidete — Auskunft darüber, dass auch diese isoliert betrachtet inhaltlich anstößigen Verse Teil der Kommunikation zwischen Gott und Prophet sind. 4.1.5 Begründung für koranische Rhetorik Neben direkten, auf Kommunikationsabsichten abhebenden „Metakommentaren“ gibt Abū ʿUbaida auch Erklärungen zu koranischen Stilelementen wie der Personifizierung oder der rhetorischen Frage, deren Funktion er in ähnlicher Weise erklärt, so dass beide Formen der Glossierungen hier unter dem Stichwort des (5) Kommentars zur Rhetorik aufgeführt werden. Die koranischen Stilformen, die Abū ʿUbaida für deutungsnotwendig hält, sind dabei manchmal erstaunlich einfach. Zum Beispiel folgender Hinweis zur Verwendung des Verbs „sehen“ mit der Bedeutung von „wissen“: a-lam tara ilā llaḏīna (4:49), laisa hāḏā raʾya ʿainin, hāḏā tanbīhun fī maʿnā: a-lam taʿrif. 40 Hast du nicht diejenigen gesehen, [welche] (4:49), dies bedeutet nicht das Sehen mit dem Auge, sondern es handelt sich um eine Ermahnung mit der Bedeutung: Weißt du nicht?

Personifizierungen Eine Erklärung, die auf das Phänomen der Personifizierung abzielt, enthält Abū ʿ­Ubaidas Paraphrase zu einem Vers in Sure 18. Dort wird im Zusammenhang der legendenhaften Unterredung zwischen Mose und einem „Diener Gottes“ 41 von einer Mauer berichtet, von der es heißt, sie „wolle einstürzen“.

40 Maǧāz I, S. 129. 41 Die islamische Tradition identifiziert die koranische Figur mit al-Ḫiḍr. Siehe Aaron Hughes, „The Stranger at the Sea. Mythopoesis in the Qurʾān and early tafsīr“, in: Studies in Religion/Sciences Religieuses 32 (2003), S. 261–279.

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yurīdu an yanqaḍḍa (18:77), wa-laisa li-l-ḥāʾiṭi 42 irādatun wa-lā li-l-mawāti wa-lākinnahu iḏā kāna fī hāḏihi l-ḥāli min rabbihi fa-huwa irādatuhu, wa-hāḏā qaulu l-ʿarabi fī ġairihi, qāla l-Ḥāriṯīyu: yurīdu r-rumḥu ṣadra Banī Barāʾin // wa-yarġabu ʿan dimāʾi Banī ʿAqīlī wa-maǧāzu „an yanqaḍḍa“ maǧāzu yaqaʿa. Yuqālu: (i)nqaḍḍati d-dāru iḏā nhadamat wa-saqaṭat, wa-qaraʾa qaumun „an yanqāḍḍa“ wa-maǧāzuhu an yanqaliʿa min aṣlihi wa-yataṣaddaʿa bi-manzilati qaulihim: „qadi nqāḍati s-sinnu“, ayi nṣadaʿat wa-taqallaʿat min aṣlihā, yuqālu: firāqun ka-qaiḍi s-sinni, ai: lā yaǧtamiʿu ahluhu, wa-qāla: firāqun ka-qaiḍi s-sinni, fa-ṣ-ṣabra, innahū // li-kulli unāsin ʿaṯratun wa-ǧubūrū 43 [Die Mauer] wollte einstürzen (18:77), die Mauer hat keinen Willen, wie überhaupt die unbelebten Dinge, aber insofern sie (die Mauer) in diesen Zustand durch ihren Herrn versetzt war, war es sein Wille [nicht der Wille der Mauer]. Die Araber drücken sich auch anderswo so aus. Al-Ḥāriṯī sagt: Der Speer will [in] die Brust der Banū Barāʾ // und verabscheut das Blut der Banū ʿAqīl. Die Bedeutung (maǧāz) von „dass sie einstürze“ (an yanqaḍḍa) entspricht der Bedeutung „[dass] sie falle“. Man sagt: „Das Haus stürzt ein“ (inqaḍḍat), wenn es zusammenbricht und fällt. Einige lesen [den Vers] an yanqāḍḍa. 44 Die Bedeutung ist, dass es aus seinem Fundament herausgerissen wird und zerbricht, so wie man sagt „der Zahn ist entwurzelt“, was bedeutet, dass er abgebrochen und von seiner Wurzel abgerissen ist. Man sagt auch: „Eine Trennung, wie das Abbrechen eines Zahns“, das bedeutet: Seine Leute sind nicht vereint. Er (der Dichter) sagt: Eine Trennung, wie das Abbrechen eines Zahns. Geduld! // Alle Menschen straucheln und ihnen wird aufgeholfen.

Auch hier ist die Notwendigkeit dieser Erklärungen aufgrund der Simplizität des metaphorischen Bildes im koranischen Lemma überraschend. Es ist schwer zu glauben, dass die Formulierung, die Mauer „wolle einstürzen“ von den Zeitgenossen Abū ʿUbaidas als Bedeutung verschleiernd wahrgenommen wurde. Sie wird daher von dem Philologen vermutlich nicht aufgegriffen, um die Bedeutung zu erhellen, sondern vielmehr um ein Beispiel für eine koranische Personifizierung zu geben. Der erste angeführte poetische Vers soll augenfällig das Vorhandensein der rhetorischen Figur der Personifizierung in der altarabischen Dichtung bezeugen. Das Argument wächst sich dann aber zu einer Darstellung mehrerer verwandter Redensarten um den Begriff qaiḍ (Zerbrechen) aus. Die starke Emphase, die Abū ʿUbaida durch diese Beispiele auf die Bedeutung des Verbs inqaḍḍa als „abbrechen, zusammenbrechen“ legt, ist von der Bedeutung des Verbs im Lemma unabhängig und scheint auch nicht dessen Erläuterung zu dienen. Vielmehr erscheint die Glosse als eine assoziative An42 Im Koranvers wird der Begriff ḥāʾiṭ nicht verwendet. Der Begriff für Mauer lautet dort ǧidār. 43 Maǧāz I, S. 410ff. 44 Diese Lesart wird nicht von Ibn Muǧāhid als eine der sieben „anerkannten“ Lesarten genannt. Siehe Ibn Muǧāhid, Kitāb as-Sabʿa, hg. von Šauqi Ḍaif, Kairo 2009, S. 394.

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sammlung von Versen und Redensarten, die den Begriff bzw. das Verb beinhalten. Es scheint Abū ʿUbaida um die Darstellung der Bedeutungsvielfalt des Verbes inqaḍḍa in den verschiedenen Konstellationen seines metaphorischen Gebrauchs zu gehen. Ähnliche Glossen zu koranischen Versen, die Personifizierungen enthalten, werden fortlaufend im Kommentar — vergleichbar mit den Hinweisen auf Anomalien in Tempus oder Numerus — wiederholt. 45 Dabei fehlt jede Erklärung dazu, welche kommunikative Absicht der Personifizierung zugrunde liegen könnte oder in welchen Kontexten diese rhetorische Form etwa im Sprachgebrauch der Araber Verwendung fand, sondern das Phänomen der Personifizierung wird — wieder vergleichbar mit den anderen „Formen des maǧāz“ — als ungewöhnliche Form des Ausdrucks gekennzeichnet. Abū ʿUbaida strebt gleichfalls keine Korrektur der „tropischen“ Verse an: fa-sʾalūhum in kānū yanṭiqūna (21:63), fa-hāḏā mina l-mawāti wa-ḫaraǧa maḫraǧa l-ādamīyīna bi-manzilati qaulihi: raʾaitu aḥada ʿašara kaukaban wa-š-šamsa wal-qamara raʾaituhum lī sāǧidīna (12:4). 46 Fragt sie, wenn sie reden können (21:63), dies bezieht sich auf unbelebte Dinge, nach der Art der Rede über Menschen, entsprechend Seinem Wort (im Koran): Ich sah elf Sterne und die Sonne und den Mond, ich sah sie sich vor mir verneigen (12:4).

Da es meist derselbe Belegvers aus Sure 12 ist, der als Beispiel für die koranische Form der Personifizierung angeführt wird, liegt es nahe, die Funktion dieser Glossen in der Belehrung über einfache rhetorische Formen zu suchen. Ellipse Ganz ähnlich wird die koranische Form der Ellipse mehrere Male mit dem formelhaften Hinweis auf einen „Typ des maǧāz“, der auch in der Einleitung angesprochen wurde, kommentiert. Die formelhafte Formulierung lautet: „der verkürzte Ausdruck, in dem ein verborgenes Element steckt“ (maǧāzu l-muḫtaṣiri wa-fīhi ḍamīrun). Der koranische šāhid, den Abū ʿUbaida als Paradigma der koranischen Ellipse anführt, ist Vers 12:82. Dazu folgende Glosse: wa-ilā Madyana aḫāhum 47 (11:84), Madyana lā yanṣarifu li-annahu smu muʾannaṯatin, wa-maǧāzuhā maǧāzu l-muḫtaṣari llaḏī fīhi ḍamīrun: „wa-ilā ahli Madyana“, wa fī l-Qurʾāni miṯluhu, qāla: wa-sʾali l-qaryata (12:82), ai ahla l-qaryati. Wa-sʾali l-ʿīra ai man fī l-ʿīri. 48 45 Siehe die Kommentare zu Q 21:99, Q 31:13, Q 36:40, Q 41:11. 46 Maǧāz II, S. 40. 47 Der ganze Versanfang in der Übersetzung Parets: „Und zu den Madjan (haben wir) ihren Bruder Schuʿaib (als unseren Boten) gesandt). Er sagte: ‚Ihr Leute! Dienet Gott! Ihr habt keinen anderen Gott als ihn. Und, ihr Leute, gebt nicht zu kleines Maß und Gewicht, so wie es recht ist, und zwackt den Leuten nicht ab, was ihnen gehört (w. ihre Sachen)!“ 48 Maǧāz I, S. 297.

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Und nach Midian [entstandten wir] ihren Bruder (11:84), Midian (d. h. das Wort Madyan) wird nicht (triptotisch) flektiert, weil es ein weiblicher Eigenname ist. Die Form [des Verses] ist die eines verkürzten Ausdrucks, in dem ein verborgenes Element steckt: „Zu den Leuten von Midian“. Im Koran gibt es das Gleiche (andernorts): Frage die Stadt! (12:82) heißt: Frage die Bewohner der Stadt! Und: frage die Karawane! heißt die Leute, die sich in der Karawane auf‌halten.

Rhetorische Fragen Ebenso zu den Glossen über koranische Rhetorik gehören Erklärungen zu anderen Stilelementen wie der rhetorischen Frage: 49 a-anta qulta li-n-nāsi ttaḫiḏūnī wa-ummiya [ilāhaini] (5:116), hāḏā bābu tafhīmin, wa-laisa bi-stifhāmin ʿan ǧahlin li-yuʿlimahu, wa-huwa yaḫruǧu maḫraǧa l-istifhāmi, wa-innamā yurādu bihi n-nahyu ʿan ḏālika wa-yatahaddadu bihi, wa-qad ʿalima qāʾiluhu a-kāna ḏālika am lam yakun, wa-yaqūlu r-raǧulu li-ʿabdihi: a-faʿalta kaḏā? Wahuwa yaʿlamu annahu lam yafʿalhu wa-lākin yuḥaḏḏiruhu. Wa-qāla Ǧarīrun: A-lastum ḫaira man rakiba l-maṭāyā // wa-andā l-ʿālamīna buṭūna rāḥī 50 lam yastafhim, wa-lau kāna stifhāman mā aʿṭāhu ʿAbdu l-Maliki miʾatan mina l-ibili bi-ruʿātihā. 51 Hast du etwa zu den Menschen gesagt: Nehmt mich und meine Mutter [zu Göttern] 52 (5:116), der Ausdruck (enthält) eine Erklärung (tafhīm) und keine Nachfrage (istifhām) aus der Position des Nichtwissens heraus, dergestalt, dass er (Jesus) Ihm (Gott) etwas mit‌teilen würde, sondern [der Vers] hat nur die Form einer Frage. Gemeint ist vielmehr ein Verbot dessen 53 und Er (Gott) spricht eine Drohung darüber aus. Der Sprecher weiß ja bereits, ob es sich so oder anders verhält. So wie jemand zu seinem Knecht sagt: „Hast du dies etwa getan?“, obwohl er weiß, dass jener es nicht getan hat, er will ihn vielmehr [mit seiner Frage] warnen. Ǧarīr sagt: Seid ihr nicht die Besten von allen, die Rücken von Reit‌tieren bestiegen, // und [habt ihr nicht] unter den Menschen die freigiebigsten Hände? 49 Die rhetorische Frage wird wiederholt thematisiert. Sie wird meist beschrieben als īǧābun wa-laisa bi-istifhāmin, siehe den Kommentar zu Q 34:33 und Q 34:40. 50 Derselbe Vers wird in Maǧāz al-Qurʾān an vier Stellen zitiert. Neben dieser Glosse in Maǧāz I, S. 36; Maǧāz II, S. 118 und 150. 51 Maǧāz I, S. 183ff. 52 Der Kontext des Verses ist ein Gespräch zwischen Gott und Jesus. Der vollständige Vers lautet in Parets Übersetzung: „Und (damals) als Gott sagte: ‚Jesus, Sohn der Maria! Hast du (etwa) zu den Leuten gesagt: Nehmt mich und meine Mutter zu Göttern!‘ Er sagte: ‚Gepriesen seist du! (Wie dürfte man dir andere Wesen als Götter beigesellen!) Ich darf nichts sagen, wozu ich kein Recht habe. Wenn ich es (tatsächlich doch) gesagt hätte, wüsstest du es (ohnehin und brauchtest mich nicht zu fragen). Du weißt Bescheid über das, was ich (an Gedanken) in mir hege. Aber ich weiß über das, was du in dir hegst nicht Bescheid. Du (allein) bist es, der über die verborgenen Dinge Bescheid weiß.‘“ 53 Der Vergötterung Jesu und seiner Mutter.

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Dabei wollte er sich nicht erkundigen. Wenn dies eine Nachfrage gewesen wäre, hätte ʿAbd al-Malik ihm nicht hundert Kamele samt ihren Hirten gegeben.

Wir können wiederum nur vermuten, dass nicht die Unverständlichkeit des Verses selbst diese Erklärungen erforderlich machte, sondern dass Abū ʿUbaida auch diese Stilform im Koran als Beispiel aufgreift, um eine Sonderform des Sprachgebrauchs zu illustrieren oder aber, um ein mit den Spielarten sprachlicher Stilistik noch unvertrautes Publikum über grundlegende Ausdrucksmittel zu informieren. Die Bemerkung über ʿAbd al-Malik ibn Marwān in Folge des šāhid setzt offenkundig außertextuelles Wissen voraus. 54 Die Aussage soll belegen, dass es sich bei der im Vers als Frage (a-lastum) formulierten Behauptung der Freigiebigkeit einer Gruppe eigentlich um ein erwiesenes Faktum handelt. Schwüre? Wir haben oben bereits kurz darauf hingewiesen, dass Abū ʿUbaida die rhetorische Form des Schwurs kennt und mit dem Begriff qasam benennt. Die überwiegende Zahl der Schwurserien, die zu Beginn vieler früh- und mittelmekkanischer Suren stehen, werden in Maǧāz al-Qurʾān allerdings nicht mit dem Stichwort des qasam versehen, sondern sie werden im Kommentar übersprungen oder lediglich zum Gegenstand lexikalischer Ausdeutung gemacht. Stattdessen finden sich Beispiele für den Gebrauch des Begriffs, bei denen offenbar andere sprachliche Formen als der Schwur gemeint sind. Zum Beispiel taucht der Begriff qasam in der Glosse zu Vers 8:5 auf. In der Glosse geht es — wie auch im Koranvers — nicht um einen Schwur, sondern um die Verwendung der Partikel mā mit der Bedeutung eines Relativpronomens: kamā aḫraǧaka rabbuka min baitika bi-l-ḥaqqi (8:5), maǧāzuhā maǧāzu l-qasami, ka-qaulika: wa-llaḏī aḫraǧaka rabbuka, li-anna mā fī mauḍiʿi llaḏī. Wa-fī āyatin uḫrā: wa-s-samāʾi wa-mā banāhā (91:5), ai wa-llaḏī banāhā wa-qāla: daʿīnī innamā ḫaṭaʾī wa-ṣaubī // ʿalaiya wa-in mā ahlaktu mālū ai: wa-inna llaḏī ahlaktu mālun. 55 So wie dein Herr dich aus deinem Haus herausziehen ließ in Wahrheit 56 (8:5), die Form ist die eines qasam, wie wenn du sagst: „derjenige, der dich ausziehen ließ, ist 54 Sezgin erklärt, dass es sich um den Umayyadenkalifen ʿAbd al-Malik ibn Marwān handelt und gibt einen Hinweis auf Ibn Sāʿd, Kitāb aṭ-Ṭabaqāt al-kabīr (Bd. 5, S. 165). Dort finden sich allerdings lediglich biographische Angaben über ʿAbd al-Malik, welche die Anekdote und damit den Vers nicht erhellen. Bekannt ist, dass sich der Dichter al-Ǧarīr am Hof ʿAbd al-Maliks auf‌hielt, zunächst in dessen Gunst stand und schließlich gegenüber seinen Konkurrenten al-Farazdaq und al-Aḫṭal das Nachsehen hatte. (Siehe Schaade und Gätje, Eintr. „Djarīr“, in: EI²) 55 Maǧāz I, S. 240–241. 56 In Parets Übersetzung: „(Du erinnerst dich doch), wie dein Herr dich mit der Wahrheit aus deinem Haus herauskommen ließ, während einige von den Gläubigen dagegen waren.“

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dein Herr“, denn [die Partikel] mā steht an Stelle von allaḏī (d. h. derjenige, welcher). In einem anderen Vers: Beim Himmel und (bei) dem der ihn aufgebaut (91:5), das bedeutet: bei demjenigen, der ihn aufgebaut hat. Er (ein Dichter) sagt: Lass mich! Mein Fehltritt und mein Gelingen // sind meine [Sache]; selbst wenn das, was ich vernichte, (viel) Vermögen ist. Das heißt: das, welches ich vernichtete, ist Vermögen.

Obwohl die Partikel mā natürlich nicht grundsätzlich einen Schwur anzeigt, ist sie doch Bestandteil einiger Schwurserien, 57 (wie etwa des hier zitierten Belegverses wa-s-samāʾi wa-mā banāhā). Abū ʿUbaidas Argument scheint hier im Kontext der kontemporären grammatischen Diskussion des Schwurs verstanden werden zu müssen. Die Partikel mā wird beispielsweise im Kitāb Sībawaih als ḥarf qasam (Partikel der Schwurevokation) diskutiert. 58 Auf‌fällig bleibt jedoch, dass Abū ʿUbaida den Begriff qasam nicht am Schwur selbst, sondern an der Partikel mā festzumachen scheint. Auch der poetische šāhid enthält keinen Schwur, sondern die Partikel mā mit der Bedeutung eines Relativpronomens. Eine andere Bedeutung des Begriffs qasam im Gebrauch der arabischen Grammatiker lässt sich nicht finden, was insgesamt bedeuten würde, dass das rhetorische Stilmittel des Schwurs den Philologen ebenfalls lediglich hinsichtlich der grammatischen Funktion der beteiligten Partikel interessiert, nicht hinsichtlich dessen rhetorischer Funktion. 4.1.6 Seltene Formen Identifikation Nur sehr selten bietet Abū ʿUbaida eine Identifikation koranischer Begriffe mit eindeutig außertextuellen, etwa historischen Referenten an. Darin besteht ein maßgeblicher Unterschied des philologischen Korankommentars zu den vorausgegangenen Kommentaren der „ersten Generation“. Muǧāhid ibn Ǧabr und Muqātil ibn Sulaimān hatten exzessiv nach Referenten für im Koran angesprochene Namen, Orte oder Personen gesucht. 59 Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel sprechen für sich: So hält Abū ʿUbaida etwa die Äußerung der Vermutung für notwendig, die Ankündigung eines „großen Angriffs“, der in der mittelmekkanischen Sure 44 eindeutig 57 Vgl. Q 68:1, 69:38–39, 84:17, 91:5–8. 58 Michael Carter, Sībawaihi, Oxford 2004, S. 88. 59 Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 68: „Muqātil is a very good example of the tendency in the early commentaries to provide explanations for such references: he even informs us that the person meant by the Qurʾānic phrase ṯumma aḏḏana muʾaḏḏin (Q.12/70) was called Baʿrāyim ibn Barbarī (Tafsīr II, 344.9), and to top it all, he explains that the ant who talked to Sulaymān (Q.27/18) was called al-Ǧarmī (Tafsīr III, 299.12).“

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vor dem Hintergrund einer eschatologischen Vorausschau steht, beziehe sich auf die Schlacht von Badr. 60 Yauma nabṭišu l-baṭšata l-kubrā (44:16), yuqālu innahā yaumu Badrin. 61 Am Tag, an dem wir gewaltig zupacken (44:16), man sagt, dies sei der Tag (der Schlacht) von Badr.

Eine solche historische Identifizierung, die in Maǧāz al-Qurʾān, soweit ich sehe, eine alleinige Ausnahme darstellt, lässt Abū ʿUbaidas Kommentar wiederum als eine stark am Wortsinn orientierte Hermeneutik erscheinen. Eschatologische Sinninhalte, die auch eine metaphorische, bzw. „anagogische“ 62 Bedeutung des „großen Angriffs“ einschließen würden, werden in seiner Interpretation getilgt. Die Ankündigung eines Ereignisses, das zu Abū ʿUbaidas Lebenszeit bereits in der Vergangenheit lag, provoziert zudem die Frage, worin die Aktualität der koranischen Botschaft für den Philologen bestand. Den „großen Angriff“ als die prophetische Ankündigung eines Ereignisses der Vergangenheit zu interpretieren, hat die Wirkung eines heilsgeschichtlichen fait accomplis, auf den sich die islamische Gemeinde im ausgehenden 8. Jahrhundert siegreich berufen kann. Auch hier drängt sich ein Vergleich mit den rabbinischen Midraschim auf, die zahlreiche historisierende Interpretationen prophetischer Ankündigungen enthalten. Der ethische Weisungscharakter, den der Bibeltext prinzipiell enthalte, ergibt sich dort gerade nicht dadurch, prophetische Voraussagen auf Ereignisse der (nahen) Zukunft hin zu deuten, sondern die als „historisch“ wahrgenommenen Ereignisse der Bibel für die Gegenwart auszulegen. 63 Hinweise auf die koranische Textgeschichte Obwohl Abū ʿUbaida sich als nicht sonderlich interessiert an Problemen der Ver­ kün­digungschronologie und damit der Datierung einzelner Suren oder Verse des Korans zeigt, sondern — wie wir etwa an der Darstellung des Begriffs qurʾān in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān gesehen haben — die Ganzheitlichkeit und Gleichrangigkeit der formal verschiedenen koranischen Offenbarungstexte betont, stoßen wir auch hier auf eine Ausnahme:

60 Die Schlacht von Badr hat im Jahr 624 (2 Jahre nach der Hiǧra) zwischen der jungen islamischen Glaubensgemeinschaft und Angehörigen des Stammes Quraiš stattgefunden. Das Ereignis markiert den ersten militärischen Triumph des Propheten und seiner Glaubensanhänger. Siehe Khalil Atha­ mina, Eintr. „Badr“, in: EI³. 61 Maǧāz II, S. 208. 62 Der dritte Sinn der christlichen Bibelhermeneutik seit Origenes ist der anagogische Schriftsinn, welcher die Hoffnung auf endzeitliche Erlösung betrifft. Siehe Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung. 63 Siehe Kugel, How to Read the Bible; Daniel Boyarin, Intertextuality and the Reading of Midrash, Bloomington 1990.

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wa-ntaẓir innahum muntaẓirūna (32:30), hiya makkīyatun wa-kullu āyatin umira fīhā n-nabīyu -ṣlʿs- bi-l-makṯi wa-l-intiẓāri wa-ṣ-ṣafḥi wa-l-ʿafwi fa-hiya makkīyatun ilā an umira bi-l-hiǧrati, fa-lammā qadima l-Madīnata umira bi-l-basṭi wa-l-ḥarbi fakullu āyatin umira fīhā bi-l-basṭi fa-hiya madanīyatun. 64 Warte ab, auch sie warten ab (32:30), [Der Vers] ist mekkanisch, weil alle Verse, in denen dem Propheten das Ausharren und Abwarten und das Vergeben und Verzeihen befohlen wird, mekkanisch sind, bis ihm die Auswanderung befohlen wurde. Als er aber nach Medina kam, wurden ihm das Ausbreiten (der Lehre) und der Krieg befohlen. So ist jeder Vers, in dem ihm konfrontatives Verhalten 65 befohlen wird, medinisch.

Dieser Hinweis auf die Einteilung der Verse des Korans in mekkanische und medinische erfolgt unvermittelt und ohne ersichtliche kontextuelle Notwendigkeit. Der Imperativ im Versausschnitt: „Warte! Sie warten auch“, stellt im Kontext der Sure eine Prophetentröstung dar. Dass Abū ʿUbaida die Reflexion über die Unterscheidbarkeit mekkanischer und medinischer Verse hinsichtlich der erkennbaren Tendenzen im Umgang mit der Offenbarung und dem öffentlichen Verhalten der Anhänger Muḥammads anstellt, kann als Indiz für die Einbeziehung der Semantik des Kontextes in die Interpretation einzelner Versausschnitte gedeutet werden. Die hermeneutische Unterscheidung von mekkanischen und medinischen Versen hinsichtlich des geforderten Umgangs mit dem empfangenen Gotteswort ist trotzdem kein Plädoyer für die Einbeziehung der Textgeschichte und -chronologie.

4.2 Formen der Segmentierung Als Formen der Segmentierung beobachten wir hier 1. die Paraphrasepartikel, 2. die Form der Zitation aus dem Koran und 3. interpretative Rückbezüge innerhalb des Kommentars. Formen der Segmentierung des Kommentars geben in erster Linie Auskunft über die Handhabung des Primärtextes (des Korans) durch den Exegeten. Stärker noch als die Formen der Glossierung akzentuiert die Darstellung der Segmentierungsformen den technischen Umgang Abū ʿUbaidas mit dem Koran. Neben Paraphrasepartikeln sollen hier zunächst die in Maǧāz al-Qurʾān gebräuchlichen Zitationsweisen (aus dem Koran) einen Eindruck von der inaugurierten ‚Hierarchie‘ von Text und Kommentar geben und ggf. Schlüsse auf die mediale Verfasstheit und den Sitz im Leben des Kommentars selbst geben. Dabei bleibt zu vermuten, dass Maǧāz al-Qurʾān eine Zwischenstellung zwischen schriftlich verfasstem „Buch“ und in mündlichen Kontexten entstandenem und gebräuchlichem Lehrtext einnimmt. 64 Maǧāz II, S. 133. 65 Wörtlich eigentlich: „die Ausbreitung“. Es könnte auch die Disputation oder gar der Kampf gemeint sein.

Formen der Segmentierung

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4.2.1 Paraphrasepartikel Die Paraphrasepartikel, die bei den unterschiedlichen Formen der Glossierung verwendet werden, entsprechen weitestgehend den Verwendungen in den kontemporären und vorausgegangenen Kommentaren, 66 wobei in Maǧāz al-Qurʾān diejenigen Paraphrasepartikel der früheren Generation fehlen, die auf eine kommunikativ pragmatische Inaugurierung der Versbedeutung schließen lassen, wie etwa der Zusatz yaʿnī bihi 67 („er meint damit …“). Solche Zusätze suggerieren die Signifikanz der Intention des göttlichen Sprechers für die Bedeutung des Verses. Stattdessen wird die Paraphrase zu einem klärungsbedürftigen Lemma A oft mit einem neutralen ai („heißt“, „bedeutet“), oder dem in den philologischen, nicht aber den „paraphrastischen“ Kommentaren der „formativen Phase“ gebräuchlichen Substantiv maʿnāhu 68 („seine/die Bedeutung ist…“) angekündigt. Dabei werden die unterschiedlichen Partikel synonym verwendet und sind von der Form und dem Inhalt der Glossen unabhängig. Als Spezifikum für Abū ʿUbaidas Kommentar kommt der Begriff maǧāz als Paraphrasepartikel hinzu, der im Kommentar anders als in der Einleitung oft synonym zu maʿnā ist und in derselben Form verwendet wird: A maǧāzuhu B. Oder maǧāz A maǧāz B. Vielen Glossen in Maǧāz al-Qurʾān fehlt auch eine Paraphrasepartikel, d. h. die Glossierung eines Lemmas erfolgt ohne zwischengeschalteten Hinweis. Die verschiedenen Paraphrasepartikel variiert Abū ʿUbaida beliebig, was an folgendem besonders elliptischen Beispiel erkennbar wird: 69 min ʿibādihi ǧuzʾan ai naṣīban, au man yunšaʾu fī l-ḥilyati, yaʿnī l-ḥilā wa-hāḏihi l-ǧawārī, ʿalā ummatin ʿalā millatin wa-stiqāmatin, wa-iḏ qāla Ibrāhīmu maʿnāhā wa-qāla Ibrāhīmu. 70 [Sie ernannten] Diener von ihm zu einem Teil [von ihm], das heißt: zu einem Anteil, jemand, der von Kindheit an herausgeputzt wird, das bedeutet: die Schmuckstücke, und das sind die Mädchen, in einer Glaubensrichtung, gemäß einem Bekenntnis und mit Geradlinigkeit, 71 als Abraham sagte, die Bedeutung ist: und Abraham sagte.

Diese Form der Segmentierung durch (oder ohne) Paraphrasepartikel findet sich sowohl bei der Erklärung koranischer Lemmata als auch bei der Erklärung zitierter Verse aus der Dichtung. Bezieht sich die Glosse auf ein klärungsbedürftiges Lexem, wird dieses bei der Paraphrase manchmal wiederholt. 66 Siehe Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 97. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ich lasse die Nummern der von Abū ʿUbaida paraphrasierten Verse an dieser Stelle gezielt weg, um das Verhältnis von Text und Kommentar übersichtlicher darzustellen. Die zitierten Verse entstammen den Versen 15, 18, 23, 26 und nochmals 26 in Sure 43 (az-Zuḫruf). 70 Maǧāz II, S. 202f. 71 Ganz wörtlich: das „Sich-geradeaus-Richten“, vgl. amma: „auf ein Ziel zustreben“.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

Aufgrund der scheinbaren Beliebigkeit der Paraphrasepartikel lässt ihre Beobachtung allein noch keine Schlussfolgerungen über das Verhältnis von Text und Kommentar oder den Sitz im Leben des Maǧāz zu. Sehen wir uns zunächst ein weiteres Segmentierungsmittel an. 4.2.2 Zitationsweisen Die bisherigen Beispiele aus Maǧāz al-Qurʾān haben bereits aufgezeigt, dass Abū ʿ­Ubaida Koranverse in der Regel nicht vollständig zitiert, sondern je Versatzstücke aus dem auszulegenden Vers herauslöst. Dabei handelt es sich um einzelne Begriffe oder aber um Versteile, die in der schriftlichen Form des Kommentars einen unvollständigen Eindruck machen und die kaum ohne den zusätzlichen Blick in den Primärtext bzw. die Kenntnis desselben verständlich werden. Eine begriff‌liche Unterscheidung zwischen analytischem und synthetischem Zitationsstil in frühen Korankommentaren trifft Sinai, der vor allem den Tafsīr Muqātil mit dem von John Wansbrough beschriebenen, auf Ibn ʿAbbās bzw. Ibn al-Kalbī 72 zurückreichenden Kommentartext Tanwīr al-miqbās kontrastiert. 73 Im vorwiegend analytisch zitierenden Tanwīr al-miqbās werde der Korantext so unterteilt, dass nach jedem Ausdruck bzw. jeder Wendung, die Anlass für eine Erläuterung gibt, sofort die einschlägige Glosse folgt; es wird nach Möglichkeit vermieden, Erklärungen zu unterschiedlichen Explananda miteinander zu kombinieren. 74

Das Verhältnis von Text und Kommentar läuft durch das analytische Zitieren in Korankommentaren wie dem Tanwīr al-miqbās auf ein 1:1 Verhältnis zu. Dem gegenüber sei der synthetisch zitierende Kommentar, für den der Tafsīr Muqātil ein Beispiel bietet, darum bemüht, den koranischen Primärtext nicht auseinanderzureißen. Dort schließt der Kommentar an einen vollständig zitierten Vers oder zumindest eine vollständige Satzaussage an. Die unterschiedliche Form des Segmentierens lässt — wie Sinai vermutet — auf die mediale Verfasstheit des Kommentars, d. h. auf dessen vorrangige Mündlichkeit oder Schriftlichkeit schließen. Für die vermutete Beziehung zwischen (vorwiegend) synthetischer Segmentierung und oralem Entstehungshintergrund einerseits und (vorwiegend) analytischer Segmentierung und schriftlicher Entstehung andererseits spricht die Tatsache, dass der Tafsīr Muqātil noch weitere Spuren eines oralen Überlieferungsstadiums aufweist, die im Tanwīr fehlen. So verzichtet der Tanwīr sehr viel öfter als der Tafsīr Muqātil auf 72 Der Tanwīr-Text stellt vermutlich die Rezension eines Teils des tafsir Ibn ʿAbbās durch seinen Schüler Ibn al-Kalbī dar. Siehe Sezgin, GAS, Bd. 1, S. 27 mit Angaben zu modernen Druckausgaben. 73 Zu diesem Text siehe Andrew Rippin, „Tafsīr Ibn ʿAbbās and criteria for dating early tafsīr texts“, in: JSAI 18 (1994), S. 38–83. Und ders., Approaches to the history of the interpretation of the Qurʾān, Oxford 1988. 74 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 180.

Formen der Segmentierung

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die Verwendung von Konnektiven zwischen Koranzitat und Erläuterung (z. B. dem Koranzitat nachgestelltes yaʿnī, yaqūlu, ay, oder vorangestelltes ṯumma qāla). 75

Weite Teile von Maǧāz al-Qurʾān und den benachbarten Kommentaren von alFarrāʾ und al-Aḫfaš können mit der Technik des „analytischen Segmentierens“ beschrieben werden. Dass die auszulegenden Begriffe bei der Paraphrase zum Teil wiederholt werden und auch grammatische Formen des Koranverses (etwa Konjugation der Verben) in der Paraphrase beibehalten werden, lässt dabei trotzdem einen Willen zur Unterordnung des Kommentars unter den Primärtext erkennen. Im Gegensatz zu dem durchgängig analytisch zitierenden Tanwīr al-miqbās verfährt Abū ʿUbaida bei seiner Kommentierung allerdings nicht ausschließlich analytisch, sondern seine Zitationsweise könnte vor allem als selektiv beschrieben werden. Nicht nur werden die auszulegenden Koranverse durch jeweils eingestreute, direkte Kommentare unterbrochen, sondern vor allem werden ganze Verse übersprungen und darauf‌hin mit der Kommentierung je erst bei dem Vorkommen eines klärungsbedürftigen Begriffs neu eingesetzt. Vor allem die kürzeren, am Ende des kanonischen Korankorpus angesiedelten Suren werden von Abū ʿUbaida recht kurz abgehandelt und teils sehr selektiv zitiert. Zum Beispiel wird aus der aus 12 Versen bestehenden Sure 64 (at-Taġābun), lediglich ein Vers erklärt, dieser allerdings als Ganzer (synthetisch) zitiert: wa-man yuʾmin bi-llāhi wa-yaʿmal ṣāliḥan yukaffir ʿanhu saiyiʾātihi wa-yudḫilhu ǧannātin taǧrī min taḥtihā l-anhāru (64:9), fa-maǧāzuhā ʿalā lafẓi man wa-huwa lafẓun wāḥidun wa-l-maʿnā yaqaʿu ʿalā l-ǧamīʿi aiḍan fa-ǧāʾat ḫālidīna fīhā abadan. (64:9) 76 Wer an Gott glaubt und rechtschaffen handelt, dessen Fehltaten verdeckt Er und führt ihn in Gärten ein, durch die Ströme fließen (64:9), formal steht [der Ausdruck] im Singular „wer“, doch gemeint sind [die Menschen] im Plural. Es geht weiter: Wobei sie ewig dort weilen. (64:9)

Trotz des mehrheitlichen „analytischen“ Zitierens aus dem Koran finden sich in Maǧāz al-Qurʾān doch auch mehrere solcher Passagen, in denen Abū ʿUbaida „synthetisch“ segmentiert. In Ausnahmefällen werden sogar ganze Verse zitiert und noch seltener wird die Versgrenze beim Zitat eines Lemmas überschritten. Zum Beispiel: Mā anzalnā ʿalaika l-qurʾāna li-tašqā * illā taḏkiratan li-man yaḫšā (20:2–3), maǧāzuhu maǧāzu l-muqaddami wa-l-muʾaḫḫari wa-fīhi ḍamīrun, wa-lahu mauḍiʿun āḫaru: mina l-muḫtaṣari llaḏī fīhi ḍamīrun: „Mā anzalnā ʿalaika l-Qurʾāna illā taḏkira-

75 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 182. 76 Maǧāz II, S. 260.

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tan li-man yaḫšā, lā li-tašqā“; Wa l-mauḍiʿu l-āḫaru: „Mā anzalnā ʿalaika l-Qurʾāna li-tašqā, wa-mā anzalnāhu illā taḏkīratan li-man yaḫšā“. 77 Wir sandten nicht den Koran auf dich, dass du elendig seist, sondern zur Ermahnung für den, der gottesfürchtig ist (20:2–3), die Form ist die der syntaktischen Verdrehung (des hysteron proteron) in der ein verborgenes Element steckt. [Der Vers] hat noch einen zweiten Aspekt, nämlich den des verkürzten Ausdrucks, in dem auch ein verborgenes Element steckt: „Wir sandten dir den Koran nur als Ermahnung für den, der gottesfürchtig ist, nicht, damit du elend seiest.“ Und der zweite Aspekt: „Wir sandten dir nicht den Koran, damit du elendig seist, wir sandten ihn vielmehr nur als Ermahnung für den, der gottesfürchtig ist“.

Das Enjambement in der Zitation hat offenkundig seinen Grund in der syntaxspezifischen Argumentation. Abū ʿUbaida interessiert sich für die Aussage, die sich über zwei Verse erstreckt aufgrund der darin enthaltenen syntaktischen Inversion, die nur begreif‌lich wird, wenn der ganze Satz zitiert wird. Dieses Argument ist sowohl in einem schriftlichen, als auch einem mündlichen Kommentar denkbar und lässt als solches keine weitreichenden Schlüsse auf die mediale Verfasstheit des Maǧāz oder die Handhabung einer Vorlage des Primärtextes zu. Allerdings sind Beispiele für synthetisches Zitieren wie dieses die Ausnahme in Maǧāz al-Qurʾān. Es lässt sich in der Regel ein Grund dafür finden, weshalb Abū ʿUbaida in Einzelfällen längere Passagen zitiert. Zumeist beinhalten die Verse syntaktisch-stilistische Besonderheiten, wie hystera protera, die nur im vollständigen Zitat verständlich werden. Aber auch inhaltlich lässt sich eine Gemeinsamkeit der synthetisch zitierten Verse beobachten. Es sind nämlich meist allgemeine Aussagen über das Schicksal oder die Verhaltensweisen des Menschen, die an verschiedenen Surenanfängen platziert sind und die leicht vorstellbar als Glaubenssätze auch jenseits der engeren liturgischen Textpraxis oder wissenschaftlichen Exegese kursiert haben könnten. So zum Beispiel: Inna l-insāna la-fī ḫusrin * illā llaḏīna āmanū wa-ʿamilū ṣ-ṣāliḥāti (103:2–3), maǧāzu „inna l-insāna“ fī mauḍiʿi „inna l-unāsi“ li-annahu yustaṯnā l-ǧamīʿu mina l-wāḥidi wa-innamā yustaṯnā l-wāḥidu mina l-ǧamīʿi, wa-lā yuqālu: „inna zaidan qādimun illā qaumuhu“, wa-fī āyatin uḫrā: inna l-insāna ḫuliqa halūʿan * iḏā massahu š-šarru ǧazūʿan * wa-iḏā massahu l-ḫairu manūʿan * illā l-muṣallīna (70:19–22) […] 78 Der Mensch befindet sich im Verlust * anders aber diejenigen, die glauben und gute Werke tun (103:2–3), der Ausdruck „der Mensch“ bedeutet „die Menschen“, denn es wird ein Plural (d. h. mehrere Menschen) von einem (formalen) Singular („der Mensch“) ausgenommen. Man sagt (eigentlich) nicht: „Zaid kommt, außer seine Leu77 Maǧāz II, S. 15. 78 Maǧāz II, S. 310.

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te“. 79 In einem weiteren Vers (heißt es): Der Mensch ist ungeduldig erschaffen * Wenn ihm Schlimmes widerfährt, ist er mutlos * Und wenn ihm Gutes widerfährt, ist er knausrig * anders aber die Betenden (70:19–22) […]

Angesichts solcher Beispiele erweist sich die Klassifikation „analytische Segmentierung“ mit der Schlussfolgerung der schriftlichen Verfasstheit des Kommentars, der für die selbstständige Lektüre jenseits von Unterrichts- oder Vortragssituationen vorgesehen wäre, für die Beschreibung von Maǧāz al-Qurʾān als nicht ausreichend. Vielmehr scheint der Kommentar auch hinsichtlich der Segmentierungstechnik eine Zwischenstellung zwischen mündlichem Vortragstext und redaktionell durchwirktem Autorenbuch einzunehmen. Auch die Variation der Paraphrasepartikel kann dahingehend als Merkmal des zwar mündlich kommunizierten, aber auf schriftliche Vorlagen zurückgreifenden Kommentars ins Feld geführt werden. Die Anbringung von Überleitepartikeln wie den Paraphrasepartikeln oder überleitenden Formulierungen wie dem ṯumma qāla („dann heißt es weiter im Koran“) wurde von Sinai als ein Merkmal schriftlicher Kommentartexte gedeutet. Dass der philologische Kommentar diese Partikeln beliebig variiert oder auch auslässt, könnte allerdings auch darauf schließen lassen, dass im schriftlichen, als Buch außerhalb direkter Lehrsituationen verständlichen Kommentar auf diese Merkmale verzichtet werden kann, da dem schriftlichen Text andere, beispielsweise graphische Formen der Überleitung und Differenzierung von Zitat und Paraphrase zur Verfügung stehen. 4.2.3 Kontinuität durch Rückbezüge innerhalb des Kommentars Eine weitere Beobachtung würde die Annahme eines Sitz im Leben des Kommentars in der mündlichen Lehrsituation mit schriftlichen Vorlagen bestätigen. Versteegh hat bereits auf mehrmals vorkommende Kontinuitätsmarker im Maǧāz hingewiesen, d. h. auf Formulierungen wie: wa-qad fassarnāhā fī ġair hāḏā l-mauḍiʿi 80 („wir haben dies in einem anderen Kontext erklärt…“), oder wa-qad fariġnā minhu fī mauḍiʿin qabla hāḏā 81 („dies haben wir bereits in einem anderen Kontext zu Ende geführt.“ d. h. vollständig abgehandelt?). Auch scheinen die einzelnen Suren im Kommentar Abū ʿUbaidas thematische Abschnitte darzustellen, die vor allem bei den kürzer werdenden Suren vielleicht als Lehreinheiten vorgestellt werden können. Innerhalb der Kommentierung einer Sure steht mit unterschiedlich deutlicher Erkennbarkeit ein exegetisches Thema im Vordergrund. Explikative Glossen werden dann in schneller Folge ohne ersichtlichen Grund wiederholt, vielleicht um die Einprägung grammatischer Regeln oder der Be79 D. h. statt des umgekehrten, gängigen Falls einer ‚Ausnahme‘ eines einzelnen von einer Gruppe: „Zaids Leute kommen, aber nicht er selbst.“ 80 Maǧāz I, S. 223 (vgl. Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 52). 81 Maǧāz I, S. 250; I, S. 271; II, S. 103, II, S. 123 (Vgl. Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 52 mit einem weiteren Beispiel).

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deutung von Begriffen zu erleichtern. Ein deutliches Beispiel ist dafür Sure 12 (Yūsuf). Dort wird die Erklärung zur Partikel a-lā im Sprachgebrauch der Araber vier Mal mit identischer explikativer Glosse wiederholt: a-lā taukīdun wa-īǧābun wa-tanbīhun (Vers 6, Vers 8, Vers 24 und Vers 95). („[die Partikel] a-lā dient der Bestätigung, der Antwort und Versicherung.“ 82) Im Kommentar zu Sure 21 (al-Anbiyāʾ) wird an fünf Stellen (Vers 30, Erklärung zu poetischem šāhid in Folge des Kommentars zu Vers 33, und Vers 37, 63 und 99) 83 das Phänomen der Personifizierung besprochen. Dies sicher nicht, weil nur in dieser Sure die Personifizierung im „Primärtext“ (dem Koran) eine Rolle spielen würde und ebenfalls nicht, weil die Erklärung in fünf Varianten im Kommentar notwendig wäre. Stattdessen dient der Text der Sure der Illustration und Demonstration der Figur der Personifizierung durch den Philologen, die er — vermutlich aus didaktischen Gründen — wiederholt. Vergleichbar wird im Kommentar zu Sure 20 (Ṭā-hā) neun Mal auf Dialektunterschiede unter Einsatz der Formulierung yaqūlu qaum („manche Leute sagen/lesen“) hingewiesen, wobei der Begriff (qaum) zuvor nicht gebraucht und das Phänomen des Dialektunterschieds zuvor kaum thematisiert wurde. 84 Bei der Kommentierung der im muṣḥaf weiter hinten angesiedelten Suren ist die Argumentation bisweilen stark verkürzt und setzt offenkundig ein bereits geführtes Argument voraus. Zum Beispiel verkürzt sich bei der Kommentierung der „geheimnisvollen Buchstaben“, die am Anfang von 29 Suren stehen, 85 eine zunächst sehr ausführliche Erklärung zur Funktion der fawātiḥ in der rezitatorischen Textpraxis zu einer knappen Stellungnahme. In Sure 20 noch erläutert Abū ʿUbaida ausführlich: Ṭā-hā (20:1), sākinun li-annahu ǧarā maǧrā fawātiḥi sāʾiri s-suwari llawātī maǧāzuhunna maǧāzu ḥurūfi t-tahaǧǧī, wa-maǧāzu mauḍiʿihi fī l-maʿnā ka-maǧāzi btidāʾi fawātiḥi sāʾiri s-suwari, qāla Abū Ṭufailata l-Ḥirmāzīyu: fa-zuʿima anna ṭā-hā „yā

82 Maǧāz I, S. 302ff. 83 Maǧāz II, S. 36f. 84 Die Beispiele in Sure 20 sind die Kommentare zu einem poetischen šāhid in Folge der Glosse zu Vers 12, danach die Glosse zu Vers 18, Vers 63, der Kommentar zu dem innerkoranischen Belegvers 33:56, der Kommentar zu einem poetischen šāhid in Folge desselben Verses, der Kommentar zu Vers 20:77, 97 und zwei Mal zu Vers 98. (Maǧāz II, S. 16, 17, 21, 22, 24 und 25). 85 Zu den muqaṭṭaʿāt ist viel geschrieben worden. Die Diskussion um die scheinbar zusammenhanglosen Buchstaben an 29 Surenanfängen drehte sich zunächst um die Frage, ob die Buchstaben Bestandteil des koranischen Verkündigungstextes, oder Notationen späterer Redaktionen des Korantextes, etwa die Abkürzungen für Namen von Personen, denen Koranexemplare gehörten, darstellen. Siehe Theodor Nöldeke, GdQ, Bd. 1, S. 215f. Jüngere Forschung hat stärker den literarischen Kontext der „geheimnisvollen Buchstaben“ einzelner Suren, denen die Buchstaben vorangestellt sind, einbezogen. Siehe z. B.: Alford Welch, Eintr. „al-Ḳurʾān“, in: EI². Zum hermeneutischen Wert der hawāmīm für die frühislamischen Koranwissenschaften siehe auch Dayeh, „Meccan Surahs“ und Martin Nguyen, „Exegesis of the ḥurūf al-muqaṭṭaʿa: Polyvalency in Sunnī Traditions of Qur‘anic Interpretation“, in: Journal of Quranic Studies 14/2 (2012), S. 1–28.

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raǧulu“ wa lā yanbaġī an yakūna sman li-annahu sākinun wa-lau kāna sman ladaḫalahu l-iʿrābu. 86 Ṭā-hā (20:1), ohne Schlussvokal (gemeint ist wohl die Lesart: ṭah), 87 weil der Ausdruck die Form [und Funktion] der eröffnenden Buchstaben der Suren hat, deren Bedeutung ist: die Buchstaben des Alphabets. Abū Ṭufaila al-Ḥirmāzī behauptet, ṭā-h(ā) bedeute „o Mann“ 88; es kann aber nicht sein, dass sie (die Buchstaben) ein Nomen (oder einen Namen) bezeichnen, weil sie ohne Endung gelesen werden, denn wenn es sich um ein Nomen handeln würde, käme eine Kasusendung hinzu.

Hingegen muss bei der Kommentierung von Sure 50 folgende kurze Auf‌frischung ausreichen: „qāf (50:1), maǧāzuhā maǧāzu awāʾili s-suwari.“ 89 („qāf (50:1), seine Funktion ist die der eröffnenden Buchstaben am Anfang der Suren.“) Einige koranische Begriffe, die keine spezifisch hohe Klärungsbedürftigkeit vermuten lassen, werden im Kommentar fortlaufend und unermüdlich paraphrasiert, ohne dass die Notwendigkeit einer solchen Wiederholung ersichtlich wird. Zum Beispiel paraphrasiert Abū ʿUbaida den Begriff āya, der in den meisten koranischen Kontexten entweder als ‚Zeichen‘ oder als ‚Vers‘ übersetzt werden kann, fünf Mal in kurzer Folge mit al-ʿalāma (der Hinweis). 90 Solche „interpretativen Konstanten“ 91 sind wiederum auch im Tafsīr Muqātil so wie dem Tanwīr al-miqbās beobachtbar. 92 Dass sich in einer Überlieferung des Rechtsgelehrten und Koranphilologen Abū l-Ḥusain Muḥammad al-Malaṭī 93 eine Liste von zum Teil mit glossatorischen Inhalten des Tafsīr Muqātil übereinstimmenden exegetischen Konstanten findet, zeigt, dass das „Experiment“ der Generalisierung von Bedeutung einzelner koranischer Lexeme bereits im 8. Jahrhundert kultiviert worden ist. 94 Da Maǧāz al-Qurʾān keine in al-Malaṭīs Liste gebräuchlichen Formulierungen enthält, die solche Konstanten explizit machen würden (etwa: kullu šaiʾin fī l-qurʾāni ka-ḏālika yaʿnī hākaḏa), 95 wäre es wohl zu weit hergeholt, die beobachtbaren Redundanzen in Maǧāz al-Qurʾān 86 Maǧāz II, S. 15. 87 Diese Lesart (ṭah) ist überliefert als die des Ḥasan al-Baṣrī, siehe Aḥmad ibn Muḥammad ad-Dimyāṭī al-Bannāʾ, Itḥāf fuḍalāʾ al-bašar fī l-qirāʾāt al-arbaʿata-ʿašar, Ṭanṭā 2009, Bd. 2, S. 571. Sie gilt als außerkanonisch, d. h. sie zählt weder zu den Sieben, noch zu den Zehn „kanonischen“ Lesarten (vgl. Ibn Muǧāhid, Kitāb as-Sabʿa, S. 416). 88 Vermutlich ist die Auf‌fassung, dass ṭā-hā „o Mann!“ oder auch „o Mensch“ bedeute (aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, Bd. 16, S. 5–8) aus der Interpretation von yā-sīn (36:1) als yā insān (oder yā unaisīn) „o Mensch(lein)!“ (vgl. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, Bd. 19, S. 319, und az-Zamaḫšarī, al-Kaššāf, Bd. 3, S. 279 zu 36:1) übertragen worden, da beide als Anreden des Propheten gelten (und später als Namen des Propheten; daher die Männernamen Ṭāhā und Yāsīn). (Dank an Ismail Mohr!) 89 Maǧāz II, S. 223. 90 Kommentar zu Q 3:11 und folgende. 91 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 190 mit dem Hinweis auf Louis Massignon. 92 Siehe Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 190. 93 Siehe die kurze Beschreibung in Sezgin, GAS, Bd. 1, S. 607. 94 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 190. 95 Ebd.

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als bewusste Teilnahme an solchen exegetischen Bemühungen zu interpretieren, zumal die unverhoffte Häufung einer identischen Glosse ebenso unverhofft abreißt. Wohl aber wird durch die wiederholte Paraphrase einzelner Begriffe Kontinuität innerhalb des Kommentars hergestellt bzw. anders ausgedrückt: Wir erkennen die ‚Handschrift‘ Abū ʿUbaidas in der Kommentierung der ersten und der letzten Sure des Korans auch an diesen Redundanzen. Wir können aufgrund der Beobachtung der Segmentierungsprinzipien sicherlich kein endgültiges Urteil über den mündlichen oder schriftlichen Sitz im Leben des philologischen Korankommentars fällen. Es ist aber wahrscheinlich, dass die im schriftlichen Kommentar „fehlenden“ Passagen des Korans mündlich, vermutlich im Lehrvortrag, ergänzt worden sind. Maǧāz al-Qurʾān ist trotz der eigenwilligen Segmentierung ein fortlaufender Kommentar zu der Gesamtheit der koranischen Suren und insofern von vornherein durch den Primärtext strukturiert. Eine vollständige Zitation der auszulegenden Verse war vermutlich gerade aufgrund des mündlichen Entstehungskontextes nicht notwendig, da der Korantext als bekannt voraus gesetzt werden konnte bzw. mündlich „nebenbei“ ergänzt werden konnte. Das unterbrochene und vor allem das selektive, weitestgehend kontextfreie Zitieren erschwert für den modernen Leser bzw. für einen Leser, der den Korantext nicht auswendig kennt, den Zugang zu Abū ʿUbaidas Kommentar. Für den Zeitgenossen Abū ʿUbaidas muss dieses Vorgehen — aufgrund des in Kapitel 3 dargestellten Status des Korans im 2. islamischen Jahrhundert — keine solchen Schwierigkeit verursacht haben.

4.3 Autorisierungsstrategien Cornelia Schöck hat die These vertreten, schon vor dem berühmten Streit zwischen den arabischen Grammatikern und Logikern im frühen 10. Jahrhundert 96 manifestiere sich in den Texten des islamischen Rechts, der Grammatik und der Koranhermeneutik des 8. Jahrhunderts eine Auseinandersetzung mit griechischer Philosophie und vor allem mit der peripatetischen Logik. 97 Schöck stellt heraus, dass in Grammatik und Logik nicht nur zwei unterschiedliche Wissens- und Wissenschafts­ traditionen, sondern zwei unterschiedliche Konzepte von Sprache und Erkenntnis miteinander konkurrierten. Diese beschreibt sie folgendermaßen: Die arabischen Grammatiker seien „Nominalisten“ gewesen, denn [s]prachliche Ausdrücke sind für sie die ‚Namen‘ für gedachte Dinge, für ‚Bedeutungen‘ (maʿānī, sing. maʿnā), welche im Verstand sind. Wer eine Sprache lernt, lernt mit ihr, 96 Bekannt ist vor allem eine Auseinandersetzung des Grammatikers Mattā ibn Yūnus mit dem Logiker as-Sīrāfī, in der es um die Vorrangigkeit von Sprache gegenüber Denken bzw. Denken gegenüber Sprache geht. Siehe zu dem Text Versteegh, „Arabic Tradition“, S. 254ff. 97 Cornelia Schöck, Koranexegese, Grammatik und Logik. Zum Verhältnis von arabischer und aristotelischer Urteils-, Konsequenz- und Schlusslehre, Leiden 2006.

Autorisierungsstrategien

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welche sprachlichen Ausdrücke für welche Bedeutungen gesetzt sind. Die Bedeutungen sind keine Begriffe, die allen vernünftigen Menschen gemeinsam sind. 98

Dem gegenüber seien die sich in „rationalistischen Schulen“ organisierenden arabischen Rezipienten der peripatetischen Logik „Konzeptualisten“ gewesen, das heißt, sie vertreten ein semantisches Konzept, in dem der Sprache […] Begriffe des Denkens [korrespondieren], welche bei allen Menschen die gleichen sind. Allein die mündlichen und schriftlichen sprachlichen Ausdrücke für die Begriffe variieren in den verschiedenen Sprachen. Alle vernunftbegabten Menschen denken in denselben Begriffen und gelangen bei korrekter Anwendung der Regeln der Logik — im Syllogismus — zwangsläufig zu denselben Schlussfolgerungen. 99

Genau diese sprach- und erkenntnistheoretischen Prämissen wirken sich — laut Schöck  — auf die rationalistische Koranhermeneutik dahingehend aus, dass Erkenntnisse der Vernunft bei der Deutung eines Verses einbezogen werden. Wenn etwa in Vers 6:102 Gott als der „Schöpfer aller Dinge“ bezeichnet wird, interpretieren rationalistische Kommentatoren unter Berufung auf die Verstandesprämisse, dass Gott nicht Schöpfer seiner Selbst sein könne, da er nicht gleichzeitig ewig und kontingent sein könne, dass der Schöpfer selbst von den durch ihn erschaffenen Dingen ausgenommen sei. 100 Die „traditionalistische“ Exegese würde eine solche Schlussfolgerung nicht für zulässig halten. Ihre hermeneutischen Prämissen beruhen nicht auf der logischen Folgerichtigkeit koranischer Aussagen gemäß dem Verstandesurteil, sondern auf der Autorität des Propheten, dem als erstem Hörer des Korans alle göttlichen Intentionen ursprünglich verständlich waren: Der Prophet verstand beim Offenbarungsempfang, welche Dinge die sprachlichen Ausdrücke meinen. Die dem Propheten eingegebenen Bedeutungen sind gedachte Dinge, welche mit den realen, objektiven Dingen übereinstimmen, nicht Vorstellungen in der Seele. Die Eingebung der Bedeutungen vollzog sich wie bei der unmittelbaren Deixis, […]. Gedachtes Ding und reales Ding fallen im prophetischen Wissen nicht auseinander. 101

Wir haben gesehen, dass in Maǧāz al-Qurʾān nur sehr selten außertextuelle Evidenzen und kein „logisches Wissen“ (etwa in Form von Analogieschlüssen) für die Bedeutung von koranischen Aussagen herangezogen werden. Bedeutung wird stattdessen über die Beziehung zwischen sprachlicher Realisierung und der als normativ wahrgenommenen Grundlage des korrekten Arabisch bzw. des konkret gesprochenen Arabisch zur Zeit der Verkündigung des Korans ermittelt. Inwiefern korres 98 Schöck, „Traditionalismus und Rationalismus“, S. 87f.  99 Ebd., S. 88. 100 Ebd. 101 Ebd., S. 89.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

pondiert diese grammatische Priorität der Kommentierung mit einer von Schöck als „Nominalismus“ bezeichneten hermeneutischen Bezogenheit auf Autoritäten, wie den Propheten oder auch seiner Zeitgenossen? Goldziher hatte die von Schöck nominalistisch genannte Schule als „Traditionarier“ bezeichnet, die einen konservativen Begriff von Wissen (ʿilm) kultivierten, der jedes weiterführende Verstandesurteil (etwa gemäß philosophischer Logik) als illegitim ausschloss. 102 Es ist nicht leicht zu entscheiden, inwiefern solche pointierten Kontraste in „rationalistische“ oder „traditionalistische“ Exegeseformen den Texten und ihren historischen Kontexten angemessen sind. Da in Abū ʿUbaidas Hermeneutik zweifellos die Berufung auf Autoritäten zur Versicherung geführter Argumente eine Rolle spielt, soll diesen Autorisierungsstrategien hier im Einzelnen nachgegangen werden, ohne vorab eine spezifische Autoritätsbezogenheit des philologischen (bzw. „grammatischen“) Exegesetypus zu veranschlagen. Vorab sei bemerkt, dass die Beschränkung des interpretativen Instrumentariums im philologischen Korankommentar statt als „traditionalistisch“ oder „konservativ“ charakterisierbare Hermeneutik, auch mit dem Stichwort der „literalen“ Interpretation, wie wir sie oben entwickelt haben, beschrieben werden kann. Eine maßgebliche Prämisse für die Interpretation eines Textes in dessen Literalsinn hatte in spätantiken Diskussionen um die Notwendigkeit und die Zulässigkeit allegorischer Interpretation darin bestanden, den Text ohne außertextuell gewonnenes (etwa philosophisches) Wissen zu lesen. Insbesondere im Midrasch wird das Wissen der heiligen Schrift mit der Kontingenz menschlicher Verstandesurteile kontrastiert und die Mahnung artikuliert, die Bibel nur mit sich selbst in Beziehung zu setzen und aus sich selbst heraus zu verstehen. 103 Die häufigste und wichtigste solcher Autorisierungsstrategien in Maǧāz al-Qurʾān ist (1) die Beibringung von Belegstellen aus der Dichtung, die meist auch die Nennung eines Dichternamens einschließt. Daneben verweist Abū ʿUbaida vereinzelt auf (2) bekannte gelehrte Individuen aus den benachbarten sprachwissenschaftlichen und philologischen Disziplinen, um deren Perspektive auf ein grammatisches Problem darzustellen. Beim „Zitieren“ der Meinungen einzelner sprachwissenschaftlicher Autoritäten seiner Zeit beruft sich Abū ʿUbaida nie auf die Bücher der Personen, wie etwa das Kitāb des Sībawaih, sondern er zitiert die Gewährsmänner stattdessen mit den Worten qāla Sībawaih („Sībawaih sagt“) oder zaʿama Yūnus („Yūnus behauptet“), was den Anschein einer direkten Transmission seiner Kenntnisse aus dem persönlichen Kontakt mit den angesprochenen Gelehrten erweckt. Die Berufung auf Autoritäten dient der Bestätigung exegetischer Argumente oder der Diskussion alternierender Lehrmeinungen. Am häufigsten beruft sich Abū ʿUbaida auf seine Kollegen bzw. Lehrer in der Koranphilologie. Der berühmte Prophetengefährte ʿAbd Allāh ibn ʿAbbās wird 9 Mal 102 Goldziher, Koranauslegung, S. 84. 103 Stemberger, Midrasch, S. 25, siehe oben S. 51.

Autorisierungsstrategien

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als Gewährsmann angeführt. 104 Den Rekord hält mit 31 Erwähnungen Abū ʿAmr ibn al-ʿAlāʾ. Die beiden kontemporären Grammatiker und Koranphilologen al-Kisāʾī 105 und Yūnus ibn Ḥabīb 106 schließen sich mit 12 bzw. 14 Zitationen an. Hingegen wird der vermeintliche oder tatsächliche Rivale Abū ʿUbaidas al-Aṣmaʿī nur drei Mal 107 erwähnt. Weniger häufig beruft sich Abū ʿUbaida auf die Experten der Grammatik. Abū Zaid al-Anṣārī 108 wird zwei Mal namentlich genannt. 109 Auf Sībawaih entfallen ebenfalls lediglich zwei Berufungen. 110 An einigen Stellen verweist Abū ʿUbaida zudem pauschal auf „die Grammatiker“ (an-naḥwīyūn), 111 denen er sich selbst offenbar nicht zurechnet. Auch Formulierungen wie: „Auf Autorität von Abū ʿAmr ibn al-ʿAlāʾ oder jemand anderen wird erzählt, dass …“ (ḥukiya ʿan Abī ʿAmri bni l-ʿAlāʾ au ġairihi yuqālu…) 112 deuten eher auf eine unpräzise Wissensvermittlung hin. Nur sehr vereinzelt finden sich Beispiele, in denen Abū ʿUbaida nicht einen, sondern zwei Gewährsleute angibt: balaġa ašuddahu (28:14), balaġa ai: intahā, wa-mauḍiʿu ašuddahu mauḍiʿu ǧamīʿin wa-lā wāḥidun lahu min lafẓihi, qāla l-Farrāʾu wa-l-Kisāʾīyu: wāḥidu l-ašuddi šaddun ʿalā faʿlin wa-afʿulin miṯla baḥrin wa-abḥurin, ašuddahu muḍāʿafun mušaddadun. 113 Er erreichte seine volle Kraft (28:14), erreichte heißt: [er] vollendete, die Bedeutung von „seine volle Kraft“ ist ein Plural, denn es gibt keine Singularform in dieser Verwendung. Al-Farrāʾ und al-Kisāʾī sagten: der Singular von al-ašuddu (die vollen Kräfte) ist šaddun, nach [der Form] faʿlin und afʿulin so wie baḥr (Meer) und abḥur (Meere), ašudduhu ist die Verdopplung wie mušaddad.

Die Tatsache, dass die beiden kufischen Grammatiker und Koranphilologen alFarrāʾ und al-Kisāʾī in Abū ʿUbaidas Darstellung als Vertreter derselben Meinung zitiert werden, spricht eher für eine Vermittlung dieses Wissens durch Dritte. Vermutlich orientiert sich Abū ʿUbaida bei der Autorisierung philologischer Argumente 104 Maǧāz I, S. 89, 115, 141, 211, 292 und 309, II, S. 172, 212 und 305. 105 Maǧāz I, S. 1, 14, 69, 80, 89, 91, 155, 174, 217 und 309, II, S. 2 und 99. 106 Maǧāz I, S. 35, 65, 157, 293, 373, 376 und 383, II, S. 15, 21, 83, 143, 159, 189 und 193. Yūnus ibn Habīb gehört mit 230 Nennungen im Kitāb Sībawaih zu den meistzitierten Grammatikern. Sezgin ist davon überzeugt, dass er, wenn auch keine Schriften von ihm überliefert sind, Autor eigener Grammatikwerke gewesen sein müsse. Siehe Sezgin, GAS, Bd. 9, S. 49ff. 107 Maǧāz I, S. 163, II, S. 22 und 73. 108 Saʿīd ibn Aus ibn Ṯābit Abū Zaid al-Ansārī (gest. 830) war Lexikograph und Grammatiker in Basra, der — nach seiner eigenen Angabe — Lehrer des Sībawaih gewesen war. (Sezgin, GAS, Bd. 9, S. 67) 109 Maǧāz II, S. 18 und 183. 110 Maǧāz I, S. 69, II, S. 2. 111 Siehe zum Beispiel den Kommentar zu Q 35:1 in Maǧāz II, S. 152 und den Kommentar zu Q 34:47 in Maǧāz II: S. 150. Da auch Sībawaih die naḥwīyūn in seinem Kitāb erwähnt, gibt es eine Forschungsdiskussion darüber, ob es eine organisierte arabische Grammatik vor Sībawaih gegeben habe. Siehe dazu Marogy, Syntax and Pragmatics, S. 22ff. 112 Maǧāz I, S. 401 (Sezgin vokalisiert hier anders). 113 Maǧāz II, S. 99.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

durch „klassische“ Gelehrte eher an einer kontemporären Konvention, nach der durch mündliche Lehre gewonnenes Wissen ein höheres Prestige besitzt als durch Bücher vermittelte Erkenntnis. Wir hatten bereits mehrfach die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass (3) der Sprachgebrauch der Araber in den von Abū ʿUbaida angebotenen Paraphrasen eine maßgebliche Rolle spielt. Die Autorisierung philologischer Argumente durch den Sprachgebrauch der Araber geht manchmal mit Ausführungen über einen kulturellen Habitus der vorislamischen Araber einher. Diese kurzen narrativen Explananda sind meist schmucklos erzählt und haben aufgrund ihrer Komprimiertheit keinen wirklichen Unterhaltungswert, sondern sie sind Teil einer Beweisführung, die stets dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügen will. Zum Beispiel: Mā ǧaʿala llāhu min baḥīratin wa-lā sāʾibatin (5:103), ai mā ḥarrama llāhu l-baḥīrata llatī kāna ahlu l-ǧāhilīyati yuḥarrimūnahā, wa-kānū yuḥarrimūna wabarahā wa-ẓahrahā wa-laḥmahā wa-labanahā ʿalā n-nisāʾi, wa-yuḥillūnahā li-r-riǧāli, wa-mā waladat min ḏakarin au unṯā fa-huwa bi-manzilatihā, wa-in mātati l-baḥīratu štaraka r-riǧālu wa-n-nisāʾu fī akli laḥmihā, wa-iḏa ḍuriba ǧamalun min waladi l-baḥīrati fahuwa ʿindahum ḥāmin, wa-huwa smun lahu. 114 Gott hat keine Vorschrift über „ohrgeschlitzte“ (baḥīra) oder „freiweidende“ (sāʾiba) Kamelstuten verhängt (5:103), 115 das heißt: Gott erklärt die Kamelstute nicht für heilig/verboten, wie dies die Leute vor dem Islam getan haben. Sie haben ihr Fell, ihren Rücken, ihr Fleisch und ihre Milch den Frauen versagt und den Männern aber erlaubt. Alle männlichen und weiblichen Nachkommen [der Kamelstute] hatten denselben Status inne wie sie. Wenn die Kamelstute starb, nahmen die Männer und Frauen gemeinsam am Verspeisen ihres Fleisches teil. Und wenn unter den Nachkommen einer Kamelstute ein Kamel geschlagen (gezähmt?) 116 wurde, hatte dieses in ihren Augen den Status ḥām. 117 Das ist ein Name für [das Kamelfohlen].

Der Grund für ein exegetisches Eingreifen besteht hier in der Deutungsnotwendigkeit der Begriffe baḥīra und sāʾiba, wobei keine (substitutive oder explikative) Paraphrase der Begriffe angeboten wird. Stattdessen wird ein Teil des Verses für eine generelle Erläuterung des Umgangs der Araber mit der Kamelstute umfunktionalisiert. Der Philologe suggeriert damit, dass die Kenntnis der Kultur und der

114 Maǧāz I, S. 177. 115 Der ganze Vers lautet in der Übersetzung Parets: „Gott hat weder eine Baḥīra oder Sāʾiba noch eine Waṣīla oder einen Hāmī (als Typen einer unblutigen Tierweihe) bestimmt. Aber diejenigen, die ungläubig sind, hecken (indem sie sich dazu bekennen) gegen Gott Lügen aus. Und die meisten von ihnen haben keinen Verstand.“ 116 Die Bedeutung des Verbs ḍaraba ist in diesem Kontext unklar. Lane gibt keine Angaben zum Verb ḍaraba im Zusammenhang mit dem ḥām genannten Kamel. 117 Ein weiterer im Vers genannter Name für die in der Zeit vor dem Islam gesondert gekennzeichneten Opfertiere.

Autorisierungsstrategien

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sozialen Praktiken der vorislamischen Araber für das Verständnis des koranischen Sprachgebrauchs relevant ist. Eine Sonderform des Hinweises auf den Sprachgebrauch der Araber besteht in der Beschäftigung mit Lesevarianten des Korantextes. Die unterschiedlichen dialektalen Konventionen schlagen sich in einer Vielzahl von „Lesarten“ (qirāʾāt) nieder, die im Maǧāz als Alternativen angegeben werden. Freilich stellt Abū ʿUbaida keine systematische Theorie solcher Lesarten zusammen, sondern er gibt lediglich Auskunft über Dialektunterschiede, wenn diese zu grammatikalischen Veränderungen führen. Vereinzelt nennt Abū ʿUbaida die Namen bestimmter Stämme, die sich auf eine spezifische Weise ausdrücken, das heißt denen eine spezifische „Lesart“ zugeschrieben wird. 118 Es ist wert darauf hinzuweisen, dass die Pluralität der „Lesarten“ des Korans für Abū ʿUbaida nicht Resultat unterschiedlicher Arten institutioneller Rezitation, 119 sondern des dialektalen Sprachgebrauchs ist. Das richtige Verständnis des Textes erfordert demnach nicht die Beschäftigung mit rituell organisierten und autoritativ gefestigten Vortragspraktiken, sondern die Rekonstruktion des Herkunftsmilieus der auf alle Araber gleichermaßen gekommenen und damit sprachlich verschieden realisierten koranischen Verkündigung. Ein Spezifikum dieser Autorisierung von philologischen Argumenten durch den dialektal unterschiedlichen Sprachgebrauch in Maǧāz al-Qurʾān ist die Kennzeichnung durch den Begriff qaum, in den Formulierungen qāla qaumun („manche Leute/ Gelehrte sagen“), zaʿama qaumun („manche Leute behaupten“) oder yaqraʾuhu qaumun („manche lesen“). Wir wollen dieser frühen philologischen Beschäftigung mit koranischen variae lectiones durch Dialektalunterschiede über die Darstellung einiger solcher Beispiele nachgehen: 4.3.1 Variierende Lesarten (qirāʾāt) Wie bereits oben kurz angesprochen wurde häufen sich Verwendungen des Begriffs qaum, die das Thema variierender Lesarten anzeigen, in den Kommentaren zu den Suren 12 (Yūsuf) und 20 (Ṭā-hā), 120 wobei sie in vielen anderen Kommentarteilen gänzlich unberücksichtigt bleiben, was die Deutung nahelegt, dass der Philologe an diesen Beispielen das Thema der Dialektal- oder Rezitationsunterschiede selbst illustrieren möchte — nicht, dass in den übrigen Versen keine solchen Unterschiede existieren. Dass Abū ʿUbaida allerdings die Beschäftigung mit Lesevarianten bei der Kommentierung des letzten Dreißigstel des muṣḥaf gänzlich unterlässt, deutet auch auf sein Bewusstsein von der formalen und funktionalen Besonderheit dieser chronologisch früheren und poetisch stärker durchwirkten Suren hin. Lesevarian118 Zum Beispiel in Maǧāz II, S. 214: wa-luġatu Banī Tamīmin… Und in Maǧāz II, S. 163: hiya luġatu ahli l-ʿĀliyati, wa-ahli Naǧdin yaqūlūna… 119 Lediglich in den unten zitierten Beispielen aus der Einleitung ist von den Vorbetern die Rede. 120 Jeweils drei Fälle werden in den Suren 34 (Verse 19, 23 und 24) und 38 (Verse 12 und 15) diskutiert.

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ten scheinen für Abū ʿUbaida Teil einer historischen Verankerung des Korans in sein arabisches Herkunftsmilieu zu sein, die er für die poetischen Suren mit häufig eschatologischen Inhalten vielleicht für unangemessen erachtete. 121 Anders als al-Farrāʾ führt Abū ʿUbaida hierbei keine explizite Diskrepanz ein zwischen der Lesart Ibn Masʿūds, d. h. einer „von unserer“ 122 Lesart abweichenden Lesart, die vor allem auch im Korankommentar Sufyān aṯ-Ṯaurīs diskutiert wurde. 123 Ebenso wenig spricht Abū ʿUbaida die Beziehung zwischen „kanonischem“ oder „nichtkanonischem“ rasm und den variierenden Lesarten an. 124 Stattdessen weist Abū ʿUbaida in vielen Beispielen für die Verwendung des Begriffes qaum auf die unterschiedliche Realisierung der grammatischen Rollen in Koranversen hin, die der unvokalisierte Text zulässt, zum Beispiel: ṯumma lam takun fitnatuhum illā an qālū wa-llāhu rabbunā (6:23), marfūʿatun iḏā ʿamilta fīhā „ṯumma lam takun“ fa-taǧʿalu qaulahum al-ḫabara li-takun, wa-qaumun yanṣibūna fitnatahum li-annahum yaǧʿalūnahā l-ḫabara, wa-yaǧʿalūna qauluhum al-isma, bi-manzilati qaulika „ṯumma lam yakun qauluhum illā fitnatan“, li-anna „illā an qālū“ fī mauḍiʿi qauluhum, wa-maǧāzu fitnatihim maǧāzu kufrihim wa-širkihimu llaḏī kāna fī aidīhim. 125 In ihrer Versuchung wissen sie (die ehemaligen Götzendiener) dann nichts zu sagen als „Gott ist unser Herr“ (6:23), im Nominativ, wenn du ṯumma lam takun („dann wird sie [ihre Versuchung] nicht [sein]“) als solchen ansiehst. Denn du machst qaulahum („ihre Rede“) zum Prädikat (ḫabar) des [Wortes] takun („sie ist“). Einige Leute lesen fitnatahum („ihre Versuchung“) im Akkusativ, da sie [dieses Wort] zum Prädikat machen, und sie machen qauluhum („ihre Rede“) zum Subjekt, so wie wenn du sagst: „dann wird ihre Rede nichts sein als eine Versuchung (eine Ausrede?)“ (im Nominativ), weil [die Formulierung] illā an qālū („nichts als dass sie sagen“) an Stelle von „ihre Rede“ steht. Und „ihre Versuchung“ hat die Bedeutung von ihrem Unglauben und ihrer Götzendienerei, die sie betrieben.

Solche grammatikalischen Diskrepanzen in der rezitatorischen Realisierung des Korantextes haben in der Regel keinen semantischen Bedeutungspluralismus zur Folge. Zum Beispiel in der Kommentierung des Lemmas, in der lediglich die pauschale Information über einen Vokalisierungsunterschied im Falle eines einzelnen 121 Eine Ausnahme stellt die Kommentierung des Verses 97:4–5 dar, in der allerdings sowohl auf den tafsīr al-Kalbīs verwiesen als auch Ibn ʿAbbās aufgerufen wird, also eine ungewöhnlich starke Autorisierung der angegebenen Lesevariante angeboten wird. Dort: „tafsīr al-Kalbī: wa-qaraʾa bnu ʿAbbāsin: min kulli mriʾin salāmun“ (statt: min kulli amrin) (Maǧāz II, S. 305). 122 Frederick Leemhuis, „Codices of the Qurʾān“, in: EQ, Bd. 1 (A–D), S. 349 mit dem Hinweis auf Maʿānī al-Qurʾān, Bd. 1, S. 11. 123 Leemhuis, „Codices of the Qurʾān”, S. 349. 124 Ebd., S. 350 mit dem Hinweis auf Maʿānī al-Qurʾān, S. 95, wo al-Farrāʾ die Auskunft gibt, kanonische Lesarten könnten von anderen Textvorlagen als dem rasm des Uṯmān-Kodex herrühren. 125 Maǧāz I, S. 188.

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Begriffs gegeben wird: „maʾāribu uḫrā (20:18), wāḥidatuhā maʾrabatun wa-maʾrubatun, ar-rāʾu maftūḥatun wa-yaḍummuhā qaumun […]“. 126 („Andere Zwecke (20:18), der Singular ist maʾrabatun (Zweck) und maʾrubatun. Das rāʾ wird auf a gesprochen, aber einige Leute lesen es auf u.“) Auch morphologische Sonderformen, wie die Vokalisierung bei der Konjugation von Verben mit Doppelkonsonant spielen eine Rolle: allaḏī ẓalta ʿalaihi ʿākifan (20:97), yaftaḥu auwalahu qaumun iḏā alqau minhu iḥdā l-lāmaini wa-yaǧzimūna l-lāma l-bāqiyata li-annahum yadaʿūnahā ʿalā ḥālihā fī t- tadʿīfi qabla t-taḫfīfi, ka-qaulika ẓaltu, wa-qaumun yaksirūna al-ẓaʾa iḏā haḏafū l-lāma l-maksūrata fa-yuḥauwilūna ʿalaihā kasrata l-lāmi fa-yaqūlūna: ẓiltu ʿalaihi, wa-qad taḥḏifu l-ʿarabu l-tadʿīfa, qāla: ḫalā anna l-ʿitāqa mina l-maṭāyā // aḥasna bihi fa-hunna ilaihi šūsū arāda „aḥsasna bihi“. 127 [Schau auf deinen Götzen,] dem du dich so bleibend hingegeben hast (20:97), einige Leute (qaum) vokalisieren den ersten [Buchstaben] 128 mit a und lassen eines der beiden lāms in seinem Zustand der (ursprünglichen) Verdopplung vor einem taḫfīf. 129 So wie du sagst: ẓaltu („ich blieb“ mit a und einem l, statt ẓalaltu). Und [andere] Leute vokalisieren [den Buchstaben] ẓā mit i, wenn sie das auf i vokalisierte lām elidieren. Sie sagen: ẓiltu ʿalaihi („ich blieb dabei“, statt ẓaliltu). Die Araber lassen die Verdopplung manchmal wegfallen. Er sagte: Außer den Reit‌tieren von edler Herkunft // sie hatten gespürt (aḥasna), dass [der Löwe] sich näherte und ihn furchtsam beobachtet. Er meint „sie haben ihn gespürt“ (aḥsasna). 130

Das Argument der unterschiedlichen Aussprache von Verben mit Doppelkonsonant ist eindeutig ein Argument, das die Aussprache, d. h. vermutlich die Rezitation des Textes betrifft. Der Unterschied zwischen ẓaltu und ẓalaltu, — ebenso wie zwischen aḥasna und aḥsasna im Vers der Dichtung — ist im schriftlichen Text nicht erkennbar. Die im Maǧāz dargestellten Lesarten des Korans können sich aber auch auf einzelne Lexeme beziehen, die formal variiert werden, wie zum Beispiel die Formulierung asri in folgendem Kommentar mit explikativer Glosse: an asri bi-ʿibādī (20:77), wa-qaumun yagʿalūnahu bi-ġairi alifin fa-yaqūlūna: „saraitu“ wa-huwa surā l-laili ai sairu l-laili. 131

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Maǧāz II, S. 17. Maǧāz II, S. 28. Das erste lām im Wort *ẓalalta. wörtl. „Erleichterung“, sinngemäß: Nicht-Verdopplung des mittleren Konsonanten. In der Edition von Sezgin steht: aḥasna (unvokalisiert) auch in der Glosse zum šāhid. Es muss sich aber um eine Form mit verdoppeltem sīn handeln. 131 Maǧāz II, S. 24.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

Reise nachts mit meinen Dienern (20:77), einige Leute lesen asri ohne alif, das heißt sie lesen [statt asri im 4. Stamm] saraitu („ich reiste“, [gemeint ist isri] im 1. Stamm). Die Bedeutung ist: das Reisen (suran, im 1. Stamm) bei Nacht, heißt: die Nachtreise.

Nur vereinzelt werden Leseunterschiede mit philologischen Lehrmeinungen assoziiert, wie im Beispiel: inna 132 hāḏāni la-sāḥirāni (20:63), qāla Abū ʿAmrin wa-ʿIsā wa-Yūnusu: inna hāḏaini la-sāḥirāni fī l-lafẓi wa-kutiba hāḏāni kamā yazīdūna wa-yanqiṣūna fī l-kitābi wa-llafẓu ṣawāb, wa-zaʿama Abū l-Ḫaṭṭābi annahu samiʿa qauman min Banī Kinānata au-ġairahum yarfaʿūna l-iṯnaini fī mauḍiʿi l-ǧarri wa-n-naṣbi, […] 133 Diese beiden (hāḏāni) sind wahrlich Zauberer (20:63), Abū ʿAmr und ʿIsā und Yūnus sprechen [da inna voraus geht]: „diese beiden (hāḏaini) sind Zauberer“, wobei hāḏāni geschrieben wird. So ergänzen sie in der Schrift [Buchstaben] oder lassen sie weg, doch ihre Aussprache ist das Richtige. Und Abū l-Ḫaṭṭāb behauptet, er habe Leute des Stammes Kināna oder andere gehört, die einen Dual (nach inna) in den Nominativ setzen, wenn einer der beiden anderen Fälle eintritt, nämlich der Genitiv oder Akkusativ.

Hier bezieht sich der Unterschied in der sprachlichen Realisierung des Korans nicht nur auf die Aussprache des unvokalisierten Textes, sondern auf die Abweichung von der Schreibweise, die Ramzi Baalbaki zufolge bereits im späten 8. Jahrhundert eigentlich ein Ausschlusskriterium für koranische variae lectiones war. 134 Das Beispiel der Variation von hāḏain oder hāḏān ist auch von anderen Koranphilologen diskutiert worden. In al-Farrāʾs Kommentar findet sich die mit Abū ʿUbaidas Argument konforme Äußerung, inna hāḏāni la-sāḥirāni: inna fī l-muṣḥafi laḥnan wa-satuqīmuhu l-ʿarabu („Der Kodex enthält Fehler, die die Araber [in ihren Aussprachen] aber korrigieren.“ 135) Auch bei al-Aḫfaš findet sich dieser Vers. Ramzi Baalbaki deutet dessen Paraphrase: al-Akhfash al-Awsaṭ prefers the reading inna hādhān la-sāḥirāni to the more qiyāsī readings of […] inna hādhayni la-sāḥirāni because the first […] reading […] — despite departing from the ‘standard’ usage — agree[s] with the text, while the other […] do[es] not. 136

132 Die Lesart, die Abū ʿUbaida hier erwähnt (nämlich mit inna) ist nicht die Lesart Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim (liest: in hāḏāni), die dem modernen Kairener Koran zugrunde liegt. Er könnte sich auf die Lesart von Nāfiʿ beziehen. Dieser liest hier inna hāḏāni. Ibn Muǧāhid erwähnt verschiedene Lesarten des Verses und weist darauf hin, dass der in Abū ʿUbaidas Glosse erwähnte Koranleser Abū ʿAmr der einzige sei, der inna hāḏaini lese. Siehe Ibn Muǧāhid, Kitāb al-Sabaʿa, S. 419. 133 Maǧāz II, S. 21. 134 Ramzi Baalbaki, „The treatment of Qirāʾāt by the second and third century Grammarians“, in: The Qurʾān. Formative Interpretation, hg. von Andrew Rippin, Brookfield, 1999, S. 160. 135 Versteegh weist auf dieses Beispiel ebenfalls hin: Grammar and Exegesis, S. 37f. 136 Baalbaki, „Qirāʾāt“, S. 161.

Autorisierungsstrategien

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Baalbakis Argument impliziert, dass Koranphilologen wie al-Aḫfaš einen Gegensatz zwischen „grammatisch korrekter“ (qiyāsī) Lesart und dem Einhalten der schriftlichen Textvorlage wahrgenommen hätten. Auch in al-Farrāʾs Argument ist von „Fehlern im Kodex“ die Rede und Abū ʿUbaida weist ebenfalls darauf hin, dass der rezitierte Text „der richtige“ sei, (d. h. auch wenn er vom rasm abweicht). Abū ʿUbaida selbst verwendet den Begriff qiyās allerdings hier nicht und im ganzen Kommentar nur ein einziges Mal. 137 Statt auf den linguistischen Regelfall — die Analogie — verweisen sowohl er als auch al-Farrāʾ auf die Autoritäten ihrer Lehrergeneration: Abū ʿAmr (und Yūnus) hätten „dem (schriftlichen) Text Buchstaben hinzugefügt, oder solche weggelassen.“ Die vom Schriftbild abweichende verbale Realisierung des Textes wird also nicht durch die ‚Unterordnung‘ des Textes unter die Regeln der Grammatik, sondern durch den Hinweis auf die Tradition gerechtfertigt. Zu den Lesevarianten durch Vokalisationsunterschiede und durch grammatische Alternativen kommt Abū ʿUbaidas Auskunft hinzu, die arabischen Stämme hätten Begriffe grundsätzlich unterschiedlich ausgesprochen, wie zum Beispiel den Begriff ǧadaṯ als ǧadaf: Mina l-aǧdāṯi (36:51), wāḥiduhā ǧadaṯun wa-hiya luġatu ahli l-ʿāliyati, wa-ahlu n-Naǧdi yaqulūna: ǧadafun. 138 Aus den Gräbern (36:51), der Singular [des Begriffs] ist ǧadaṯ (Grab) und dies ist die Aussprache der Leute aus dem Hochland, während die Leute aus dem Naǧd 139 sagen: ǧadaf. 140

Die ähnliche Aussprache der Buchstaben ṯaʾ und faʾ ist ein gängiges Beispiel für dialektale Unterschiede (ohne Bedeutungsrelevanz) in der frühislamischen Sprachwissenschaft. In der Sīra Ibn Hišāms wird der Begriff taḥannafa, welchen „die Araber“ ebenfalls als taḥannaṯa ausgesprochen hätten, erwähnt und dort auch auf die unterschiedliche Aussprache des koranischen Begriffs ǧadaṯ hingewiesen. 141 Den Beispielen für den Gebrauch des Begriffes qaum im Kontext von dialektalen oder regional spezifischen Unterschieden bei der Rezitation (oder Aussprache) des Korantextes fehlt augenscheinlich ein einigendes System. Am ehesten können wir die Diskussion in Maǧāz al-Qurʾān als Argument für die generelle Offenheit des Kommentars gegenüber der kommunikativen Realisierung und dem interpretativen Pluralismus während des ausgehenden 8. Jahrhunderts werten. Die Unterschiede 137 138 139 140

Maǧāz I, S. 320. Maǧāz II, S. 163. Beides Gegenden auf der arabischen Halbinsel. Lexikalisch eigentlich „Rudern“, aber hier ist wohl lediglich die unterschiedliche Aussprache des Buchstaben ṯaʾ und faʾ gemeint, ohne einen Bedeutungsunterschied zu suggerieren. 141 Ibn Hišām, Sīra, Bd. 1, S. 151f. Die meisten Beispiele für eine solche Variation der Buchstaben scheinen sich auf Wörter zu beziehen, die aus dem Hebräischen stammen. (Zum Beispiel ṯamma und famma „dort“, vgl. hebräisch šām „dort“. Oder: ṯūm und fūm, vgl. hebräisch šūm „Knoblauch“).

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

in der Aussprache, Vokalisierung oder die Abweichung von ‚der‘ Schriftvorlage des Korantextes stellen für Abū ʿUbaida kein Problem dar, das eine Lösung oder Beseitigung erfordern würde, sondern sie scheinen zur Praktizierung des Textes ganz selbstverständlich dazu zu gehören. Er schlägt demzufolge keine Korrekturen von alternativen Lesarten vor und ist nicht um eine Hierarchisierung besorgt, sondern benennt Sprach- und Leseunterschiede, insofern er über diese Bescheid weiß. 4.3.2 Prophetensprüche (aḥādīṯ) Die von Abū ʿUbaida als Autorisierung beigebrachten ḥadīṯe sind grundsätzlich dünn gesät. Der Begriff selbst wird vier Mal mit der konkreten Bedeutung des Prophetenausspruchs verwendet. 142 Immerhin ist bemerkenswert, dass Abū ʿUbaida überhaupt ḥadīṯe beibringt, da diese in grammatischen Werken nicht als sprachliche „Zeugen“ galten, da die Überlieferung von ḥadīṯen — anders als von der Dichtung — „der Bedeutung nach“ (bi-l-maʿnā) erfolge und man nicht sicher sein könne, dass die überlieferten Texte mit dem Wortlaut der prophetischen Äußerungen übereinstimmten. 143 In Maǧāz al-Qurʾān finden sich zusätzlich vereinzelt Beispiele kurzer narrativer Passagen zur Ausschmückung einer Redensart, die Abū ʿUbaida dem Propheten zuschreibt. Diese Prophetennarrative gipfeln in der Regel in einem Spruch, der meist terminologische Ähnlichkeiten mit dem auszulegenden Koranvers aufweist, der aber nicht immer mit dem terminus ḥadīṯ beschrieben wird. In der folgenden Glosse verweist Abū ʿUbaida zum Beispiel auf mehrere Prophetengefährten, um den frühislamischen Gebrauch des Begriffs rabīb sowohl mit der Bedeutung von ‚Stiefsohn‘ als auch ‚Stiefvater‘ zu illustrieren: fī ḥuǧūrikum (4:23), fī buyūtikum, wa-yuqālu: inna ʿĀʾišata katabat ilā Ḥafṣata: inna (I)bna abī Ṭālibin baʿaṯa rabībahu rabība s-sauʾi, taʿnī Muḥammada bna Abī Bakrin, wa-kānat ummuhu Asmāʾa binta ʿUmaisin ʿinda ʿAlīyi bni Abī Ṭālibin, wa-yuqālu liz-zauǧi aiḍan: huwa rabību bni mraʾatihi, wa-huwa rābbun lahu, fa-ḫaraǧat maḫraǧa ʿalīmin fī mauḍiʿi ʿālimin. 144 In euren Schößen (dem Schoß der Familie) (4:23), in euren Häusern, und man sagt: ʿĀʾiša schrieb an Ḥafṣa: Der Sohn Abū Ṭālibs schickte seinen Stiefsohn (rabīb), damit meinte sie Muḥammad ibn Abī Bakr, dessen Mutter Asmāʾ bint ʿUmais mit ʿAlī ibn Abī Ṭālib verheiratet war. Man sagt zum Ehemann ebenfalls rabīb: Er ist der Vormund (rabīb) des Sohns seiner Ehefrau, er (der Ehemann) ist ein Vormund (rābb) für ihn. Der

142 Maǧāz II, S. 77 und 122; Maǧāz I, S. 64 und 379. 143 Gilliot beschreibt den Vorwurf späterer Philologen, nicht-arabische Überlieferer von ḥadīṯen hätten das „reine Arabisch“ verfälscht. Im Kitāb Sībawaih wird die Meinung, ḥadīṯe seien nur dem Sinn (bi-l-maʿnā), nicht immer dem Wort nach überliefert, zwar nicht ausformuliert, aber auf Belege aus dem ḥadīṯ wird hier verzichtet. Vgl. Claude Gilliot, Eintr. „Shawāhid“, in: EI². 144 Maǧāz I, S. 122.

Autorisierungsstrategien

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Begriff wird gebraucht so wie ʿalīm (wissend) im Sinne des Begriffes ʿālim (wissend) gebraucht wird.

Die Information über das Schreiben von ʿĀʾiša und die Erklärung zu dem Begriff rabīb („Stiefsohn“ bzw. „Vormund“) haben keinen direkten Zusammenhang mit dem zitierten Lemma selbst, sondern zu dem Vers als Ganzem, in dem der Begriff rabāʾibukum (Plural von rabība, Stief‌töchter) genannt wird. Anders als in diesem Beispiel enthalten die meisten Sequenzen, in denen auf Personen aus dem Umkreis des Propheten verwiesen wird, fest gefügte Redeweisen, die, Sprichwörtern ähnlich, eine generalisierte religiöse Tugend adressieren. Diese auf die Autorität des Propheten zurückgeführten Sprüche stehen nicht unbedingt in einem inhaltlichen Zusammenhang zum koranischen Lemma. In folgendem Beispiel gibt die lexikalische Erklärung zum Begriff sabab mit der Bedeutung von einerseits „Beweggrund“ oder aber „Seil“ Anlass zur Reflexion über die Unbeständigkeit diesseitiger Loyalitäten (sabab und nasab) in Form eines Prophetenspruchs. Fal-yartaqū fī l-asbābi (38:10), taqūlu l-ʿarabu li-r-raǧuli l-fāḍili fī d-dīni: „qadi rtaqā fulānun fī l-asbābi“, wa-s-sababu l-ḥablu aiḍan, wa-s-sababu aiḍan mā tasabbabta bihi min raḥimin, au yadin au dīnin wa-qāla n-nabīyu — ṣlʿs — kullu sababin wa-nasabin yauma l-qiyāmati munqaṭiʿun illā sababī wa-nasabī. Wa-l-muslimu iḏā taqarraba ilā raǧulin laisa bainahumā nasabun qāla: inna l-islāma aqwā sababin wa-aqrabu nasabin. 145 Dann sollen sie doch an Seilen (in den Himmel) herauf‌klettern (38:10), die Araber sagen zu dem religiös vorbildlichen Mann, jener sei auf dem Rang emporgeklettert. [Der Begriff] sabab bedeutet auch das Seil. Sabab ist auch, dass jemand durch den Mutterleib (die Herkunft) oder die Hand (seine Taten) oder die Religion ausgezeichnet wird (tasabbaba). Der Prophet — gesegnet sei er — sagte: Am Tag des Gerichts sind alle Beweggründe (sabab) und Abstammungen (nasab) hinfällig (wörtl.: abgeschnitten), außer mein Beweggrund und meine Abstammung. Und der Muslim sagt, wenn er mit einem Mann eine enge Beziehung hat, mit dem er aber nicht verwandt ist: Der Islam ist die stärkste Bindung (sabab) und die naheste Abstammung (nasab). 146

Wiederum kommt in Abū ʿUbaidas Kommentar die theologische Implikation des Koranverses selbst nicht zum Tragen. Der Vers „Haben sie etwa die Herrschaft über Himmel und Erde und dem was dazwischen ist? Dann sollen sie doch an Seilen (in den Himmel) steigen“ artikuliert eine Polemik, die vor dem Hintergrund der alleinigen Macht Gottes über seine Schöpfung gelesen werden muss. In Abū ʿUbaidas Glosse wird zunächst die Doppelbedeutung von „verursachen“ und „Seil“ des Lexems sabab thematisiert, die auch zum dann folgenden ḥadīṯ überleitet. Hier wird der Begriff sabab mit dem Begriff nasab parallelisiert. In beiden Prophetensprüchen werden 145 Maǧāz II, S. 178. 146 Sezgin nennt aṭ-Ṭabarānī, al-Ḥākim an-Naisābūrī und al-Baihaqī als Quellen für den ḥadīṯ.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

die „Motive“ und genealogischen Zugehörigkeiten der Menschen als Verbindungen zu diesseitigen und damit vergänglichen Loyalitäten kritisiert. Heilbringend sind allein die spirituelle und gemeindliche Zugehörigkeit und Treue. Der Begriff sabab selbst behält dabei die Doppelbedeutung von „Motiv“ und „Seil“, die (beide) im Ernstfall des jüngsten Gerichts nicht halten werden. Die an der Zahl überwiegenden Beispiele für prophetisches Spruchmaterial ohne die Markierung durch den Begriff ḥadīṯ lassen erkennen, dass Abū ʿUbaida nicht auf eine Literatur des ḥadīṯ referiert. 147 Die dem Propheten zugeschriebenen Redeweisen sind vermutlich Teil der mündlichen Überlieferung, die in den unterschiedlichen, zunehmend differenzierten wissenschaftlichen Teildisziplinen mit unterschiedlicher Intensität und zu unterschiedlichen Zwecken rezipiert wurden. Sehen wir uns nun eines der wenigen Beispiele an, in denen Abū ʿUbaida den Terminus mit der Bedeutung einer Muḥammad zugesprochenen Spruchsequenz verwendet: Innamā numlī lahum li-yazdādū iṯman (3:178), fa-kasarta alifa innamā li-l-ibtidāʾi fa-innamā abqaināhum ilā waqti āǧālihim li-yazdādū iṯman, wa-qad qīla fī l-ḥadīṯi: al-mautu ḫairun li-l-muʾmini li-n-naǧāti min al-fitnati, wa-l-mautu ḫairun li-l-kāfiri li-ʾallā yazdāda iṯman. 148 Wir gewähren ihnen nur (darum) Aufschub, damit sie ihrer Sünde immer mehr verfallen (3:178); man vokalisiert das alif [der Partikel] innamā mit i wegen der Anfangsstellung. „Wir ließen Sie gewähren bis zum festgesetzten Zeitpunkt ihres Todes, damit sie [bis dahin] an Sünde zunehmen“; so wie es im ḥadīṯ heißt: Der Tod ist für die Rettung des Gläubigen besser als die Versuchung, und der Tod ist besser für den Ungläubigen, damit er nicht noch zunehme an Sünde.

Inhaltlich besagt der ḥadīṯ auch hier nicht unbedingt dasselbe wie der Koranvers. Während im Vers die zynische Drohung formuliert wird, das Gewähren einer Frist vor der jenseitigen Abrechnung mit dem Sünder diene lediglich dazu, ihn noch tiefer in die Sünde zu führen, besagt der ḥadīṯ, dass der Tod dem Leben in Sünde — und auf Seiten des Gläubigen der Versuchung — vorzuziehen sei. Da in beiden Texten — dem Koranvers und dem ḥadīṯ — dieselbe Formulierung li-yazdādū iṯman (damit sie ihre Sünde vermehren) genannt wird, taugt der ḥadīṯ für Abū ʿUbaida zur Erklärung des Koranverses. Die inhaltliche Aussage des ḥadīṯs scheint für diese Tauglichkeit weniger wichtig zu sein als die Übereinstimmung des Vokabulars. Dies ist anders im folgenden Beispiel: 147 Die Kompendien zum ḥadīṯ sind ohnehin später datiert, siehe J. Robson, Eintr. „Ḥadīth“, in: EI²: „largely as a result of the genius of al-Shāfiʿī (d. 204/820) the party of Tradition won the day, and Ḥadīth came to be recognized as a foundation of Islām second only to the Ḳurʾān. Al-Shāfiʿī laid emphasis on an argument which seems to have been current even before this time […], that when the Ḳurʾān spoke of the Book and the Wisdom […] it meant Ḳurʾān and Ḥadīth“. 148 Maǧāz I, S. 109.

Autorisierungsstrategien

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wa-lā taqfu mā laisa laka bihi ʿilmun (17:36), maǧāzuhu wa-lā tattabiʿ mā lā taʿlamuhu wa-lā yaʿnīka, wa-ḏukira anna n-nabīya — ṣlʿs — qāla: naḥnu banū n-Naḍri bni Kinānata lā naqḏifu ummanā wa-lā naqfū abāʾanā, 149 wa-ruwiya fī l-ḥadīṯi: wa-lā naqtafī min abīnā. 150 Wa-qāla n-Nābiġatu l-Ǧaʿdīyu: wa-miṯlu d-dumā šummu l-ʿarānīni sākinun // bihinna l-ḥayāʾu lā yušiʿna t-taqāfiyā. 151 Geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! (17:36) Die Bedeutung ist: Verfolge nicht etwas, von dem du nichts weißt und das dich nichts angeht. Es wird überliefert, dass der Prophet — gesegnet sei er — sagte: Wir sind die Nachkommen des Naḍr ibn Kināna, 152 wir verleumden unsere Mutter nicht und gehen unserem Vater nicht nach. Und im ḥadīṯ gibt es die Variante: Wir machen uns nicht auf [die Spur] unseres Vaters. An-Nābiġa al-Ǧaʿdī sagt: [Junge Frauen], wie Statuen, die hochnäsig sind; ihnen wohnt // Schamhaftigkeit inne, sie neigen nicht dazu gereimte [Verse] (taqāfiyā) zu verbreiten.

Hier stellt sich die Frage nach dem inhaltlichen Verhältnis von Koranvers und die Paraphrase autorisierendem Prophetenausspruch und auch zu dem zitierten Vers an-Nābiġas besonders stark. Die ḥadīṯe bekräftigen das Vertrauen in die Abstammung des Propheten vom Stamm Naḍr von Kināna. Das Verb qafā wird hier im Sinne der verleumderischen Verfolgung gebraucht, die in einer Kritik an der Lebensweise und damit in der Infragestellung der genealogischen Abstammung von den Vätern bestehen würde. Inhaltlich scheinen die ḥadīṯe daher auf die Achtung gegenüber den Eltern abzuzielen. Der zitierte koranische Versausschnitt enthält ebenfalls die Mahnung, man solle keiner Sache nachgehen, die einen nichts angehe. Er stammt aus dem koranischen „Dekalog“ der mittelmekkanischen Sure 17, der — vermutlich im Bewusstsein der an die Israeliten ergangenen Zehn Gebote — eine Liste zumeist für das Sozialleben konstitutiver Werte artikuliert, deren Einhaltung angemahnt werden. 153 149 Der ḥadīṯ findet sich in ähnlicher Form bei Ibn Māǧah, Sunan Ibn Māǧah, Lichtenstein, Thesaurus Islamicus Foundation 2000, S. 379 (ḥadīṯ Nr. 2710). Hier: lā naqfū und wa-lā nantafī . 150 Sezgin zitiert aṭ-Ṭabarī (wohl zur Koranstelle). Az-Zamaḫšarī argumentiert, dass das Verb ursprünglich „folgen“ bedeutet, dann aber auch die Bedeutung von „verfolgen“, „verleumden“ oder „übel nachreden“ habe. Siehe Maḥmūd ibn ʿUmar az-Zamaḫšarī, Al-Fāʾiq fī ġarīb al-ḥadīṯ, hg. von Ibrāhīm Šams ad-Dīn, Beirut 1996, Bd. 3, S. 114. 151 Maǧāz I, S. 379. 152 Naḍr ist der Name einer Gruppe aus dem um Mekka angesiedelten Stamm der Kināna, einem Vorläufer der Quraiš. Siehe Montgomery Watt, Eintr. „Kināna“, in: EI². 153 Neuwirth hat die doppelte Referenz dieses koranischen „Dekalogs“ einerseits auf die Hebräische Bibel, andererseits auf den Normkodex der altarabischen Gesellschaft betont: „In jedem Fall spricht aber der unüberhörbare verbale Bezug auf die ʿāḏila-Intertexte, weiter gestützt durch die deutlich poetische Phrasierung des Verbots der Verschwendung, dafür, dass mit dem Dekalog auch Adressaten erreicht werden sollen, denen die in der Dichtung geführte Debatte um die paganen Werte vertraut war, unter denen besonders exzessive Großzügigkeit als ein Weg galt, sich Ruhm, ‚Ewigkeit‘, ḫuld, zu verschaffen. Die Benutzung des biblischen Dekalog-Moduls zur Formulierung von Normen, die für die teils bereits monotheistisch orientierte, teils aber auch noch pagan geprägte Gesellschaft gelten sollen, stellt eine besonders wirksame Strategie der Autorisierung dar.“ (Angelika Neuwirth, „A Discovery of Evil in the Qurʾan? Revisiting Qurʾanic Versions of the

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

Abū ʿUbaida kontextualisiert einige der in dieser Liste enthaltenen Mahnungen, beispielsweise das Verbot des Tötens neugeborener Mädchen, mit (vermeintlichen) Gepflogenheiten in der ǧāhilīya. Es ist daher hier naheliegend, dass der Koranvers und die ḥadīṯe eine gemeinsame Grundlage in einer ethischen Maxime — der notwendigen Ehrerbietung gegenüber den „Eltern“ — besitzen. Allerdings ist die Funktion des zuletzt beigebrachten poetischen šāhid dadurch verunklärt, dass sich hier lediglich das Substantiv taqāfiya (Sing. taqfiyatun, abgeleitet vom 2. Stamm des Verbs qafā) mit der Bedeutung des „Reimens“ von Versen findet und der Vers insofern die Paraphrase von lā taqfu mit lā tattabiʿ nicht autorisiert, sondern vielmehr eine weitere Bedeutungskomponente der dem Verb im koranischen Lemma zugrunde liegenden Radikalwurzel liefert. Ḥadīṯe scheinen in Maǧāz al-Qurʾān im Allgemeinen weniger inhaltliche Argumente zu verifizieren als Material für philologische Beweisführungen zu stellen. Anders als in vielen anderen exegetischen Texten dient die Berufung auf den Propheten auch nicht dazu, auf die Legitimität der Auslegung des Korans als solcher hinzuweisen. 154 Wir sind daher — im Hinblick auf den ḥadīṯ — nicht dazu angehalten, den philologischen Korankommentar als eine spezfisch „autoritätsbezogene“ Hermeneutik zu klassifizieren. Die ḥadīṯe im philologischen Korankommentar dienen durchaus der Kontextualisierung, allerdings nicht augenfällig der Autorisierung von Wissen im Sinne einer besonderen Bedeutung als prophetischem Sprachwissen. 4.3.3 Verse der Dichtung (šawāhid) Das quantitativ gewichtigste und dabei jedoch nicht minder schwer fassbare Autorisierungsmedium in Abū ʿUbaidas Korankommentar sind die Verse aus der alt­ arabischen Dichtung, die so genannten šawāhid (wörtl. „Zeugen“). Der Begriff des šāhid selbst fällt in Maǧāz al-Qurʾān und den zeitgenössischen Kommentaren nicht, sondern er scheint eine Innovation der Kommentarliteratur zu den sprachwissenschaftlichen, koranhermeneutischen und anderen ‚formativen‘ Quellen zu sein. 155 Der Grammatiker as-Sīrāfī (gest. 385/995) hat einen solchen Kommentar (Šarḥ abyāt al-Maǧāz) zu den poetischen Belegstellen in Maǧāz al-Qurʾān verfasst, der leider verloren ist. 156 Der erste arabische Gelehrte, der von der Technik des istišhād selbst — von der Beibringung poetischer Belegverse in der Koranphilologie — Gebrauch gemacht haDecalogue in the Context of Pagan Arab Late Antiquity“, in: Scripture, Poetry and the Making of a Community, S. 263.) 154 Siehe Birkeland, Opposition against Interpretation. 155 Gilliot nennt neben anderen: Ibn Hišām, Taḫlīṣ aš-šawāhid wa-l-talḫīṣ al-fawāʾid und al-Ḫaṭīb al-Baġdādī, Šarḥ šawāhid [shurūḥ] aš-Šāfiya, hg. von M. Nūr al-Ḥasan, u. a., Kairo 1939, (Neudruck Beirut 1975). (Siehe Gilliot, Eintr. „Shawāhid“, in: EI²) 156 Sezgin, GAS, Bd. 9, S. 66.

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ben soll, ist der Großcousin des Propheten und „Übermensch des tafsīr“ 157 ʿAbd Allāh ibn ʿAbbās. Ihm wird die Empfehlung zugeschrieben: „Wenn im Koran etwas fremdartig erscheint, so seht euch um in der Poesie, denn sie ist echt arabisch“, 158 und auch die bekannte Aussage, die Dichtung sei das „Register“ der Araber (dīwān al-ʿarab), 159 die in philologischen Werken vielfach wiederholt wird. In mehreren Dialogen, die zwischen ihm und dem Ḫāriǧitenführer Nāfiʿ ibn al-Azraq 160 noch im 7. Jahrhundert stattgefunden haben sollen, hat Ibn ʿAbbās selbst Fragen nach der Bedeutung strittiger Koranstellen mit dem Verweis auf Verse der altarabischen Dichtung beantwortet. Diese Dialoge sind unter dem Titel Masāʾil Nāfiʿ ibn al-Azraq ʿan Ibn ʿAbbās in mehreren Traditionen mit zum Teil stark voneinander abweichendem Inhalt und variierender Länge überliefert. In allen Sammlungen laufen die Dialoge nach demselben Muster ab, wobei jede Frage (masʾala) ein einziges koranisches Lexem behandelt. Jeder Kurzdialog beginnt damit, dass sich Nāfiʿ über die Bedeutung eines koranischen Begriffs oder einer kurzen Konstruktion erkundigt: „Was bedeutet Lemma x?“ Darauf antwortet Ibn ʿAbbās mit einer kurzen Paraphrase, worauf‌hin Nāfiʿ die kritische Frage stellt: „Kannten die Araber dies [den Gebrauch dieses Wortes mit der genannten Bedeutung] in der Zeit vor dem Islam?“ Ibn ʿAbbās antwortet mit den Worten: „Ja, hast du denn nicht den Vers des Dichters xy gehört?“ Er bringt nun einen vor- oder frühislamischen Belegvers für das Vorkommen des erfragten Wortes mit der von ihm vorgeschlagenen Bedeutung. Da die Masāʾil die einzigen Texte sind, die eventuell älter sind als Maǧāz al-Qurʾān und Verse der altarabischen Dichtung zum Zweck der Autorisierung koranexegetischer Argumente enthalten, soll dieser ebenso umstrittene wie viel besprochene Exegesetypus hier ausführlicher und in Abgrenzung zum philologischen Kommentar diskutiert werden. Die Masāʾil wurden bisher vor allem auf ihre Authentizität bzw. Datierung hin besprochen. Gerade aufgrund dieser Priorisierung der Forschungsliteratur muss vorab den Überlieferungswegen der Masāʾil selbst kurz Rechnung getragen werden.

157 Neuwirth, „Masāʾil“, S. 240. 158 Goldziher, Richtungen, S. 70 (mit Literaturangaben). 159 Die früheste Quelle zu dieser Ibn ʿAbbās zugeschriebenen Aussage findet sich bei Ibn Sallām al-Ǧumaḥī, Ṭabaqāt aš-šuʿarāʾ, hg. von Muḥammad Šākir, Beirut 1982, S. 22. Ibn Rašīq (gest. 1064) zitiert Ibn ʿAbbās im philologischen Werk Kitāb al-ʿUmda mit der Aussage: „Wenn du etwas im Buch Gottes liest, das du nicht verstehst, dann suche nach der Bedeutung in der Dichtung der Araber, denn die Dichtung ist das Register der Araber.“ Zitiert in Wen-Chin Ouyang, Literary Criticism in Medieval Arabic-Islamic Culture, Edinburgh 1997, S. 61. Was die Bedeutung des Begriffs dīwān selbst angeht, ist wohl die zuletzt von Wolfhart Heinrichs ausgeführte etymologische Herkunft aus dem Persischen einschlägig: „What the Dīwān was to the Persians, poetry was to the Arabs, namely a preserval of historical records.“ (Wolfhart Heinrichs, „Prosimetrical Genres in Classical Arabic Literature“, in: Prosimetrum, Cross-Cultural Perspectives on Narrative in Prose and Poetry, hg. von J. Harris and K. Reichl, Cambridge 1997, S. 251). 160 Zu Nāfiʿ siehe Jokisch, Imperial Law, S. 338–346.

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Der Ibn ʿAbbās zugeordnete tafsīr Ibn ʿAbbās stellt in der Koranexegese den Ausgangspunkt vieler Überliefererketten dar. 161 Noch zu seinen Lebzeiten sollen Kommentatoren aus der benachbarten Stadt aṭ-Ṭāʾif Schriften zu Ibn ʿAbbās gebracht haben, die er als seine eigenen autorisierte oder verwarf. 162 Spätere schriftliche Kommentare enthalten vielfach Hinweise auf einen tafsīr Ibn ʿAbbās oder aber überlieferte Kommentare wie der Tanwīr al-miqbās wurden seiner Autorität ebenso zugeschrieben wie zahlreiche einzelne exegetische oder juristische Urteile. 163 Die Ursache dafür, dass Ibn ʿAbbās in einer derart großen Zahl der wissenschaftlichen Überlieferungen als erster Gewährsmann auf‌taucht, sehen die meisten modernen Wissenschaftler — unabhängig von deren Einschätzung der ‚Authentizität‘ der Texte selbst — im Bedürfnis der Konstruktion einer ursprünglichen Autorität der von den späteren Exegeten selbst vertretenen Meinungen bzw. der Konstruktion einer ehrwürdigen Linie des tafsīr, die eine islamische Kommentarkultur auf Persönlichkeiten wie Ibn ʿAbbās oder ʿAlī ibn Abī Ṭālib auf‌baute. Auch die modernen Wissenschaftler, die an der Authentizität eines von Ibn ʿAbbās verfassten Exegesewerks (Wansbrough, Rippin, Cook, Calder) zweifeln, sprachen sich nicht gegen eine signifikante Teilhabe Ibn ʿAbbās etwa an der Entstehung der Koranexegese aus, sondern sie bestritten lediglich die Echtheit der ununterbrochenen Überliefererketten eines Tafsīr Ibn ʿAbbās. Die Frage, um die sich die Debatte um die Authentizität der Ibn ʿAbbās zugeschriebenen Überlieferungen drehte, betraf vorrangig den Zeitpunkt ihrer Verschriftlichung. Dabei vertraten Fuat Sezgin, 161 Zu der Bedeutung von Ibn ʿAbbās für den frühislamischen tafsīr siehe Claude Gilliot, „Portrait ‚mythique‘ d’Ibn ʿAbbās“, in: Arabica XXXII (1985), S. 127–184. Die dort dargestellten legendenhaften Überlieferungen, in denen etwa der Prophet selbst exegetisches Wissen für Ibn ʿAbbās erbittet, indem er ihm über den Kopf streicht, werden auch zusammengefasst in Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 270. 162 Gilliot, Eintr. „ʿAbdallāh b. ʿAbbās“, in: EI³ mit dem Hinweis auf al-Balāḏūrī, Ansāb, Bd. 3, S. 36. Da die Masāʾil hinsichtlich der Problematik ihrer Datierung in der frühislamischen Textgeschichte keine Ausnahme darstellen, sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach Methoden und Theorien zur Lösung von Datierungsfragen entwickelt worden. Harald Motzki hat seine Methode zur relativen Chronologisierung früher wissenschaftlicher Texte vor allem für den exegetischen ḥadīṯ profiliert. Motzki geht dabei von einer signifikanten Beziehung zwischen den Überliefererketten der islamischen Traditionen zu den Texten (matn, pl. mutūn) selbst aus. Aufgrund der mündlichen Überlieferung der frühislamischen Gelehrsamkeit, welche die genaue Datierung vieler Texte wie auch der Masāʾil erschwert, sieht Motzki die einzig gangbare Näherung an diese in einer Lektüre der späteren (beispielsweise philologischen oder theologischen) Werke. Allerdings reiche die Untersuchung der Texte selbst nicht aus, um sie zu datieren, da ein Kriterium für deren Vergleich fehlen würde: „A chronology, […] can hardly be achieved from a pure matn analysis. For example, it is pure speculation to locate short texts at the beginning or end of a development solely on the basis of the texts.“ (Analysing Muslim Traditions, S. 215) Erst der Vergleich der zugehörigen Überliefererketten und die Suche nach „common links“ in denselben liefere ein zusätzliches heuristisches Kriterium zum strukturellen und inhaltlichen Verständnis der Texte. Die Kombination beider soll eine relative Datierung ermöglichen. 163 Zu den Quellenangaben siehe Gilliot, Eintr. „Abdallah Ibn ʿAbbās“ und „portrait mythique“.

Autorisierungsstrategien

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Nabia Abbot und Isaiah Goldfeld 164 die Meinung, ein schriftlich fixierter Tafsīr Ibn ʿAbbās habe bereits in dessen Schülergeneration kursiert. John Wansbrough dagegen veranschlagte die schriftliche Formgebung des betreffenden Exegesetyps drei Jahrhunderte später, wodurch die Überliefererketten insgesamt den Charakter einer Konstruktion erhielten. Fred Leemhuis identifizierte das Jahr 150 der hiǧra als den Zeitpunkt der Verschriftlichung eines bereits davor mündlich im Umlauf befindlichen tafsīr Ibn ʿAbbās. 165 Für die Überlieferung der Masāʾil hat man mit ähnlichen Unsicherheiten umzugehen. Überlieferung der Masāʾil Nāfiʿ ibn al-Azraq Die frühesten überlieferten Textkorpora stellen zwei vermutlich voneinander unabhängige Rezensionen der Masāʾil dar (A und B), deren isnāde auf zwei Schüler von Ibn ʿAbbās, aḍ-Ḍaḥḥāk und ʿIkrima, sowie Muḥammad al-Kalbī zurückgehen. 166 In den isnāden fungiert ʿAbd ar-Raḥmān ʿUṯmān ibn ʿAbd ar-Raḥmān al-Ḥarrānī aṭṬarāʾifī als „common link“, von dem sich drei Überlieferungslinien ableiten lassen, die schließlich zu den schriftlichen Bearbeitungen der Masāʾil Tradition durch drei Philologen des 10. Jahrhunderts Ibn al-Anbārī 167 (gest. 328/940), al-ʿUkbarī (gest. 4./10. Jh.) und aṭ-Ṭabarānī 168 (gest. 360/971) führen. Das Manuskript mit den beiden Teilsammlungen (A und B) war bis zum Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 im Handschriftenkorpus Ẓāhīriya ʿāmm (Nr. 3849) in der Assad-Bibliothek in Damaskus verwahrt. Die Sammlung des Philologen al-Ḫuttalī (A) umfasst 39 masāʾil, die beinahe identisch mit der Überlieferung der masāʾil in aṭ-Ṭabarānīs al-Muʿǧam al-kabīr sind. Diese ist wiederum auch in al-Haiṯamīs (gest. 1356) Maǧmaʿ az-zawāʾid wa-manbaʿ al-fawāʾid 169 enthalten. Parallel dazu wird eine zweite frühe Sammlung (B) auf Muḥammad al-Kalbī zurückgeführt, deren Inhalt mit dem der ersten Sammlung nicht übereinstimmt. Diese Teilsammlung wird ihrerseits im Werk des Philologen Ibn al-Anbārī Kitāb Īḍāḥ al-waqf wa-l-ibtidāʾ mit der Teilsammlung A kombiniert. Die Masāʾil Ibn ʿAbbās bestehen dort aus insgesamt 50 Frageschemata, die sich nur teilweise mit denen in den Sammlungen A und B decken. 164 Isaiah Goldfeld, „The Tafsīr of Abdallah b. ʿAbbās“, in: Der Islam 58/1 (1981), S. 125–135; Nabia Abbot, „The early Development of tafsīr“, in: The Qurʾān. Formative Interpretation, hg. von Andrew Rippin, Aldershot 1999, S. 29–40. Siehe auch die Zusammenfassung der Kontroverse bei Motzki, Analysing Muslim Traditions, S. 290–299. 165 Leemhuis, „Origins and Early Development“. 166 Das Manuskript selbst wird meist auf das 4./10. Jahrhundert datiert. Siehe Boullata, „Poetry Citation“, S. 70. 167 Abū Bakr Muḥammad ibn al-Qāsim ibn Baššar Ibn al-Anbārī, Kitāb al-Waqf wa-l-ibtidāʾ (2 Bände), hg. von Muḥyī ad-Dīn ʿAbd ar-Raḥmān Ramaḍān, Damaskus 1971, Bd. 1, S. 76–98. 168 aṭ-Ṭabarānī, Abū l-Qāsim Sulaimān ibn Aḥmad, al-Muʿǧam al-kabīr (25 Bände), hg. von Hamdī ʿAbd al-Maǧīd as-Salafī u. a., Mossul 1986, Bd. 10, S. 246–256. 169 Maǧmaʿ az-zawāʾid wa-manbāʿ al-fawāʾid, Bd. 11, S. 276–284. Siehe auch den Beitrag von Neuwirth, die die Handschriften ausgewertet hat.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

Zuletzt zitiert der Philologe al-Mubarrad im Kitāb al-Kāmil 170 sieben „Fragen“ 171 des berühmten Paares. 172 Von diesen frühen Überlieferungen sehr verschieden ist allerdings das Korpus der masāʾil, das sich im Werk as-Suyūṭīs (gest. 1505) findet. Die Liste der masāʾil, die in dessen koranenzyklopädischen Werk al-Itqān fī ʿulūm al-Qurʾān auf Ibn ʿAbbās angeführt werden, besteht nun aus 189 Dialogschablonen. Angelika Neuwirth hat auf die Unverzichtbarkeit der Berücksichtigung dieser Überlieferungslage der Masāʾil vor allem im Hinblick darauf aufmerksam gemacht, dass „in der europäischen Forschung von Goldziher (1920) über Wansbrough (1977) und Rippin (1981) bis hin zu Gilliot (1985) für die Masāʾil [stets lediglich] die späte und durch zahlreiche sekundäre Erweiterungen angeschwollene Kompilation in as-Suyūṭīs Iṭqān“ 173 berücksichtigt wurde. Diese einseitige Konsultation der späteren Redaktion der Masāʾil, die augenfällig in Länge und Inhalt von den Masāʾil in den früheren philologischen Werken und den handschriftlichen Überlieferungen abweicht, habe — Neuwirth zufolge — zu einer „Fehleinschätzungen des gesamten Exegese-Typus“ 174 geführt. Es hätten nämlich die genannten Orientwissenschaftler die Datierung der Masāʾil ins 7. Jahrhundert sämtlich bestritten. Wansbrough, Rippin und Issa J. Boullata zufolge spricht vor allem das Fehlen poetischer šawāhid in den Kommentaren der ersten tafsīr-Generation (der „formativen Phase“) gegen eine Frühdatierung der Masāʾil. 175 Erst 150 Jahre später wurde die Verifizierung philologischer Argumente durch Belegstellen aus der Dichtung zu einer geläufigen Technik der Sprachwissenschaften und Exegese, wobei vor allem Maǧāz al-Qurʾān mit der Innovation der Poesie-orientierten Auslegung assoziiert wird.

170 al-Mubarrad, al-Kāmil, Bd. 1, S. 163–165. 171 Nur fünf dieser Fragen werden hier von Nāfiʿ gestellt. 172 Issa Boullata bemerkt, dass auch im Faḍāʾil al-Qurʾān-Werk Abū ʿUbaids Fragen nach strittigen koranischen Wörtern von Ibn ʿAbbās mit Hinweis auf Verse der Dichtung erklärt würden, die allerdings nicht mit den übrigen Überlieferungen übereinstimmen und Nāfiʿ nicht namentlich nennen. (Boullata, „Poetry Citation“, S. 66) 173 Neuwirth, „Masāʾil“, S. 240. 174 Ebd. 175 Wansbrough, Quranic Studies, S. 216f.: „The collection of lexical explanations known as Masāʾil Nāfiʿ b. Azraq exhibits an exegetical method considerably posterior to the activity of Ibn ʿAbbās (d. 68/687): Namely, the reference of rare or unknown words in scripture to the great corpus of early Arabic poetry. That method was in fact so conscientously and consistently applied in the Masāʾil as to provoke the question whether the real purpose of the work was not to furnish an ancient and honorable pedigree for what became, with the masoretes, a very important exegetical principle.“ Issa J. Boullata schließt sich dieser Auf‌fassung weitestgehend an, gibt aber zu bedenken, dass die Beibringung von Belegstellen aus der Dichtung und Sprichwörtern in der mündlichen Überlieferung bereits eine Tradition hat, die durchaus in die erste islamische Generation zurückreiche. Siehe Boullata, „Poetry Citation“, S. 73.

Autorisierungsstrategien

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Autorität des Exegeten und Autorisierung durch Dichtung in den Masāʾil und in Maǧāz al-Qurʾān Die von mehreren Wissenschaftlern unterstrichene Mündlichkeit der Überlieferung der Masāʾil wird schon durch die Dialogform abgebildet und auch — wie Issa Boullata bemerkt — durch zahlreiche Vermerke im Damaszener Manuskript bestätigt, in denen Gelehrte sich als „Hörer“ des vorgetragenen Korpus eingetragen haben. 176 Die stereoptype Struktur der Frage und Antwort wird in allen Überlieferungen mit geringen Veränderungen beibehalten. 177 Die Masāʾil sind „direkte Dialoge“, die nicht von einer auktorialen Stimme eingeleitet oder kommentiert werden und keine narrativen Einschübe enthalten. Informationen über nicht-sprachliches Verhalten der Kommunikationsteilnehmer wie Gesten oder Mimik fehlen in den Masāʾil vollständig, so dass wir von den beiden Gesprächspartnern Ibn ʿAbbās und Nāfiʿ als zwei „entkörperten Stimmen“ 178 sprechen können, die miteinander in Kontakt treten, ohne dass ein konkreter Widerspruch zwischen beiden bestünde. 179 Die Dialoge der Masāʾil haben nicht die Funktion der Überzeugung des Fragenden Nāfiʿ von einer von ihm ursprünglich nicht vertretenen Meinung. 180 Von Nāfiʿ und Ibn ʿAbbās als „disembodied voices“ zu sprechen ist insofern aufschlussreich, als dies die Aufmerksamkeit auf den nicht am Gespräch teilnehmenden Dritten lenkt, nämlich den Zuschauer bzw. Zuhörer der inszenierten Befragung. Die entscheidende Folge aus einer solchen implizierten ‚Zeugenschaft‘ ist die Zurkenntnisnahme und Etablierung der exegetischen Autorität Ibn ʿAbbās selbst, dessen Expertise durch die Herausforderung Nāfiʿs fortwährend unter Beweis gestellt wird. In diesem Kontext führt auch der Blick auf das einleitende Narrativ, das den Masāʾil in den Damaszener Manuskripten vorangestellt ist, weiter. 181 Dort wird Ibn 176 Boullata, „Poetry Citation“, S. 69. 177 Neuwirth notiert, dass in den späteren Überlieferungen zunehmend die „Zeit vor dem Islam“ als „Zeit vor der Verkündigung des Korans“ bzw. „Zeit vor dem Wirken des Propheten“ benannt wird. 178 Zum Begriff der „disembodied voices“ siehe Regula Forster, „Mittelalterliche arabischsprachige Dialoge“, in: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. von Bernd Sösemann, Berlin 2009, S. 139. 179 Im Konzept der „disembodied voices“ repräsentieren zwei Dialogpartner zwei abstrakte, einander widersprechende Standpunkte, wobei der Zweck des Dialoges oft in der argumentativen Überzeugung des einen Dialogpartners durch den anderen besteht. Vgl. ebd. 180 In der mündlichen Tradition erleichtert die Dialogstruktur zudem die Überlieferung der überkommenen Inhalte. 181 Auch in den philologischen Werken sind Informationen über das Zusammentreffen zwischen Ibn ʿAbbās und Nāfiʿ enthalten. Die kürzeste Version bietet al-Mubarrad, der unter der Berufung auf Ikrima berichtet: „Ich sah Ibn ʿAbbās und bei ihm war Nāfiʿ ibn al-Azraq, der ihm Fragen stellte und unterstützende Evidenz aus dem Sprachgebrauch forderte.“ (Vgl. al-Kāmil, Bd. 3, S. 957.) Der ausführlichere Bericht, den Ibn al-Anbarī bietet, ähnelt dem Narrativ im Damaskus Manuskript stark und gipfelt in derselben Pointe. Siehe Kitāb Iḍāḥ al-waqf wa-l-ibtidāʾ, Bd. 1, S. 76f.: „Nāfiʿ ibn al-Azraq trat in die heilige Moschee und sah Ibn ʿAbbās, der an einer der Wasserquelle saß und seine beiden Beine ins Wasser hielt, während Leute um ihn herum standen und ihm Fragen zur Erklärung [des Korans] stellten und er hielt seine Erklärungen nicht zurück. Nāfiʿ

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

ʿAbbās einer durchaus humoristische Züge tragenden Kompetenzprobe unterzogen. Der Gelehrte hält sich in dieser Anekdote in der Nähe der Zamzam Quelle an der Kaʿba in Mekka auf, als Nāfiʿ mit mehreren Begleitern aus Persien eintrifft. Bereits der Hinweis auf den Ort unterstreicht die Ehrwürdigkeit der Person und wohl auch der Profession des Gelehrten. Ibn ʿAbbās ist durch ein rot-weißes Gewand (vielleicht als Exeget?) im Heiligtum erkennbar und wird von den eintreffenden Reisenden sofort als solcher erkannt. Nāfiʿ adressiert Ibn ʿAbbās nun zuerst mit der provokativen Frage: „Welcher Mann übertrifft dich an Frechheit?“ (mā aǧraʾaka), worauf‌hin Ibn ʿAbbās schlagfertig antwortet: „Jemand, der kein Wissen hat oder sein Wissen zurückhält.“ 182 Da sich Ibn ʿAbbās in Varianten dieser Anekdote in den späteren philologischen Überlieferungen 183 mit der konkreten Auskunft verteidigt, er habe sein exegetisches Wissen von Gott selbst erhalten, ist die Funktion des Narrativs in der Autorisierung der exegetischen Expertise des Ibn ʿAbbās kaum bestreitbar. Aber nicht nur die Autorität des Ibn ʿAbbās, sondern auch das Unternehmen der Erklärung des Korantextes als solches wird in der Szene auf raffinierte Weise legitimiert. Wir haben oben bereits gesehen, dass die Auslegung der heiligen Schrift im Frühislam durchaus mit Vorbehalten belastet war. 184 Diese Umstrittenheit der Auslegung des Korans wird in den Masāʾil durch Nāfiʿs Unterstellung der „Frechheit“ des sich als Autorität inszenierenden Koranexperten angesprochen und sogleich rhetorisch in ihr Gegenteil verkehrt. Törichtes Verhalten bestehe nämlich, so die Aussage Ibn ʿAbbās’, nicht in der kompetenten Belehrung über erlangtes Wissen, sondern gerade in der Zurückhaltung desselben. Die Anekdote übernimmt damit eine ähnliche Funktion wie die Einleitungen zu wissenschaftlichen Texten ab dem 9. Jahrhundert, beispielsweise die Einleitung zum Kitāb al-Amṯāl Abū ʿUbaids, auf die wir unten zurückkommen. Auch dort wird vorab die „Methode“ der exegetischen bzw. kompilatorischen Arbeit (dort durch den Hinweis auf die exegetische Aktivität des Propheten selbst) legitimiert.

sagte: ‚Bei Gott, ich habe nie einen frecheren Mann gesehen als dich, der du das tust, Ibn ʿAbbās!‘ Ibn ʿAbbās sagte: ‚Deine Mutter soll dich los sein! Soll ich dir einen frecheren als mich zeigen?‘ Er sagte: ‚Wen denn?‘ Er antwortete: ‚Einen Mann, der ohne Wissen spricht oder der sein Wissen zurückhält.‘ Darauf‌hin sagte Nāfiʿ: ‚Ich würde dich gern einige Dinge fragen, die du mir beantworten sollst.‘ Er sagte: ‚Frage was du willst.‘“ 182 Masāʾil Nāfiʿ, S. 33. 183 Siehe Boullata, „Poetry Citation“, S. 72. 184 Siehe Kapitel „3.5 Der Vorwurf der Auslegung nach Gutdünken“ (S. 89).

Autorisierungsstrategien

141

„Kontrolle der Masāʾil“ 185 Im Folgenden soll die Technik des šawāhid-basierten Kommentierens neu unter die Lupe genommen werden. Neuwirth hat für eine „Kontrolle der Masāʾil“ 186 vier heuristische Kriterien vorgeschlagen, die auch auf die Koranphilologie anwendbar sind. Ihre Kriterien bestehen aus dem Blick auf 1. den „Rang und [die] Bekanntheit des Dichters bzw. herangezogenen Gedichtverses in den exegetischen Explananda, 2. die „wesentliche Verschiedenheit von behandelter Kontextstelle und šāhid“, die auf die Beweiskräftigkeit des durch den šāhid gestützten Arguments schließen lässt, 3. die „tatsächliche Ungewöhnlichkeit des zu belegenden sprachlichen Phänomens“ im Koran, das heißt dessen Deutungsnotwendigkeit und 4. die „semantische Stimmigkeit von Gebrauch des fraglichen Lexems im problematisierten Kontext und im šāhid.“ 187 In Ansätzen hat Neuwirth die von ihr vorgeschlagenen Analysekriterien selbst für einen Vergleich zwischen den frühen Überlieferungen der Masāʾil mit Quellen aus der Lexikographie (dem Kitāb al-ʿAin) und Koranphilologie (Maǧāz al-Qurʾān) angewandt. Um die Berufung auf die altarabische Dichtung in Abū ʿUbaidas Kommentar angemessen beurteilen zu können, müssen vor allem die umstrittenen, traditionell früher datierten Überlieferungen der Masāʾil Berücksichtigung finden. Diese Vorgehensweise sehe ich vor allem dadurch gerechtfertigt, dass in al-Mubarrads Kitāb al-Kāmil von einer riwāyā Abū ʿUbaidas die Rede ist, die vermutlich zur Zeit al-Mubarrads als eine von mehreren alternierenden Überlieferungen der Masāʾil kursierte. 188 Damit haben wir einen direkten Hinweis darauf, dass Abū ʿUbaida selbst ein (vielleicht noch gar nicht schriftlich verfasstes) Korpus der Masāʾil kannte. Für die Einordnung von Abū ʿUbaidas exegetischem Werk in eine Geschichte des tafsīr ist eine generelle Entscheidung über die chronologische Vor- oder Nachrangigkeit gegenüber den Masāʾil unerlässlich. Um einen belastbaren Boden für eine solche Entscheidung zu schaffen, soll hier zunächst der Einsatz von poetischen šawāhid in den Masāʾil und in Maǧāz al-Qurʾān verglichen werden. Darauf‌hin soll den Begründungen für diesen Einsatz, das heißt den Funktionen der Dichtung in den Kommentaren nachgegangen werden. Dabei wird zum Teil auf Neuwirths Analysekriterien zurückgegriffen, deren kurze Untersuchung bislang immer noch den einzigen Versuch einer inhaltlichen Deutung der Masāʾil darstellt. Vorab sei bemerkt, dass gerade das vierte Kriterium, die „semantische Stimmigkeit“ zwischen koranischen und poetischen Referenzen hier unter dem Stichwort der „Konnektion“ diskutiert werden und die „Stimmigkeit“ damit weniger auf ihre linguistische, als auf allgemein wissenstheoretische Konsequenz hin geprüft werden soll. Das heißt, uns beschäftigt 185 Neuwirth, auf die sich einige der im Folgenden aufgegriffenen Kriterien beziehen, spricht von einer „Kontrolle“ der Masāʾil. 186 Neuwirth, „Masāʾil“, S. 238. 187 Vgl. ebd., S. 238f. 188 Neuwirth, „Masāʾil“, S. 244.

142

Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

auch die Frage, ob die šawāhid in den Masāʾil und in Maǧāz al-Qurʾān tatsächlich vorrangig authentifizierende oder illustrierende Bedeutung haben. Dadurch hoffe ich auch, Rückschlüsse auf die in der „ersten muslimischen Generation tabuisierte“ 189 Literatur- und Wissensform der Dichtung während der Entstehungszeit des Maǧāz ziehen zu können. Seit 1993 liegt eine neue Ausgabe der Masāʾil von dem ägyptischen Arabisten Muḥammad ad-Dālī vor. Ad-Dālī trennt in seiner Edition das Korpus der Masāʾil des Manuskripts der Assad-Bibliothek in Damaskus von den in späteren Quellen der islamischen philologischen und exegetischen Werke zitierten Masāʾil. Diese sehr übersichtliche Edition, die den Zugang zu den verschiedenen Überlieferungen der Masāʾil erleichtert, ist Grundlage für die folgende Betrachtung. 190 Provisorischer Vergleich Die insgesamt 50 šawāhid in den beiden frühen Teilkorpora der Masāʾil sind ausnahmslos mit Angabe eines Dichternamen belegt, während die Überlieferungen der späteren Tradition und auch Maǧāz al-Qurʾān viele anonym zitierte Verse enthalten. Nāfiʿs „Fragen“ beziehen sich immer auf lexikalische, nicht wie in den koranphilologischen Werken auch auf grammatische und stilistische Probleme. Eine zusätzliche, bisher noch kaum untersuchte Beziehung zwischen koranischen Lemmata und poetischen šawāhid in den Masāʾil betrifft die Auswahl der deutungsbedürftigen koranischen Lexeme, die zu einem großen Teil dem letzten Dreißigstel des Textes im muṣḥaf entstammen. Dieser Teil des Koran ist es, der aufgrund seiner Präsenz im privaten wie im öffentlichen Kult von vornherein als neues autoritatives Corpus geformter Sprache vor allen anderen Teilen des Koran für die Übernahme der vorher beherrschenden Rolle der Poesie im Bewusstsein des Gebildeten in Frage kam; in diesen Suren haben wir — wenn irgendwo überhaupt — das Gegengewicht zur altarabischen Poesie zu sehen. 191

Diese Beobachtung liefert in Neuwirths Interpretation ein Argument gegen die Spätdatierung der Masāʾil in die Zeit „masoretischer“ Interpretation, 192 denn die am Ende des muṣḥaf befindlichen Suren spielen zwar im kultischen Ritus eine bedeutende Rolle, doch gingen die Grammatiker nicht primär auf diesen „letzten“ Teil des Korans zu. In Maǧāz al-Qurʾān ist sogar das Gegenteil auffällig. In den Kommentaren zu den Suren des ǧūzʾ ʿamma 78–114 finden sich sehr viel weniger poetische Belegverse als in den Kommentaren der längeren Suren. Gerade diese „letzten“ Suren 189 Vgl. Neuwirth, „Masāʾil“, S. 237 mit dem Hinweis auf Régis Blachère, „La poesie dans la conscience de la première genération musulmane“, in: Annales islamologiques IV (1963), S. 93–103. 190 Masāʾil Nāfiʿ ibn al-Azraq ʿan Ibn ʿAbbās, hg. von Muḥammad ad-Dālī, Kairo 1993. 191 Neuwirth, „Masāʾil“, S. 247. 192 Wansbrough subsumiert die koranexegetischen Werke ab dem 9. Jahrhundert unter „masoretischer“ Interpretation. Siehe Quranic Studies, S. 202ff.

143

Autorisierungsstrategien

werden in Maǧāz al-Qurʾān kurz abgehandelt und meist lediglich in einfachen substitutiven Paraphrasen lexikalisch erklärt. Auch die übrigen „Autorisierungsmedien“, ḥadīṯe und Gewährsmänner aus den Sprachwissenschaften, fehlen in diesem Teil des Kommentars. Was die Konzentration der koranischen Lemmata in den Masāʾil auf dieses „letzte Dreißigstel“ betrifft, so bekommen wir außerdem einen Eindruck davon, dass die Wahrnehmung von der Funktion der Dichtung als Autorisierung philologischer Argumente zu einseitig ist. Vielmehr wird in den Masāʾil eine intertextuelle Beziehung der beiden Textformen der frühmekkanischen Suren und der Verse der arabischen Dichtung suggeriert. Anders als in den an der schablonenhaften Dialogstruktur festhaltenden Masāʾil muss im philologischen Korankommentar nicht jede Glosse durch einen Belegvers der Dichtung authentifiziert werden, sondern nur etwa jede vierte Glosse enthält einen poetischen šāhid. Dann werden aber oft — anders als in den Masāʾil — mehrere poetische Verse unterschiedlicher Dichter für die Erklärung eines einzigen Lemmas zitiert. Tabellarische Übersicht Ein Vergleich der zitierten Belegverse in den beiden Teilsammlungen (A und B) der Masāʾil mit den šawāhid in Maǧāz al-Qurʾān ergibt folgende ‚Statistik‘: 5 der koranischen Lemmata, die in den Masāʾil für klärungsbedürftig gehalten werden, sind in Abū ʿUbaidas Kommentar ausgelassen: Deutungsbedürftiges Lexem

wa-l-azlām193 ḥatman194 aṯāman195 kailā taʾsū196 suǧǧirat197

masʾala

Vers

27 41 17 22 21

5:90 19:71 25:68 57:23 81:6

Dichter

al-Ḥuṭaiʾa Umaiya ibn Abī ṣ-Ṣalt Bišr ibn Abī Ḫāzim Labīd ibn Rabīʿa Zuhair

Vers in dessen Dīwān

ja (S. 227) ja (S. 481) ja (S. 206) ja (S. 7) nein

193 Oh ihr, die ihr glaubt! Siehe, Berauschendes, Glücksspiele, Opfersteine und Lospfeile sind ein Greuel, Teufels Werk. (In den folgenden Fußnoten werden die Übersetzungen der Koranverse, bzw. Versteile angegeben. Diese orientieren sich an Rudi Paret und der von Wilfried Hofmann überarbeiteten Übersetzung von Max Henning. Die Lexeme selbst werden fettgedruckt hervorgehoben.) 194 So ist es bei deinem Herrn unabwendbar beschlossen. 195 Diejenigen, welche neben Gott keinen anderen Gott anrufen und niemand töten, wo Gott doch zu töten verboten hat, außer nach Gesetz und Recht; und die keine Unzucht begehen: Wer solches tut, findet Strafe. 196 Betrübt euch nicht über das, was euch entgeht und freut euch nicht überheblich über das, was Er euch gibt; denn Gott liebt keine stolzen Prahler. 197 Wenn die Meere überkochen. .

144

Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

6 šawāhid stimmen in beiden exegetischen Texten bei inhaltlich gleicher Glosse zum fragwürdigen koranischen Lemma überein: Deutungsbedürftiges Lexem

ḥanānan198 al-musaḥḥarīn199 an-nuḥās200 ān201 kabad202 aṣ-ṣamad203

masʾala

Vers

37 11 2 10 49 12

19:13 26:153 55:35 55:44 90:4 112:2

Vers in dessen Dīwān

Dichter

Ṭarafa al-ʿAbd Labīd ibn Rabīʿa an-Nābiġa (Banī Ǧaʿda) an-Nābiġa aḏ-Ḏubyānī Labīd al-Asadī (al-Asadiyya204)

ja (S. 172) ja (S. 56) ja (S. 75) ja (S. 149) ja (S. 160) n. v.

Alle diese šawāhid stehen in al-Aḫfašs Maʿānī al-Qurʾān nicht an den entsprechenden Stellen. Vier der šawāhid sind dort überhaupt nicht enthalten. Der Vers von an-Nābiġa aḏ-Ḏubyānī (wa-tuḫḍab liḥyatun ġadarat wa-ḫānat // bi-aḥmara min naǧīʿi l-ǧaufi ānī) erscheint in einem anderen Kontext 205 ebenso der Vers von al-Asadī (siehe S. 154). 8 Glossen stimmen aus Maǧāz al-Qurʾān und den Masāʾil sinngemäß überein, weisen jedoch Änderungen im zitierten Vers aus der Dichtung auf: Deutungsbedürftiges Lexem

Dichter in den Masāʾil

Dichter in Maǧāz

masʾala

Vers

ḥarḍan206

20

12:85

Ṭarafa

ḥafada207

5

16:72

sariyyan208

46

19:24

Umaiya ibn Abī anonym ṣ-Ṣalt Labīd Labīd

anonym

Vers in dessen Dīwān

nein (?) nein ja (S. 307)

198 Wir gaben ihm [Johannes] Barmherzigkeit von uns, als er noch ein Kind war. 199 Du bist einer der Verhexten. 200 Gegen euch beide wird eine Flamme aus Feuer und brennendes Öl geschleudert werden. 201 Sie gehen zwischen ihm und kochend heißem Wasser hin und her. 202 Wir erschufen den Menschen zur Mühsal. 203 Gott, der Absolute. 204 In den Masaʾil ist hier offensichtlich auf eine andere Dichterin verwiesen als in Maǧāz al-Qurʾān, wo vermutlich der Dichter Kumait al-Asadī gemeint ist? Siehe zu der Dichterin al-Asadīya: Ibn Hišām, Sīra, Bd. 2, S. 221. 205 Siehe al-Aḫfaš al-Ausaṭ, Maʿānī al-Qurʾān (Ausgabe Fāʾiz Fāris), S. 65. 206 Du hörst nicht auf, an Joseph zu denken, bis du daran zerbrichst oder stirbst. 207 Gott gab euch Ehepartner aus euch selbst und gab euch durch eure Partner Söhne und Enkel und versorgte euch mit Gutem. 208 Dein Herr lässt unter dir Wasser fließen.

145

Autorisierungsstrategien Deutungsbedürftiges Lexem

masʾala

Vers

ġarāman209

35

25:65

ḥāḏirūn210

47

26:56

ḥubuk211

28

51:7

wazar212

43

75:11

amšāǧ214

3

76:2

Dichter in den Masāʾil

Bišr ibn Abī Ḫāzim ʿAbbās ibn Mirdās Zuhair ibn Abī Sulmā Ibn aḏ-Ḏiʾba aṯ-Ṯaqafī213 Abū Ḏuʾaib al-Huḏalī

Dichter in Maǧāz

Vers in dessen Dīwān

Bišr ibn Abī Ḫāzim ʿAbbās ibn Mirdās Zuhair

ja (S. 190)

aḏ-Ḏiʾba

n. v.

Abū Ḏuʾaib al-Huḏalī

ja (S. 32)

nein ja (S. 176)

6 Mal zitiert Abū ʿUbaida einen anderen Vers als in den Masāʾil bei sinngemäßer Erklärung zur koranischen Glosse: Deutungsbedürftiges Lexem

masʾala

Vers

Dichter in den Masāʾil

Dichter in Maǧāz

taʾlamūn215 zaʿīm216 yayʾas217

42 26 44

4:104 12:72 13:31

ġasaq218 rikzan219

25 23

17:78 19:98

Abū Ǧilda al-Yaškurī Abū Qais ibn al-Aṣlat Imruʾ al-Qais al-Muʾsīyu al-Azdī Mālik ibn ʿAuf Suhīm ibn Waʾīl al-Yarbūʿī an-Nābiġa al-ʿAǧāǧ Ḫidāš ibn Zuhair Labīd

209 Diejenigen, welche bitten: O unser Herr! Wende von uns die Strafe der Hölle ab; denn diese Strafe ist ewige Pein. 210 Wir sind eine wachsame Gemeinschaft. 211 Beim Himmel mit seinen Sternpfaden. 212 Es gibt keine Zuflucht. 213 Ibn Hišām, Sīra, Bd. 1, S. 41. 214 Wir erschufen den Menschen aus einem Tropfen Samen, der sich vermischt, um ihn zu prüfen. 215 Lasst nicht nach in eurer Bereitschaft, den Feind aufzusuchen. Wenn ihr zu leiden habt, so hat er zu leiden wir ihr. 216 Sie sagten: Wir vermissen den Pokal des Königs. Wer ihn wiederbringt, soll eine Kamelslast erhalten. Dafür verbürge ich mich. 217 Wenn durch einen Offenbarungstext bewirkt würde, dass Berge sich (von der Stelle) bewegen oder die Erde in Stücke zerreißt oder Tote sprechen. Nein! Die Angelegenheit steht ganz bei Gott. Haben den diejenigen, die glauben, nicht die Hoffnung aufgegeben, […]. 218 Verrichte das Gebet, wenn die Sonne sich (gegen den Horizont) neigt, bis die Nacht dunkelt! Und die Rezitation des frühen Morgens! Bei ihr soll man (allgemein) zugegen sein. 219 Wie viele Generationen haben wir vor ihnen zugrunde gehen lassen! Spürst du etwa (noch) irgend jemand von ihnen, oder hörst du von ihnen (noch) einen Laut?

146 Deutungsbedürftiges Lexem

kanūd220

Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān masʾala

Vers

Dichter in den Masāʾil

39

100:6

Abū Zubair aṭ-Ṭāʾī

Dichter in Maǧāz

al-Aʿšā

5 Mal zitiert Abū ʿUbaida einen anderen Vers bei divergierender Erklärung zur koranischen Glosse: Klärungsbedürftiges Lexem

taḥussūnahum221 muqītan222 taqfu224 mulīm225 šawāẓ226

masʾala

Vers

Dichter in den Masāʾil

Dichter in Maǧāz

29 30 50 15 1

3:152 4:85 17:36 37:142 55:35

ʿUtaiba al-Laiṯī an-Nābiġa Zuhair ibn Abī Sulmā Umaiya ibn Abī ṣ-Ṣalt Ḥassān ibn Ṯābit

Ruʾba al-Yahūdī223 an-Nābiġa al-Ǧaʿdī Labīd Ruʾba

19 der in den Masāʾil mit poetischem šāhid erklärten koranischen Lemmata werden in Maǧāz al-Qurʾān zwar paraphrasiert, jedoch nicht mit einem šāhid belegt: Deutungsbedürftiges Lexem

fūmihā taṣdiya kaẓīm azrī hamsan sāmidūn al-mašʾama ka-ṣ-ṣarīm ḥusūm tarǧūn

masʾala

Vers

6 33 19 40 48 7 13 16 34 4

2:61 8:35 16:58 20:31 20:108 53:61 56:9 68:20 69:7 71:13

Dichter in den Masāʾil

Abū Miḥǧān aṯ-Ṯaqafī Ḥassān ibn Ṯābit Zuhair ibn Ǧaḏīma al-ʿAbsī Abū Ṭālib Abū Zubaid aṭ-Ṭaʾī Huzaila bint Bakr Zuhair an-Nābiġa Umaiya ibn Abī ṣ-Ṣalt Abū Ḏuʾaib

220 Der Mensch ist seinem Herrn gegenüber wirklich unerkenntlich (indem er ihm seine Wohltaten überhaupt nicht dankt). 221 Gott hat euch (doch) sein Versprechen wahr gemacht. (Damals) als ihr sie (d. h. die Feinde) mit seiner Erlaubnis (vernichtend) schlugt. 222 Wer eine gute Fürbitte einlegt, bekommt einen Anteil daran. Und wer eine schlechte Fürbitte einlegt, bekommt was ihr entspricht. Gott ist um alles besorgt. 223 Sezgin identifiziert ihn mit Samauʾal ibn ʿĀdiyāʾ. Der Vers ist in dessen Dīwān und in den Aṣmaʿīyat enthalten. Siehe Maǧāz I, S. 135. 224 Geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! Gehör, Gesicht und Verstand, — für all das wird Rechenschaft verlangt. 225 Und der Fisch verschlang ihn, der (mit seinem Verhalten) schweren Tadel verdiente. 226 Man wird hell loderndes Feuer oder fließendes Kupfer über euch beide schicken.

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Autorisierungsstrategien Deutungsbedürftiges Lexem

ǧaddu as-sāq dihāqan ʿasʿasa yaḥūra ittasaq bi-l-hazl masġaba falaq

masʾala

Vers

14 18 45 8 24 9 36 38 31

72:3 75:29 78:34 81:17 84:14 84:18 86:14 90:14 113:1

Dichter in den Masāʾil

Ṭarafa ibn al-ʿAbd Abū Ḏuʾaib al-Huḏalī Ḫidāš ibn Zuhair Imruʾ al-Qais Labīd Ibn Ṣirma al-Anṣārī Suwait ibn aṣ-Ṣāmit al-Iṣbaʿ al-ʿAdwānī Labīd

Die Zahl der ‚fehlenden‘ šawāhid in Maǧāz al-Qurʾān braucht uns zunächst nicht zu beunruhigen, denn sie ist der veränderten Methode des Kommentars geschuldet. Während in den Masāʾil die einzelnen Dialoge um die Klärung koranischer Begriffe herum gebaut sind und als singuläre Interpretamente auch kontextunabhängig gelesen bzw. gelehrt und gehört werden können, verwendet Abū ʿUbaida die istišhād-Praxis in einem fortlaufenden Kommentar, wodurch unweigerlich Redundanzen entstehen bzw. die Erklärung einzelner Begriffe und Formulierungen sich wegen des bereits Gesagten erübrigt. Dass etwa die Hälfte (insgesamt 24 von 50) der in den Masāʾil besprochenen Koranverse in Maǧāz al-Qurʾān nicht erklärt (5) bzw. nicht mit einem šāhid belegt (19) wird, muss nicht zwangsläufig zu dem Schluss führen, Abū ʿUbaida habe diese Erklärungen Ibn ʿAbbās’ nicht gekannt. Im Gegenteil: Es ist vielleicht sogar wahrscheinlicher, dass Abū ʿUbaida diese Verse nicht mehr für klärungsbedürftig hielt, als dass eine chronologisch nach der Entstehung des Maǧāz angesiedelte Redaktion der Masāʾil Deutungsbedürftigkeiten im Koran konstruiert hätte, die nicht in den originären philologischen Werken wie Maǧāz al-Qurʾān auf‌tauchen. Übereinstimmende šawāhid Der Anschaulichkeit halber soll zunächst ein Beispiel für den identischen Einsatz eines šāhid in den Masāʾil und in Maǧāz al-Qurʾān gegeben werden. Abū ʿUbaida gibt folgende Erklärung: wa-ḥanānan min ladunnā (19:13), ai raḥmatan min ʿindinā, qāla (I)mruʾu l-Qaisi bnu Ḥuǧri l-Kindīyu: wa-yamna[ʿ]uhā Banū Šamaǧī bni Ǧarmin // maʿīzahumu, ḥanānaika ḏā l-ḥanānī 227

227 In Maǧāz al-Qurʾān wird der Vers wa-yamnaḥuhā… zitiert. Die Änderung zu yamnaʿuhā entspricht der Lesart des Verses im Dīwān des Imruʾ al-Qais, (S. 129).

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

wa-qāla l-Ḥuṭaiʾatu: 228 taḥannan ʿalaiya hadāka l-malīku // fa-inna li-kulli maqāmin maqālā ai taraḥḥam, wa-ʿāmmatan mā yustaʿmalu fī l-manṭiqi ʿalā lafẓi l-iṯnaini; wa-qāla Ṭarafatu l-ʿAbdīyu: 229 Abā Munḏirin afnaita fa-stabqi baʿḍanā // ḥanānaika baʿḍu š-šarri ahwanu min baʿḍī. 230 (wir gaben ihm [Johannes]) Barmherzigkeit von uns her (19:13), das heißt: [wir erwiesen ihm] Erbarmen von uns, Imruʾ al-Qais ibn Ḥuǧr al-Kindī sagt: Die Banū Šamaǧī ibn Ǧarm schützen // ihre Ziegen, sei gnädig (ḥanānaka), o Gnadenreicher (ḏā l-ḥanāni)! Al-Ḥuṭaiʾa sagt: Sei gnädig (taḥannan) mit mir, möge der Herr dich leiten // denn jede hohe Stellung hat ihr Gerede. Das heißt: erbarme dich! Im allgemeinen Sprachgebrauch finden sich beide Ausdrücke. Ṭarafa sagt: Abū Munḏir, du hast [einige von uns] vernichtet, so verschone den anderen Teil // Bei deiner Gnade (ḥanānaika)! Manches Übel ist wirklich leichter zu tragen als anderes.

Äquivalent dazu steht nun die masʾala 37 zur Klärung des Begriffs al-ḥanān (die Barmherzigkeit): Qāla: fa-aḫbirnī ʿan qauli llāhi ʿaẓẓa wa-ǧalla: wa-ḥanānan min ladunna. Mā l-ḥanānu? qāla: ar-raḥmatu. qāla: wa-hal kānati l-ʿarabu taʿrifu ḏālika? qāla: naʿam. A-mā samiʿta bi-qauli Ṭarafata bni l-ʿAbdīyi wa-huwa yaqūlu li-n-Niʿmādi bni l-Munāḏiri: Abā Munḏirin afnaita fa-stabqi baʿḍanā // ḥanānaika baʿḍu š-šarri ahwanu min baʿḍī. 231 Er sagte: Erkläre mir die Rede Gottes, gepriesen sei er: Barmherzigkeit von uns her. Was ist Barmherzigkeit? Er sagte: Gnade. Er fragte: Und kannten die Araber dies[e Bedeutung]? Er antwortete: Ja. Hast du nicht gehört, was Ṭarafa ibn al-ʿAbd zu an-Niʿmād ibn alMunāḏir sagte? 228 Ǧarwal ibn ʿAus ibn Mālik Abū Mulaika l-Ḥuṭaiʾa war ein muḫaḍram-Dichter aus dem Stamm ʿAbs und Schüler und rāwī des Dichters Kaʿb ibn Zuhair. Er bekannte sich vermutlich im Jahr 630 zusammen mit seinem Stamm zum Islam, fiel wieder ab und bekehrte sich wieder. Sein Dīwān, der viele Schmähgedichte enthält, soll von mehreren Philologen bearbeitet worden sein. (Siehe Sezgin, GAS, Bd. 2, S. 236f.). 229 Ṭarafa ibn al-ʿAbd ibn Sufyān war einer von mehreren vorislamischen Dichtern, die unter dem Namen (aṭ)-Ṭarafa bekannt waren. Er stammte aus einem Unterstamm der Bakr, mit Namen Ḏubaiʿa zwischen Yamāma und Baḥrain und soll mit mehreren anderen berühmten Dichtern verwandt gewesen sein. (Siehe Sezgin, GAS, Bd. 2, S. 115–118). 230 Maǧāz II, S. 2. 231 Masāʾil Nāfiʿ, S. 65.

Autorisierungsstrategien

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Abū Munḏir, du hast [einige von uns] vernichtet so verschone den anderen Teil // Bei deiner Gnade (ḥanānaika)! Manches Übel ist wirklich leichter zu tragen als anderes.

Im Maǧāz werden hier, ebenso wie in den Masāʾil, Verse zitiert, die den Begriff al-ḥanān mit der Bedeutung von „Gnade“ bzw. „gnädig sein“ beinhalten. Der gemeinsame Vers des Ṭarafa al-ʿAbd, in dem es um die Gnade weltlicher Herrscher geht, taucht auch im Maʿānī al-Qurʾān Werk von al-Aḫfaš auf, allerdings in einem anderen Kontext und ohne Nennung des Dichternamen. 232 Anders als Abū ʿUbaida ist der exegetische Sprecher der Masāʾil darum bemüht, wenigstens eine sehr knappe Kontexterklärung zum Vers abzugeben, indem er den Laḫmidenkönig Abū Munḏir als den im Vers angesprochenen identifiziert. Ausgelassene Verse Fünf der koranischen Begriffe, die in den Masāʾil für klärungsbedürftig gehalten werden und damit fünf poetische šawāhid werden in Abū ʿUbaidas Kommentar nicht diskutiert. Ein Grund für ein bewusstes ‚Auslassen‘ solcher Glossen könnte zum Beispiel die mangelnde Tauglichkeit der in den Masāʾil zitierten Dichter darstellen. Neuwirth vermutet zum Beispiel: Die dem Koran inhaltlich oft nahestehende Hanifenpoesie eines Umayya ibn Abī s-Salṭ oder ʿAdī ibn Zayd, und die Hofdichtung Nābighat banī Dhubyāns oder al-Aʿšā’s ist als profan-sprachliches Zeugnis für die Arabizität des Koran wenig beweiskräftig. 233

Al-ʿAšā ibn Qais ist ein christlicher Dichter, der vor allem durch ein Lobgedicht auf Muḥammad berühmt geworden ist. 234 In den Masāʾil findet sich ein Vers von ihm (in masʾala 32); in Maǧāz al-Qurʾān hingegen ist al-ʿAšā ibn Qais ein beliebter Gewährsmann, auf den mehr als 50 šawāhid entfallen. ʿAdī ibn Zaid al-ʿIbādī stammte ebenfalls aus einer christlichen Familie aus al-Hira und vormals aus Ktesiphon. Er soll der erste schreibende Sekretär am Hof des sasanidischen Königs Khosrou gewesen sein und auch Byzanz und Damaskus besucht haben. Viele Philologen des 8. und 9. Jahrhunderts schätzten sein Werk allerdings gering, da ʿAdī ibn Zaid „Stadtdichtung“ (qarawī), keine „echte“ Beduinendichtung verfasst habe. 235 Im Maǧāz wird er immerhin neun Mal als Zeuge aufgerufen. An-Nābiġa aḏ-Ḏubyānī ist ein altarabischer Dichter dessen Gedichte eine spezifisch politische Färbung besitzen. Durch seine Dichtung übte er politischen Einfluss zunächst innerhalb seines Stammes Murra aus und verfasste später Lobdichtung auf die Laḫmidenherrscher Munḏir III und IV 232 al-Aḫfaš al-Ausaṭ, Maʿānī al-Qurʾān, (Ausgabe Fāʾiz Fāris), S. 44 (bābu l-iḍāfa). (S. 61 der Ausgabe von Ibrāhīm Šams ad-Dīn). 233 Neuwirth, Masāʾil, S. 239. 234 Sezgin, GAS, Bd. 2, S. 130. 235 Ebd., S. 178.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

und an-Nuʿmān II. 236 In Maǧāz al-Qurʾān wird er aber mit 20 Belegversen zitiert. Der vielleicht umstrittenste unter den mit dem koranischen Propheten zeitgenössischen Dichtern ist Umaiya ibn Abī ṣ-Ṣalt. In den beiden Teilkorpora der Masāʾil entfallen vier Belegverse auf Umaiya (in den masāʾil 5, 15, 34, 41). In der Tat sind zwei der sieben von Abū ʿUbaida ‚ausgelassenen‘ Verse in Teilkorpus A der Masāʾil mit einem Vers des Umaiya ibn Abī ṣ-Ṣalt belegt. 237 In den beiden übrigen Fällen einer Berufung auf Umaiya in den Masāʾil zitiert Abū ʿUbaida die Verse eines anderen Dichters zur Klärung desselben Lexems. Bei der Kommentierung des Begriffes mulīm (verurteilenswert) in Q 37:142 (entspricht masʾala 15) beruft er sich auf Labīd ibn Rabīʿa, einen Dichter, dessen Glaubwürdigkeit sicher kaum zu überbieten war. Bei der Kommentierung des Begriffs ḥafada (Enkel, Sg. ḥafīd) in Q 16:72 (entspricht masʾala 5) zitiert Abū ʿUbaida denselben Vers wie in den Masāʾil, allerdings anonym. Nichtsdestotrotz beruft auch Abū ʿUbaida sich, wenn auch nur ein einziges Mal, namentlich auf Umaiya ibn Abī ṣ-Ṣalt. 238 Diese Daten alleine sind schwerlich in schlagkräftige Aussagen über die Hintergründe der Funktion der Dichtung und der Tauglichkeit der einzelnen Dichter zu übersetzen, zumal das moderne Urteil nicht selten in Zirkelschlüssen befangen bleibt. 239 Von einer absichtsvollen Meidung der in den Masāʾil gebrauchten Belegstellen aufgrund einer Diskreditierung einzelner Dichter (wie Umaiya ibn Abī ṣ-Ṣalt) in Maǧāz al-Qurʾān ist nicht zwangsläufig auszugehen. Sie bietet lediglich einen hypothetischen Grund für das ‚Fehlen‘ exegetischer Argumente in Maǧāz al-Qurʾān, das — einer solchen Hypothese zufolge — chronologisch nach den Masāʾil entstanden ist.

236 Sezgin, GAS, Bd. 2, S. 110. 237 Die Authentizität der Dichtung des Umaiya ibn Abī ṣ-Ṣalt, die in geographischer Nähe (in Ṭāʾif) zum Koran entstanden sein soll, wurde mehrfach hinterfragt. Siehe zuletzt Nicolai Sinai, „Religious Poetry from the Qurʾanic Milieu — Umayya ibn Abī l-Ṣalt on the fate of the Thamūd“, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 74, London, 2011, S. 397–416. As-Suyuṭī geht sehr viel generöser mit den umstrittenen Dichtern um als die Philologen vor ihm. Er führt 18 Belegverse von Umaiya (und 12 von Adī ibn Zaid und 25 von al-Aʿšā) an. 238 Siehe den Kommentar zu Q 79:14 in Maǧāz II, S. 285. Das koranische Lemma lautet as-sāhira. Sezgin verzeichnet eine Anmerkung am Rand des Manuskripts (S), die einen weiteren Vers von Umaiya enthält. Außerdem gibt es einen Vers, den Abū ʿUbaida anonym zitiert, der im Dīwān Umaiyas auf‌taucht und in den späteren Philologiewerken (ʿUyūn al-aḫbār, Bd. 2, S. 375; al-Kāmil, S. 43; al-Aġānī, Bd. 3, S. 179 u. a.) als ein Vers Umaiyas zitiert wird. Siehe Maǧāz I, S. 111. Das klärungsbedürftige Wort heißt dort ḏāʾiquhā. 239 Issa Boullata hat beispielsweise darauf hingeweisen, dass der christliche, umayyadische Hofdichter al-Aḫṭal, den zwar die Grammatiker und Philologen des 9. Jahrhunderts häufig zitieren, in den Masāʾil an nur einer Stelle aufgerufen wird. Diese Ausnahme hält Boullata für eine spätere Ergänzung, da al-Aḫṭal für eine Authentifizierung durch Ibn ʿAbbās zu jung gewesen sei. Das Urteil über die Authentizität einer Textstelle wird so über die Annahme einer Funktion der Dichtung und Autorität eines Dichters gefällt, die allerdings selbst erst konstruiert werden muss (das Alter als Kriterium der Glaubwürdigkeit). Boullata, „Poetry Citation“, S. 71.

Autorisierungsstrategien

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Sechs der in den Masāʾil beigebrachten šawāhid werden in Maǧāz al-Qurʾān mit Veränderungen zitiert. Solche für die Stimmigkeit zwischen koranischem Lemma und exegetischer Glosse nicht ausschlaggebenden Variationen der beigebrachten Verse sind für die Entstehungzeit beider Exegeseformen alles andere als erstaunlich. Solange eine Entstehung der Masāʾil während des 7. oder 8. Jahrhunderts angenommen wird, wäre aufgrund der Mündlichkeit der Überlieferung der Dichtung eine vollständige Übereinstimmung der Verszitate sogar viel bemerkenswerter. In diesem Kontext ist auch erwähnenswert, dass mehrere der Verse, die in den Masāʾil zitiert werden, nicht in den Dīwānen der zugehörigen Dichter auf‌tauchen. Diese betreffen Verse des Dichters an-Nābiġa aḏ-Ḏubyānī (in den masāʾil 26 und 30) und Zuhair ibn Abī Sulmā (masʾala 49). 240 Auch dieser Umstand rührt vermutlich daher, dass die mündliche Überlieferung der Dichtung während des 7. und 8. Jahrhunderts noch größere Variation zuließ und die „Arbeitsteilung“ zwischen Dichter und Überlieferer die Identifikation eines Gedichtes mit einem einzigen „Urheber“ in dieser Zeit ohnehin nicht wahrscheinlich macht. Es wäre hingegen schwierig zu begründen, weshalb eine spätere Masāʾil-Redaktion Verse der berühmten altarabischen Dichter enthalten sollte, die nicht in deren während der Entstehungszeit der philologischen Werke vorhandenen Dīwānkompilationen zu finden sind. Deutungsversuch der Übersicht Zusammenfassend möchte ich argumentieren, dass die Masāʾil Nāfiʿ ʿan Ibn ʿAbbās bis ins 2. islamische Jahrhundert vermutlich in variierenden mündlichen Überlieferungen (riwāyāt) kursierten, auf welche die späteren wissenschaftlichen Disziplinen (die Koranexegese, Grammatik und Lexikographie) nicht nur inhaltlich, sondern vor allem methodologisch zurückgreifen konnten. Diese Vermutung ist unabhängig davon, ob die als „historisch“ oder „mythisch“ einzuschätzende Person Ibn ʿAbbās mit dem in den Handschriften überlieferten Korpus der frühesten Masāʾil in Verbindung gebracht wird oder nicht. Gerade die Mündlichkeit des Exegesetypus, die durch die fiktive Dialogform auch auf die Texte selbst ausstrahlt, mag die Handhabung der heute als verschiedene Textsorten wahrgenommenen Korpora Koran und Dichtung, in der Anfangszeit islamischer Gelehrsamkeit erleichtert haben. Aufgrund der schematischen Dialogform der Masāʾil ist leicht vorstellbar, dass einige, nicht aber alle mit Ibn ʿAbbās assoziierten exegetischen Argumente und ihre poetischen Belege bei der Entstehung des Maǧāz präsent waren und aufgegriffen wurden. Gerade die Varianten der Belegverse bzw. der zugeordneten Dichter legen diese Deutung nahe. Die Annahme des umgekehrten Falls einer chronologischen Vorrangigkeit des Maǧāz gegenüber den Masāʾil würde vor allem die Frage unbeantwortet lassen, weshalb zwar ein Zehntel der in 240 Dahingegen sind die Umaiya ibn Abī s-Salṭ zugeschriebenen Verse sämtlich in dessen Dīwān enthalten.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

den Masāʾil verwendeten Belegverse in identischen Argumenten im Maǧāz auf‌tauchen, der überwiegende Teil aber nicht nur im Hinblick auf die beigebrachten Verse, sondern auch die ausgewählten koranischen Lemmata fehlen. Weiterhin bliebe zu klären, weshalb die Maʿānī al-Qurʾān-Werke keine vergleichbare Kongruenz mit den Masāʾil aufweisen. Angesichts der Möglichkeit einer Überlieferung der Masāʾil durch Abū ʿUbaida selbst wäre auch diese Tatsache leichter zu rechtfertigen, wenn wir von einer frühen, aber mündlichen Entstehung und Verbreitung der Masāʾil ausgingen. Die stärker in professionalisierte ‚Schulen‘ der Grammatik eingebundenen Exegeten al-Farrāʾ und al-Aḫfaš al-Ausaṭ könnten von dem Korpus und der Methode der Masāʾil als einer ‚fachfremden‘ Überlieferung bewusst Abstand genommen haben. Ibn ʿAbbās stand als Verwandter des Propheten und umfassend gebildete Persönlichkeit für die Richtigkeit der exegetischen Aussagen und die Hermeneutik des istišhād ein. Ich vermute, dass erst mit der ‚Verschriftlichung‘ der Dichtung und der zunehmenden Bedeutung von Schrift in der Unterrichts- und Überlieferungspraxis, die sich zeitgleich mit Abū ʿUbaidas Schaffen sukzessive vollzog, die „Kreuzung der Gattungen“ Koran und Dichtung in der Exegese als eine solche Grenzüberschreitung wahrgenommen wurde. Für eine solche Beurteilung spricht auch der Gebrauch poetischer šawāhid in der Lexikographie. Zwischen dem Kitāb al-ʿAin und den Masāʾil (A und B) stimmen 15 Verse überein und der Autor des Lexikons beruft sich, wie auch Abū ʿUbaida, an vielen Stellen zusätzlich auf andere šawāhid. Neuwirth beobachtet außerdem, dass an einigen Stellen im Kitāb al-ʿAin der zu erwartende šāhid zwar erscheint, „aber nicht in unmittelbarem Kontakt zu den koranischen Lemmata“. Diese Beobachtung führt sie zu der Annahme, „dass das Kitāb al-Ain die Masāʾil nicht direkt benutzt hat, sondern beide auf eine gemeinsame Quelle zurückgreifen, als die wohl nur die mündliche Diskussion sprachinteressierter Kreise in Basra um die Mitte des zweiten Jhdts vorstellbar ist.“ 241

Im Korankommentar tritt der Philologe anders als Ibn ʿAbbās nicht als personale Autorität, etwa in Form einer auktorialen Stimme für sein Wissen ein, sondern Abū ʿUbaida wird in Maǧāz al-Qurʾān (sehr selten) in der dritten Person (qāla Abū ­ʿUbaida) als einer unter vielen Gewährsmännern zitiert. Dieser Umstand ist nicht nur der veränderten Exegesegattung (um das einzelne Lexem gebaute Dialogstruktur gegenüber kursorisch fortlaufendem Kommentar) geschuldet, sondern er markiert auch den zunehmend wissenschaftlichen Sitz im Leben des philologischen Exegesetypus. Maǧāz al-Qurʾān brauchte die Autorisierung durch einen charismatischen und durch seine Genealogie geadelten Experten nicht mehr, oder anders gesprochen: Abū ʿUbaida hatte andere Hürden der Selbstautorisierung zu nehmen als Ibn ʿAbbās. Unsere Untersuchung der Glossentypen und Beobachtung einzelner Merkmale von Maǧāz al-Qurʾān (z. B. die argumentative Redundanz, Häufung singulärer Beispiele in einzelnen Suren und deren Fehlen andernorts) haben nahe gelegt, dass es ein ver241 Neuwirth, „Masāʾil“, S. 245.

Autorisierungsstrategien

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mutlich kontinuierlich hörender sprachwissenschaftlich interessierter Schülerkreis war, dem Abū ʿUbaida seinen Kommentar vortrug. Nicht mehr genealogische Ehrwürdigkeit und rhetorisches Durchsetzungsvermögen, sondern die Vollständigkeit und Genauigkeit des Wissens über die Sprache und Lebensweise der Araber vor dem Islam waren Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit des Exegeten im frühen 9. Jahrhundert. Beispiele für die „konnektive“ Funktion der šawāhid in Maǧāz al-Qurʾān und in den Masāʾil Haben die šawāhid in Maǧāz al-Qurʾān lediglich die Funktion der Autorisierung exegetischer Argumente und der Illustration des arabischen Sprachgebrauchs vor der Verkündigung des Korans? Oder sind die Verse der Dichtung selbst ‚Wissensträger‘, die auch in ihrer inhaltlichen Bedeutung relevant sind? Spielt die Funktion der Dichtung als das wichtigste intellektuelle öffentliche Ausdruckmedium, welche sie auf der arabischen Halbinsel spätestens seit dem 5. Jahrhundert innehatte, im philologischen Korankommentar eine Rolle? Wir haben aufgrund der Bedeutung der Dichtung für die gesellschaftliche, kulturelle und individuelle Identität in der ǧāhilīya oben die Hypothese formuliert, dass in den šawāhid, wenn sie auch augenscheinlich als „Zeugen“ für den arabischen Sprachgebrauch aufgerufen werden, die altarabischen Weltanschauungen latent abruf‌bar bleiben. Während Nicolai Sinai die „konnektive“ Verbindung des Korans mit den ihn umgebenden Literaturen im Hinblick auf die entstehende Kanonizität des Korans herausgearbeitet hat, 242 betrifft der šawāhid-Gebrauch im philologischen Korankommentar bereits den kanonischen Koran und die ‚kanonische‘ Dichtung. Eine „Konnektion“ wird daher hier nicht in einem Einwirken der Dichtung auf die koranische Textgeschichte, sondern in der ‚nachträglichen‘ Verbindung beider Korpora — Koran und Dichtung — im philologischen Kommentar gesucht. In der Forschungsliteratur zum frühen tafsīr ist bisher nahezu ausschließlich die autorisierende oder illustrierende Funktion der šawāhid hervorgehoben worden. 243 Hier sollen nun Beispiele diskutiert werden, anhand derer die Verbindung von Koran und Dichtung im philologischen Korankommentar als bewusste Verhandlung eines ideologischen Transfers erkennbar wird. Kontinuität und Wandel zwischen ǧāhilīya und Islam Grundsätzlich wird eine weltanschauliche Diskrepanz zwischen Koran und Dichtung besonders deutlich, wenn šawāhid bei der Glossierung theologisch relevanter Koranverse herangezogen werden. So bei der Kommentierung des Gottesnamens aṣ-ṣamad in Sure 112: 242 Sinai, Fortschreibung und Auslegung, S. 19. 243 Boullata, „Poetry Citation“; Carter, „Arabic Lexicography“; Wansbrough, Quranic Studies.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

allāhu ṣ-ṣamad (112:2), huwa llaḏī yuṣmadu ilaihi, laisa fauqahu aḥadun, wa-l-ʿarabu ka-ḏālika tusammī ašrāfahā, qāla al-Asadīyu: laqad bakkara n-nāʿī bi-ḫairi Banī Asad // bi-ʿAmri bni Masʿūdin wa bi-s-saiyidi ṣ-ṣamad. 244 Gott ist der Absolute (112:2). Er ist der, dem sich (die Menschen hilfesuchend) zuwenden und über dem niemand steht. Die Araber nennen ihre Fürsten ebenso. Al-Asadī sagt: Der Rufer brachte früh die gute [Kunde] von den Banū Asad // von ʿAmr ibn Masʿūd und dem Herrn, zu dem man fleht.

Zwischen dem Begriff aṣ-ṣamad im Koranvers und im Vers der Dichtung besteht auf der Bedeutungsebene eine augenscheinliche Diskrepanz, die Abū ʿUbaida in seiner explikativen Paraphrase jedoch überblendet. Er beansprucht den Titel aṣ-ṣamad für menschliche Würdenträger, nämlich die altarabischen Fürsten, die so genannt würden, da man sie — ebenso wie Gott — um Hilfe anfleht. 245 Dieser lexikalisch orientierten, im Wesen „ent‌theologisierenden“ Deutung koranischer Begriffe mithilfe der Dichtung stehen Interpretamente gegenüber, in denen gerade ein Bedeutungsunterschied eines Wortes im vorislamischen und islamischen Kontext deklariert wird. So bei der Paraphrase des Begriffs māʿūn (Hilfeleistung) in Sure 107: Wa-yamnaʿūna l-māʿūna (107:7), huwa fī l-ǧāhilīyati kullu manfaʿatin wa-ʿaṭīyatin, qāla l-Aʿšā: Bi-aǧwada minhu bi-māʿūnihī // iḏā mā samāʾuhumū lam taġim Wa-l-māʿūnu fī-l-islāmi aṭ-ṭāʿatu wa-z-zakātu, qāla ar-Rāʿī: Qaumun ʿalā l-islāmi lammā yamnaʿū // māʿūnahum wa-yuḍayyiʿū t-tanzīlā Sie verweigern ihre Hilfeleistung (107:7), [der Begriff] meint in vorislamischer Zeit jeden Nutzen oder [jede] Gabe, al-Aʿšā sagt: [Er] war ihnen gegenüber freigiebig mit seiner Hilfeleistung // wenn ihr Himmel unbedeckt (d. h. keinen Regen verheißend) war. [Der Begriff] ‚Hilfeleistung‘ bedeutet in islamischer Zeit die fromme Handlung und Rechtschaffenheit (oder Almosen). Ar-Rāʿī sagt: 244 Maǧāz II, S. 316. 245 Der Vers, den Abū ʿUbaida unspezifisch dem Dichter al-Asadī zuordnet, wird in den Masāʾil der Dichterin Hind bint Maʿbad al-Asadiya zugeschrieben. In den späteren Werken aṭ-Ṭabrizīs und Ibn as-Sikkīts (Tahḏīb iṣlāḥ al-manṭiq) wird er als ein Vers des Dichters Sabra ibn ʿAmr al-Asadī zur Erklärung des Wortes aṣ-ṣamad mit der Bedeutung von „derjenige, den man um seine Bedürfnisse anfleht.“ (allaḏī yuṣmadu ilaihi fī l-ḥawāʾiǧ). Beide identifizieren den „Herrn zu dem man fleht“ im Vers mit Ḫālid ibn Naḍla. Er und ʿAmr ibn Masʿūd würden im Vers al-Asadīs beweint. Siehe Abū Yūsuf Yaʿqūb ibn Isḥāq Ibn as-Sikkīt, Iṣlāḥ al-manṭiq, hg. von Aḥmad Muḥammad Šākir und ʿAbd as-Salām Muḥammad Hārūn, Kairo 1956 (3. Auf‌lage), S. 49 und Ibn Zakarīyā Yaḥyā ibn ʿAlī al-Ḫaṭīb at-Tibrizī, Tahḏīb iṣlāḥ al-manṭiq, hg. von Fauzī ʿAbd al-ʿAzīz Masʿūd, Kairo 1986, Bd. 1, S. 165f.

Autorisierungsstrategien

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Leute, die im Islam versagen // ihre Hilfe, und das Offenbarte verwirken.

Der von Abū ʿUbaida postulierte Bedeutungsunterschied des Begriffs māʿūn in vorislamischer und islamischer Zeit scheint auch — oder sogar gerade — einen Wandel der Ethik abzubilden, der in einer Ablösung von pragmatischer Hilfeleistung (in der beduinischen Gesellschaft) durch eine spirituell orientierte Maxime karitativer Verpflichtung (in islamischer Zeit) besteht. Der Rekurs auf die Dichtung dient hier nicht dazu, eine einzige Exegese zu autorisieren, sondern vielmehr dazu, einen Transfer innerhalb des Sprachgebrauchs und einen damit einhergehenden moralischen Transfer anschaulich zu machen. Der Koranvers hat keine erkennbar ‚übergeordnete‘ Stellung gegenüber der Dichtung, etwa im Hinblick auf seine ‚Sakralität‘. Ent‌theologisierung Ein ebenfalls theologisch (hier: prophetologisch) aufgeladener Begriff ist der in den Masāʾil und in Maǧāz al-Qurʾān erklärte Begriff al-musaḥḥarīna in Sure 26. Im Koran steht er im Kontext des artikulierten Zweifels an der Wahrhaftigkeit der prophetischen Rede: „Sie sagten: ‚Du bist offensichtlich einer von denen, die einem Zauber zum Opfer gefallen sind. Du bist nur ein Mensch wie wir. Darum bring ein Zeichen hervor, wenn du die Wahrheit sagst!‘“ (26:153–54) Der Begriff al-musaḥḥarīna ist daher bedeutsam für die in der mittelmekkanischen Verkündigungsperiode virulente Selbstbehauptung des Propheten. Indem ihm der Vorwurf gemacht wird, ein der Zauberei zum Opfer gefallener Redner zu sein, und von ihm gefordert wird, ein „Zeichen“ für die göttliche Autorisierung seiner Verkündigung hervorzubringen, bringen die Verse die Hörererwartung des Korans dieser Zeit zum Ausdruck. Abū ʿUbaida argumentiert nun: qālū innamā anta mina l-musaḥḥarīna (26:153), wa-kullu man akala min insin au dābbatin fa-huwa musaḥḥarun wa-ḏālika anna lahu saḥran yaqrī yaǧmaʿu mā akala fīhi, qāla Labīdu bnu Rabīʿata fa-in tasʾalīnā fī-ma naḥnu fa-innanā // ʿaṣāfīru fī hāḏā l-anāmi l-musaḥḥarī 246 Sie sagten, du bist einer von denen, die einem Zauber zum Opfer gefallen sind (26:135), jedes [Lebewesen], ob Mensch oder Tier, welches Nahrung zu sich nimmt, ist musaḥḥar. Das bedeutet, dass es einen Magen hat. Was es gegessen hat, wird darin gesammelt und vereint. Labīd ibn Rabīʿa sagt: Wenn du uns fragst, wer (was) wir sind, so sind wir // Vögel unter diesen Geschöpfen, die ernährt werden.

Die Bedeutung von Zauberei spielt weder in Abū ʿUbaidas Glosse noch im angeführten Vers Labīds eine Rolle. Stattdessen wird der Begriff musaḥḥar in seiner Doppeldeutigkeit — einerseits als verzauberte Individuen, andererseits als die Lebewesen, 246 Maǧāz II, S. 89.

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Interpretationstechniken in Maǧāz al-Qurʾān

die Nahrung zu sich nehmen — diskutiert. Im šāhid von Labīd selbst beschreibt der Begriff ein positives Merkmal der Schöpfung, nämlich das Versorgtsein durch ihren Schöpfer (musaḥḥar). Diesem Verständnis liegt die Bedeutung von „ernähren“ zugrunde, die Abū ʿUbaida ganz im biologischen Sinne aufzunehmen gewillt ist. Abū ʿUbaida muss sich dieser Ambiguität bewusst gewesen sein, da die ‚profane‘ Bedeutung des Begriffs, welche er in seiner Glosse zur Sprache bringt, nicht auf den Kontext des Koranverses übertragen werden kann. Indem Abū ʿUbaida den Begriff aus dem koranischen Argument um die Abgrenzung des Propheten gegenüber Zauber zum Opfer gefallenen Rednern herauslöst, signalisiert er hier deutlich die entmythisierende Tendenz seiner Hermeneutik. Der Status und die Autorität des koranischen Verkünders scheinen ihn weniger zu interessieren als die Auskunft über die Gemeinsamkeit von Mensch und Tier durch die Mechanismen ihrer Verdauung. Aṭ-Ṭabarī kommt in seinem Kommentar zu Vers 26:135, der den Begriff musaḥḥar zum ersten Mal enthält, auf „einen Gelehrten aus Basra“ — vermutlich Abū ʿUbaida — zu sprechen, der den Begriff musaḥḥar im Hinblick auf das „Sammeln und Vereinen“ von Nahrung im Magen gedeutet hätte, und bringt auch denselben Vers von Labīd an. Er selbst favorisiert allerdings eine mit Ibn ʿAbbās assoziierte Interpretation, nach welcher der Begriff alle Lebewesen bezeichne, die durch „Essen und Trinken krank wurden“. Diese werden von Göttern und Engeln unterschieden (die keine Nahrung brauchen). Insofern ist hier der Kontext zu den „verzauberten“ Rednern und der besonderen ‚Ontologie‘ des prophetischen Verkünders im Koranvers hergestellt. Dem Propheten wird durch seine Einstufung als Wesen, welches Nahrung braucht, vorgeworfen „nur ein Mensch“ zu sein, das heißt, keine übersinnliche Autorisierung seiner Verkündigung zu besitzen. 247 Die Beschreibung der philologischen Kommentartechnik als „einfache“ Hermeneutik — entsprechend der geforderten „Einfachheit“ der Bibellektüre, für welche Rabbi Jischmael eingetreten war — reicht für Abū ʿUbaidas Argumentation an dieser Stelle nicht aus. Die Kommentierung des koranischen Begriffs musaḥḥarīna mit dem Hinweis auf die Verdauung von Nahrung durch Mensch und Tier ist keine naheliegende, „einfache“ Interpretation. Vielmehr betreibt Abū ʿUbaida hier eine bewusste Ent-kontextualisierung und Neu-kontextualisierung des koranischen Begriffs. Und er reflektiert die Vieldimensionalität der Sprache auch auf der „literalen“ Ebene. Ohne auf tiefenstrukturelle Bedeutung des Bgriffs musaḥḥar abzuheben setzt er einen Pluralismus der Wortbedeutung voraus. Generalisierung koranischer Spezifika Der Fokus des philologischen Korankommentars auf die lexikalische Bedeutung koranischer Begriffe tritt besonders deutlich zu tage, wenn spezifische Objekte, wie im folgenden Beispiel der Wall zwischen Paradies und Hölle (aʿrāf), in einer ge247 aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, Bd. 17, S. 625–627.

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neralisierten, auf die Wortsemantik des Begriffs abhebenden Weise paraphrasiert werden. Es finden sich solche ‚generalisierenden‘ Paraphrasen nach dem Schema kullu x maʿnāhu y mehrfach im Maǧāz. 248 Ihnen folgen häufig šawāhid, welche den klärungsbedürftigen Begriff in einem ganz anderen Kontext enthalten: wa-ʿalā l-aʿrāfi riǧālun yaʿrifūna (7:46), maǧāzuhā: ʿalā bināʾi sūrin liʾanna kulla murtafaʿin mina l-arḍi ʿinda l-ʿarabi aʿrāfun, qāla: kullu kināzi laḥmihi niyāfun // ka-l-ʿalami l-mūfī ʿalā l-aʿrāfī wa-qāla aš-Šammāḫu: wa-ẓallat bi-aʿrāfin taġālā kaʾannahā // rimāḥun naḥāhā wiǧhata r-rīḥi rākizū 249 Auf den Höhen sind Männer, die (alle anderen an ihren Zeichen) erkennen (7:46), die Bedeutung ist: auf dem Bau einer Mauer, denn alles, was von der Erde emporragt, gilt bei den Arabern als Höhen (aʿrāf). Er (ein Dichter) sagt: Das ganze Fleisch, das er darbot war edel // wie die Fahne, die auf den Höhen (aʿrāf) weht. Aš-Šammāḫ sagt: Sie blieben auf den Berghöhen (aʿrāf), einander herausfordernd, als ob sie // Speere wären, die ein Soldat in Richtung des Windes hält.

Aš-Šammāḫ war ein muḫaḍram, das heißt ein sowohl der vorislamischen als auch der islamischen Zeit angehöriger Dichter, der aus einer Dichterfamilie stammte, sich früh zum Islam bekannt haben soll und im islamischen Eroberungskampf starb. Seine Dichtung lässt allerdings Hinweise auf die Eroberungskriege ebenso wie auf seine Stammeszugehörigkeit vermissen. Stattdessen wird er von den Philologen für seine plastischen und innovativen Beschreibungen von Tieren geschätzt. Auch der hier zitierte Vers stammt aus dem Kontext der Beschreibung einer Herde Zebras. 250 Klar erkennbar haben beide angeführten šawāhid nichts mit den spezifischen ‚Höhen‘ zwischen Hölle und Paradies gemeinsam, die im Koranvers angesprochen werden. Ganz ähnlich wie im šāhid zum Begriff des „Sterns“ (an-naǧm), dessen Sinken in der frühmekkanischen Sure das Weltenende ankündigt, folgt in Abū ʿUbaidas Paraphrase der Höhen (al-aʿrāf) zunächst ein Vers, der denselben Begriff im kuli248 Siehe z. B. die generalisierenden Paraphrasen: „fī sammi l-ḫīyāṭi (7:40), ai fī ṯaqabi l-ibrati wakullu ṯaqabun min ʿainin au anfin au uḏnin au ġairi ḏālika fa-huwa sammun wa-l-ǧamīʿu sumūmun.“ („Durch das Nadelöhr (7:40), heißt durch das Loch der Nadel. Und jede Öffnung des Auges oder der Nase oder des Ohrs oder von etwas anderem ist ein ‚Öhr‘ und der Plural ist ‚Öhre‘.“) Und: „qūwatin ankāṯan (16:92), kullu ḥablin wa-ġazlin wa-naḥwa ḏālika naqadtahu fa-huwa nikṯun.“ („In Strähnen brechen (16:92), jedes Band und Garn und dergleichen, was du auf‌löst, ist gebrochen.“) Und: „daḫalan bainakum (16:92), kullu šaiʾin wa-amrin lam yasiḥḥa fa-huwa daḫalun.“ („Betrug zwischen euch (16:92), alle Dinge und Taten, die nicht rechtens sind, sind Betrug.“) Am Beispiel von Sure 12 interpretiert Abū ʿUbaida: „fī ġayābati l-ǧubbi (12:10), maǧāzuhā anna kulla šaiʾin ġayaba ʿanka šaiʾan fa-huwa ġayābatun.“ („Die Tiefe der Zisterne (12:10), seine Bedeutung ist, dass alles, was etwas vor dir verbirgt, eine Tiefe ist.“) 249 Maǧāz I, S. 215. 250 Dīwān aš-Šammāḫ, S. 35. aṭ-Ṭabarī interpretiert die Metapher als eine Beschreibung von Zebras. (Ǧāmiʿ al-bayān, Bd. 12, S. 449f.)

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narischen Kontext enthält. 251 Hier wird ein edles Stück Fleisch, welches die übrige Speise an Höhe überragt, mit dem Begriff aʿrāf beschrieben. Eine solche Assoziation des koranischen Begriffs hat — wie oben — eine entmythisierende, wenn nicht ent‌theologisierende Dimension. Paganisierung des Biblischen Die im Koran erzählten biblischen Geschichten werden von Abū ʿUbaida mit keinem großen Interesse bedacht. Ähnlich wie rhetorisch signifikante Passagen, etwa Schwüre oder Gleichnisse, spielen die Form und Funktion von längeren Geschichten keine erkennbare Rolle im philologischen Korankommentar. In einzelnen Beispielen fällt eine solche kontextunabhängige, ebenfalls in der Tendenz generalisierende Form der Paraphrase auf, insbesondere wenn sie mit Versen aus der Dichtung gespickt wird, die ihrerseits ganz andere inhaltliche Kontexte transferieren. Ein besonders eklatantes Beispiel ist eine Glosse zu der Frau Lots, die in mehreren Versen im Koran als eine „alte Frau“ (ʿaǧūz) angesprochen wird, die beim Strafgericht Gottes über die Stadt Lots „zurückbleibt“, das heißt nicht gerettet wird. 252 Imraʾatahu kānat mina l-ġābirīna (7:83), ai kānat qad ġabirat min kibarihā fī l-ġābirīna, fī l-bāqīna, ḥattā harimū wa-harimat wa-hiya qad uhlikat maʿa qaumihā falam taġbar baʿdahum fa-tabqā, wa-lākinnahā kānat qabla ḏālika mina l-ġābirīna, waǧaʿalahā mina r-riǧāli wa-n-nisāʾi wa-qāla: „mina l-ġābirīna“, li-anna ṣifata n-nisāʾi maʿa ṣifati r-riǧāli tuḏakkaru iḏā ušrika bainahumā. 253 Qāla l-ʿAǧǧāǧu: Fa-mā wanā Muḥammadun muḏ an ġafar // lahu l-ilāhu mā maḍā wa-mā ġabar ai mā baqiya; wa-qāla l-Aʿšā: ʿaḍḍa bimā abqā l-muwāsī lahū // min ummihī fī z-zamani l-ġābirī wa-lam yaḫtan fī-mā maḍā, fa-baqiya mina z-zamani l-ġābiri ayi l-bāqī, a-lā tarā annahu qad qāla: wa-kunna qad abqaina minhā aḏan // ʿinda l-malāqī wāfira š-šāfirī Seine Frau gehörte zu den Zurückbleibenden (7:83), das heißt: sie blieb aufgrund ihres hohen Alters zurück, ‚unter den Zurückbleibenden‘, das heißt: denen, die geblieben waren, bis sie altersschwach geworden waren und sie [selbst] altersschwach geworden war und sie mit ihrem Volk zugrunde ging. Sie blieb aber nicht in dem Sinne, so dass sie weiter existiert hätte, sondern sie gehörte schon zuvor zu den Zurückbleibenden. [Die Form] bezeichnet sowohl Männer als auch Frauen. Er sagt: „zu den 251 Siehe oben die Paraphrase und den šāhid zu Vers 53:1 („Beim Stern, wenn er sinkt“). 252 Eine Analyse der einzelnen Verse, in denen Lots Frau im Koran angesprochen wird bietet — mit besonderer Kennzeichnung der Entwicklung der Figur in der Chronologie der Verkündigung Nora K. Schmid, „Lot’s Wife: Late Antique Paradigms of Sense and the Qur’ān“, in: Qur’anic Studies Today, hg. von Angelika Neuwirth und Michael Sells, Routledge 2016, S. 52–81. 253 Maǧāz I, S. 218. Die Paraphrase zu einem ähnlichen Lemma wird in verkürzter Form wiederholt im Kommentar zu 27:57 (Maǧāz II, S. 95).

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Zurückbleibenden“ (maskulin Plural), weil die Bezeichnung von Männern und Frauen [hier] zusammenfällt. Die Form wird männlich gemacht, wenn beide (d. h. männliche und weibliche Personen) gemeinsam genannt werden. Al-ʿAǧǧāǧ sagt: Muḥammad wurde nicht schwach, seitdem ihm vergeben hat // Gott, was verstrichen ist und was übrig blieb (ġabira). Das heißt: was geblieben ist (baqiya) Al-Aʿšā sagt: Es biss ab was die Klinge übrig gelassen hatte // in der Zeit seiner Mutter, die vorüber war. Er war in den Zeiten seiner Mutter nicht beschnitten worden, d. h. in der Zeit, die vergangen war. So blieb von der restlichen (ġābir) Zeit, heißt: ein Bleibendes (al-bāqī). Weißt du nicht, dass er sagt: Denn sie (die Frauen) hatten von ihnen [von den Schamlippen] übrig gelassen (abqaina) etwas Schädliches // an der Klitoris reichlich Vorhaut.

Das Verb ġabara, das im Koranvers der üblichen Deutung nach ein lokales Zurückbleiben und damit ein Verschwinden aus dem Volk Lots meint, wird in den šawāhid als ein zeitweises Überdauern der verstrichenen Zeit gewendet und kennzeichnet damit gerade dasjenige (die Zeit), was nicht vergangen ist. Diese auf den ersten Blick geringfügige Umdeutung des Verbs ġabara wirkt sich auf das Verständnis des Koranverses aus. Es lenkt die Sicht auf Lots Frau und ihr Volk als „Zurückbleibenden“ ab zu „Übrigbleibenden“ und damit noch vorhandenen/sichtbaren Personen. Die Perspektive verschiebt sich durch die Umdeutung des Verbs von der Frau Lots auf ihre gesamte Sippe. Durch den Hinweis auf das hohe Alter von Lots Frau und ihren Tod durch Altersschwäche bietet Abū ʿUbaida außerdem eine sehr „literale“ Interpretation der koranischen Figur mit biblischem Subtext. Lots Frau wird gerade nicht typologisch und nicht einmal moralisch als Frevlerin im Angesicht des göttlichen Strafgerichts gedeutet. Das Strafgericht selbst wird nicht erwähnt, so dass Abū ʿUbaidas Glosse den Anschein erweckt, Lots Frau könnte ganz ohne göttliches Zutun aufgrund ihres hohen Alters zurück geblieben und schließlich zugrunde gegangen sein. Der Hinweis auf das Zugrundegehen von Lots Frau erinnert mehr an das aṭlāl-Motiv der altarabischen Dichtung bzw. genereller gesprochen: an die Wahrnehmung der Vergänglichkeit im Angesicht der zugrunde gegangenen Völker, 254 als an Erzählungen in Bibel und Koran. Die Verse selbst stehen schließlich im Zusammenhang mit der Beschneidung, in der die „vorübergegangene Zeit“ (az-zaman al-ġābiri) und ein „verbliebener Makel“ (abqaina minhā aḏan) wiederum eine (moralische) Ambivalenz der Tätigkeiten des Überdauerns und Verstreichens reflektieren.

254 Siehe zu diesem Motiv Renate Jacobi, Studien zur Komposition der Altarabischen Qaside, Wiesbaden 1971, S. 22ff.

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Philologische Dichtung — ein spezifischer šawāhid-Gebrauch in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān Bei der Suche nach inhaltlich bedeutsamen poetischen Versen im philologischen Korankommentar, die darauf hinweisen würden, dass die Dichtung „mehr“ als ein autorisierendes Medium für linguistische Argumente darstellt, führen nicht nur die Belegverse im Kommentar selbst, sondern vor allem diejenigen Verse weiter, die in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān angeführt werden. Diese stehen nicht im Kontext der Exegese, sondern sie sind in die oben dargestellten Stellungnahmen Abū ʿUbaidas zum Begriff und Auf‌bau des Korans eingebunden. Ein solches Gedicht lautet: al-ḥamdu li-llāhi llaḏī aʿfānī // wa-kulla ḫairin ṣālihin aʿṭānī rabbi l-maṯānī l-āyi wa-l-Qurʾānī 255 Gelobt sei Gott, der mir vergeben hat // und alles Gute mir freundlich gegeben, der Herr der maṯānī-Verse und des Koran

In Maǧāz al-Qurʾān und im Lisān al-ʿArab 256 ist das kurze Gedicht anonym angeführt. Aṭ-Ṭabarī schreibt es dem Dichter Abū Naǧm zu. 257 Wichtiger als eine Zuordnung des Gedichts ist aber wohl das Phänomen einer Dichtung mit dem Gegenstand der ästhetischen Beschreibung koranischer Textformen selbst, d. h. einer Dichtung im Dienst der Philologie. Sie bestätigt zunächst die hohe Bedeutung der Gliederung des Korantextes nicht primär für die wissenschaftliche Textkritik, sondern vor allem für die kontemplative Strukturierung des Korans vermutlich im Kontext der rezitatorischen Textpflege. Um den Begriff maṯānī im Vers zu verstehen, ist es notwendig, die Bedeutung des Begriffs im Koran selbst kurz zu umreißen. Im Koran kommt der Begriff zwei Mal vor, in Sure 39 und Sure 15, die chronologisch die frühere der beiden ist. Der Terminus maṯānī fällt hier im Schlussteil (Q 15:87): wa-la-qad ātaināka sabʿan mina l-maṯānī wa-l-qurʾāna l-ʿaẓīm („Wir gaben dir wahrhaftig die sieben von den maṯānī und die ehrwürdige Rezitation“). Weder die westliche Koranwissenschaft noch die klassische islamische Gelehrsamkeit hat einen Konsens über die Bedeutung des Begriffs maṯānī erreicht. Arthur Jefferey verzeichnete den Begriff unter den koranischen „Fremdwörtern“ mit der Begründung, dass selbst die einheimischen Exegeten die Bedeutung des Begriffes nicht kannten. 258 Die arabische Wurzel ṯ-n-y, die der Pluralform des Substantivs maṯnā, (Pl. maṯānī) zugrunde liegt, bedeutet wiederholen, duplizieren oder aber falten (doppelt legen). 255 256 257 258

Maǧāz I, S. 7. Unter der Radikalwurzel ṯ-n-y. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, Bd. 1, S. 36. Jeffery, Foreign Vocabulary, S. 257: „Aṭ-Ṭabarīs account makes it clear that exegetes did not understand the meaning of the term.“ Abraham Geiger hatte eine Herkunft des Wortes aus dem Hebräischen ins Feld geführt. Der arabische Begriff sei der jüdischen mündlichen Tradition der Mischna entlehnt. (Abraham Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen, Osnabrück (unveränderter Nachdruck) 1971, S. 58.)

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Das Spektrum der Deutungen des Begriffs reicht von einem „Synonym für den Koran“ 259 bis zu einem Namen für eine spezifische Gruppe von Suren. Etwa wurde Alois Sprengers Vorschlag einer Identifikation der „sieben maṯānī“ mit sieben Straf‌legenden von Montgomery Watt und Richard Bell aufgegriffen. 260 In der Aussage „wir gaben dir sieben von den maṯānī und die ehrwürdige Rezitation (qurʾān)“ (15:87) scheinen die maṯānī vom übrigen Textkorpus unterschieden zu sein. Aufgrund der lexikalischen Bedeutung des Verbes ṯannā, „wiederholen“ liegt die Übersetzung von as-sabʿu mina l-maṯānī als „die sieben Wiederholten“ oder „die sieben [sich] Wiederholenden“ nahe. Diese können, wie es auch im tafsīr oft der Fall ist, auf die Verse des Gemeindegebetes, auf die Fātiḥa, bezogen werden, die aufgrund ihrer Präsenz im Ritus mit dem Merkmal der Wiederholung umschrieben würde. Die Zahl sieben könnte die Anzahl der Verse der im kanonischen Korpus mit dem Status der ersten und damit „eröffnenden“ Sure des Korans bezeichnen. 261 Vor allem im Hinblick auf die koranische Textgeschichte und den an ihr ablesbaren Prozess der islamischen Gemeindebildung ist diese Deutung des Begriffes aufschlussreich. Nöldeke verortet die heute als Fātiḥa bekannte Sure 1 chronologisch ganz an den Schluss der ersten mekkanischen Verkündigungsperiode 262 und damit in unmittelbare zeitliche Nähe zu Sure 15. 263 In diesem Stadium der Textgenese erhält die wachsende religiöse Gemeinschaft — dieser Deutung zufolge — ein Gebet, dessen formaler und funktionaler Sonderstatus gegenüber dem übrigen Rezitationstext (al-qurʾāna l-aẓīm) in Sure 15 selbst angesprochen wird. Im oben zitierten poetischen šāhid in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān referieren „die Verse“ (al-āy) aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier auf die Verse der Fātiḥa, die vom Koran unterschieden werden. Es ist interessant zu bemerken, dass „der Herr“ durch diese beiden Textsorten — al-āy wa-l-Qurʾān — charakterisiert, also eine Gottesvorstellung anhand der Parallelisierung der beiden Textsorten, artikuliert wird. In der Einleitung des Maǧāz folgt ein weiterer vergleichbarer ‚Schüttelreim‘: 259 Welch, Eintr. „Ḳurʾān“, in: EI². 260 Richard Bell, Introduction to the Qurʾān, Edinburgh 1963, S. 134f. 261 Nöldeke hat Zweifel an der Identifizierung des Begriffs maṯānī in 15:87 mit der Fātiḥa aufgrund des Vorhandenseins der Partikel min formuliert, die seiner Ansicht nach suggeriere, dass „es noch andere maṯānī gegeben hat.“ Die exegetische Tradition habe die fragliche Partikel weggelassen und so aus den „sieben von den sich Wiederholenden“ stillschweigend „sieben sich Wiederholende“ gemacht. Siehe Nöldeke, GdQ, Bd. 1 S. 116. 262 Nöldeke, GdQ, Bd. 1, S. 110–114. 263 Neuwirth weist zudem auf zahlreiche Reminiszenzen an die Fātiḥa in Sure 15 hin. Siehe Angelika Neuwirth, „Referentiality and Textuality in Sūrat al-Ḥijr. Some Observations on the Qurʾānic ‘Canonical Process’ and the Emergence of a Community“, in: Literary Structures of Religious Meaning in the Qurʾān, hg. von Issa J. Boullata, Routledge 2000, S. 162ff. Siehe auch Angelika Neuwirth (zusammen mit Karl Neuwirth), „Sūrat al-Fātiḥa — ‘Eröffnung’ des Textcorpus Koran oder ‘Introitus’ der Gebetsliturgie?“, in: Text, Methode und Grammatik. Wolfgang Richter zum 65. Geburtstag, hg. von Walter Gross, Hubert Irsigler & Theodor Seidl, St. Ottilien 1991, S. 331–357.

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našadtukum bi-munzili l-furqānī // ummi l-kitābi s-sabʿi min maṯānī ṯunnīna min āyin mina l-qurʾānī // wa-s-sabʿi sabʿi ṭ-ṭuwali d-dawānī. 264 Wir beschwören euch beim Herabsender des furqān // der Mutter der Schrift, sieben oft Wiederholten die wiederholt werden in den Versen des Korans // und den sieben, den sieben Langen, den Naheliegenden.

Die Verbindung von umm al-kitāb und as-sabʿ min maṯānī (im Gedicht anders als in der Sure ohne bestimmten Artikel) in Vers 2 legt auch hier eine Verbindung der „sieben oft Wiederholten“ mit den Versen der Fātiḥa nahe. Im dritten Halbvers wird das Verb ṯannā allerdings mit der Bedeutung „wiederholen“ aufgegriffen, um auf das zweifache Vorkommen des Begriffs maṯānī im Gesamtkorpus des Korans abzuheben und im letzten Vers wird die Zahl sieben in Verbindung mit einer anderen Surengruppe, den „sieben langen“ Suren 2–7 und 9, gebracht, die im muṣḥaf der Fātiḥa „nahe liegen“, wie wohl der Begriff ad-dawānī wohl gedeutet werden muss. Zu der „philologischen“ Dichtung in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān gehört auch das oben zitierte Gedicht, 265 in dem auf spielerische Weise die koranischen Textformen, die ḥawāmīm, ṭawāsīn, al-mufaṣṣal u. a. benannt werden. Wenn die Verse offenkundig keine „Definiertheit“ der Begriffe voraussetzen, so bezeugen sie doch ein (frühislamisches) Bedürfnis zum kreativen Umgang mit den zum Teil bereits im Koran selbst angesprochenen Textsorten. Die šawāhid stellen kein exegetisches Autorisierungsmedium dar, sondern eine spielerische, ästhetisierte Reflexion koranischer Formkriterien, die eine Hilfe bei der geistigen Strukturierung und Vergegenwärtigung der Komposition des Korans gewesen sein könnte. Die šawāhid dienen nicht der Verdeutlichung eines exegetischen Arguments, das prinzipiell auch ohne sie hätte geführt werden können, sondern vielmehr der Unterstützung eines intellektuellen Prozesses. Sie sind ein Medium und Instrument geistiger Arbeit, nicht (primär) Informationsträger oder inhaltlich irrelevante Informanden über den Sprachgebrauch der Araber. Um unsere tabellarische Darstellung und Interpretation einiger weniger Verse im philologischen Kommentar in einen größeren Zusammenhang zu stellen, soll nun noch einmal das Verhältnis von Koran und Dichtung während der ersten zwei islamischen Jahrhunderte skizziert werden. Die Ergebnisse der Untersuchung möchte ich in einen kurzen Forschungsbericht zum Thema einarbeiten, der zugleich eine Zusammenfassung und einen Abschluss dieses Kapitels darstellen soll. Ich hoffe,

264 Maǧāz I, S. 6. 265 ḥalaftu bi-s-sabʿi llawātī ṭuwwilat // wa bi-miʾīna baʿdahā qad umʾiyat wa-bi-maṯānin ṯunniyat fa-kurrirat // wa-bi-ṭ-ṭawāsīni llatī qad ṯulliṯat wa-bi-l-ḥawāmīmi llawātī subbaʿat // wa-bi-l-mufaṣṣali llawātī fuṣṣilat (siehe oben S. 77).

Zusammenfassende Rückschau

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dass die hier angestellten Überlegungen bereichernd sind, obwohl sie nicht nur Antworten geben, sondern vor allem Fragen aufwerfen.

4.4 Überlegungen zu den Funktionen der Dichtung im philologischen Korankommentar und zusammenfassende Rückschau Die moderne arabistische Forschung stimmt mit der klassischen islamischen Lehrmeinung darin überein, dass in vorislamischer Zeit die Dichtung das wichtigste intellektuelle Ausdrucksmedium der paganen Araber der Halbinsel war. In der alt­ arabischen Stammesgesellschaft habe der Dichter die Funktion der Repräsentation seines Stammes und die Bewahrung sozialer Werte, die im Medium der Dichtung tradiert und performiert wurden, inne gehabt. 266 Da sich im Koran selbst kritische und abwertende Äußerungen über die Dichter finden, von denen sich der Verkünder offenkundig abgrenzen musste, zeigt das Bild des Dichters in der arabischen Gesellschaft während der Verkündigungszeit und in der islamischen Frühzeit allerdings auch ein zweites Gesicht. Dieses stellt den Dichter als Schwindler dar, dessen Aussagen nicht zu trauen seien, da er, anders als der Prophet, über keine göttliche Autorisierung seiner ‚Verkündigung‘ verfügt. 267 Der Frage, wie genau sich die kontroverse Beziehung zwischen religiösem Selbst- und Weltbild und der alteingesessenen Klasse der arabischen Dichter auf das (religiöse) Leben im Frühislam ausgewirkt hat, ist Agnes Imhof nachgegangen. 268 In Publikationen zu den beiden Kommunikationsund Wissensformen Koran und Dichtung im 7. Jahrhundert, 269 wurde immer wieder das (auch produktive) Spannungsverhältnis zwischen beiden betont. Erst die Philologen des frühen 9. Jahrhunderts gingen, nun konfrontiert mit der Notwendigkeit einer arabischen ethnischen Selbstbehauptung gegenüber nicht-arabischen Muslimen und Nachbarn, auf die Dichtung als dem Medium zu, das über die ursprüngliche Form arabischer Lebensweise und vor allem arabischer Sprache am besten Auskunft gebe. Literaturkritiker wie Ibn Sallām al-Ǧumaḥī (gest. 232/845)

266 Vgl. Jacobi, „Arabische Dichtung“, in: GAP, Bd. 2, S. 26ff. Und Agnes Imhof, Religiöser Wandel und die Genese des Islam, Würzburg 2004, S. 10: „Mündliche Panegyrik transportiert die kollektiven Werte des Stammes, sie ist Statussymbol und wird als solches zu Propagandazwecken eingesetzt und kann in kriegerischen Auseinandersetzungen eingesetzt werden, um die Moral der eigenen (und der gegnerischen) Gruppe zu beeinflussen“, und S. 40–46. 267 Die „Dichterverse“ im Koran bespricht Neuwirth, Text der Spätantike, S. 716–722. 268 Zu einem „mentalitätsgeschichtlichen Vergleich“ zwischen dem Koran und der ihm zeitgenössischen Dichtung siehe Imhof, Religiöser Wandel. 269 Zu einer Diskussion des Verhältnisses von Koran und Dichtung siehe Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999, S. 342–456. Zu den gesellschaftlichen Veränderungen der arabischen Stammesgesellschaft im Zuge der Islamisierung siehe Kirill Dmitriev, Das poetische Werk des Abū Ṣaḫr al-Huḏalī, Wiesbaden 2008, S. 84ff.

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und Ibn Qutaiba (gest. 276/889) 270 trugen durch arabische Tugendkataloge und Bücher zur klassischen Dichtung dazu bei, dass die alt­arabische Dichtung in abbasidischer Zeit an Prestige gewann und als historisches „Archiv“ der Araber fungieren konnte. Die bekannte der Autorität Ibn ʿAbbās zugeschriebene Aussage die Dichtung sei das „Register/Archiv der Araber“ (dīwān al-ʿarab), 271 ist der pointierte Ausdruck der Bedeutung der Dichtung für den arabischen Gedächtnisdiskurs. 272 In den Fachwissenschaften der Lexikographie und Grammatik wurde die Dichtung als die vorrangige Quelle reiner, korrekter arabischer Sprache studiert. Ab dem 9. Jahrhundert wurde Dichtung (šiʿr) im Elementarunterricht in den urbanen Bildungszentren gelehrt. Von den Verwaltern (kuttāb) wurde eine umfassende Kenntnis der Dichtung erwartet. Dass die Dichtung aber über den informativen und didaktischen Wert hinaus auch eine diskursive Autorität besaß, zeigen etwa al-Ǧāḥiẓ’ Versuche, mithilfe der Dichtung Aristoteles zu widerlegen. 273 Aufgrund der Eingebundenheit der Dichtung in die Bildungsprozesse arabisch-islamischer Identität und aufgrund des Wertes, den sie für die sprachbezogenen Fachwissenschaften besaß, kam WenChin Ouyang zu der Einschätzung, die Dichtung sei von den Philologen nicht „um ihrer selbst willen“, das heißt, nicht um ihres künstlerischen Wertes willen studiert worden. Es sei weder ästhetischer Genuss noch formales Interesse gewesen, das die Dichtung zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht habe, sondern vielmehr die politisch und sozial motivierte Notwendigkeit der Sprachpflege in der Zeit eines gesellschaftlichen (ethnischen, sozialen, religiösen) Pluralismus. 274 Ganz ähnlich sprechen sich die meisten modernen Koranwissenschaftler für die primäre Funktion der poetischen „Zeugen“ in frühislamischen Korankommentaren als der „Authentifizierung“, „Illustration“ oder „Autorisierung“ exegetischer Argumente aus. Die Dichtung sei von den mufassirūn des 8. und frühen 9. Jahrhunderts ebenso wenig „um ihrer selbst willen“ studiert worden, sondern sie habe den Sprachgebrauch der Araber vor dem Islam bzw. zur Zeit des Propheten in bester Form konserviert und bilde somit einen hermeneutischen Kontext für die Ausdeutung des heiligen Textes, der aufgrund des größer werdenden historischen Abstandes immer klärungsbedürftiger geworden sei. 275 Das in der Einleitung zu Maǧāz alQurʾān angebrachte Argument, die Araber hätten zur Lebenszeit des Propheten keine Schwierigkeiten im Verständnis der Offenbarung gehabt, ist Teil der Installierung der Dichtung als ein solches ‚Fenster‘ in die vermeintlich rein arabische Vergangenheit. Auch die seit dem 20. Jahrhundert laut gewordenen Zweifel an der 270 Das Kitāb al-ʿArab von Ibn Qutaiba ist nicht überliefert, aber in Teilen im Kitāb al-Šiʿr wa-l-Šuʿarāʾ enthalten. Siehe dazu Wen-Chin Ouyang, Literary Criticism in Medieval Arabic-Islamic Culture, Edinburgh 1997, S. 61. 271 Vgl. Ouyang, Literary Criticism, S. 61 und oben. 272 Siehe oben S. 134. 273 Siehe Ouyang, Literary Criticism, S. 62. 274 Ebd. 275 Vgl. Leemhuis, „Origins and Early Development“, S. 191ff.

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Authentizität der Dichtung haben, so weit ich sehe, zu keiner Zeit die autorisierende/ illustrierende Funktion der Dichtung in den Kommentaren infrage gestellt. Ausgehend von der vergleichenden Analyse der Einbindung von Versen in den Masāʾil Nāfiʿ ibn al-Azraq ʿan Ibn ʿAbbās und in Maǧāz al-Qurʾān möchte ich hier die Funktion der Dichtung in frühislamischen Korankommentaren, die zweifellos auch in der Autorisierung und Illustration bestand, um einige Beobachtungen und Hypothesen erweitern: 1. Vor allem die Beobachtung, dass in den Masāʾil vorrangig ein kleiner Teil der koranischen Verse (nämlich solche, die dem letzten Dreißigstel des muṣḥaf entstammen) mit Versen aus der Dichtung konfrontiert werden, während sich in den durchgängigen ‚philologischen‘ Kommentaren šawāhid entweder gleichermaßen auf alle Teile des Korans verstreut finden oder die „letzten“ Suren des muṣḥaf sogar weniger mit poetischen Belegstellen durchsetzen, legt neben einer Beziehung der Autorisierung eine Beziehung der Stilebene beider Textsorten im Bewusstsein der ersten, noch mündlich tradierenden Kommentargeneration nahe, die sich dann im philologischen Korankommentar verloren hat. 2. Die Veränderungen in den beigebrachten šawāhid im Lauf der verschiedenen Überlieferungswege der Masāʾil zeigen, dass ‚problematische‘ Dichter wie Umaiya ibn Abī s-Salṭ zwar in den späteren Kompilationen (as-Suyūṭī), aber nur selten in den frühen Überlieferungen der Masāʾil und noch seltener im philologischen Korankommentar zu finden sind. Dies könnte bedeuten, dass die Gedichte, trotz ihrer vorrangig sprachlichen Relevanz, gerade für die philologischen Korankommentare doch auch mit ihren Urhebern assoziiert wurden. Mit Blick auf die Dichter selbst kann allerdings behauptet werden, dass die tatsächliche „Altarabizität“ der beigebrachten Dichter für Abū ʿUbaida kein Kriterium für die Tauglichkeit ihrer Dichtung als šawāhid und ihre Repräsentation „vorislamischer“ Rede- und Lebensweise darstellte, da viele der Urheber der Verse im Maǧāz bereits ‚islamische‘ Dichter waren. 3. Verse aus der Dichtung werden im Maǧāz fast immer isoliert zitiert. Es werden keine längeren Versgruppen oder ganze Gedichte angeführt. Diese im Kommentar ‚fehlenden‘ Kontexte der šawāhid könnten in der Lehrsituation mündlich vervollständigt und kommentiert worden sein. Die Loslösung der als šawāhid fungierenden Verse aus der Komposition der qaṣīda und auch anderer vorislamischer Gedichtformen, braucht aufgrund der Mündlichkeit der Überlieferung der Dichtung nicht zu bedeuten, dass diese Kontexte keine Rolle spielten. Viele der vorislamischen Gedichte werden hinreichend bekannt gewesen sein, so dass ein Exeget lediglich ein Stichwort hat geben müssen, um den Gebrauch eines Wortes

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aufzuzeigen. Insbesondere dieser Aspekt der šawāhid-basierten Interpretation des Korans macht diese Kommentare heute so schwer zu verstehen. 276 4. Es ist aber auch eine gegenteilige Annahme denkbar. Ähnlich wie der Koran in Medina mag die arabische Dichtung — aufgrund ihrer hochsprachlichen Stil­ ebene — noch während der frühen Abbasidenzeit einer teilweisen „Suspension ihrer Semantizität“ (Sinai) unterlegen haben, in der lediglich oft zitierte „Inseln“ als eigene Versatzstücke verstanden wurden. Diese wiederum müssen nicht ausschließlich der Autorisierung sprachlicher Argumente gedient haben, sondern können auch eine intellektuelle oder kontemplative Übung angestoßen haben, in der alle sprachlichen Ausdrücke (nicht nur die unverständlichen) spielerisch mit dem Lichtkegel der arabischen Dichtung bestrahlt wurden. 5. Die in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān beigebrachten šawāhid haben keine exegesespezifische Relevanz. Sie dienen nicht dem inhaltlichen Verständnis, sondern der mentalen Strukturierung des Korantextes. Die Verse der ‚philologischen Dichtung‘ erfordern auch eine neue Perspektive auf die Funktion der Dichtung in der Philologie des 8./9. Jahrhunderts. Ihr Anschein des ‚Fingierten‘ oder ‚Improvisierten‘ unterscheidet sie von den althergebrachten Versen. Es ist hier weniger der Inhalt als die tradierte Funktion der Dichtung, welche sich die Koranphilologie zunutze macht. Sie ist insofern nicht nur Träger ‚alten Sprachwissens‘, sondern selbst Medium der Philologie. Die ‚philologische Dichtung‘ korrigiert auch die Suggestion, die Dichtung sei 200 Jahre nach der Verkündigung des Korans zu einem Gegenstand rein wissenschaftlicher Untersuchung geworden. Ihre rhetorische Expressivität und formale Gebundenheit qualifiziert sie als eine Informandin über wichtige koranische Texteinheiten. 6. Wenn auch nicht die spezifische Semantik der Verse, so könnten doch größere Sinninhalte der arabischen Dichtung bei der istišhād-Praxis präsent gewesen sein. In der aktuellen Forschung wurden z. B. die in der Dichtung gepriesene Tugend der „Männlichkeit“, das zirkuläre und fatalistische Zeitverständnis der paganen Araber und deren anthropozentrisches Weltbild als zentrale Sinnparadigmen der vorislamischen Lebenseinstellung erarbeitet. 277 Der Koran selbst adressiert vielfach diese Tugenden und Haltungen der Araber, kritisiert sie und stellt ihnen ein anderes, theozentrisches Weltbild gegenüber, das zur Neubewertung sozialer und ethischer Verhaltensweisen führt. Vergleichbar mit dem Ergebnis einer Übersetzung, welche verdeckt immer auch Formen und Muster der Ursprungssprache zu erkennen gibt, hat die Weltanschauung der arabischen Dichtung trotz der (teilwei276 Thomas Bauer spricht die spezifische „Intertextualität“ der arabischen Dichtung unter dem Gesichtspunkt ihres mündlichen Sitz im Leben an: „Es gibt keine Qaṣīde, keine Ausdrucksweise, keine Stilfigur, die ihre eigentliche Bedeutung nicht erst vor dem Hintergrund anderer bzw. der anderen Texte gewönne.“ (Altarabische Dichtkunst. Eine Untersuchung ihrer Struktur und Entwicklung am Beispiel der Onagerepisode, Wiesbaden 1992, S. 259) 277 Zum Kontrast des Weltbildes in Dichtung und Koran siehe vor allem Izutsu, Ethico-Religious Concepts in the Qurʾān.

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sen) semantischen Irrelevanz der beigebrachten Verse im Korankommentar immer noch eine Wirkung. Mythen wie die des generösen, heldenhaften Kämpfers, ein umfassender Anthropozentrismus und Verhaftung im Diesseits sind auch im 2. islamischen Jahrhundert nicht aus der arabischen Dichtung getilgt, sondern latent abruf‌bar. Der Begriff der ‚Konnektion‘ soll zeigen, dass die Dichtung nicht nur als linguistisch ausdeutbarer Text, sondern als Bibliothek an den Koran heran geführt wurde, welche einen Abgleich oder wenigstens eine Auseinandersetzung beider Weltanschauungen erforderte.

5. Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān Von „technischen“ Begriffen kann in Maǧāz al-Qurʾān vielleicht gar nicht die Rede sein, denn die meisten der verwendeten Begriffe, wie zum Beispiel die Paraphrasepartikel, werden unspezifisch gebraucht, teilweise variiert und nicht definiert. In diesem Kapitel soll einzelnen Begriffen nachgegangen werden, die zum Inventar Abū ʿUbaidas exegetischer Arbeit gehören auch wenn sie keinen technischen Status besitzen. Ziel dieser Darstellung ist demzufolge nicht eine möglichst präzise Definition, sondern der Versuch einer Erschließung von Abū ʿUbaidas Beurteilung der Funktionsweisen von Sprache durch die von ihm gebrauchten Begriffe. Wenn es möglich und sinnvoll erscheint, wird neben der Übersetzung der Begriffe eine erklärende Übertragung in europäische Begriffe der Literaturkritik vorgeschlagen. Es wäre weiterhin möglich, die Verwendung grammatischer Termini in Maǧāz al-Qurʾān zu untersuchen. Abū ʿUbaida zeigt sich vertraut mit den Grundbegriffen der grammatischen Terminologie, wie den grammatischen Grundbegriffen ism, fiʿl, mafʿūl, ḥarf etc. Ein solcher Ansatz wurde beispielsweise von Naphtali Kinberg für eine sehr ausführliche und systematische Arbeit zu dem ebenfalls ‚philologischen‘ Korankommentar al-Farrāʾs verfolgt. Kinberg hat die in Maʿānī al-Qurʾān verwendeten Begriffe in Form eines Lexikons inklusive ausführlicher Übersetzungen von Kontexten zu diesen Termini dargestellt. 1 Die Verwendung grammatischer Begriffe in Maǧāz al-Qurʾān wurde teilweise bereits von Kees Versteegh herausgearbeitet und in dessen Überblickskapitel zum Einfluss grammatischer Terminologie auf die frühe Koranexegese aufgenommen. 2 Statt diese Ergebnisse hier zu wiederholen, scheint es mir gewinnbringender, das Augenmerk auf Begriffe zu legen, die Abū ʿUbaida zwar wiederholt gebraucht, die aber insofern terminologische ‚Ausnahmen‘ darstellen, als ihr Gebrauch oder ihre Bedeutung innovativer Natur sind. Dies macht sie, trotz ihrer statistischen Geringfügigkeit, nicht minder aussagekräftig für das Sprachverständnis und die hermeneutischen Zielsetzungen des Philologen.

5.1 Aṣl Der Begriff aṣl kann in den frühesten grammatischen, exegetischen, juristischen oder auch philosophischen Werken in arabischer Sprache für sehr unterschiedliche Phänomene verwendet werden, wobei er in der Regel mit Prinzipien der Ursprünglichkeit oder der Grundsätzlichkeit verbunden ist. Er kann die Bedeutung der mor1 Kinberg, Al-Farrāʾ’s Terminology. 2 Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 96–154.

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phologischen Konsonantenwurzel, der syntaktischen Grundform des Nominal- oder Verbalsatzes oder des begriff‌lichen Paradigmas annehmen. 3 Islamische Logiker des 8. Jahrhunderts benutzen ihn zur Bezeichnung des Ausgangssatzes eines Syllogismus. 4 Vor allem in der arabischen Grammatik ist der Begriff gebräuchlich. Im Kitāb des Sībawaih, wo er erstmals technisch verwendet wird, kommt der Begriff 569 Mal vor und bezeichnet dort entweder die morphologische Wurzel eines Wortes, den dreioder vierradikaligen Verbalstamm, oder auch die Grundstruktur eines Nominal- oder Verbalsatzes. Aṣl steht dann im Gegensatz zu taqdīm wa-taʾḫīr genannten, stilistisch begründeten syntaktischen Variationen. Versteegh notiert: [M]ost of the cases in which these terms are used involve a syntactic transposition, and this is precisely the sense in which most later grammarians use muqaddam/muʾaḫḫar, namely to indicate a change in word order in the surface sentence that is not present in the underlying structure (aṣl). 5

Die Grundstruktur (aṣl), von der in der Grammatik die Rede ist, kennzeichnet die dem kommunikativ (in Wort und Schrift) gebräuchlichen Arabisch zugrunde liegende korrekte Syntax. Versteegh hat mehrfach darauf hingewiesen, dass das Verhältnis von Bedeutung und Form (maʿnā und lafẓ) in der frühislamischen Grammatik in dem Verhältnis zwischen syntaktischer Grundstruktur und kommunikativen Variationen bestehe, nicht in einem Gegensatz von sprachlichem Zeichen und deren Referenten in der Wirklichkeit. 6 Die Bedeutung (maʿnā) eines sprachlichen Ausdrucks bestehe demzufolge für die grammatischen Korankommentatoren in der Identifikation seiner grammatischen, meist syntaktischen Grundform (aṣl). Diese Beobachtung sei vor allem im Hinblick auf die semantische Disposition grammatischen Denkens im 8. und frühen 9. Jahrhundert zentral, da sie deutlich zeige, dass Bedeutung allein durch innerlinguistische Zusammenhänge erschlossen würde. Von diesen Beobachtungen ausgehend soll uns die Untersuchung des Gebrauchs des Begriffs aṣl in Maǧāz al-Qurʾān ebenfalls weiterführen bei der Frage nach dem Verständnis von Sprache und Bedeutung im philologischen Korankommentar. Dabei stoßen wir zunächst auf eine sehr konkrete Stellungnahme des Philologen über die „Wurzel/den Ursprung (aṣl) der Rede“ als dem Verb: ḫaṭaʾtu wa-aḫṭaʾtu luġatāni, zaʿama Yūnusu ʿan Abī Isḥāqa qāla: aṣlu l-kalāmi bināʾuhu ʿalā fiʿlin ṯumma yubnā āḫiruhu ʿalā ʿadadi man lahu l-fiʿlu mina l-muʾannaṯi wa-lmuḏakkari mina l-wāḥidi wa-l-iṯnaini wa-l-ǧamīʿi ka-qaulika: faʿaltu wa-faʿalnā wafaʿalna wa-faʿalā wa-faʿalū wa-yuzādu fī auwalihi mā laisa min bināʾihi fa-yazīdūna l-alifa ka-qaulika: aʿṭaitu innamā aṣluhā ʿaṭautu, ṯumma yaqūlūna: muʿṭī, fa-yazidūna l-mīma badalan mina l-alifi wa-innamā aṣluhā ʿāṭī, wa-yazīdūna fī awṣāti faʿala: iftaʿala, 3 Siehe Jean-Patrick Guillaume, Eintr. „Grammatical Tradition: Approach“, in: EAL, Bd. 2, S. 180. 4 Cornelia Schöck, Koranexegese, Grammatik und Logik, S. 215ff. 5 Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 124. 6 Ebd., S. 68–94.

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wa-infaʿala wa-istafʿala wa-naḥwa hāḏā, wa-l-aṣlu faʿala, wa-innamā aʿādū hāḏihi z-zawāʾida ilā l-aṣli fa-min ḏālika fī l-Qurʾāni wa-arsalnā r-riyāḥa lawāqiḥa (15:22) wa-innamā yurīdu r-rīḥa mulqiḥatan fa-aʿādūhu ilā l-aṣli. 7 ḫaṭaʾtu („ich irrte mich“, im 1. Stamm) und aḫṭaʾtu („ich machte einen Fehler“, im 4. Stamm) sind zwei Wortformen (mit der gleichen Bedeutung). Yūnus sagte Abū Isḥāq zufolge: Die Grundform der Rede baut immer auf das Verb auf. An dieses sind die Endungen angehängt gemäß der Anzahl [der Handlungsträger die das Verb hat] und damit auch im Femininum und Maskulinum, im Singular und Dual und Plural, so wie du sagst: Ich machte (faʿaltu), wir machten (faʿalnā), sie [feminin] machten (faʿalna), sie [Dual] machten (faʿalā), sie [Plural] machten (faʿalū). Auch am Anfang des Wortes treten zusätzliche Elemente auf, die nicht im Bau [des ersten Verbalstammes] enthalten sind. Sie ergänzen [zum Beispiel] ein alif, so wie du sagst: Ich gab (aʿṭaitu) [mit alif], wobei die Grundform (aṣl) ʿaṭautu [ohne alif] ist, ferner sagen sie: muʿṭī („gebend“), wobei sie ein mīm ergänzen anstatt des alif, wobei die Grundform (aṣl) ʿatī ist. Außerdem ergänzen sie [Vokale und Konsonanten] in der Mitte der Grundform faʿala: iftaʿala („er führte herbei“, im 5. Stamm), und infaʿala („er unterlag dem Einfluss“, im 6. Stamm) und istafʿala („er ersann“, im 10. Stamm) und so weiter, wobei die Grundform (aṣl) faʿala („er machte“) ist, zu der die Ergänzungen hinzukommen. Ein solches Beispiel kommt im Koran vor: Wir sandten die Winde als Befruchtende (Partizip, 1. Stamm) (15:22) womit Er meint: den Wind als Befruchtenden (Partizip, 4. Stamm), nur [eben], dass man diese Zusatzelemente auf die Wurzel zurückführt.

Diese sehr ausführliche explikative Glosse zur Gleichbedeutung des Verbes ḫaṭaʾa im 1. und 4. Verbalstamm (aḫṭaʾa) dient offenkundig nicht der Interpretation oder philologischen Rechtfertigung eines koranspezifischen Problems, sondern vielmehr der Darlegung eines unabhängigen Arguments über den Status des Verbs als konstitutivem „Bauelement“ der arabischen Sprache, wie es für die in Basra lebenden Grammatiker (Yūnus ibn Ḥabīb 8 und dessen Lehrer Abū Isḥāq) wohl üblich war. Die Voraussetzung besteht zunächst darin, das Verb als die „Grundform der Rede“ (aṣl alkalām) festzulegen. Mit dem Verb (fiʿl) ist die (dreiradikalige) Wurzelform bzw. das Verb im 1. Stamm gemeint, an deren Form durch Hinzufügen von Prä- und Suffixen Bedeutungsmodifikationen hinsichtlich Genus, Numerus und Tempus hergestellt werden. Darauf‌hin gibt Abū ʿUbaida einen kurzen Abriss über die Erweiterung der verbalen Grundstruktur in den ebenfalls bedeutungsmodifizierenden Stämmen (iftaʿala, infaʿala, istafʿala und so weiter). Der Begriff aṣl in der Konstruktion aṣl al-kalām bedeutet demnach sowohl den kleinsten Bedeutungsträger als auch die morphologische Grundstruktur aller Lexeme der arabischen Sprache. Er bedeutet primär nicht die normative Form der korrekten Syntax und er ist dem kommunikativen Sprachgebrauch (dem lafẓ der Grammatiker) nicht gegenübergestellt. 7 Maǧāz I, S. 376. 8 Yūnus ibn Ḥabīb war einer der Lehrer Abū ʿUbaidas, dessen Unterricht er angeblich vierzig Jahre lang besucht hat. (Gibb, Eintr. „Abū ʿUbayda“, in: EI²)

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Die morphologische Grundform des dreiradikaligen Verbs ist jedoch keineswegs die einzige Bedeutung des Begriffs aṣl, die Abū ʿUbaida verwendet. In dem nachfolgenden Beispiel bezeichnet der Begriff stattdessen die dominante Form der Vokalisierung, d. h. die Aussprache eines Begriffs. Hier wird die Pluralform des Begriffes sarīr (Liege, modern: Bett) als surur statt des ebenfalls korrekten aber vermutlich weniger gebräuchlichen Plurals surar als die Grundform (aṣl) bezeichnet: sururin mutaqābilīna (15:47), maḍmūmata s-sīni wa-r-rāʾi al-ūlā wa-hāḏā l-aṣlu, wabaʿḍuhum yaḍummu s-sīna wa-yaftaḥu r-rāʾa l-ūlā, wa-kullu maǧrā faʿīlin min bābi l-muḍāʿafi fa-inna fī ǧamīʿihi luġatan naḥwa sarīrin wa-l-ǧamīʿu sururun wa-surarun, wa-ǧarīrun wa-l-ǧamīʿu ǧururun wa-ǧurarun. 9 [auf] Liegebänken einander gegenüber (15:47), mit u (ḍamma) beim sīn und beim ersten rāʾ und dies ist die Grundform (aṣl). Einige lesen das erste sīn mit u, aber das erste rāʾ mit a. So verhält es sich bei der Form faʿīl; hier wird [aus Wurzeln der Verba mediae geminatae] im Plural eine solche Form gebildet. Der Plural von sarīr (Liegebank) ist surur und surar, ebenso ist der Plural von ǧarīr (Seil, Lederband) 10 ǧurur und ǧurar. 11

Der Begriff aṣl meint hier eine gängige und als autoritativ wahrgenommene sprachliche Realisierung des Konsonantengerüstes, zu der eine ebenso valide Alternative besteht. Er kennzeichnet keine „underlying structure“ des Arabischen, sondern eine kommunikative Realisierung der (schriftlichen) Konsonantalform. Zudem findet sich der Begriff aṣl in Maǧāz al-Qurʾān allerdings auch als eine rein semantische Kategorie, der die Grundbedeutung eines Begriffs bezeichnet. Bei der Kommentierung zweier Verse, 2:158 und 5:2, die inhaltlich miteinander in Verbindung stehen, da in beiden die Darbringung von Opfertieren thematisiert wird, kommt Abū ʿUbaida auf das zentrale Element der Opferhandlung zu sprechen: das Kennzeichnen des Tieres als Opfer durch das Stechen seines Höckers mit einer Klinge. Diese Handlung bezeichnet er nun ebenfalls mit dem Begriff aṣl. šaʿāʾiri llāhi (2:158), wāḥidatuhā šaʿīratun, wa-hiya fī hāḏā l-mauḍiʿi: mā ušʿira li-mauqifin au-mašʿarin au-manḥarin ai uʿlima li-ḏāka. wa-fī maudiʿin āḫara: al-hadyu, iḏa ašʿarahā, wa-huwa an yuqallidahā, au-yuḥallilahā fa-aʿlama innahā hadyun, wa-l-aṣlu: an yušʿirahā bi-ḥadīdatin fī sināmihā min ǧānibihā l-aimani: yaṭʿanahā ḥattā yaḫruǧa d-damu. 12  9 Maǧāz I, S. 351. 10 Die hier dargestellten Plurale sind nicht im Wörterbuch von Lane verzeichnet. Lane nennt als Plural des Begriffs ǧarīr mit der Bedeutung von „Seil“ oder „Lederband“ aǧirra. Siehe Lane, An Arabic-English Lexicon, S. 401. 11 Mehrere Sprachwissenschaftler, zum Beispiel der als Quṭrub bekannte Grammatiker und Lexikograph Abū ʿAlī Muḥammad ibn al-Mustanir, der zeitgleich mit Abū ʿUbaida in Basra lebte, widmeten solchen Worten, deren Konsonanten alle drei Vokalöffnungen zulassen, besondere Aufmerksamkeit. Quṭrub verfasste sogar eine Schrift zu diesen Morphemen. Siehe Sezgin, GAS, Bd. 9, S. 61. 12 Maǧāz I, S. 62.

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Kultsymbole Gottes (2:158), der Singular ist ‚Kultsymbol‘ (šaʿīra), und das [bedeutet] an dieser Stelle: was als Ort oder Pilgerort oder Schlachtplatz gekennzeichnet wird, d. h., dass es mit Kennzeichen versehen ist. An einer anderen Stelle [bedeutet es]: das Opfertier, wenn es gekennzeichnet wird, [d. h.] ihm ein Halsgehänge umzubinden, 13 den taḥlīl über ihm zu sprechen und dafür zu kennzeichnen, dass es dem Opfer dient. Der Ursprung/die prioritäre Handlung (aṣl) besteht darin, ihm eine Klinge in den Höcker der rechten Seite zu stoßen, bis Blut austritt.

Sehen wir uns zunächst den zweiten Vers an, mit dem der erste in Verbindung steht, da dort dieselbe Konstruktion šaʿāʾiru llāh erklärt werden soll: šaʿāʾira llāhi (5:2), wāḥidatuhā šaʿīratun wa-hiya l-hadāyā, wa-yadulluka ʿalā ḏālika qauluhu: ḥattā yabluġa l-hadyu maḥallahu (2:196), wa-aṣluhā mina l-išʿāri wahuwa an yuqallida, au-yuḥallila au-yaṭʿuna šiqqa sināmihā l-aimana bi-ḥadīdatin li-yuʿlimahā bi-annahā hadyatun. Wa-qāla l-Kumaitu: nuqattiluhum ǧīlan fa-ǧīlan tarāhumu // šaʿāʾira qurbānin bihā yutaqarrabū al-ǧīlu wa-l-qarnu wāḥidun, yuqālu: inna šaʿāʾira llāhi hāhunā l-mašāʿiru: aṣ-Ṣafā wal-Marwatu wa-naḥwa ḏālika. 14 die Kultsymbole Gottes (5:2), der Singular davon ist ‚Kultsymbol‘ (šaʿīr). [Der Begriff im Plural] bedeutet die Opfertiere [selbst], worauf dich Sein Wort hinweist: bis die Opfertiere ihre Schlachtstätte erreicht haben (2:196); der Ursprung (aṣl) dieses Ausdrucks ist išʿār (4. Stamm der Wurzel šaʿara). Das bedeutet, dass ihnen ein Halsschmuck umgehängt wird, der taḥlīl über sie ausgesprochen wird oder die rechte Seite ihres Höckers mit einer Klinge gestochen wird, um dadurch zu kennzeichnen, dass es sich um ein Opfertier handelt. Al-Kumait sagt: Wir schlachten sie ab, eine Generation nach der anderen, so dass du sie halten könntest // für Kultzeichen eines Opfers, durch das man sich (an Gott) anzunähern sucht. ‚Generation‘ und ‚Zeitalter‘ bedeuten dasselbe. Man sagt: die Kultsymbole Gottes sind hier die Kultorte. [Gemeint sind] aṣ-Ṣafā und Marwā und dergleichen.

Angesichts der Ähnlichkeit der Erläuterung und des Wortlautes in den beiden Glossen zu den Versen in Sure 2 und 5 ist sehr deutlich ein Rückbezug innerhalb des Kommentars erkennbar, wie wir sie oben als kontinuitätsbewirkendes Mittel beschrieben haben. Vor allem der Einsatz des Begriffs aṣl selbst ist in diesem Kontext auf‌fällig. Er wird in beiden Beispielen offenkundig nicht grammatisch verwendet. Bemerkenswert ist hier auch die Verbindung von koranischem Lemma und dem beigebrachten poetischen šāhid. Im Koran haben die genannten „Kultstätten Gottes“ bereits die Funktion von Pilgerstätten. Indem Abū ʿUbaida über kultische Praktiken 13 Das Verb qallada kommt im Koran nicht vor, aber das Substantiv qalāʾid (5:2 und 5:97) mit der Bedeutung des Halsschmuckes für das Opfertier. Siehe Arne Ambros, A Concise Dictionary of Koranic Arabic, Wiesbaden 2004, S. 229. 14 Maǧāz I, S. 146.

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der vorislamischen Araber an diesen Orten berichtet, welche in der Opferung eines Tieres (offenbar eines Kamels) bestanden hätten, ebnet er den Bruch zwischen den islamischen und vorislamischen — zwischen polytheistischen und monotheistischen — Kulthandlungen ein. Aus dem isoliert beigebrachten Vers Kumaits geht nicht hervor, auf wen sich die Aussage „Wir schlachten sie ab, eine Generation nach der anderen“ bezieht. Die „Opfer“ meinen hier offenbar Kriegsgefallene. Der Herr, welchem diese Opfer gefallen sollen, ist nicht der monotheistische Offenbarungsgott, sondern der Führer eines Stammes. Aus Abū ʿUbaidas Gebrauch des Begriffs aṣl, der in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen seiner Zeit als terminus technicus eine höhrere Spezifität besaß als diese Beispiele erkennen lassen, können wir versuchen, einen Rückschluss auf das Verhältnis der Philologie zu den anderen sprach- und textbezogenenen Wissenschaften zu ziehen. Zweifellos ist der Philologe mit grammatischen Begriffen und Argumenten vertraut; er beschränkt seine Argumentation aber nicht auf diese, sondern kombiniert sie mit lexikographischem, historischem und auch theologischem Wissen. Statt den Methodenpluralismus des Philologen für ein Zeichen seiner Vorwissenschaftlichkeit zu halten, könnten wir ihn als eine spezifische (Selbst-) Situierung zwischen den differenzierten Wissenschaften auf‌fassen. Eine Sicht auf die frühislamische Philologie als ‚Magd‘ der Koranexegese bzw. der religiösen Wissenschaften ist durch diese Beispiele in Frage gestellt. Weder enthält der ‚philologische Korankommentar‘ reines Exegesewissen zum besseren semantischen Verständnis des Korantextes, noch bleibt er auf die „explikative“ Bewältigung — das heißt den Nachvollzug der Struktur des Primärtextes — beschränkt. Vielmehr zeigt sich in der Kombination außertextueller und innertextueller Wissensbestände eine enzyklopädische Neugier an allem ‚Altarabischen‘.

5.2 Sabab Der Begriff sabab wird an sieben Stellen in Maǧāz al-Qurʾān verwendet, 15 von denen hier drei exemplarisch interpretiert werden. Der Begriff wird besprochen, weil er im Kontext der Diskussion von rhetorischen Figuren eine Rolle spielt und daher Aufschluss geben kann über das sprachsemantische Grundverständnis des Philologen. Auch sabab ist in der zeitgenössischen Grammatik bereits gebräuchlich und auch dort nicht einfach zu definieren. Michael Carter hat dafür plädiert, die Metaphorizität des Begriffs sabab, der „Seil“, „Band“ oder — davon abgeleitet — „Beziehung“ oder „Ursache“ bedeuten kann, im grammatischen Gebrauch des Begriffs ernst zu nehmen und übersetzt sabab mit „semantic link“ zwischen kohäsiven Satzteilen. 16 15 Maǧāz I, S. 64 und 362; Maǧāz II, S. 38f., 47, 70–71 und 89. 16 Michael Carter, „The Term Sabab in Arabic Grammar“, in: Zeitschrift für arabische Linguistik, Göttingen 1985, S. 60: „It is semantic, in that there must be a common element of meaning between

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Abū ʿUbaida verwendet das Substantiv sabab in Verbindung mit den Verben ḥauwala oder ǧaʿala und den Präpositionen bi oder — wie im Kitāb Sībawaihs 17 — min. Der Begriff beschreibt in vereinfachter Paraphrase dasjenige Element, das eine Verschiebung der Bezugswörter eines Satzes erlaubt. Sehen wir uns zuerst ein Beispiel an, ehe wir versuchen, das von Abū ʿUbaida beschriebene Phänomen in die Begriff‌lichkeit der Rhetorik oder Literaturkritik zu übersetzen. Der Begriff sabab kommt bezeichnenderweise bei der Kommentierung eines Verses vor, der selbst einen Vergleich beinhaltet: Wa-maṯalu llaḏīna kafarū ka-maṯali llaḏī yanʿiqu bimā lā yasmaʿu (2:171), innamā llaḏī yanʿiqu r-rāʿī, wa-waqaʿa l-maʿnā ʿalā l-manʿūqi bihi wa-hiya l-ġanamu, taqūlu: ka-l-ġanami llatī lā tasmaʿu llatī yanʿiqu bihā raʿīhā, wa-l-ʿarabu turīdu š-šaiʾa fa-tuḥauwiluhu ilā šaiʾin min sababihi, yaqūlūna: „aʿriḍu al-ḥauḍa ʿalā n-nāqati“, wa-innamā tuʿriḍu n-nāqatu ʿalā l-ḥauḍi, wa-yaqūlūna: „hāḏā l-qamīṣu lā yaqṭaʿunī“, wa-yaqūlūna: „adḫaltu l-qalansuwata fī raʾsī“, wa-innamā adḫalta raʾsaka fī l-qalansuwati, […] wa-n-naʿīqu aṣ-ṣīyāḥu bihā, qāla l-Aḫṭalu: inʿiq bi-ḍaʾnika yā Ǧarīru fa-innamā // mannatka nafsuka fī l-ḫalāʾi ḍalālā. 18 Die Ungläubigen gleichen denjenigen, die eine Sache anschreien, 19 die nicht hört (2:171), derjenige, der blökt (anschreit), ist der Hirte. Die Bedeutung bezieht sich aber auf den von ihm Angerufenen, nämlich die Schafe, du sagst: wie die Schafe, die ihren Hirten nicht hören, wenn er sie ruft. Die Araber meinen eine Sache und übertragen sie in eine andere, entsprechend ihrer (semantischen) Verbindung (min sababihi). Sie sagen: Ich zeige dem Wasserbecken die Kamelstute, wobei sie meinen, der Kamelstute das Wasserbecken. Und sie sagen: Dieses Hemd zerreißt mich nicht. Oder auch: Ich steckte die Mütze in meinen Kopf, wobei du [eigentlich] deinen Kopf in die Mütze steckst […]. Der Rufende ist der dadurch Angerufene, al-Aḫṭal sagt: Rufe deine Schafe, o Ǧarīr, denn // du selbst gabst dir in der Öde Verirrung.

Abū ʿUbaida beginnt mit der Identifizierung des im Vers angesprochenen Handlungsträgers: Denjenigen, der ruft (yanʿiqu) erkennt er als den Schäfer (ar-rāʿī). Allerdings beziehe sich die Bedeutung des Verbs auf denjenigen, der von ihm angerufen werde, nämlich die Schafe. Augenfällig ist zunächst, dass im zitierten Koranvers weder der Hirte noch die Schafe beim Namen genannt werden, sondern lediglich das Verb naʿaqa, das lexikalisch „blöken“ bedeutet, im Kontext des vergeblichen Anrufens der Ungläubigen gebraucht wird. Diese Erklärung zum Koranvers hängt mit dem angeführten poetischen šāhid zusammen, in dem sich das Verb naʿaqa mit der Bedeutung des „Rufens“ the first and second terms of the sentence […] And it is a link, in that it has a formal realization whose function is to join together otherwise independent sentences or parts of sentences.“ 17 Ebd. 18 Maǧāz I, S. 64. 19 Wörtlich: „anblöken“.

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Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān

von Schafen auf die Handlung des Hirten (Ǧarīr) bezieht. Indem Abū ʿUbaida die Ungläubigen (allaḏīna kafarū) mit Schafen identifiziert, die das Rufen ihres Hirten nicht befolgen, legt er das tertium comparationis des koranischen Vergleichs anders fest, als dies der Vers selbst vermuten lassen würde. Im Koranvers wird der Ungläubige mit demjenigen verglichen, dessen Rufen vergeblich ist, weil er selbst nicht befolgt, wozu er aufruft. Insofern wird das vergebliche Rufen als „Blöken“ bezeichnet und der Rufende mit dem Schaf vergleichbar. Abū ʿUbaida aber erklärt, die Eigenschaft des Angerufenen (die Taubheit bzw. Unempfänglichkeit gegenüber dem Ruf) beziehe sich auf den Rufenden selbst. Er begründet dies mit einer Redensart, die er im Sprachgebrauch der Araber wiederfindet und in drei Beispielen belegt. So sage man zwar, dass man das Wasser zur Kamelstute führe, während man eigentlich meine, die Kamelstute ans Wasser zu führen. Ebenso verhalte es sich mit der Mütze und dem Kopf. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt wird durch eine Umstellung der Syntax miteinander vertauscht. Abū ʿUbaida folgert daraus, dass auch im Koranvers der Angerufene mit der Eigenschaft des Rufers beschrieben würde. Seine Beispiele aus dem arabischen Sprachgebrauch machen deutlich, was die Verwendung des Wortes šaiʾ in der Aussage bereits nahelegt: 20 Die ‚Vertauschung‘ (badal) der Bezugswörter — der Rufer und der Angerufene — rührt von einer Sonderform der Syntax, nicht von einer metaphorischen Übertragung her. Die von Heinrichs dargestellte „frühe“ Metaphernkonstruktion der mit Abū ʿUbaida kontemporären Literaturkritiker basierte ebenfalls auf einem „Tausch“ (badal) der Dinge (ašyāʾ), nicht auf einer Variation von deren linguistischer Benennung (ism). Dies kann bedeuten, dass Abū ʿUbaida die grammatische und semantische Variation einer sprachlichen Konstruktion miteinander identifiziert oder zumindest ein unmittelbares Verhältnis von Grammatik und Semantik einer Aussage voraussetzt. Sehen wir uns zunächst ein weiteres Beispiel für die Verwendung des Begriffes sabab in Maǧāz al-Qurʾān an: ḫuliqa l-insānu min ʿaǧalin (21:37), maǧāzuhu maǧāzu ḫuliqa l-ʿaǧalu mina l-insāni wa-huwa l-ʿaǧalatu wa-l-ʿarabu tafʿalu hāḏā iḏā kāna š-šaiʾu min sababi š-šaiʾi badaʾū bi-s-sababi, wa-fī āyatin uḫrā: mā inna mafātiḥahu la-tanūʾu bi-l-ʿuṣbati ulī l-qūwati (28:76), wa-l-ʿuṣbatu hiya llatī tanūʾu bi-l-mafātiḥi, wa-yuqālu: „innahā la-tanūʾu ʿaǧīzatahā“, wa-l-maʿnā innahā hiya llatī tanūʾu bi-ʿaǧīzatihā, qāla al-Aʿšā: 20 Heinrichs thematisiert diesen Unterschied zwischen der Metapher, die auf der verfremdenden Variation einzelner Worte und deren Bedeutung beruht und der, auf dem „Tausch“ der Eingenschaften wahrhaftiger Objekte (šaiʾ, Pl. ašyāʾ) beruhenden Metapher. Die „frühere“ Form der Metaphorik, welche auf einem solchen „Tausch der Dinge“, nicht deren sprachlicher Bezeichnung beruht, hält Heinrichs für charkteristisch für die Metaphorik in vielen vorislamischen Qasiden. Und auch in der, mit Abū ʿUbaida zeitgenössischen Dichtungskritik wird die Metapher als ein solches Tauschverhältnis aufgefasst. (Siehe Heinrichs, Northwind, S. 8ff.) Carter argumentiert, der von Sībawaih gebrauchte sabab-Begriff werde in der späteren Grammatik durch den Begriff badal ersetzt. (Carter, „The Term Sabab“, S. 63.)

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la-maḥqūqatin in tastaǧībī li-ṣautihi // wa-an taʿlamī an al-muʿāna muwaffaqū. 21 Der Mensch wurde aus Ungeduld (als ungeduldiges Wesen) geschaffen (21:37), die Bedeutung ist: Die Ungeduld ist aus dem Menschen geschaffen. Es heißt Ungeduld [mit Femininendung]. Die Araber machen es so, wenn eine Sache zum Grund der [anderen] Sache gehört, dann beginnen sie [den Satz] mit dem Grund (sabab). In einem weiteren Vers: [so schwer, dass] die Schlüssel [zu den Schätzen] für eine Schar von Männern eine [ächzende] Bürde gewesen wären (28:76), ist es die Schar von Männern, die unter der [Last der] Schlüssel ächzt, man sagt: „Ihr Alter ächzt unter ihr“, und die Bedeutung ist, dass sie unter ihrem Alter ächzt. Al-Aʿšā sagt: Es obliegt dir, [der Kamelstute] seinem Ruf zu gehorchen // und dass du weißt, dass demjenigen, dem geholfen wird, Gelingen beschieden ist. Aber gemeint ist, dass demjenigen Gelingen beschieden ist, dem geholfen wird.

Die Verwendung des Begriffs sabab in diesem Beispiel legt eine theologische Begründung für die Notwendigkeit der grammatischen Umstellung des Verses nahe. Isoliert gelesen könnte das zitierte koranische Lemma bedeuten, dass die Schöpfung der Ungeduld der des Menschen vorausginge. Abū ʿUbaidas Glosse scheint zunächst die Reihenfolge der Schöpfung zu betreffen. Es ist der Mensch, der die Ungeduld als eine seiner charakteristischen Eigenschaften (sabab) hervor gebracht hat. Das heißt, die Eigenschaft oder: die „Substanz“ (sabab) der menschlichen Ungeduld ist der Schaffung seines Wesens nachgeordnet. Da hierauf in Abū ʿUbaidas Glosse eine Begründung durch den Sprachgebrauch der Araber folgt, mündet das Argument allerdings wiederum in eine Aussage über die arabische Syntax. Der folgende Vers aus der Dichtung enthält ebenfalls eine solche syntaktische Auf‌fälligkeit (und keine lexikalische Korrespondez mit dem koranischen Lemma). Der Gebrauch des Begriffs sabab deutet darauf hin, dass Abū ʿUbaida tatsächlich nicht zwischen einer grammatischen und einer realen Verwandtschaft zweier „Dinge“ unterscheidet: Iḏā raʾathum min makānin baʿīdin samiʿū lahā taġaiyuẓan wa-zafīran (25:12), wa-s-saʿīru muḏakkarun wa-huwa mā tasaʿʿara min siʿāri n-nāri, ṯumma ǧāʾa baʿdahu fiʿlu muʾannaṯatin maǧāzuhā innahā n-nāru, wa-l-ʿarabu tafʿalu ḏālika tuẓhiru muḏakkaran min sababi muʾannaṯatin ṯumma yuʾanniṯūna mā baʿda l-muḏakkari ʿalā maʿnā l-muʾannaṯati. 22 Wenn er (der Höllenbrand) sie (die Sünder) aus der Ferne sieht, hören sie ihn (schon) rasen und brüllen (25:12), der Höllenbrand (as-saʿīru) ist männlich. Er ist, was die Flamme eines Feuers entflammt. Dann folgt das Verb eines femininen Handlungsträgers, welches das Feuer meint. Die Araber machen dies so, dass sie einen männlichen [Begriff] seinem Wesen nach (min sabab) wie ein Femininum verwenden. 21 Maǧāz II, S. 38f. 22 Maǧāz II, S. 70f.

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Dann machen sie weiblich was nach dem männlichen [Begriff] kommt mit der Bedeutung [der gesamten Konstruktion] im Femininum.

Abū ʿUbaida argumentiert, dass das Folgen eines weiblichen Verbs auf ein formal männliches, faktisch aber weibliches Nomen genügt, um den Begriff als seinem Wesen nach weiblich zu kennzeichnen. Der Begriff sabab bedeutet auch hier die „innere“ Verfasstheit eines Begriffs, nämlich dessen Weiblichkeit trotz äußerlich männlicher Form, die in diesem Beispiel allerdings keine semantische Veränderung evoziert. Die Verwendung des Begriffes sabab deutet auf eine Priorität der arabischen Syntax für das semantische Verständnis des Korans im philologischen Korankommentar hin. Er erfüllt eine ähnliche Funktion wie der Begriff taqdīr in der zeitgenössischen Grammatik, nämlich kennzeichnet er die syntaktische Grundstruktur eines Nominalsatzes, von welcher der kommunikative Gebrauch der Sprache in besonderen Fällen abweicht. Diese Bedeutung des Begriffs legt eine Assoziation des Phänomens mit dem Tropus der Metonymie nahe, denn Abū ʿUbaida scheint eine semantische „Verwandtschaft“ der Begriffe für die Voraussetzung für den syntaktischen Sonderfall zu halten.

5.3 Waǧh Der Begriff waǧh (Pl. wuǧūh) zählt zu den Begriffen der (frühislamischen) Koranexegese, die ein Bewusstsein einzelner Koranexegeten für und eine Aufgeschlossenheit gegenüber interpretativem Pluralismus nahelegen. Mehrere Ibn ʿAbbās zugeschriebene Aussagen besagen, der Koran sei ḏū wuǧūh, er zeige also, wörtlich genommen, verschiedene Gesichter. 23 Muḥammad al-Kalbī führt folgende Aussage auf Ibn ʿAbbās zurück: Der Koran wurde in vier Aspekten (wuǧūh) geoffenbart: Interpretation (tafsīr), welche nur Gelehrte kennen; die arabische Sprache (ʿarabīya), mit welcher sich die Araber ausdrücken; Erlaubnis und Verbot (al-amr bi-l-maʿrūfi wa-n-nahyu ʿani l-munkar), welches niemand missachten darf und taʾwīl, den nur Gott kennt. 24

Es liegt nahe, die ersten drei „Gesichter“ in dieser Aussage mit den drei ersten Sinnebenen der Lehre des vierfachen Schriftsinns zu vergleichen. Dem vierten Aspekt des taʾwīl, der dadurch gekennzeichnet sei, dass Gott allein ihn kenne, würde der sensus allegoricus entsprechen, der auch in vielen spätantiken Darstellungen eine Sonderstellung gegenüber den drei diesseitig verankerten Schriftsinnen einnimmt. 25 23 Siehe Gilliot, Eintr. „Exegesis of the Qurʾān“, in: EQ, Bd. 2, S. 100. Siehe auch Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 64. 24 Ebd. 25 Vgl. Dohmen, Bibel und ihre Auslegung, S. 41.

Waǧh

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Mehrere koranwissenschaftliche Publikationen der letzten Jahre haben nicht versäumt, auf den Aspekt der Mehrdeutigkeit des Textes im Bewusstsein früher Muslime einzugehen. 26 In Verbindung mit dem Begriff waǧh wird meist allerdings nicht auf die Lehre vom Vierfachen Schriftsinn, sondern auf die zuerst von Ignaz Goldziher vorgeschlagene These hingewiesen, die wuǧūh al-Qurʾān stünden in einer Beziehung zur rabbinischen Hermeneutik der panim šel ha-Tora, 27 der „Gesichter der Tora“. Dabei konnte Goldziher seine Hypothese nur auf die in den philologischen Kompilationswerken des 9. Jahrhunderts überlieferten, Ibn ʿAbbās zugeschriebenen Aussagen stützen. Uns liegen heute aber auch Texte der wuǧūh-Gattung vor, die zu den ersten exegetischen Bemühungen um den Koran zählen. Ein erhaltenes Kompendium mit dem Titel Wuǧūh al-Qurʾān, das unter dem Titel al-Ašbāh wa-n-naẓāʾir ediert wurde und das Brockelmann unter dem Titel Kitāb Mutašābih al-Qurʾān anführt, 28 wird Muqātil ibn Sulaimān zugeschrieben. Die dort verfolgte Technik besteht in der Auf‌fächerung der Bedeutungen koranischer Begriffe in verschiedene „Aspekte“ (wuǧūh). Anders als die Organisation von Lexika in Radikalwurzeln oder durch semantische Gruppen, wie zum Beispiel Abū ʿUbaidas Buch der Pferde, 29 enthält das Kompendium Muqātils Begriffe aus dem Koran, deren kontextspezifisch divergierenden Bedeutungen listenartig dargestellt werden. In dem Buch selbst wird keine Theorie der Mehrdeutigkeit artikuliert, wie sie die mit dem Begriff waǧh in Verbindung stehenden Aussagen Ibn ʿAbbās’ andeuten. Die mehreren „Gesichter“ scheinen für Muqātil vielmehr lediglich von dem kontextabhängigen Bedeutungspluralismus einzelner koranischer Begriffe herzurühren. Die Formulierung, in der der Begriff waǧh in diesem Kompendium gebraucht wird, ist in den verschiedenen Begriffserklärungen jeweils gleich. Zum Beispiel: tafsīru l-ʿilmi ʿalā ṯalāṯati wuǧūhin, fa-waǧhun minhā: yaʿlamu yaʿnī yarā fa-ḏālika qauluhu fī sūrati Muḥammadin — ṣlʿs — wa-la-nabluwannakum ḥattā naʿlama

26 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 531; Zirker, Zugänge und Lesarten, S. 193; Bauer, Ambiguität, S. 123; Paul Nwyia, Exégèse coranique et langage mystique. Nouvel essai sur le lexique technique des mystiques musulmans, Beirut 1972, S. 9. 27 Auf‌fällig in dem Kompendium Muqātils ist, dass mit dem Begriff des „Gesichtes“ der Begriff des „Auges“ zu korrespondieren scheint. In mehreren Beispielen ergänzt Muqātil die aufgelisteten kontextspezifischen Bedeutungsvariationen (al-mautu ʿalā ḫamsi wuǧūhin…) um eine Art Resumee: almautu bi-ʿainihi ḏahābu r-rūḥi bi-l-āǧāli […]. Diese Aussagen deuten an, dass Muqātil hier durchaus eine abstrakte begriff‌liche Bedeutung (aš-šaiʾ bi-ʿainihi) von den kontextspezifischen Varianten (wuǧūh) unterscheidet. Vergleiche auch die Aussage Abū ʿUbaidas in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān: ismu š-šaiʾi huwa aš-šaiʾu bi-ʿainihi. (Dank für den Begriff ʿain bei Muqātil an Ghassan el-Masri). 28 Nabia Abbot stellte die Geschichte der variierenden Benennung des Werkes dar und machte durch ihre Lektüre des Textes selbst deutlich, dass der Titel Kitāb Wuǧūh al-Qurʾān der ursprüngliche gewesen sein muss. Siehe Arabic Literary Papyri, S. 92–120. 29 Siehe Kapitel „6.1 ‚Graphophobie‘ und ‚Bibliophilie‘ der arabischen Philologen“ (S. 199).

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Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān

l-muǧāhidīna minkum (47:31), yaʿnī ḥattā narā l-muǧāhidīna minkum wa-qad ­ʿalima llāhu man yuǧāhidu minhum qabla an yuǧāhida. […] 30 Die Interpretation [des Begriffs] ‚Wissen‘ hat drei Aspekte. Eine Bedeutung ist „er weiß“, im Sinne von „er sieht“. So wie in einem Vers in Sure Muḥammad — Friede sei mit ihm — Wir werden euch prüfen, bis wir wissen, wer von euch zu den muǧāhidūn gehört 31 (47:31), das bedeutet: bis wir die muǧāhidūn (die Kämpfer) von euch „sehen“, denn Gott weiß, wer von ihnen kämpfen wird, noch bevor sie [tatsächlich] kämpfen. […]

Mehrmals gebräuchlich ist der Begriff waǧh in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān. Zunächst meint er hier ganz offenbar die variierenden Lesarten der Konsonantenvorlage des muṣḥaf: Wa-min maǧāzi mā ǧāʾat lahu maʿānin ġairu wāḥidin muḫtalifatun, fa-taʾawalathu l-aʾimmatu bi-luġātihā fa-ǧāʾat maʿānīhi ʿalā waǧhaini au-akṯara min ḏālika, qāla: waġadau ʿalā ḥardin qādirīna (68:25), fa-fassarūhu ʿalā ṯalāṯati auǧuhin, qāla baʿḍuhum: ʿalā qaṣdin, wa-qāla baʿḍuhum: ʿalā manʿin, wa-qāla āḫarūna: ʿalā ġaḍabin wa-ḥiqdin. 32 Zu den Formen des maǧāz gehör[en Ausdrücke], die nicht eine, sondern mehrere unterschiedliche Bedeutungen haben. Die Gelehrten (Imame) legen ihn (den jeweiligen Begriff) in ihren Dialekten aus, so dass seine Bedeutungen (maʿānī) zwei Aspekte (waǧhain) oder mehr als das bekommen. Er sagte: Sie gingen am Morgen zu einer Absicht (ʿalā ḥardin) fähig hinaus (68:25) und sie interpretieren dies in drei Weisen. Einige sagen: zu einem Vorsatz [fähig] (ʿalā qaṣdin), und einige sagen: zu einer Hinderung [fähig] (ʿalā manʿin), und andere sagten: zum Zorn und Hass [fähig] (ʿalā ġaḍabin wa-ḥiqdin).

Eine koranische Formulierung hat für Abū ʿUbaida demnach dann zwei oder mehrere „Gesichter“, wenn sie von unterschiedlichen Rezitatoren oder Gelehrten unterschiedlich interpretiert wird. Mit dieser Aussage sind offenbar nicht nur grammatische Variationen gemeint, die durch Lesartenvarianten entstehen, sondern tatsächlich die Interpretation von (dem Kontext angemessenen) Bedeutungen eines Begriffs. 33

30 Muqātil ibn Sulaimān, al-Ašbāh wa-n-naẓāʾir, hg. von ʿAbdallāh Maḥmūd Šaḥāta, Kairo 1975, S. 235. 31 Paret übersetzt: „… die (um unseretwillen) Krieg führen (w. sich abmühen.)“ 32 Maǧāz I, S. 13. 33 Auch al-Farrāʾ spricht seinerseits von den grammatischen Lesevarianten als wuǧūh und erklärt, wenn ein Ausdruck mit einem u endet, gibt es drei Varianten (wuǧūh) der Erklärung; wenn er mit einem a endet, eröffne er ebenfalls drei und wenn er mit einem i endet, wiederum drei Bedeutungen Die wuǧūh bezeichnen in diesem Argument nicht die Lesevarianten selbst, sondern die Interpretationen, welche sich aus den unterschiedlichen grammatischen Flexionen (Öffnung auf a, i, oder u) ergeben. (Vgl. Kinga Devenyi, Eintr. „ʾIʿrāb“, in: EAL, Bd. 2, S. 402)

Waǧh

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Die Aussage, dass der Koran aufgrund variierender Rezitationspraxis unter mehreren „Aspekten“ zu lesen sei, wird in der Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān ergänzt durch den Hinweis auf die Regionalspezifität der Dialekte. Diese Lesevariationen des Textes sind Formen des maǧāz: Wa-maǧāzu mā qaraʾathu l-aʾimmatu bi-luġātihā fa-ǧāʾa lafẓuhu ʿalā waǧhaini auakṯara, min ḏālika qaraʾa ahlu l-Madīnati fa-bimā tubašširūni (15:54), fa-aḍāfū biġairi nūni l-muḍāfi bi-luġātihim, wa-qāla Abū ʿAmrin: lā tuḍāfu tubašširūn illā bi-nūni l-kināyati ka-qaulika: tubašširūnanī. 34 Das maǧāz dessen, was die vorbildlichen Gelehrten in ihren Dialekten lesen [besteht darin, dass] die Ausdrücke zwei oder mehrere Aspekte (Lesarten) haben. Die Leute von Medina lesen so etwa fa-bimā tubašširūni (was verkündet ihr mir?) und sprechen das Suffix i ohne eingefügtes nūn der Akkusativendung aus. Abū ʿAmr sagt: Du liest tubašširūni (ihr kündigt mir an) normalerweise mit zusätzlichem nūn, so wie du sagst lā tubašširūnanī (ihr kündigt mir nicht an).

Nicht nur in der Einleitung, sondern auch im Kommentar selbst kommt Abū ­ʿUbaida auf den Begriff waǧh zu sprechen, hier nicht in Bezug auf Rezitationsweisen, sondern mit der generellen Bedeutung von „Bedeutungsunterschied“, wie der Begriff auch in den vorausgegangenen Kommentaren von Muḥammad al-Kalbī und Sufyān aṯ-Ṯaurī vorkommt: 35 ʿamū wa-ṣammū kaṯīrūna (5:71), maǧāzuhu ʿalā waǧhaini aḥaduhumā anna baʿḍa l-ʿarabi yuẓhirūna kināyata l-ismi fī āḫiri l-fiʿli maʿa iẓhāri l-ismi llaḏī baʿda l-fiʿli kaqauli Abī ʿAmrini l-Huḏalī: akalūnī l-barāġīṯu, wa-l-mauḍiʿu l-āḫaru annahu mustaʾnafun li-annahu yatimmu l-kalāmu iḏā qulta „ʿamū wa-ṣammū“, ṯumma sakatta, fa-tastaʾnifu fa-taqūlu: kaṯirun minhum, wa-qāla āḫarūna: kaṯīrun ṣifatun li-l-kināyati llatī fī āḫiri l-fiʿli, fa-hiya fī mauḍiʿi marfūʿin fa-rufiʿat kaṯīrun bihā. 36 Viele [von ihnen] wurden blind und taub (5:71). Der Ausdruck hat zwei Formen (waǧhain). Die erste ist, dass einige Araber sowohl den Handlungsträger am Verbende sichtbar machen als auch das Subjekt nachstellen, so wie Abū ʿAmr al-Huḏalī sagt: „Mich fraßen die Flöhe“ (akalūnī al-barāġīṯ). Und der zweite Aspekt (mauḍiʿ) besteht darin, dass der Ausdruck eine Wiederaufnahme (mustaʾnaf) ist, weil er den Satz vollständig macht. Wenn du sagst „Sie wurden blind und taub“ (ʿamū wa-sammū) und dann schweigst, unterbrichst, und dann fortfährst „viele von ihnen“ (kaṯīrun minhum). Aber andere Leute sagen: [das Wort] „viele“ (kaṯīrun) sei ein Adjektiv zum Objekt, das in der Verbendung steckt. Und diese sei grammatisch im Nominativ und das Wort kaṯīrun werde deswegen in den Nominativ gesetzt.

34 Maǧāz I, S. 13. 35 Vgl. Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 87f. 36 Maǧāz I, S. 174.

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Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān

Daran, dass Abū ʿUbaida den Begriff waǧh in dieser Passage synonym mit mauḍiʿ verwendet wird deutlich, dass er sich auf eine grammatische bzw. lesartenspezifische Variation bezieht. Vor allem die Formulierung maǧāzuhu ʿalā waǧhain ist interessant. Sie legt zum einen nahe, dass Abū ʿUbaida mit der mit dem wuǧūh-Kompendium Muqātils angesprochenen Technik der Auf‌fächerung der Begriffe in kontextabhängige Bedeutungen vertraut war, welche die Kontextvarianten eines koranischen Begriffs jeweils mit der Formulierung xy ʿalā 3–9 wuǧūh einleitet. Zum anderen beleuchtet sie den maǧāz-Begriff selbst neu. Denn es ist hier nicht ein Lexem oder Wortlaut, der zwei maǧāzāt — das heißt zwei unterschiedliche Realisierungen — ermöglicht, sondern das maǧāz des koranischen Begriffs, das zwei „Gesichter“ (wuǧūh) besitzt. 37 Demnach bezeichnet das maǧāz hier nicht die konkrete kommunikative Form, sondern eher die begriff‌lich-abstrakte Ebene der Sprache, die dann in zwei sprachlichen Formen (d. i. wuǧūh, oder mawāḍiʿ) verwirklicht wird. Wenn wir, wie Ella Almagor nahelegt, akzeptieren würden, dass Abū ʿUbaida nicht zwischen begriff‌licher und konkreter, mentaler und kommunikativer Ebene der arabischen Sprache unterschied, wäre nun zu fragen, weshalb der Begriff maǧāz im Kontext der wuǧūh genannten Lesartenunterschiede überhaupt notwendig wird. Er scheint am ehesten ein Synonym des Begriffs maʿnā zu sein, wie ihn die kontemporären Grammatiker verwenden, nämlich mit der Bedeutung der „underlying structure“, also der syntaktisch korrekten Form des kommunikativ realisierten Arabisch. Die wuǧūh sind hier Formen der kommunikativen Realisierung des maǧāz und damit das maǧāz selbst keine Form des kommunikativen Sprachgebrauchs (wie in der Formulierung min maǧāz mā… der Einleitung), sondern ein Begriff für die grammatisch korrekte, der kommunikativen Realisierung vorgängige Systematik der Sprache.

5.4 Maṯal Als einem der ersten Begriffe für eine spezifische Textsorte bzw. rhetorische Form begegnet uns der Begriff maṯal bereits im Koran. Maṯal ist damit einer der ersten arabischen ‚Gattungsbegriffe‘ überhaupt, 38 der sich noch während des koranischen Verkündigungsprozesses zu einem terminus technicus entwickelt. Etymologisch ist das arabische maṯal mit dem aramäischen mathlā und dem hebräischen māšāl verwandt 39 und besitzt wie diese Begriffe eine große semantische Bandbreite, so dass 37 Es ist interessant zu bemerken, dass der Theologe Abū Bakr al-Ǧaṣṣās in seinem „ersten ausführlichen Kapitel zum Begriff maǧāz“ im rechtlichen Sinn im 10. Jahrhundert beide Begriffe miteinander verbindet. Maǧāz hat für ihn sechs wuǧūh genannte Unterkategorien. Vgl. Heinrichs, „Contacts between scriptural hermeneutics“, S. 28. 38 Haggai ben-Shammai, „The Status of Parable and Simile in the Qurʾān and Early tafsīr“, in: JSAI 30 (2005), S. 151. 39 Rudolf Sellheim, Eintr. „Mathal“, in: EI², Bd. 6, S. 815 mit weiteren etymologischen Angaben zum arabischen Begriff.

Maṯal

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eine Wiedergabe des Begriffs im Deutschen als „Sprichwort“ oder „Gleichnis“ je nur einen Ausschnitt der Bedeutungen des arabischen Begriffs bieten kann. Hier soll zunächst ein semantischer Transfer skizziert werden, den der Begriff innerhalb der arabischen Literatur vom 7. zum frühen 9. Jahrhundert durchmacht, ehe dem Gebrauch des Begriffs in Maǧāz al-Qurʾān nachgegangen wird. … im Koran — Symbol prophetischer Rhetorik Im Koran fällt der Terminus maṯal erstmals in der spätmekkanischen Phase der Verkündigung, d. h. in der Zeit eines erstarkenden Selbstbewusstseins der wachsenden Gemeinde, der Ausdifferenzierung eines Gemeinderitus und der Verortung der koranischen Offenbarung in eine Tradition der schriftsprachlichen Manifestation Gottes. 40 Der Begriff maṯal und die Gattung des Gleichnisses spielen eine zentrale Rolle in diesen Entwicklungen und für die Funktion der Offenbarungseinheit Sure selbst. Die von Neuwirth „Perikopen“ genannten narrativen Mittelteile lassen auf den Sitz im Leben dieser Suren im liturgischen Gottesdienst schließen: „Ein Darstellungsmittel dieser homiletisch geprägten Surenteile ist die Parabel [mathal].“ 41 Der Begriff maṯal steht in den spätmekkanischen Suren meist vor oder unmittelbar nach einer gleichnishaften Erzählung, etwa in Form von Ankündigungen: „Gott prägte ihnen ein Gleichnis (maṯal)“ (16:76), rhetorischen Einleiteformeln: „Siehst du nicht, wie Gott ein Gleichnis (maṯal) prägt“ (14:24) oder resumierenden Urteilen: „Wir haben in dieser Lesung alle möglichen Gleichnisse (amṯāl) abgewandelt, doch lehnen sie die meisten Menschen ungläubig ab.“ (17:89) Die volle Bedeutung des koranischen maṯal-Begriffs erschließt sich allerdings erst mit der Berücksichtigung einer intertextuellen Dimension, nämlich der gleichnishaften Rede in vorausgegangenen Offenbarungskontexten, etwa in den Evangelien und gleichnishaften Weisheitssprüchen im Buch der Proverbien der Hebräischen Bibel. Besonders einschlägig ist eine Beobachtung Angelika Neuwirths am zentralen Moment der in Gleichnisse mündenden Bergpredigt. Die Zuhörer Jesu äußerten ihre Irritation über dessen Art zu verkünden, „denn er lehrte sie seine Rede wie jemand, der Macht besaß, nicht wie einer der Schriftgelehrten“ (Mt. 7, 28ff.). Neuwirth argumentiert: „Die Form der Parabel war […] gerade nicht als Rede der ‚Exegeten‘, sondern als ein charismatisches Privileg, als Machtsymbol, der Propheten erachtet — ungeachtet der Problematik ihrer nicht unmittelbaren Verständlichkeit.“ 42 Eine solche Zuschreibung zur Gleichnisrede als „Emblem des Prophetentums“ 43 erkennt sie auch 40 Vgl. Neuwirth, Text der Spätantike, S. 500. Zu Struktur und Inhalten der spätmekkanischen Suren siehe Text der Spätantike, S. 321–326 und zur Funktion koranischer Gleichnisse: Hannelies Koloska, Offenbarung, Ästhetik und Koranexegese. Zwei Studien zu Sure 18 (al-Kahf), Wiesbaden 2015, S. 92–109. 41 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 498. 42 Ebd., S. 499f. 43 Siehe Neuwirth, Text der Spätantike, S. 499 auch mit dem Hinweis auf Wansbrough.

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Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān

am koranischen maṯal-Begriff wieder, wobei mehrere Verse, in denen der Begriff beigebracht wird, bereits die Ambivalenz dieser Redegattung zum Ausdruck bringen. In Sure 2:26 wird etwa der Spott der Ungläubigen aufgrund der Geringfügigkeit des Gleichnisgegenstandes angesprochen: „Gott schämt sich nicht, mit einer Mücke oder etwas kaum Höherem ein Gleichnis zu prägen. Die Gläubigen wissen, dass es die Wahrheit von ihrem Herrn ist, die Ungläubigen dagegen sprechen ‚Was wollte Gott nur mit diesem Gleichnis?‘ […]“ Implizit in der Zurückweisung der Polemik ist, dass die Parabel mehr ist als ein rhetorisches Mittel der Überzeugung, und dass die von Gott geprägten Gleichnisse eine übergeordnete Autorität besitzen, die anzuerkennen letztlich eine Frage des Glaubens ist. Das „Emblem des Prophetentums“ wird zu einem Prüfstein für die Akzeptanz von oder Zweifel an der Authentizität der prophetischen Verkündigung schlechthin. Neben dem Begriff maṯal selbst finden sich im Koran mehrere Gleichniserzählungen, die allerdings oft fragmentarisch bleiben. Ein Beispiel für eine solche Erzählung, die auch mit den Begriff maṯal eingeführt wird, ist das Gleichnis von den Bewohnern der Stadt in Q 36:13–31. Es erzählt von den Bewohnern einer Stadt, die durch mehrmalige Sendung von Boten zu gottesfürchtigem Leben angehalten werden, die sich aber nicht mahnen lassen und den Gesandten mit Steinigung drohen, für den Fall, dass sie ihre missionarische Tätigkeit nicht unterlassen. Darauf‌hin eilt „vom anderen Ende der Stadt“ ein Mann herbei, der die Botschaft der zuvor aufgetretenen Gesandten wiederholt und bekräftigt. Die vorausgegangene Morddrohung der Stadtbewohner lässt erahnen, dass der dritte Warner der Stadtbewohner tatsächlich Opfer ihres Gewaltverbrechens wird. Der einschlägige Vers gibt jedoch lediglich Auskunft darüber, dass dieser dritte Mann „ins Paradies eingegangen ist.“ Die Pointe der Mahn-Parabel besteht dann in der abschließenden Reflexion des erfolglosen Missionars, der noch einmal zu Wort kommt, um seine Hoffnung auf Vergebung seiner Mörder zu äußern. (V. 26–27) Das Gleichnis endet mit einer Mahnung an die trotz unermüdlicher Warnungen und offenkundiger Zeichen unbelehrbaren Menschen. Für sich gelesen lässt das Gleichnis viele Fragen offen. Weder das Schicksal der Stadtbewohner, noch der Gesandten wird zu einem Narrativ mit einhelligem Spannungsbogen entwickelt. Es scheint, als sei die Struktur und eventuell auch der Inhalt der Erzählung den Hörern des Gleichnisses bereits bekannt. Spätestens die Andeutung des Martyriums des Warners und dessen mehrmalig geäußerte Hoffnung auf Vergebung durch den barmherzigen Gott, weckt eine Assoziation mit einer neutestamentlichen Gleichniserzählung, dem im Matthäusevangelium enthaltenen Gleichnis „von den bösen Weingärtnern“ (Mt. 21, 33–45). 44 Auch das neutestamentliche Gleichnis wird mit einer Gattungsbenennung (parabolé) und einem Aufmerksamkeitsruf — Hört! — eingeleitet. Die Erzählung beginnt 44 Das Gleichnis findet sich innerhalb der Parabelrede Mt 21,28–22,14, die sich aus dem Gleichnis von den beiden Söhnen (Mt 21,28–31), dem Gleichnis vom Mord im Weinberg (Mt 21,33–44) und dem Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22,1–14) zusammensetzt.

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mit der Pflanzung eines Weinberges durch seinen Besitzer, der sich anschließend „in ein anderes Land“ zurückzieht und den Weinberg Pächtern überlässt, zu denen er zur Erntezeit Boten schickt, um einen Anteil am Ertrag der Weingärtner zu erhalten. Aus Habgier verweigern die Pächter jedoch die rechtmäßige Bezahlung und „prügeln“ und „töten“ die Boten ihres Herrn, so dass dieser seine Forderung durch die Aussendung einer größeren Gruppe seiner Diener wiederholt. Als diesen erneuten Boten dasselbe Schicksal zuteil wird, sendet der Weinbergsbesitzer seinen eigenen Sohn in der Hoffnung, dass die ihm verpflichteten Weingärtner vor diesem Respekt haben würden. Doch die kriminellen Gärtner schrecken vor der Ermordung des Sohnes nicht zurück, sondern sie spekulieren sogar darauf, durch dessen Ermordung selbst Erben des Weinberges zu werden. Leicht erkennen wir den Erzählverlauf, die mehrmalige Sendung von Boten und die Ermordung bzw. Vertreibung derselben im koranischen Gleichnis von den Bewohnern der Stadt wieder. Im Gegensatz zum koranischen Gleichnis ist die biblische Weingärtnerparabel eine vollständige Erzählung, die sich dramatisch steigert. Schon der Symbolgehalt der im Gleichnis verwendeten Begriffe legt eine allegorische Deutung nahe, die zuletzt von Jesus selbst vorgeschlagen wird. Das Gleichnis ist im Evangelium in eine Lehrsituation zwischen Jesus und seinen Jüngern eingebettet und endet mit der Referenz auf einen Psalm (118:22–23). Der Gutsbesitzer, das Land, die Ernte und die ausstehende Bezahlung einer Schuld sind Leitmotive, die auch in anderen biblischen Gleichniserzählungen in Variationen vorkommen. 45 Insgesamt transzendiert die Interpretation der Gleichnisse Jesu die innerweltliche Heilsgeschichte und stellt dieser das erwartete Himmelreich entgegen. 46 Haben die Parabeln Jesu die Funktion der Vorbereitung der andernfalls unverständigen Hörer auf das Himmelreich, scheint den koranischen Parabeln die Möglichkeit der Ausdeutung auf heilsgeschichtliche Fragen zu fehlen. Neuwirth geht so weit, mehreren koranischen amṯāl eine ‚entallegorisierende‘ Pointe zu attestieren. 47 Diese korrespondiert mit dem Fehlen eines kathartischen Moments durch den geringen Spannungsauf‌bau und die diskursive, stets bereits kommentierende Erzählform der Parabeln im Koran. Festzuhalten bleibt vor allem, dass der im Koran beanspruchte „Gattungsbegriff“ maṯal auf frühere rhetorische und exegetische Traditionen auf‌baut und somit Wissen voraus setzt. Es wird kein ‚eigener‘ arabischer oder koranischer Gleichnisdiskurs entwickelt, sondern die Einführung des Begriffs gibt sich durch die intertextuelle Sinnebene bereits als Wissenstransfer zu erkennen.

45 Der Weinberg selbst ist das biblische Symbol für Israel. 46 Zu einer Interpretation des Gleichnisses siehe auch Neuwirth, Text der Spätantike, S. 506 und Schmidt, „The Language of the Arabs“, S. 80f. 47 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 508.

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… in der arabischen Philologie — Die Tugend des pointierten Sprechens In der frühislamischen Philologie wird der Terminus maṯal ebenfalls als einer der ersten technischen Begriffe entwickelt, allerdings mit einer signifikant anderen Bedeutung als im Koran. Maṯal bedeutet während der ersten Jahrzehnte arabischer Schriftgelehrsamkeit nicht ‚Gleichnisrede‘, sondern zunächst vorrangig ‚Sprichwort‘ oder ‚Weisheitsspruch‘. 48 Bereits während Abū ʿUbaidas Schaffenszeit wächst sich der Begriff maṯal mit der Bedeutung von ‚Sprichwort‘ zu einer eigenen Textgattung aus, die zudem in einer der ersten wissenschaftlichen Zeugnisse in Buchform, dem Kitāb al-Amṯāl, gipfelt. 49 Nahezu alle bekannten Philologen der Bildungsstätten Kufa und Basra sind im Fihrist Ibn an-Nadīms auch als Kompilatoren von Sprichwortsammlungen benannt. 50 In dem ersten vollständig erhaltenen und vermutlich bereits als syngramma 51 konzipierten Kitāb al-Amṯāl von Abū ʿUbaid al-Qāsim ibn Sallām, einem Schüler Abū ʿUbaidas, findet sich eine Definition des Begriffs: [Die Sprichwörter] sind die Lebensweisheiten der Araber (ḥikmat al-ʿarab) in der Heidenzeit und im Islam. Sie benutzen sie als Nebenweg im sprachlichen Ausdruck; und sie erreichen mit ihnen, was sie beim Sprechen ausdrücken wollen, durch indirekten, nicht direkten Ausdruck. Sie gewinnen damit dreierlei auf einmal: die Kürze des Ausdrucks (īǧāz al-lafẓ), das genaue Treffen des Gemeinten (iṣābat al-maʿnā) und die Schönheit des Vergleichs (ḥusn at-tašbīh). 52

Der im Koran entwickelte Begriff der ‚Parabel‘ und das hier definierte ‚Sprichwort‘ haben eine gemeinsame Basis in einem Element des sprachlichen Vergleichs. Noch vor der Differenzierung der verschiedenen Formen und Bedeutungsebenen der Me48 Bereits für Aristoteles, dessen Abhandlung über die Sprichwörter nicht erhalten ist, waren die Sprichwörter (paroimía, wörtlich: Nebenrede) ganz ähnlich wie die Weisheitssprüche des Alten Testaments „alle menschlichen Katastrophen überdauernden Weisheiten“. In der spätantiken Rhetorik wird das Sprichwort von den benachbarten Formen, der Gnome und dem Apophthegma unterschieden und sowohl als Form der inventio, der illustratio als auch der argumentatio diskutiert. Das Sprichwort habe sowohl ästhetische, als auch dialektische und rhetorische Relevanz. Es ist ebenso Teil des Sprachgebrauchs einer Kultur, wie es literarische Kunstform sein kann. Als eine syntaktisch-semantische Kurzform und rhetorisches Stilelement ist das Sprichwort in den verschiedensprachigen Philologien des Altertums ein früher Gegenstand gewesen. Die Beschäftigung mit Sprichwörtern steht nicht nur, wie bereits erkannt in „Sanskrit, Hebrew, Germanic and Scandinvian“, sondern auch in der arabischen Tradition ganz am Anfang der Entwicklung der Philologie als Wissenschaft. (Zu den Belegen siehe Eintr. „Proverb“, in: Encyclopedia of Poetry and Poetics, hg. von Alex Preminger, Princeton 1966, Bd. 3, S. 680.) 49 Sellheim, Eintr. „Mathal“, in: EI², Bd. 6, S. 821: „In no other branch of classical Arabic Literature can beginning, development and termination be demonstrated as clearly as in its amthāl branch.” 50 Ibn an-Nadīm, Fihrist, Bd. 1, S. 54. 51 Siehe Gregor Schöler, „Transmission of the Sciences Revisited“, in: The Oral and the Written in Early Isam, hg. von James Montgomerey, übers. von Uwe Vagelpohl, New York 2006, S. 45. 52 Zitiert in Rudolf Sellheim, Die klassisch-arabischen Sprichwörtersammlungen insbesondere die des Abū ʿUbaid, Gravenhage 1954, S. 9.

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tapher in der Rhetorik 53 benannte Abū ʿUbaid die Schönheit des Vergleichs/die Metaphorizität (ḥusn at-tašbīh) als einen Aspekt des maṯal, da viele der überkommenen Sprichwörter — wie auch die mešālīm des salomonischen Proverbienbuchs 54 — Ver­ gleichsmomente enthalten. Abū ʿUbaids Definition des maṯal als ḥikmat al-ʿarab ist nicht zuletzt aufgrund seiner Assoziation des Sprichwortes mit dem Begriff der Weisheit (ḥikma) bemerkenswert. Der Begriff, der in der altarabischen Dichtung kaum geläufig ist 55 und im Koran nicht die Tugend der Weisheit, sondern eine epistemische Fähigkeit zur Einsicht in transzendentales Wissen benennt, 56 scheint hier nun auch die Bedeutung des Weisheitsspruchs zu assoziieren, der allerdings eine ganz andere epistemische Dimension besitzt als das im Koran verwendete prophetische Gleichnis. 57 Literaturanthropologisch betrachtet ist der Weisheitsspruch eine Gattung, die als „kleinste literarische Einheit“ sozial ableitbar ist, das heißt, einen gesellschaftlich geteilten Wert oder Regelkanon reflektiert. 58 Im alt‌testamentlichen Proverbienbuch ist diese ethische bzw. soziale Generalisierbarkeit der Weisheitssprüche verknüpft mit ihrer Funktion der moralischen Belehrung, die James G. Williams als Ordnung generierendes Prinzip beschreibt: „Wisdom is dedicated to articulate a sense of order. The world is viewed as an order informed by a system of retributive justice.“ 59 Williams zufolge erscheint die Welt im dem weisen Prediger Salomo zugeschriebenen Proverbienbuch als ein System der Ordnung — ausgehend davon, dass Gott die Welt „mit Weisheit“ (be-khokmā) geschaffen habe —, die allerdings nicht mühelos erkannt werden kann, sondern im Gegenteil: Das beschränkte menschliche Erkenntnisvermögen lasse die Welt als Irrgarten erscheinen. Lediglich durch die Sprache sei dem Menschen ein Werkzeug zur Erkenntnis und Imitation der göttlichen Ordnung gegeben: „It is through speaking that relationships are established, by which man can give meaning to the world.“ 60 Die „beste Sprache“ ist der Weisheitsspruch selbst. Die Wiederholung des Spruches bzw. bereits dessen kontemplative Vergegenwärtigung bewirkt eine erlösende Regeneration von Ordnung und Orientierung. Auf die Befolgung, das heißt Umsetzung der Weisheitslehren werde demzufolge von den 53 Siehe dazu Kapitel 1 ab S. 1 und Kapitel 4 ab S. 93. 54 Vgl. Kugel, How to Read the Bible, S. 507. 55 Vgl. Alfred Bloch, „Zur altarabischen Spruchdichtung“, in: Westöstliche Abhandlungen, hg. von Fritz Meier, Wiesbaden 1954, S. 180ff. 56 Vgl. Q 2:123 und 231, Q 3:75, Q 4:57 und 113, Q 33:34. 57 Siehe James D. Williams, „Proverbs and Ecclesiastes“, in: The Literary Guide to the Bible, hg. von Robert Alter und Frank Kermode, London 1987, S. 262–282. 58 Zu den arabischen Übersetzungen griechischer Gnomologien siehe Dimitri Gutas, Greek Wisdom Literature in Arabic Translation. A Study of the Graeco-Arabic Gnomologia, New Haven, Connecticut 1975. Auch die auf die großen antiken Philosophen Pytagoras, Sokrates, Platon und Aristoteles zurückgeführten Weisheiten sind „an expression, and therefore a reflection, of the cultural attitudes of a whole age“, deren „main interest lies in the ethical content.” (Vgl. Gutas, Wisdom Literature, S. 3). 59 Williams, „Proverbs and Ecclesiastes“, S. 263. 60 Ebd., S. 264.

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Weisen und Lehrern sogar weniger Wert gelegt als auf die Bewahrung und Wiederholung der Weisheiten selbst. 61 Die Drohung des Sprachverlustes oder — schlimmer noch — des undeutlichen, Verwirrung stiftenden Sprechens, wird in den salomonischen Weisheitslehren zum Beispiel mit dem Bild einer reizvollen, doch verworfenen Frau verknüpft, deren erotische Lockung ebenso wie der unbedachte Umgang mit Sprache in die moralische Verirrung führe. 62 Williams sieht ein Element der Gattung in einem ethischen Imperativ der Selbstdisziplin und einem besonderen Gehorsam gegenüber Autorität, zu allererst den Eltern und den Lehrern, welche die Weisheiten (d. h. das kosmische Wissen) überliefern. „Wisdom has no systematic view of the human self, but the individual is seen as a complex order held in check and guided by wisdom.“ 63 James Kugel betonte statt der sozialanthropologischen und ethischen Grundsätze der Weisheitslehre deren besondere Erkenntnisform, die sich in der literarischen Gestalt des māšāl widerspiegle: „Part of the skill involved in being a sage was the ability to take a complex idea and stick it into the six or seven words that the mashal typically comprised.“ 64 Diese rhetorische Fähigkeit, erlangtes Wissen in der komprimierten und pointierten Form eines Spruchs zu vermitteln, liefert eine Begründung für den geforderten Respekt gegenüber der Autorität des weisen Lehrers und schlägt sich zudem in der Forderung einer besonderen hermeneutischen Anstrengung von Seiten des „Schülers/Hörers“ nieder. Der Weisheitsspruch gibt den Sinn der versprachlichten Erkenntnis nicht Preis, sondern er erfordert den „Blick in die Tiefe“, d. h. das Durchdringen der sprachlichen Oberfläche, ehe die volle Bedeutung verständlich wird. Altorientalisches Erbe der arabischen Sprichwortsammlungen? Da das Kitāb al-Amṯāl Abū ʿUbaids eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der arabischen Philologie in eine auf Schrift zugreifende Wissenschaft spielt, wird der Text im folgenden Kapitel noch einmal ausführlicher diskutiert. Die Definition des maṯal-Begriffs in der Einleitung des Kitāb al-Amṯāl genügt hier zunächst, um zu zeigen, dass das maṯal in der mit Abū ʿUbaida zeitgenössischen Philologie eine „literarische Kurzform“ 65 beschreibt, die als besonders aussagekräftig für die soziale 61 Williams, „Proverbs and Ecclesiastes“, S. 264. 62 Ebd., S. 264f. 63 Ebd., S. 265. 64 Kugel, How to Read the Bible, S. 507. 65 Das Sprichwort ist in der Encyclopedia of Poetry and Pragmatics folgendermaßen definiert: „Proverbial subjects favor customs, superstitions, legal maxims, blasons populaires, weather and medical lore, conventional phrases and prophecies.“ Dass der Begriff maṯal ebenfalls in der Dichtungskritik zu den ersten „technischen“ Begriffen zur Klassifizierung literarischer Formen aus dem Themenkreis der Metapher gehörte und in der Rhetorik des 10. und 11. Jahrhunderts eine zentrale Stellung innerhalb literaturtheoretischer, poetologischer und exegetischer Werke einnahm, soll hier zunächst nur angemerkt werden.

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und linguistische Semantik der Araber vor dem Islam erkannt wird. Die besondere Qualität des Sprichworts, die „Pointiertheit“ (īǧāz) seines Ausdrucks, wird nicht nur als eine rhetorische, sondern auch als eine moralische Qualität dargestellt. So ist in Abū ʿUbaids Sprichwortsammlung das erste und umfangreichste Kapitel dem Sprechen selbst gewidmet. Innerhalb dieses Kapitels finden Sprichwörter Platz über das Schweigen, 66 über Aufrichtigkeit und Lüge oder über hässliches Geschwätz. 67 Zum einen hängt die Priorisierung der Sprache in den thematisch gegliederten Kapiteln sicher mit dem Inhalt der Sprichwörter selbst zusammen, in denen pragmatische und ethische Aspekte von menschlicher Kommunikation eine zentrale Rolle spielen. In der Selbstbezüglichkeit der Sprichwörter erkennen wir die Bedeutung von sachlich korrekter und pointierter Rede als Attestat nicht nur hoher Bildung, sondern auch moralischer Aufrichtigkeit. Zahlreiche Sprichwörter thematisieren den Antagonismus von Lüge und Wahrhaftigkeit etwa hinsichtlich ihrer sozialen Konsequenzen. Daneben ist es vor allem das wohl überlegte Sprechen gegenüber dem überflüssigen, gedankenlosen Geschwätz für welche viele Sprichwörter einstehen. So wird dem Schweigenden Weisheit attestiert, davor gewarnt, dass selbst der Freund in der Not zum Lügner werde 68 und man einen Menschen nicht nur nach dem Inhalt, sondern auch an der Form seines Sprechens beurteilen müsse. Auch in der altarabischen Dichtung 69 sind vereinzelt Verse eingestreut, die die Sprache und das Sprechen in ganz ähnlicher Weise thematisieren. Alfred Bloch hat diese „gnomischen“ Sequenzen in der altarabischen Dichtung hinsichtlich ihrer formalen und inhaltlichen Abgrenzung von der bzw. Integration in die qaṣīda erarbeitet und einen potenziellen Einfluss der arabischen „Spruchdichtung“ von griechischen Gnomologien ins Feld geführt. 70 In zahlreichen situativ und personal eigentlich konkret referenziellen Gedichten fallen 66 Al-Qāsim ibn Sallām Abū ʿUbaid, Kitāb al-Amṯāl, hg. von ʿAbd al-Maǧīd Qaṭāmiš, Damaskus 1980, S. 55. 67 Ebd., S. 43. 68 Ebd., S. 58. 69 Bloch, „Spruchdichtung“. 70 Wir lesen dort: „Das Schlimmste, was ein Mann sagen kann, ist, dass er lügt“ (la-šarru mā qāla mruʾun an yakḏiba), „die beste Rede sind wahre Worte“ (wa-ḫairu l-qauli ṣādiqatu l-kalāmi), „die schlimmste Rede ist die lügenhafteste“ (wa-šarru l-qauli akḏabuhu), „die besten Worte des Fremden sind ja die wahren“ (wa-ḫairu aḥādīṯi l-ġarībi ṣadūquhā), „die beste Rede ist ja die, welche nicht als Lüge erwiesen werden kann“ und „die beste Rede ist ja die wahrste, und die Wahrheit findet ja bei den Verständigen Aufnahme.“ Stets geht aus den Forderungen der Aufrichtigkeit und der Schmähung der Lüge ein sozialer Aspekt hervor, denn: „Das beste Wissen ist das, welches nützt“ (inna ḫaira l-ʿilmi mā nafaʿa). Das Wissen (al-ʿilm) oder die Wahrheit (as-ṣidq) sind Werte zur Stabilisierung sozialer Strukturen, die — vermutlich besonders in der mündlich kommunizierenden und überliefernden Gesellschaft — als ethische Grundbedingung gelten und gegenüber anderen Tugenden einen gewissen Vorrang besitzen, der sich in den Superlativen „das Schlimmste“ oder „das Beste“ zum Beispiel in den oben zitierten Spruchversen Gehör verschafft. Die „wahre“ Rede referiert demzufolge nicht auf eine abstrakte oder kategorische Wahrheit, sondern „wahr“ ist eben die, der Situation angemessene, die pointierte Rede, die ohne Abschweifung und unmissverständlich als „nützlich“ rezipiert wird. (Vgl. zu den Versen Bloch, „Spruchdichtung“, S. 180f.)

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solche „gnomischen Sequenzen“ auf, die eine abstrakte Tugend oder einen abstrakten Frevel, zum Teil ohne ersichtliche Notwendigkeit, artikulieren. Die Kardinaltugend der „Spruchdichtung“ ist ebenfalls die verbindliche Wahrhaftigkeit der Rede. Das Sprichwort und die in der altarabischen qaṣīda in Form generalisierender Tugenden eingeflochtenen Spruchsequenzen 71 haben diese Hochachtung gegenüber wahrhaftiger, pointierter Rede gemeinsam. Die amṯāl genannten arabischen Sprichwörter stehen insofern im Dienst der Stabilisierung sozialer Norm und ethischer Bildung. … in frühen Korankommentaren — Ambiguität als Problem In den Texten der „formativen Phase“ der Koranexegese, etwa im Tafsīr Muqātil, findet sich der maṯal-Begriff wiederum mit der ‚koranischen‘ Bedeutung der Parabelrede, an der sich Glaube und Zweifel scheiden. So erscheint der Begriff etwa in einer Ibn ʿAbbās zugeschriebenen Liste im tafsīr Muḥammad al-Kalbīs: muḥkam: nāsikh, ḥalāl, ḥarām, ḥudūd, farāʾiḍ, mā yuʾmanu bihi wa-yuʿmalu bihi; mutašābih: mansūḫ, muqaddam wa-muʾaḫar, amthāl, aqsām, mā yuʾmanu bihi wa-lā yuʿmalu bihi. 72 muḥkam: Abrogierendes, Erlaubtes, Verbotenes, Gesetze, Definitionen, Glaubensin­ halte, die praktiziert werden. mutašābih: Abrogiertes, syntaktische Umstellungen, Gleichnisse, Schwüre, Glaubensinhalte, die nicht praktiziert werden.

In Ibn ʿAbbās’ Liste gehört maṯal neben abrogierten Versen, syntaktischen Anomalien, Schwüren und nicht-praktizierten Glaubensgrundsätzen zu den ambivalenten Aspekten der Offenbarungsschrift. Eine ähnliche Aussage findet sich in der Einleitung zum Tafsīr Muqātil: Fī l-Qurʾāni […] amṯālun ḍarabahā llāhu — ʿazza waǧalla — li-nafsihi wa-amṯālun ḍarabahā li-l-kāfiri. 73 (Im Koran sind Gleichnisse, mit denen Gott — erhaben ist er — sich selbst beschreibt und Gleichnisse, mit denen er den Ungläubigen beschreibt. 74) Das maṯal ist hier ein Begriff, der mit dem Merkmal der Ambiguität in Verbindung steht. Allerdings scheint diese Ambiguität des Gleichnisses, da der Begriff in den Listen im frühen tafsīr in einer Reihe mit grammatischen und rhetorischen Sonderformen und ethischem Fehlverhalten steht, eher als negatives Charakteristikum zu gelten. Von dem „Machtsymbol“ der Propheten, das dem neutestamentlichen und koranischen Gleichnisbegriff zugrunde lag, ist hier nicht die Rede.

71 Bloch, „Spruchdichtung“, S. 180f. 72 Zitiert in Versteegh, Grammar and Exegesis, S. 106. 73 Ebd. 74 Ebd. (Dort mit englischer Übersetzung)

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Zusammenfassend muss bemerkt werden, dass der Begriff maṯal im Frühislam eine offenkundige Ambiguität besitzt. Während er im Koran als selbstreferenzieller Begriff eingeführt wird, der eine intertextuelle Verbindung zu biblischen Formen der Gleichnisrede reflektiert, bedeutet er in der entstehenden Philologie Sprichwort oder Weisheitsspruch. Während der koranische Gebrauch des Begriffs auf die biblische Bedeutung gleichnishafter Rede für die Verkündigung prophetischen Wissens reagiert, scheint die philologische Beschäftigung mit dem Begriff und mit der Gattung des maṯal auf die bereits in altorientalischen Weisheitssammlungen enthaltende Episteme eines Ordnung generierenden Konzepts von Sprache zurück zu gehen, für welches der Spruch formal und inhaltlich, etwa durch die Verurteilung der Lüge, einsteht. Indem in der Philologie die Pointiertheit (īǧāz al-lafẓ) des Sprichwortes als sein zentrales Merkmal betont wird, wird das maṯal als „literarische Kleinform“ herausgegriffen, deren Wert in der Fokussierung zentraler sozialer Tugenden besteht. 75 … im philologischen Korankommentar Maǧāz al-Qurʾān? In Maǧāz al-Qurʾān herrscht die ‚philologische‘ Bedeutung von maṯal als dem arabischen Sprichwort vor. Ein typtisches Beispiel für den Gebrauch des Begriffes in Maǧāz al-Qurʾān ist die Glosse zu Q 7:85: Wa-lā tabḫasū n-nāsa ašyāʾahum (7:85), maǧāzuhu: lā taẓlimū n-nāsa ḥuqūqahum wa-lā tanquṣūhā. Wa-qālū fī l-maṯali: naḥsabuhā ḥamqāʾa wa-hīya bāḫisatun ai ẓālimatun. 76 Haltet nicht zurück, was den Leuten zusteht (7:85), seine Bedeutung ist: Betrügt die Leute nicht um ihre Rechtsansprüche und verringert sie nicht. Man sagt im Sprichwort: Wir halten sie [zwar] für dumm, dabei [ist] sie geizig 77 (bāḫisa), das heißt: betrügerisch (ẓālima).

In diesem und auch anderen Beispielen für die Verwendung des Begriffs maṯal in Maǧāz al-Qurʾān dient das angeführte Sprichwort bzw. die als maṯal bezeichnete sprichwörtliche Redensart als Belegstelle für eine sprachliche Form bzw. für die Legitimierung einer angebotenen inhaltlichen Paraphrase. 78

75 Die Korankommentare des 8. Jahrhunderts nehmen insofern eine Zwischenstellung zwischen beiden Traditionen ein, als dort sowohl die „profane“ Bedeutung des maṯal als Sprichworts als auch die religiöse, mit den epistemischen oder didaktischen Besonderheiten prophetischer Rede assoziierten Bedeutung der Parabel zu finden sind. 76 Maǧāz I, S. 219. 77 Genauer: „vorenthaltend“. 78 Weitere Beispiele sind: „Malakūt al-samāwāt (6:75), ai mulk as-samāwāt, ḫaraǧat maḫraǧ qaulihim fī l-maṯali: rahabūt ḫair min raḥamūt, ai: rahbatun ḫair min raḥmatin.“ Und: „Fa-raddū aidiyahum fī afwāhihim (14:9), maǧāzuhu maǧāz al-maṯal, wa-mauḍiʿuhu mauḍiʿ kaffū ʿammā

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Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān

Da die meisten Koranverse, in denen der Begriff maṯal als selbst- bzw. textreferenzieller Hinweis auf die spezifische Gattung des prophetischen Gleichnisses vorkommt von Abū ʿUbaida bei der kursorischen Kommentierung ausgelassen werden, können wir annehmen, dass die mit dem koranischen terminus technicus besonders hervorgehobene hermeneutische Errungenschaft der prophetischen Gleichnisrede den Philologen nicht interessierte bzw. dass die Parabel keine klärungsbedürftige „Anomalie“ der koranischen Sprache für ihn darstellte. Das maṯal korrespondiert mit keiner der in der Einleitung zum Kommentar aufgelisteten „Formen des maǧāz“ (min maǧāz mā…). Eine Ausnahme von der üblichen Handhabung des Begriffs im philologischen Kommentar mit der Bedeutung des Sprichwortes stellt das folgende Beispiel dar, in dem Abū ʿUbaida einen Vers paraphrasiert, der eine Verbindung des Begriffs maṯal mit dem Verb ḍaraba (prägen) enthält. Abū ʿUbaida zitiert nur einen Ausschnitt des Verses: wa-tilka l-amṯālu naḍribuhā li n-nāsi (29:43), maǧāzuhu hāḏihi l-ašbāhu wa-nnaẓāʾiru naḥtaǧǧu bihā, yuqālū: (i)ḍrib lī maṯalan[!]. Qāla l-Aʿšā hal taḏkuru l-ʿahda fī Tanammuṣa iḏ // taḍribu lī qāʿidan bihā maṯalā 79 Diese Gleichnisse (amṯāl) prägen Wir für die Menschen (29:43), die Bedeutung ist hier Homonyme und Synonyme, von denen Wir [in unserer Rede] Gebrauch machen. Man sagt: Präge mir ein Gleichnis 80 (maṯal). 81 al-Aʿšā sagt: Erinnerst du dich an die Zeit in Tanammuṣ, als // du dort stehend ein Gleichnis prägtest. 82

Der Begriff maṯal wird hier mit der generellen Ausdrucksvielfalt der (göttlichen) Rede in Verbindung gebracht. Gott macht in seiner Rede Gebrauch von unterschiedlichen Stilformen, etwa von Homonymen und Synonymen. Das Begriffspaar al-ašbāh wa-l-naẓāʾir kommt in Abū ʿUbaidas Kommentar nur an dieser Stelle vor und hat dementsprechend (noch) keinen technischen Status, sondern bezeichnet vermutlich vielmehr sämtliche kommunikativen Stilmittel. Insofern ist auch mit dem Gleichnis (maṯal) keine spezifisch rätselhafte Sprache gemeint, die einen „allegorischen“ Sinn hinter dem Wortsinn erkennen lassen würde. Der Begriff scheint keine spezifische Episteme (etwa das der Weisheitslehre zugrunde liegende Ordnung generierende Prinzip oder die prophetische Rede in Gleichnissen) zu implizieren. Dass Abū ʿUbaida an einem etwaigen allegorischen oder metaphorischen Gehalt parabolischer Rede kein Interesse zeigt, wird besonders deutlich, wenn er die einumirū bi-qaulihī min al-ḥaqqi wa-lam yuʾminū bihī wa-lam yuslimū, wa-qāla: radda yaddahu fī famihi, ay amsaka iḏā lam yuǧib.“ 79 Maǧāz II, S. 116. 80 Oder: „Gib mir ein Beispiel!“ 81 Maǧāz II, S. 116. 82 Oder: „Als du mir ein Sprichwort nanntest.“

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zelnen Elemente eines koranischen Gleichnisses ungeachtet deren Metaphorizität analytisch segmentiert und linguistisch paraphrasiert. Zum Beispiel wird in Sure 14, Vers 24–26 das „gute Wort“ (al-kalima ṭ-ṭaiyiba) mit einem hohen, fest verwurzelten und reichen Ertrag bringenden Baum verglichen. Dahingegen das „schlechte Wort“ (al-kalima al-ḫabīṯa) einem Baum gleicht, der welkt und schließlich abstirbt. 83 Da der metaphorische Vergleich in der Sure wiederum mit der metakommunikativen Stellungnahme angekündigt wird: „Präge ihnen ein Gleichnis (maṯal)“ (Vers 24), liegt es nahe — ebenso wie im Gleichnis der Bewohner der Stadt 84 — nach einem biblischen ‚Intertext‘ zu suchen. Diesen finden wir in einem Psalm (1:3), in dem zur Beschreibung des „guten Menschen“ das Bild eines sehr ähnlich beschriebenen Baumes beigebracht wird. 85 Angelika Neuwirth spricht hier wiederum von einer bewussten Korrektur des im Psalm überhöhten Menschenbildes. 86 Die Entallegorisierung des ehemals mythisch aufgeladenen biblischen und im Koran zu einem moralischen Vergleich ‚abgeschwächten‘ Bildes nimmt in Abū ʿUbaidas Paraphrase beinahe karrikierende Züge an. Er zitiert wiederum nur einen Teil des Verses: tuʾtī ukulahā 87 kulla ḥīnin (14:25), ai tuḫriǧu ṯamarahā, wa l-ḥīnu hāhunā sittatu ašhurin au naḥwa ḏālika. 88 [der Baum], der seine Speise gibt zu jeder Jahreszeit (14:25), das heißt: der seine Frucht bringt, mit der Zeit sind hier ungefähr sechs Monate gemeint.

Nicht nur löst der Philologe die Bestandteile des Gleichnisses einzeln heraus und erklärt die Begriffe auf rein lexikalischer Ebene; er gibt zusätzlich den außertextuellen Hinweis auf die Dauer der Reifezeit der im Koranvers angesprochenen Früchte an diesem Baum. Wir haben zusätzlich Grund, von einer bewussten Entmetaphorisierung der koranischen Gleichnisse (mit biblischer Herkunft) zu sprechen, wenn wir das folgende Beispiel für die Interpretation eines koranischen Gleichnisses in Maǧāz al-Qurʾān ansehen. wa-lau annamā fī l-arḍi min šaǧaratin aqlāmun wa-l-baḥru yamudduhu min baʿdihi sabʿatu abḥurin mā nafidat kalimātu llāhi (31:27), maǧāzu l-baḥri hāhunā l-māʾu l-ʿaḏbu, yuqālu: rakibnā hāḏā l-baḥra wa-kunnā fī nāḥiyati hāḏā l-baḥri ai fī r-rīfi li-anna l-milḥa fī l-baḥri lā yunbitu l-aqlāma, „yamudduhu min baʿdihi“ ai min ḫalfihi ai yasīlu fīhi sabʿatu abḥurin, wa-maǧāzuhu maǧāzu l-muḫtaṣari llaḏī fīhi

83 Zu einem Kommentar zu diesem Gleichnis siehe Neuwirth, Text der Spätantike, S. 504. 84 Siehe S. 184–185. 85 Auf die Analogie zwischen dem koranischen Gleichnis und dem Bild im Psalm weist Neuwirth hin. Siehe Text der Spätantike, S. 504f. 86 Siehe ausführlich ebd. 87 Mit der gängigen Variante bei Sezgin: uklahā. 88 Magāz I, S. 340.

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Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān

ḍamīrun, sabīluhu: 89 fa-kutiba kitābu llāhi bi-hāḏihī l-aqlāmi wa-bi-hāḏihī l-buḥūri mā nafida kitābu llāhi. 90 Wenn alles, was es auf der Erde an Bäumen gibt, Schreibrohre wären, und das Meer (als Tinte), nachdem es erschöpft ist, sieben Meere als Nachschub erhielte, würden die Worte Gottes nicht zu Ende gehen (31:27). Die Bedeutung von ‚Meer‘ ist hier ‚Süßwasser‘. Man sagt: Wir fuhren auf diesem Meer und hielten uns in der Gegend dieses Meeres auf, das heißt (eigentlich), auf dem Land; denn das Salz im Meer lässt keine ‚Rohre‘ (aqlām) wachsen. „Dem Meer (nachdem es erschöpft ist) kommen (sieben Meere) nach (yamudduhu)“, das heißt: hinter ihm her. Das heißt: es fließen sieben Meere hinein. Die formale Besonderheit (maǧāz) ist die des verkürzten Satzes, in dem ein verborgenes Element steckt; explizit würde das heißen: 91 Würde das Buch Gottes mit diesen Bäumen/Schreibrohren (aqlām) und diesen Meeren geschrieben, so würde das Buch Gottes nicht erschöpft (voll beschrieben).

Statt einer Deutung der Aussage des Verses, bietet der Philologe auch hier explikative Paraphrasen zu den einzelnen Lexemen (das Meer, die Bäume) an. Diese Technik fällt im Sonderfall eines Verses, dessen Signifikanz gerade auf der metaphorischen Ebene zu suchen ist, als eigenwillig, wenn nicht gar karrikierend auf. Die Passage zeigt beispielhaft den Umgang Abū ʿUbaidas mit koranischer Metaphorik. Notwendig wird die Umdeutung von „Meer“ in „Süßwasser“ aufgrund des außertextuellen Wissens darum, dass die aqlām, nämlich eine spezifische Baumart, nicht im Salzwasser wachsen würde. Nur durch die literale Identifikation der aqlām mit Bäumen, die wahrhaftig zum Schreiben des Buches Gottes dienen sollen, wird die Hypothese über im Salz- oder Süßwasser wachsende Pflanzen erforderlich. Der metaphorische Gehalt des Verses wird dabei gänzlich ignoriert. 92 Lediglich in einem Beispiel für den maṯal-Begriff in Maǧāz al-Qurʾān erkennen wir eine Thematisierung des metaphorischen Elements der Vergleichsgegenstände. Es bezieht sich auf einen der koranischen Verse, die einen einfachen sprachlichen Vergleich zwischen Gläubigem und Ungläubigem mit dem Begriff maṯal beschreiben. Der Vers 11:24 lautet: maṯalu l-farīqaini ka-l-aʿmā wa-l-aṣammi wa-l-baṣīri wa-s-samīʿi hal yastawiyāni maṯalan. Der Vergleich der beiden Gruppen ist wie der zwischen dem Blinden und Tauben mit einem Sehenden und Hörenden. Gleichen die beiden einander?

89 In der Ausgabe al-Maziyadīs hier stattdessen: sīluhu. 90 Maǧāz II, S. 128. 91 Wörtlich: Sein Weg ist (…). 92 Neben der literalen Deutung des koranischen Bildes ist die stillschweigende Änderung des Philologen von dem Wort Gottes (kalimāt allāh) am Versende in die Schrift Gottes (kitāb allāh) in seiner Paraphrase bemerkenswert.

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In fünf weiteren Versen 93 des Korans wird die „rhetorische Standardfrage nach der Gleichheit eines Rechtgeleiteten und eines Ungläubigen“ 94 zu einem solchen maṯal genannten Vergleich ausgebaut. 95 Koranische amṯāl wie diese geben sich weder als Rekonfigurationen biblischer Vorgänger zu erkennen, noch haben sie an einem Diskurs um eine etwaige allegorische Deutung teil. Anders als in den bisherigen Beispielen, welche die Bedeutung des Begriffs als ‚Sprichwort‘ belegen oder eine rein lexikalische Ausdeutung der koranischen Gleichnisse beinhalteten, bietet Abū ʿUbaida nun folgende Glosse: Maǧāzuhu: maṯalu l-kāfiri wa-huwa l-aʿmā llaḏī lā yubṣiru l-hudā wa-l-ḥaqqa wa-lā amra llāhi wa-in kāna yanẓuru. Wa-huwa l-aṣammu llaḏī lā yasmaʿu l-ḥaqqa wa-lā amra llāhi wa-in kāna yasmaʿu bi-uḏunihi. 96 Seine Bedeutung ist: Der Vergleich des Ungläubigen. Er ist der Blinde, der die Rechtleitung und die Wahrheit und das Gebot Gottes nicht sieht (yubṣiru), selbst wenn er sehen kann (yanẓuru) und er ist der Taube, der die Wahrheit und das Gebot Gottes nicht hört, wenn er auch mit dem Ohr hören kann.

Für diese Differenzierung zwischen physischer Sicht und dem Sehen als metaphorischem Ausdruck für das Verstehen nutzt Abū ʿUbaida die Verben abṣara und naẓara. Dieselbe Unterscheidung betrifft das Hören mit dem physischen Ohr und das „Wahrnehmen der Wahrheit und Gottes Gebot“ als kognitive Leistung. Worauf Abū ʿUbaida hinweist, ist nicht eine künstlerisch geschaffene sprachliche Metapher und auch nicht eine Besonderheit prophetischer Rede, sondern ein sprachlicher Sonderfall, ähnlich den Formen von Personifizierungen im Koran. Im Hinblick auf die Zentralität des Begriffs maṯal sowohl im Koran, als auch in der arabischen Philologie erscheint es wahrscheinlich, dass Abū ʿUbaida beide Bedeutungen und Kontexte bewusst verhandelt. Insbesondere bei dem Umgang mit koranischen amṯāl mit signifikanter intertextueller Dimension fällt Abū ʿUbaidas literale (lexikalische) Ausdeutung der koranischen Gleichnisse auf. Wir können sie als ein Argument nicht nur für eine bewusste „Entallegorisierung“ der koranischen Sprache, sondern auch einer „Entbiblisierung“ des koranischen Wissens beschreiben. In dem spätantiken Denkraum, den wir im 2. Kapitel dieser Arbeit als heuristischen Kontext zum Verständnis von Maǧāz al-Qurʾān skizziert haben, ist die Haltung zu ‚allegorischer‘ oder ‚literaler‘ Interpretation eines der zentralen Themen religiöser Hermeneutiken. Maǧāz al-Qurʾān als ein Beispieltext für den arabisch-islamischen Hermeneutikdiskurs um die Wende zwischen 8. und 9. Jahrhundert scheint allegorische Interpretation des Korans bewusst zurückzuweisen. Das Ausblenden der für 93 In Q 13:16, Q 13:19, Q 16:76, Q 35:19 und Q 40:58. 94 Neuwirth, Text der Spätantike, S. 506. 95 Die Frage hal yastawiyāni maṯalan wird auch in Q 39:29 gestellt. 96 Magāz I, S. 287.

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Verwendung von termini technici in Maǧāz al-Qurʾān

den koranischen maṯal-Diskurs virulenten intertextuellen Dimension können wir als eine solche allegoresespezifische Stellungnahme werten. Insbesondere die Bedeutung der Vorgängerreligionen für die rhetorischen Strategien und literarischen Figuren des Korans wird durch Abū ʿUbaidas literale Behandlung des maṯal-Begriffs nivelliert. Zusammenfassung der Interpretationstechniken Schließen wir unsere in den Kapiteln 4 und 5 gemachten Beobachtungen an den Interpretationstechniken des philologischen Korankommentars mit einer Zusammenfassung ab: Grundsätzlich liest Abū ʿUbaida den musḥaf als Dokument einer historischen Kommunikationssituation und ist darum bemüht, die gesprochene Sprache der Araber vor dem Islam als Kontext zum auszulegenden Text zu rekonstruieren. Hierfür verweist er neben (dialektalen) Lesevarianten vereinzelt auf Sprichworte, Prophetensprüche und vor allem auf Verse der altarabischen Dichtung. Statt ‚narrativer‘ Passagen gibt der Philologe Auskunft über Sitten und historische Ereignisse der vorislamischen Zeit. Diese schmucklos wiedergegebenen Kontexte haben allerdings eher den Charakter von Andeutungen. Der Kommentar bleibt angewiesen auf außertextuelles Wissen, das vermutlich bei der Entstehung des Maǧāz mündlich vervollständigt wurde, bwz. das auf einen geteilten Wissenshorizont des Exegeten und seines ‚Publikums‘ schließen lässt. Auch der selektive, in weiten Teilen analytische Zitationsstil legt nahe, dass die in der „Schrift“ Maǧāz al-Qurʾān enthaltenen koranischen Glossen kommunikativ, zum Beispiel durch ergänzende Rezitation, vervollständigt wurden, auch da sich — etwa in der der ausführlichen Besprechung des Begriffs rabīb — die Paraphrasen gar nicht immer auf die zitierten Glossen, sondern den erweiterten, in den schriftlichen Lemmata nicht abgebildeten Verskontext beziehen. Ebenso gilt für die Hinweise auf die Dichtung, dass diese nicht streng auf ihren exegetischen Wert beschränkt bleiben, sondern manchmal eine assoziative Anhäufung verwandter (oder aber akustisch ähnlicher) Verse und Redeweisen anstoßen. Wir sind an keiner Stelle des Kommentars darauf verwiesen, dass die „Koransprache“ für Abū ʿUbaida eine besondere Sprache — etwa durch ihren göttlichen Urheber — sei, sondern die — in der Einleitung artikulierte — Emphase der Offenbarung in der ‚Sprache der Menschen‘ ist, etwa durch eine ‚fehlende‘ Hierarchisierung von Dichtung und Koran, im Kommentar durchgesetzt. Die Priorität des Grammatischen in Abū ʿUbaidas Paraphrasen hat uns zu der Vermutung geführt, dass eine Funktion des philologischen Unterrichts und Kommentierens darin bestand, Fehlern in der Rezitation des Koran vorzubeugen. Die Aussagen einzelner Grammatiker und Philologen, Abū ʿUbaida selbst habe Fehler bei der Koranrezitation gemacht, widerlegen diese Deutung nicht, sondern bestätigen vielmehr, dass die korrekte Rezitation des Korans eine Herausforderung — vielleicht gerade

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für die nicht-arabischen Muslime und unter ihnen auch für die Gelehrten — war. Insbesondere der wiederholte Hinweis auf numerusspezifische ‚Anomalien‘ und die Wiederholung stereotyper Formulierungen und wiederholter Belegverse (12:82 für die Ellipse, 12:4 für die Personifikation) lassen die didaktischen Ziele des Kommentierens erahnen. Neben der Kontextabhängigkeit des Kommentars und diesen Wiederholungen spricht die Tatsache, dass viele koranische Lemmata nicht wirklich deutungsbedürftig sind für die Annahme einer Situiertheit des Kommentars in der Lehre. Denn überraschend ist die Einfachheit der beigebrachten Beispiele — etwa der metaphorische Vergleich zwischen sehen und wissen, oder Personifizierungen. Dahingegen reicht in denjenigen Beispielen, da Abū ʿUbaida Verse kommentiert, deren Signifikanz primär auf einer metaphorischen Ebene liegt, die Beschreibung des Kommentars als „einfache“, an gewöhnlichem Sprachgebrauch orientierte Hermeneutik nicht aus. Im Hinblick auf ein etwaiges ‚religionspolitisches‘ Programm des philologischen Korankommentars ist vor allem die Ausblendung biblischer Kontexte für den Verständnishorizont des Korans auf‌fällig. Insbesondere die Beispiele für koranische Textpassagen, welche theologische Pointen — oft im Hinblick auf das Wissen der monotheistischen religiösen Gemeinschaften und ihre heiligen Texte — enthalten, scheint der Philologe eine bewusste ‚Ent‌theologisierung‘ bzw. ‚Entbiblisierung‘ des Korans zu betreiben. Allerdings lassen nur sehr vereinzelt Argumente des Philologen theologische Hintergründe erahnen, die zum Beispiel auf das kontrovers diskutierte Verhältnis Gottes zu seinen „Attributen“ schließen ließe. Diese Hinweise sind bei Weitem zu spekulativ, um eine weltanschauliche Haltung Abū ʿUbaidas von ihnen abzuleiten.

6. Schriftgebrauch und Buchkultur Nachdem wir in den vorausgegangenen Kapiteln vorrangig die Techniken, Begriffe und Argumente im philologischen Korankommentar selbst untersucht haben, um genauere Vorstellungen von dem Sitz im Leben des Kommentars, dem inaugurierten Textbegriff und den Zielen des Exegeten zu bekommen, werden in diesem Kapitel Teile des historiographischen Wissens über Abū ʿUbaida und die frühe arabische Philologie referiert. Dabei werden der Gebrauch und die Funktion von Medien bei der sich wissenschaftlich etablierenden arabischen Philologie in den Fokus gerückt. Welche Rolle spielt Schrift für die Ausdifferenzierung sprachwissenschaftlicher Disziplinen? Wie hängt die Etablierung der sprachbezogenen Wissenschaften mit den Transferprozessen der arabischen Gesellschaft insgesamt zusammen? Und schließlich: Ist der Transfer dieser Gesellschaft von einer vorrangig mündlichen in eine in Teilen schriftlich kommunizierende Gesellschaft auch ein Transfer der Episteme 1 der Schrift?

6.1 ‚Graphophobie‘ und ‚Bibliophilie‘ der arabischen Philologen Wir finden in der im 11. Jahrhundert von dem Historiker al-Ḫaṭīb al-Baġdādī zusammengestellten Taʾrīḫ Baġdād zwei Anekdoten, die dasselbe Ereignis aus zwei unterschiedlichen Perspektiven darstellen. Abū ʿUbaida und sein Kollege und Rivale al-Aṣmaʿī berichten beide, an den Kalifenhof Hārūn ar-Rašīds berufen worden zu sein, um dort ihre semantischen Lexika über Pferde (al-ḫail) vorzustellen. Wie zu erwarten ist, stellen die Berichte der beiden rivalisierenden Philologen dieses Zusammentreffen mit unterschiedlichem Ausgang dar. Al-Aṣmaʿī und Abū ʿUbaida sind jedoch nicht nur darauf bedacht, die eigene Person und Erkenntnisse über Pferde gegenüber dem jeweils anderen hervorzuheben, sondern die beiden Philologen geben in ihren Berichten auf subtile Weise ihre Haltung zu den Inhalten und Methoden ihrer philologischen Arbeit preis. Abū ʿUbaida berichtet, wie al-Aṣmaʿī ein leibhaftiges Pferd vorführen ließ, um die gesammelten Begriffe und poetischen Belegverse am lebendigen Tier anschaulich zu machen. 2 Gegenüber seinem exzentrischen Kollegen tritt Abū ʿUbaida in dieser Anekdote als ein Gelehrter auf, den der Kalif konsultiert, um über die Korrektheit der Inszenierung al-Aṣmaʿīs zu urteilen. Die Anekdote, welche das Ereignis aus der Perspektive Abū ʿUbaidas schildert, scheint die Diskreditierung al-Aṣmaʿīs zu be1 Zu den Begriffen Episteme und Transfer siehe unten S. 213 und S. 215. 2 al-Ḫaṭīb al-Baġdādī, Taʾrīḫ Baġdād, Bd. 13, S. 256.

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Schriftgebrauch und Buchkultur

zwecken, denn der Philologe, der zwar durch die imposante Demonstration seines Wissens am lebenden Tier zu beeindrucken sucht, beherrscht — nach der Ansicht seines Rivalen — den Gegenstand der Philologie, die Dichtung, nur ungenügend. Andernorts berichtet nun al-Aṣmaʿī aus seiner Perspektive über dasselbe Ereignis: Ich und Abū ʿUbaida kamen vor al-Faḍl ibn Rabīʿ. Der sagte: „O Aṣmaʿī, wie viele Bände hat dein Buch über Pferde?“ Ich sagte: „Einen Band.“ Er fragte Abū ʿUbaida und er sagte: „50 Bände.“ Also befahl er [der Wesir], beide Bücher zu holen, dann bestellte er ein Pferd und sagte zu Abū ʿUbaida: „Lies dein Buch Wort für Wort und lege deine Hand auf das Pferd, Schritt für Schritt (Platz nach Platz)“. Abū ʿUbaida sagte: „Ich bin doch kein Tierarzt! Was ich schreibe ist etwas, was ich hörte und von den Arabern nahm und kompilierte (allaftuhu).“ Der Wezir sagte zu mir: „O Aṣmaʿī, steh auf und lege deine Hand auf das Pferd, einen Teil nach dem anderen.“ Ich stand auf, streckte meine Unterarme und Beine aus, dann sprang ich hoch, um die Ohren des Pferdes zu erreichen, dann legte ich meine Hand auf seine Stirnlocke und fuhr fort, einen Teil nach dem anderen zu berühren und sagte: „Das Wort für dies ist so und so weiter“, und rezitierte darüber, bis ich bei seinen Hufen ankam. [Der Wezir] befahl, dass ich das Pferd bekommen sollte und wann immer ich Abū ʿUbaida ärgern wollte, besuchte ich ihn, darauf reitend. 3

In beiden Anekdoten wird die Skepsis al-Aṣmaʿīs gegenüber der schriftlichen Darlegung der ʿarabīya deutlich. Der Gelehrte, dessen monumentales und unfehlbares Gedächtnis zahlreiche Berichte beschwören, „dismissed the book per se as a detour and distraction from tangible reality.“ 4 Hatte der Kalif in Abū ʿUbaidas Erzählung den Wunsch geäußert, das Buch der Pferde von seinem Autor „zu hören“, 5 d. h. wohl über dessen Inhalt unterrichtet zu werden, steht in Aṣmaʿīs Darstellung die absurde Forderung, Abū ʿUbaida möge die fünfzig Bände über das Pferd „Wort für Wort“ (ḥarf bi-ḥarf) vortragen. Abū ʿUbaida seinerseits widersetzt sich der Auf‌forderung des Wezirs, seine Kenntnis über die Eigenschaften des Pferdes am lebenden Objekt zu demonstrieren und stellt damit nicht nur seine Unabhängigkeit von der höfischen Autorität zur Schau, sondern liefert eine interessante Information über den Inhalt des von ihm so detailliert zusammengestellten Lexikons: Es enthalte nämlich Ausdrücke, die er bei den Arabern gehört habe. Er selbst habe lediglich die schriftliche Niederlegung des Wortschatzes über das Pferd zustande gebracht. Mit anderen Worten: Zwischen der Sprache der Araber, wie sie Abū ʿUbaida zu Ohren gekommen ist und ihm selbst, der diesen Wortschatz bereits aus der Distanz wahrnimmt und beschreibt, steht ein Medium: das Buch. Die Kontroverse zwischen Abū ʿUbaida und al-Aṣmaʿī ist verschieden deutbar. Wir bemerken etwa die unterschiedliche Haltung der beiden Philologen zu der höfischen 3 al-Ḫaṭīb al-Baġdādī, Taʾrīḫ Baġdād, Bd. 12, S. 162. 4 Gründler, Book Culture before Print, S. 15. 5 al-Ḫaṭīb al-Baġdādī, Taʾrīḫ Baġdād, Bd. 13, S. 256.

Soziale und materiale Voraussetzungen der arabischen Philologie

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Autorität des Wesirs/Kalifen. Während Abū ʿUbaida — in der ersten Variante — seine philologische Autorität durch sachliche Kompetenz im Umgang mit der Dichtung begründet, triumphiert al-Aṣmaʿī in seiner Version aufgrund seines Charmes und Improvisationsvermögens. Mehrere Anekdoten berichten von ihm nicht nur als einem Gelehrten konkurrenzloser Gedächtniskapazität, sondern auch als einem Mann, der seinen gesellschaftlichen Rang durch Anpassung an einen höfischen Habitus zu fördern wusste. 6 Dem gegenüber wird Abū ʿUbaida als ein sittenloser, ungepflegter, übel riechender Mann porträtiert, der nicht nur Lastern frönte, sondern der auch in Gelehrtenkreisen durch Missachtung von Konventionen in Verruf geraten sei. 7 Nicht um die vermeintliche oder tatsächliche Feindschaft der beiden Gelehrten aufzuarbeiten, werden die Anekdoten hier zum Anlass neuen Nachdenkens über die frühe arabische Philologie und Abū ʿUbaidas Werk genommen, sondern weil an den formulierten Widersprüchen Brüche in der wissenschaftlichen Tradition sichtbar werden, die für das ausgehende 8. und frühe 9. Jahrhundert ausschlaggebend sind und die berücksichtigt werden müssen, um den Umgang des Philologen Abū ʿUbaida mit den unterschiedlichen, für die arabische Literatur konstitutiven Texten zu verstehen:

6.2 Soziale und materiale Voraussetzungen der arabischen Philologie (1) Ab etwa dem Jahr 750 wurde im Zuge der Ausweitung der arabischen Handelswege Papier aus Zentralasien in das arabische Reich importiert und in den Bildungszentren gebräuchlich. Anders als das in der Herstellung zeitraubende und kostenintensive Pergament oder der Papyrus, ermöglichte der Gebrauch von Papier den Rückgriff auf Schrift als eine Form der Bewahrung, Verwaltung, Vermittlung und Organisation von Wissen für ein viel breiteres öffentliches Publikum. 8 Zur Zeit des Zusammentreffens Abū ʿUbaidas und al-Aṣmaʿīs in Bagdad, gab es vermutlich bereits eine Mühle zur Herstellung von Papier in der Stadt. 9 (2) Mit den Verwaltungs- und Münzreformen zur Zeit des Kalifen ʿAbd al-Malik ibn Marwān im ausgehenden 7. Jahrhundert löste die arabische Sprache das Griechische und Persische als Verwaltungssprache des islamischen Reichs ab. Eine Voraussetzung für diese Maßnahme war die Festlegung einer sprachlichen Norm

6 Vgl. die Literaturangaben bei Gründler: Luġawī, Marātib, 46–65; as-Sīrāfī, Aḫbār, 45–52; al-Baġdādi, Taʾrīḫ Baġdād, Bd. 12, S. 157–169. 7 Sezgin, „Muqaddima“, S. 12ff. 8 „History of the Book in the Muslim World“, in: The Oxford Companion to the Book, hg. von Michael F. Suarez und H. R. Woudhuysen, Oxford 2010, Bd. 1, S. 38. 9 Der Gouverneur al-Faḍl al-Barmakī soll während seiner Amtszeit 178/794 im Stadt‌teil al-Qazz in Bagdad eine Papiermühle bauen lassen haben, siehe Eintr. „Kāghad“, in: EI², Bd. 4, S. 419.

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Schriftgebrauch und Buchkultur

und die Kodifizierung der arabischen Sprache. 10 Die Entstehung von wissenschaftlichen Disziplinen, die um den Gegenstand der arabischen Sprache kreisen — neben der Grammatik und Lexikographie auch die Literaturkritik, frühe Formen der Geschichtsschreibung und die Koranexegese — folgte der kommunikativen Notwendigkeit einer einheitlichen und regelhaft festgeschriebenen Sprache zur Verwaltung des wachsenden Reiches nicht zwangsläufig nach, sondern sie ist ebenso Teil einer arabischen Identitätskonstruktion, die die Sprache ins Zentrum einer arabischen Selbstidentifizierung und zum Mittelpunkt intellektueller Beschäftigung machte. 11 Leicht lassen sich weitere historische Ereignisse und Prozesse, wie (3) die Einführung des Buchkodex, (4) die Etablierung von arabischsprachigen Schreibschulen mit der Einbindung spezialisierter Schreiber (kuttāb), Buchhändler und Produzenten 12 und (5) die neue Bewertung bzw. Konstruktion der sozialen Rollen des Religionsgelehrten (ʿālim), des Dichters (šāʿir) und der Überlieferer (ruwāt), in den Vordergrund stellen. Rina Drory hat diese drei sozialen Gruppen, die an der Selektion und Transformation von Dichtung in einen schriftlichen ‚Kanon‘ in der Abbasidenzeit beteiligt waren, voneinander unterschieden und ihr Selbstverständnis und ihre Beziehung zueinander aus den historischen Quellen herausgearbeitet: Three groups competed for professional authority in dealing with pre-Islamic poetry: poets, transmitters and scholars. The received premise of most research on them posits a harmonious chronological sequence of the three agencies. The sequence begins with poets who compose the poetry and commit it to memory; it continues with transmitters, usually tribally affiliated (ruwāt), who take custody of the poetry and preserve it likewise by memorization; and concludes with scholars who gather the poetry from the various tribal transmitters and commit it to writing, editing it into Dīwāns and anthologies. I find this linear description of an automatic succession of stages too neat. 13

Den Prozess einer sukzessiven Ablösung der mündlichen von einer schriftlichen Tradition können wir, Drory zufolge, nicht als einen reibungslosen begreifen. Auch die wissenschaftshistorischen Untersuchungen Gregor Schölers unterstreichen den Eindruck, dass die Verschriftlichung der altarabischen und frühislamischen Literaturen keiner doktrinären Entscheidungsfindung folgte, sondern dass mündliche und schriftliche Überlieferung ebenso wie mündliche und schriftliche Gelehrsamkeit simultan und in Abhängigkeit voneinander fort existierten. 14 Zudem lässt die 10 Zur Errungenschaft der Kodifizierung des Arabischen als Voraussetzung für die Justizreform siehe Bauer, Ambiguität, S. 226ff. 11 Die Gegenüberstellung der Begriffe „Kommunikationsbedürfnis“ und „Bildungsprinzip“ folgt John Wansbrough, Quranic Studies, S. 89. Siehe auch Kapitel „2.4 Koranphilologie im spätantiken Denkraum?“ (S. 54). 12 Zu deren Unterscheidung siehe Beatrice Gründler, „Arabic Script“, in: EQ, Bd. 1 (A–D), S. 142 mit dem Hinweis auf Ibn Durustawaih. 13 Drory, „Construction of the Jahiliyya“, S. 36. 14 Schöler, „The Transmission of the Sciences in Early Islam“, in: Oral and Written, S. 46ff.

Intellektuelle und gesellschaftliche Kontroverse um Buch und Verschriftlichung

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Komplexität des gesellschaftlichen Panoramas in der frühen Abbasidenzeit an einer einfachen Gegenüberstellung Mündlichkeit-Schriftlichkeit Zweifel auf‌kommen. Drorys Analyse mehrerer historiographischer Anekdoten stellt die Veränderungen in der Überlieferung der Dichtung vielmehr als einen „Kampf um die Autorität über die Vergangenheit“ dar. In diesem Sinne hätten die Dramatis Personae (die Dichter, Überlieferer und Gelehrten) der Abbasidenzeit nicht nur die Tradition einer Vergangenheit bewahrt und unter veränderten medialen Voraussetzungen fortgesetzt, sondern die Texte und ihre Kontexte (die ǧāhilīya) ebenso „konstruiert“.

6.3 Intellektuelle und gesellschaftliche Kontroverse um Buch und Verschriftlichung Die Kontroverse um das neue Medium des Buches ließe sich in der Tat als ein Argument für die Reibungsfülle, nicht Reibungslosigkeit dieses Prozesses anführen. Leicht kann der oben dargestellte Disput zwischen Abū ʿUbaida und al-Aṣmaʿī um viele weitere Anekdoten ergänzt werden, die den umstrittenen Status des neuen Mediums aufzeigen. Der Gelehrte und Lehrer Abū ʿUbaidas und al-Aṣmaʿīs Abū ʿAmr ibn al-ʿAlāʾ soll etwa auf seinem Sterbebett den Wunsch geäußert haben, alle Mitschriften seiner Lehre sollen verbrannt werden. 15 Dass beim Tod des kufischen Grammatikers al-Farrāʾ hingegen unter dessen Kopf ein Buch (das Kitāb Sībawaih) gefunden worden sein soll, 16 ist ebenso aussagekräftig. Eine erste ausführlich formulierte Stellungnahme zum Buch in Form einer überschwänglichen Huldigung finden wir eine Generation nach Abū ʿUbaida. Al-Ǧāḥiẓ widmete in seinem monumentalen Kitāb al-Ḥayawān ein Kapitel den „Vorzügen des Buches“ (faḍl al-kitāb). 17 Das Buch wird dort mit einer Vielzahl von positiven Eigenschaften beschrieben. Es heißt dort, das Buch führe die Menschen zur Religion, es erleichtere die Organisation des Staatshaushaltes durch die Leichtigkeit seines Transports und sein geringes Gewicht. 18 Neben diesen praktischen Qualitäten, die vor dem Hintergrund der politischen Situation durchaus nachvollziehbar erscheinen, weist das Buch in al-Ǧāḥiẓ’ Darstellung ‚ethische‘ Vorzüge auf. Es sei etwa verschwiegen, objektiv und treu. Bei näherem Hinsehen vergrößere das Buch die Wissbegier des Lesenden, statt sie zu sättigen. Das Buch sei zudem ein aufrichtiger Freund, ein zurückhaltender Gast und ein ausgezeichneter Lehrer. Denn durch das Schreiben verfeinert der Mensch seinen Ausdruck und seine Motorik und gelangt schließlich durch das Buch zu einer „Vervollkommnung seiner natürlichen Begabun15 Schöler, „Writing and Publishing in Early Islam“, in: Oral and Written, S. 70. 16 Schöler, „Transmission of the Sciences“, S. 50. 17 al-Ǧāḥiẓ, Kitāb al-Ḥayawān, hg. von Muḥammad Hārūn, 1965, Band 1, S. 50–56. Siehe auch den Katalog zur Ausstellung der Bibliotheca Albertina Ein Garten im Ärmel (Juli — Sept. 2008), hg. von Verena Klemm, Leipzig 2008. 18 al-Ǧāḥiẓ, Kitāb al-Ḥayawān, S. 52.

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Schriftgebrauch und Buchkultur

gen“. 19 Wir erkennen hier bereits ein Bewusstsein für die epistemische Dimension der Schrift und des Buches. Das Buch in al-Ǧāḥiẓ’ Huldigung übernimmt nicht nur eine gesellschaftliche Vorbildrolle, sondern wirkt auch auf die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen ein. Es ist insofern weit mehr als ein praktisches Hilfsmittel und Informationsträger. Auch in anderen Bereichen der Literatur wird das Buch schnell zum literarischen Topos und Schrift wird sogar mit mythischen Eigenschaften versehen: In der Sīra erfahren wir — später auch in Ibn Qutaibas ʿUyūn al-aḫbār —, dass der Prophet Idrīs der erste Mensch gewesen sei, der mit dem Schreibrohr schrieb und zudem der erste, der Stoffe webte, um diese als Kleidung zu tragen. Zuvor hätten die Menschen sich in Häute gekleidet. 20 Schrift wird auch hier mit Fortschritt assoziiert. Die Verbindung von der Handschrift (al-ḫaṭṭ) mit dem Weben (al-ḫāṭ) von Stoffen könnte gar als eine Anspielung auf die Verbindung von Text und Handwerk im griechischen Begriff der techné gelesen werden. Zahlreiche Sprichwörter und Gedichte über die Schreiber und Utensilien des Schreibens bezeugen die hohe Aufmerksamkeit, die dem Medium Schrift geschenkt wurde. 21 Den Preisungen des Buches und den Konstruktionen eines Schrift-Mythos gegenüber stehen andere literarische Topoi, die das besondere Prestige der mündlichen Kommunikation und Überlieferung betonen. Dazu gehören die Belobigungen des monumentalen Gedächtnisses des Philologen al-Aṣmaʿī 22 ebenso wie der stets durch seine sprachliche Eloquenz gekennzeichnete Beduine (al-aʿrābī), der sich gegen die Verschriftlichung seines Wortschatzes zur Wehr setzt. 23 Auch in der gelehrten Beschäftigung mit Sprache blieben Vorbehalte gegenüber schriftlich dargelegtem Wissen lange bestehen. Trotz des ‚Durchbruchs‘ der Schrift blieb im 8. und 9. Jahrhundert die direkte mündliche Überlieferung Prüfstein der Authentizität. Die Mündlichkeit des Wissens war Garant für die Glaubwürdigkeit eines Philologen, der generell gesprochen auf die Wahrnehmung einer „discrepancy between ideal and reality or between theory and practice“ 24 schließen lässt. Wissen, das aus Büchern allein gewonnen wurde, konnte man nicht vertrauen: „Impelled by general expecation, scholars pretended to have received their entire knowledge through „heard“/„audited“ transmission in personal contact with their teachers.“ 25

19 al-Ǧāḥiẓ, Kitāb al-Ḥayawān, S. 55. 20 Ibn Hišām, Sīra, Bd. 1, S. 1 und Ibn Qutaiba, ʿUyūn al-aḫbār, hg. von Carl Brockelmann, Berlin 1900, S. 41. (al-kuttāb wa-l-kitāba). 21 Z. B. Ibn Qutaiba, ʿUyūn al-aḫbār, S. 43. 22 Siehe zum Beispiel die über ihn gemachten Aussagen in Muḥammad ibn al-Ḥasan az-Zubaidī, Ṭabaqāt an-naḥwīyīn, Bd. 3, S. 184ff. 23 Siehe auch Sara Binai, Die Figur des Beduinen in der arabischen Literatur: 9.–12. Jahrhundert, Wiesbaden 2009. 24 Schöler, „Writing and Publishing“, S. 70. 25 Ebd.

Intellektuelle und gesellschaftliche Kontroverse um Buch und Verschriftlichung

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Das Festhalten an dem Prestige der mündlichen Lehre, die auch in al-Aṣmaʿīs Haltung in den oben zitierten Anekdoten erkennbar ist, ist sicher Teil des Kampfes um den Geltungs- und Besitzanspruch auf die arabische Dichtung und die Verfügbarkeit einer arabischen Vergangenheit, wie sie Drory beschreibt. Es würde aber zu kurz greifen, die mündliche Wissensvermittlung hier als konservative, den modernistischen, auf Schrift zugreifenden Tendenzen der Gelehrsamkeit widerstehenden Wissensvermittlung zu charakterisieren. Vielmehr weisen die Haltung und Überzeugungsstrategie al-Aṣmaʿīs in den Anekdoten ebenfalls ‚voraus‘ auf das in der Abbasidenzeit entwickelte Konzept des höfischen, sowohl der Unterhaltung als auch der Bildung verpflichteten Gelehrten und dem mit ihm verbundenen Bildungskonzept des adab. 26 Im Hinblick auf den Erfolg des Philologen durch Improvisation und gelehrte Unterhaltung seines Gönners (des Wesirs/Kalifen) können wir al-Aṣmaʿī — ebenso wie Abū ʿUbaida angesichts seiner Befürwortung des Einsatzes von Schrift — als einen ‚Reformer‘ überkommener Begriffe von Autorität und Wissen bezeichnen. Viele historische Berichte über die Bedeutung von Büchern in der frühen Abbasidenzeit vermitteln uns den Eindruck einer Gesellschaft in einer Art Fortschritts-Euphorie. Bei der Verwaltung eines zunehmend unübersichtlichen Reiches erwies sich der Buchkodex als nützlich und unverzichtbar. 27 Der Kalif Hārūn ar-Rašīd selbst soll den Gebrauch von Papier, statt dem im Westen der arabischen Welt gebräuchlichen Papyrus, 28 angeordnet haben. Dies mit der ebenfalls technisch-bürokratisch anmutenden Begründung, dass auf dem Papier, anders als auf dem Papyrus Informationen nicht mehr auslöschbar seien. 29 Der prägnanteste Gegenpol zu dieser an ‚Fortschritt‘ und bürokratischer Optimierung orientierten Perspektive auf das Buch im frühen 9. Jahrhundert, besteht in der Bedeutung des Buches für den religiösen Ritus, aber auch in der konservativen Zweckbestimmung der wissenschaftlichen Schriften selbst. Lexika wie das Kitāb alḪail von Abū ʿUbaida dienten der Bewahrung des Wortschatzes in einer rasanten sozialen und politischen Veränderungen unterworfenen arabischen Sprachkultur. Dabei veränderte sich die altarabische Dichtung, so die Pointe Drorys, „from a living

26 Zum Konzept des adab siehe den Sammelband On Fiction and Adab in Medieval Arabic Literature, hg. von Philip Kennedy, Wiesbaden 2005. Und S. Bonebakker, „Adab and the Concept of Belles Lettres“, in: The Cambridge Companion to Arabic Literature, hg. von Julia Ashtiany u. a., Cambridge 1990, S. 16–30. 27 Siehe Schöler, „Writing and Publishing“ und auch Sebastian Günther, „Praise to the Book! Al-Jahiz and Ibn Qutayba on the Excellence of the Written Word in Medieval Islam“, in: Franz Rosenthal Memorial Volume, hg. von Yohanan Friedmann, Jerusalem 2006. (= JSAI 31), S. 125–143. 28 Al-Ǧāḥiẓ berichtet, Papier habe im Osten dieselbe Bedeutung wie Papyrus im Westen. Siehe Cl. Huart und A. Grohmann, Eintr. „Kāghad“, in: EI², Bd. 4, S. 419 mit Literaturhinweis. 29 Ebd.

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tradition, perpetually reconstituting ancient works in light of the exigencies of the present“ zu „archival documents, representing the tableau of a distant past.“ 30

6.4 Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der frühen Abbasidenzeit Diesem Prozess des Transfers der lebendigen, mündlichen Tradition verschiedener, variabler Texte, die konkrete Sitze im Leben in der vorislamischen Gesellschaft besaßen, zu differenzierten Texten, die von der Hand von Spezialisten niedergeschrieben und in ihrer Form festgelegt wurden, wollen wir in diesem Kapitel genauer nachgehen. Der Transfer von mündlicher Lehre zu schriftlicher Philologie, von kommunikativer Dichtung zu „archivierten“ Quellen und die damit verbundenen Autoritätskonstruktionen begreifen wir als reziproke kommunikative Formen, die die arabisch-islamische Gesellschaft allererst konstituieren. Wir legen damit ein Konzept von Gesellschaft zugrunde, das sich auf Formen der Kommunikation konzentriert, wie es (auch) von dem Soziologen Niklas Luhmann entwickelt wurde. Hier wird Gesellschaft als eine Einheit vorgestellt, die „weder objektiv, noch subjektiv, noch sozial ableitbar“ 31 ist, sondern die sich als ein komplexes Gefüge aus unterschiedlichen Formen von Kommunikation generiert. Die Komponenten der Kommunikation setzen einander wechselseitig voraus; sie sind zirkulär verknüpft. Sie können daher ihre Externalisierung nicht mehr als Eigenschaften der Welt ontologisch fixieren, sondern müssen sie im Übergang von einer Kommunikation zur anderen jeweils suchen. 32

Dieses Gesellschaftskonzept setzt eine wesensmäßige Verwobenheit der historisch oft singulär beschriebenen Strukturen der Religion und Politik, Ökonomie und Sozialverhältnissen voraus, denn die Strukturen und Institutionen innerhalb einer Gesellschaft sind „semantische Formen“, über die eine Gesellschaft sich autopoietisch konstruiert. 33 Aufgrund der zentralen Setzung von Kommunikation für die Konstruktion von Gesellschaft spielen auch für Luhmann die dabei genutzten Medien eine wichtige Rolle. Luhmanns Reziprozitäthypothese impliziert, dass der Übergang von 30 Drory, „Construction of the Jahiliyya“, S. 49. 31 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, Bd. 1, S. 72. 32 Ebd. 33 Das autopoietische Moment in Luhmanns Gesellschaftstheorie suggeriert, dass alle in einer Gesellschaft stattfindende Kommunikation sich nur innerhalb eigens durch die Gesellschaft selbst abgesteckter Rahmen abspiele. Der aus der Biologie entlehnte Begriff der Autopoiesis, schiebt den metaphorischen Vergleich einer Kultur mit einem Organismus unter, der sich auf scheinbar natürliche Weise von einer als „anders“ wahrgenommenen Umwelt abhebt und der ebenso natürliche, organisch gewachsene Hierarchien in seinem Innern aufweist. So überspitzt dargestellt wird eine aus der Globalgeschichte Oswald Spenglers des frühen 20. Jahrhunderts bekannte und durch Samuel Huntington erneut popularisierte Geschichtsschreibung, den meisten Wissenschaftshistorikern heute als Anachronismus erscheinen.

Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der frühen Abbasidenzeit

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Mündlichkeit zu Schriftlichkeit ebenso wenig einen bloßen technischen Fortschritt in der Evolution einer Kultur darstellt, wie die Verschriftlichung einer zuvor mündlich tradierten Literatur bloß die Fortsetzung derselben Kommunikation in einem anderen, komplexeren Medium ist, sondern Schrift verändert die Teilhabe an Kommunikation und vor allem die Möglichkeiten des Kommunizierens selbst. Luhmann hat das entscheidende Spezifikum von Schrift als ihre „Unterscheidungswirksamkeit“ beschrieben, die durch die „zeitliche und räumliche Entkopplung von Mit‌teilung und Verstehen“ und „die gewaltige Explosion von Anschlussfähigkeit“ 34 an schriftlich kommuniziertes Wissen entstehe. Während mündliche Kommunikation die Präsenz von Sprecher und Hörer in derselben historischen Zeit und demselben Raum voraussetze, stehe ein schriftlicher Text durch die Möglichkeit seines Transportes und seiner Lektüre in anderen Kontexten einem größeren und einem anonymen, vom Verfasser eines Textes nicht vorhersehbaren Publikum offen. Schrift „ermöglicht den Transport von Zeichen statt von Dingen. Sie arbeitet schneller und weniger energieaufwendig.“ 35 Vor allem aber werde, Luhmann zufolge, erst durch Schrift Meta-Kommunikation zu einer Option. Denn erst Schrift eröffne die Möglichkeit der Enthaltung von und des expliziten Hinweises auf kommunikative Absichten: „Textverweise und Kontextverweise müssen explizit eingeführt werden; und es gibt keine soziale Erwartung des unmittelbaren Übergangs zu aktiver Teilnahme, zu Gegenäußerungen oder auch nur zur Mit‌teilung des Verstandenhabens.“ 36 Auf diesem ‚harten Antagonismus‘ zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation beruht schließlich Luhmanns Postulat einer grundsätzlich unterschiedlichen Erzeugung von Bedeutung: Sinn ergebe sich in Schrift nicht aus der deiktischen Referenz eines Sprechers auf die Welt, sondern durch die „Differenz ihrer Zeichen“. Hieraus folgert er: „Mit der Einführung von Schrift wird die Zeichenhaftigkeit, die Worthaftigkeit, der Abstand der Worte, ihre Kombinatorik (Grammatik), kurz: der Abstand zur Welt, zum Problem.“ 37 Die Verheißung von Luhmanns Gesellschaftskonzept für die Beobachtung des sukzessiven Medienwechsels während der frühen Abbasidenzeit besteht darin, dass die Etablierung von wissenschaftlichen Disziplinen in arabischer Sprache, die Konkurrenz der Geltungs- und Deutungsansprüche über das vorislamische Erbe, der Kampf um Kompetenzen und Zuständigkeiten und die Ausdifferenzierungen der Texte selbst (etwa im Hinblick auf Gattungsunterschiede oder aber die semantische [deiktische, referenzielle o. a.] Reichweite der Dichtung) 38 als einander wechselseitig bedingende Elemente eines prinzipiell zusammengehörigen Prozesses aufgefasst 34 Luhmann, Gesellschaft, Bd. 1, S. 257. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Luhmann, Gesellschaft, Bd. 1, S. 256. 38 Diese Diskepanz ist wiederum deutlich an den Anekdoten über die Pferde-Lexika erkennbar. Der „Sinn“ der im Buch vom Pferd gesammelten Verse der Dichtung entsteht in Abū ʿUbaidas Darstellung nicht durch ihre Applikation auf eine von Sprecher und Hörer geteilte Wirklichkeit, sondern

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werden. Wir können mit dieser Vorannahme den Übergang von mündlicher zu teilweise schriftlich kommunizierender Gelehrsamkeit als ein zentrales Moment der sich neu formierenden und organisierenden arabisch-islamischen Gesellschaft herausgreifen, ohne dadurch zu suggerieren, dass die gesellschaftlichen Prozesse der Abbasidenzeit insgesamt durch diesen Medienwechsel erklärbar wären. Vielmehr soll der Fokus auf die mediale „Wende“ die Eingebundenheit der Philologie, ihrer Methoden und ihres Selbstverständnisses in die gesellschaftlichen Prozesse ihrer Zeit erweisen. Zu prüfen bleibt dabei aber, ob das von Luhmann ausschließlich an europäischen und vorwiegend modernen Schriftgebräuchen beobachtete Moment der „Unterscheidungswirksamkeit“ von Schrift tatsächlich auch für den Schriftgebrauch der arabischen Philologen zutreffend ist.

6.5 Mündlichkeit und Schriftlichkeit als kommunikative und epistemische Formen Denn obwohl Luhmanns Gesellschaftsbegriff für die Erforschung historischer gesellschaftlicher Prozesse in einer gemeinsamen, sich autopoietisch konstruierenden ‚Wissensoikonomie‘ 39 inspierend ist, ist gerade Luhmanns Perspektivierung von Schrift vielfach kritisiert worden. Eine kurze Zusammenfassung dieser Kritik soll hier den Auf‌takt für die Formulierung der Zielsetzung einer Untersuchung von Schrift als einer ‚Episteme‘ darstellen. Kritik am Kommunikationsmodell Im Anschluss an einen ‚Boom‘ der Erforschung der Kommunikationmodi der Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu dem auch Luhmanns Theorien gehören, zeichnete sich ab der Jahrtausendwende in den Literaturund Medienwissenschaften, der Philosophie und Linguistik ein Paradigmenwechsel in der Betrachtung der Schrift ab, der zunächst in einer Kritik an den gängigen Zuschreibungen von Schrift bestand. In Europa gingen Soziologen und Hermeneutiktheoretiker aufgrund der Verankerung in europäische Textmodelle grundsätzlich von einem phonographischen Schriftbegriff aus und reduzierten Schrift zudem

(vermutlich) durch den intertextuellen Bezug der Verse zueinander im (schriftlichen) Korpus. (siehe unten zum Begriff Episteme, S. 213f.). 39 Der Begriff der Wissensoikonomien wurde im Kontext der Arbeit am SFB 980 entwickelt. Zuerst gebraucht haben ihn — meines Wissens — Gyburg Uhlmann und Jürgen Renn. In der zweiten Förderphase des SFBs, d. h. ab Juli 2016 wird das Konzept der Wissensoikonomien in einer eigenen Konzeptgruppe stärker theoretisiert. Der Ansatz ist dem von Niklas Luhmann insofern ähnlich, als Wissensoikonomien als Räume reziproker Transferprozesse entwickelt werden sollen, die erst durch diese Transfers als ‚Einheiten‘ beschreibbar werden.

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auf die Funktion der Kommunikation, statt beispielsweise der Kognition. 40 In neu geschaffenen Forschungszentren, wie zum Beispiel dem Graduiertenkolleg Schriftbildlichkeit in Berlin, wird seither die bildhafte, diagrammatische oder „operationale“ Dimension von Schrift erforscht. Stellvertretend für diesen Diskurs ist unter anderen die Berliner Medienphilosophin Sybille Krämer. 41 Der Paradigmenwechsel in der Erforschung von Schrift in den europäischen Geisteswissenschaften hängt eng mit einer wechselnden Perspektive auf den Begriff des Textes selbst zusammen. Hatten die frühen, der klassischen Philologie oder Theologie nahe stehenden Hermeneutiker im deutschsprachigen Raum wie Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey unter Texten noch ausschließlich Überlieferung in Schrift verstanden, löste die existenzialphilosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers den Gegensatz von schriftlichem Text und dessen ‚Umwelt‘ weitgehend auf. 42 Die von Gadamer als Existenzial allen menschlichen Verstehens akzentuierte Figur des hermeneutischen Zirkels führte einen Zusammenhang von Tradition und stets erneuerter Interpretierbarkeit konstitutiver (literarischer) Texte vor Augen. In der Nachfolge der existenzialphilosophischen Hermeneutik konnte der Textbegriff in den europäischen und angelsächsischen Geisteswissenschaften allmählich auf alle Semantik erzeugenden Zeichensysteme ausgeweitet werden. So wurde in den modernen Literatur- und Medienwissenschaften fortan nicht nur von mündlich überlieferten Literaturen, sondern ebenso von Bildern, Fotografien, Comics, Filmen, Musikstücken oder sogar Landschaften und Bauwerken als Texten gesprochen. In den 90er Jahren erarbeitete Doris Bachmann-Medick die Metapher von „Kultur als Text“ programmatisch. Literatur, Texte, Filme, Medien sind Träger kultureller Darstellung und Kodierung, wie sie für Prozesse des Kulturtransfers entscheidend sind. Durch sie werden Traditionen und Überzeugungssysteme, Schlüsselsymbole und -praktiken sowie Fremd- und Selbstbilder ausgebildet und für die praktische interkulturelle Auseinandersetzung geradezu auf‌bereitet bzw. hierfür strategisch einsetzbar gemacht. 43

Die hier von Bachmann-Medick vorgeschlagene Näherung an den in der klassischen Hermeneutik problematischen Komplex der „Kultur“ über den Nachvollzug der „Objektivierung von Bedeutungen“ 44 in Text genannten Kommunikationsfor40 Vgl. Sybille Krämer, „‚Operationsraum Schrift‘ Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift“, in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hg. von Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer, München 2005, S. 23–61. 41 Siehe z. B. den Sammelband: Sybille Krämer, Horst Bredekamp und Eva Cancik-Kirschbaum (Hgg), Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin 2012. 42 Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2010. 43 Doris Bachmann-Medick, Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996, S. 8. 44 Ebd., S. 10.

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men, hat freilich auch einen politischen Akzent. Es geht Bachmann-Medick und den Kultur- und Literaturtheoretikern ihrer Generation — ganz ähnlich wie Niklas Luhmann — darum, die „Vorstellung von Kulturen als abgrenzbaren und homogenen Ganzheiten“ 45 abzulösen. Kultur sei stattdessen „das von den Mitgliedern einer Gesellschaft „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe, durch das Handlungen permanent in interpretierende Zeichen und Symbole übersetzt werden.“ 46 Mit der heute mit Bachmann-Medick assoziierten Ausweitung des Textbegriffs auf beinahe alle Bedeutung erzeugenden Zeichensysteme ging ein erhöhtes Interesse an den medialen Voraussetzungen von Kommunikation einher, das sich auch in der Beschäftigung mit den Komplexen Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Themen geisteswissenschaftlicher Forschung niederschlug. 47 Diese Entwicklung ist bis heute so weit fortgeschritten, dass Sybille Krämer und Horst Bredekamp ihrer Einführung in einen von ihnen 2003 herausgegebenen Band zu Bild, Schrift, Zahl bereits das kritische Resumée voranstellen: „Lange, vielleicht zu lange galt Kultur als Text!“ 48 Denn indem „Verfahren der Sprachanalyse und der Texthermeneutik zum beliebtesten Modell für das Verstehen kultureller Ordnungen avancierten“ wurde „[d]as Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit […] zum leicht adoptierbaren Spross geisteswissenschaftlicher Arbeit mit der Implikation, dass die Schrift als rein diskursives Phänomen, eben als phonographische Schrift gilt.“ 49 Die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit den Phänomenen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit der 70er bis 90er Jahre des 20. Jahrhunderts setzt demnach eine bestimmte Vorstellung von den Aufgaben und Funktionsweisen von Schrift voraus. Für sie sei Schrift „sichtbar gemachte und zugleich fixierte Sprache. Ihre Ordnung [sei] somit diskursiver Art.“ 50 An einem solchen, auf die Abstraktion und Argumentation beschränkten Schriftbegriff hat Sybille Krämer mehrfach Kritik geübt. 51 Die Arabistik hat sich in diese Debatten bisher kaum eingeschaltet. Zwar spielt die Erforschung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hier immer auch eine wichtige Rolle, allerdings steht sie oft im Dienst der historischen Untersuchung von Quellentexten, deren Datierung und Authentizität ermittelt werden soll. 52 Was aber 45 Bachmann-Medick, Kultur als Text, S. 12–13. 46 Ebd., S. 22. Diese Einsicht in die wechselseitige Beziehung von kulturellen Ordnungen und ihren „Texten“ hatte Folgen für die wissenschaftliche Arbeit selbst. Bachmann-Medick appelliert „nicht nur die Literaturwissenschaften, sondern die Geistes- bzw. Humanwissenschaften überhaupt“ sollten „als Kulturwissenschaften aus[gewiesen werden].“ 47 Repräsentative Publikationen sind z. B. Walter J. Ong, Orality and Literacy: The Technologizing of the Word; London 1982 und Jack Goody, The Power of the Written Tradition; Washington 2000, u. a. 48 Sybille Krämer und Horst Bredekamp (Hgg.), Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 12. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 158. 51 Z. B. Sybille Krämer, „‚Operationsraum Schrift‘“. 52 Ein prominentes Beispiel etwa ist die Frage nach dem Zeitpunkt der Verschriftlichung des Ibn ʿAbbās zugeschriebenen tafsīr. Hierzu z. B. Andrew Rippin, „Tafsīr Ibn ʿAbbās and the criteria for dating early Tafsīr texts“, in: JSAI 18 (1994), S. 38–83.

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unsere Betrachtungen der arabischen Philologie und des von ihr entwickelten bzw. gebrauchten Textbegriffs und den zum Einsatz gebrachten Medien angeht, ist Krämers Kritik trotzdem berechtigt. In den vergangenen Jahren wurde mehrfach auf den besonderen Textbegriff hingewiesen, der von dem oralen Entstehungs- und Traditionszusammenhang und von der Bedeutung des Korans im islamischen Kultus herrührt. Der schriftliche Koran ist vor der Einfügung von Vokallängen und Volldiakritisierung ein offener Text und die arabische Philologie toleriert die inhärente Mehrdeutigkeit des Schriftbildes nicht nur, sondern macht die Spielarten der Ambiguität zum Gegenstand ihrer Arbeit. Thomas Bauer attestierte der arabisch-islamischen Kultur eine spezifische „Ambiguitätstoleranz“. 53 Bereits Ignaz Goldziher hat auf die Lehre von den Lesarten des Korans und die lexikographische Technik der Sammlung von „Gesichtern“ (wuǧūh) des Korans als Merkmalen eines ausgesprochen offenen Textbegriffs hingewiesen. 54 Und Angelika Neuwirth kommentiert die Anfänge der korantext-kritischen Arbeit, für die Bauer den treffenden Begriff der „Ambiguitätszähmung“ verwendet, folgendermaßen: Die Mehrdeutigkeit des uthmanischen Konsonantentextes wurde im Laufe der nächsten Generationen, auch nach der Einführung der vollständigen Vokalisationsmittel, nicht etwa eliminiert, sondern im Gegenteil bewusst reflektiert, die verschiedenen Ergänzungsmöglichkeiten des Konsonantengerippes gesammelt, in ihren sprachlichen Bedingtheiten diskutiert und zu geschlossenen, gleichberechtigten Rezensionen ausgebaut. 55

Neuwirth folgert, dass „[d]er hier zutage tretende Textbegriff von dem uns geläufigen gänzlich verschieden“ 56 sei, da die arabischen Philologen nicht um die Rekonstruktion eines ursprünglichen Originals bemüht seien, sondern Form- und damit Bedeutungsvariation und -vielfalt des Textes von vorn herein akzeptierten. In Bezug auf die Arbeit der arabischen Philologie stellt sich die Frage, ob mit der Verschriftlichung des Sprachwissens tatsächlich eine Loslösung von mündlichen Kommunikationszusammenhängen einherging und Schrift somit ähnliche Konsequenzen für die kommunikativen Vorgänge gehabt hat, wie in Europa. Schrift als Bedingung der Möglichkeit von Sprachkritik Kehren wir noch einmal kurz zum Begriff der „Unterscheidungswirksamkeit“ zurück: Für Luhmann tritt erst mit dem Einsatz von Schrift die Unterscheidung von Formen und Gattungen innerhalb der überlieferten Texte in den Vordergrund: 53 Bauer, Ambiguität, S. 34. 54 Goldziher, Koranauslegung, S. 33ff. 55 Angelika Neuwirth, „Gotteswort und Nationalsprache. Zur Motivation der frühen arabischen Philologen“, in: Forschungsforum. Berichte aus der Otto-Friedrich-Universität Bamberg 2, Bamberg, 1990, S. 23. 56 Ebd.

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Das wohl wichtigste Instrument der Konsistenzpflege ist (paradoxerweise) die Einführung von Unterscheidungen. Also die Verringerung der Konsistenzzumutungen. Schrift ist in hohem Maße unterscheidungswirksam. Darauf beruht ihre semantische Effektivität. Darauf beruht die begriff‌liche Typisierung einzelner Worte, ferner eine Tradition, die Sinn über Abgrenzungen, Einteilungen, Kategorien, Arten und Gattungen reduziert. 57

Diese Ermöglichung eines kritischen Zugangs zu Kommunikation durch deren schriftliche Niederlegung wurde in mehreren Wissenschaften und auch für die arabische Philologie geltend gemacht. So betonte etwa der Religions- und Koranwissenschaftler William A. Graham: „Writing and more especially alphabetical literacy, made it possible to scrutinize discourse in a different kind of way by giving oral communication a semi-permanent form; this scrutinity favored the increase in scope of critical activity.“ 58 Prägnanter noch sprach sich der Altphilologe Walter J. Ong für einen Zusammenhang von Schriftlichkeit und Philologie aus: „Literacy makes study possible.“ 59 Von Seiten der Anthropologie bestätigte Jack Goody: „Writing encourages reflection upon and the organisation of information.“ 60 Stimmt es also, dass Schrift eine Bedingung der Möglichkeit textkritischen, etwa auch philologischen Arbeitens ist? Rückblickend können wir postulieren, dass Abū ʿUbaida mit Texten unterschiedlicher Gattung operierte. 61 Als ein ‚Philologe der ersten Generation‘ konnte Abū ­ʿUbaida noch nicht auf ein Arbeitsfundament zurückgreifen, das terminologische und gattungsspezifische Unterscheidungen vorgeben würde. Stattdessen scheint Abū ʿUbaida selbst — wie Isabel Toral-Niehoff interpretiert — zur Etablierung von Gattungsgrenzen beigetragen zu haben. Durch seine ersten systematischen Sammlungen der aiyām al-ʿarab habe er — rückblickend betrachtet — für die ihm folgenden Philologengenerationen ein Bewusstsein für die Differenzierung von Poesie und Prosa geschaffen. 62 57 Luhmann, Gesellschaft, Bd. 1, S. 268. 58 William A. Graham, Beyond the written word, Boston 1987, S. 16. 59 Walter J. Ong, Orality and Literacy: The technologizing of the word, London 1982, S. 9. Auch in einem modernen Handbuch zur Gattungstheorie lesen wir: „Auf metatheoretischer Ebene lässt sich die schriftindizierte Entkopplung von Dichtung und Gedächtnis als zivilisationsgeschichtliche Voraussetzung für die Entstehung, Weitergabe und Variation kodifizierter Genres bedenken. Schriftlichkeit erscheint somit als entscheidender Faktor für die Ausdifferenzierung neuzeitlicher Gattungssysteme.“ (András Horn, Theorie der literarischen Gattungen, Würzburg 1998, S. 38.) 60 Jack Goody, The Power of the Written Tradition, Washington 2000, S. 45. 61 Wir können historische (fakturale) von literarischen (fiktionalen) Quellen unterscheiden, die Abū ʿUbaida für seine umfangreiche Kompilation des Wissens von der „Sprache der Araber“ konsultierte. Die Dichtung etwa, die zur Erklärung des Korans herangezogen wird, unterscheiden wir von Sprichwörtern (amṯāl) und als historisch oder literarisch wahrgenommenen Berichten über die Schlachten der Araber (aiyām al-ʿarab). 62 Toral-Niehoff, „Thinking about Arab Origins“, S. 58. Toral-Niehoff bezeichnet Abū ʿUbaidas Werke als den „Flaschenhals“ der ayyām al-ʿarab, der den Zugang späterer Generationen zu dieser Literaturgattung ermöglichte und auch deren Wahrnehmung lenkte. Den ersten Philologen selbst

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Geleitet werden wir im Folgenden von der Frage, ob es stimmt, dass — wie die europäische Schriftforschung des 20. Jahrhunderts behauptet — erst das Medium der Schrift (im arabischen Kulturraum oder generell) die Bedingung der Möglichkeit textkritischen Arbeitens bildete. Wir schließen also an Luhmann insofern an, als wir die Reziprozitätshypothese seines Gesellschaftskonzepts übernehmen. Die Absolutsetzung von Kommunikation als dem Moment der autopoietischen Selbstkonstruktion und die damit verbundenen Zuschreibungen von Schrift — etwa als Indikator und Motor von Unterscheidungswirksamkeit — muss kritisch hinterfragt werden. Schrift als ‚Episteme‘ Besonders problematisch erscheint Luhmanns „Unterscheidungswirksamkeits“-Hypothese im Kontext von ‚vormodernen‘ Schriftformen, die gerade nicht „schnell und wenig energieaufwendig“ 63 sind und sich nicht durch ihre „erleichterte Transportfähigkeit“ 64 auszeichnen, wie Inschriften auf Monumenten oder Steinen. Gerade zu dieser Form von Schrift sind in der altarabischen Dichtung zahlreiche Hinweise enthalten, die Luhmanns These von der Unterscheidungswirksamkeit geradezu auf den Kopf stellen. Unter den unterschiedlichen Verweisen auf Schrift in der altarabischen Dichtung 65 deutet vor allem der Begriff waḥy, der sich in den Einleitungspassagen (nasīb) mehrerer altarabischer qaṣīden findet, auf ein problematisches Verhältnis zu Schrift hin. 66 Lexikalisch bedeutet der Begriff waḥy eine für den Betrachter unverständliche Form der Kommunikation „durch Zeichen“. Er wird in der altarabischen Dichtung für die Laute von Tieren 67 ebenso verwendet wie für fremdsprachige Kommunikation. Eine solche Form der „chiffrierten“ Kommunikation erkennt der alt­ arabische Dichter nun in Inschriften auf Steinen oder Graffiti. Vermutlich angesichts der für ihn unverständlichen Sprache oder unverständlichen Schrift, 68 stellen die wurde dagegen oft ein unbedachter Umgang mit Gattungskonturen attestiert: „Die Philologen unterschieden nicht rigoros zwischen Poesie und sachlicher Information. Die Gedichtsammlungen enthalten auch historische Angaben; die biographischen und enzyklopädischen Werke, ebenso wie die Schriften zur Poetik, bringen ausführliche Verszitate.“ (Jacobi, „Arabische Dichtung“, in: GAP, Bd. 2, S. 11f.) 63 Vgl. Luhmann, Gesellschaft, Bd. 1, S. 257. 64 Vgl. ebd. 65 Zu einer Übersicht siehe James Montgomerey, „The Deserted Encampment in Ancient Arabic Poetry. A Topical Comparison“, in: Journal of Semitic Studies XL/2 (1995), S. 283–316. 66 Die von Montgomerey zusammengestellte Übersicht korrigiert gleichzeitig die Einschätzung, Schrift habe in der altarabischen, beduinisch geprägten und zweifellos vorrangig mündlich kommunizierenden Gesellschaft „keine Bedeutung“. 67 So etwa in einem Vers des Dichters Alqama al-Faḥl für das Gespräch zwischen einem Strauß und seinem Weibchen, zitiert in Navid Kermani, Offenbarung als Kommunikation. Das Konzept waḥy in Naṣr Hāmid Abū Zayds Mafhūm an-naṣṣ, Frankfurt a. M. 1996, S. 41. Dort findet sich auch eine detaillierte Beschreibung des Begriffs und des Konzepts waḥy im Koran. 68 Neuwirth hat darauf hingewiesen, dass zwar viele vorislamische Inschriften in nordarabischer Sprache, die meisten aber in nabatäischer Schrift verfasst waren. Siehe Angelika Neuwirth, „The

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Schriftgebrauch und Buchkultur

Inschriften „a sound system devoid of meaning“ 69 dar, angesichts dessen der beobachtende Dichter in Agonie verfällt. Schrift evoziert hier gerade keine Erfahrung der Dauer, sondern der Vergänglichkeit — eine Erfahrung, die als paradigmatisch für das altarabische Weltbild oft beschrieben wurde und die sich in dem in der Einleitung der qaṣīda verlautenden Lamento über den Verlust geliebter Menschen angesichts der „verwüsteten Lagerstätten“ niederschlägt. Neuwirth weist zudem darauf hin, dass die ḥiǧāzenischen Inschriften selbst, die sehr kurze, ephemere Aussagen enthalten, keine „Texte“ seien, da sie eben nicht — wie Luhmann dies pauschal für Schrift behauptet — situationsabstrakt und über die Zeiten hinweg anschlussfähig bleiben: „[W]riting was not employed to construct an archive of collective memory“, sondern Schrift wird zum Symbol einer „language of otherness“. 70 Erst der Koran transferiert diesen „waḥy of loss“ oder „stummen waḥy“ in ein „waḥy of fulfillment“. 71 Neuwirth hat die Entwicklung eines koranischen Schrift- und Offenbarungskonzepts (der Begriff waḥy bezeichnet ab der mittelmekkanischen Periode göttliche Offenbarung) dargestellt. Schrift sei schon früh mit der Autorisierung von Bedeutung durch deren göttlichen Ursprung verbunden. In der frühmekkanischen Sure 96, welche die islamische Tradition als den ersten Verkündigungstext benennt, wird der Prophet aufgefordert zu lesen, was Gott mit einem himmlischen Schreibrohr schreibt. Diese dem Propheten vorbehaltene, im Lesen einer transzendenten Schrift bestehende Kommunikation zwischen Gott und Mensch liege — Neuwirth zufolge — dem Begriff qurʾān selbst zugrunde: Qurʾān is at once the act of reading and the corpus of texts to be read not from a material but from a virtual writing, which would have been undecipherable to a nonprophet. This unique act of supernatural reading thus resembles the decoding of an otherwise unintelligible writing, a waḥy. God’s language is a coded non-verbal language, ‘a waḥy, which needs to be translated’ into human language. 72

In diesem Sinne revidiert das koranische Offenbarungskonzept die altarabische Wahrnehmung von der „stummen“ Welt, in der unentzifferbare Schrift ein Emblem der Vergänglichkeit und Hoffnungslosigkeit gewesen war. Erst nach dieser Rehabilitierung von Schrift als positivem, autoritätsgebendem Wissensträger findet die Selbstverortung des Korans in Traditionen der schriftsprachlichen Manifestation Gottes, nun vor allem durch Einsatz des Begriffs kitāb statt. Das Beispiel der altarabischen und koranischen Perspektive auf Schrift zeigt, dass das ‚Medium‘ (Schrift) über seine Funktionen als ein Kommunikationsmittel und Informationsträger hinaus konstitutive Weltanschauungen darstellt, repräsentiert oder Discovery of Writing. Tracing an Epistemic Revolution in Arab Late Antiquity“, in: JSAI 42 (2015), S. 10. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 11. 71 Ebd., S. 12. 72 Ebd., S. 28.

Mündlichkeit und Schriftlichkeit als kommunikative und epistemische Formen

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generiert, die von den Akteuren — den Beobachtern und Lesern — ebenso wahrgenommen und verhandelt werden (müssen) wie die Kommunikationsinhalte selbst. 73 Diese Bedeutung von Schrift als Reflexionsgegenstand nicht nur als Reflexionsmedium bezeichnen wir mit dem Begriff Episteme. 74 Gemeint sind Zuschreibungen zu Schrift, Interpretationen der Bedeutungen von Schrift ebenso wie nicht formulierte, aber im Umgang mit Schrift zum Ausdruck gebrachte Haltungen dazu, was Schrift leisten kann, wann es angemessen ist, sie zu verwenden, wem dies zusteht usw. Dass nun die arabische Philologie in der frühen Abbasidenzeit zu einem rasanten Projekt der Verschriftlichung des für das kollektive Gedächtnis zentralen Sprachwissens ansetzt, lässt die Frage nach dem epistemischen Status des frühislamischen Schriftbegriffes vor dem Hintergrund des beschriebenen Wandels der Bewertung von Schrift in der altarabischen Dichtung und im Koran umso virulenter erscheinen. Interessant für diese Fragestellung ist nicht nur das historiographisch auf‌bereitete später datierte Anekdotenmaterial, das Auskünfte über die Haltungen, Kontroversen und Selbstdarstellung der Philologen um Abū ʿUbaida bereitstellt, sondern vor allem die Reflexion des Verschriftlichungsprozesses in den philologischen Texten selbst. Hypothetisch haben wir formuliert, dass die philologische Differenzierung von Text und Kontext, von Primärtext und Kommentar und von Vergangenheit (ǧāhilīya) und Gegenwart einen bedeutenden Teil eines Prozesses der Ausdifferenzierung der arabischen Gesellschaft darstellt. Die Etablierung von Philologie als einer institutionell gefestigten Wissenschaft mit einem eigenen Gegenstand — der arabischen Sprache und den zunehmend als unterschieden wahrgenommenen und behandelten Formen ihrer Überlieferung — ist selbst eine Form der Kommunikation, die auf gesellschaftlichen Vorbedingungen auf‌baut und das kulturelle Selbstbild formt. Sie ist aber auch ein Prozess des Transfers einer für das altarabische und koranische Weltbild zentralen Episteme, der Schrift. Dazu wollen wir uns ein Fallbeispiel ansehen, das als paradigmatisch für die „schriftliche Wende“ in der frühislamischen Gelehrsamkeit gelten kann, nämlich das Kitāb al-Amṯāl des Abū ʿUbaid al-Qāsim ibn Sallām. Im Anschluss an eine Interpretation des Textes hinsichtlich der philologischen Bewältigung der wahrgenommenen Diskrepanz von mündlicher Überlieferung und schriftlicher Dokumentation, sollen die Ergebnisse auch für die Einordnung der Leistung Abū ʿUbaidas nutzbar gemacht werden. Der Exkurs zu einem der Schüler Abū ʿUbaidas versteht sich insofern weni73 Die Rehabilitierung von Schrift als ein Medium göttlicher Offenbarung im Koran hängt sicher mit der Zurkenntnisnahme der Bedeutung von Schrift(en) für die religiösen Kulthandlungen und Traditionsbestände der Juden und Christen, oder generell gesprochen: mit der Notwendigkeit zusammen, an das „Zeitalter der Buchreligionen“ (Stroumsa) anzuschließen. 74 Es ist kein Geheimnis, dass im Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“ der Begriff eine zentrale Rolle spielt und von hier die Inspiration zur Verwendung im vorliegenden Kontext stammt. Zur Distinktion des Begriffs im SFB 980 siehe die Einleitung zum Sammelband Wissen in Bewegung. Institution — Iteration — Transfer, hg. von Eva Cancik-Kirschbaum und Anita Traninger, Wiesbaden 2015, S. 1f.

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ger als eine Rezeptionsthese als ein Versuch der Verdeutlichung der philologischen Strategien der „ersten Generation“ aus der Retrospektive.

6.6 Abū ʿUbaid als Fallbeispiel Abū ʿUbaid al-Qāsim ibn Sallām (gest. 224/838) hat als junger Mann bei den meisten bekannten Philologen in Basra und Kufa, so auch bei Abū ʿUbaida, eine sprachwissenschaftliche Ausbildung durchlaufen und ist in seinem darauf‌folgenden Leben viel gereist. Zunächst wurde er zum qāḍī in der Stadt Tartus an der arabisch-byzantinischen Grenze berufen, 75 wo er 17 Jahre verbrachte, dann zehn weitere Jahre am Kalifenhof in Bagdad blieb, ehe er die Pilgerfahrt nach Mekka unternahm, von wo er nicht zurück kehrte. 76 Aus einer überlieferten Aussage, Abū ʿUbaid sei ein so prominenter Philologe geworden, weil er seine Bücher „direkt zu den Königen“ gebracht habe, 77 können wir schließen, dass Abū ʿUbaids Schriften erst während seines Aufenthalts am Kalifenhof, nicht schon während seiner ‚Studienjahre‘ in Basra entstanden sind. 78 Diese Datierung ist insofern aufschlussreich, als sie implizieren würde, dass die 17jährige Grenzgebietserfahrung Abū ʿUbaids in seine Schriften mit eingeflossen sind und der Philologe Erfahrungen mit christlichen Praktiken der Religiosität, der Askese, des Mönchtums und anderem gemacht haben muss. Insofern ist Abū ʿUbaid ein besonders einschlägiges Beispiel für die Teilhabe der arabischen Philologie an einem spätantiken Denkraum, in dem Schriftauslegung und fromme Textpraxis unterschiedlicher Religionen miteinander in Berührung kamen. Seine Person wird in der modernen Arabistik, wie auch bereits in der islamischen Tradition, mit der Verschriftlichung des Sprachwissens der ersten Philologen assoziiert. Ein Transfer der arabischen Philologie in eine zunehmend auf Schrift zugreifende, ihren Formen und Prinzipien nach ‚ausdifferenzierte‘ Wissenschaft ist etwa an dem kurzen koranhermeneutischen Werk Abū ʿUbaids erkennbar. Das Buch Faḍāʾil al-Qurʾān (die Vorzüge/Besonderheiten des Korans) ist thematisch gegliedert und führt — stets mit vollständigen isnāden versehene — Lehrmeinungen zu Themen des Umgangs mit dem Koran im Leben gewöhnlicher Gläubiger vor. Diese reichen von generellen Hinweisen zum Wert der beflissenen und anhaltenden Lektüre des Korantextes über Varianten zwischen den Korankonsonantentexten 79 im Ḥiǧāz und 75 Zur Bedeutung des qāḍī für die Prozesse der frühislamischen Traditionsbildung und Überlieferung siehe G.H.A. Juynboll, Muslim Tradition, Cambrigde 1983, S. 77–95. 76 Reinhard Weipert, Eintr. „Abu ʿUbayd al-Qāsim b. Sallām“, in: EI³. 77 Hinweis in Schöler, Oral and Written, S. 54. 78 Natürlich ist es auch möglich, dass er die Unterrichtsmaterialien seiner Studienzeit während seines Aufenthaltes in Tartus behielt. 79 Wansbrough hält das Kapitel az-zawāʾid mina l-ḥurūf allatī ḫūlafa bihā l-ḫaṭṭ im Faḍāʾil al-QurʾānWerk für den frühesten Text, der sich mit diesem Thema befasst. (Wansbrough, Quranic Studies, S. 203)

Abū ʿUbaid als Fallbeispiel

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in Bagdad bis zu der Beschäftigung mit Spezifika einzelner Suren. Generell ist das Werk von der Frage nach der Rechtgläubigkeit und dem Verhältnis von Koranstudium einerseits und ethischer Lebensführung andererseits durchzogen. So wird über Pseudo-Leser gespottet, die nur den Anschein fleißigen Textstudiums erwecken, deren Stimme aber versiegt, sobald die Gesellschaft sich entfernt. 80 Berichte über vorbildhafte Prophetengefährten zeigen diese im Wetteifer der Frömmigkeit durch ununterbrochenes Lesen. 81 Beispiele für Kranke, deren Leiden durch die Lektüre des Korans gelindert wurde, 82 machen deutlich, dass der Koran für Abū ʿUbaid nicht nur die gesätzmäßige Richtschnur frommer Lebensführung ist, sondern vor allem individuellen und unmittelbaren Heilscharakter besitzt. Gegenüber der Thematik der notwendigen Teilhabe der Lektüre an einer gelungenen Lebensführung treten heilsgeschichtliche oder politische Sinnebenen der heiligen Schrift in den Hintergrund. Weder Fragen der Gemeindestruktur, nicht einmal der Familie, geschweige denn des Staates werden von Abū ʿUbaid angesprochen. Stattdessen widmet er dem Kauf und Verkauf von Koranexemplaren (maṣāḥif) ein eigenes Großkapitel. Das im 9. Jahrhundert physisch bereits in vielen Privathaushalten vorliegende Buch (muṣḥaf) ist das eigentliche Thema des Faḍāʾil al-Qurʾān-Werks. Auch im Hinblick auf die arabischen Sprichwörter bestand Abū ʿUbaids Leistung nicht alleine in deren erstmaliger Sammlung, sondern in deren Systematisierung in einem „benutzerfreundlichen“ Buch. Der Bagdader Gelehrte Ibn Durustawaih (gest. 346/957) beurteilte ein Jahrhundert nach Abū ʿUbaids Tod dessen Errungenschaft folgendermaßen: He was preceded […] by the Baṣrians and Kūfans: al-Aṣmaʿī, Abū Zayd, Abū ʿUbaydah, an-Naḍr ibn Šumayl, al-Mufaḍḍal aḍ-Ḍabbī and Ibn al-Aʿrābī. He, however, brought together their traditions in his book, divided it into chapters (bawwaba-hū ʾabwāban) and arranged it in the best order (ʾaḥsana taʾlīfa-hū). 83

Das Kitāb al-Amṯāl Abū ʿUbaids ist demnach nicht zufällig das erste erhaltene Kompendium zu den arabischen Sprichwörtern, sondern das erste, das als Buch konzipiert war. Es besteht aus einer Einleitung, in der das Unternehmen der Sammlung und Kommentierung der amṯāl der Araber vor dem Islam wie auch der Begriff des maṯal erklärt wird, und 19 Themenkapiteln, in denen die Sprichwörter nicht nur gruppiert, sondern philologisch gedeutet und zum Teil mit weiterem Wissen um deren ursprünglichen Gebrauch oder deren Herkunft „gerahmt“ werden.

80 Abū ʿUbaid, Faḍāʾil, S. 132. 81 Ebd., S. 139. 82 Ebd., S. 140. 83 Schöler, „Transmission of the Sciences“, S. 35 mit dem Hinweis auf al-Ḫaṭīb al-Baġdādī.

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6.6.1 Bewusste Schriftlichkeit Für die Frage nach der Ausdifferenzierung von Textkorpora im Anfang der arabischen Philologie verspricht das Kitāb al-Amṯāl Abū ʿUbaids besonders aufschlussreich zu sein, weil es den Bruch von mündlicher Überlieferung zu schriftlicher Kompilation nicht nur historisch markiert, sondern ihn bewusst thematisiert. Dass mit der Veränderung des Mediums ein Statuswechsel der Sprichwörter verbunden ist, scheint den an der Niederschrift beteiligten Philologen selbst bewusst gewesen zu sein, da der Prozess der Verschriftlichung und der Redaktion in der Einleitung des Buches beschrieben wird: qāla ʿAlīyu bnu ʿAbdi l-ʿAzīzi kātibu Abī ʿUbaidini l-Qāsimi bni Sallāmin: katabtu hāḏā l-kitāba min nusḫati Abī ʿUbaidin min ḫaṭṭi yadihi wa-ʿaradtu bihā ḥarfan ḥarfan, ṯumma qaraʾnāhu ʿalā Abī Muḥammadin Salamata bni ʿAṣimini n-naḥwīyi, ṣāḥibi l-Farrāʾi, fa-zādanā fīhā ašyāʾa alḥaqtuhā fī ḥawāšī l-kitābi, ṯumma qaraʾtuhu ʿalā Abī ʿUbaidi llāhi z-Zubairi bni Bakkārin, wa-huwa qāḍī ahli Makkata. Fa-katabtu aiḍan mā zādanā fīhi wa-nasabtu ḏālika ilaihi, fa-waǧadtu ḫaṭṭa Abī ʿUbaidin haḏā kitāba l-amṯāli. 84 ʿAlī ibn ʿAbd al-ʿAzīz, der Sekretär von Abū ʿUbaid al-Qāsim ibn Sallām berichtete: Ich schrieb dieses Buch nach dem Exemplar von Abū ʿUbaid und las es (ihm?) vor Buchstabe für Buchstabe, dann lasen wir es Abū Muḥammad Salama ibn ʿAsim, dem Grammatiker, einem Freund al-Farrāʾs vor, er wies uns auf einige Dinge hin. Ich korrigierte die erste Fassung des Buches, dann lasen wir sie Abū ʿUbaid Allāh az-Zubair ibn Bakkār vor, der Richter in Mekka ist. Danach schrieb ich auch, worauf er uns hingewiesen hatte und habe dies als seinen Beitrag kenntlich gemacht. Und ich fand eine Handschrift von Abū ʿUbaid und schrieb, dass alles dies das Buch der Sprichwörter sei.

Die verschriftlichte Sammlung der Sprichwörter ist folglich (nach dem Tod Abū ­ʿUbaids) durch die Hände mehrerer Philologen gegangen, bevor sie ihren Abschluss in der Benennung des Korpus als Kitāb al-Amṯāl fand. Der „Sekretär“ ʿAlī ibn ʿAbd al-ʿAzīz al-Baġawī, der seinen Lehrer Abū ʿUbaid lange überlebte, soll nicht nur diese erste „Edition“ der Sprichwortsammlung zustande gebracht haben, sondern vor allem das gesammelte Sprachwissen an Pilger weitergegeben haben. In schriftlicher Form fand die Sprichwortsammlung Abū ʿUbaids auf diese Weise Verbreitung bis in den Andalus und Khurasan und wurde „the point of departure for all subsequent collections“. 85 Als hätte der Schreiber des Werkes diese durch die Verschriftlichung ausgelöste, tatsächlich rasante „Explosion der Anschlussfähigkeit“ des Werkes vorausgeahnt, versichert er in der Einleitung durch die Beschreibung der mehrmaligen Korrektur des maṯal-Kompendiums von mehreren Autoritäten die Glaubwürdigkeit seiner 84 Abū ʿUbaid, Kitāb al-Amṯāl, S. 33f. 85 Sellheim, Eintr. „Mathal“, in: EI², Bd. 6, S. 822.

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Dokumentation. Die Buchwerdung der überlieferten Sprichwörter ist ein zentrales Ereignis, das als solches bereits von den an der Literarisierung des mündlichen Sprachwissens beteiligten Philologen im 9. Jahrhundert wahrgenommen wird. Was bedeutet diese bewusste Schriftlichkeit für die Beziehung der Philologie zu den Sprichwörtern selbst? Wir haben oben darauf hingewiesen, dass die Sprichwortsammlung und die Bestimmung des Begriffs maṯal durch Abū ʿUbaid ein Bewusstsein der Verwandtschaft des arabischen maṯal mit den im biblischen Proverbienbuch gesammelten mešālīm nahe legen. In der Tat ist der Transfer des arabischen maṯal von der ǧāhilīya zur Abbasidenzeit funktional mit den altorientalischen Weisheitssprüchen vergleichbar. In der Altorientalistik und Biblistik wurde der Effekt von durch Verschriftlichung in mündlicher Kommunikation entstandenen literarischen Formen wie dem Sprichwort und Weisheitssprüchen zum Gegenstand einer Methodendiskussion. Ähnlich wie die arabischen Sprichwörter haben die Weisheitssprüche im biblischen Proverbienbuch eine Entwicklung von einer lebendigen Lehre zu einem „benutzerfreundlichen“ Buch bzw. mehreren, zu einem Buch zusammengefassten Sammlungen durchgemacht. 86 Sind die biblischen Sammlungen der Sprüche und Weisheitslehren, die durch spätere Redakteure insgesamt dem großen Weisheitslehrer Salomo zugeschrieben wurden, einheitlich komponierte Texte oder sind sie lediglich Sammelkörbe für mehr oder weniger loses und thematisch zusammenhangloses Material? K.F.D. Römheld kam bei einer formgeschichtlichen Untersuchung mehrerer altorientalischer Weisheiten­ sammlungen zu der Einschätzung: Jede Sentenz hat eine eigene Lebenssituation oder eine mehr oder weniger eng umgrenzte Tugend zum Thema. Der Summe aller in einer Sammlung vereinigten Sentenzen entspricht daher in der Regel auch eine Vielzahl möglicher Lebenssituationen, in denen der Weisheitslehrer beratend helfen will. Eine Sammlung weisheitlicher Sprüche ist eine Art Vorratslager, dem je nach Bedarf eine Anleitung zu weiser Lebensführung entnommen werden kann. 87

Die Sammlung selbst stelle demzufolge keinen „Text im engeren linguistischen, sprachinternen und kommunikativ-pragmatischen Sinne“ dar, denn sie ist „strukturell nicht begrenzbar“ und zerfalle „in zahlreiche Themen und Intentionen“, 88 bleibe also funktional auf die Sammlung einzelner Text- bzw. Lehreinheiten beschränkt, die nicht zu einem Ganzen verfestigt seien. 89 Der salomonischen Proverbiensamm86 Kugel, How to Read the Bible, S. 501f. 87 K.F.D. Römheld, Die Weisheitslehre im Alten Orient. Elemente einer Formgeschichte, München 1989, S. 2f. 88 Ebd., S. 3. 89 Die Römhelds Urteil zugrunde gelegte „linguistische“ Klassifikation von Text, sieht eine Interdependenz von „textintern“ und „textextern“ genannten Indikatoren vor: „[T]extintern gesehen“ sei ein Text „ein komplexes sprachliches Zeichen, das nach den Regeln des Sprachsystems (langue) gebildet ist. Textextern gesehen wäre ein Text […] gleichbedeutend mit Kommunikationsakt. Das heißt

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lung würde zum einen die innere systematische Komplexität und zum anderen der determinierte Gebrauch fehlen. Die Sammlungen haben keinen einheitlichen Sitz im Leben, sondern seien „Archiv“ mehrerer ehemals mündlich artikulierter Belehrungen und vorbildhafter Weisungen. 90 Die Überlegungen zu der „Textualität“ der Weisheitssammlungen sollen uns hier bei der Einschätzung des maṯal-Kompendiums wegweisend sein. 6.6.2 Bewusste Mündlichkeit Denn ebenso wie der Buchcharakter seines eigenen Werkes wird der Ursprung der Sprichwörter im mündlichen Sprachgebrauch der vorislamischen Araber und der Zeitgenossen des Propheten von Abū ʿUbaid betont. Bereits die Definition des maṯal legt das Sprichwort als dezidiert mündliche Rede fest, die durch rhetorische Charakteristika — die Pointiertheit und das genaue Treffen des Gemeinten — bestimmt wird. In Abū ʿUbaids Darstellung muss ein Sprichwort als Element des Sprachgebrauchs auf die soziale Realität applizierbar bleiben, um gebräuchlich und verständlich zu bleiben. Das Sprichwort „begleitet den Diskurs“. 91 Es liegt auf der Hand, dass diese Forderung nach ungebrochener Realitätsbezogenheit des Sprichwortes aufgrund der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen während der ersten (beiden) islamischen Jahrhunderte problematisch wurde. Um die richtige Verortung des Sprichwortes in den Sprachgebrauch der ‚Alten‘ zu garantieren, muss Abū ʿUbaid in seiner Sammlung daher die Kontexte, in denen die Sprichwörter ihren kommunikativen Ursprung haben bzw. in denen sie gebräuchlich waren, mitliefern. Rahmungen der Sprichwörter In seinen Erklärungen zu einzelnen Sprichwörtern benennt Abū ʿUbaid zum Beispiel den Ursprung (aṣl) eines Sprichwortes in einem konkreten Kommunikationsszenario und weist vereinzelt darauf hin, dass ein Ausspruch aufgrund seiner Prägnanz oder

Text und Kommunikationsakte bedingen sich gegenseitig.“ Siehe Elisabeth Gülich (zusammen mit Wolfgang Raible), Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten, München 1977, S. 47. 90 Dem gegenüber applizierte der Altorientalist R.C. van Leeuwen eine synchron-kontextuelle Interpretation der alt‌testamentlichen Spruchsammlungen und kam zum entgegengesetzten Urteil einer prinzipiellen Komponiertheit der Weisheitensammlungen des Alten Testaments: „a fundamental heuristic assumption is that the writers of our text sample attempted to create literary contexts for individual sayings which would compensate for this loss of life-context and which would be sufficiently elaborate to provide heuristic parameters within which they could be understood.“ (Zitiert in Römheld, Weisheitslehre, S. 22). 91 Rudolf Sellheim, Eintr. „Mathal“, in: EI², Bd. 6, S. 818. („Abū ʿUbaid stresses the fact that the mathal ‘accompanies’ the discourse.“)

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Schönheit in anderen Zusammenhängen aufgegriffen und benutzt worden und so zum „geflügelten Wort“ geworden sei. Zum Beispiel: Ṣadaqanī sinnu bakrihi. Qāla l-Aṣmaʿīyu: wa-aṣluhu anna raǧulan sāwama raǧulan fī bakrin arāda šurāʾahu. Fa-saʾala l-bāʾiʿa ʿan sinnihi fa-aḫbarahu bi-l-ḥaqqi, fa-qāla l-muštarī: ṣadaqanī sinnu bakrihi. fa-ḏahabat kalimatuhu maṯalan. 92 Die Zähne seines Kamelfohlens sagten mir die Wahrheit. Al-Aṣmaʿī sagte: der Ursprung [dieses Sprichwortes] war, dass ein Mann mit einem anderen über ein Kamel feilschte. Dieser wollte es kaufen und fragte den Verkäufer nach dem Alter, worauf‌hin jener ihm diesen nannte. Der Käufer sagte: Die Zähne seines Kamelfohlens sagten die Wahrheit (sprechen für sich). Und dieser Ausdruck wurde zum Sprichwort.

Viele der im Kitāb al-Amṯāl erhaltenen Rahmenanekdoten bleiben wie diese un­ spezifisch hinsichtlich Ort und Zeit und entwerfen ein sehr generelles beduinisches Panorama. 93 Einen fiktiven Gehalt der anekdotischen Rahmungen der Sprichwörter lässt eine Wiederkehr archetypischer Handlundsträger, wie etwa dem Dichterkönig Imruʾ al-Qais, der oft die Rolle eines männlichen Verführers und „Frauenhelden“ übernimmt, erkennen. 94 Bisweilen übernehmen auch Tiere, beispielsweise Kamele, 95 eine Hauptrolle im anekdotischen Rahmen, deren archetypische oder sogar symbolbesetze Bedeutung erst die Pointe der Handlung und damit das Sprichwort erklärt. 96 Eine zweite Form der philologischen Rahmung der Sprichwörter besteht in deren semantischer und lexikalischer Ausdeutung oft — vergleichbar mit der Praxis des istišhād in Maǧāz al-Qurʾān — durch Rekurs auf weitere Intertexte, die aber meist aus dem ḥadīṯ stammen. Es sind vollständige Sprichwörter und keine sprichwörtliche Redensarten, deren Bestandteile in einzelnen Paraphrasen ausgedeutet werden, zum Beispiel: iḏā wuqiya r-raǧulu šarra laqlaqihi wa-qabqabihi wa-ḏabḏabihi fa-qad wuqiya. Qāla: fa-l-laqlaqu: al-lisānu, wa-l-qabqabu: al-baṭnu, wa-ḏ-ḏabḏabu: al-farǧu. Wa-fī baʿḍi l-aḥādīṯi inna bna Ādama iḏā aṣbaḥa kaffarat aʿḍāʾuhu li-l-lisāni fa-taqūlu lahu: ittaqi llāha fa-innaka ini staqamta staqamnā, wa-ini ʿawaǧta ʿawaǧnā. 97 [Erst] wenn jemand sich vor dem Verderblichen seines Klapperns, seines Schwellens und seines Schwingens in Acht nimmt, ist er geschützt. Er sagt: Das Klappern bezieht sich auf die Sprache, das Schwellen auf den Bauch und das Schwingen auf das Geschlecht. 92 Abū ʿUbaid, Kitāb al-Amṯāl, S. 49. 93 Sellheim, Sprichwortsammlungen, S. 30 (mit Hinweis auf Werner Cascel, „Die einheimischen Quellen zur Geschichte Nord-Arabiens vor dem Islam“, in: Islamica 3 (1927), S. 331–341.) 94 Sellheim, Sprichwortsammlungen, S. 38 (mit Beispiel und der Bezeichnung Imruʾ al-Qais als „Don Juan der arabischen Heidenzeit“). 95 Ebd., S. 31 (mit Angaben). 96 Ebd., S. 30–40. 97 Abū ʿUbaid, Kitāb al-Amṯāl, S. 43.

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Und ein ḥadīṯ lautet: (Schon) wenn der Mensch morgens aufsteht, unterwerfen sich seine Glieder der Zunge und sprechen zu ihr: Fürchte Gott, denn wenn du gerade bist, sind wir auch gerade, und wenn du krumm bist, sind auch wir krumm.

Sprichwörter wie dieses setzen eine so spezifische Kenntnis von den Konnotationen der im Sprichwort enthaltenen Vergleichsbilder voraus, dass sie ohne die Erklärung des Philologen kaum verständlich wären. Die kurzen Erklärungen „das Klappern: die Sprache. Das Schwellen: der Bauch. Das Schwingen: Das Geschlecht“ sind trotz ihrer verknappten Form keine lexikalischen Paraphrasen, sondern die Deutung eines sprachlichen Bildes, das erst einleuchtet, nachdem das tertium comparationis ermittelt wurde. Dieses wird spätestens durch den zuletzt angeführten ḥadīṯ verständlich als die notwendige Verknüpfung von geistiger und leiblicher Tugendhaftigkeit. Eine schlechte Körperhaltung kann demnach auf ethische Laster schließen lassen. Ebenso ist der Mensch erst dann „beschützt“, wenn er sprachliche und leibliche Mäßigung übt. Oft kombiniert Abū ʿUbaid lexikalische Erklärungen mit kurzen narrativen Erläuterungen zum Ursprung der amṯāl. So etwa in: lā tahrif bi-mā lā taʿrifu. wa-l-harfu huwa l-iṭnābu fī ṯ-ṯanāʾi wa-l-madḥi. Wa-yurwā ʿan Wahbi bni Munabbihin annahu qāla: iḏā samiʿta r-raǧula yaqūlu fīka mina l-ḫairi mā laisa fīka fa-lā taʾman an yaqūla fīka mina š-šarri mā laisa fīka. 98 Preise nicht, was du nicht kennst. Die exzessive Preisung (al-harf) bedeutet die Übertreibung von Anerkennung und Lob. Von Wahb ibn Munabbih wird berichtet, dass er sagte: wenn du jemanden Gutes über dich sagen hörst, das nicht in dir ist, sei nicht sicher, dass er nicht auch Schlechtes über dich sagt, das ebenfalls nicht in dir ist.

Diese Beispiele genügen, um zu zeigen, dass die Rahmungen um die Sprichwörter im Kitāb al-Amṯāl nicht deren Historisierung und nicht der rein sprachlichen Erklärung dienen. Obwohl die Anekdoten durchaus pointiert erzählt sind, ist ihre vorrangige Funktion im „Buch der Sprichwörter“ vermutlich ebenso wenig in der Steigerung des Unterhaltungswertes oder der Durchsetzung pädagogischer Ziele zu suchen. Die Sprichwörter und ihre Erklärungen bleiben trotz der Verschriftlichung abhängig von außertextuellem Wissen. Wenn Römheld im Hinblick auf die altorientalischen Weisheitensammlungen einen „linguistischen“ Texbegriff ansetzte, der ihn zu der Folgerung zwang, dass die einzelnen Weisheiten „keine Texte“ seien, soll hier stattdessen eine Definition für „Textualität“ angebracht werden, die Jan Assmann gibt:

98 Abū ʿUbaid, Kitāb al-Amṯāl, S. 46.

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Textualität entsteht dort, wo die Sprache sich hinreichend aus ihrer empraktischen Einbettung in Situationen (d. h. soziokulturelle Interaktionstypen, „Sitze im Leben“) gelöst hat, um als Text eine unabhängige Gestalt zu gewinnen. 99

Neben der Schrift sind es die Kategorien „Rahmen“ und „Wahrheit“, die Assmann als Bedingungen für Textualität festlegt. Dabei ist der Begriff des „Rahmens“ eine Kategorie, die sich aus der fehlenden Verständnisanleitung in schriftlicher Kommunikation durch die Ungleichzeitigkeit des Schreibens und Lesens herleiten lässt. 100 Durch die Ausbettung aus direkten, Sprecher und Hörer einschließenden, kommunikativen Zusammenhängen und die „Situationsabstraktheit“ der Kommunikation in Schrift bedürfe der Text des Schutzes durch einen Rahmen, der zum einen für die Erhaltung seiner Verständlichkeit sorgt und zum anderen die Regeln der Wiederaufnahme festlegt. Zweifellos kann die philologische Arbeit Abū ʿUbaids als eine solche „Rahmung“ der — ohne diese nicht (mehr) verständlichen — Sprichwörter gedeutet werden. In diesem Sinne macht der Philologe die Sprichwörter nicht schon durch deren Verschriftlichung, sondern vielmehr durch deren Erklärung und Einbettung in (anekdotenhafte oder explikative) Kontexte zu „Texten“ im Sinne Assmanns. Durch die Ausbettung des Sprichwortes aus konkreten lebenspraktischen Situationen und die Einbettung in ein „leserfreundliches“ und an wissenschaftlichen Kriterien der Glaubwürdigkeit orientiertes Buch ist gleichfalls der Weg für eine Differenzierung der Gattungen geebnet. Anders als die Kompilatoren und Redaktoren der salomo­nischen Weisheitensammlungen gibt sich der Sekretär Abū ʿUbaids in der Einleitung zur maṯal-Sammlung als Kompilator zu erkennen. Der Gelehrte verbürgt sich — vermittels des oben beschriebenen Redaktionsprozesses — für die Integrität seiner Arbeit. Er sichert sich damit auch eine Art Urheberschaft, die wiederum erst aufgrund seiner Arbeitsweise, der Darstellung seines Wissens im transportierfähigen Buchkodex, erforderlich wird. „Leserfreundlich“ ist das Kitāb al-Amṯāl nicht schon aufgrund seiner Schriftlichkeit und der philologischen „Rahmungen“ der Texte, sondern vor allem aufgrund der Systematisierung der Sprichworte nach inhaltlichen Kriterien. Die besondere Errungenschaft Abū ʿUbaids der systematischen Gliederung in Kapitel, deren Themen von ethnischen über genealogische, biologische, soziale, anthropologische, ethische und psychologische Aspekte reichen, verleiht dem Kitāb al-Amṯāl eine zusätzliche Unabhängigkeit von Unterrichtskontexten und auch die Konsistenz, die Römheld zufolge den altorientalischen Weisheitensammlungen fehlen. Bei Überschneidungen und Wiederholungen von Sprichwörtern in verschiedenen Kapiteln bzw. Unterkapiteln  99 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 283. 100 Assmann entleiht von Luhmann den Begriff der „interaktionsfreien Kommunikation“, der die Wiederaufnahme einer Sprechsituation über die Grenzen zeitlicher und geographischer Präsenz hinweg ermöglicht. Schrift ist jedoch für Assmann nur eine von drei Bedingungen für diese „Dehnung des hypoleptischen Horizonts“ — d. h. die Möglichkeit, an ein kommunikatives Geschehen anzuknüpfen, das sich vor langer Zeit ereignete. (Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 283).

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wird im Kitāb al-Amṯāl auf die entsprechenden Parallelstellen hingewiesen. 101 Neben der erweiterten Handhabbarkeit des Buches — etwa als Nachschlagewerk — zielt diese technische Bemühung auf die Suggestion von Vollständigkeit des Buches, das nicht linear gelesen zu werden braucht, sondern das lediglich ‚zur Hand‘ sein muss, um zu gegebenem Anlass das vollständige Wissen über die Sprichwörter zugänglich zu machen. Eine Kontrastierung der Arbeitsweise Abū ʿUbaids mit der Arbeit der ihm vorausgegangen Philologen, auf deren Sammlungen sein Wissen letztlich beruht, ist einzig mit der Sammlung al-Mufaḍḍal aḍ-Ḍabbīs möglich, die in sekundären Quellen teilweise überliefert ist. 102 Rudolf Sellheim argumentiert, diese frühere Sprichwortsammlung unterscheide sich von Abū ʿUbaids Kompilation vor allem in der Zielsetzung. 103 Statt philologischer Bearbeitung und systematischer Darstellung der amṯāl biete al-Mufaḍḍal zahlreiche Anekdoten, die hauptsächlich Berichte von Stammesfehden enthalten, 104 sowie das Lob bestimmter Herrscher und die Schmähung anderer. Die Sammlung al-Mufaḍḍals habe dadurch weniger einen wissenschaftlichen als einen erbaulichen und anthologischen Charakter. Anekdoten und amṯāl sind in al-Mufaḍḍals „Buch der Sprichwörter“ immer aufeinander bezogen, was den vorrangig mündlichen Sitz im Leben dieser Sammlung vermutlich „beliebter und bekannter“ 105 Geschichten und zugehöriger Sprichworte unter Beweis stelle. Auch in Abū ʿUbaids Kitāb al-Amṯāl ist die mündliche Wissenschaftstradition nicht getilgt. Zwar tritt Abū ʿUbaid in den explikativen und anekdotischen Rahmen in die Reihe anderer kontemporärer Überlieferer zurück („qāla Abū ʿUbaid“), doch bleibt eine exegetische Autorstimme im Kitāb al-Amṯāl durchgängig wahrnehmbar. So werden keine Angaben über Gewährsmänner in Form von Überliefererketten gemacht, sondern die Angabe der bekannten Gelehrten, die alle in direktem Kontakt mit Abū ʿUbaid standen, erfolgt durch die Mündlichkeit suggerierenden Formeln yurwā ʿan, qad rawainā ʿan oder fī baʿḍi l-ḥadīṯ. 106 101 Sellheim, Sprichwortsammlungen, S. 78f. 102 Ebd., S. 30. 103 Al-Mufaḍḍal aḍ-Ḍabbī ist laut Ibn an-Nadīms Fihrist der älteste Autor eines amṯāl-Buches. Die dort enthaltenen Anekdoten gipfeln in einem Sprichwort oder die Anekdote selbst dient der Erklärung des Sprichwortes. Hinweis in: Sellheim, Sprichwortsammlungen, S. 46. Sellheim betont den „ätiologischen Charakter“ der Anekdoten, die „von Versen bekannter und unbekannter Dichter durchwoben“ und teilweise sogar aus der Ich-Perspektive erzählt sind (Sprichwortsammlungen, S. 48). 104 Die Geschichten, „die den Ursprung von amthāl und das ‚Drumunddran‘, wie es zu ihnen kam, erklären sollen“ spielen vorrangig in Ost- und Mittelarabien. (Sellheim, Sprichwortsammlungen, S. 47f.). 105 Auf die Beliebtheit und Bekanntheit der Texte schließt Sellheim aufgrund der „lässigen Formeln“, mit denen Abū ʿUbaid von Mufaḍḍal überlieferte Geschichten einführt. (Sprichwortsammlungen, S. 49). 106 Sellheim, Sprichwortsammlungen, S. 80. In mehreren Beispielen gibt Abū ʿUbaid an, vergessen zu haben, von wem er ein bestimmtes Sprichwort gehört habe. (Vgl. auch Sellheim, Eintr. „Mathal“, in: EI², S. 821 mit Angaben.)

Abū ʿUbaid als Fallbeispiel

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Es geht Abū ʿUbaid weder um die bloße Bewahrung des arabischen Wortschatzes, noch um die vollständige Dokumentation desselben, sondern um das Erproben einer hermeneutischen Methode an einem zentralen Gegenstand der arabischen Literatur. Eine Begleiterscheinung dieses Projektes ist die Konturierung des Gattungsbegriffs maṯal selbst. Diese Beziehung zwischen wissenschaftlicher, „institutioneller“ Philologie, konturiertem Gattungsbegriff und „benutzerfreundlichem“ Buch ist interdependent. Nicht allein durch die Niederschrift, sondern mehr noch durch die Prozesse der Umstrukturierung, Neu-Komposition und Systematisierung des Spruchmaterials im Buch verändert sich die semantische Reichweite der Sprucheinheiten dahingehend, dass die verschriftlichten Texte von der Anleitung im gelebten und geteilten historischen Kontext zunehmend unabhängig werden. Der Sitz im Leben, den das arabische Sprichwort aufgrund sozialer Veränderungen verloren hat bzw. zu verlieren droht, wird durch einen Sitz im Buch suspendiert. Die Differenzierung der Gattungen führt im Fall des Kitāb al-Amṯāl wie im biblischen Proverbienbuch zwar auch über den Wechsel von mündlichem Gebrauch zu schriftlicher Dokumentation, doch scheint der Statuswechsel von Spruchmaterial zu Text und von Kontext zu Rahmen vor allem eine Errungenschaft und eine Begleiterscheinung der entstehenden wissenschaftlichen Philologie zu sein. 6.6.3 Selbstautorisierung durch den Propheten — ein neuer maṯal-Begriff? Das Kitāb al-Amṯāl ist eines der ersten Bücher der arabischen Philologie, das mit einem Vorwort eingeleitet wurde. Die Einleitung des Kitāb al-Amṯāl enthält selbst siebzehn amṯāl, die — anders als die Sprichwörter im Korpus — auf den Propheten zurückgeführt werden. Abū ʿUbaid bzw. der auktoriale Schreiber des Buches, gibt wiederum den Grund für die Notwendigkeit der Einleitung des Buches selbst an. Nämlich sollen solche amṯāl, die der Prophet selbst geäußert habe, der „Legitimierung unserer Methode“ (ḥuǧǧatan li-maḏhabinā) dienen. Nach der Autorisierung des Projektes der Verschriftlichung durch mehrere „Lektoren“ aus den Schulen der Grammatik und Philologie, wird nun das Vorhaben der Interpretation der amṯāl gerechtfertigt. Ich möchte aus den siebzehn amṯāl, die Abū ʿUbaid in seiner Einleitung anführt, hier zwei besprechen, um darauf‌hin mögliche Funktionen der Einleitung des Kitāb al-Amṯāl zu umreißen: ḍaraba llāhu maṯalan ṣirāṭan mustaqīman wa-ʿalā ǧanbatayi ṣ-ṣirāṭi sūrun fīhā abwābun maftūḥatun wa-ʿalā tilka l-abwābi sutūrun murḫātun wa-ʿalā raʾsi ṣ-ṣirāṭi dāʿin yaqūlu: udḫulū s-ṣirāṭa wa-lā taʿūǧū! 107 Gott prägte das Gleichnis eines geraden Weges, an dessen beiden Seiten eine Mauer steht, in denen offene Türen sind und vor den Türen sind herabhängende Vorgänge 107 Abū ʿUbaid, Kitāb al-Amṯāl, S. 34.

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Schriftgebrauch und Buchkultur

und am Anfang des Weges steht ein Rufer, der ruft: Tretet ein auf den Weg und weicht nicht ab.

Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass sich das prophetische maṯal in der Einleitung des Buches von den im Korpus gesammelten Sprichwörtern der Araber in der Bedeutung des maṯal-Begriffs unterscheidet. Er wird nun — ähnlich wie im Koran, jedoch ohne die signifikante intertextuelle Dimension — als das mit prophetischer Rhetorik identifizierte „Gleichnis“ verwendet. Abū ʿUbaid löst die Elemente des Gleichnisses vom „geraden Weg“ einzeln heraus und gibt ihre Bedeutung in Form einfacher Substitution an: Der gerade Weg bedeute den Islam, die Mauern stünden für die Gesetze Gottes, während die offenen Türen die Verbote repräsentierten. Der Rufer am Eingang des Weges wird mit dem Koran identifiziert. 108 Interessanterweise kommt wiederum dem Propheten die Aufgabe der Deutung des Gleichnisses zu. Dieses Moment wird am folgenden Beispiel noch deutlicher: maṯalu l-muʾmini ka-maṯali l-ḫāmati min az-zarʿi, tufīʾuhā ar-rīḥu marratan hāhunā wa-marratan hāhunā, wa-maṯalu l-kāfiri ka-maṯali l-arzati l-muǧḏiyati ʿalā l-arḍi ḥattā yakūna nǧiʿāfuhā marratan wa-minhā qauluhu ḥīna ḏakara l-fitana wa-l-ḥawādiṯa llatī takūnu fī āḫiri z-zamāni, fa-qāla lahu Huḏayfatu bnu l-Yamāni: a-baʿda haḏā š-šarri ḫairun? Fa-qāla: hudnatun ʿalā daḫanin wa-ǧamāʿatun ʿala aqḏāʾin. fa-qīla lahu: wa-mā huwa? Fa-qāla: lā tarǧiʿu qulūbu qaumin ʿalā mā kānat. 109 Der Gläubige ist wie ein Saatpflänzlein, das der Wind einmal hier und einmal dorthin biegt, und der Ungläubige ist wie die Zeder, die in der Erde fest steht, bis sie einmal entwurzelt wird. Dies war seine Rede, als er die Zwietracht und die Ereignisse, die in der Endzeit stattfinden werden, beschrieb. Da sagte Huḏayfa ibn al-Yamān zu ihm (dem Propheten): Gibt es nach diesem Übel (noch) Gutes? Er antwortete: Ja! Eine Friedenszeit mit Groll und eine Gemeinschaft mit Querelen. 110 Er (Huḏayfa) fragte: Und wie zeigt sich das? Er (der Prophet) sagte: Die Herzen der Menschen lassen sich nicht mehr auf das zurückführen, was sie mal waren.

Das religiös geprägte Gleichnis, das — wie die Gleichnisse im Koran — auf die Autorität Gottes zurückgeführt wird (ḍaraba llāhu), hat hier sogar eine eschatologische Dimension. Die Struktur des Vergleiches selbst ist aus dem Koran bekannt. 111 Nun bedarf der Vergleich des Gläubigen mit dem vom Wind hin und her gewehten Saatpflänzlein und dem Ungläubigen mit der fest stehenden Zeder trotzdem der Erklärung. Huḏaifa ibn al-Yamāns Nachfrage, ob denn am Ende der Zeit überhaupt 108 109 110 111

Abū ʿUbaid, Kitāb al-Amṯāl, S. 34. Ebd., S. 35. Wörtl. „störenden Elementen“. Vgl. zum Beispiel Q 16:76, siehe oben S. 195.

Zusammenfassung und Ausblick — ‚Episteme‘ der Schrift

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noch Gutes folgen werde, könnte ebenfalls als ein Ausdruck des Erstaunens über den ungewöhnlichen Vergleich gelesen werden. So gesehen lautete seine Frage, ob in jener Zeit (fī āḫiri z-zamāni) das Schlechte gut sei, das heißt, die Bedeutungen der Vergleichsbilder in ihr Gegenteil verkehrt würden. Statt einer konkreten Antwort bietet der Prophet in Abū ʿUbaids Glosse wiederum ein kaum weniger enigmatisches Gleichnis an, das ebenfalls einer Erklärung bedarf. Auch die letzte Aussage: „Die Herzen der Menschen lassen sich nicht mehr auf das zurückführen, was sie mal waren“, entbehrt nicht der Metaphorik. Erst nach weiteren 15 prophetischen amṯāl in der Bedeutung des Vergleichsmomente beinhaltenden Gleichnisses setzt die Sammlung der altarabischen Sprichwörter ein, die nun lexikalisch und grammatisch, selten gesamtinhaltlich, erklärt werden. Die Interpretationen der einzelnen Bestandteile eines Gleichnisses, die mit der Exegese des ersten maṯal vergleichbar wären, fehlen im Kompendium, so dass wir eine ähnliche begriff‌liche Diskrepanz zwischen der Einleitung und dem Korpus wie in Maǧāz al-Qurʾān vorfinden. Allerdings können wir hier — anders als im Maǧāz — eine direkte Bedeutung der prologhaften Einleitung für das Buch als ganzes erkennen. Diese besteht in der Demonstration der Methode der Deutung der amṯāl unter Berufung auf die höchste Autorität, auf den Propheten. Durch die Rechtfertigung des philologischen Unternehmens, der Sammlung und Erklärung der Sprichworte mit dem Hinweis auf die exegetische Aktivität des Propheten im Umgang mit ebenfalls amṯāl genannten Gleichnissen wird der „modernistische“ Aspekt der Verschriftlichung des alten Sprachwissens abgemildert. Abū ʿUbaid suggeriert das Zurückreichen des philologischen Arbeitens in die Anfänge des Islam. Die Legitimation der Auslegung von amṯāl durch den Hinweis auf die exegetische Aktivität des Propheten stellt — anders als die oben skizzierte Darstellung des Redaktionsprozesses des Kitāb al-Amṯāl mit den dabei beteiligten Autoritäten der Grammatik und Philologie — nicht die „Wissenschaftlichkeit“ der Arbeitsweise, sondern die Traditionsbewusstheit des Philologen unter Beweis.

6.7 Zusammenfassung und Ausblick — ‚Episteme‘ der Schrift Für Niklas Luhmann bedeutete die Einbeziehung von Schrift in kommunikative Abläufe eine Veränderung der semantischen Reichweite einer Mit‌teilung. Anders als in mündlicher Kommunikation, die eine Präsenz aller Teilnehmer im selben sozialen und historischen Kontext voraussetze, auf den sich Sprecher und Hörer deiktisch beziehen könnten, ermögliche „Schrift den Transport von Zeichen statt von Dingen.“ 112 Deshalb ergebe sich Bedeutung in Schrift nicht aus der intentionalen Referenz eines Sprechers auf die Welt, sondern aus der „Differenz ihrer Zeichen“. 113 112 Luhmann, Gesellschaft, Bd. 1, S. 257. 113 Ebd.

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Schriftgebrauch und Buchkultur

Die Unterscheidungswirksamkeit von Schrift mache sich durch eine „Optionalität von Meta-Kommunikation“ 114 bemerkbar. Auf dieser Unterscheidungswirksamkeit beruhe die „begriff‌liche Typisierung einzelner Worte, ferner eine Tradition, die Sinn über Abgrenzungen, Einteilungen, Kategorien, Arten und Gattungen reduziert.“ 115 Dieser Darstellung zufolge wäre die Festlegung von Textgattungen und die Differenzierung von Text und Kontext eine Folge des Kommunikationsmediums Schrift. Die arabische Philologie ist in Teilen als eine solche Vergrößerung der Unterscheidungswirksamkeit von Kommunikation beschreibbar. Vor allem die Anekdoten über den von Abū ʿUbaida und al-Aṣmaʿī unterschiedlich wahrgenommenen Status der arabischen Sprache und den in ihr überlieferten Texten, wie sie sich in der humoristisch inszenierten Vorführung des lexikalischen Wissens über Pferde, aber auch an ihrem „Missverständnis“ um die Bedeutung des Wortes „Brot“, zeigen, 116 können als eine Reaktionen auf die Veränderung der Beziehung zwischen textuell verfestigter Kommunikation (der Dichtung bzw. des Koran) zur Wirklichkeit gedeutet werden. Während al-Aṣmaʿī — durch seine Illustration der Verse der Dichtung am leibhaftig vorgeführten Pferd — darauf zu insistieren scheint, dass die Sprache der Dichtung als mündliches Kommunikationsmedium auch im 8. Jahrhundert taugt, verweist Abū ʿUbaida auf ihren „Abstand zur Welt“, indem er die Dichtung als schriftlich dokumentierten Kanon vorstellt. Allerdings scheint der „Abstand zur Welt“, den die vorislamische Dichtung in den Augen Abū ʿUbaidas in der frühen Abbasidenzeit aufweist, nicht schon durch deren Verschriftlichung hervorgerufen zu werden, sondern vor allem durch den an die philologische Intitutionalisierung gebundenen Kanonisierungsprozess. Auch scheint Schrift nicht die Voraussetzung dafür zu sein, dass Metakommunikation (etwa in Form terminologischer „Abgrenzungen“, wie dem Begriff maṯal) stattfinden kann, denn bereits der Koran enthält solche metakommunikativen Hinweise auf die eigene Form. Die „Selbst-Referenzialität“ des Korans ist sogar vielfach als ein besonderes Charakteristikum beschrieben worden. Noch scheint die Schaffung solcher metakommunikativer Formen die einzige Folge aus der Verschriftlichung des arabischen Sprachwissens zu sein. Die Frage, die uns zum Abschluss dieser Arbeit beschäftigt und die auch unsere Beobachtung am Kitāb al-Amṯāl mit denen an Maǧāz al-Qurʾān verbinden soll, ist die, was Schrift über die Veränderung der „semantischen Reichweite“ hinaus leistet.

114 Luhmann, Gesellschaft, Bd. 1, S. 268. 115 Ebd. 116 Zur Anekdote siehe Kapitel „3.5 Der Vorwurf der Auslegung nach Gutdünken“ (S. 89).

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Schrift und Wissenschaft Maǧāz al-Qurʾān fällt innerhalb der sich um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert ausdifferenzierenden „arabischen Nationalphilologie“ in eine Phase des Übergangs von mündlicher zu schriftlicher Kommunikation, Organisation und Verwaltung von Wissen. Die Interpretationstechniken, die wir im 4. und 5. Kapitel beschrieben haben, haben einen Sitz im Leben des Kommentars als einem in mündlicher Lehre verankerten, aber Schrift (inform von Mitschrift oder Vorbereitungsskizzen) involvierenden Text bestätigt. Die Formen der Segmentierung, die Kombination aus analytischen und synthetischen, vor allem aber „selektiven“ Zitationsweisen, haben nahe gelegt, dass Exeget und Hörer einen gemeinsamen Wissenshorizont besitzen. Rückbezüge innerhalb des Kommentars, die durch argumentative Redundanzen einerseits und offenbare Fortführungen exegetischer Argumente andererseits erkennbar wurden, haben vermuten lassen, dass der Kommentar bei kontinuierlich stattfindenden Zusammentreffen sprachwissenschaftlich interessierter Personen entstanden ist. Aufgrund der — aus dem mündlichen Entstehungskontext resultierenden — ‚fehlenden‘ Kontexterklärungen ist Maǧāz al-Qurʾān kein über den historischen Abstand hinweg ‚leserfreundliches‘ Buch. Wenn in den historiographischen Anekdoten über Abū ʿUbaida auch suggeriert wird, dass Abū ʿUbaida seine koranexegetische Aktivität mit dem Ziel begonnen habe, ein „Buch über den Koran“ zu verfassen, können wir aus diesen Berichten nicht auf den Grad der Schriftlichkeit des Kommentars schließen. Selbst die Einleitung zu Maǧāz al-Qurʾān weist so augenfällige terminologische Unterschiede zum Kommentartext auf, dass eine nachträgliche Entstehung — etwa durch die Hand von Kopisten und Rezensenten — wahrscheinlich ist. Trotzdem scheint Abū ʿUbaida — aufgrund seiner artikulierten Meinungen zum Medium des Buches vielleicht mehr als aufgrund seines tatsächlichen Produzierens wissenschaftlicher Schriften — als ein Befürworter der Schrift und damit als Herausforderer der auf mündlicher Überlieferung und mündlicher Textkritik beruhenden Philologie wahrgenommen worden zu sein. Hier ist der Vergleich mit dem Kitāb al-Amṯāl aufschlussreich. Denn anders als im 9. Jahrhndert besaß das wissenschaftliche Buch selbst zu Abū ʿUbaidas Schaffenszeit noch keine Autorisierungsprogrammatik. Erst die Schriften der nächsten Generation — die hier mit Abū ʿUbaid exemplarisch dargestellt wurden — weisen Strategien der Selbstautorisierung und wissenschaftlichen Absicherung (etwa den isnāden) auf. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Skandalon, das Abū ʿUbaida ausgelöst haben soll, nicht nur durch die Kombination des Wissens der Dichtung mit dem des Korans ausgelöst wurde, sondern dass sie auch der Wahrnehmung oder Inszenierung von seinem Korankommentar als einem „Buch über den Koran“ geschuldet ist. Denn bei den „Dialogen“ zwischen Ibn ʿAbbās und Nāfiʿ, die als mündliche Exegeseform entstanden und kursierten, ist diese poesieorientierte Exegese nicht kritisiert worden. Die Schriftlichkeit des Kommentars fördert daher hier nicht — wie in Luhmanns

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Schriftverständnis — eine größere Anschlussfähigkeit an den Text. Vielmehr führt die Entscheidung für das Medium der Schrift dazu, dass Anschlussfähigkeit sogar verhindert wird, da Schrift als weniger glaubwürdig und den Gegenständen der Philologie — Koran und Dichtung — für unangemessen erachtet wurde. Schrift als Medium der Offenbarung Wir haben bemerkt, dass Schrift auf der arabischen Halbinsel vor der Verkündigung des Korans nicht als ein Medium der „Ökonomie“ und der „Unterscheidungswirksamkeit“ wahrgenommen wurde, sondern dass Schrift in vielen Versen der altarabischen Dichtung gerade ein Bewusstsein von Vergänglichkeit evoziert und den Zugang zur Vergangenheit nicht schafft, sondern versperrt. Erst die Umdeutung des Begriffes waḥy im Koran hat den Weg für einen positiv konnotierten Schriftbegriff geebnet, der schließlich die Selbstverortung der koranischen Offenbarung in eine Geschichte der Offenbarung von Schrift(en) (kitāb) ermöglichte. Im Hinblick auf diesen epistemischen Transfer des Schriftkonzeptes während der Jahrhunderte vor der Entstehung des Maǧāz ist nun bemerkenswert, dass Abū ʿUbaida in auf‌fälliger Häufigkeit auf „Schrift“ (kitāb) als der einzigen Form menschlichen Interagierens mit Gott insistiert. Schrift ist für ihn das entscheidende „Emblem des Prophetentums“ und der Koran nicht nur das Dokument einer Kommunikation, sondern die hermeneutisch vollkommene „Schrift“ Gottes in arabischer Sprache. Durch die Entwicklung eines Textbegriffes, der auf die kompositionelle Vollkommenheit, die Gleichwertigkeit aller Text‌teile und deren gegenseitigen Verweischarakter insistiert, markiert Abū ʿUbaida den Koran als einen schriftlichen Kanon, hinter dessen organischer Komposition die historische und kommunikative Dimension des Offenbarungsprozesses zurück tritt. Die Schrift Gottes ist aber auch nicht „kryptisch“, sondern sie dokumentiert die Sprache der Menschen, an die sie ursprünglich adressiert war. Schrift ist im philologischen Korankommentar insofern ein positiv bewertetes Konzept, das auf das fait accompli des kitāb, nicht das waḥy der Dichtung auf‌baut. Trotzdem ist der Koran für den Philologen nicht ein Buch, das vorrangig der Lektüre dient. Es geht in Maǧāz al-Qurʾān nicht darum, den Koran als Glaubenstext „applikativ“, etwa im Hinblick auf ethische oder juridische Fragestellungen auszudeuten. Das Stichwort des „explikativen“ Kommentierens legte vielmehr nahe, dass der philologische Korankommentar einen „operativen“, 117 keinen „kommunikativen“ Schriftbegriff indiziert. Die Schrift Gottes dokumentiert die Offenbarung Gottes in arabischer Sprache, wobei deren Inhalte im philologischen Kommentar eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen. Mit der rein linguistischen Interpretation mar117 Sybille Krämer fasst mehrere Komponenten eines von ihr „Operationsraum“ genannten Schriftkonzepts zusammen, unter denen der Aspekt des „Operationalen“ eine Funktion von Schrift beschreibt, die nicht in der Lektüre, sondern im „handgreif‌lichen“ Umgehens mit Schriften besteht. Siehe Krämer, „Operationsraum Schrift“, S. 23ff.

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kiert Abū ʿUbaida vielmehr eine neue Devotionalität des Textes, die nun nicht — wie im 7. Jahrhundert — auf die Tatsache der Offenbarung, sondern auf die Sprache der Offenbarung rekurriert. Insofern ist es richtig, dass Abū ʿUbaida die Lehre von der Unnachahmlichkeit des Korans „vorbereitet“, 118 wenn er sie auch nicht terminologisch benennt. Schrift ist im ausgehenden 8. Jahrhundert im Zusammenhang mit Offenbarungswissen ein Autoritätsmedium, im Zusammenhang der Philologie ein Merkmal von unwissenschaftlicher Arbeitsweise. Schrift und „literales Interpretieren“ Im Hinblick auf einen diskursiven Rückgriff des philologischen Korankommentars auf spätantike Debatten um den Wert allegorischer oder aber literaler Interpretation heiliger Schriften hat uns die Frage nach dem semantischen Grundverständnis des Kommentars (der inaugurierten Beziehung zwischen Sprache und Bedeutung bzw. Sprache und Wirklichkeit), und dann auch die hermeneutische Selbstpositionierung gegenüber den anderen „schriftbesitzendenden“ Religionen beschäftigt. Abū ­ʿUbaida thematisiert in seinem Kommentar die anderen Religionsgemeinschaften, ihre Schriften und ihre exegetischen Praktiken nicht. Bei der kursorischen Kommentierung der Verse des Korans wird für den Koran selbst eminentes biblisches Wissen nicht besprochen. Aufgrund seiner Arabischsprachigkeit und der postulierten „Deutlichkeit“ der Sprache des Korans scheint eine dezidierte Abgrenzung gegenüber den Interpretationsmodellen der Juden und Christen nicht notwendig. Ein Konzept von Offenbarung in Schrift, wie wir es mit Assmann und Stroumsa als Merkmal spätantiker religiöser Erkenntnistheorie dargestellt haben, wird als gegeben vorausgesetzt. Vor allem im Kontrast zu der „Intertextualität“ des Korans, die Neuwirth als Kriterium für den Selbsteintrag des Korans in spätantike Debatten beschreibt, ist das „Fehlen“ der jüdischen und christlichen Gesprächspartner im philologischen Korankommentar auf‌fällig. Das Postulat einer durch Schrift bewirkten oder vergrößerten Unterscheidungswirksamkeit scheint hier nicht nur nicht ausreichend, sondern auf den Kopf gestellt: Die in den koranischen Suren porträtierte mündliche Rede referiert nicht oder nicht ausschließlich auf eine von den Diskussionsteilnehmern geteilte Wirklichkeit, sondern sie setzt Wissen voraus, das bereits von Erfahrungen mit kultischen, etwa liturgischen Praktiken der Nachbarreligionen her bekannt ist. Neuwirth notiert: Es ist nicht von einem Kursieren fixer Texte auszugehen, sondern von einer gemeinsamen liturgischen Sprache, die durch mündliche Tradition vermittelt wird und sich nur in einigen wenigen Fällen so eng an bestimmte Texte bindet, dass diese selbst sich im Koran eindeutig reflektieren lassen. 119 118 So Rippin, siehe oben S. 80. 119 Angelika Neuwirth, Studien zur Komposition der mekkanischen Suren, Berlin 2007 (2. Auf‌lage), S. 48.

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Denn die Bibel wurde zur Zeit der Verkündigung des Korans auf der arabischen Halbinsel nicht als (schriftlicher) Text studiert und mit der neuen prophetischen Selbstbehauptung in Verbindung gebracht. Vielmehr stellt die Textwelt der Bibel einen Bedeutungshorizont dar, in dem sich der Verkünder und seine Hörer ganz selbstverständlich zu bewegen scheinen. Der Koran dokumentiert insofern eine Form der mündlichen Kommunikation ohne deiktische Referenz auf gemeinsam erlebte Wirklichkeit. Im Korankommentar hingegen, der zu einer Zeit entstand, da bereits der Koran und auch arabische Bibelübersetzungen schriftlich vorlagen, 120 wird gerade die intertextuelle Sinndimension des Korans abgelegt und damit die „semantische Reichweite“ des Textes verkleinert, nicht vergrößert. Statt zu postulieren, dass dieses interreligiöse Wissen während der 180 Jahre der Islamisierung der arabischen Gesellschaft „verloren“ gegangen ist, gehen wir — auch aufgrund der geographischen Situierung der entstehenden arabischen Philologie in einem der Zentren des spätantiken Mittelmeerraums — davon aus, dass Abū ʿ­ Ubaida und die zeitgenössischen Koranphilologen den Koran und damit ihre eigene Hermeneutik von diesen Kontexten bewusst loslösten. Das Wissen der Bibel wird durch einen „rein arabischen“ literarischen Kanon ersetzt. Die altarabische Dichtung — und spärliche Hinweise auf bestimmte Verhaltensweisen der vorislamischen Araber oder aber des Propheten — sollen nun den einzigen Kontext für den Koran darstellen. Da gleichfalls keine Rolle zu spielen scheint, dass die Dichter, die im Maǧāz zitiert werden, zum Teil nicht aus dem Ḥiǧāz stammen und erst nach dem Tod des Propheten geboren wurden, ist diese Kontextualisierung in erster Linie nicht „historisch“, sondern sie hat vielmehr Teil an der von Rina Drory beschriebenen „Construction of the Jahiliyya“. Gehen wir von der Situierung der Koranphilologie in einen spätantiken Denkraum aus, können wir von diesem Projekt konkret von der Konstruktion einer „arabischen Antike“ sprechen, die nach dem Vorbild der Antikenkonstruktion benachbarter Textwissenschaften gestaltet ist. Abschließend soll nun noch einmal die Haltung zu Exegese selbst als ein Argument für die notwendige Beschränkung des Korans auf den „Literalsinn“ aufgegriffen werden: Warum werden spezifische Exegeseformen — etwa exegetische Bemühungen um spezifisch „mehrdeutige“ Verse des Korans 121 — von einigen Vertretern der arabischen Koranwissenschaften missbilligt? Die Unterscheidung von tafsīr biraʾy und tafsīr bi-l-ʿilm wird nicht in Maǧāz al-Qurʾān selbst, sondern erst in den späteren historiographischen Anekdoten über die arabischen Philologen, artikuliert. Aber bereits in dem Faḍāʾil al-Qurʾān Werk Abū ʿUbaids ist ein Kapitel zur „Auslegung des Korans nach Gutdünken“ 122 (hier: taʾwīl bi-r-raʾy) enthalten. Dort stellt 120 Siehe Griffith, The Bible in Arabic, S. 97ff. 121 Eine mögliche Interpretation der Anekdote um Ṣabīġ ibn ʿIsl konsterniert, dass es die (nur oder vor allem) mutašābihāt-Verse seinen, die nicht interpretiert werden dürften. Vgl. Leemhuis, „Origins and early development“, S. 193f. Siehe auch Kapitel „3.4 Begründung für die Notwendigkeit der Auslegung“ (S. 87). 122 Abū ʿUbaid, Faḍāʾil, S. 140.

Zusammenfassung und Ausblick — ‚Episteme‘ der Schrift

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Abū ʿUbaid eine Liste von Aussprüchen hoher religiöser Autoritäten zusammen, die sich der Auslegung des Korantextes verweigert haben sollen. Selbst ʿAbd Allāh ibn ʿAbbās gibt dort preis, dass ihm lieber wäre, nicht mit inhaltlichen Nachfragen zum Koran konfrontiert zu werden, 123 da er seine eigene exegetische Autorität gegenüber dem göttlichen Wissen um die Bedeutung des Textes für zu gering erachtet. Der Kontext des Faḍāʾil al-Qurʾān-Werks 124 legt nahe, dass die exegesekritische Haltung mit der schnellen Verbreitung von schriftlichen Koranexemplaren im frühen 9. Jahrhundert zusammen hängt. Anders als in der christlichen Spätantike, da „gewöhnliche Gläubige“ mit der Bibel vor allem im öffentlichen Raum in illustrierter Form, in Predigten, auf Mosaiken etc., aber selten mit einem vollständigen Bibelkodex in Berührung kamen, zielt das „Exegeseverbot“ der arabischen Philologen vermutlich auf die „willkürliche“ Auslegung des rasch auch physisch verbreiteten Korans in Laienhänden und stellt damit — ganz ähnlich wie die Lehre vom vierfachen Schriftsinn in der christlichen Tradition — eine exegetische Reglementierung dar. Die kritische Haltung zu Exegese ist insofern durchaus eine Reaktion auf die von Luhmann beschriebene, durch Schrift hervorgerufene „Explosion von Anschlussfähigkeiten“ zu verstehen, aber sie ist auch eine Reaktion auf die Hermeneutiken der benachbarten Exegesetraditionen. Schließen wir mit einer Hypothese: Verschiedene Formen und Argumente der Exegese Abū ʿUbaidas haben eine Ähnlichkeit seiner philologischen Arbeitsweise mit Kommentartechniken des rabbinischen Judentums erkennen lassen. Diese wäre angesichts der zählebigen Behauptung von Abū ʿUbaidas jüdischer Herkunft nicht erstaunlich. Angesichts der zentralen Bedeutung der exegetischen Grundeinstellung zu Allegorese im Christentum wäre Abū ʿUbaidas Lesart des Korans „nach dem Wortsinn“ vielleicht aus der rabbinischen Abgrenzung gegenüber christlicher Allegorese zu erklären. Sie wäre dann Ausdruck seiner bewussten Selbstverortung in diesen spätantiken Debatten.

123 Auf die Frage eines Mannes nach der Bedeutung der Formulierung „ein Tag, der wie tausend Jahre ist“ in Vers 32:5 antwortet Ibn ʿAbbās mit der Frage nach einem anderen Vers, in dem ein Tag 5000 Jahre dauert. Die Rückfrage des Mannes beantwortet Ibn ʿAbbās mit dem pauschalen Hinweis, dies seien zwei Tage, die Gott in seinem Buch erwähne. Gott wisse über ihre Bedeutung Bescheid, er selbst aber verabscheue es, über das Buch Gottes zu behaupten, was er nicht wisse. 124 Oben wurde argumentiert, dass das physisch vorliegende Objekt des muṣḥaf den zentralen Gegenstand im Werk des Philologen darstellt.

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English summary This study sheds light on the exegetical opus of the Arabic philologist Abū ʿUbaida Maʿmar ibn al-Muṯannā, entitled Maǧāz al-Qurʾān. Different aspects are addressed that collectively contribute to locating early Islamic commentary culture in the epistemic space of Late Antiquity. In an overview of previous research on Arabic philology and Quranic exegesis up to the end of the 8th century (chapter 1) I argue that the strategies and methods of Quranic commentaries of this period have almost exclusively been interpreted with regard to later developed techniques and linguistic theories of Arabic rhetoric. For the purposes of my argumentation I sketch the historical development of an extremely important Late Antique epistemic achievement: that of allegorical and literal interpretation of scriptures (chapter 2). I argue that allegorical and literal interpretations are to be understood in a dialectical relationship. The conscious choice of allegorical or literal meaning in scriptures reflects debates of religious-political importance. This idea is attributed to Maǧāz al-Qurʾān. An argument for the epistemic transfer from Late Antique exegesis to Arabic-Islamic intellectual history was first put forth in describing the conception of the Qurʾān in the form of philological commentary (chapter 3). The classificaton of philological commentary as “explicative” exegesis in opposition to the “applicative” strategies in exegetical texts during the “formative period” of exegesis in the 7th century is confirmed. In analysing the introduction to Maǧāz al-Qurʾān it becomes evident that the corpus of the Qurʾān here is characterized by its perfect composition and the counter-reference of its parts that are referred to with aesthetic “genre” specifica. A systematic overview of exegetical reasoning in Maǧāz al-Qurʾān itself (chapters 4 and 5) gives rise to conjecture about the “Sitz im Leben” of the commentary. Considering the dependence of Maǧāz al-Qurʾān on the contexts and the selective style of citation, Maǧāz al-Qurʾān appears to be a text that originated in oral communicative settings. Comparing the verses from ancient Arabic poetry (šawāhid) in the exegetical dialogues between the “founding father of Quranic exegesis” Ibn ʿAbbās and the khārijite Nāfiʿ ibn al-Azraq, entitled Masāʾil, to the poetic verses attributed to the Qurʾān in Abū ʿUbaida’s commentary, I substantiate the suspicion that the Masāʾil are chronologically earlier than the Maǧāz. The Masāʾil however circulated in oral transmissions to which philological exegetes such as Abū ʿUbaida could resort not only contentiously but — more importantly — methodologically.

250

English summary

Beyond this comparison I question the function of the šawāhid in the commentaries themselves. The poetic verses are not only mediums of authorization for exegetical arguments and illustrative devices conforming to linguistic standards during the time of the prophet. Particularly in exegetical glosses to theologically relevant Qurʾānic verses we see that Abū ʿUbaida is blending over the ideological discrepancies between the Qurʾān and poetry. In cases where the exegete is “de-theologising” or “de-biblicising” the Qurʾān I speak of a “connective” function of poetry in tafsīr. I supplement my analysis of the commentary itself with information about the beginnings of Arabic philology as it is seen in anecdotes from historiographical sources of the 11th century (chapter 6). Starting with the claim about Abū ʿUbaida being particularly sympathetic to the by his time new medium of script and the book in codex format, I develop the historical and social context of the Maǧāz al-Qurʾān with regard to this transfer of media — from oral transmission and communication to an increasingly scripture based society. I utilize the Kitāb al-Amṯāl of Abū ʿUbaid as a case study to examine the impact writing had on philology, and alongside sociological and scripture-specific theories I question the consequences writing had for the transmission of knowledge. Writing was approached less as a mode of communication than as a controversy in a progressively differentiated and specialized society. Philology defined its own “methods” and distanced itself from the elites that adhere to oral transmission and abstain from exegesis of the Qurʾān. By reading the Qurʾān in its “literal” sense, the philological exegetes distinguish their standpoint firstly from those scholars who prohibit exegesis, and secondly from the hermeneutical practices of neighboring religious communities, particularly from Christian allegorical convention.

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Register Namen- und Sachregister Abū ʿUbaid 9, 53, 186–187, 215–220, 222, 224– 227, 229, 233 al-Aḫfaš al-Ausaṭ 7, 16, 19, 21, 115, 128–129, 144, 149, 152 al-Aṣmaʿī 3, 13, 15, 71, 90, 123, 199–201, 203–205, 217, 221, 228 Alexandria 41–43, 48, 50–51, 60, 62–63 Allegorese/Allegorie 6, 28, 37, 39–52, 54, 56–59, 95, 122, 178, 185, 192–193, 195–196, 231, 233 Ambiguität 6, 17, 49, 190–191, 211 aṣl 106, 169–174, 220–221 Assmann, Jan 39, 70, 75, 222–223, 231 Augustinus 45–46, 50, 58 bayān 58–59, 66, 78–79, 231 Bibel 41–46, 48, 51, 55–57, 63–66, 68, 74–75, 79, 87, 111, 122, 156, 158–159, 183, 185, 191, 193, 195, 197, 219, 225, 231–233 Tora/hebräische Bibel 41–42, 51, 55–57, 65, 75, 79, 179, 183 Cassirer, Ernst 31, 47–48 Clemens von Alexandria 42–43, 50 Deutlichkeit siehe bayān Ellipse 36, 107, 113, 197 elliptischer Stil 8, 36 elliptische Sprache 105 al-Farrāʾ 7, 10, 16–17, 19, 21, 115, 123, 126, 128–129, 152, 169, 203, 218 Fātiḥa 76, 161–162 al-Ǧāḥiẓ IX, 9, 54, 164, 203–204 al-Ǧurǧānī 26–27, 29, 61 Gedächtnis 200–201, 204, 215 Gedächtnisdiskurs 164 Gleichnis siehe maṯal/amṯāl ḥadīṯ 8, 24, 130–134, 143, 221–222, 224

Hermeneutik IX, 1–2, 4–6, 8, 12, 15–16, 18, 21, 26, 39, 41–42, 44–45, 47, 49–52, 55–59, 62–63, 65–66, 77, 79, 81, 86, 88, 90, 93, 111–112, 120–122, 134, 152, 156, 164, 169, 179, 188, 192, 195, 197, 208–210, 216, 225, 230–233, 250 Ibn ʿAbbās 13, 21, 114, 122, 135–140, 147, 151–152, 156, 164–165, 178–179, 190, 229, 233, 249 iʿǧāz 26, 63, 80, 231 literale Interpretation/Literalsinn 6, 31, 37, 39– 43, 49–52, 54, 60, 79, 122, 156, 159, 194–196, 231–232 Luhmann, Niklas 206–208, 210–211, 213–214, 227, 229, 233 maǧāz 6, 14, 27–28, 31–37, 72, 74, 79, 94, 99–100, 102–103, 106–107, 109, 113, 115–116, 118–119, 126, 133, 157, 176–177, 180–182, 191–194 Masāʾil 13, 135, 137–147, 149–153, 155, 165 maṯal/amṯāl 4, 15, 33, 104, 140, 175, 182–188, 190–196, 215, 217–229, 250 maʿnā 6, 19, 36, 54, 74, 76, 80, 90, 100–101, 105, 113, 115, 118, 120, 130, 157, 170, 175–177, 182, 186 Metapher/Tropus 1, 6, 23, 26–31, 33–35, 48, 50– 51, 54, 79, 101, 106–107, 111, 174, 176, 178, 186–187, 192–195, 197, 209, 227 bei Aristoteles 27, 29–30, 33–34, 51, 54 istiʿāra 28–30, 33 römische Metapherntheorie 29, 34, 45 Midrasch 42, 111, 122 Muḥammad (Prophet) 17, 55, 65–66, 68, 78–79, 81, 83, 87–89, 103–105, 112, 121–122, 130– 135, 140, 149–150, 152, 155–156, 158–159, 163–164, 179–180, 214, 220, 225–227, 232, 250

254

Register

Muqātil ibn Sulaimān 17, 19, 103, 110, 114, 119, 179, 182, 190 Neuwirth, Angelika IX, 55–57, 95, 138, 141–142, 149, 152, 183, 185, 193, 211, 214, 231 Offenbarung 7, 20, 24, 39–40, 43, 51, 59, 67–68, 70, 78–79, 81–86, 88–89, 111–112, 121, 155, 164, 174, 178, 183, 190, 196, 214, 230–231 waḥy 78, 213–214, 230 Origenes 42–45, 50 Parabel 183–186, 190, 192 Personifizierung 28, 105–107, 118, 195, 197 Philologie IX, 3–8, 12, 14, 22–25, 31, 43, 54, 61, 75, 81, 86, 160, 166, 174, 186, 188, 191, 195, 199–201, 206, 208–209, 211–212, 215–216, 218–219, 225, 227–232, 249–250 philologischer Kommentar 4, 6–7, 15–18, 20– 21, 27–28, 37, 249–250 world philology 5 Philo von Alexandria 41–42, 50 Psalmen 185, 193 qaṣīda 22, 165, 189–190, 214 Rabbi Akiba 86 Rabbi Jischmael 79, 86, 156

sabab 20, 131–132, 174–178 šāhid/šawāhid 13, 21, 97, 101, 107, 109–110, 118, 134, 138, 141–144, 146–147, 149, 151–153, 156–157, 159–162, 165–166, 173, 175 Schrift 7–8, 12, 15–16, 22–25, 31, 36, 39–42, 44–46, 48, 55–56, 58–60, 62, 68, 71, 76–78, 83–88, 90, 95, 112, 114, 116–117, 120–122, 127–130, 136–137, 140–141, 152, 162, 170, 172, 178–179, 183, 186, 188, 196, 199–219, 222–223, 225, 227–233, 250 kitāb 19, 72, 76, 83–85, 128, 162, 194, 203, 214, 218, 230 Sībawaih 9, 61–62, 110, 122–123, 170, 175, 203 sīra 12, 129, 204 spätantik/Spätantike 6, 26, 39, 43–44, 46, 48–49, 52, 54–60, 62–64, 122, 178, 195, 216, 231–233 Sprichwort 4, 8, 131, 183, 186–192, 195–196, 204, 217–227 Unnachahmlichkeit siehe iʿǧāz waǧh/wuǧūh 53, 78, 178–182, 211 Wansbrough, John 23–24, 32–36, 103, 114, 136–138

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Koranverse 1 siehe Fātiḥa 2:26 33, 104, 184 2:61 146 2:123 187 2:137 69 2:158 172–173 2:171 175 2:196 173 2:231 187 3:7 84 3:11f. 119 3:19–20 85 3:39 85 3:70 85 3:75 187 3:103 72 3:152 146 3:173 100 3:178 132 4:23 130 4:49 105 4:57 187 4:85 146 4:104 145 4:155 96 5:2 172–173 5:12–13 59 5:13 96 5:71 181 5:90 143 5:97 173 5:103 124 5:116 108 6:23 126 6:75 191 6:102 121 7:40 157 7:46 157 7:83 158

7:85 191 8:5 109 8:35 146 8:63 72 10:1 85 11:1 85 11:5 104 11:24 194 11:84 107–108 12 118, 125 12:2 78 12:4 32, 107, 197 12:6 118 12:8 118 12:10 157 12:24 118 12:44 96–97 12:70 110 12:72 145 12:82 107–108, 197 12:85 144 12:95 118 13:16 195 13:19 195 13:31 145 14:4 78 14:9 191 14:24 183 14:24–26 193 14:25 193 15 160–161 15:22 171 15:47 172 15:54 181 15:87 160–161 16:58 146 16:72 144, 150 16:76 183, 195, 226 16:92 157

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256 16:98 74 17 133 17:36 133, 146 17:78 145 17:89 183 18 183 18:60–82 58 18:77 105–106 19:13 144, 147–149 19:16 95 19:24 144 19:71 143 19:98 145 20 118, 125 20:1 80, 118–119 20:2–3 115–116 20:12 118 20:18 118, 127 20:31 146 20:63 118, 128 20:77 118, 127–128 20:97 118, 127 20:98 118 20:108 146 21 118 21:3 102–103 21:22 35 21:30 118 21:33 118 21:37 118, 176–177 21:63 107, 118 21:99 107, 118 22:5 100 22:27 25 24:43 72 25:12 177 25:65 145 25:68 143 26 77 26:56 145 26:135 156

Register 26:153 144, 155 26:153–54 155 26:225 25 27 77 27:18 110 27:57 158 27:86 28 28 77 28:14 123 28:20 94 28:76 34, 176–177 29:43 192 30:50 98 31:1 85 31:13 107 31:27 193–194 32:5 233 32:30 112 33:34 187 33:56 118 34:19 125 34:23–24 125 34:33 108 34:40 108 34:47 123 35:1 123 35:19 195 36:13–31 184 36:40 107 36:51 129 37:62 87 37:99–109 57 37:142 146, 150 38:6 36 38:10 131 38:12 125 38:15 125 38:44 96–97 39:23 160 39:29 195 40 77

Register 40:58 195 41 77 41:11 107 41:44 78 42:17 99 43 77 43:3 58, 78 43:3–4 58 43:4 84 43:15 113 43:18 113 43:23 113 43:26 113 44 77 44:16 110–111 45 77 46 77 47:31 180 50:1 119 51:7 145 52:15 35 52:31 25 53:1 101, 158 53:61 146 55 59 55:35 144, 146 55:44 144 56:9 146 57:23 143 62:2 85 64 115 64:9 115 66:4 102 68:1 110 68:20 146 68:25 180 69:7 146 69:38–39 110 69:47 100 70:19–22 116–117 70:22–23 67

71:13 146 72:3 147 73:18 35 74:43–44 67 75 73 75:11 145 75:14–16 73 75:16–17 72 75:17 72, 74 75:18 72, 74 75:19 73 75:29 147 76:2 145 78:34 147 79:14 150 81:6 143 81:17 147 84:14 147 84:17 110 84:18 147 85:21 84 86:14 147 87:15 67 90 59 90:4 144 90:14 147 91:5 109–110 91:5–8 110 96:1 84 97:4–5 126 100:6 146 103:2–3 116 106:1–2 72 107:7 154 109:1 76 112 69 112:1 76 112:2 144, 154 113:1 147

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