Phantastik und Skepsis: Adelbert von Chamissos Lebens- und Schreibwelten [1 ed.] 9783737005500, 9783847105503, 9783847005506

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Phantastik und Skepsis: Adelbert von Chamissos Lebens- und Schreibwelten [1 ed.]
 9783737005500, 9783847105503, 9783847005506

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Chamisso-Studien

Band 1

Herausgegeben von Jutta Weber, Walter Erhart und Monika Sproll

Roland Berbig / Walter Erhart / Monika Sproll / Jutta Weber (Hg.)

Phantastik und Skepsis Adelbert von Chamissos Lebens- und Schreibwelten

Mit 33 Abbildungen

V& R unipress

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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0550-3 ISBN 978-3-8470-0550-6 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0550-0 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Chamisso-Gesellschaft e.V., der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, der Universität Bielefeld sowie von Wolfgang Dohle. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Brief von Adelbert von Chamisso an Christian Gottfried Ehrenberg und Friedrich Wilhelm Hemprich, 01. 06. 1824, mit dem Gedicht „Mich ärgern höchlich …“; SBB: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 18, Nr. 4, Blatt 9v (Photographie Ó SBB); http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/ werkansicht/?PPN=PPN770911447& PHYSID=PHYS_0004. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Klaus-Dieter Lehmann (Präsident des Goethe-Instituts) Adelbert von Chamisso – ein früher Bote im internationalen Kulturaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jutta Weber (Vorsitzende der Chamisso-Gesellschaft e.V.) Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Walter Erhart / Monika Sproll Phantastik und Skepsis – Adelbert von Chamissos Lebens- und Schreibwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ren¦-Marc Pille Ein aufgeklärter Romantiker : Zu Chamissos dichterisch-naturwissenschaftlicher Entwicklung

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. . . . . . . . . . . . .

200 Jahre Peter Schlemihls wundersame Geschichte Walter Erhart Siebenmeilenstiefel, Kronometer, Geschichte der Pflanzen – Chamissos Zeit-Regime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joseph Twist ‘[D]ie Poetischen in der Philosophie, die Philosophischen in der Poesie’: The Critique of German Idealism in Peter Schlemihls wundersame Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Schmidt Peter Schlemihl und das romantische Spiel mit der Herausgeberfiktion

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.

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Inhalt

Nikolas Immer Schlemihl in Afrika. Auf den Spuren seiner ursprünglichen Reiseroute . .

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Das Unbekannte erfahren – Aufbruch in neue Welten Anna Busch / Johannes Görbert ,Rezensiert und zurechtgeknetet.‘ Chamissos Briefe von seiner Weltreise – Original und Edition in Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Monika Sproll „Das ist Natur!“ – Adelbert von Chamissos Bildkritik an Ludwig Choris’ Voyage pittoresque zwischen ästhetischem und wissenschaftlichem Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Wolfgang Dohle Adelbert von Chamisso und seine Entdeckung des Generationswechsels bei den Salpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Paul Hiepko Botanische Orte: Sammeln und Auswerten . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Dorit Müller Chamissos Reise um die Welt: Explorationen geographischer und literarischer Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Lyrische Stationen Volker Hoffmann Selbstinitiation in eine neue Werkphase. Ein Brief Chamissos an Uhland wiedergelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Torsten Voß Dialektische Überschneidungen? Realer und imaginärer Ort in Einem: Die Sehnsucht nach der Kindheit als Utopie des Glücks in Chamissos Das Schloß Boncourt (1827) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Marie-Theres Federhofer Die „Facilitäten der Communication“ – Die B¦ranger-Übersetzung von Adelbert von Chamisso und Franz von Gaudy als ein Beitrag zur Weltliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

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Inhalt

Caroline Gerlach-Berthaud Adelbert von Chamisso als Selbstübersetzer

. . . . . . . . . . . . . . . . 277

Roland Berbig Chamissos Notizbuch 1828. Analytische Stichproben . . . . . . . . . . . 305 Benjamin Fiechter Tinte und Blei: Überlegungen zur Wertigkeit von Schreibgeräten . . . . . 313 Lisa Trekel Adelbert von Chamissos Das Dampfroß – Das Notizbuch von 1828 als „Dichterwerkstatt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Tabitha van Hauten Strategien der poetischen Produktion. Adelbert von Chamissos Mordthal-Entwurf im Briefjournal 1828 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Moritz Rauchhaus Chamissos Listen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Johanna Hähner Verspieltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Christiane Clever Die fehlenden Blätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Anne Baillot Wissen, Lieben – und Schreiben: Phantastik und Skepsis im Briefwechsel Chamissos mit seiner Frau aus dem Sommer 1823 . . . . . . . . . . . . . 351 Zu den Autorinnen und Autoren

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Klaus-Dieter Lehmann (Präsident des Goethe-Instituts)

Adelbert von Chamisso – ein früher Bote im internationalen Kulturaustausch1

[…] Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich, Katholik bei den Protestanten, Protestant bei den Katholiken, Philosoph bei den Gläubigen und Heuchler bei den Männern des Ressentiments, Jakobiner bei den Aristokraten und Mann des ancien r¦gime bei den Demokraten. Ich habe nichts, wohin ich gehöre, ich bin überall fremd.

Sie alle kennen dieses berühmte Zitat aus einem Briefwechsel Adelbert von Chamissos mit seiner guten Freundin Madame Germaine de StaÚl. Zwei Herzen schlugen in Chamissos Brust – ein französisches und ein deutsches – und dieser Hintergrund war ihm ein Leben lang richtungsweisend. Er floh als Sohn einer adligen Familie vor der französischen Revolution nach Preußen, wo er wiederum auf Französisch erzogen wurde. Er trat in den Militärdienst ein, kämpfte im deutsch-französischen Krieg von 1806 auf preußischer Seite. Gedichtet hat er stets auf Deutsch, doch ist gleichermaßen überliefert, dass er bis an sein Lebensende mit starkem französischem Akzent gesprochen hat. Chamisso wanderte ruhelos zwischen den Grenzen und Kulturen, denen seiner eigenen Identität und Herkunft, aber auch ganz unmittelbar auf seiner dreijährigen Weltreise, die ihm einen Blick von außen auf Europa ermöglichte. Aus dieser rastlosen Neugier heraus wurde Chamisso zu einem sehr frühen und bedeutenden Boten im internationalen Kulturaustausch, weit über den deutschfranzösischen Austausch hinaus, den er vor allem durch seine intensive literarische Übersetzertätigkeit maßgeblich prägte. Zahlreiche außereuropäische Themen, Quellen und Motive in seinen Reiseberichten und Gedichten machten die Ferne und Fremde für seine Leserschaft erlebbar. Ich möchte anlässlich der heute beginnenden zweiten internationalen Chamisso-Konferenz über Adelbert von Chamisso als Kulturvermittler sprechen – darüber, wie modern Chamisso für seine Zeit war, wie seine Offenheit und Neugier auf und sein Respekt vor fremden Kulturen uns auch heute im inter1

Eine gekürzte Fassung dieses Eröffnungsvortrags erschien in Chamisso. Viele Kulturen – eine Sprache 9 (2013) H. 3, S. 4–8. Zugleich: https://www.goethe.de/de/uun/prs/int/pra/alt/1266 7523.html [21. 10. 2015].

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Klaus-Dieter Lehmann

kulturellen Dialog Inspiration sein kann, und warum er der ideale Namensgeber für einen Literaturpreis an Autoren deutschsprachiger Literatur ist, deren Werk von einem Sprach- und Kulturwechsel geprägt ist. Adelbert von Chamisso war Vieles in seinem Leben, ein Grenzgänger auch in seinen Interessen: Er war ein ungewöhnlicher Dichter und Übersetzer, ein exzellenter Botaniker, Zoologe, Sprachwissenschaftler und Ethnologe. Der Dichter Chamisso wurde in viele Richtungen rezipiert. Heinrich Heine feierte ihn als „modernen“ und „jungen“ deutschen Schriftsteller, er reklamierte ihn für die zeit- und romantikkritische Vormärzliteratur. Jungdeutsche Autoren wie Georg Herwegh und Heinrich Laube verorteten Chamisso begeistert als Wegbereiter einer politischen Lyrik, die sich den Nöten der kleinen Leute widmete. Doch blieb er trotz seiner dezidierten Begeisterung für den demokratischen Meinungsbildungsprozess, trotz seiner zahlreichen Übersetzungen politischer französischer Lyrik stets liberaler Einzelgänger, er ordnete sich nicht fest ein in die Reihen politischer Dichter seiner Zeit. Trotzdem war er in seiner Wirkung hoch politisch. Seine Waffe war das Wort, die Literatur. Im Gedicht lag seine Stärke, zu zeigen, wofür er stand. Die Lyrik war für viele Autoren jener Zeit die wichtigste Gattung, in der sie Absichten ausdrücken konnten, ohne dass die Zensur gleich einschritt. Hoffmann von Fallersleben war ein solcher Weggefährte. Seine politisch-literarischen Aktivitäten sind ihm nicht gut bekommen. Die Handschriften und Drucke aus dem Besitz von Hoffmann von Fallersleben hatte die Staatsbibliothek schon 1850 durch Kauf erworben. Die schwierige Einordnung von Adelbert von Chamissos Position in der zeitkritischen Literatur glaubte man dadurch zu lösen, dass man ihn der Romantik zuschlug. Diese Zuordnung zur Romantik ist wohl im wesentlichen seiner Mitgliedschaft im Nordsternbund geschuldet, ein Zusammenschluss junger Lyriker und Autoren der Berliner Romantik wie Karl August Varnhagen, Wilhelm Neumann, Louis de la Foye, David Ferdinand Koreff oder seinem späteren guten Freund Karl Eduard Hitzig. Natürlich mutet auch die märchenhafte Geschichte des Schlemihl, der wichtigste Erfolg seiner literarischen Karriere, der im 200. Jahr seines Erscheinens die vor uns liegende Tagung prägen wird, romantisch an. Doch stellen sich beim genaueren Hinsehen glasklare gesellschaftskritische Elemente und die Beschreibung von prosaischen Alltagsverhältnissen heraus. Über die Jahre hinweg distanzierte er sich immer mehr von der romantischen Schwärmerei, nicht zuletzt durch die Erfahrungen auf seiner Weltreise, die für ihn zum Aufklärungsprojekt wurde. Heute wird Chamisso oft als ,aufgeklärter Romantiker‘ verstanden, auch als Dichter in Herders Sinn, wie Chamisso-Biograf Peter Lahnstein schreibt:

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,Stimmen der Völker‘ tönen hundertfältig aus seinem Werk; neben den deutschen und französischen spanische, baskische, korsische Stimmen, polnisch-jüdische, ungarische, nordische, russische; Stimmen aus dem alten Orient, aus Amerika, aus der Südsee. In seinen Gedichten fließt es ineinander : Aufnehmen und Gestaltung fremder Motive, Nachdichtung und Übersetzung.

Wie kam es zur Weltreise des Dichters? Chamisso vollzog noch im Jahr, in dem er den Schlemihl schrieb, eine Kehrtwende in seinem Werdegang und widmete sich in den Jahren 1812 bis 1814 dem Studium der Botanik, der Zoologie und der vergleichenden Anatomie an der Universität Berlin. Man könnte meinen, der heimatlose Chamisso suchte sich eine geistige Heimat in der Wissenschaft. Im Rahmen seiner Forschungen wird der Ruf hinaus in die Welt für Chamisso immer lauter, und er brach nur zu gerne auf eine Weltreise an Bord der russischen Brigg Rurik auf. Die Reise hat selbst für heutige Verhältnisse unglaubliche Ausmaße – drei Jahre lang segelte Chamisso von Kopenhagen über Plymouth gen Süden, über Brasilien um das Kap Horn über die Südseeinseln Salas y Gomes, Osterinseln, Ratak, nach Kamtschatka und Alaska (wo es bis heute ein Chamisso-Island gibt), zurück nach Süden, Kalifornien, danach Hawaii, gefolgt von einem zweiten Vorstoß nach Norden, wieder über Hawaii zurück gen Westen, Guam, Philippinen, Sunda-Straße, Kapstadt, St. Helena, London, Kopenhagen, Reval, Kronstadt, St. Petersburg und schließlich Swinemünde. Von der Reise schrieb er an seinen guten Freund Julius Hitzig: Es gibt Zeiten, wo ich zu meinem armen Herzen sage: Du bist ein Narr, so müßig umherzuschweifen! Warum bliebest Du nicht zu Hause und studirest etwas Rechtes, da Du doch die Wissenschaft zu lieben vorgibst? Und das auch ist eine Täuschung, denn ich athme doch durch alle Poren zu allen Momenten neue Erfahrungen ein […]

Auf seiner Reise war Chamisso ebenso sehr Naturbeobachter wie Beobachter der Menschen, ihrer sozialen Umstände, der politischen Verhältnisse. Er warf einen strengen Blick auf die Kolonisierung, auf den Sklavenhandel und das Missionarstum. Der Kontakt zu den unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften, zu anderen Religionen hat ihn zu einem offenen Geist werden lassen, er war neugierig auf das Fremde und respektierte andere Kulturen. Der Dichter, Weltreisende und Kulturvermittler Chamisso kann uns heute Inspiration sein, wenn wir in einer immer komplexer werdenden Welt auf der Suche sind nach Wegen für einen nachhaltigen Kulturaustausch. Mehr denn je sind heute in der internationalen Wahrnehmung Kultur, Bildung und Wissenschaft entscheidende Indikatoren für Zusammenarbeit und Zusammenleben. Innen und außen sind keine getrennten Welten mehr, sie bedingen einander. Die Welt hat sich entscheidend verändert, und unsere Gesellschaften stehen an einem Wendepunkt. Globalisierung und Modernisierung haben nicht zu einer einheitlicheren Welt geführt. Sie ist im Gegenteil wieder

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Klaus-Dieter Lehmann

stärker segmentiert. Diese Entwicklung ist kein vorübergehendes Phänomen. Der globale Wettbewerb hat inzwischen eine veränderte Beteiligung der Machtund Einflusssphären geschaffen. Neue Zentren und veränderte Peripherien sind entstanden, mit Megastädten und unproduktiven Wüsten, mit abgeschotteten Parallelwelten und radikalen Auf- und Umbrüchen, mit Übersprungeffekten des rein ökonomischen Denkens auf alle Lebensbereiche, mit postkolonialen Staaten, die vor großen sozialen und politischen Herausforderungen stehen. Weltweit werden Migrationsströme ausgelöst, die sich durch die unterschiedliche demographische Entwicklung in Europa und in den Schwellen- und Entwicklungsländern noch beschleunigen, Wirtschafts- und Finanzkrisen werden erlebt und erlitten. Wie lässt sich diese globalisierte Welt – hier borge ich mir einen Ausdruck des ungarischen Schriftstellers Peter Esterh‚zy – lesbar machen? Es genügt nicht, nur eine riesige Wissens- und Informationsmaschine in Gang zu halten. Es bedarf einer verständlichen, nutzerfreundlichen und zeitgemäßen Bedienungsanleitung, einer Kompetenz und Urteilskraft. Offenheit und Neugierde auf fremde Denk- und Lebenswelten, wie sie auch Chamisso eigen waren, sind dafür eine wichtige Voraussetzung. So versucht auch das Goethe-Institut in seinen weltweiten Tätigkeiten stets einen offen, neugierigen und respektvollen Blick auf die Welt und das jeweilige kulturelle Gegenüber in unseren Gastländern zu bewahren. Das ist eine wichtige Prämisse unserer Arbeit. Gerade weil diese Welt so viel Unterschiede, Ungleichzeitigkeiten und Brüche zeigt, weil sie ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft den Menschen abfordert und die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften auf eine harte Probe stellt, sind Weltformeln oder weltumspannende Steuerungssysteme nicht die Lösung. Es muss im Gegenteil ein Weg gefunden werden, der ein kritisches, fantasievolles Gespräch mit und in der Welt ermöglicht, der unsere starren Klischees hinterfragt und der sich glaubwürdig um einen Dialog bemüht. Kultur, Bildung und Wissenschaft können heute nicht mehr in national abgeschotteten Wissenskulturen erfolgreich sein. Die Wissenschaft ist auf internationale Forschungsnetzwerke angewiesen, Bildung ist auf internationaler Ebene wesentlicher Bestandteil differenzierter Diskussionen und Initiativen geworden, Kultur wiederum lebt von Begegnung und Vermittlung. Ich schreibe den Begriffen der Nah- und Fernkompetenz im internationalen Kulturaustausch eine wichtige Bedeutung zu. Wir müssen uns auf den europäischen Gedanken besinnen, bevor wir sinnvoll weltweit aktiv werden können. Deutschland hat als Mittelland in Europa eine besondere Verantwortung für einen gemeinsamen Kulturraum. Europa ist mehr als Euroland, es ist ein Kulturund Bildungsprojekt. Künstlerische Positionen, Prozesse und Produktionen zu europäischen Themen können eine kreative Basis formen, Literatur- und Übersetzungsförderung können die Vielfalt der Kulturen verständlich machen,

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Risiken und Herausforderungen der neuen Produktions- und Beteiligungschancen in Europa können identifiziert und ausgestaltet werden. Es geht um die politische Kraft der Kultur. Wie erhalten und fördern wir die kulturelle Vielfalt in Europa? Wie stellen wir uns wichtigen Zukunftsfragen? Wie gehen wir mit unseren Erinnerungen um? Welches kulturelle Selbstverständnis haben wir, und wie verstehen wir die demokratischen Grundsätze von gesellschaftlicher Teilhabe? Die Behandlung dieser Fragen gehört zum dauerhaften Bestand der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Europa war auch schon für Chamisso ein wichtiges Thema. Bei ihm flossen die Neugier auf fremde Welten und das Bewusstsein für Europa ineinander. Nicht umsonst hat die Autorin Beatrix Langner ihre Chamisso-Biografie von 2008 „Der wilde Europäer“ betitelt. Also ging es auch bei ihm um eine Nah- und Fernkompetenz, die einander produktiv bedingten. Chamisso war ein früher Liebhaber des europäischen Gedankens, allein durch seine Übersetzertätigkeiten wurde er zum wichtigen Kulturvermittler ganz im Sinne seines Zeitgenossen Wilhelm von Humboldt, der gesagt hat „Jede Sprache, die ich erlerne, eröffnet mir eine neue Welt“. Insbesondere seine Weltumseglung förderte die Auseinandersetzung mit Europa und der Bedeutung von nationaler Identität; er schien sich erstmals ein Bild zu machen von Gesamteuropa, das seine früheren Vorstellungen eines Europas der Nationen überstieg. Auch wenn er kein politischer Theoretiker war, kannte er sich aus in den Systemen Europas, in seiner Korrespondenz stellte er Vergleiche der Systeme an, er war in seiner Geisteshaltung ein Liberaler, stark von dem britischen Ansatz überzeugt. Er setzte sich in seinen Gedichten immer wieder mit der politischen Lage auseinander, auch hier spielte der Gedanke des Europäischen stets eine zentrale Rolle – literarisch-kulturell und gesellschaftlich-politisch. Seine in der Rezeption als ,europäischen Gedichte‘ bezeichneten lyrischen Arbeiten, es handelt sich dabei um rund 80 Einzelwerke, stellen sehr konkrete tagespolitische Bezüge her : zum spanischen Widerstand gegen das napoleonische Frankreich, zum Dekabristenaufstand in Russland von 1825, zum polnischen Aufstand gegen das zaristische Russland 1830 oder zum griechischen Freiheitskrieg. Bemerkenswert sind in diesem Kontext auch seine Übertragungen und Bearbeitungen der politischen Volkslieder von B¦ranger – 44 an der Zahl. Doch behandeln seine Gedichte stets auch ,allgemeinmenschliche Themen‘ wie die Liebe, den Tod, die Treue, den Mut usw. Unterschwellige Botschaft war dabei laut Edward Monin, „daß Chamissos Leser sich ihrer mit anderen Europäern geteilten Humanität bewusster werden sollten.“ Bei diesem Blick auf die Biographie Chamissos erschließt es sich sofort, dass die Robert-Bosch-Stiftung, in den Anfängen noch begleitet von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dem Institut für Deutsch als Fremdsprache

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Klaus-Dieter Lehmann

der Universität München, unseren weltreisenden Deutsch-Franzosen Adelbert von Chamisso 1985 als Namensgeber für einen neuen Literaturpreis gewählt haben. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zeichnet Autoren deutschsprachiger Literatur aus, deren Werk von einem Sprach- und Kulturwechsel geprägt ist. In einer Begründung für die Namensgebung hat Harald Weinrich, der Initiator des Preises, übrigens einen klaren Bezug hergestellt zur literarischen Figur Peter Schlemihl. Er schrieb: „Bei der Option Chamisso […] sollte deutlich werden, dass die Autoren auf dem Weg in die deutsche Literatur ihren Schatten nicht einbüßen sollten.“ Die ausgezeichneten Autoren einen Themen, Motive, Schauplätze, die ein familiär und kulturell seit Jahrhunderten in Ostfriesland oder Niederbayern verwurzelter Schriftsteller wohl kaum wählen würde oder literarisch gestalten könnte. Auch prägt ein ganz eigenständiger, man mag sogar sagen eigenwilliger Umgang mit der deutschen Sprache ihr Schreiben; sie verwenden einen Stil, den man womöglich eher entwickelt, wenn noch eine weitere Sprache mitflüstert, mitsingt und mitschwingt. Es sind ungemein reizvolle Schriftsteller und Werke vertreten, heute gehören viele der Preisträger zur ersten Garde der deutschsprachigen Literatur und sie haben sich fest auf dem deutschen Buchmarkt etabliert – Feridun Zaimoglu, SAID, Rafik Schami, Ter¦zia Mora, Emine Sevgi Özdamar, Herta Müller oder Ilja Trojanow, um nur einige Namen zu nennen. Der Preis ist prominent positioniert unter den über 60 Literaturpreisen, die in Deutschland verliehen werden. Dabei ist der Kultur- und Sprachwechsel das unverwechselbare und einzigartige Kriterium, der Kern des Chamisso-Preises. Für mich ist es eine besondere Ehre, Mitglied in der Jury des Preises zu sein. Wenn ich mir hier noch eine persönliche Einschätzung erlauben darf: Man sollte nicht meinen, dass es zu viele Preise gibt. Sie sind eine einmalige Gelegenheit für Autoren, sichtbar zu werden. Insbesondere in den Anfängen hat Harald Weinrich hier Großes geleistet – junge Autoren in einem neuen Land fanden in dem Preis ein Riesenpotenzial, ihre Außenwirkung zu stärken. Die Auszeichnung hat eine interessante und wechselvolle Geschichte. Zu Beginn stand sehr stark der biografische Hintergrund der Autoren im Fokus, auch die Romane waren primär sozial angesiedelt. Die Dialektik von Heimat und Fremde, der Sprach- und Kulturwechsel und die sich dem ,Multikulturellen‘ nur langsam öffnende deutsche Gesellschaft waren die zentralen Themen. Die öffentliche Sichtbarkeit literarischer deutscher Texte von Autoren mit Migrationshintergrund ging Anfang der neunziger Jahre dann einher mit der Kategorisierung unter dem – insbesondere unter den Schriftstellern selbst – umstrittenen Begriff der Migrantenliteratur. Damit wurde ein Phänomen benannt, das für Deutschland neu war, im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder USA. Im Zuge dieser begrifflichen Debatte wurde, und

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wird bis heute, auch Kritik am Chamisso-Preis geübt: Er vereinnahme Autoren und Werke für kulturpolitische Zwecke oder schiebe Autoren durch das Etikett Migrantenliteratur in eine bestimmte Ecke ab. Es ist eine Kritik, über die es sich zu diskutieren lohnt. Über die Jahre hinweg hat sich die Bandbreite der Preisträger enorm weiterentwickelt. Auch wenn sie keine Initialzündung für erstklassige deutschsprachige Literatur aus Ost- und Südosteuropa brachte, da diese schon längst existierte, kam mit der Zeitenwende von 1989 naturgemäß ein starker Fokus auf Osteuropa, etwa die politisch-historischen Ungarn- und Ostblock-Bücher von György Dalos, die Erzählungen und Romane von Rumäniendeutschen wie Herta Müller, Rolf Bossert oder Richard Wagner. Parallel kamen Autoren aus Afrika, Lateinamerika und Asien auf den Plan – der persische Lyriker Cyrus Atabay, die Japanerin Yoko Tawada oder die Argentinierin Maria Cecilia Barbetta. Heute geht die Migrantenliteratur immer mehr in Deutschland auf, die Autoren wollen sich weder ausgrenzen noch einen Sonderstatus haben, sie verstehen sich als literarische Vertreter einer lebendigen literarischen Kultur in Deutschland. Autoren wie Feridun Zaimoglu stellen Lebenswelten ihrer Heimat in ihren Romanen vor, wie sie kein anderer beschreiben könnte, auch wenn sie selbst dort gar nicht leben. Dort liegt eine ungemeine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Hier zitiere ich Ilja Trojanow, Chamisso-Preisträger aus dem Jahr 2000, der sagt: „Ohne Migration wäre die Menschheit unvorstellbar ärmer, in jeder Hinsicht.“ Das Goethe-Institut hat den Mehrwert erkannt, den die Chamisso-Autoren dem deutschen Buchmarkt gebracht haben. Wir laden sie überproportional zu Lesereisen ins Ausland ein. Dabei ist natürlich die Interkulturalität der Persönlichkeiten und Werke besonders reizvoll. Begleitende Veranstaltungen vermitteln, wie die Literaturproduktion und der Buchmarkt in Deutschland aussehen, wie jemand, der aus einem anderen Land kommt, in Deutschland arbeitet. Chamisso hat in verschiedenen Welten und Kulturen gelebt, in verschiedenen Sprachen und Gesellschaftsschichten, das hat ihn neugierig gemacht, wissbegierig und offen. Meiner Meinung nach kann Kultur nur existieren, wenn sie sich mit anderen Kulturen befasst und auseinandersetzt. Dabei geht es nicht darum, etwas Gleiches zu entwickeln oder nachzuahmen, sondern wirklich den Unterschied zu erkennen und ihn respektvoll zu akzeptieren. Eine abgeschlossene Kultur ist eine tote Kultur, lebendig bleibt sie, wenn Impulse von außen kommen. Das war gelebtes Prinzip für Adelbert von Chamisso – und darauf macht der Chamisso-Preis bis heute aufmerksam. Berlin, im Mai 2013

Jutta Weber (Vorsitzende der Chamisso-Gesellschaft e.V.)

Zum Geleit

2011 fand, einer Idee von Marie-Theres Federhofer und mir folgend, in Paris die erste Internationale Chamisso-Konferenz statt. Die Resonanz auf den 2013 erschienenen Konferenzband „Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso“, herausgegeben von Marie-Theres Federhofer und Jutta Weber, war überaus positiv. In Berlin folgte 2013 die zweite Internationale Chamisso-Konferenz, dieses Mal eine Zusammenarbeit der Chamisso-Gesellschaft, der Staatsbibliothek zu Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Es erreichten uns zahlreiche Beiträge zum Thema „Phantastik und Skepsis: Adelbert von Chamissos Lebensund Schreibwelten“, so dass eine Auswahl für die Konferenz und die nun hiermit vorgelegte Publikation notwendig wurde. Die Chamisso-Gesellschaft e.V. hat im Jahr 2015 in ihre Satzung einen Passus aufgenommen, der besagt, dass sie in regelmäßigem Turnus die Herausgabe von „Chamisso-Studien“ finanziell unterstützen wird. Den Mitgliedern der Chamisso-Gesellschaft, insbesondere Wolfgang Dohle, danke ich an dieser Stelle für ihr auch hier deutlich sichtbares Engagement für Chamisso. Der Staatsbibliothek zu Berlin, die den Nachlass Chamissos verwahrt, ist für ihre ebenfalls großzügige Unterstützung dieser Publikation zu danken, ebenso der Universität Bielefeld. Dass der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht unipress angeboten hat, diese Reihe zu begründen, ist eine Ehre für dieses Vorhaben. Im Februar 2016 wird die Chamisso-Gesellschaft in Kooperation mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Universität Potsdam und der Staatsbibliothek zu Berlin die nächste Internationale Chamisso-Konferenz veranstalten. Mit dem thematischen Schwerpunkt „Weltreisen: Aufzeichnen, aufheben, weitergeben – Forster, Humboldt, Chamisso“ soll dieses Mal der Kontext zu anderen großen Weltreisenden geöffnet werden, allen voran Reinhold und Georg Forster und Alexander von Humboldt. Im Fokus stehen dabei die Reisetagebücher dieser Forscher, die als Zeugnisse und Medien fortgesetzter Naturbeschreibung die Arbeitsprozesse und -zusammenhänge des

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Jutta Weber

Sammelns, Auswertens und Synthetisierens vom Wissen über Kultur und Natur dokumentieren. Berlin, im November 2015

Walter Erhart / Monika Sproll

Phantastik und Skepsis – Adelbert von Chamissos Lebensund Schreibwelten

„Chamissos Leben, sein Werk faszinieren durch die Gegensätze, die darin zu einem prekären, schöpferisch fruchtbaren Ausgleich gebracht worden sind.“ So skizzierte schon Volker Hoffmann in seinem Nachwort zur Werkausgabe Chamissos das Paradigma, das die Rezeption und Forschung zu Adelbert von Chamisso bis heute anleitet und das auch das Thema Phantastik und Skepsis – Adelbert von Chamissos Lebens- und Schreibwelten der hier dokumentierten Konferenz inspiriert hat.1 „Der wilde Europäer“ lautete der Titel einer 2008 erschienenen Biographie über Chamisso.2 Der populäre Überraschungseffekt des Buchtitels lag dabei im Gegensatz: Wann war Europa jemals wild gewesen? Gerade im 18. und 19. Jahrhundert definierte sich das aufgeklärte Europa in direkter Opposition zu einer ebenso weit entfernten wie historisch rückständigen ,Wildheit‘, die vorgeblich in fast allen anderen Regionen der Welt zu Hause war. Und auch die Klassifizierung eines Autors um 1800 als ,Europäer‘ birgt ein gewisses Irritationspotential: Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts waren es gerade die einzelnen Nationen, die in einem noch weitgehend nebulösen Europa im Vordergrund standen und ihre eigenen repräsentativen ,Nationaldichter‘ hervorbrachten. Wer aber war Chamisso? Wohin gehört er, aus welchem Raum spricht und schreibt dieser Autor? Eine zutiefst europäische Figur ist Chamisso allein schon deswegen, weil er keiner einzelnen Nation zuzuordnen war. Als Franzose geboren, lebte er seit seiner frühen Jugend in Berlin, bewegte sich zeitlebens in zwei Sprachen, war sich seiner Existenz als europäischer Migrant wohlbewusst und wurde mit der ihm eigenen, in diesem Sinn nicht eindeutigen Lebensform immer wieder – freiwillig und unfreiwillig – konfrontiert: als ein von der Französischen Revolution vertriebener Adliger im preußisch-protestantischen Berlin, als ein vom preußischen Militär zum Kampf gegen Frankreich aufgerufener Soldat, als Schriftsteller, der zuerst auf Französisch, dann auf Deutsch dichtete, der über1 Chamisso 1975, Bd. 2, S. 665. 2 Langner 2008.

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Walter Erhart / Monika Sproll

setzte und immer wieder zwischen deutscher und französischer Literatur, aber auch innerhalb der deutschen, den europäischen und den Welt-Literaturen zu vermitteln suchte. Während der Weltreise auf einem unter russischer Flagge segelnden Kriegsschiff war Chamisso als eigentümlich Staatenloser fast inkognito unterwegs; als Naturforscher korrespondierte er mit vielen Gelehrten in ganz Europa, schrieb seine naturwissenschaftlichen Abhandlungen in lateinischer Sprache und versammelte in seiner späten Lyrik Nachdichtungen und Übersetzungen von Liedern aus der ganzen Welt. Als Europäer war Chamisso außerdem ,wild‘ in einem sehr spezifischen übertragenen Sinn: ruhelos und nirgends richtig zu Hause, weder geographisch noch hinsichtlich der aufeinander folgenden Epochen seiner Zeit. Sehr früh schon gehörte er in Berlin einem literarischen Zirkel von jungen Romantikern an; statt solche Phantasiewelten und Träumereien fortzusetzen, sagte er sich alsbald von der Poesie los und entschloss sich, nur noch Naturforscher zu sein, ging auf Weltreise und entwickelte dort zugleich eine kritische selbstreflexive Sicht auf Europa und die Europäer. Die ,Wilden‘ in der Südsee sind ihm danach nicht mehr ,fremd‘, sondern eigentümlich verwandt und ebenso eigentümlich vertraut. Wild und umherschweifend ist Chamisso lange Zeit auch in seiner gedanklichen Orientierung gewesen: zunächst idealistisch-romantisch, dann wieder skeptisch aufgeklärt, ein romantischer Dichter und ein empirischer Naturforscher, der nach seinem Erfolg als Prosaautor – inzwischen Kustos am Königlichen Herbarium in Berlin – wieder zur Lyrik zurückkehrte, einen Musenalmanach organisierte und plötzlich als kritischer Vormärzdichter hervortrat – nicht einzuordnen, nicht auszurechnen, immer anders als zuvor. Adelbert von Chamissos Werk vereint eine sich aus diesen Lebensumständen ergebende Vielzahl von Lebensentwürfen, Weltanschauungen und Schreibformen, eine oftmals irritierende Fülle unterschiedlicher Lebens- und Schreibwelten, die offensichtlich nur schwer miteinander vereinbar scheinen. Aus diesem Grund, im Blick auf die selbst zutiefst romantische Idee von der Einheit eines Dichterlebens, sind Chamissos Werke, auch die geistige Physiognomie dieses Autors, oftmals reduziert und festgelegt worden: Er war entweder ein romantischer oder ein politischer Dichter, ein Aufklärer oder ein Phantast, der Erzähler einer einzigen weltberühmt gewordenen Novelle oder ein in der Literaturwissenschaft kaum beachteter Naturforscher, ein großer Lyriker des 19. Jahrhunderts, dessen professionelle Existenz als Botaniker wiederum nur schlecht zum Bild eines deutschen Dichters passte. Dabei ist Chamisso eine der ganz wenigen Figuren der deutschen Literaturgeschichte, die zu gleichen Teilen beides war : Dichter und Naturforscher, ein Schriftsteller, der gerade nicht auf eine seiner vielen Existenzen und Schreibformen festzulegen war, ein Naturforscher, der dem bislang Ungesehenen und Ungehörten auf der Spur war, um es mit dem Bekannten in einen Reigen einzuordnen.

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Die vergeblichen Versuche, Chamisso einer fest umgrenzten Denkrichtung, einer Epoche und einem Stil zuzuordnen, die sich immer wieder an seiner intellektuellen, kulturellen und kreativen Beweglichkeit brachen, waren dafür verantwortlich, dass der einst gefeierte Dichter bereits im 20. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geriet und ihn auf einen ,Einzeldichter‘ reduziert wahrnehmen ließ – ein paar Gedichte, die weltliterarische Novelle Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814), ein Bericht über die Weltreise. Daher rekapituliert Ren¦-Marc Pille im vorliegenden Band die spannungsreiche Identität Chamissos in den Stationen seiner Entwicklung in einer wieder öffnenden Weise („Ein aufgeklärter Romantiker : Zu Chamissos dichterisch-naturwissenschaftlicher Entwicklung“). Die germanistische Literaturwissenschaft hat nicht nur Chamissos frühe französische Poesie vergessen (und bis heute nicht ediert),3 sie hat ihn als Autor eines Gesamtwerkes kaum noch beachtet.4 Sein Nachlass liegt bis heute weitgehend unerforscht in der Staatsbibliothek zu Berlin,5 weitere Überlieferungsträger liegen verstreut6, sein Briefwechsel mit zahlreichen Gelehrten ist nur auszugsweise publiziert7, die letzten kritischen Werkausgaben stammen aus dem Jahr 1975 und 1981.8 In Schule und Universität wird sein Werk in der Regel überwiegend nicht mehr überliefert, obwohl der seit 1985 an nicht muttersprachliche deutsche Autorinnen und Autoren vergebene bekannte Literaturpreis seinen Namen trägt und Chamisso als früher Kulturvermittler Pate stehen kann für eine offene Wechselbeziehung von Literaturen, wie Klaus-Dieter Lehmann hervorhebt („Adelbert von Chamisso – ein früher 3 Vgl. Schlitt 2008. 4 Vgl. Brockhagen 1977, S. 375ff. Seitdem ist kein weiterer Forschungsüberblick zu Chamissos Gesamtwerk erschienen. 5 Durch die Digitalisierung und wissenschaftliche Tiefenerschließung des Nachlasses unter der Leitung von Jutta Weber (Staatsbibliothek zu Berlin), gefördert von 2011 bis 2014 durch die Robert Bosch Stiftung, konnte die Grundlage einer literatur- wie wissenschaftsgeschichtlichen Erforschung des Gesamtwerks von Chamisso inzwischen gelegt werden. 6 Die Dokumente des deutschsprachigen Raums sind inzwischen recherchierbar in der Verbunddatenbank Kalliope, http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/index.html, (01. 11. 2015). 7 Vgl. Busch 2014. Im Rahmen der von Anne Baillot geleiteten Nachwuchsgruppe Berliner Intellektuelle 1800–1830 (DFG Emmy-Noether-Programm) wurden neben Briefen und Einzelwerken anderer Autoren die Briefe Adelbert von Chamissos an Louis de La Foye in einer beispielhaften, dreisprachigen Internetedition unter der Leitung von Anna Busch und Sabine Seifert publiziert. Vgl. http://tei.ibi.hu-berlin.de/berliner-intellektuelle/author?p0237+de, (01. 11. 2015). 8 Gemeinsam mit der von Jost Perfahl und Volker Hoffmann veranstalteten Werkausgabe, Chamisso 1975, ist die Edition und die Beförderung einer Briefausgabe und Erforschung Chamissos durch Werner Feudel und Christel Laufer zu nennen, Chamisso 1981 und Feudel 3 1981. Eine digitale historisch-kritische Edition von Peter Schlemihl’s wundersamer Geschichte durch Katrin Dennerlein (Universität Würzburg) wird die Faksimileausgabe des Autographen dieser Novelle, Chamisso o. J. [2013], wissenschaftlich erweitern, vgl. die dort dokumentierten Werkstattberichte von Dennerlein und Busch.

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Bote im internationalen Kulturaustausch“). Die Chamisso-Gesellschaft e.V. fördert seit ihrer Gründung 2010 die Begegnung mit seinem kulturellen Erbe in Kunersdorf und das literarisch-wissenschaftliche Gespräch, wie dieser Band wiederum bezeugt (Jutta Weber, „Zum Geleit“). Eine selektive Tradition liegt auch vor – mit bedingt durch die Überlieferung und ihre Verluste –, wo Chamisso als Naturforscher, Zeichner und Sprachhistoriker noch gegenwärtig ist. Während der Weltreisende eine vielgestaltige wissenschaftliche Rezeption erfahren hat und Forschungen immer wieder initiiert9, ist das (natur-)wissenschaftliche Werk noch in keiner Gesamtausgabe gewürdigt worden, wenngleich eine Bibliographie seiner Arbeiten vorliegt.10 Wie aber kann man heute der oftmals irritierenden, oftmals verdrängten Vielfalt von Chamissos Lebens- und Schreibwelten wieder gerecht werden: dem jugendlich romantisierenden Dichter, dem analytischen Naturforscher, dem abenteuerlichen Weltreisenden, dem politischen Autor, dem Dichter historischer Balladen, Epigramme, satirischer Gedichte und biedermeierlicher Liebeslieder, dem Nachdichter, Übersetzer und Sammler von Weltpoesie? Chamissos Vielfalt lässt sich auf ganz unterschiedliche Dispositionen zurückführen und zeitigt auseinanderlaufende, fast gegensätzliche Effekte: Einerseits verdankt sie sich der dichterischen Leidenschaft, einer fast überbordenden Phantasie und Vorstellungskraft, einem gleichsam ,wilden‘ Schreiben, das, teils auch kühl kalkulierend, ausgreift in die unterschiedlichsten Gattungen: ins Märchenhafte der Schlemihl-Novelle, ins kritisch-humoristische Theater und ins distanzierte lyrische Rollenfach, in die nüchterne Wissenschaftsprosa des Naturforschers, Ethnologen und Sprachhistorikers und in die autobiographische Fabulierkunst und selbstreflexive Dokumentation des Reiseschrift- und Briefstellers. Immer wieder augenfällig liegt dieser Vielfalt die ungesicherte Existenz des Migranten und Heimatlosen zugrunde, denn nicht zuletzt aus dieser Existenzform und ihren vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten erwächst eine tiefgreifende Skepsis bei der Beschreibung des Vorfindlichen: gegenüber philosophisch-idealisti9 Die vielfältigen Schaffensbereiche und Kontexte Chamissos beleuchtete die Ausstellung des Berliner Kreuzberg-Museums für Stadtentwicklung und Sozialgeschichte, veranstaltet durch die Gesellschaft für Interregionalen Kulturaustausch, Bz´dziach [Red.] 2004. Eine künstlerische wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Chamisso zeigt die Ausstellung „Weltreise. Forster, Humboldt, Chamisso, Ottinger“ von der Filmemacherin Ulrike Ottinger und der Staatsbibliothek zu Berlin 2015/2016. 10 Schmid 1942. Auswahl- und Einzeleditionen liegen jedoch vor: Zum naturkundlichen Werk Schneebeli-Graf 1983 und 1987, zum sprachwissenschaftlichen Werk Chamisso 1969. Chamissos Walschrift wurde durch eine kommentierte Edition wieder zugänglich gemacht, Federhofer 2012. Zu Chamissos Zeichnungen bislang Schmidt 2013. – Die Sammlungen Chamissos sind immer wieder Gegenstand der Forschung geworden, ohne dass eine Gesamtübersicht über seine Bibliothek und seine naturkundlichen Sammlungsobjekte bislang erstellt werden konnte. Vgl. zur Problematik Hiepko 1987.

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schen, naturkundlich-spekulativen, aber auch allgemein festgelegten (und festlegenden) Denksystemen, gegenüber hoch fliegenden Gedanken und schwärmerischen Attitüden. Chamissos Schreibwelten formulieren einen nachromantischen Vorbehalt gegen den überschwänglichen Impuls, die Welt aus einem einzigen Angelpunkt heraus zu erklären. Sie prägen ein ebenso literarisch wie naturwissenschaftlich geprägtes Wissen um die Begrenztheit des Denkens, ein Misstrauen auch gegen die Vorherrschaft des europäischen Blickwinkels in einer selbst polyvalenten, global und unberechenbar erscheinenden Welt. Fast scheint die von Chamisso repräsentierte Konstellation von Dichtung und Naturforschung, von Phantastik und Skepsis, auf eine Entwicklung vorauszuweisen, die erst sehr viel später unter dem Signum der „zwei Kulturen“ berühmt geworden ist:11 ein durch die moderne Gesellschaft gehender Riss zwischen zwei Orientierungen, die zum einen auf die subjektive Evidenz unverwechselbarer individueller Erfahrungen, auf den ästhetischen Sinn, die Kunst und Literatur gerichtet ist, zum anderen aber das Leben mithilfe empirischer, allgemeingültiger, nachprüfbarer, im engeren Sinn naturwissenschaftlicher Methoden und Analysen unter Kontrolle zu bringen versucht. Chamissos Werk und Chamissos Biographie zeigen weniger die Einheit als den Widerspruch, die Spannung und das Nebeneinander solch unterschiedlicher Orientierungen; sie führen zu verschiedenen, zuweilen konkurrierenden Lebens- und Schreibwelten, die in Chamissos Werk, in seinen literarischen und naturwissenschaftlichen Texten, aber auch in seinen noch kaum bekannten Tages- und Notizbüchern, seinen schriftlichen Spuren und Hinterlassenschaften sowie seinem Briefwechsel erst noch zu entdecken sind.

Zum vorliegenden Band Lange Zeit hat man den Dichter und den Naturwissenschaftler Chamisso isoliert voneinander gelesen und untersucht; erst vor kurzem geriet der Naturforscher wieder neu in den Blick: mit seinen zoologischen und botanischen Forschungen,12 zumal mit seinen weit ausgreifenden Unternehmungen im kommunikativen Netzwerk der europäischen Gelehrten um 1800,13 als Mitglied einer scientific community, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt um die weltreisenden Naturforscher gruppierte.14 Ebenso in den Vordergrund traten 11 Ausgangspunkt war eine Rede des englischen Physikers und Schriftstellers C. P. Snow 1959. 12 Vgl. Glaubrecht / Dohle 2012; Glaubrecht / Seethaler / Teßmann / Koel-Abt 2013 zur Analyse und zum Verbleib eines wieder aufgefundenen menschlichen Schädels. 13 Vgl. die Netzwerkforschung Berliner Intellektuelle 1800–1830 unter der Leitung von Anne Baillot, https://www.literatur.hu-berlin.de/de/berliner-intellektuelle-1800-1830, (01. 11. 2015). 14 Vgl. Sproll 2015.

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jüngst wieder die literaturpolitischen Initiativen Chamissos: die zweimalige Gründung eines Musenalmanachs, zunächst 1804, dann – unter ganz anderen Umständen – Anfang der 1830er Jahre, seine weit reichende Korrespondenz und seine umfassende, bereits im 19. Jahrhundert einsetzende europäische Wirkungsgeschichte.15 In Chamissos Nachlass finden sich die Aktivitäten des Dichters, Naturwissenschaftlers, Briefeschreibers und Publizisten in einer Fülle von Dokumenten versammelt; neben den biographischen Daten, der dokumentierten Vielseitigkeit mehrerer paralleler Lebenswelten sowie den dabei produzierten Schriften rücken in diesem Kontext, ausgehend vom einzelnen Blatt und seinen Diskursen, zunehmend die Arbeitsweisen und Schreibprozesse des Dichters und Naturforschers ins Zentrum: die Transformation und Übersetzung der unterschiedlichen Lebensformen in die vielfältigen Schreibprozesse eines Autors und in die divergierenden Wissenschafts- und Schriftkulturen seiner Zeit. Der vorliegende Band, Ergebnis der zweiten, im Mai 2013 in Berlin veranstalteten internationalen Chamisso-Konferenz, nähert sich den Lebens- und Schreibwelten Chamissos aus dieser konkreten und materiellen Perspektive: Statt den Trennlinien des Dichters und Naturforschers entlang den sie dokumentierenden Schriften zu folgen, den naturwissenschaftlichen Abhandlungen und Expeditionsberichten hier, den Gedichten, der Novelle und der Reiseerzählung dort, gilt das Interesse der vorliegenden Diskussionsbeiträge vielmehr der Formierung der Texte im Prozess ihrer Entstehung, den mit ihrer Entstehung verbundenen (Schreib-)Orten und (Schreib-)Anlässen, den Schriftformen und Aufzeichnungsmodellen, an denen sich die literarischen, naturwissenschaftlichen und intellektuellen Aktivitäten Chamissos bündeln und ausdifferenzieren, wo sie entstehen, sich entwickeln, sich aufeinander zu und wieder voneinander weg bewegen. Hier ist man der eigensinnigen (Doppel-)Existenz des Literaten und Naturforschers unmittelbar, fast detektivisch auf der Spur. Chamissos Briefe, die konkret zu beobachtende Genese von Chamissos Texten sowie die in seinen verschiedenen Reiseberichten erprobte Einheit von Schreiben und Reisen führen jeweils vor, wie Chamisso sein Denken zugleich immer auch als eine Serie von Schreibbewegungen inszenierte, als ein konkretes, materielles Schreiben, das in seinem Vollzug, mit seinen Formen und Instrumenten die jeweiligen Erkenntnisse im Schreiben immer erst produzierte und dabei die oftmals divergenten Erkenntnis- und Schreibformen von Fall zu Fall anders aufeinander bezog, nebeneinander stehen ließ oder miteinander konfrontierte. Die Vielfalt dieser Schreibwelten fand einen gemeinsamen Ort oftmals auf dem Papier selbst: Die naturwissenschaftliche Prosa wird häufig von Gedichten unterbrochen, aber auch von Zahlen und Tabellen, die sich mit Notizen und Beschrei15 Vgl. Federhofer / Weber 2013.

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bungen, Illustrationen und Zeichnungen abwechseln. Es sind solche konkreten Schreibpraktiken, aus denen der poetische und der naturwissenschaftliche Autor Chamisso gleichermaßen zu verstehen und zu erforschen ist: in der Kombination von naturwissenschaftlicher Beobachtung und narrativen Verfahren mit ästhetischen Wahrnehmungsweisen und poetischer Gestaltung, die sich in den Weltreiseschriften ebenso wie in der Novelle Peter Schlemihls wundersame Geschichte, in Gedichten und in Briefen beobachten lässt.

200 Jahre Peter Schlemihls wundersame Geschichte Die Novelle Peter Schlemihls wundersame Geschichte, deren Entstehung sich 2013, deren Erscheinen sich 2014 zum zweihundertsten Mal jährte, ist Chamissos berühmtester literarischer Text; zugleich steht er biographisch, gattungsspezifisch und ideengeschichtlich an einem Kreuzungspunkt der poetischen und naturwissenschaftlichen Orientierung in Chamissos Leben und Werk.16 In jenen Jahren hat sich der vormals romantische Dichter von der Poesie ab- und der empirischen Naturwissenschaft zugewandt; im patriotisch aufgeladenen Berlin der so genannten Freiheitskriege begann sich der gebürtige Franzose, ein nach eigenen Worten „nur gepfropfter Deutscher“,17 zunehmend fremd zu fühlen. In der Geschichte des Peter Schlemihl hat er eine dementsprechende doppelbödige Außenseiterexistenz entworfen, in einer Novelle, die Phantastik und Skepsis vereint, einerseits tief in die romantische Epoche zurückweist, andererseits mit einem immer noch reichlich phantastischen Bekenntnis zur weltumspannenden Naturwissenschaft zu Ende geht. In den zahlreichen Interpretationen des Textes wurde viel über die Bedeutung des Schattenmotivs gerätselt, weniger aber die irritierende Vielschichtigkeit und eigentümliche erzählerische ,Unordnung‘ der Novelle bemerkt: die heterogenen literarischen Einflüsse, die Bezugsebenen ihrer literarischen Struktur, die im Text erprobten Schreibstile und Erzählmodelle. Im vorliegenden Band deckt Walter Erhart die unterschiedlichen Zeit-Ordnungen der Erzählung auf, die zugleich auf die Pluralität widersprechender Zeit- und Denksysteme der Epoche um 1800 verweisen („Siebenmeilenstiefel, Kronometer, Geschichte der Pflanzen – Chamissos Zeit-Regime“). Joseph Twist markiert in der Figur des Schlemihl und in der Organisation des Textes jene Wendung zur Skepsis, die aus der Abkehr von einem romantisch-philosophischen Idealismus die Hinwendung zur Naturforschung motiviert („,[D]ie Poetischen in der Philosophie, die Philosophischen in der Poesie‘: The Critique of German Idealism in Peter Schlemihls 16 Vgl. zur literaturhistorischen Einordnung Hoffmann 2014. 17 Zitiert nach Hoffmann 1976, S. 41.

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wundersame Geschichte“). Die Herausgeberfiktion – so Michael Schmidt – dient in diesem Fall zwar noch dem romantischen Spiel der Phantasie, sie ermöglicht aber auch die Darstellung ,zweier‘ und mehrerer, ebenso poetischer wie wissenschaftlicher Kulturen, die im Text selbst weniger zur Deckung kommen als vielmehr mithilfe der zahlreich integrierten romantischen Erzähl- und Schreibweisen übereinander geblendet werden („Peter Schlemihl und das romantische Spiel mit der Herausgeberfiktion“). Ebenso wie von verschiedenen Denksystemen und Zeitvorstellungen ist die Novelle auch von der Gestaltung heterogener Räume geprägt; sie beginnt als abenteuerliche Heimkehrergeschichte, spielt zunächst in einem (kaufmanns-)bürgerlichen, danach in einem aristokratischen Milieu und schließt zuletzt – mit den Siebenmeilenstiefeln und der fast globalen Forscherexistenz des Schlemihl – auch die naturwissenschaftliche Welt mit ein. Peter Schlemihls wundersame Geschichte ist nicht zuletzt eine Form der Reiseliteratur, die – wie Nikolas Immer auch anhand der nun publizierten Handschriftenfassung vorführen kann – durchaus auf faktische Reiseberichte rekurriert und diese für eine literarisierte Variante der zeitgenössisch populären Forschungs- und Entdeckungsreisen nutzt („Schlemihl in Afrika. Auf den Spuren seiner ursprünglichen Reiseroute“).

Das Unbekannte erfahren – Aufbruch in neue Welten Der zweite Teil des Bandes ist der Weltreise gewidmet, die Chamisso in den Jahren von 1815 bis 1818 unternommen hat und die sein späteres Werk in einer noch kaum genügend erfassten Weise mit bestimmt hat. Nach wie vor sind zentrale Textdokumente dieser Reise nicht ediert; ein bislang nicht bekanntes Originaltagebuch der Reise soll in den nächsten Jahren transkribiert, erforscht, veröffentlicht und die Aufarbeitung seiner Sammlungen intensiviert werden.18 Wie Anna Busch und Johannes Görbert in ihrem Beitrag zeigen, stimmen auch die bereits im 19. Jahrhundert selektiv edierten, zum Teil gekürzten Briefe, die Chamisso während der Weltreise geschrieben hat, nicht mit den im Freien deutschen Hochstift in Frankfurt liegenden Originalen überein („,Rezensiert und zurechtgeknetet.‘ Chamissos Briefe von seiner Weltreise – Original und Edition in Gegenüberstellung“). Um den Stellenwert von Chamissos Reise im Kontext der Forschungs- und Entdeckungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts künftig zu ermessen, gilt es diese und andere, noch weitgehend im Nachlass 18 Im Oktober 2015 konnte das von Walter Erhart und Matthias Glaubrecht geleitete interdisziplinäre DFG-Projekt Die Aneignung des Weltwissens – Adelbert von Chamissos Weltreise (Materialerschließung, Transkription, Analyse) an den Universitäten Bielefeld und Hamburg seine Arbeit aufnehmen.

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verborgene Texte und Dokumente zu erschließen. In einer brieflichen Kommunikation mit Ludwig Choris im Jahr 1821 zum Beispiel tauschen sich beide Naturforscher – Choris hat die Expedition als Maler begleitet – nicht nur über Details der angefertigten Illustrationen, Lithographien und Kupferstiche aus, Chamisso – so Monika Sproll – erläutert in Lob und Kritik der von Choris gefertigten Bilder vielmehr sein eigenes ethnographisches und ästhetisches Programm: Er reflektiert über die Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen in Bezug auf fremde und indigene Welten und formuliert ästhetische Maßstäbe, die auch sein künftiges reiseliterarisches und lyrisches Werk in hohem Maße beeinflusst haben („,Das ist Natur!‘ – Adelbert von Chamissos Bildkritik an Ludwig Choris’ Voyage pittoresque zwischen ästhetischem und wissenschaftlichem Anspruch“). Damit verbunden, verfolgte Chamisso ein naturwissenschaftliches Programm und kam zu Entdeckungen im Bereich der Meeresbiologie, deren wissenschaftshistorische Tragweite – so Wolfgang Dohle – erst Jahre später zum Vorschein kam („Adelbert von Chamisso und seine Entdeckung des Generationswechsels bei den Salpen“). Chamisso schreibt auf seiner Weltreise, aber auch in seinem daran anschließenden Werk, immer in zwei Richtungen, in zweierlei Weisen: naturwissenschaftlich und literarisch, naturkundlich und poetisch. Er begriff seine poetische Produktion sogar als eine Form des ,Botanisierens‘, des Sammelns, Zusammentragens und Auswertens, in einer der Naturwissenschaft durchaus analogen Weise (vgl. hierzu auch den Beitrag von Volker Hoffmann). Sein Herbarium gewann auf der Weltreise einen reichhaltigen Zuwachs, den er mit anderen Gelehrten teilte und aufarbeitete. Er sammelte darüber hinaus zahlreiche Materialien, Samen und Tiere, auch Menschenschädel, die heute teils in Sankt Petersburg, teils im Museum für Naturkunde und im Museum für Vorund Frühgeschichte der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin und noch andernorts lagern,19 und setzte zeit seines Lebens die botanischen Sammlungs- und Reisetätigkeiten fort (Paul Hiepko: „Botanische Orte: Sammeln und Auswerten“). Die Vielfalt der das Reisen und die Reiseberichte begleitenden Dokumente, Schreibweisen und Textsorten spiegelt sich zuletzt in dem literarischen und autobiographischen Tagebuch. Reise um die Welt, das Chamisso erst im Winter 1834/35 verfasste. Dorit Müller verweist in ihrem Beitrag auf das Nebeneinander zahlreicher naturwissenschaftlicher und poetisierender Elemente. Sie betont auch die unterschiedlichen Schreib- und Wahrnehmungsweisen, die sich in 19 Vgl. zur zoologischen Sammlung im Museum für Naturkunde Berlin http://www.natur kundemuseum-berlin.de/institution/mitarbeiter/glaubrecht-matthias-pd-dr/wissenschafts geschichte/adelbert-von-chamisso-dichtender-naturforscher-oder-naturforschender-dich ter-matthias-glaubrecht/, (01. 11. 2015).

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diesem abschließenden Reisebericht überlagern und überkreuzen, ohne über ein vielleicht auch gar nicht mehr angestrebtes einheitliches Gestaltungselement zu verfügen („Chamissos Reise um die Welt: Explorationen geographischer und ästhetischer Räume“).

Lyrische Stationen Immer noch als Rätsel gilt, warum Chamisso im Jahr 1821 plötzlich wieder in großer Zahl Gedichte zu schreiben begann. Volker Hoffmann hat bereits 1976 anhand eines an Uhland geschriebenen Briefes Chamissos Wunsch rekonstruiert, mit politischen Sonetten auch als Schriftsteller und literarischer Vermittler wieder auf sich aufmerksam zu machen.20 Damit war – so Hoffmann in seinem Beitrag – ein neuartiges ästhetisches Programm verbunden, das Dichtung als eine gleichsam naturgesetzliche Serie von Einfällen zu begreifen und das Zeitgeschehen als ein fast naturwüchsiges, nicht zu beeinflussendes Geschehen zu interpretieren versuchte („Selbstinitiation in eine neue Werkphase. Ein Brief Chamissos an Uhland wiedergelesen“). Kennzeichnend für Chamissos „neue Werkphase“ (Volker Hoffmann) ist zugleich jedoch, dass der Stoff dieser Poesie in weite historische und geographische Räume ausgreift und eine in Analogie zur Weltreise inszenierte, in der Fremde gesammelte Stimmenvielfalt repräsentiert.21 Dabei fließen – wie Torsten Voß an einem der berühmtesten Chamisso-Gedichte, Das Schloß Boncourt, zeigt – imaginäre und reale Räume beständig ineinander und können als eine poetische Form des kulturellen Gedächtnisses genutzt werden („Dialektische Überschneidungen? Realer und imaginärer Ort in Einem: Die Sehnsucht nach der Kindheit als Utopie des Glücks in Chamissos Das Schloß Boncourt (1827)“). Ebenso ist die neue Praxis der lyrischen ,Blütenlese‘ bei Chamisso als konstante Übersetzung und Übertragung der Poesie in unterschiedliche Kontexte gedacht: Wie sehr diese Übersetzungen nicht nur dem Begriff, sondern auch dem Phänomen und der Wirkungsmacht einer ,Weltliteratur‘ Vorschub geleistet haben, zeigt Marie-Theres Federhofer exemplarisch an Chamissos Bemühen, den französischen Dichter Pierre Jean de B¦ranger nicht nur zu übersetzen, sondern damit auch eine gemeinsame (literatur-)politische deutsche und französische Öffentlichkeit herzustellen („Die ,Facilitäten der Communication‘ – Die B¦ranger-Übersetzung von Adelbert von Chamisso und Franz von Gaudy als ein Beitrag zur Weltliteratur“). In der Übersetzung der eigenen Werke – und in der poetischen Auszeichnung der Figur eines Übersetzers im Gedicht Herein! – zeigt Chamisso 20 Vgl. Hoffmann 1976. 21 Vgl. Erhart 2015.

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zugleich, wie er selbst an mehreren Lebens- und Schreibwelten teilzuhaben versucht und dies als einen Akt des Übertragens von Sprache, Schrift und Poesie begreift (Caroline Gerlach-Berthaud: „Adelbert von Chamisso als Selbstübersetzer“).

Editionsphilologische Wege Als eine regelrechte Schreib- und Dichterwerkstatt hat Chamisso seine poetische Praxis mehrfach umschrieben; auch hier, in der Übersetzung, in der Übertragung und Nachdichtung von Gedichten aus anderen Kulturen, in der scheinbar zwanglosen (Über-)Produktion von poetischen Einfällen, Versen, Sonetten und Terzinen, die Chamisso reinschriftlich in Bücheralben, den sogenannten vier ,Poetischen Hausbüchern‘, eintrug, wird der materielle Bezug dieses Schreibens offenbar. Im abschließenden Teil des Bandes zeigen Einblicke in Chamissos Nachlass, wie die auch in den Gedichten weit verzweigten Sprachwelten sich der Idee des Notizbuchschreibens verdanken und in einer Art Feldforschung des dichtenden Botanikers gemeinsam entstehen und nebeneinander ihren Platz finden (Roland Berbig: „Chamissos Notizbuch 1828. Analytische Stichproben“). In Fallstudien zu einem einzigen Notizbuch aus dem Jahr 1928 führen Studierende der Humboldt-Universität zu Berlin (Benjamin Fiechter, Lisa Trekel, Tabitha van Hauten, Moritz Rauchhaus, Johanna Hähner, Christiane Clever) im Einzelnen vor, welche Vielfalt und welche Schreibwelten in diesem Notizbuch gemeinsam entstanden und versammelt sind: hinsichtlich der hier sorgfältig rekonstruierten materiellen Aspekte, der Schreibwerkzeuge und der Aufzeichnungsformen, aber auch mit Blick auf das Sammeln von Einfällen, das Bewahren von Tagesnotizen und die poetische Arbeitspraxis im Prozess des Notierens und Kombinierens. Die Lebens- und Schreibwelten Chamissos verdanken sich einer kontinuierlichen Tätigkeit des Schreibens, Sammelns und Forschens, die von der spezifischen Verbindung von Phantastik und Skepsis noch zusätzlich angetrieben wird. Anhand der neu edierten Briefwechsel zwischen Chamisso und Louis de La Foye aus der Jugendzeit und der späteren Reisekorrespondenz aus Greifswald mit seiner Frau zieht Anne Baillot abschließend Entwicklungslinien und Wechsel in Chamissos Schreiberidentität im Themenkreis Lebensalter, Geschlechterrolle, Emphase und Nüchternheit („Wissen, Lieben – und Schreiben: Phantastik und Skepsis im Briefwechsel Chamissos mit seiner Frau aus dem Sommer 1823“). Die Analyse beider Korpora kann exemplarisch die Facetten aufzeigen, die das Selbstverhältnis und das soziale wie wissenschaftliche Rollenmodell des Naturforschers bedingen, und damit auf weitere Ergebnisse vorausweisen, die die

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Chamissoforschung von einer Gesamtedition seiner Korrespondenz und Werke zu erwarten hätte. Im Zuge der Nachlasserschließung in der Staatsbibliothek zu Berlin und in Kooperation mit der Humboldt-Universität Berlin und der Chamisso-Gesellschaft e.V. konnte diese internationale Chamisso-Konferenz organisiert, mit einem Begleitprogramm versehen und an einem ,Chamisso-Ort‘ veranstaltet werden. Der vorliegende Band verdankt seine Entstehung der fortgesetzten Initiative der Chamisso-Gesellschaft, die den Druck entscheidend beförderte. Die Staatsbibliothek, die Universität Bielefeld und Wolfgang Dohle unterstützten ebenfalls die Finanzierung des Sammelbandes. Für ihre Mithilfe bei der Redaktion dieses Bandes danken wir Katrin von Boltenstern und Lore Kurtz (beide Humboldt-Universität Berlin). Für seine freundliche Kooperation und sein Entgegenkommen danken wir dem Verlag Vandenhoeck& Ruprecht unipress.

Literatur Busch, Anna: Hitzig und Berlin. Zur Organisation von Literatur (1800–1840). Hannover 2014. Brockhagen, Dörte: ,Adelbert von Chamisso‘, in: Martino, Alberto (Hg.): Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert. Tübingen 1977, S. 373–423. Bz´dziach, Klaus (Red.): Mit den Augen des Fremden. Adelbert von Chamisso – Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender, hg. v. d. Gesellschaft für Interregionalen Kulturaustausch e.V., Berlin. Ausstellung Kreuzberg Museum, Berlin 2004. Chamisso, Adelbert von: Illustriertes Heil-, Gift- und Nutzpflanzenbuch, hg. v. Ruth Scheebeli-Graf. Berlin 1987. [Chamisso, Adelbert von] Peter Schlemiel’s Schicksale, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso. Faksimile-Ausgabe der Handschrift. Hg. von der Chamisso-Gesellschaft e.V. Mit einer diplomatischen Transkription von Katrin Dennerlein. Mit Begleittexten von Jutta Weber, Anna Busch, Anja Krüger, Monika Sproll und Katrin Dennerlein. Kunersdorf o. J. [2013]. Chamisso, Adelbert von: Werke. In zwei Bänden, hg. v. Werner Feudel u. Christel Laufer. Leipzig 1981. Chamisso, Adelbert von: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Nach dem Text der Ausgaben letzter Hand und den Handschriften. Textredaktion v. Jost Perfahl. Bibl. u. Anm. v. Volker Hoffmann. München 1975. Chamisso, Adelbert von: Über die hawaiische Sprache. Facs. ed. with a critical introd. and an ann. bibliography of literature relating to the Hawaiian language by Samuel H. Elbert. Neudr. d. Ausg. Leipzig, 1837. Amsterdam 1969.

Phantastik und Skepsis – Adelbert von Chamissos Lebens- und Schreibwelten

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Walter Erhart / Monika Sproll

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Ren¦-Marc Pille

Ein aufgeklärter Romantiker: Zu Chamissos dichterisch-naturwissenschaftlicher Entwicklung

Der Titel dieses Beitrags klingt widersprüchlich, ja etwas provokant, denn Aufklärung und Romantik, um mit Goethe zu sprechen, „sie scheinen sich zu fliehen.“ Dabei muss man bedenken, dass historische und erst recht literaturund kulturgeschichtliche Begriffe oft a posteriori geschaffen wurden und daher ideologische Verfestigungen zum Ausdruck bringen, die die ursprüngliche Dynamik und Komplexität eines Phänomens in Vergessenheit geraten lassen. Dies gilt z. B. für Begriffe wie Klassik und Romantik, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts für unversöhnlich erklärt wurden. Und gerade die Berliner Romantik, die nach dem schönen Wort von Ricarda Huch „nie den Kopf verlor“1, ist der Aufklärung nicht unbedingt abtrünnig geworden. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die sich nur um die Genauigkeit und Angemessenheit ihrer Begriffe zu kümmern hat, müssen die Geisteswissenschaften die emotionale Dimension, ja sogar die historischen Irrtümer, die an ihren Kategorien haften, in Kauf nehmen, auch wenn diese zur Last werden oder zumindest für Missverständnisse sorgen. Aber Missverständnisse sind auch dazu da, dass sie zum Miteinanderreden anregen, denn in einer Welt der perfekten Kommunikation wäre wohl kein Austausch mehr nötig… Nun gehört Chamisso als Dichter und Botaniker den beiden Bereichen Kunst und Wissenschaft an, was das Einordnen seines Wirkens noch schwieriger macht, zumal er selbst seine poetische Tätigkeit nie allzu ernst genommen hat und über seinen literarischen Ruhm gern spottete: Den Umgang mit den Musen hätte er, schrieb er im letzten Jahr seines Lebens an den französischen Chansonnier B¦ranger, dessen Lieder er zusammen mit Franz von Gaudy ins Deutsche übersetzt hatte,2 nur zur Entspannung gepflegt („les muses ont ¦t¦ mon d¦las-

1 „Berlin, das preußische, mechanische, zerebrale, war trotz aller romantischen Bestrebungen die Stadt der Widersacher. Die Romantik verlor dort nie den Kopf, unechte Töne aus der Aufklärungszeit, Schöngeisterei und witziges Ästhetisieren spielten beständig hinein.“ Huch 1920, S. 9f. 2 B¦ranger’s Lieder, in: Chamisso 1975, Bd. 1, S. 607–667.

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sement“3). Und er fügt hinzu: „Deutschland hat mich anerkannt, und die Kinder, die in der Schule meine Verse vortragen, versprechen mir fünfzig Jahre Ewigkeit.“4 Chamisso hat nie den Künstler herausgekehrt, d. h. sich nie als Künstler aufgespielt, auch wenn er in seinem Äußeren mit seiner abgetragenen russischen Uniformjacke, seiner Riesenmähne und seiner ewigen Pfeife den Bohemien, der ihn im damaligen Berlin zu einer Art Bürgerschreck machte, nie abstreifen konnte. Deswegen ist ihm die Sakralisierung der Kunst, wie sie von den Romantikern verkündet wurde, völlig fremd geblieben: Keine heilige Eingebung, sondern redliches Handwerk stand bei ihm auf der Tagesordnung, und ausgerechnet eine Metapher aus der Welt der Arbeit hat Thomas Mann, der etwas vom sauren Schweiß des Dichterberufs verstand, auf Chamisso geprägt, als er in einem 1911 publizierten Essay über ihn schrieb, er verdiene, im deutschen Sprachbereich „der meisterlichste Terzinenschmied genannt zu werden.“5 Dabei wäre der Adelsemigrant aus Frankreich in seinen jungen Jahren der romantischen Versuchung beinahe erlegen. Nach seiner ersten Heimreise im Jahre 1802, die ihm die schmerzhafte Erfahrung des „fremden Wallens in der Heimat“, wie er in einem späten Gedicht schrieb,6 eingebracht hatte, fand er in Berlin Zugang zu einem Kreis gleichaltriger und gleichgesinnter Literaten, die der Kunstauffassung A. W. Schlegels schwärmerisch huldigten und sich unter dem Symbol des Nordsterns als Zeichen der Wissenschaft verbunden hatten. Dem Kreis gehörte u. a. Chamissos späterer Biograph Julius Eduard Hitzig an, sowie der „Magnetiseur“ David Ferdinand Koreff7 und Varnhagen von Ense, der später über jene Zeit schrieb: Schon längst hatte uns die Deutung der Himmelsgegenden auf geistige Regionen gefallen, wie sie nach Baaders pythagoräischem Quadrat auch W. Schlegel in seinen Vorlesungen mitgeteilt hatte. Der Norden als Region der Wissenschaft war unser erwähltes allgemeines Gebiet, der Polarstern Zeichen dieser Richtung und zugleich der Unwandelbarkeit […]8

Auch die Begegnung mit der deutschen Philosophie hatte einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung des jungen Poeten, der nun einen Sprachwechsel 3 Aus dem Konzept eines Briefes Chamissos an B¦ranger [1838]. SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, Kasten 4, Nr. 6. Wenn nicht anders vermerkt, wurden die französischen Zitate vom Verfasser übersetzt und in der Originalorthographie transkribiert. 4 „lallemagne m’a reconnu, et les gamain qui disent mes vers — l’¦cole me promettent 50 ans d’immortalit¦.“ Ebd. 5 Mann 2002, S. 317. 6 „Ich habe, Herr, gelitten und gebüßt, / Doch fremd zu wallen in der Heimat – nein!“ Aus Chamissos Gedicht Salas y Gomez, in: Chamisso 1975, Bd. 1, S. 476. 7 Siehe Pille 1987, S. 171–178. 8 Zit. nach Feudel 1988, S. 34f. Vgl. Pille 2011, S. 175–182.

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zugunsten des Deutschen vollzog und sich den Vornamen Adelbert zulegte.9 Diese Begegnung geschah allerdings auf widersprüchliche Weise. Aus einem Blatt mit konfusen Aufzeichnungen, die sich offenbar auf die Kritik der reinen Vernunft beziehen, geht hervor, dass sich der ganz junge Chamisso um 1798 – er war damals erst 17 Jahre alt – mit Kant befasst und dessen Forderung, das Erkenntnisvermögen auf die Sinnenwelt zu beschränken, sich zu eigen gemacht hatte: Der philosophische Neuling schreibt, er habe „sich dieses jegliches System zerstörende System zu eigen gemacht“, das uns verbiete, „eine Metaphysik zustande zu bringen.“10 Diese durchaus positive Lektüre mag unter dem Einfluss von Paul Erman gestanden haben, seinem Lehrer am CollÀge franÅais, einer Bildungsanstalt der Berliner Hugenotten, wo der Êmigr¦, obwohl einer katholischen Familie angehörig, von den R¦fugi¦s mit offenen Armen empfangen worden war.11 Erman, der Jahre später bei der Gründung der Berliner Universität den ersten Lehrstuhl für Physik erhielt, war nämlich ein überzeugter Kantianer und sollte maßgeblichen Anteil an Chamissos Entwicklung zum Naturwissenschaftler haben. Chamissos frühe Rezeption des Kritizismus steht somit völlig im Gegensatz zu der verheerenden Wirkung, die der ,Alleszermalmer‘, wie Moses Mendelssohn den Denker aus Königsberg nannte, auf manche Köpfe in Deutschland hatte. Am meisten davon betroffen war wohl Heinrich von Kleist, der 1801 an seine Schwester Ulrike schrieb: „Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Torheit werden würde, deren die Kantische Philosophie so viele auf dem Gewissen hat.“12 Aber auch Schiller, der nach Don Carlos jahrelang nur noch theoretische Schriften verfasste, konnte für die Bühne erst wieder zur Feder greifen, nachdem er sich entschlossen hatte, wie er an Goethe schrieb, „die philosophische Bude“ zu schließen,13 deren ungenannter Betreiber kein anderer als Immanuel Kant war. Ganz anders war nun Chamissos Umgang mit der deutschen Philosophie in der Zeit des Nordsternbundes und des Musenalmanachs, den er zusammen mit Varnhagen herausgab. Seine Schriften standen damals im Zeichen von Fichtes radikalem Subjektivismus, der die Welt nicht objektiv, sondern als ein Konstrukt 9 Vgl. Pille 2012, S. 65–73. 10 „jai adopte ce sistem destructeur de tout Sistheme qui montre Si bien La Source des difficultes rebelles — toutte solution qui naissent en foule sous nos pas Si tút que nous voulons franchir la borne et donner une Metaphisique.“ SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, Kasten 5, Nr. 20. 11 Vgl. Pille 1997, S. 135–143. 12 Heinrich an Ulrike von Kleist, 23. März 1801. In: Kleist 1964, Bd. 6, S. 165. 13 „[…] es ist hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe.“ Schiller an Goethe, 17. Dezember 1795, in: Beetz 1990, S. 138.

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des erkennenden Ichs auffasste – was Chamisso dichterisch in die tiefste Verzweiflung stürzte. Davon zeugt sein Faust aus dem Jahre 1803, den er in seiner Reise um die Welt als einen „fast knabenhafte[n] metaphysisch-poetische[n] Versuch“14 bezeichnete, ein Werk, das der Vormärz-Dichter Heinrich Laube in seinem Nachruf auf Chamisso in französischer Sprache, den er in Paris drucken ließ,15 als ein Symptom für die Eindeutschung des jungen Poeten werten sollte: „Hören Sie, einen Faust! Dies war bekannterweise zu allen Zeiten ein rein deutsches Symptom: Der Franzose spottet über den Teufel, der Deutsche macht ihn zu einer poetischen Figur.“16 In Chamissos Faust klagt der Gelehrte im obligaten Eingangsmonolog folgendermaßen über die Unzulänglichkeit menschlichen Wissens: Erscheinung nur und Wahn ist alles mir. Es wirft das Licht, das Innre, dort hinaus Auf ausgespannte Nacht die Bilder hin, Ein leerer Widerschein des eignen Ichs, Und so entsteht die Welt, die ich erkenne.17

Diese Verse klingen wie ein Echo auf den Briefroman von Ludwig Tieck William Lovell aus dem Jahr 1795, aus dem ähnliche Töne zu vernehmen sind: Die Wesen sind, weil wir sie dachten, In trüber Ferne liegt die Welt, Es fällt in ihre dunklen Schatten, Ein Schimmer, den wir mit uns brachten: […] Ich komme mir nur selbst entgegen In einer leeren Wüstenei. […] Was kümmern mich Gestalten, deren matten Lichtglanz ich selbst hervorgebracht?18

14 Chamisso 1975, Bd. 2, S. 10. 15 Der Gedenkartikel war zunächst 1838 unter dem Titel Galerie des poÀtes allemands. Chamisso in der 9. Lieferung der kurzlebigen Zeitschrift Le Panorama de l’Allemagne erschienen und dann als Fortsetzung in der Wochenbeilage der liberalen Tageszeitung Le Constitutionnel (26. Mai und 13. Juni 1839) wieder aufgenommen worden. Ein Exemplar dieser Ausgabe ist im Nachlass Chamisso aufbewahrt (SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, Kasten 2, Nr. 15). Werner Feudel hat als erster auf die Bedeutung dieser Quelle aufmerksam gemacht. Vgl. Feudel 1988, S. 218. 16 „L’entendez-vous, un Faust! Il est connu que ce fut l— de tout temps un symptúme purallemand: le FranÅais se moque du diable, l’Allemand le po¦tise.“ In: Panorama de l’Allemagne 1838, S. 90. 17 Chamisso 1975, Bd. 1, S. 501. 18 Tieck 1828, Bd. 6, S. 178.

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Wird die Außenwelt als das reine Produkt des eigenen Ichs betrachtet, dann kann das Subjekt schließlich nur noch mit sich selbst konfrontiert werden. Auf diese Weise entstand eine der wohl originellsten Schöpfungen der deutschen Romantik, die Jean Paul als erster in Siebenkäs benannt hat, der Doppelgänger : „Doppelgänger heißen Leute, die sich selber sehen“, heißt es dort. Das Motiv haben Brentano (Geschichte vom Uhrmacher Bogs, Die mehreren Wehmüller), Arnim (Der echte und der falsche Waldemar), Fouqu¦ (Zauberring) und vor allem E. T. A. Hoffmann (Die Elixiere des Teufels, Der Sandmann, Prinzessin Brambilla), aber auch Heine und viel später noch Theodor Storm behandelt. Auch Chamisso hat solche Schöpfungen zustande gebracht, ohne jedoch den Terminus ausdrücklich zu gebrauchen: 1808 im zusammen mit Fouqu¦, Contessa und Hoffmann nicht zu Ende geschriebenen Roman des Freiherrn von Vieren sowie in den Gedichten Erscheinung (1828) und Salas y Gomez (1829). Das Werk aber, das für manche Ausleger als Doppelgänger-Geschichte par excellence gilt, ist Peter Schlemihl, zumal sich Hoffmann einen Spaß daraus gemacht hat, die Erzählung seines Freundes zu parodieren: Aus dem verlorenen Schatten wurde aus der Feder des Fantastiqueur, wie ihn die Franzosen nannten, ein verlorenes Spiegelbild, das sich in einen Unheil bringenden Doppelgänger verwandelt. Nun ist die Parallele zwischen dem Schatten von Peter Schlemihl und dem Spiegelbild von Erasmus Spikher, die beide jeweils an den Teufel abgetreten werden, nur scheinbar. Zu keinem Moment der Erzählung von Chamisso erwirbt der Schatten jene Schauer erregende Selbständigkeit, die zum Wesen des Doppelgängers gehört. Bei Hoffmann dagegen fängt das Abbild plötzlich an, sich unabhängig vom Original zu bewegen: Sie [die Verführerin Giulietta] zog das Tuch vom Spiegel herab, Erasmus sah mit Entzücken sein Bild, der Giulietta sich anschmiegend; unabhängig von ihm selbst, warf es aber keine seiner Bewegungen zurück. Schauer durchbebten den Erasmus.19

Es gibt also einen radikalen Unterschied zwischen beiden Erzählungen: Schlemihl empfindet das Verlieren des Schattens als eine schmerzhafte Abwesenheit, wohingegen Spikher mit einer unheimlichen Präsenz konfrontiert wird. Die Geschichte des Peter Schlemihl ist eben wundersam und nicht fantastisch, denn bei Chamisso gewinnt das Unheimliche keineswegs die Oberhand. Ausgeglichen wird hier das Irrationale durch die Hinwendung der Hauptfigur zu den Naturwissenschaften im strengen empirischen Sinne. Selbst der Teufel, der sich mit folgenden Worten selbstspöttelnd vorstellt, steht gewissermaßen im Zeichen der Wissenschaft:

19 Hoffmann 1982, S. 331–349; hier S. 346. Vgl. die ähnliche Szene im Film von Stellan Ryes Der Student von Prag (1913).

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Ein armer Teufel, gleichsam so eine Art von Gelehrten und Physikus, der von seinen Freunden für vortreffliche Künste schlechten Dank erntet und für sich selber auf Erden keinen anderen Spaß hat, als das bißchen Experimentieren […]20

Er ist eben der Graue – kein Vergleich also mit dem Auftritt von Mephisto in Goethes Faust, als er den trübsinnigen Gelehrten in seinem Studierzimmer aufsucht: Wir werden, hoff ’ ich, uns vertragen! Denn dir die Grillen zu verjagen, Bin ich als edler Junker, hier, In rotem, goldverbrämtem Kleide, Das Mäntelchen von starrer Seide, Die Hahnenfeder auf dem Hut, Mit einem langen, spitzen Degen, Und rate nun dir, kurz und gut, Dergleichen gleichfalls anzulegen; Damit du, losgebunden, frei, Erfahrest was das Leben sei.21

Den Weg zu den Naturwissenschaften hatte der Verfasser selbst zwei Jahre zuvor eingeschlagen, als er sich entschloss, beim Botanisieren in den Schweizer Alpen, sich ganz und gar dem Studium der Pflanzenwelt zu widmen. Diese Entscheidung ist, wie es Volker Hoffmann im Nachwort zu seiner Chamisso-Ausgabe anmerkt, nicht nur individuell zu betrachten: In der Abwendung von der philosophischen Spekulation und Systematik scheint Chamissos Entscheidung Ähnlichkeit zu haben mit den in der Literaturgeschichte viel berufenen philosophischen Krisen der Literaten um 1800 (Kleist, Hölderlin u. a.). Sie führt aber im Unterschied zu diesen nicht zu einer Poetisierung der Natur, sondern vollzieht in der Abwendung von der Philosophie auch eine Abwendung von der Dichtung – wenigstens soweit sich diese genieästhetisch als spontan-schöpferisches Schaffen versteht.22

Wie ein Bekenntnis liest sich in diesem Zusammenhang ein Passus aus Peter Schlemihl zu Beginn des 8. Kapitels, in dem die Figur den Verfasser anspricht: Du weißt, mein Freund, daß ich deutlich erkannt habe, seitdem ich den Philosophen durch die Schule gelaufen, daß ich zur philosophischen Spekulation keineswegs berufen bin, und daß ich mir dieses Feld völlig abgesprochen habe; ich habe seither vieles auf sich beruhen lassen, vieles zu wissen und zu begreifen Verzicht geleistet, und bin,

20 Chamisso 1975, Bd. 1, S. 42. 21 Goethe 1989, V. 1533–1543. 22 Chamisso 1975, Bd. 2, S. 675.

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wie du es mir selber geraten, meinem geraden Sinn vertrauend, der Stimme in mir, so viel es in meiner Macht gewesen, auf dem eigenen Wege gefolgt.23

Chamissos Hinwendung zu den Naturwissenschaften wurde hauptsächlich von vier Personen gefördert. Bekannt ist vor allem die Rolle, die Alexander von Humboldt dabei gespielt hat: Auf seinen Vorschlag hin wurde Chamisso 1835 zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt. Aber auch Paul Erman hatte einen wesentlichen Anteil daran. Abgesehen davon, dass der Physiker durch ein Empfehlungsschreiben24 die Bekanntschaft seines ehemaligen Schülers am CollÀge franÅais mit Humboldt vermittelte, als jener 1810 zum letzten Mal versuchte, in seinem Heimatland wieder Fuß zu fassen, hatte ihn der strenge Kantianer mit Esprit voltairien immer wieder vor allen Formen der ,romantischen Wissenschaft‘ gewarnt. Dies geht z. B. aus einem Brief aus dem Jahr 1806 hervor – Chamisso war als (noch) preußischer Offizier gegen die Armee Napoleons ins Feld gezogen –, in dem Erman über die sogenannte Schädellehre spottet, die vom Arzt und Anatom Franz Joseph Gall (1758–1828) erfunden worden war. Dieser meinte, den Charakter eines Individuums aufgrund der Form seines Schädels bestimmen zu können: Wenn Sie auf dem Schlachtfeld sind, sollen Sie bedenken, dass Deutschland Ihre Beobachtungen auf dem Gebiet der Schädellehre erwartet; schauen Sie hin, ob alle Toten etwa das Organ der Sterblichkeit besitzen […]25

Bei der Entwicklung Chamissos zum Naturforscher sind noch zwei weitere Namen zu erwähnen: sein ehemaliger Emigrationsgefährte in Berlin Louis de La Foye, mit dem er sein Leben lang in Briefkontakt blieb, nachdem dieser nach Frankreich zurückgekehrt war, wo er Physikprofessor an der Universität von Caen in der Normandie wurde,26 sowie der Sohn von Germaine de StaÚl, Auguste (1790–1827). Die botanischen Ausflüge, die Chamisso mit ihm in der Umgebung von Schloss Coppet in den Schweizer Alpen unternahm – dorthin war er der Verfasserin des von Napoleon unerwünschten Buches De l’Allemagne in die Verbannung gefolgt – verhalfen dem lange unentschlossenen Deutsch-Franzosen dazu, endlich seinen Weg zu finden, indem er 1811 zu Fuß nach Berlin zurückkehrte und an der neugegründeten Universität ein naturwissenschaftliches Studium aufnahm. Sein Briefwechsel mit Auguste de StaÚl27 gibt außerdem Auskunft darüber, dass dieser einen wesentlichen Anteil am Erscheinen der 23 Ebd., Bd. 1, S. 53. 24 SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, Kasten 28, Nr. 37. 25 „Quant vous serez sur un champ de bataille songez que l’allemagne attend vos observations craniologiques; voiez si par hazard tous les morts ne se trouveroient pas avoir l’organe de la mortalit¦ […].“ SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, Kasten 27, Nr. 10. 26 Dufraisse 1982, S. 63–90. 27 Pille 1995, S. 269–300.

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ersten französischen Ausgabe von Peter Schlemihl beim Pariser Buchhändler Charles Ladvocat im Jahr 1822 hatte – allerdings ohne dass der Name des Verfassers erwähnt wurde.28 Aufgrund tragischer Umstände lässt sich ein weiterer Einblick in die Beziehungen Chamissos zur Coppet-Gesellschaft und somit in seine geistige Entwicklung gewinnen: Als Auguste de StaÚl 1827 im frühen Alter von 37 Jahren starb, erfuhr Chamisso vom Genfer Botaniker Candolle, dass eigene Handschriften im Nachlass des verstorbenen Freundes liegen würden. Daraufhin ersuchte Chamisso den Historiker Simonde de Sismondi, dem er früher auch nahe gestanden hatte, nachzuschauen, jedoch mit der ausdrücklichen Bitte, bloß keine Rücksicht zu nehmen auf das eventuell noch vorhandene Manuskript der französischen Übersetzung aus A. W. Schlegels Vorlesungen über dramatische Litteratur und Kunst, die er 1810 gemeinsam mit Helmina von Ch¦zy angefangen hatte: „Ins Feuer damit!“ lautete die Aufforderung (Jetez au feu! Jetez au feu!).29 Nun beruhte diese Antipathie auf Gegenseitigkeit. So hatte Schlegel in einem Brief an Auguste de StaÚl Chamissos Aufbruch zu seiner Weltreise folgendermaßen kommentiert: Ich freue mich darüber, dass der vorzügliche Chamisso endlich etwas aus seinem Leben macht. Ich wäre neugierig, unseren alten Bekannten und seinen Mantel nach der Weltreise zu sehen. Seine Wäsche brauchte zwei Ozeane, und verqualmt wie er ist, kann ihm wohl nichts passieren, es sei denn ein Patagonier würde ihn für eine Zigarre halten und ihn anzünden und rauchen wollen.30

Diese gegenseitige Abneigung mag sich aus persönlichen Gründen entwickelt haben. Sie verweist aber vor allem auf den Riss, der durch die Coppet-Gesellschaft ging. Ein Eintrag vom 25. Mai 1804 im Tagebuch von Benjamin Constant zeugt davon: Spaziergang mit Simonde und Schlegel. Sie betrachten einander wie zwei Wahnsinnige: Die französische Philosophie, die nur das Experiment kennt, und die neue deutsche Philosophie, die nur a priori räsoniert, können sich nicht verständigen, ja sich nicht einmal aussprechen.31 28 Vgl. das Kapitel „La premiÀre ¦dition franÅaise de Peter Schlemihl“, in: Pille 1993, S. 31–40. 29 Pille 1995, S. 295. 30 „Je me r¦jouis de ce que l’excellent Chamisso employe enfin sa vie — quelque chose. Je serai curieux de revoir notre vieille connaissance, sa capotte, quand elle aura fait le tour du monde. Son linge avait besoin de deux oc¦ans; enfum¦ de tabac comme il l’est, je le crois — l’abri de tous les dangers, pourvu que quelque Patagon ne le prenne pas pour un cigare, et veuille l’allumer et le fumer — son tour.“ Zit. nach: Körner 1969, Bd. 2, S. 285. 31 „promenade avec Simonde et Schlegel. Il se regardent mutuellement comme des fous: la philosophie franÅaise, qui ne reconnoit que l’Exp¦rience, et la nouvelle philosophie allemande, qui ne raisonne qu’a priori, ne peuvent, je ne dis pas s’entendre, mais ne peuvent mÞme pas s’expliquer.“ Constant 2002, S. 132.

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Man kann sich leicht vorstellen, auf wessen Seite Chamisso hier gestanden hätte… Der Bruch mit den jugendlichen Schwärmereien vollzog sich endgültig durch seine Weltreise, die ihm den Blick für die unendliche Mannigfaltigkeit der Welt öffnete. In der südlichen Hemisphäre wurde ihm klar, wie willkürlich die Versuche sind, Himmel und Erde symbolisch miteinander in Beziehung zu bringen. In diesem Sinne schrieb er an Hitzig aus der chilenischen Hafenstadt Talcahuano: Der Polarstern […] ist untergegangen, und das werden wir auch zu unserer Zeit tun; die Kälte kommt vom Süden und der Mittag liegt im Norden; man tanzt am Weihnachtsabend im Orangenhain, usw. Was heißt denn das mehr, als daß eure Dichter die Welt aus dem Halse der Flasche betrachten, in welcher sie eben eingeschlossen sind. Auch das haben wir los. Wahrlich, ihr Süden und Norden und ihr ganzer naturphilosophischer Kram nimmt sich da vortrefflich aus, wo einem das südliche Kreuz im Zenit steht.32

Wie sich nun diese völlig neue Weltsicht des Naturforschers auf seine Dichtung auswirkte, wäre das Thema eines neuen Beitrags. Man wird sich bis dahin mit dem Urteil des Physiologen Emil Du Bois-Reymond begnügen, der Chamisso, gleich Alexander von Humboldt, in einer 1888 in der Berliner Akademie der Wissenschaften gehaltenen Rede als „eine der seltensten literarischen und wissenschaftlichen Gestalten“33 bezeichnete.

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 2, Nr. 15. Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 4, Nr. 6. Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 5, Nr. 20. Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 27, Nr. 10. Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 28, Nr. 37.

Literatur Beetz, Manfred (Hg.): Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. München 1990 (= Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. v. Karl Richter u. a. 21 Bde., Bd. 8.1. München 1985–1998). B¦ranger’s Lieder. Auswahl in freier Bearbeitung von Adelbert von Chamisso und Franz Freiherrn von Gaudy. Leipzig 1838.

32 Chamisso 1975, Bd. 2, S. 67. 33 Reymond 1912, Bd. 2, S. 353–389; hier S. 354.

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René-Marc Pille

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Ein aufgeklärter Romantiker

43

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Film Rye, Stellan: Der Student von Prag (1913).

200 Jahre Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Walter Erhart

Siebenmeilenstiefel, Kronometer, Geschichte der Pflanzen – Chamissos Zeit-Regime

1.

Eisenbahn, Beschleunigung, Zeit – Chamissos „Schneckenhäuslein“ und Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Eines der ersten und zugleich berühmtesten Eisenbahngedichte stammt von Adelbert von Chamisso: Schnell! Schnell, mein Schmidt! mit des Rosses Beschlag! Derweil du zauderst, verstreicht der Tag. – „Wie dampfet Dein ungeheures Pferd! Wo eilst du so hin, mein Ritter werth? –“1

Chamissos Gedicht „Das Dampfroß“ von 1830 ist nicht nur in zahlreichen Anthologien kanonisiert, für den Historiker Reinhart Koselleck hat sich Chamisso damit sogar als einer der bedeutendsten modernen Autoren profiliert: Er war „der einzige, der die Metaphorik der technischen Krafterzeugung überbot und die Beschleunigung selbst thematisierte“2. In dem Gedicht nämlich steigern sich Geschwindigkeit und Zeitverkürzung über die Erdumdrehung hinaus, und die lineare Zeit läuft in sich selbst, in die Vergangenheit, zurück: Mein Dampfroß, Muster der Schnelligkeit, Läßt hinter sich die laufende Zeit, Und nimmt’s zur Stunde nach Westen den Lauf, Kommt’s gestern von Osten schon wieder herauf. Ich habe der Zeit ihr Geheimnis geraubt, Von gestern zu gestern zurück sie geschraubt, Und schraube zurück sie von Tag zu Tag, Bis einst ich zu Adam gelangen mag.3 1 Chamisso 1852, Bd. 3, S. 105. 2 Koselleck 2000, S. 150–176, hier S. 151. 3 Chamisso 1852, Bd. 3, S. 105.

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Walter Erhart

Zeit und Beschleunigung sind durchgängige Themen des Autors Adelbert von Chamisso. Der „Aufenthalt in Berlin“, so schreibt er 1813 an August von Varnhagen, sei „drückend“ gewesen; angesichts der „rasenden Zeit“4 habe er sich nach Kunersdorf zurückgezogen, wo in demselben Sommer seine Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte entstand. Die kurze Zeit später unternommene Weltreise verschaffte Chamisso die Möglichkeit, das Problem der Zeit als ein globales Phänomen zu studieren: Die Beherrschung der Zeit, die Entdeckung und Kenntnis der den Globus strukturierenden Zeitzonen, gehörte zu den bedeutsamen technischen Problemen der Weltreisen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Erfindung von Chronometer und Sextant war die Voraussetzung für die Bestimmung des Längengrades; die englischen Uhrmacher schufen die Präzisionsgeräte, mit denen die Zeit des Ausgangsortes bewahrt und zugleich mit Hilfe der Mathematiker und Astronomen die durch Himmelskörper und Mondbahnen errechnete Weltzeit gemessen werden konnte.5 In seinem erst 1836 erscheinenden Tagebuch der Weltreise von 1815 bis 1818 hat Chamisso auf die Präzision und die Irritation der Welt(reise)zeiten hingewiesen: Am 13. Dezember waren wir reisefertig. Ich bemerke beiläufig, daß die Europäer auf den Sandwich-Inseln die Zeitrechnung von West in Ost über Canton erhalten haben, so daß wir, die wir die Zeit von Ost nach West mitbrachten, einen Tag gegen sie im Rückstand waren, wie in Kamtschatka und den russischen Ansiedlungen der Fall gewesen war. […] Wenn man sich mit dem alten und dem neuen Kalender, der Zeitrechnung von Osten her und von Westen her, der Zeit von Greenwich und der von dem Schiffe, der mittleren und der wirklichen Zeit, der Sonnenzeit und der Sternenzeit, dem astronomischen Tag u.s.w. abzufinden hat: so ist es nicht leicht zu sagen, was es an der Zeit ist.6

Die praktische Herrschaft über die Zeit ging einher mit dem Bewusstsein der Pluralität und Relativität von Zeit; in Verbindung mit dem Gefühl der in der Moderne unaufhaltsam in eine offene Zukunft voranschreitenden Geschichte führte sie zugleich auch zum schmerzhaften Empfinden einer alles zurücklassenden und die Vergangenheit zerstörenden Zeit.7 Chamisso hat dieses Leiden bereits im ersten Bericht seiner Weltreise, den Bemerkungen und Ansichten auf einer Entdeckungs-Reise (1821), angesichts der Bewohner von Polynesien artikuliert: „Das Leben dieser Insulaner, unbedächtlich, entschlossen und dem Moment gehörend, ist vieler der Qualen bar, die das unsere untergraben.“8 Die ,rasende Zeit‘ und der Schmerz über das Verschwinden des eben noch 4 5 6 7 8

Chamisso an Varnhagen, 27. Mai 1813. In: Chamisso 1856, Bd. 5, S. 377. Vgl. Despoix 2007, S. 40–72. Chamisso 1856, Bd. 1, S. 179. Vgl. dazu Fritzsche 2004. Chamisso 1856, Bd. 2, S. 210.

Chamissos Zeit-Regime

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Gegenwärtigen sind Gemeinplätze bereits jener Epochen, denen Chamisso angehört.9 Es sind jedoch nicht so sehr die Diagnosen (und die Klagen) des beginnenden 19. Jahrhunderts, die in Zeiten postmoderner Beschleunigungserfahrungen eigenartige d¦j—-vu-Erlebnisse erzeugen mögen,10 es ist vielmehr der Umgang mit diesem Phänomen, der historisch jeweils variiert und in einer Geschichte moderner Zeiterfahrung in den Blick zu nehmen ist. In einem Brief an Rosa Maria Varnhagen formulierte Chamisso 1810 das grundlegende Problem, das sich ihm gerade in Bezug auf seine eigenen biographischen Optionen in einer sich verändernden Welt stellt: „Freilich geht es rasch mit den Jahren hinab und jedes Ziel scheint mit ihnen zu weichen.“11 Chamisso benennt hier genau jene größer werdende Kluft zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, die – wiederum nach Reinhart Koselleck – die beschleunigte Moderne charakterisiert.12 In einer für August von Varnhagen bestimmten Einlage desselben Briefes spricht Chamisso vom „Schneckenhäuslein“,13 in dem er sich gerade befindet und in das er sich bald darauf in Kunersdorf dann auch bewusst zurückzieht. Zwischen ,rasender Zeit‘ „im großen Strudel“14 von Paris einerseits, der ,Entschleunigung‘ im ,Schneckenhaus‘ andererseits, scheinen Chamissos Reflexionen genau jenes Paradox der modernen Zeiterfahrung zu umkreisen, das jüngst als großes soziologisches und kulturwissenschaftliches Thema neu entdeckt worden ist.15 Als Dichter, Naturforscher und Weltreisender war Chamisso in vielfältiger Weise mit der Herrschaft und der Beherrschung von Zeit konfrontiert. Chamisso ist jedoch kein bloßer Dichter der Beschleunigung, er entwirft zugleich das komplexe Bild eines in der Moderne vielschichtig gewordenen Zeit-Regimes. Anders als es viele Theorien über eine angeblich lineare, dem Telos der Modernisierung folgende Zeit- und Geschichtswahrnehmung nahelegen, ist die Zeit auch und gerade in der Moderne durch Heterogenität und Vielfalt geprägt; es käme demnach weniger darauf an, die Effekte des Modernisierungsparadigmas oder der Beschleunigung nachzuzeichnen, als vielmehr die kulturelle, ästhetische und historische Modellierung von Temporalität in verschiedenen Epochen, Regionen und Gattungen – mit und gegen das moderne Zeitregime – in den Blick zu rücken.16 Bereits Peter Schlemihls wundersame Geschichte – verfasst im ,Schneckenhaus‘ zu Kunersdorf, inmitten botanischer Studien, kurz vor der 9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Erhart 2008, S. 129–162. Vgl. Virilio 2012. Chamisso an Rosa Maria, 16. Oktober 1810, in: Chamisso 1856, Bd. 5, S. 306. Vgl. Koselleck 1979. Chamisso an Varnhagen, 16. Oktober 1810, in: Chamisso 1856, Bd. 5, S. 308. Chamisso an Rosa Maria, 24. Juni 1810, in: Chamisso 1856, Bd. 5, S. 284. Vgl. Rosa 2005; Han 2009; Assmann 2013. Vgl. Erhart 2014.

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Weltreise, die Chamisso für sich noch gar nicht plant und doch für seinen Helden bereits imaginiert – lässt sich als ein Erzählexperiment beschreiben, das die moderne Vielfalt und Widersprüchlichkeit moderner Zeit-Erfahrungen und Zeit-Wahrnehmungen erprobt. Der verkaufte und verlorene Schatten des Peter Schlemihl als das „Symbol für alle Formen der Selbst- und Fremdbezüge“17 hat bisher alle Interpretationen dominiert, seine Dechiffrierung hat auch die zahlreichen allegorischen Deutungen dieser Geschichte inspiriert und angeleitet.18 Weniger beachtet wurden Struktur und Verlauf der Geschichte, insbesondere jenes Thema, das den „Selbst- und Fremdbezügen“ und auch dem Erzählen selbst erst die ihnen eigene Form gibt: die Zeit, in und mit der sich die Geschichte und die in ihr befindlichen Figuren allesamt bewegen. Peter Schlemihls „wundersame Geschichte“ ist auch deswegen rätselhaft und wunderbar geblieben, weil sie von eigentümlichen Rhythmen des Erzählens bestimmt ist, von unterschiedlichen Geschwindigkeiten, von Zeitgewinn, Zeitverlusten und Zeitnöten, die sich einerseits aus Handlung und Geschichte ergeben, sich andererseits aber der Erzählgeschwindigkeit auch direkt mitteilen. Am Ende wird die Figur des Peter Schlemihl buchstäblich durch alle Zeitzonen der Erde geschleust, schon vorher aber ist die Zeit das vorherrschende Thema: „Meine Uhr stand.“ (S. 18) – „Meine Zeit war um.“ (S. 35) – „Ich setzte diese Zeit fest“ (S. 35).19 Die zuweilen „bleiernen Stunden“ (S. 36) wechseln mit der ,schneller‘ werdenden Zeit; sogar die Redewendung „über Jahr und Tag“ (S. 21) gewinnt dramatische Bedeutung: Nach einem Jahr und einem Tag – also wörtlich genommen – soll der Handel nach Auskunft des teuflischen Widersachers und Käufers von Schlemihls Schatten wieder aufgenommen werden. Peter Schlemihl aber hat sich in der Zeit-Kalkulation getäuscht: „Ich überdachte noch einmal die Zeit […] ich hatte mich stets um einen Tag verrechnet.“ (S. 40)20 Es ist nicht eine Zeit, die in Chamissos Erzählung zum Vorschein kommt; irritierend und strukturbildend in der Geschichte des Peter Schlemihl sind vielmehr die Vielfalt und die Konfrontation ganz unterschiedlicher Zeitvorstellungen und Zeitwahrnehmungen. Diese Heterotemporalität kennzeichnet die vor allem moderne Verfasstheit von Zeit, sie ist das oftmals übersehene Begleitphänomen einer Beschleunigung, die sich umgekehrt vielleicht nur als Effekt der vielfältig gewordenen und nicht zu vermittelnden Zeitdimensionen 17 Hoffmann 1975, Bd. 2, S. 664–699, hier S. 681. 18 Zur Forschungsgeschichte vgl. ausführlich Walach 1980, S. 285–301. 19 Chamisso 1993: Peter Schlemiel’s Schicksale (nach dieser Ausgabe wird fortan im Text zitiert). 20 Peter Schlemihl ist „geld-reich, aber zeit-arm“, so formuliert es Harald Weinrich, der als Einziger auf die mit dem Vertrag über den verkauften Schatten entstehende „Knappheit der Zeit“ in der Erzählung hingewiesen hat: Weinrich 2004, S. 200.

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darstellen könnte. Beides aber – Heterogenität und Beschleunigung – lässt sich nicht als Eigenschaft der Zeit selbst begreifen, sondern nur als deren subjektive, gleichwohl kollektive Wahrnehmung, als eine Form der imaginierten Zeit und der imaginierten Beschleunigung.21 Das Leben vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart mag zwar immer schneller geworden sein, die Wahrnehmung von Beschleunigung jedoch könnte im frühen 19. Jahrhundert durchaus größer gewesen sein als heute; Erfahrung und Umgang mit Zeit und Beschleunigung, auch das Leiden an Temporalität und die Therapie ihrer Folgen sind historisch stets anders gelagert, ebenso wie die literarisch-kulturelle Modellierung von Zeitlichkeit und temporaler Vielfalt.

2.

Zeitraffung, Stillstand, Theatralik – Peter Schlemihl und die Desorganisation der Zeit

„Es war noch früh an der Zeit, ich schnürte sogleich mein Bündel auf […] und setzte mich alsbald auf den Weg […].“ (S. 9) Nachdem Peter Schlemihl an Land gegangen ist, beginnt sein Eintritt in die Gesellschaft. Er empfindet sich dort nicht nur als „fremd“, sondern in eine eigentümliche Folge rascher Geschehnisse versetzt. „[…] nachher habe ich vielleicht Zeit, ihnen zu sagen was ich hiezu denke“ (S. 10), bemerkt der zunächst nicht zuhörende, höchst eilige Gastgeber, und was alsdann passiert, erfolgt buchstäblich in einer Art Zeitraffer, markiert auch durch die zahlreichen adverbialen Bestimmungen („schon“, „sogleich“, „alsbald“). Die Gesellschaft scheint immer in „Bewegung“ (S. 10; S. 11), es werden Wünsche laut, der „graue Mann“ ist stets „sogleich“ (S. 11) zur Hand. Man bezieht einen Aussichtspunkt: Ein „Fernrohr her!“, ruft der Gastgeber, und „noch bevor“ die Dienerschaft „in Bewegung kam“, hat der Mann es „schon“ parat (S. 11). Schlemihl möchte wieder mit Herrn John sprechen und verbeugt sich, dieser hingegen „sprach schon mit jemand anderem“ (S. 11). Die Gesellschaft wandelt auf dem Rasen, jemand phantasiert über „türkische Teppiche“, die der Feuchtigkeit trotzen würden: „Der Wunsch war nicht sobald ausgesprochen, als schon der Mann im grauen Rock die Hand in der Tasche hatte […].“ (S. 11f.) Die geführten Gespräche und die Bewegungen der Figuren sind ebenso beschleunigt wie der Erzählduktus selbst, bis zum abschließenden Handel beim Anblick der Goldstücke: „Ich griff hinein, und zog zehn Goldstücke daraus, und wieder zehn und wieder zehn und wieder zehn; ich hielt ihm schnell die Hand hin: Topp!“ (S. 15) Der Ich-Erzähler – eben an Land gekommen – ist mit einem ihm unge-

21 Vgl. Hunt 2008.

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wohnten Zeit-Rhythmus konfrontiert, mit einer Gesellschaft, die sich in ihrer Eile, Zerstreutheit und „Bewegung“ um den „grauen Mann“ kaum kümmert. Dieser hingegen versorgt die Abendgesellschaft mit Gegenständen aus aller Welt: einem englischen Pflaster, einem modernen, aus England stammenden Fernrohr, mit „türkischen Teppichen“ und einem „Lustzelt“ (S. 12). Die einzelnen Waren – auch das schnelle Geld – verweisen auf weltweit etablierte Konsumgüter und Handelsbeziehungen, die Erzählführung zusätzlich auf eine dadurch knapp gewordene Zeit. Wie in einem Brennspiegel tritt zu Beginn der Geschichte eine Verdichtung von Raum und Zeit hervor, die den Ich-Erzähler zugleich bedrängt und überfordert. Nicht zuletzt dies sorgt für den „Schwindel“ bei Peter Schlemihl, „es flimmerte mir wie doppelte Dukaten vor den Augen.“ (S. 15) Am nächsten Tag ist bekanntlich alles anders. Abends und nachts hatte Schlemihl das Geld – „Gold, und Gold, und immer mehr Gold“ (S. 17) – angehäuft, darin gewühlt und sich darauf nieder gelegt. Er hat es gerade nicht verbreitet und in Umlauf gebracht, sondern den Geldfluss aufgehalten. Am nächsten Morgen ist dementsprechend auch seine Geschichte unterbrochen – „Meine Uhr stand“ (S. 18) –, und die Auflösung der Zeitmessung markiert die sowohl psychische als auch soziale Desorganisation des Helden. Ohne seinen Schatten ist Peter Schlemihl der Gesellschaft und der Zeit enthoben – ohne Resonanz, Wirkung und Anerkennung im gesellschaftlichen Leben. Genau damit entfaltet sich zu Beginn der Erzählung die Gegenüberstellung zweier ZeitZustände: die beschleunigte Zeit in der Gesellschaft einerseits, eine leere, buchstäblich stehengebliebene innere Zeit andererseits. Dem angehäuften, aber nutzlosen Geld antwortet der hier eingefügte Traum vom toten Adelbert von Chamisso: einem Stillleben der aufgelösten sozialen Zeit, das der tote Chamisso zwischen einem „Skelett“, einem „Bunde getrockneter Pflanzen“ (S. 18) und naturkundlichen Büchern repräsentiert. Die Geschichte des verkauften Schattens beginnt als Diskrepanz und Störung zwischen äußerer und innerer Zeit, zugleich als die dramatische doppelte Bedrohung beider Zeitwahrnehmungen. Der Fortgang der Geschehnisse wiederum lässt sich als Versuch lesen, die aus dem Takt geratenen Zeit-Verhältnisse wieder zu ordnen, einen Zugang zu finden zur verlorenen äußeren und zur stehengebliebenen inneren Zeit. Der erste Versuch bezieht sich auf die Öffentlichkeit: „So wagt ich mich wieder unter die Menschen und begann eine Rolle zu spielen.“ (S. 24) Solcherart theatralisch instruiert, übt sich Peter Schlemihl „eine Zeit lang“ darin, „Redensarten vorzudrechseln“ (S. 25) und im „Inkognito“ (S. 29) die vorgetäuschte Existenz eines Grafen Peter zu simulieren. Schlemihl greift hier auf die Bestandteile einer höfisch-aristokratischen Kultur zurück; deren Rhetorik und Verstellungskunst kann und soll die Desorganisation des eigenen Selbst nach innen und nach außen überspielen. Der Liebesroman mit Mina, bei

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dem Schlemihl nach eigener rückblickender Einsicht eine „heroische Rolle […] schlecht einstudiert“ (S. 26) hat, prägt einen eigenen theatralisch-imaginären Zeit-Modus aus, und der Held gewinnt als Schauspieler des Grafen Peter dadurch die Herrschaft über die Zeit zurück. Mit der Zauberkraft des Geldsäckels inszenieren Schlemihl und seine Diener folglich eine beständige Folge an Illusionen, in der das ,bürgerliche‘ Zeitmaß aufgehoben erscheint. Überaus schnell hat sich Schlemihl etwa „in wenigen Stunden“ in einen fürstlichen Gastgeber verwandelt; dabei „gelang es“, wie es vermeintlich beiläufig heißt, „die Zeit zu besiegen“ (29). Dieser Teil der Geschichte des Peter Schlemihl steht im Zeichen der Phantastik und der Poesie: Die „Einbildungskraft“ der Mina hatte sich „geschäftig unter heroischen Bildern den Geliebten herrlich“ (S. 34) ausgemalt, die „Rolle“ des Grafen Peter markiert dieselbe Welt der Imagination, in der die Zeit beherrscht und manipuliert werden kann. Der imaginäre Zustand, die Illusion und die Täuschung aber gleichen dem im Text dreimal genannten „Rausch“ (S. 25, 30, 32), der folgerichtig auch nur kurz bemessen sein kann: „Meine Zeit war um.“ (35) Wieder befindet sich Schlemihl außerhalb jeder sozialen und gesellschaftlichen Zeit, erneut ist auch die innere Zeitwahrnehmung aufgelöst: „Ich stand mit Bendel da wie versteint, gedanken- und regungslos“ (S. 37). Die psychopathologischen und psychosomatischen Symptome der Schlemihl-Figur – ,versteint‘ und ,gedankenlos‘, „wie irre redend“ (S. 38), „Ohnmacht“ (S. 50), „Schwindel“ (S. 56), „ich hatte weder Urteil noch Fassungsvermögen mehr“ (S. 44) – sind Zeichen des durch den Schatten angezeigten Selbstverlustes, zu lesen entweder als Diffusion der für die Ich–Identität notwendigen Selbstbezüge22, als Auflösung einer männlichen Geschlechtsidentität23 oder als Krise der Bedeutungszuschreibungen schlechthin.24 Die Unordnung im Selbstverhältnis der Figur stellt zugleich die Folge einer sozialen Desintegration dar, in deren Verlauf Schlemihl keinerlei Zugang zur sozialen Welt gefunden hatte: weder durch das „Empfehlungsschreiben“ (S. 9) noch durch den unaufhörlichen Besitz von Geld, weder durch die aristokratische Verkleidung noch durch die Liebe zu Mina. Das hier auf mehreren Ebenen zu verzeichnende 22 Vgl. etwa – aus psychoanalytischer Perspektive – Renner 1991, S. 653–673. Ebenso Blamberger 1996, S. 109–117. 23 Vgl. die Worte des „Grauen“ nach Schlemihls Ohnmacht bei der Vertragsunterzeichnung: „Heißt das nicht wie ein altes Weib sich aufführen!“ (S. 51) Daraus haben Interpreten einen Indizienbeweis geführt, um einen homosexuellen Subtext der Erzählung zu dechiffrieren: Vgl. Detering 2002, S. 155–172; Block 2004, S. 93–110. 24 Darauf beruhen poststrukturalistische Lektüren der Erzählung, in denen die vergeblichen allegorischen Interpretationen des Schatten-Motivs nur als weitere Beispiele gelten für das in der Erzählung dokumentierte grundsätzliche Misslingen von Bedeutungszuweisungen, das endlose ,Gleiten‘ der Signifikanten sowie die generelle Nicht-Interpretierbarkeit der Erzählung. Vgl. dazu Kuzniar 1985, S. 189–204; Neubauer 1986, S. 24–34.

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Misslingen basaler Anerkennungsverhältnisse25 ist zuallererst mit einer Störung der temporalen Selbst- und Weltverhältnisse verbunden: Ich-Zeit und Welt-Zeit treten auseinander, subjektive und intersubjektive Zeit sind nicht mehr koordiniert, die erforderliche Synthese unterschiedlicher Zeit-Dimensionen nicht mehr gewährleistet.26 Beschleunigung, Stillstand, theatralisch-poetische Existenz: Den drei Kapiteln und den drei Zuständen des Peter Schlemihl korrespondieren drei epochale Temporalitätserfahrungen – die Zeit einer Gesellschaft, die im Modus der Beschleunigung wahrgenommen wird, eine innere Zeit außerhalb jeder sozialen Ordnung, schließlich eine phantastisch-poetische Zeit, die über die Wirklichkeit triumphiert und sie ,romantisiert‘, die zugleich leer ist und ihre Vertreter mit gesellschaftlicher Exklusion bestraft.27 Die Geschichte des Peter Schlemihl ist demnach charakterisiert durch mehrere heterogene, nicht vereinbare und nicht vermittelbare Zeit-Ordnungen. Dadurch geraten auch die Geschichte und das Erzählen selbst aus dem Takt: Das Zeitkontingent der Figur ist aufgebraucht, Schlemihls Geschichte hat ihre narrativen Spielräume und Entfaltungsmöglichkeiten verloren. Mit den auseinander laufenden temporalen Linien findet die Erzählung anschließend zu keiner Ordnung zurück. Die Figur streift „in irrem Lauf“ durch „Wälder und Fluren“ (39), sitzt dann wieder da „wie versteinert“ (47); die Begegnungen mit dem „grauen Mann“ sind eher zufällig, narrativ nicht motiviert, die entscheidende Verweigerung des Paktes geschieht zuletzt in einer „Ohnmacht“ außerhalb von Zeit und Raum, über die sich der Erzähler keine Rechenschaft ablegen kann: „[…] und ich lag eine lange Zeit wie in den Armen des Todes“ (S. 50). Das Ziel der Geschichte gerät nicht nur den Figuren aus dem Blick, auch die narrative Handlungsführung des Erzählers scheint ihren (Erzähl-)Faden zu verlieren.

3.

Raum ohne Zeit – die Welteroberung des Peter Schlemihl

An dieser Stelle der temporalen und narrativen Desorganisation tritt ein deus ex machina auf den Plan, der „schöne blondlockige Knabe“ in der „Bude“ einer „Kirmes“ (S. 62). Er vollbringt ein mit Jahrmarktskulissen entsprechend ironisiertes Wunder und verkauft die Siebenmeilenstiefel; mit ihnen erscheint eine 25 Vgl. Honneth 2003. 26 Zur entsprechenden, sämtliche psychischen Krankheiten begleitenden Psychopathologie der Zeit vgl. Kupke 2009. 27 Auf diese Weise lässt sich das Mina-Kapitel auch als Kritik und „Krise“ der Berliner Romantik lesen – als Begleittext zu „Chamissos Schweigen“ und seiner spätestens mit der Weltreise vollzogenen Hinwendung zur Naturwissenschaft. Vgl. dazu Miller 1979, S. 101–119.

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wiederum andere Form der Temporalität: Geschwindigkeit ohne Zeit. „Ich war noch keine zweihundert Schritte gegangen […]. Ich drang noch einige Schritte vor […]. Ich machte noch einige Schritte“ (S. 62f.). Mit diesen die Erzählpassage strukturierenden Bewegungen werden schnell große Räume durchschritten: Schlemihl gelangt vom „Tannenwalde“ zu den „öden Felsen des Vorgebirges bis zu den Schnee- und Eisfelder(n)“ (S. 62f.). Der Frost zwang dazu, „meine Schritte zu beschleunigen“; von „Seehunden“ am Ozean geht es zu asiatischen „Reisfeldern und Maulbeerbäumen“ (S. 63), eine große Reise um den Globus, die jedoch kaum Zeit erfordert hat: „Ich sah nach meiner Uhr, ich hatte vor nicht einer Viertelstunde den Marktflecken verlassen.“ (S. 63) Es handelt sich um eine neue, eine zweite Form der Beschleunigung, die ebenso auch das Erzählen selbst wieder beschleunigt, nun aber die Zeit selbst vergessen macht. Der seine Weltreise erzählende Schlemihl schritt einerseits „langsam“ (S. 65) von Berggipfel zu Berggipfel, er „überschweifte“ (S. 64) andererseits den amerikanischen Doppelkontinent, kehrte dann „schnell“ (S. 64) vom Kap Horn wieder zurück und „sprang“ (S. 65) – wieder in Amerika – über die Beringstraße. Er „stürzte“ – erschrocken von einem Eisbär – in das Polarmeer, lief zum Trocknen, „so schnell ich konnte“, in die Libysche Wüste, von wo er wieder in den Norden zurück „taumelte“ (S. 67). Obwohl Syntax und adverbiale Bestimmungen ein bestimmtes Zeitmuster, eine ,rasende Zeit‘, anzeigen, verwischt dieser Geschwindigkeitsmodus seine Spuren, und es ist nicht erkennbar, wie lange Schlemihl jeweils unterwegs sein mochte: Die Weltreise könnte einige Stunden, aber auch einige Tage oder Monate gedauert haben. Angesichts des zur Entdeckung freigegebenen, präsentisch verfügbaren Raumes verliert die Zeit ihre Bedeutung: Alles geschieht schnell, aber in einem unklaren Zeitmaß. Bezeichnenderweise weichen gerade hier die Handschrift des Schlemihl-Manuskripts und die Fassung des Erstdrucks voneinander ab: Die Welterkundung des Peter Schlemihl ist im handschriftlichen Manuskript sehr viel ausführlicher dargestellt.28 Neben den im Manuskript enthaltenen wissenschaftshistorischen Details29 ist dies aufschlussreich für die zeitliche Organisation des Erzählplans; offensichtlich kann an dieser Stelle die Erzählzeit beliebig gedehnt und gerafft werden, die Erlebnisse selbst können erzählt oder auch weggelassen werden, der Raum triumphiert über die erzählte Zeit. Zudem lässt sich in der Veränderung des Manuskripts eine Verschiebung der räumlichen und historischen Perspektiven der Weltreise beobachten. Le28 Die „Urschrift“ des Peter Schlemihl ist 1919 zum ersten Mal von Helmuth Rogge vorgestellt und ediert worden: Rogge 1919, S. 439–450. Erst 2013 ist eine textkritische, korrigierte neue Fassung des Manuskripts erschienen: Chamisso o. J. [2013] (aus ihr wird im Folgenden zitiert; die Korrekturen in der Handschrift werden stillschweigend übernommen). 29 Sie wurden erst kürzlich von Matthias Glaubrecht und Nikolas Immer wieder ans Tageslicht gebracht und analysiert: Glaubrecht / Immer 2012, S. 123–144.

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diglich in der Handschrift enthalten sind die von Schlemihl aufgezeichneten Erkundigungen historischer Stätten: Der Naturforscher „durchwanderte“ gleich am Anfang Asien und die „vermeintliche Wiege der jetzigen organischen Schöpfung auf unserer Erde und der Menschheit“,30 er begegnete in Arabien der „Wiege und dem Grabe des kriegerischen Propheten“31 Mohammed, er besuchte die „Pyramiden“, die „Buchstaben eines verlor[enen, W. E.] Wortes“ und die „Ewigen Monumente“ mit den „Mystischen Zeichen ihrer Weisheit“.32 Er „weinte auf den Stufen des Parthenion“33 über das nun von den Türken bewohnte antike Griechenland, folgte den „Cordilleras de los Andes“34, klagte „traurend am Ufer des Sees“ über die nun fremdbevölkerte „Hauptstadt“ Montezumas und „suchte vergebens, indem ich mir Verse aus dem letzten Gesang der Ilias hersagte, nach Spuren der heiligen Feste Trojas“.35 In der von der Zeit gänzlich unabhängigen Bewegungsfreiheit der Weltreise kommt hier eine neue, nunmehr letzte Gestalt von Temporalität zum Vorschein: die ,tiefe‘ Zeit der Menschheitsentwicklung, die Geschichte der Zivilisationen und der Weltreligionen, jene historische Zeit, die dem ortsunabhängigen Reisenden nun zur Besichtigung freigegeben ist. Diese Beobachtung einer historischen Zeit ist in der späteren Druckfassung der Erzählung nicht nur getilgt, bereits am Ende der handschriftlichen Passagen geht Schlemihl zu ihr ausdrücklich auf Distanz. Ich trat von Lamboc über Bali java [!] Sumatra und die halb [!] Insel wieder zurück, unt [!] kam über die heiligen Gewässer des Ganges nach dem alten mystischen Indien. aber ich war der Geschichte der Menschen entfremdet […].36

Zu Beginn der Erzählung war Schlemihl „zu fremd“ (S. 10), um der gesellschaftlichen Konversation zu folgen, am Ende nimmt er Abschied von der ihm fremd gewordenen Geschichte. Die Gründe, der Anlass und die genaue Autorschaft der vom Manuskript abweichenden Druckfassung sind nicht bekannt.37 Offensichtlich aber galten die historischen Entdeckungen des Weltreisenden am Ende als entbehrlich: Der Historiker Peter Schlemihl verwandelt sich in den Naturforscher, die historische Zeit wird bedeutungslos. Alexander von Humboldt hatte auf seinen Reisen nach Südamerika die Geschichte – die Kunstwerke der Azteken, die Früh- und Vorgeschichte des Kontinents – noch ausdrücklich in 30 31 32 33 34 35 36 37

Chamisso 2013, S. 173. Ebd. Ebd., S. 173f. Ebd., S. 175. Ebd., S. 176. Ebd., S. 175. Ebd., S. 178. Vgl. dazu Krüger / Sproll, in: Chamisso o. J. [2013], S. 83–90.

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den Blick genommen, wenngleich er, ebenso wie Chamisso, die noch ,unberührte‘ Natur gegenüber der Zivilisation profilierte.38 Der Held in Chamissos Erzählung aber hat sich mit der Distanz zur Geschichte am Ende auch von der menschlichen Zeit abgewandt; Vergangenheit und Zukunft, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont geraten aus dem Blick, und genau dies – so zeigt sich – sichert nunmehr die Herrschaft über die Natur. Siebenmeilenstiefel und Hemmschuhe organisieren den unbegrenzten Zugang zu Zeit und Raum, hinzu kommt die Forschungsausstattung: „physikalische Instrumente und Bücher“, ein Sextant, Schlemihls „sehr gute Uhr“, die sich bezeichnenderweise in ein „vortreffliches Kronometer“ (S. 66) verwandelt hat. Es sind dies speziell für die Welt- und Forschungsreisen des 18. Jahrhunderts entwickelte Apparaturen, die exakte Raummessungen unabhängig von den variierenden menschlichen Zeiten erlauben. An die Stelle der Geschichte tritt die „historia stirpium“, die Geschichte der Pflanzen. Sie bleibt freilich ein „großes Fragment der Flora universalis terrae“ (S. 71), deren Historie sich als Weltzeit längst von der Lebenszeit und der historischen Zeit gelöst hat: Das von dem Naturforscher Schlemihl geschaffene fragmentarische Werk soll – „vor meinem Tode“ (S. 71) – der Berliner Universität zukommen, einem die Menschenzeit überdauernden Archiv.

4.

Posthistoire, Globalisierung, Temporalität

Zuletzt verwandelt sich die Erzählung des unglücklichen und fremden Schlemihl in eine Phantasie über die absolute Beherrschung der Zeit; dieses am Ende der Erzählung etablierte Zeit-Regime gleicht der Realisierung eines der Zeit enthobenen, posthumanen Zustands. Zu der Verfügbarkeit eines von Zeit und Geschichte gereinigten Raumes gehört die Rückkehr zum „Schlemihlium“, jener „Stiftung“ (S. 69) zur Pflege von Kranken und Heimatlosen, in dem sich die Protagonisten der Erzählung zeitweise wiederfinden. Dort unterhalten sich Bendel und Mina über das vergangene erste „Gaukelspiel“ (S. 70) des Lebens; 38 Chamisso berichtet 1810 aus Paris: „Wir Erwachsene sind gar unglückliche, verwöhnte Kinder, […] ja was erregte unsere Neugierde, und spannte unsere Seele an? – Doch Einer hat es noch an mir gekonnt, unser herrlicher Humboldt, mit der Tropen=Natur, den Llanos der Anden, der fremden Physiognomie einer uns unbekannten Schöpfung, – ich bitt’ euch, Kinder! Was ist der Wasserfall von Saint=Cloud bei Lichte, oder zwei achtspännige goldene Carossen mit hübschen Straußfedern?“ Chamisso an Fouqu¦, 17. Juni 1810, in: Chamisso 1856, Bd. 5, S. 277. Das Verhältnis von Geschichte und Natur bei Humboldt wird seit jeher kontrovers diskutiert – ob Humboldt seine ,Physiognomie‘ der südamerikanischen Länder von historischen Spuren ,gereinigt‘ habe, oder die allmählich erkannte Historizität der ,neuen‘ Welt seine anfangs eurozentrische Sichtweise relativiert habe. Vgl. dazu: Pratt 1992. Dagegen: Lubrich 2014, S. 36–54.

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man könne nun eigentlich – so Bendel – einen neuen Beginn, „den wirklichen Anfang“, erwarten, eine von Vergangenheit und menschlicher Zukunft abgetrennte Zeit: „Ein anderer ist nun der wirkliche Anfang“ (S. 69). Anfang und Ende, die Zeit-Dimension sowohl des menschlichen Lebens als auch einer narrativ strukturierten Geschichte haben ihre Funktion verloren, und während Bendel und Mina in einem geschützten Raum-Asyl dem Leben und der Zeitlichkeit enthoben sind, emigriert Schlemihl in einen von der menschlichen Zeit befreiten Natur-Raum: „Und so, mein lieber Chamisso, leb ich noch heute. Meine Stiefel nutzen sich nicht ab […].“ (S. 71) Zuletzt kommt in der Geschichte des Peter Schlemihl bloße Gegenwart zum Vorschein, und diese Beherrschung der Zeit ist nicht mehr auf eine Synthese der Zeit-Dimensionen, auf die Vermittlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angewiesen. Das „Schlemihlium“ und der sich durch die Welt fortbewegende Naturforscher formen am Ende fast eine Art posthistorische Allegorie: das Asyl einer stillgelegten Menschen-Zeit einerseits, die zeitenthobene Betriebsamkeit einer unendlichen und rastlosen Erfassung und Vermessung der Welt andererseits. Mit dem Durchgang durch unterschiedliche Temporalitäten – gesellschaftliche Zeit, innere Zeit, poetische Zeit, historische Zeit – ist ein Experiment abgeschlossen, an dessen Ende die Zeit selbst gewissermaßen leer gelaufen ist. Die spezifische Unruhe der Erzählung beruht auf der Vielfalt der in ihr mannigfach durchgespielten Zeitdimensionen; die nicht koordinierten und auseinander laufenden Chronien führen jeweils scharfe Trennungen herbei: zwischen beschleunigter Gesellschaft zu Beginn und einer beschleunigten globalisierten Raumerfahrung am Ende, zwischen Menschheitsgeschichte und Naturgeschichte, zwischen historischer Forschung und Naturwissenschaft. Die in der Neuzeit begonnene und heute als lokale Geschichte Europas diagnostizierte „große Trennung“39 zwischen Natur und Kultur, zwischen Naturund Geisteswissenschaften sowie den belebten und den unbelebten Dingen40 wird hier pointiert und überspitzt, zugleich mit temporalen Eigenlogiken verknüpft, die sowohl die Erzählung als auch die Existenz des Peter Schlemihl diffundieren und auseinanderstreben lassen: ein von Beginn an mehrfach inszenierter Bruch mit geordneten Zeitabläufen, von dem sich die Geschichte und ihre Protagonisten nicht mehr erholen, so sehr auch Peter Schlemihl den Globus und seine Zeitzonen beherrschen mag. Wenn man möchte, kann man an dieser schnell geschriebenen und unruhigen Fabel über Peter Schlemihl ein Grundproblem der beginnenden Moderne erkennen: das Eingeständnis einer heillosen Heterotemporalität, die sich zu keiner (Lebens-)Geschichte und keiner kultu39 Descola 2011, S. 99–142. 40 Vgl. Latour 2008.

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rellen Ordnung mehr formt. Vielleicht liegt hierin auch ein Schlüssel für die literaturgeschichtliche Position des Autors Chamisso. Bekanntlich ist er keiner jener Epochen oder Bewegungen ganz zuzuordnen, die jeweils einem bestimmten Zeit-Modell verpflichtet sind: der Romantik, dem Vormärz oder dem Biedermeier, der Rettung der Vergangenheit und der Feier des ästhetischen ,Augenblicks‘, der Zukunft und der Beschleunigung oder der Resignation im Anblick einer eben verlorenen Vergangenheit. In den sich an seine Welt- und Forschungsreise anschließenden naturkundlichen und reiseliterarischen Schriften hat Chamisso versucht, die räumlichen und temporalen Muster des modernen (Welt-)Wissens in unterschiedlichen Formen und Medien auszubuchstabieren; mit seinen späten Gedichten hat er eine weitere, bislang kaum erforschte Perspektive eröffnet: das lyrische Panorama eines kollektiven (Welt-) Gedächtnisses, in dem sich die Stimmen der Völker versammeln und ihre museal gewordene Geschichte verlebendigen. Das posthistoire der beiden Naturforscher Peter Schlemihl und Adelbert von Chamisso – „ich war der Geschichte der Menschen entfremdet“ – verwandelt sich in ein experimentum mundi, das die Verfügbarkeit und Nicht-Verfügbarkeit von plural gewordenen Temporalitäten erprobt.

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‘[D]ie Poetischen in der Philosophie, die Philosophischen in der Poesie’: The Critique of German Idealism in Peter Schlemihls wundersame Geschichte

1.

Introduction Im Grunde hat er in seinem “Schlemihl” nur sein eigenes Dichtergeschick niedergelegt: den ewigen Konflikt von Schein und Sein […]. Dieses wunderliche Märchen, das durch seine pikante Unbestimmtheit sich überall beliebt gemacht, gehört zu jenen glücklichen AperÅus, deren Wert und Bedeutung die Poetischen in der Philosophie, die Philosophischen in der Poesie suchen.1

The above quotation from Joseph von Eichendorff ’s Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857) highlights the importance of philosophy in Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814). Yet during the century and half since Eichendorff‘s comments were published scholarly research has mostly concerned itself with interpreting the shadow and categorising the literary format of the text at the expense of analysing its philosophical aspects; Franz Schulz points out that the shadow has been interpreted as ‘Vaterland, Heimat, Lebensstellung, Familie, Konfession, Orden, Titel, Liebesgestalt, gesellschaftliches Talent oder Anpassung an die geltende Mode’, and that the text has been labelled at various times as ‘ein Märchen, Kindermärchen, romantisches Märchen, eine romantisch-allegorische Stimmungsnovelle, ein allegorisches Märchen, ein Kunstmärchen, eine kuriose Geschichte, ein Novellen-Märchen, eine Märchen-Novelle oder eine phantastische Novelle’.2 I will argue that by investigating the philosophical aspects of Peter Schlemihl, fresh light can be shed on this 200-year-old text, including a further possible interpretation of Schlemihl’s shadowlessness as the post-Kantian weakening of subjectivity. As Marko Pavlyshyn notes, the passage in which the demonic grey man appears in disguise and discusses metaphysics at the beginning of chapter eight

1 Eichendorff 1981–88, iii (1981), p. 902. 2 Schulz 1972, p. 429.

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has ‘escaped critical attention’.3 Here, the grey man talks to Schlemihl about metaphysics and Schlemihl goes on to say : Nun schien mir dieser Redekünstler mit großem Talent ein fest gefügtes Gebäude aufzuführen, das in sich selbst begründet sich emportrug, und wie durch innere Notwendigkeit bestand. Nur vermißt ich ganz in ihm, was ich eben darin hätte suchen wollen, und so ward es mir zu einem bloßen Kunstwerk, dessen zierliche Geschlossenheit und Vollendung dem Auge allein zur Ergötzung diente.4

In Pavlyshyn’s words, this description presents us with ‘an argument for the proposition that the totality of knowledge resides in a system of rational speculation’ and, therefore, as Pavlyshyn deduces, the Enlightenment philosophy of the time (German idealism) is a ‘thing of the devil’ by implication.5 However, at this point I depart from Pavlyshyn, who maintains that, although depicting the Devil as a ‘sophisticated debater’ and ‘master of abstract logic’ is a common literary tradition, ‘[t]he reason why it should be invoked here in order to demonize speculative rationalism is not clarified within the text, but easily enough understood in terms of a personal antipathy on the author’s part’.6 Schlemihl does indeed address Chamisso at this point in the novella, implying that Chamisso is partly to blame for Schlemihl’s disdain of philosophy : Du weißt […], daß ich zur philosophischen Spekulation keineswegs berufen bin, und daß ich mir dieses Feld völlig abgesprochen habe; […] und bin, wie du es mir selber geraten, meinem geraden Sinn vertrauend, der Stimme in mir, so vieles in meiner Macht gewesen, auf dem eigenen Wege gefolgt. (p. 53)

Nevertheless, rather than attributing this to a purely isolated, autobiographical aspect of the text, it could be argued that the text in its entirety deals critically with Immanuel Kant’s legacy. According to Frederick Beiser, towards the end of the eighteenth century the Enlightenment entered into a crisis: ‘The more it extended its fundamental principles, the more they seemed to lead to dire consequences […]. While criticism seemed to end in scepticism, naturalism appeared to result in materialism.’7 This crisis did not go unnoticed by the Romantics; writing on the subject, Friedrich Schlegel states: ‘Der Materialismus […] und Skeptizismus ist dem Menschen natürlich, mußten entstehen. Der Idealismus konnte nur geoffenbart sein.’8 It also profoundly affected Chamisso, as Jürgen Schwann and 3 4 5 6 7 8

Pavlyshyn 1982, p. 53. Chamisso 1975, i, p. 53. All subsequent references will be given in the text. Pavlyshyn 1982, p. 54. Ibid. Beiser 2000, p. 19. Schlegel 1956, p. 177.

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Christine Schlitt explain in their respective studies.9 Schwann and Schlitt both maintain that Chamisso’s Faust: Ein Versuch (1803), in which the frontiers of human consciousness are explored, can be interpreted as a response to this crisis,10 whilst stopping short of fully applying this insight to Peter Schlemihl – Schlitt does, nevertheless, note that a certain scepticism is present in all Chamisso early work, including Peter Schlemihl.11 This essay aims to build on the observations of Eichendorff, Pavlyshyn, Schwann and Schlitt in order to provide a more comprehensive view of contemporary philosophy’s role in Peter Schlemihl, arguing that the outcomes of scepticism and materialism are treated critically, albeit often comically, in the text, and that both Kantian and Fichtean thought have a particularly profound impact upon the tale.

2.

‘Schein und Sein’: Post-Kantian Scepticism and Materialism in Peter Schlemihl

Eichendorff recognised the interplay of ‘Schein und Sein’ as one of the major themes in Peter Schlemihl. Translated into Kantian terms, this equates to the contrast between appearances (phenomena) and things-in-themselves (noumena) – the central component of Kant’s transcendental idealism. According to the Kritik der reinen Vernunft (1781) we can never know objects as things-inthemselves, but only as they appear to us: Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntniß richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; und daß folglich das Unbedingte nicht an Dingen, sofern wir sie kennen, (sie uns gegeben werden,) wohl aber an ihnen, sofern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst, angetroffen werden müsse: so zeigt sich, daß, was wir Anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet sei.12

In Peter Schlemihl, people constantly misconstrue what is ‘real’ because their perceptions, based on appearances, prove to be inadequate, echoing Kant’s Kritik. Hence, one could argue that the often humorous outcomes of the characters’ limited cognitive abilities constitute a satirical criticism of trans-

9 10 11 12

Schwann 1984, pp. 76–8; and Schlitt 2008, pp. 90–7. Schwann 1984, pp. 90–111; and Schlitt 2008, p. 92. Schlitt 2008, p. 225. Kant 1904 [1787], in: Kant 1902–23, iii (1904), p. 14.

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cendental idealism, taking the concept to its extremes and exposing the sceptical outlook it engenders. This occurs at various points in the text. For example, after obtaining the ‘Fortunati Glückssäckel’ in exchange for his shadow, Schlemihl attracts a great deal of attention by distributing his inexhaustible wealth to silence those who become aware of his shadowlessness (p. 24) and is consequently mistaken by the public for the King of Prussia. A comedic scene unfolds, in which Schlemihl is interrupted on his way home by a royal welcome of music, canon-fire and choruses of praise, but, as the sun would expose his shadowlessness, he is unable to leave his carriage (pp. 32f.). Elsewhere, Schlemihl tries in vain to hide the loss of his shadow by having a painter reproduce the appearance of one (p. 28), suggesting the importance of appearances over reality ; in the Schlemihlium, Schlemihl is mistaken for a Jew13 by Bendel and Mina because of his long beard (p. 64); and also, in the introductory poem, Chamisso tells of how people confuse him with Schlemihl: ‘Ob wir einander denn so ähnlich sind?! – / Sie schrien mir nach: Schlemihl, wo ist dein Schatten?’ (p. 13) It is not merely where Schlemihl himself is concerned that the difference between appearances and the Ding an sich manifests itself: it occurs throughout the entire text. For instance, as Benno von Wiese points out, the Devil is neither horned nor cloven-hoofed as one would expect, but rather ‘weitgehend entdämonisiert’,14 and thus Schlemihl fails to recognise the danger he poses. Along similar lines, the shabby appearance of the seven-league boots causes Schlemihl to judge them as inferior to the other boots for sale (p. 59), belying their magical power and usefulness. I would, therefore, disagree with both Colin Butler, who maintains that a ‘residual hankering after the fantastic’ is all that prevents Peter Schlemihl from being a totally realistic story,15 and Wiese, who contends that the day-to-day appearance of the story’s magical objects and of the Devil prove the dominant position of reality in the text.16 Rather, the everyday appearance of the text’s supernatural elements serves to highlight what little grasp of reality the protagonists of Peter Schlemihl actually have. Furthermore, it could be argued that the first pact with the Devil is successful not only because Schlemihl fails to recognise the demonic nature of the grey man, but equally because he fails to notice the shadow’s true worth, taking into account its appearance alone – shadows are not always present. In fact, the grey man utilises both scepticism and a materialist argument in attempts to seal his

13 Schlemihl is regarded as a Jew by some scholars, though I would argue that he is merely mistaken for one. See Block 2004, pp. 93–110. 14 Von Wiese 1956, p. 115. 15 Butler 1977, p. 7. 16 Von Wiese 1956, p. 114.

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deals. Indeed, attempting to convince Schlemihl to relinquish his soul, he makes the following case: Und, wenn ich fragen darf, was ist denn das für ein Ding, Ihre Seele? haben Sie es je gesehen, und was denken Sie damit anzufangen, wenn Sie einst tot sind? Seien Sie doch froh, einen Liebhaber zu finden, der Ihnen bei Lebenszeit noch den Nachlaß dieses X, dieser galvanischen Kraft oder polarisierenden Wirksamkeit, und was alles das närrische Ding sein soll, mit etwas Wirklichem bezahlen will, nämlich mit Ihrem leibhaftigen Schatten […]. (pp. 42f.)

The Devil, as a proponent of idealism, has a philosophically materialistic outlook on the soul, or so he feigns in order to trick Schlemihl. On the one hand, the soul is outside of a priori explanation and is thus ascribed no worth by the Devil, whose use of the word ‘Ding’ here reminds us of the Ding an sich. On the other, the shadow is now ‘leibhaft’ by comparison, suggesting a material property, and thus a seemingly advantageous exchange.17 As Schwann states: ‘Aussagen über ein “Ding an Sich” wären folglich nutzlos, da mit “Wirklichem” entgolten werden soll.’18 Since the reason behind mathematics and physics relies predominantly upon a priori cognition, they are favoured in Kant’s Kritik: Mathematik und Physik sind die beiden theoretischen Erkenntnisse der Vernunft, welche ihre Objecte a priori bestimmen sollen, die erstere ganz rein, die zweite wenigstens zum Theil rein, dann aber auch nach Maßgabe anderer Erkenntnißquellen als der der Vernunft.19

As Beiser states: [Materialism] seemed to be the inevitable result of universalizing the Enlightenment’s paradigm of explanation, of claiming that everything that exists is explicable, at least in principle, according to mechanical and mathematical laws. If something falls under mechanical and mathematical laws, then it must be quantifiable or measurable. But to be quantifiable it must be extended, having a determinate shape, size, and weight; in other words, it must be material.20

This special status awarded to a priori knowledge such as mathematics, physics and all things quantifiable during the Enlightenment is hinted at when the Devil describes himself as ‘eine Art von Gelehrten und Physikus’ and refers to the soul as an ‘X’, indicating that it is impossible to measure empirically (p. 42). I therefore disagree with Schlitt, who maintains that the Devil argues ‘vom 17 This notion of the shadow as ‘leibhaft’ is echoed in the wordplay of the French introduction, when the term ‘le solide’ is used for the shadow: Hitzig and Chamisso, in: Chamisso 1975, i, pp. 777f. 18 Schwann 1984, p. 296. 19 Kant 1904 [1787], p. 9. 20 Beiser 2000, pp. 20f.

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Standpunkt eines streng empiristisch-induktiven Wissenschaftsverständnisses, das die Natur und ihre Gesetze auf ihre Nutzbarkeit für den Menschen hin erforscht’.21 Although his approach is utilitarian, I would argue that he is in fact a rationalist, in that he prioritises definitions through a priori knowledge and is sceptical of evidence based on dubious sensory experiences gained from appearances. That Schlemihl is not convinced by this offer suggests that he is of the same opinion as the Romantics, who were opposed to this Enlightenment paradigm which leaves no room for imagination and religion when taken to its extremes, and the belief that science can clarify everything is ridiculed at various points in the story through humour. For instance, although the situation is fantastical, the explanations Schlemihl provides to account for the loss of his shadow are matter-of-fact: it froze to the ground during a cold Russian winter (p. 28); it is being repaired after a man trod on it, tearing a hole (p. 41); he lost it along with his hair and nails due to a terrible illness (p. 58). What is more, magical objects are also often dealt with in a matter-of-fact way, such as when, upon realising that he has managed to walk a great distance across continents, Schlemihl simply declares: ‘es war kein Zweifel, ich hatte Siebenmeilenstiefel an den Füßen’ (p. 60). Similarly, after noticing a shadow drifting by on its own, he calmly remarks: ‘Nun ward mir auch das ganze Ereignis sehr natürlich erklärbar. Der Mann mußte das unsichtbare Vogelnest, welches den, der es hält, nicht aber seinen Schatten, unsichtbar macht, erst getragen und jetzt weggeworfen haben.’ (p. 46) These excerpts can be seen as mocking the Enlightenment’s scientific worldview that everything is explicable in the realms of science and mathematics, for, by allowing no place for the supernatural in his narration, Schlemihl renders these fantastical events ordinary. This criticism is also present in the French translation’s highly ironic introduction (1838), in which, presumably tired of people asking for the allegorical meaning behind the shadow, Chamisso gives a definition from a physics book.22 Here, he is sarcastically providing the reader with a scientific explanation, rather than attributing symbolic meaning to the shadow. However, the ultimate significance of the shadow, and indeed the soul, becomes apparent even in opposition to infinite wealth, defying the logic of materialism. Contrary to the Devil’s argument, the high value of the shadow and the soul are revealed: the former is valuable because its absence acts as a barrier in social situations, so too is the latter once Schlemihl witnesses the gruesome penalty exacted upon Herr John’s soul by the Devil. Alongside the Devil and the soul, there are other religious elements that form 21 Schlitt 2008, p. 212. 22 Hitzig and Chamisso 1975, pp. 777f.

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part of Chamisso’s critique of Enlightenment philosophy – Schlitt identifies this as a particular preoccupation of Chamisso, evidenced in his enthusiastic response to the religious opinions in Johann Gottlieb Fichte’s late work.23 As previously stated, the soul (a noumenon) turns out to be both real and more valuable than material wealth. Pavlyshyn points out that part of Schlemihl’s rejection of the German idealism represented by the grey man is due to its inability to affect his soul, reminding us that had Schlemihl sold his soul to the Devil, he would have perhaps embraced this philosophy.24 Moreover, during the Devil’s attempt to acquire Schlemihl’s soul, just as Schlemihl is ready to sign the contract, he faints at the last minute and is thereby prevented from doing so. Herman J. Weigand attributes this to ‘the intervention of divine grace’,25 and further argues that the Devil only reveals Herr John’s soul to Schlemihl in the first place because he is commanded to in the name of God, albeit inadvertently.26 Indeed, Schlemihl says: ‘Wo ist er? bei Gott, ich will es wissen!’ (p. 57). Consequently, it is not only the noumenal soul and supernatural figure of the Devil who have a significant role in Schlemihl’s life, but equally God plays his part. The scepticism brought about by Kant’s dualism even extended to subjectivity, as the self was henceforth divided into the empirical self (a phenomenon) and the transcendental self (a noumenon). Jean-Luc Nancy and Philippe Lacoue-Labarthe contend that the central task of early Romantic literature was to overcome this destabilisation of subjectivity through poetry,27 and whereas Schlitt interprets the lost shadow in terms of ‘Schein und Sein’ with reference to the Rousseauian difference between the true inner self (the ‘beautiful soul’) and the false outer appearance established by possessions and profession,28 one could equally argue that the loss of Schlemihl’s shadow at the hands of the grey man, his inability to recognise his own outline, implies an altogether more fundamental fragmentation of identity, namely the very impossibility of a priori self-identification.29 Thus, the problematisation of self-definition identified by Schwann in Faust30 is arguably continued in Peter Schlemihl through the lost shadow motif, whereby the shadow alludes to the transcendental self that is beyond the world of experience. Schlemihl’s alienation from the world is a direct

23 24 25 26 27 28 29

Schlitt 2008, p. 97. Pavlyshyn 1982, p. 54. Weigand 1966, p. 216. Weigand 1966, p. 218. Nancy / Lacoue-Labarthe 1988, pp. 30–3. Schlitt 2008, pp. 210f. This imagery reoccurs more literally in E. T. A. Hoffmann’s Die Abenteuer der SylvesterNacht (1815), a text indebted to Peter Schlemihl in which the protagonist is unable to see his reflection. 30 Schwann 1984, pp. 90f.

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result of his shadowlessness, providing a powerful critique of the scepticism inherent in Kant’s philosophy. Thus, on the one hand, Peter Schlemihl provides a critique of the scepticism inherent in Kant’s transcendental idealism through reductio ad absurdum, often providing for humorous situations as the characters are constantly mistaken due to their inability to perceive the reality outside of appearances, and through the solitude of his shadowlessness. On the other, materialism is discredited by the importance of noumena that cannot be explained by reason, such as God and the soul. Likewise, the matter-of-fact explanation of fantastical objects and events ridicules the Enlightenment paradigm that it is only a matter of time until science and reason can explain everything.

3.

‘Gestrebt hab ich und gehofft ins Blaue, / Und am Ende wenig nur erzielt’: Fichte’s Wissenschaftslehre and Romantic Irony in Peter Schlemihl

Fichte’s Wissenschaftslehre (1794) was a response to the dualism of Kant’s Kritik der reinen Vernunft, trying to prevent the shift towards scepticism and materialism, but to no avail.31 Fichte uses the concept of ‘striving’ in an attempt to reconcile the distinction which he draws between the Ich (finite ego) and the Nicht-Ich (absolute ego): Das Resultat unserer bisherigen Untersuchungen ist demnach folgendes: die reine in sich selbst zurückgehende Thätigkeit des Ich ist in Beziehung auf ein mögliches Objekt ein Streben; und zwar […] ein unendliches Streben. Dieses unendliche Streben ist in’s unendliche hinaus die Bedingung der Möglichkeit alles Objekts: kein Streben, kein Objekt.32

In other words: ‘If the finite ego strives to control nature, it approaches, even though it never attains, the ideal absolute ego.’33 Thus, Fichte introduces the active role of humans within the production of knowledge, recognising how ‘we change the world, making it into something we can know’.34 However, as nature inevitably resists our efforts, it remains a thing-in–itself beyond our understanding – except, of course, for the supernatural grey man who can manipulate nature to his will, and whose demonic character can be viewed as criticising the God-like role with which Fichte credits Man. Whereas Kant’s dualism leads to a situation in which the subject was even 31 32 33 34

Beiser 2000, pp. 31f. Fichte 1802, p. 242 (emphasis in original). Beiser 2000, p. 30. Beiser 2000, p. 31.

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unable to fully recognise itself, Fichte, on the other hand, argues that a selfpositing self is possible through the unity of the Ich and the Nicht-Ich within the self. Yet, given my interpretation of the shadow’s symbolism, it would seem that Chamisso did not accept Fichte’s response. The inability of Fichte’s Strebensphilosophie to reconcile the Ich and the Nicht-Ich is significant for our understanding of Romantic Irony. Friedrich Schlegel states: ‘[Ironie] enthält und erregt ein Gefühl von dem unaufhörlichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung’,35 which Paul Kluckhohn clarifies as recognising one’s limitations, be they in the conflict between ‘der inneren Empfindung und der realen Wirklichkeit’, or between the Romantics’ desired ideals and what they knew to be achievable.36 Chamisso was in contact with Fichte and attended his lectures,37 and this Romantic striving towards an unachievable absolute that corresponds with the Wissenschaftslehre is to be found in Peter Schlemihl, for Schlemihl is constantly striving towards an absolute ideal, both in Romantic and Enlightenment terms. Schlemihl, like the protagonists of other Romantic Kunstmärchen, does not reach a new, Romantic Golden Age, though at one point this does seem feasible. Upon first realising the magical ability of his Siebenmeilenstiefel, Schlemihl can seemingly venture wherever he wishes. His descriptions of an ‘uralten Tannenwalde, woran die Axt nie gelegt worden zu sein schien’ (p. 59) and of the world presented to him as a rich garden (p. 60) utilise the Edenic vocabulary of the Romantic Golden Age, but it is not to last. Not long after putting on the boots, Schlemihl becomes aware of their limitations as he cannot reach Australia (p. 61). Consequently, as Schwann argues, Schlemihl is left with an incomplete view of the world, just as German idealism postulates that we can never know the world in its entirety as it truly is.38 However, Schlemihl is a complex figure, also characterised by Enlightenment ideas, despite his rejection of its underlying philosophy. Indeed, his project to document and classify the world’s flora is unmistakably an Enlightenment endeavour,39 and can also be related to the Fichtean demand to control nature and restore order to the world. Nevertheless, whether seen in Romantic or Enlightenment terms, Schlemihl is doomed to remain unfulfilled. His botanical studies also amount to nothing more than a fragment (p. 66), reflecting that, strive as we may, the absolute shall always remain unattainable. This echoes Fichte’s failure to overcome the distinction between phenomena and noumena in the Wissenschaftslehre, which became

35 36 37 38 39

Schlegel 1956, p. 86. Kluckhohn 1953, p. 19. Schlitt 2008, p. 95. Schwann 1984, pp. 387f. Block 2004, p. 108.

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central to Friedrich Schlegel’s theory of ‘romantische Poesie’ in AthenäumsFragment 116.40 These links to the Enlightenment strengthen Pavlyshyn’s argument that Schlemihl, due to his rather cosy, hermit lifestyle, ‘opens himself to the derision as that whipping boy of Romantic literature, a philistine’.41 Here, Pavlyshyn is referring to how Schlemihl obtains slippers, tobacco and a lap-dog (pp. 62f.) for his cave in Thebes,42 all bourgeois comforts of the philistine as described by Clemens Brentano in his scathing account Der Philister vor, in und nach der Geschichte (1811).43 The slippers, or ‘Hemmschuhe’, are used to cancel out the power of the seven-league-boots (p. 62) and become the symbol of Schlemihl’s Philistertum. Thus, his footwear perfectly expresses the divide between Romanticism and the Enlightenment: the boots have the Romantic potential to carry him across the globe to areas of natural beauty, while the slippers bring his pace down from the realms of the magical to the normal, philistine world, enabling him to conduct his botanical observations. As in Peter Schlemihl, the Devil is also a promoter of Enlightenment ideas in Brentano’s work: Wenn er aber einstens die Fenster öffnet, diese Erde zu lüften, so werdet ihr sehen, daß es der Teufel war, der den bösen Geruch zurück ließ, und daß der Zündstrick der Aufklärung, an dem die Philister ihre Köpfe anbrennen, unmittelbar aus seinem Schwanze gesponnen ist.44

Nevertheless, the reader is not made to feel the same contempt for Schlemihl as we are for Brentano’s philistine (although perhaps we are for Herr John) and this cannot be solely explained by the sympathy aroused by his position as firstperson narrator. Schlemihl seems to be a different kind of philistine to Herr John and that of Brentano and, consequently, he escapes the grey man’s control and Herr John’s fate. I would argue that it is because Schlemihl can be seen as having loyalties not only to the Enlightenment, but also to Romanticism that he is distinguished from other philistines. Peter A. Kroner mentions that there are both elements of the Enlightenment and Romanticism in Chamisso’s work,45 and this can be seen in the character Schlemihl by the tools he needs to conduct his botanical research, insofar as they are both magical (the Siebenmeilenstiefel and what remains of the Devil’s money) and scientific (a sextant, some physical 40 Schlegel 1956, pp. 93–4. 41 Pavlyshyn 1982, p. 61. 42 Schlemihl’s Greek cave alludes to Plato’s allegory of the cave, whose chained inhabitants know only shadows and not reality, serving to underpin references to appearances and unknowable things-in-themselves. 43 Brentano 1963 [1811], in: Brentano 1963–68, ii (1963), p. 987. 44 Brentano 1963 [1811], p. 991. 45 Kroner 1983, p. 371.

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instruments and books (p. 62)). Furthermore, Schlemihl’s dual allegiances are expressed in the work he intends to leave behind posthumously : not only the fruits of his botanical labours for the new university in Berlin, but also the manuscript of his wundersame Geschichte (p. 66). Chamisso provides us, then, with a different view of the philistine to Brentano, depicting the protagonist as belonging to both Romanticism and the Enlightenment, echoing the depicted reality of Chamisso’s life in Schlemihl’s first dream, in which the books on his desk are drawn from both literature (Goethe and Fouqu¦) and science (Haller, Humboldt and Linn¦) (p. 24). We have sympathy for Schlemihl, even though he displays philistine attributes, both because he does not fall foul of materialist reason, choosing to value his soul and relinquish possession of the magic purse, and also because we know that the lofty goals of the Romantic and Enlightenment Movements are ultimately unattainable, making the text an example of Romantic Irony. It is also worth noting that Chamisso may have wanted to distance himself from the anti-Semitic tone of Brentano’s work when putting forward his version of the philistine. Schlemihl’s name is of Yiddish origin, and although Schlemihl is taken for a Jew in the Schlemihlium, he makes the point that he is not treated any worse for that (p. 64). Thus, the striving intended to overcome the gap between the Ich and the Nicht-Ich in Fichte’s work forms an integral part of Peter Schlemihl through Romantic Irony. Just as Fichte ultimately fails to end the scepticism regarding subjectivity brought about by Kant, Schlemihl is tricked out of his shadow forever by the philosopher-Devil, losing a part of himself, and just as Fichte’s Strebensphilosophie never fully achieves its goal of controlling nature, Schlemihl fails to reach a Romantic or Enlightenment ideal. Schlemihl’s incapability in this respect is expressed in the text’s symbolism, as he exclaims: ‘Was hülfen Flügel dem in eisernen Ketten fest Angeschmiedeten?’ (p. 28). As explained above, Schlemihl has a foot in both the Romantic and Enlightenment camps and this plays a literal role in holding him back from fulfilment in either. Schlemihl falls into the sea and catches the cold that ends his journey because he is wearing a slipper on one foot and a seven-league boot on the other (p. 63), echoing Chamisso’s own comment from spring 1830: ‘Ich habe […] immer einen Fuß in der Botanik und einen in der Literatur.’46 Although Schlemihl inevitably fails to reach an absolute, scholars have argued that the ending is not entirely unhappy and that Schlemihl does, at least, find his place in the world:

46 Chamisso 1839, in: Hitzig 1839, i, p. 155.

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Der Weg führt über Peters schmerzliche Erlebnisse, die durch die Schattenlosigkeit verursacht werden, hin zu dem Ziel der Selbstbesinnung. Dabei erkennt Peter immer deutlicher, daß er seine Schattenlosigkeit […] nicht ändern kann, daß aber dennoch ein sinnvolles, erfülltes Leben außerhalb der Gesellschaft möglich ist.47

However, given that Schlemihl remains alienated and alone, living in a world of unknowable things-in-themselves with doubt surrounding his own subjectivity, I am more inclined to agree with Schlitt’s interpretation, ‘daß […] Peter Schlemihls wundersame Geschichte Ausdruck des untergründigen Skeptizismus und der Desillusionierung ist, die sich […] durch das gesamte Frühwerk Chamissos ziehen’.48 It is, perhaps, for this reason that Schlemihl’s name translates as ‘Pechvogel’. Fred Rush states: ‘Schlegel counts as ironic both implicit and explicit artistic expressions of the problematic relationship of finite beings to the absolute’,49 and this difficult journey through life in the hope of reaching the absolute is subtly alluded to at the novella’s very beginning when, from the vantage point of Herr John’s garden, the view afforded is that of ‘das grüne Labyrinth des Parkes’ leading out to ‘dem unermeßlichen Ozean’ (p. 19). One could argue that through his autobiographical manuscript and botanical research Schlemihl does gain an importance and a kind of immortality, but, nonetheless, the overall message of the story seems to be more realistic and Romantically ironic in tone, implying, as Chamisso does in the opening poem, that one can only do one’s best given the circumstances of our limitations. The use of the colour blue in the opening poem, quoted below, carries Romantic connotations in relation to Novalis, and a biographical approach could mention the possibility of Chamisso’s own personal doubts regarding his poetic skill: ‘Gestrebet hab ich und gehofft ins Blaue, / Und gar am Ende wenig nur erzielt’ (p. 13).

4.

Conclusion

At its bicentennial, Peter Schlemihls wundersame Geschichte remains an oft interpreted and yet elusive text. Although just one aspect of this multifaceted text, I have argued that philosophy’s role is central to Peter Schlemihl, both in terms of German idealism’s failure to respond to the scepticism and materialism that inevitably resulted from an ultimate preference for information based on a priori knowledge, and also with regard to the wider Enlightenment faith in the explanatory power of reason. The text can be viewed as a critique of the out47 Schulz 1972, p. 436. 48 Schlitt 2008, p. 225. 49 Rush 2006, p. 180.

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comes of scepticism and materialism, since the characters’ perceptions of reality are constantly proven false and they fail to see the true worth of objects because they base their judgments on appearances and material properties alone. Schlemihl’s inability to reach the absolute despite his constant striving equally constitutes a criticism of scepticism, reflecting how German idealism fails to resolve the gap between appearances and things-in-themselves, even in terms of the self. These arguments are exposed through ‘die Philosophischen in der Poesie’,50 and the text can thus be viewed as putting into practice a central tenet of Friedrich Schlegel’s theory of Romantic poetry, namely that its task is ‘die Poesie mit der Philosophie […] in Berührung zu setzen’.51 Though Peter Schlemihl can be regarded as a Romantic text through its criticism of the Enlightenment, its fantastical elements and its debt to Schlegelian Romantic theory, it cannot be deemed entirely counter-Enlightenment as Schlemihl embodies both Romantic and Enlightenment principles, botany – which was, of course, Chamisso’s own scientific specialism – exemplifying a happy marriage between the Enlightenment pursuit of science and the Romantic appreciation of nature, whilst also constituting a rejection of the prioritisation of a priori facts over empirical evidence. Schlemihl is in some regards a philistine due to his connection to the scientific endeavours of the Enlightenment. However, redeemed by his more Romantic characteristics and his rejection of the German idealism advocated by the Devil, he escapes comparisons with other philistines closer to Brentano’s depiction, such as Herr John. As Winfried Freund states: Chamisso erweist sich auch geistes- und kulturgeschichtlich als ein durchaus eigenständiger Denker, indem er den perfektibilistischen Aufklärungsglauben mit dem organischen Geschichtsdenken der Romantik verbindet.52

It is, perhaps, for this reason that Peter Schlemihl avoids the dichotomising view of Romanticism and the Enlightenment found in other Romantic thought. Rather, the text can be regarded as a self-aware presentation of Romanticism’s limitations and a more nuanced critique of the Enlightenment than is usual in Romantic writing.

5.

Bibliography

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Block, Richard: ‘Queering the Jew Who Would Be German: Peter Schlemihl’s Strange and Wonderful History’, in: Seminar 40 (2004) 2, pp. 93–110. Brentano, Clemens: Werke, 4 vols, ed. by Friedhelm Kemp. Munich 1963–68. Butler, Colin: ‘Hobson’s Choice: A Note on Peter Schlemihl’, in: Monatshefte 69 (1977) 1, pp. 5–16. [Chamisso, Adelbert von] / Hitzig, Julius Eduard (Ed.): Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso, 2 vols. Leipzig 1839. Chamisso, Adelbert von: Sämtliche Werke, 2 vols, ed. by Volker Hoffmann. Munich 1975. Eichendorff, Joseph von: Werke, 5 vols, ed. by Jost Perfahl. Munich 1981–1988. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre und Grundriß des eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen. Tübingen 1802. Freund, Winfried: Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihl, Geld und Geist: ein bürgerlicher Bewusstseinsspiegel: Entstehung, Struktur, Rezeption, Didaktik. Paderborn 1980. Kant, Immanuel: Kants Werke, 9 vols, ed. by the Royal Prussian Academy of Sciences. Berlin 1902–23. Kluckhohn, Paul: Das Ideengut der deutschen Romantik. Tübingen 1953. Kroner, Peter A.: ‘Adelbert von Chamisso’, in: Deutsche Dichter der Romantik, ed. by Benno von Wiese. Berlin 1983, pp. 371–90. Nancy, Jean-Luc / Lacoue-Labarthe, Philippe: The Literary Absolute: The Theory of Literature in German Romanticism, trans. by Philip Barnard and Cheryl Lester. New York 1988. Pavlyshyn, Marko: ‘Gold, Guilt, and Scholarship: Adelbert von Chamisso’s Peter Schlemihl’, in: German Quarterly 55 (1982) 1, pp. 49–63. Rush, Fred: ‘Irony and Romantic Subjectivity’, in: Philosophical Romanticism, ed. by Nikolas Kompridis. London 2006, pp. 173–95. Schlegel, Friedrich: Schriften und Fragmente: Ein Gesamtbild seines Geistes, ed. by Ernst Behler. Stuttgart 1956. Schlitt, Christine: Chamissos Frühwerk: Von den französischen Rokokodichtungen bis zum Peter Schlemihl (1793–1813). Würzburg 2008. Schulz, Franz: ‘Die erzählerische Funktion des Motivs vom verlorenen Schatten in Chamissos Peter Schlemihl’, in: German Quarterly 45 (1972) 3, pp. 429–42. Schwann, Jürgen: Vom “Faust” zum “Peter Schlemihl”: Kohärenz und Kontinuität im Werk Adelbert von Chamissos. Tübingen 1984. Weigand, Hermann J.: ‘Peter Schlemihl’, in: Surveys and Soundings, ed. by A. Leslie Willson. Princeton 1966, pp. 208–22. Wiese, Benno von: ‘Das Problem der Märchen-Novelle dargestellt an Adelbert von Chamissos Erzählung “Peter Schlemihls wunderbare Erzählung [sic!]”’, in: Monatshefte 48 (1956) 3, pp. 113–18.

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Peter Schlemihl und das romantische Spiel mit der Herausgeberfiktion

Als Adelbert von Chamissos Erzählung vom Peter Schlemihl 1814 erschien, orientierte sich der Titel nur scheinbar am Vorgang Goethes in den knapp zwanzig Jahren früher erschienenen Lehrjahren, die von Zeitgenossen als erster romantischer Roman angesehen wurden: „Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Goethe“1, hatte es 1795 geheißen. Der Titel des Schlemihl lautet: „Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte mitgetheilt von Adelbert von Chamisso und herausgegeben von Friedrich Baron de la Motte Fouqu¦“.2 Goethe bediente sich des literarischen Mittels der Herausgeberfiktion, Fouqu¦ dagegen hat die Erzählung Chamissos tatsächlich bei seinem Nürnberger Verleger Schrag3 zum Druck befördert, also herausgegeben. Das hat er indessen im folgenden Jahr auch mit Eichendorffs erstem Roman Ahnung und Gegenwart getan.4 Dort fungiert er auf dem Titelblatt freilich nicht als Herausgeber, sondern als Autor eines Vorworts. Mit der auf dem Titelblatt des Schlemihl konstatierten Herausgeberschaft Fouqu¦s verhält es sich also auffallend anders als mit anderen Herausgeberfiktionen im Umfeld der Erzählung. Sie sprengt gleichsam den Rahmen der Fiktion, deren Teil sie doch allemal ist. Ausdruck dieser Grenzüberschreitung ist es gewiss, dass der Schlemihl von einer ersten Lesergeneration tatsächlich als ein Text Fouqu¦s aufgenommen worden ist. Mein Exemplar der Erstausgabe trägt auf dem schmalen Rücken des Halbleder-Bändchens ein Schild mit der Aufschrift: „Fouque Peter Schlemihl“. Das könnte man als Missverständnis und Einzelfall abtun. Indessen sind auch die ersten englischen Übersetzungen der Erzählung als ein Werk Fouqu¦s erschienen: „Peter Schlemihl: From the German of Lamotte Fouqu¦“, heißt es dort auf dem Titelblatt.5 Das war 1824, als Cha-

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Vier Bände, Berlin 1795. Nürnberg 1814. Vgl. Ehmann 2005. Vgl. Nürnberg 1815. London 1824.

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misso von seiner Weltreise längst zurück und in der gelehrten Leserwelt nicht nur Deutschlands ein bekannter Mann war. Der literarischen Figur des fiktiven Herausgebers sind in den vergangenen Jahren teils umfangreiche gelehrte Abhandlungen gewidmet worden. Von einer „Geburt des Autors aus dem Geiste der Herausgeberfiktion“6 spricht, an Nietzsches bekannten Titel angelehnt, Uwe Wirth in seiner Monographie, die wichtige Romane deutscher Autoren im Übergang zur Romantik wie Wieland, Goethe und Jean Paul und der Romantik wie Brentano und E.T.A. Hoffmann interpretiert. Gemeinsam ist diesen germanistischen Arbeiten, dass sie die Frage der Herausgeberfiktion als Herausforderung der Romanpoetik begreifen. Kürzere Erzählungen dagegen, etwa die zahlreichen Novellen der Zeit, bleiben ausgespart. Dies ist merkwürdig. Zwar ist im Rahmen dieses Aufsatzes keine wirkliche Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen möglich, einige Fragen und Andeutungen sind indessen angebracht. Wenn „Rahmung“ und „Rahmen“7 zentrale Kategorien zur Analyse von Herausgeberfiktionen sind, wie sie sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts herausbilden, dann ist auf die viel ältere Rahmentechnik der Novellenzyklen zu verweisen, etwa bei Boccaccio.8 Diese Frage könnte weiterleiten zur These einer Novellisierung des Romans im Zeitalter der Romantik, wie sie vielleicht für die Wanderjahre9 Goethes mehr noch evident ist als für die Lehrjahre. Nicht nur, dass Goethe eigene, vorab in Almanachen veröffentlichte Texte wie Ein Mann von fünfzig Jahren oder Die pilgernde Thörin in die Textanthologie mit der Gattungsbezeichnung „Ein Roman“ aufnimmt; überdies wird einer der Paratexte „Ottilien von Goethe“ zugeschrieben. An Richard Friedenthals geistreiche Bemerkung vom Roman als „Repositorium“10 sei hier erinnert, der sich leicht zahlreiche Äußerungen mit ähnlicher Tendenz zur Seite stellen ließen. Als eine andere Voraussetzung der Herausgeberfiktion gilt der Briefroman des 18. Jahrhunderts.11 Der entwickelte sich im intertextuellen Übergang von den festen, scheinbar überzeitlichen Normen der älteren, pragmatischen Textsorte des Briefstellers, der seinen Benutzern Muster für eigene Korrespondenzen bot. Der Briefroman setzt im Unterschied dazu auf tagesaktuelle Briefe voller 6 Wirth 2008. 7 Dembeck 2007. 8 Vgl. Cento Nouella Johannis Boccacij. „Hundert newer Historien/welche eine erbar gesellschafft/ von dreien Männern/ und sieben Weibern/ fliehent ein gross Sterben zu Florenz/ zusamen geredt/ inen damit an lustigen enden/ uf iren gesessen und grünen gärten/ die trübselig zeit zu uertreiben […]“, Strassburg 1551. 9 Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Ein Roman, 2 Teile, Stuttgard und Tübingen 1821. 10 Friedenthal 1963, S. 469. 11 Vgl. Takeda 2008.

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Neuigkeiten; auch er teilt damit eine Struktur mit den Novellensammlungen, nämlich Tagesfolgen, die das Erzählen organisieren. Boccaccios Hundert Novellen, einzelne, in sich abgeschlossene Texte, die, wie der Titel verspricht, Neuigkeiten darbieten, werden an zehn aufeinanderfolgenden Tagen auf einem abgelegenen Landsitz erzählt; ein narrativer Rahmen thematisiert die Situation des Erzählens. Der Briefroman mit seinen oft ortsfernen Protagonisten kann weder die Tagesfolge noch die Einheit des literarisches Ortes einhalten, sondern differenziert sich vom Chronotopos, aber er lebt ebenfalls von neuen, novellenartigen Elementen literarischer Handlung, die von einem fiktiven Herausgeber zusammen gehalten werden. Indessen darf ein Unterschied dieser intertextuellen Transformation nicht übersehen werden: Die Novellensammlungen thematisieren fiktives mündliches Erzählen, während die Briefromane Schrift und Schriftlichkeit thematisieren.12 Chamissos Erzählung enthält verschiedene Paratexte anderer Autoren13, namentlich Hitzig und Fouqu¦, die mit der sogenannten eigentlichen Erzählhandlung um Schlemihl und dessen verlorenen Schatten, um die zaubermärchenhaften Siebenmeilenstiefel und die dadurch ermöglichte Welt- und Forschungsreise auf den ersten Blick wenig zu tun haben. Tatsächlich sind diese Paratexte von der Forschung überhaupt und insbesondere von der Interpretation des Textes auch weitgehend ignoriert worden. Dabei sind sie es, die die Verwendung des Ausdrucks Herausgeber auf einer alltagssprachlichen Ebene gestatten: Ein Herausgeber ist jemand, der fremde Texte ediert. Im Einzelnen handelt es sich dabei um einen Kupferstich als Frontispiz, der angeblich Peter Schlemihl darstellt, um das geheimnisvolle, bereits oben vollständig zitierte Titelblatt, ein Gedicht Fouqu¦s „An Adelbert von Chamisso“, eine anonyme Widmung „Dem Herrn Regierungs-Assessor und Buchhändler J. E. Hitzig, Wohlgeboren in Berlin“, ein „Vorwort. An Freund Eduard“, gezeichnet von Fouqu¦, eine anonyme und unbetitelte Anrede an Hitzig, datiert Kunersdorf, den 27sten September 1813, und die also von Chamisso selbst, der hier erstmals zu Worte kommt, zu verantworten ist. Diesem Text ist noch ein Post scriptum angefügt, die Zeichnung Leopolds betreffend, die als Vorlage der Radierung

12 Es wäre reizvoll, die drei vielleicht schönsten Novellen der deutschen Romantik, neben Chamissos Schlemihl Friedrich de la Motte-Fouqu¦s Undine, eine Erzählung (in: Die Jahreszeiten. Eine Vierteljahreschrift für romantische Dichtungen, hrsg. von Friedrich de la Motte-Fouqu¦, 1811/Frühlingsheft, Berlin, bey J. E. Hitzig, S. 1–189) und E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (in: Nachtstücke herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier [Bd. 1], Berlin, Realschulhandlung 1817, S. [1]–82) unter dem Gesichtspunkt der Herausgeberfiktion vergleichend zu analysieren. 13 Ich beziehe mich hier ausdrücklich nur auf die erste Auflage der Erzählung und ignoriere bewusst Veränderungen im paratextuellen Rahmen späterer Auflagen.

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gedient hatte. Erst dann setzt die fortlaufende Erzählung ein, die wir für Peter Schlemihl zu halten gewohnt sind. Je nach Zählung hat Fouqu¦ also tatsächlich eine sieben oder acht (Para-) Texte umfassende Anthologie herausgegeben. Schon die schiere Zahl dieses Verfahrens erscheint signifikant und verweist auf die besondere Rolle von Herausgeber und Herausgeberfiktion. Es ist also die Frage, ob hier, wie Anja Krüger und Monika Sproll das in ihrem schönen Aufsatz zur Manuskript- und Druckgeschichte des Schlemihl tun, wirklich von einer „Herausgeberfiktion“14 gesprochen werden kann. Vielmehr deutet alles auf ein Spiel mit einer solchen hin. Im vorliegenden Falle scheint es sich tatsächlich und ganz unmetaphorisch um die Geburt eines Autors aus dem Geist der Herausgeberschaft Fouqu¦s zu handeln. Denn Chamisso hat noch während der Niederschrift des Schlemihl bestritten, ein Autor zu sein: „Autoren sind doch ein tolles Volk, ich bin froh daß ich keins [sic] bin“,15 schrieb er an Hitzig, der ihm in mehr als einem Sinne als Lektor fungierte. Es war Chamissos ausdrücklicher Wunsch, dass der Berliner Freund die einzelnen ihm übersandten Abschnitte seiner Frau vorlas. Darüber hinaus hat der Verleger Hitzig, wie Anja Krüger und Monika Sproll zeigen, den Text lektoriert und nicht unwesentliche Veränderungen angeregt. Gewiss kann man die Selbstäußerung Chamissos marginalisieren, indem man sie als Koketterie nicht ernst nimmt. Ungleich reizvoller ist es zu sehen, dass seine Selbsteinschätzung aus der Perspektive heutiger Literaturwissenschaft überzeugend ist. Für Michel Foucault hat der Autorenname in einer inzwischen klassischen Definition die klassifikatorische Funktion, „eine gewisse Anzahl von Texten [zu] gruppieren, sie ab[zu]grenzen, einige aus[zu]schließen, sie anderen gegenüber[zu]stellen. Außerdem bewirkt er eine Inbezugsetzung der Texte zueinander.“16 Adelbert von Chamisso, der als junger Leutnant eine Handvoll Gedichte in den drei Jahrgängen eines selbstfinanzierten Almanachs17 publiziert hatte, war in diesem Sinne kein Autor. Es gab, als er den Schlemihl schrieb, schlechthin keine Texte, die außerhalb seines Freundeskreises bekannt und so aufeinander in Bezug zu setzen gewesen wären. Zum Autor wurde er tatsächlich erst mit der durch Hitzig und Fouqu¦ geförderten Veröffentlichung seines Peter Schlemihl. Dass Fouqu¦ aufgrund der 14 15 16 17

Krüger / Sproll o. J. [2013], S. 83–90, hier S. 84. Hier zitiert nach Krüger / Sproll, a. a. O., S. 89. Foucault 1974, S. 7–31, hier S. 17. Vgl. Musenalmanach auf das Jahr 1804. Hrsg. von L. A. v. Chamisso und K. A. Varnhagen, Leipzig bei Carl Gottlob Schmidt 1804. Die beiden späteren Bände stehen mir hier leider nicht zur Verfügung. Zum literaturhistorischen Kontext und zu philologischen Details vgl. in [Pissin] 1910, Bd. 5, Sp. 29–70. Nb. fungiert Pissin als Herausgeber der Schrift.

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Paratexte und ihrem Spiel mit der Herausgeberfiktion für den Autor gehalten werden konnte, ermöglichte es freilich, Schlemihl zu einer Anzahl anderer Texte in Beziehung zu setzen: denen Fouqu¦s, der in diesen Jahren einer der bekanntesten und meist geschätzten Autoren Deutschlands war. Diese Stellung als Autor ermöglichte es Fouqu¦, den Text Chamissos bei Schrag in Nürnberg zum Druck zu bringen, trotz Krieg, wirtschaftlicher Krise und einem anhaltenden Niedergang der deutschen Buchproduktion in den Jahren der Napoleonischen Kriege. Nach eigener Einschätzung ,kein […] Autor […]‘, brachte der literarische Debütant Chamisso das Kunststück fertig, sich über den Trick der Herausgeberfiktion gleich als sehr erfolgreicher Autor zu positionieren. Und das mit bleibendem Erfolg und auch noch, als der Ruhm des literarischen Geburtshelfers längst verblasst war. Die Autorschaft Chamissos, die Geburt dieses Autors aus dem Pragma der Herausgeberschaft Fouqu¦s, die auf der Ebene des Textes zugleich ein Spiel mit den Möglichkeiten der Herausgeberfiktion ist, ist keinesfalls eine Leistung der Paratexte allein. Denn die kleine Erzählung thematisiert nicht nur die „Geburt“, sondern auch den „Tod des Autors“. Unter den nicht wenigen Bezugnahmen der Erzählung auf „Chamisso“ ragt diejenige hervor, in der der Ich-Erzähler Schlemihl im Traum dem Autor gleichsam über die Schulter guckt. Hier wird nicht nur, im Sinne einer Appellation, der Name ausgerufen: „O mein lieber Chamisso […]“18. Vielmehr erfolgt eine detaillierte Schilderung der bescheidenen Berliner Lebensumstände des frischgebackenen Naturforschers und werdenden Autors, die, vermittelt über seine Lektüre, sein Wissen und damit gleichsam ein intellektuelles Profil skizziert: Da träumt’ es mir von Dir, es ward mir, als stünde ich hinter der Glasthür Deines kleinen Zimmers, und sähe Dich von da an Deinem Arbeitstische zwischen einem Skelett und einem Bunde getrockneter Pflanzen sitzen, vor Dir waren Haller, Humbold [sic!] und Linne’ [sic!] aufgeschlagen, auf Deinem Sopha lagen ein Band Göthe [sic!] und der Zauberring, ich betrachtete Dich lange, und jedes Ding in Deiner Stube, und dann Dich wieder, Du rührtest Dich aber nicht, Du hattest auch nicht Athem, Du warst todt.19

Unterschieden wird hier jedenfalls zwischen Büchern, die „Chamisso“ als wissenschaftliche Werke am „Arbeitstisch“ benutzt, und solchen, die auf dem „Sopha“ liegen, wie vermutlich der Beobachtete selbst bei der Lektüre der schöngeistigen Texte. Der Gegensatz der erst später (1959) von C. P. Snow20 so benannten zwei Kulturen zeichnet sich hier also bereits in der Position der 18 Chamisso 1814, S. 17. 19 Ebd., S. 18. 20 Vgl. Snow 1959.

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wenigen Bücher in dem kleinen Raum ab; die dem Kategorisieren und dem Erklären gewidmeten naturwissenschaftlichen Werke liegen „aufgeschlagen“, also im Zustand der Benutzung, auf einem ausdrücklich der Arbeit gewidmeten Einrichtungsgegenstand; die belletristischen, die vielleicht noch mehr als geisteswissenschaftliche des Verstehens bedürfen, liegen auf einem der Muße und dem Müßiggang gewidmeten Möbel. Wenn man davon ausgeht, dass selbständige Schriften – im Unterschied zu Zeitschriften- und Sammelbänden, die der Text vermutlich anders aufführte – im Zimmer Chamissos aufliegen, so ist nur eines der Bücher eindeutig identifizierbar. Und auch das nur, wenn man annimmt, dass sich die Titel des Textuniversums Schlemihl von denen der gelehrten Leserwelt nicht oder nicht wesentlich unterscheiden. Das Problem ist, dass alle Genannten Autoren im Sinne Foucaults sind, ihre Namen also „eine gewisse Anzahl von Texten gruppieren […]“, aber gerade die Identifikation einzelner Texte nicht zulassen. Damit stehen sie in einem entscheidenden Gegensatz zum literarischen Dilettanten Chamisso, für den das gerade nicht gilt. Johann Wolfgang von Goethe z. B. hatte, zum Zeitpunkt der Niederschrift der Erzählung 64 Jahre alt, zahlreiche Schriften publiziert, auf die sich die Chiffre „Göthe“ im Text Chamissos beziehen könnte. Die napoleonischen Jahre in Deutschland, zwischen 1806 und 1813, waren vielleicht die fruchtbarsten seines Lebens: In kurzem Abstand erschienen, teils parallel zu einer Werkausgabe bei Cotta, Faust (1808)21, Die Wahlverwandtschaften22, Farbenlehre23 und die Anfänge der Autobiographie Aus meinem Leben24, um nur die vielleicht wichtigsten zu nennen. Erst wenn man den im Text genannten „Chamisso“ mit dem aus der Literatur- und der Wissenschaftsgeschichte bekannten Autor gleichen Namens identifiziert, kommt man zu einem begründbaren Vorschlag, welche Bücher sich hinter den Autorchiffren verstecken mögen. Diese Kontextualiserung soll hier wenigstens skizzenhaft durchgeführt werden, um aufzuzeigen, dass sich dann rasch eine Hypothese herauskristallisiert. Bekanntlich hatte Chamisso die Jahre des Erscheinens dieser Bücher größtenteils in Frankreich und in der Schweiz verbracht, wo sie ihm, könnte man meinen, als Neuerscheinungen nicht so leicht zur Verfügung standen. Tatsächlich aber lebte er im Umfeld der an zeitgenössischer deutscher Literatur höchst interessierten Frau von StaÚl, die seinerzeit an ihrem berühmten Deutschland-Buch25 arbeitete, in dem die zeitgenössische 21 22 23 24 25

Eine Tragödie. Stuttgart 1806. Ein Roman, 2 Teile. Tübingen 1809. 2 Teile. Nebst einem Hefte mit 16 Kupfertafeln. Tübingen 1810. Dichtung und Wahrheit, 3 Bde. Tübingen 1811–1813. Vgl. insbesondere den zweiten Band der deutschen Übersetzung: Deutschland. Berlin 1814, S. 132ff. (zu Faust) und Bd. 2, 2. Abth., ebd., S. 73ff. In einer autobiographischen Glosse beansprucht Chamisso, „ein Paar Capitel der deutschen Uebersetzung von de l’Allemagne

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deutsche Literatur bekanntlich eine große Rolle spielte. Es spricht also einiges dafür, dass „Chamisso“, als Chamisso den Schlemihl schrieb, einen rezenten Text Goethes las; wahrscheinlich also den 1812 erschienenen und sogleich nachgedruckten Band Gedichte.26 Alexander von Humboldt27 hatte, bevor er mit der langwierigen Veröffentlichung seines Reisewerks begann, einige mineralogische28, botanische29, biochemische30 und chemische31 Monographien32 von sehr speziellem Interesse veröffentlicht, die sich kaum auf die Situation und die Arbeit Chamissos beziehen lassen. Zwar waren, als Chamisso seine Erzählung schrieb und Fouqu¦ sie herausgab, bereits frühe Darstellungen zur Amerikareise33 erschienen, doch stammten die eben nicht aus der Feder Humboldts. Schwer vorzustellen, dass der Text sie als „Humbold“ charakterisierte. Mit einer gewissen Sicherheit lässt sich daher vermuten, dass es Humboldts für lange Zeit bekanntestes und populärstes Werk war, das da in Schlemihls Traum auf „Chamissos“ Arbeitstisch liegt: Ansichten der Natur34, eine 1808 erschienene, 1826 und 1849 jeweils verändert und stark erweitert nachgedruckte Sammlung von Naturbeschreibungen

26 27 28 29 30 31 32 33

34

par Mad. La Baronne de StaÚl“ geliefert zu haben. Vgl. das Stichwort zu Chamisso in: Verzeichnis im Jahre 1825 in Berlin lebender Schriftsteller und ihrer Werke 1826, S. 44ff., hier S. 46. Tübingen 1812. Vgl. Hey’l 2007. Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein. Mit vorangeschickten, zerstreuten Bemerkungen über den Basalt der ältern und neuern Schriftsteller, Braunschweig 1790. Florae Fribergensis spezimen planta cryptogamicas praeserrtim subterraneas exhibens. Edidit Friedericus Alexander ab Humboldt. Accedunt aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum. Berlin 1793. Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermutungen über den chemischen Prozess des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt von Friedr. Alexander von Humboldt. 2 Bde. Posen und Berlin 1797. Versuche über die chemische Zerlegung des Luftkreises und über einige andere Gegenstände der Naturlehre von Alexander von Humboldt. Mit zwei Kupfern. Braunschweig 1799. Vgl. Fiedler / Leitner 2000. Der französische Erstdruck erschien, nur wenige Seiten umfassend, in einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift. Vgl. daher die separat publizierte deutsche Übersetzung: Reise der Herren v. Humboldt und Bonpland nach den Wendekreisen in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804. Ein Auszug aus ihren Memoiren von J.C. Delamtherie. Aus dem Französischen. Erfurt 1805; [Friedrich Wilhelm von Schütz:] Alexander von Humboldts Königl. Preußischen Bergraths Reisen um die Welt und durh das Innere von Südamerika. Ein interessantes Lesebuch für die Jugend. Vom Verfasser von Cooks Reisen um die Welt. Mit Kupfern. Hamburg und Mainz 1805, [Bd. 1]; [ders.:] Alexander von Humboldts Reisen durch die Welt und durch das Innere von Südamerika. Interessantes Lehrbuch für die Jugend vom Verfasser von Cooks Reisen um die Welt. Zweiter Band. Mit ausgemalten und schwarzen Kupfern. Hamurg und Altona 1807. Ansichten zur Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Von Alexander von Humboldt. Erster Band. Tübingen 1808.

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vornehmlich aus der südamerikanischen Tropenwelt, die nicht zuletzt in ihrem ästhetischen Anspruch paradigmatisch für das naturwissenschaftliche Schreiben in deutscher Sprache im Übergang zum Positivismus werden sollte. Dieses Buch repräsentierte in der Reihe der in Schlemihls Traum genannten Autoren gewissermaßen den Übergang zwischen den zwei Kulturen, zwischen den aufklärungszeitlichen Naturforschern Haller und Linn¦ und den Dichtern der romantischen Zeit. Ähnlich, also über eine Identität von Chamisso und „Chamisso“, ließe sich auch argumentieren, was den Namen Haller betrifft. Albrecht von Haller35 war einer der produktivsten Wissenschaftsautoren36 aller Zeiten, der mit seinen oft nachgedruckten Gedichten37 auch erfolgreich als Poet hervorgetreten ist. Der Hypothese folgend, könnte man ein besonderes Interesse des NaturforscherRekruten an Hallers Schweizer Botanik38 annehmen. Denn das Botanisieren, das seinem Leben fortan ein Ziel geben sollte, hatte er in der Schweiz – im Exil der Madame de StaÚl und eingeführt in das Fach und in die Praxis des Pflanzensammelns von deren Sohn – gelernt: In einer anderen Beziehung wurde der Aufenthalt in Coppet bedeutungsvoll für die weitere Entwicklung Chamissos: Er entschied sich für die Naturwissenschaften und vollzog damit die auch für sein künftiges poetisches Schaffen wichtige Wendung von der Spekulation zur Erfahrung. Am Genfer See treibe man nicht Englisch, sondern Botanik, hatte ihm de la Foye aus CaÚn geschrieben, und Chamisso, ohnehin entschlossen, seinem Leben durch das Studium einer exakten Wissenschaft festen Halt zu geben, folgte diesem Rat. Er unternahm weite Fußreisen in den Jura und die savoyischen Voralpen und stellte ein Herbarium von mehr als tausend Pflanzen zusammen.39

Es würde also Sinn machen, die dort gesammelten Pflanzenbündel in Berlin anhand des renommiertesten Nachschlagewerks zu bestimmen. Dazu passte es, zu vermuten, dass mit „Linne’“ am ehesten an eine spätere Auflage des erstmals 1737 erschienenen, oft erweiterten Hauptwerks zur Systematik und Klassifikation der Pflanzen des berühmten schwedischen Botanikers denken ist.40 Haller und Linn¦ stehen für Identifikation und Klassifikation des am Genfer See erbeuteten „Pflanzenbündels“, das sie wissenschaftlich zu erschließen vermögen. Wenn man die letzte Kontextualisierung ihrerseits rekontextualisiert, ergibt sich schlagartig ein anderes, ein gleichsam enttäuschendes Bild der literarischen Arbeitsstube Chamissos. Was dem in der Hypothese unterstellt wird, hatte die Wissenschaft seiner Zeit längst geleistet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts pu35 36 37 38 39 40

Vgl. Steinke / Boschung / Proß 2008. Vgl. Steinke / Profos 2004. Vgl. Hirzel 1882. Vgl. Haller 1742; ders 1768. Vgl. Feudel 1980, S. 60. Vgl. Linn¦ 1737. Hier wäre auch auf zahlreiche Übersetzungen hinzuweisen.

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blizierte der Schweizer Botaniker Johann Rudolf Suter ein kleinformatiges, bequem in der Tasche zu tragendes und damit für die botanische Feldarbeit besonders geeignetes Buch des Titels: Helvetiens Flora worinn alle im Hallerischen Werke enthaltenen und seither neuentdeckten Schweizer Pflanzen nach Linn¦’s Methode aufgestellt sind.41 Chamisso hat es nachweislich gekannt und selbstverständlich auch benutzt.42 Die Namen, die Autorenchiffren, die Einblicke in Chamissos Wissen versprachen, sind also kaum mehr als ein Name-Droping, Namen mit einem gewissen Anspruch auf Klassizität und allemal repräsentativ. Es kann gewiss nicht schaden, Werke dieser Autoren auf dem Schreibtisch einer imaginären literarischen Figur liegen zu haben. Doch dass sie da zu liegen kommen, geschieht in einer ironischen Perspektive, nicht aus einem System romantischen Wissens heraus. Nun gibt es eine Ausnahme in diesem Traum, wo nicht ein Autor als repräsentativ für eine umfassende Autorschaft genannt wird, sondern der Titel eines einzelnen Textes: Zauberring. Im Jahre 1813, in dem die Erzählung vom Schlemihl entstand, war es, zumindest in Berlin und Umgebung, völlig überflüssig, den Autor dieses im gleichen Jahre erschienenen Romans zu nennen: Friedrich de la Motte-Fouqu¦, Herausgeber der Erzählung Peter Schlemihl und, neben Goethe, die andere literarische Größe der Zeit. Literarische Präzision ist in diesem Text, der doch so sehr von Wissenschaft handelt, ungleich wichtiger als wissenschaftliche Genauigkeit. Indessen ist literarische Präzision nicht Selbstzweck, sondern in ein Netzwerk von Referenzen und Bezügen integriert. Die Nicht-Nennung des Namens des Zauberring-Autors ist unter den vorliegenden Umständen ein sehr starker Hinweis auf dessen Person und literarisches Werk im Modus der literarischen Anspielung. Einmal wird der intendierte Leser mit der Nase in die Möglichkeit der Herausgeberfiktion gestupst, einmal mehr mag er glauben, Fouqu¦ sei Autor und als Autor ein fiktiver Herausgeber der Erzählung. Dass hier der Zauberring, der zuletzt erschienene Roman Fouqu¦s, genannt wird, betrifft nicht nur den Aspekt der – auf der Ebene der Handlung kaum erkennbaren – novellistisch-tagesaktuellen Verortung des Textes in der unmittelbaren Gegenwart des Schreibsituation. Wie der Protagonist des in der Originalausgabe knapp 600 Seiten umfassenden Romans Fouqu¦s wird sich auch der Anti-Held in Chamissos Erzählung auf eine Weltfahrt begeben, die ihn zumindest teilweise in dieselben Gefilde führen wird wie Otto von Trautwangen. Wo der mittelalterliche Ritter freilich vor allem Menschen begegnet, sammelt Schlemihl vor allem Pflanzen, die er beschreibt, um die Manuskripte nach sei41 Zürich bey Orell Füssli 1802. 42 Vgl. Feudel 1980.

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nem Tode der Berliner Universität zu vermachen. Wer Peter Schlemihl im Anschluss an den Zauberring und also im Konzept einer Konstellationsforschung43 liest, wird die unendliche Traurigkeit dieses jungen Mannes ohne Eigenschaften vielleicht noch mehr empfinden als ein spontanerer Leser. Arg anachronistisch, könnte man versucht sein, die Reise Schlemihls, diese zuweilen von biedermeierlichen Pantoffeln gebremste romantische Weltwanderung in zaubermärchenhaften Siebenmeilenstiefeln, der Kategorie der „unheimlich[…]en Antizipationen!“44 der Literaturgeschichte zuzurechnen und sie auf die knapp zwei Jahre später an Bord der Rurik angetretene Weltreise zu beziehen. Doch genoss Chamisso bekanntlich unter dem Kommando des Leutnants von Kotzebue die Unabhängigkeit nicht, in die hinein Schlemihl sich befreit hatte, indem er nach dem Verlust seines Schattens, dann seines Vermögens und seiner Geliebten allen Menschen auswich. Die Figur des naturhistorischen Dilettanten Schlemihl, deren vor allem botanische Interessen sie an den reisenden Naturforscher Chamisso zu binden scheinen, darf nicht übersehen lassen, dass die Weltreise sich im Sommer 1813, als die Erzählung im Oderbruch, weitab von allen Informationen der gelehrten Welt, entstand, nicht einmal im Planungsstadium befand. Die Chiffre Zauberring dagegen bindet die literarische Reise fast demonstrativ an eine literarische Tradition. Man möchte von sehr ernsten Scherzen sprechen, die hier in einem Stück romantischer Geselligkeitskultur als literarisches Spiel unter guten Freunden eingebettet sind. Mit den Scherzen zu beginnen: Bekanntlich ist es gerade im Umfeld Fouqu¦s wiederholt, vor und nach dem Erscheinen der Schlemihl-Erzählung, zu Formen von literarischer Kollaboration gekommen, die bislang nie systematisch untersucht worden sind. Die anonym erschienenen Versuche und Hindernisse Karls45, zu denen Varnhagen, der Initiator des Projekts, Neumann, Bernhardi und Fouqu¦ unterschiedlich umfangreiche Teile beigetragen hatten, ist dafür nur ein leider recht triviales Beispiel.46 Ernst zu nennen sind diese Scherze, weil sie im unmittelbaren Kontext des Todes von Chamisso stehen: „Du rührtest Dich aber nicht, Du hattest auch nicht Athem, Du warst todt.“47 Die Erzählung handelt also nicht bloß von der Geburt des Autors aus dem 43 Vgl. den Band Mulsow / Stamm 2005. 44 Stach 2011, S. 305. 45 Die Versuche und Hindernisse Karls. Eine deutsche Geschichte aus neuerer Zeit. Erster Theil, Berlin und Leipzig: [ohne Verlagsangabe, d.i. Reimer] 1808. Weitere Teile sind nicht erschienen. 46 Ich erspare mir hier einen Katalog der diversen Gemeinschaftsarbeiten von Fouqu¦ und Hoffmann und Chamisso und Hoffmann, möchte aber ausdrücklich auf die eminent geselligkeitsstiftende literarische Sozialisation romantischer Autoren im Medium des Almanachs hinweisen. 47 Chamisso 1814.

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Geiste einer geburtshelferischen, ironisch so zu nennenden realen Herausgeberschaft, sie handelt auch vom Tod des Autors, noch bevor dieser als solcher überhaupt hervor getreten ist. Im vom Protagonisten beobachteten oder wenigstens doch geträumten Tod des Autors Chamisso thematisiert sich „die Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod. […] [D]ie Erzählung löst […] den hingenommenen Tod ein.“48 Sie formuliert ihn, auf der Ebene der Handlung, zunächst als gesellschaftlichen Tod aufgrund eines Stigmas, des verlorenen Schattens, dann im Blick auf die selbstgewählte große Einsamkeit, die Schlemihl, hier in einer langen literarischen Tradition stehend, dann doch zu einer Art Glück finden lässt, dem Glück des botanisierenden wissenschaftlichen Dilettanten. Da mag dann die Lektüre Hallers, Linn¦s und Humboldts doch noch zu ihrem Recht gekommen sein; denn einen Suter hatte bislang nur die Schweiz. Aufgrund der Co-Autorschaft Hitzigs und Fouqu¦s und insbesondere durch das Spiel mit der Herausgeberfiktion, die ihrerseits eine Fiktion ist, mit all ihren Implikationen („Berlin“) ist das Textuniversum der Erzählung vielleicht stärker als viele andere zeitgenössische Texte eng mit den Lebenswelten der Leser im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verbunden. Hitzig war ein bekannter Verleger, Fouqu¦ ein sehr bekannter und sehr geschätzter Autor. Dieser Umstand mochte es zeitgenössischen Lesern, die Fouqu¦ für den hinter einer Herausgeberfiktion verborgenen Autor der Erzählung hielten, ermöglichen, den Chamisso und den Schlemihl der Erzählung für gewöhnliche, zur Zeit noch weniger bekannte Berliner zu halten. Zumindest einen der beiden Letztgenannten hätten aufmerksame Leser im Adressbuch oder in den Matrikeln der Berliner Universität finden können. Oder zunächst noch, vor der Abreise zur Weltumsegelung, bei lokalen Geselligkeiten treffen können. Die deutsche Romantik pflegte einen eigenen Realismus, dessen Alleinstellungsmerkmal möglicherweise das Konzept einer spezifischen Literarizität von Realität war. Chamissos Wissen, gesehen mit den Augen einer literarischen Figur namens Schlemihl, erweist sich demgemäß bei genauerer Betrachtung als ein ebenso phantastisches Element der Erzählung wie der verlorene Schatten und die Siebenmeilenstiefel.

48 Foucault 1974, S. 11.

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Hirzel, Ludwig (Hg.): Albrecht von Hallers Gedichte. Frauenfeld 1882. Hitzig, Julius Eduard: Verzeichnis im Jahre 1825 in Berlin lebender Schriftsteller und ihrer Werke. Aus den von ihnen selbst entworfenen oder revidierten Artikeln zusammengestellt und zu einem milden Zwecke herausgegeben. Berlin 1826. Hoffmann, E.T.A.: ,Der Sandmann‘, in: Nachtstücke, herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier. Berlin 1817, Bd. 1, S. [1]–82. Humboldt, Alexander von: Ansichten zur Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Bd. 1, Tübingen 1808. Humboldt, Alexander von: Florae Fribergensis spezimen planta cryptogamicas praeserrtim subterraneas exhibens. Edidit Fredericus Alexander ab Humboldt. Accedunt aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum. Berlin 1793. Humboldt, Alexander von: Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein. Mit vorangeschickten, zerstreuten Bemerkungen über den Basalt der ältern und neuern Schriftsteller. Braunschweig 1790. Humboldt, Alexander von: Versuche über die chemische Zerlegung des Luftkreises und über einige andere Gegenstände der Naturlehre. Mit zwei Kupfern. Braunschweig 1799. Humboldt, [Friedrich] Alexander von: Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermutungen über den chemischen Prozess des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt. 2 Bde., Posen und Berlin 1797. Krüger, Anja / Sproll, Monika: ,Zur Überlieferung, Entstehung und Wirkungsgeschichte des eigenhändigen Manuskripts „Peter Schlemihl’s Schicksale, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso“‘, in: [Chamisso, Adelbert von]: Peter Schlemihl’s Schicksale, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso, Faksimile-Ausgabe der Handschrift mit einer diplomatischen Transkription von Katrin Dennerlein. Hg. v. der Chamisso-Gesellschaft e.V. mit Begleittexten von Jutta Weber, Anna Busch, Anja Krüger, Monika Sproll und Katrin Dennerlein. Kunersdorf o. J. [2013], S. 83–90. [Linn¦, Carl von]: Caroli Linnaei genera plantarum eorumque characteres naturales secundum numerum, figuram, situm, & proportionem omnium fructificationis partium. Lugduni Batavorum 1737. Mulsow, Martin / Stamm, Marcelo: (Hg.) Konstellationsforschung. Frankfurt a.M. 2005. [Pissin, Raimund:] Almanache der Romantik. Berlin 1910 (= Veröff. der Deutschen Bibliographischen Gesellschaft. Bibliographisches Repertorium, Bd. 5), Sp. 29–70. Reise der Herren v. Humboldt und Bonpland nach den Wendekreisen in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804. Ein Auszug aus ihren Memoiren von J.C. Delamtherie. Aus dem Französischen. Erfurt 1805. [Schütz, Friedrich Wilhelm von:] Alexander von Humboldts Königl. Preußischen Bergraths Reisen um die Welt und durch das Innere von Südamerika. Ein interessantes Lesebuch für die Jugend. Vom Verfasser von Cooks Reisen um die Welt. Mit Kupfern. Bd. 1, Hamburg und Mainz 1805. [Schütz, Friedrich Wilhelm von:] Alexander von Humboldts Reisen durch die Welt und durch das Innere von Südamerika. Interessantes Lehrbuch für die Jugend vom Verfasser von Cooks Reisen um die Welt. Zweiter Band. Mit ausgemalten und schwarzen Kupfern. Hamurg und Altona 1807. Snow, C. P.: The Two Cultures and the Scientific Revolution. The Rede Lecture. Cambridge 1959. Stach, Reiner : Kafka. Die Jahre der Entscheidung. Frankfurt a.M. 2011.

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StaÚl Holstein, Anne Germaine de: De l’Allemagne. Par Mme. La Baronne de Stael-Holstein. Paris 1810 [Londres 1813 et Berlin 1814]. StaÚl Holstein, Anne Germaine von: Deutschland. Aus dem Französischen übersetzt (v. Fr. Buchholz, S. H. Catel u. E. Hitzig). 3 Bde. Berlin 1814. Steinke, Hubert / Boschung, Urs / Proß, Wolfgang (Hg.): Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Göttingen 2008. Steinke, Hubert / Profos, Claudia (Hg.): Bibliographia Halleriana. Verzeichnis der Schriften von und über Albrecht von Haller. Basel 2004. Suter, Johann Rudolf: Helvetiens Flora worinn alle im Hallerischen Werke enthaltenen und seither neuentdeckten Schweizer Pflanzen nach Linn¦’s Methode aufgestellt sind. Zürich 1802. Takeda, Arata: Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktiven Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2008. [Varnhagen von Ense, Karl August]: Die Versuche und Hindernisse Karls. Eine deutsche Geschichte aus neuerer Zeit. Erster Theil, Berlin und Leipzig 1808. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800. München 2008.

Nikolas Immer

Schlemihl in Afrika. Auf den Spuren seiner ursprünglichen Reiseroute

Im Vorwort der von ihm 1839 herausgegebenen Märchenerzählung Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte (1814) spart Adelbert von Chamissos Verlegerfreund Julius Eduard Hitzig nicht mit Selbstlob. Hitzig betont, dass Chamisso dank seiner „Sorgfalt“ die „höchst ungewöhnliche Ehre“ zuteil geworden sei, „stereotypirt zu werden“.1 Doch Hitzig geht es nicht allein um die Ehrung des einstigen Freundes, sondern auch um den verlegerischen Profit. Denn die Technik der Stereotypie erlaubt, wie Hitzig im Vorwort andeutet, den Wiederabdruck des Schlemihl in gleichsam „unendliche[r] Vervielfältigung“.2 Dass es dieser extensiven Reproduktion von Chamissos prominentestem Werk Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings noch nicht bedarf, versichert der Literaturkritiker Hermann Marggraff, der in seiner Rezension der Stereotypausgabe darlegt, dass der Schlemihl noch immer „aller Welt bekannt sei“.3 Darüber hinaus drückt er seine Bewunderung für die „Ökonomie“ aus, mit der Chamisso seine „Phantasie beherrscht“ habe: Chamisso hat Alles in trockener, wenn auch geistreicher Holzschnittmanier ausgeführt. Zu welchen luxuriösen Ausmalungen gab das Siebenmeilenstiefelwesen Anlaß! Mit wenigen Schritten von den erstarrten Polen in die glühende Vegetation der indischen Welt, unter die alten Wunder des Nillandes, in die riesige Gebirgswelt Südamerikas, in die wüste Unendlichkeit des innern Afrikas – wie verführerisch, um die Farbentöpfe der Phantasie nacheinander aufzubrauchen und mit dem Colorit schwelgerisch zu hantiren! Chamisso malt gar nicht aus, er deutet nur, man möchte sagen mit wissenschaftlicher Ruhe, mit der Ruhe eines reisenden Botanikers in wenigen Strichen an.4

Mit seinen Ausführungen zielt Marggraff auf das zehnte Kapitel von Peter Schlemihl’s wundersamer Geschichte, in dem der Protagonist von seiner welt1 2 3 4

Chamisso [1839], S. X. Ebd. Marggraff 1839, S. 1254. Ebd.

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umspannenden Reise berichtet. Dabei bedingt das Fortbewegungsmittel der Siebenmeilenstiefel das vergleichsweise hohe Tempo, mit dem die einzelnen geographischen Stationen genannt werden, so dass dem Erzähler kaum Gelegenheit bleibt, „mit dem Colorit“, wie Marggraff schreibt, „schwelgerisch zu hantiren“. Die maßvolle Beschränkung auf eine sachliche und konzise Schilderung scheint sich gewissermaßen notwendig aus der Erzählanlage zu ergeben. Dieser Befund ist allerdings insoweit zu relativieren, als die ursprüngliche Fassung des Schlemihl insbesondere im zehnten Kapitel ein deutlich abweichendes Bild bietet.5 Zwar entspricht die Reiseroute der sogenannten ,Urschrift‘ im Allgemeinen dem Reiseverlauf der späteren Druckausgaben,6 jedoch enthält der erste Textentwurf noch eine Fülle von Details, die Chamisso vor der Drucklegung seiner Märchenerzählung gestrichen hat. Im Folgenden möchte ich anhand von Schlemihls Erkundung des afrikanischen Kontinents zunächst darlegen, inwieweit sich der Textgehalt und damit auch die Beschreibung der Reisestationen von Urschrift und Erstdruck unterscheiden. In einem zweiten Teil soll die Frage gestellt werden, inwiefern sich in Chamissos skizzenhaftem Reiseexkurs Rückgriffe auf die zeitgenössische Afrikaberichterstattung finden lassen, was am Beispiel von zwei ausgewählten Baudenkmälern zu untersuchen sein wird.

I.

Entdeckungen in Südafrika und Mali

In der Erstausgabe von 1814 stellt Peter Schlemihl am Ende des neunten Kapitels fest, auf einer Kirmes Siebenmeilenstiefel erworben zu haben. Schon bald beginnt er, Asien von Osten nach Westen zu durchwandern, um seine Schritte schließlich nach Afrika zu lenken. Dort angekommen, heißt es: Ich sah mich neugierig darin um, indem ich es [gemeint ist: Afrika] wiederholt in allen Richtungen durchmaß. Wie ich durch Ägypten die alten Pyramiden und Tempel angafte, erblickte ich in der Wüste, unfern des hundertthorigen Theben, die Hölen, wo christliche Einsiedler sonst wohnten. Es stand plötzlich fest und klar in mir : hier ist dein Haus. – Ich erkor eine der verborgensten, die zugleich geräumig, bequem und den Schakalen unzugänglich war, zu meinem künftigen Aufenthalte, und setzte meinen Stab weiter.7

Nach dem Eintritt in den afrikanischen Kontinent wird der Eindruck erweckt, als ließe sich dieser vergleichsweise schnell zu Fuß erkunden. Dank der Sieben5 Vgl. Immer / Glaubrecht 2012. Der vollständige Text der ,Urschrift‘ wird jetzt geboten in Chamisso o. J. [2013]. 6 Vgl. Immer / Glaubrecht 2012, S. 142f. (tabellarischer Anhang). 7 Chamisso 1814, S. 112.

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meilenstiefel ist das tatsächlich möglich, da ein einziger Schritt die Überwindung einer Distanz von ca. 52,7 km erlaubt, sofern das Maß einer preußischen Meile zugrundegelegt wird.8 Bezogen auf die Nord-Süd-Ausdehnung Afrikas von ca. 8.000 km hat Schlemihl den Kontinent folglich nach ca. 152 Schritten oder, sofern man von einer Laufgeschwindigkeit von einem Schritt pro Sekunde ausgeht, in ca. 2,5 Minuten durchquert. Angesichts dieses Tempos erscheint es durchaus plausibel, wenn zunächst noch keine Reisestationen genannt werden, sondern nur pauschal vermerkt wird, dass er den Kontinent „in allen Richtungen“ durchmessen habe. Im Anschluss daran erfolgt jedoch sofort eine geographische Konkretion: Schlemihl sieht in Ägypten die „Pyramiden und Tempel“, verhält sich aber wie ein gewöhnlicher Tourist – er steht vor den berühmten Bauwerken Thebens und ,gafft‘. Diese Rezeptionshaltung, die zeitgenössisch als Ausdruck „einfältiger Verwunderung“ gewertet wird,9 verhindert allerdings die intellektuelle Würdigung der besuchten Reisestation. Solche Würdigungen aber sind gerade zentraler Bestandteil der kontemporären Reiseliteratur, in der ethnologisches und kulturhistorisches Wissen vor dem bildungsaffinen Leser ausgebreitet wird. Beispielsweise betont der Engländer William George Browne in seinen 1799 publizierten Travels in Africa, Egypt and Syria ausdrücklich diesen Bildungsanspruch: Die dauerhaften und prächtigen Formen von den Ruinen, die noch von dem alten Theben, der Stadt Jupiters, der Hauptstadt von Aegypten, der Stadt mit hundert Thoren, vorhanden sind, müssen jedem verständigen Zuschauer Ehrfurcht und Bewunderung einflößen.10

Pointiert gesagt: Während Schlemihl als ,einfältiger Gaffer‘ durch Theben schlendert, verlangt die kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Orts geradezu nach einem „verständigen Zuschauer“. Relativiert wird diese Bildungsdifferenz allerdings durch den Umstand, dass in Schlemihls Bericht kurz darauf vom „hundertthorigen Theben“ die Rede ist. Mit dieser Formulierung wird ein locus classicus aus der Ilias aufgegriffen, den auch Browne am Beginn seiner Schilderung Thebens zitiert.11

8 Eine preußische Meile entspricht einer Länge von ca. 7,53 km. „Üblicherweise lassen sich mit S.[iebenmeilenstiefel]n bei einem Schritt sieben Meilen zurücklegen.“ (FährmannTubbe 2007, Sp. 660–662, hier Sp. 661.) Zur Herkunft des Motivs der Siebenmeilenstiefel vgl. Hoffmann in Chamisso 1975, Bd. 1, S. 774. 9 Adelung 1807, Bd. 1, Sp. 297. 10 Browne 1800, S. 187. 11 Bei Browne wird die Passage (Homer : Ilias, IX, V. 381–384; Homer / Voß 1990, S. 174) in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß geboten: „Böt er [bei Browne fälschlich: „Böter“] sogar die Götter Orchomenos, oder was Thebe j Hegt, Aegyptens Stadt, wo reich sind die

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Für Schlemihl wiederum scheint die Begegnung mit den klassischen Altertümern eher sekundär zu sein, da er primär daran interessiert ist, in einer der thebanischen Höhlen eine neue Unterkunft zu finden. Wie er selbst andeutet, folgt er mit dieser Entscheidung den Spuren der frühchristlichen Anachoreten,12 die sich seit dem späten 3. Jahrhundert in die ägyptische Wüste begeben hatten, um dort ein zurückgezogenes und asketisches Leben zu führen. Exemplarisch sei an den legendären Paulus von Theben erinnert, der nach der Überlieferung des Kirchenvaters Hieronymus mehrere Jahrzehnte in seinem Wüstenexil zubrachte.13 Beachtenswert ist nicht zuletzt die geschichtliche Bedeutung seiner Höhle, über die der Theologe Christian Friedrich Duttenhofer Ende des 18. Jahrhunderts Folgendes berichtet: „Diese Höhle, die ehemals zu den Zeiten der Cleopatra falschen Münzern zu einem Zufluchtsorte gedient hatte, schien ihm [Paulus] recht von Gott selbsten zum Ort seines beständigen Aufenthalts angewiesen zu seyn, um da, in der Entfernung von allen irrdischen Menschen und Dingen, seine mystische Ruhe zu finden.“14 Dieser Kontrast von Weltzuwendung und Weltentsagung, der anhand des Gegensatzes von unredlicher Geldvermehrung (die Falschmünzer) und sozialer Abgeschiedenheit (das Exil des Paulus) exponiert wird, weist strukturell auf den Schlemihl voraus. Denn bevor der Protagonist sein einsiedlerisches Forscherdasein beginnt, entledigt er sich mit symbolischer Geste des Goldsäckels. Doch im Unterschied zu Paulus von Theben wählt Schlemihl kein Leben in mystischer Kontemplation,15 sondern bleibt als Naturforscher auf die ,irdischen Dinge‘ fixiert. An dieser Stelle hat sein Afrika-Besuch bereits ein vorläufiges Ende erreicht,16 da Schlemihl kurzerhand die Distanz von ca. 3.700 km überwindet und bei der Straße von Gibraltar erneut Europa betritt.17 Im Gegensatz zu dieser recht überschaubaren Afrika-Durchquerung bietet die Urschrift des Schlemihl einen weitaus detaillierteren Reiseverlauf: dann trat ich erst in Aegypten, ein, in den Delta und vor Alexandrien. Ich lauschte vergebens in der Wüste nach der Oasis ammon. dann stieg ich in seltsamen Gedanken den Nil hinauf. Ich staunte im vorüber gehen die Pyramiden an, Buchstaben eines verlor Wortes, und die Ewigen Monumente der Aeg beladen noch mit den Mystischen Zeichen ihrer Weisheit sie selber sind auf der Erde vorübergegangen. –

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Häuser an Schätzen j Hundert hat sie der Thor, und es ziehen zweihundert aus jedem j Rüstige Männer zum Streit mit Rossen daher und Geschirren.“ (Browne 1800, S. 188.) Vgl. Hildebrandt 2002, S. 219f. Vgl. Hieronymus 1983, S. 7–21, hier S. 10f. Duttenhofer 1796–1802, Bd. 1, 1796, S. 122f. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass Schlemihl die bewusste Abwendung von den Menschen als „Buße“ begreift (Chamisso [1814], S. 123). Bekanntermaßen kehrt Schlemihl am Ende der von Chamisso gebotenen Geschichte wieder in die Thebais zurück. Zur symbolischen Bedeutung dieses Übergangs vgl. Immer / Glaubrecht 2012, S. 138.

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Ich sah’ die hundertthorigen Theben und Memnons Bildseule. Ich erblickte in der nahen Wüste die Hölen, die sonst christliche Einsiedler bewohnt, Es stand plötzlich klar und fest in mir hier sollst du wohnen. – ich erkor mir gleich eine der verborgenste die zugleich geraumig bequem und den Schackal unzuganglig war, zum Aufenthalt, dann verfolgt ich meinen Weg am Nil hinauf, […] ich drang bis zum Kap vor. […] ich setzte mich […] auf den abhang eines Felsen, und freute mich als ich den Nahmen Lichtenstein darinnen eingegraben fand. […] Ich stieg den Nieger an seinem linken Ufer hinauf, und glücklicher als der redliche Mongopark betrat der erste Europaeer die Strassen der vielbegehrten Tumbuktu […] Ich […] erreichte mit wenigen raschen Schritten die Küste des Mittelländischen Meeres. ich schritt bei Ceuta nach Europa über.18

Abb. 1: Schlemihls Reiseroute in der Urschrift.

Zunächst ist festzustellen, dass im Verlauf von Schlemihls ursprünglichem Ägypten-Besuch noch deutlich mehr Baudenkmäler genannt werden als in der überarbeiteten Druckfassung. Mit Blick auf die Reiseroute fällt insbesondere auf, dass Chamisso die große Süd-Nord-Bewegung in der Druckfassung getilgt hat (Abb. 1). Von Ostägypten aus (Position 2) folgt Schlemihl dem Nil flussaufwärts (Position 3) und setzt die Wanderung so lange in südlicher Richtung fort, bis er das Kap der guten Hoffnung erreicht (Position 4). Dort entdeckt er auf einem Felsen den Namen „Lichtenstein“, womit Chamisso seinen Berliner Universitätslehrer Martin Hinrich Lichtenstein würdigt, der 1811 und 1812 seine zweibändigen Reisen im südlichen Africa veröffentlicht hatte.19 Auf einer seiner Ex18 Die Afrika-Passage aus dem zehnten Kapitel der Urschrift wird zitiert nach: Chamisso o. J. [2013], S. 173f. Im Folgenden wird nur der rekonstruierte Text wiedergegeben, ohne die Kenntlichmachung der Streichungen und Einschübe. Die zwei Emendationen folgen: Immer / Glaubrecht 2012, S. 128. 19 Wie ein zeitgenössischer Rezensent vermerkt, übertreffe Lichtenstein die bisherigen Rei-

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peditionen gelangt Lichtenstein an den Fluss Riviersonderend, über dessen Umgebung er schreibt: Zuerst setzten wir gleich in der Nähe der Zoetemelks-Valley über den Rivier zonder end, besahen am jenseitigen Ufer einige neue Anlagen des Posthalters und die kleine Höhle, die in den ältesten Zeiten auf den Reisen der ersten Cap-Colonisten den Kranken zum Aufenthalt diente […]. Unter vielen hier eingehauenen Namen erkannten wir noch einige von Personen, die gegen das Ende des 17ten Jahrhunderts am Cap in Ansehen standen, und deren Enkel noch jetzt als die vornehmsten Bürger der Capstadt geachtet werden, z. B. […] Olof Bergh, […] aus Kolbens Reise bekannt.20

Mit Olof Bergh (1643–1725) erinnert Lichtenstein an einen schwedischen Abenteurer, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts mehrere geographische Expeditionen in Südafrika unternommen hatte.21 Lichtenstein verweist dabei auf Peter Kolbs zuerst 1719 publizierte Beschreibung des Vorgebürges der Guten Hoffnung und der darauf wohnenden Hottentotten, in der Bergh zu einem heroischen Entdeckungsreisenden stilisiert wird: Vor kurzer Zeit hielte sich ein dergleichen fürchterliches Thier da [d. h. in der Nähe des Tafelberges] auf, welches Vieh und Menschen zerreisse. Man stellte ihm lange nach, endlich tödete es ein Schwedischer Hauptmann, mit Namen Olofberg.22

Für Chamissos Märchenerzählung nun ist die Wiederholung des memorativen Aktes relevant, die aus der Lektüre des inskribierten Namens resultiert: Während Peter Schlemihl an den Afrikareisenden Martin Hinrich Lichtenstein erinnert, erinnert dieser an den Entdecker Olof Bergh. Auf diese Weise wird über das Medium der Reisebeschreibung eine intertextuelle Traditionslinie hergestellt, die in Schlemihls wissenschaftliche Vorgeschichte zurückführt. Im Anschluss daran setzt er von der südlichsten Spitze Afrikas seine Wanderung in Richtung des Niger-Beckens fort (Position 5), von wo aus er Kurs auf die Oasenstadt Timbuktu nimmt (Position 6). In diesem Gebiet ruft Schlemihl mit Mungo Park einen zweiten prominenten Afrikaforscher ins Gedächtnis, dessen 1799 veröffentlichter Reisebericht Travels in the interior districts of Africa sich sofort zu einem Bestseller entwickelte.23 Dass sich Chamisso bei der Ausarbeitung der Urschrift tatsächlich an Parks Afrikaschilderung orientiert hat, lässt sich anhand von zwei Indizien belegen. Zum einen bewegt er sich gewissermaßen auf den Spuren des Afrikareisenden (Abb. 2), da er ebenso wie dieser

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seberichte über Südafrika „nicht allein an Gelehrsamkeit, Beobachtungs- und Darstellungsgabe, sondern er hat auch dieses voraus, daß er die Colonie fast in allen Richtungen durchreist ist“ ([Anonym] 1812, Sp. 297–303 u. Sp. 305–310, hier Sp. 297). Lichtenstein 1811/12, Bd. 2, S. 229. Vgl. Sellström 22003, S. 118–136, hier S. 120. Kolb 1745, S. 208. Vgl. Lupton 1980, S. 132.

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„den Nieger an seinem linken Ufer hinauf[steigt]“.24 Mungo Park ist zwar zunächst in östlicher Richtung unterwegs, um die Mündung des Niger zu finden, allerdings kommt er aufgrund seiner Ausgezehrtheit nicht über die malische Stadt Silla hinaus.25 Dort plant er, an der Südseite des Niger zurückzureisen, muss aber aufgrund der in diesem Gebiet befindlichen „Buchten und Sümpfe“ seinen Rückweg – ebenso wie Peter Schlemihl – am „linken Ufer“ des Flusses antreten.26

Abb. 2.

Zum anderen behauptet Schlemihl, auf diesem Reiseabschnitt „glücklicher als der redliche Mongopark“ zu sein, da er als „der erste Europaeer die Strassen der vielbegehrten Tumbuktu“ betritt.27 Park selbst, der seine Reise in Silla abbrechen muss, macht außerdem kenntlich, dass die Herrschaft der Mauren in Timbuktu einen gefahrlosen Besuch der Stadt verhindere: „Tombuktu, der große Gegenstand meiner Untersuchungen, war ganz im Besitz dieses wilden und unbarmherzigen Volks, welches auch keinem Christen den Aufenthalt dort verstatte[t].“28 Schlemihl wiederum gelingt es, nicht nur Parks erste Afrikareise explorativ zu vervollständigen, sondern überhaupt als „der erste Europaeer“ diese Stadt zu betreten. Diese Leistung ist deswegen besonders hervorhebenswert, weil Timbuktu spätestens seit der Afrikabeschreibung des Leo Africanus von 1550 als reiche und wohlhabende Stadt galt, die wiederholt die kolonialen 24 Chamisso o. J. [2013], S. 174. 25 Vgl. Park 1799, S. 188. 26 „[I]ch […] wollte meinen Weg am südlichen Ufer des Stroms nehmen; er [der Stadtbeamte] sagte mir aber, daß es wegen der vielen Buchten und Sümpfe, an dieser Seite nicht möglich wäre, einen andern Weg zu nehmen, als am nördlichen Ufer“ (Park 1799, S. 196). 27 Chamisso o. J. [2013], S. 174. 28 Park 1799, S. 180f. In der Urschrift heiß es weiterhin: „[…] Tumbuktu, diese weite und volkreiche [S]tadt der Mauren hat aber nichts [S]chönes.“ (Chamisso o. J. [2013], S. 174.)

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Phantasien der Europäer anregte.29 Vor allem im frühen 19. Jahrhundert beginnt ein regelrechter „Wettlauf um Timbuktu“, den die Französisch Geographische Gesellschaft durch die Ausschreibung eines Preisgeldes von 10.000 Francs nachhaltig befördert.30 Während der Engländer Alexander Gordon Laing (1793–1826) im Jahr 1826 als erster Europäer Timbuktu erreicht, gelingt es dem französischen Afrikaforscher Ren¦ Cailli¦ (1799–1838) nur zwei Jahre später, die Oasenstadt zu erkunden und anschließend nach Europa zurückzukehren. In seinem 1830 erschienenen Journal d’un voyage — Temboctou berichtet er : „Ich gab die Hoffnung, irgendein unbekanntes Land in Afrika zu erforschen, zu keinem Zeitpunkt auf. Nach und nach richteten sich all meine Gedanken auf Timbuktu. […] Meine Entscheidung stand fest: Timbuktu sehen oder untergehen.“31 Für Peter Schlemihl hingegen stellt sich diese existentielle Frage nicht, da er mit seinen Siebenmeilenstiefeln problemlos jeden Ort in Afrika erreichen kann. Mehr noch: Seine wunderbaren Laufschuhe erlauben es ihm, nicht nur den Spuren großer Afrikaforscher wie Lichtenstein oder Mungo Park zu folgen, sondern auch, wie die Station ,Timbuktu‘ paradigmatisch belegt, selbst als Entdeckungsreisender in Erscheinung zu treten.

II.

Zwischen ,Nützlichkeit‘ und ,Weltbürgergeist‘

Mit der expliziten Bezugnahme auf zwei namhafte Afrikaforscher in der Urschrift seines Peter Schlemihl lässt Chamisso erkennen, zumindest einen Teil der zeitgenössischen Reiseliteratur rezipiert zu haben. Mit der Entdeckung und Erforschung der sogenannten ,Neuen Welt‘ erlebt diese Gattung seit Mitte des 18. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung.32 Aufgrund der Exotik der bereisten Länder und der Fremdheit der geschilderten Kulturen erregen diese Reisewerke sofort die Neugier des Lesepublikums.33 Ermöglicht werden diese Reisen zumeist von Handelsgesellschaften, die zwar durchaus die jeweiligen 29 Vgl. Rauchenberger 1993 sowie Sattin 2003. 30 Mooren 2012, S. 170. Vgl. Kryza 2012. 31 Cailli¦ 2012, S. 15. Die Passage lautet im Original: „je ne renonÅai donc pas un seul instant — l’espoir d’explorer quelque pays inconnu de l’Afrique; et par la suite, la ville de Temboctou devint l’objet continuel des toutes mes pens¦es […]; ma r¦solution fut prise de l’atteindre ou de p¦rir.“ (Cailli¦ 1830, Bd. 1, S. 1). 32 Die Buchproduktion von Reisewerken vervielfältigt sich zwischen 1770 und 1800 um das Fünffache. Vgl. Griep 1980, S. 739–764, hier S. 740. Zum Darstellungsduktus der Reisewerke vgl. Fiedler 2005, S. 57. 33 „Das teutsche Publikum scheint jetzt die Lektüre von Reisebeschreibungen mehr zu lieben als ehemals, wie man leicht gewahr wird, wenn man oft große Lesebibliotheken besucht. Hieran thut es auch sehr wohl: denn Reisen geben eine weit kräftigere Nahrung als viele geistlose Romane, die Kopf und Herz verderben.“ ([Meinshausen] in der ,Vorrede des Uebersetzers‘, in: Browne 1800, S. XXIII).

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Forschungsvorhaben fördern, die aber mit der Erschließung neuer Territorien koloniale und kommerzielle Interessen verbinden. Eine dieser Gesellschaften bildet die 1788 in London gegründete African Association,34 die etwa im April 1794 Mungo Park mit der Erforschung Südafrikas beauftragt – nicht zuletzt deshalb, weil man noch immer an die unermesslichen Goldschätze Timbuktus glaubt, wie das Vorstandsmitglied Sir John Sinclair bestätigt: „Gold gibt es dort in einer solchen Fülle, daß man sogar die Sklaven damit schmücken kann“.35 In der Afrikareiseliteratur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts sind solche Imaginationen unerschöpflichen Reichtums hingegen kaum zu finden. Vielmehr bemühen sich die Verfasser um eine weitgehend sachliche Präsentation ihrer geographischen, ethnographischen und naturkundlichen Beobachtungen. Dabei ordnen sie sich in den wissenschaftlichen Diskurs ein, indem sie vergleichend auf die Ergebnisse ihrer Vorgänger rekurrieren. Lichtenstein beispielsweise kann solche Vergleiche sofort anstellen, da er, wie er in einer Anmerkung darlegt, die wichtigsten Werke von Peter Kolb, Andreas Sparrmann, Carl Peter Thunberg, FranÅois Le Vaillant und John Barrow ohnehin mit sich führt.36 Sofern nun Chamisso tatsächlich Lichtensteins Afrikabericht gelesen hat,37 konnte er hier mühelos Hinweise auf weitere Reiseliteratur finden. Trotz der nicht unbeträchtlichen Menge an Darstellungen über den südlichen Teil Afrikas wird in einer zeitgenössischen Buchanzeige versichert, dass „es doch wohl keiner Frage“ bedürfe, „ob neuere Berichte über den gegenwärtigen Zustand der Colonie und die fortschreitenden Entdeckungen außerhalb derselben, die Aufmerksamkeit und den Dank des achtungswerthen Publikums zu erwarten haben“.38 Das mag nicht zuletzt an der umfassenden Zielstellung liegen, die Lichtenstein in seiner Vorrede formuliert: Ueberdies hatte ich nicht die deutsche oder europäische Lesewelt allein vor Augen, ich wünschte auch dem africanischen Bürger, besonders aber meinen Nachfolgern, den spätern Reisenden im südlichen Africa nützlich zu werden.39

Einer dieser Nachfolger ist nun Peter Schlemihl, für den sich die vorausliegenden Reiseberichte Mungo Parks und Lichtensteins in der Tat als nützlich erweisen: Während Park den Impuls liefert, die Stadt Timbuktu zu betreten, vermittelt 34 Vgl. Hallett 1964. 35 Zit. nach: Lupton 1980, S. 40. 36 Vgl. Lichtenstein 1811/12, Bd. 1, S. 27, Anm. *. Neben den bereits genannten Reiseberichten von Peter Kolb und John Barrow hat Lichtenstein die Darstellungen von Sparrmann (1784), Le Vaillant (1790–96) und Thunberg (1792/94) zur Verfügung. 37 Neben Chamissos persönlicher Bekanntschaft mit Lichtenstein ist darauf hinzuweisen, dass auch „Hr. Baron de la Motte Fouqu¦“ (Lichtenstein 1811/12 Bd. 1, S. 5 der SubskribentenListe) zu den Subskribenten des Reiseberichts gehört. 38 Salfeld 1810, S. 189–196, hier S. 189f. 39 Lichtenstein 1811/12, Bd. 1, S. III.

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Lichtenstein überlebensnotwendige Kenntnisse von der afrikanischen Fauna.40 Über diesen Aspekt der puren Nützlichkeit hinaus gilt die Erweiterung des kulturgeographischen Wissens als zentrales Anliegen reiseliterarischer Werke, wie schon Johann Friedrich Meinshausen, der Übersetzer von Brownes Travels in Africa, Egypt and Syria, betont: „Reisebeschreibungen […] erweitern den Gesichtskreis, den der eingeschränkte Wirkungskreis der meisten Menschen verengt. Ihre Lektüre flößt Weltbürgergeist ein“.41 Ein solcher „Weltbürgergeist“ zeigt sich wiederum bei Peter Schlemihl, der am Beginn seiner Afrikareise Ägypten durchwandert und dort – offenbar in Kenntnis vorausliegender Reisedarstellungen – sofort mehrere baugeschichtliche Monumente zu erkennen vermag. Auf zwei dieser Monumente soll schließlich näher eingegangen werden: auf den Amun-Tempel in der Oase Siwa und auf die Memnonskolosse im Westen Thebens. Über den Ursprung des Amun-Orakels berichtet Herodot im zweiten Buch seiner Historien.42 Neben einer Gründungslegende, die ihm thebanische Priester mitgeteilt haben, überliefert er die Aussagen der Priesterinnen von Dodona. Sie bezeugen, dass zwei schwarze Tauben aus Theben aufgeflogen seien, von denen eine nach Libyen gekommen sei und dort „den Libyern befohlen [habe], das Orakel des Ammons zu errichten“.43 Der Tempel des altägyptischen Fruchtbarkeitsgottes Amun, der im 6. Jahrhundert v. u. Z. in der ägyptischen Oase Siwa erbaut wird, entwickelt sich in der Antike zu einem bedeutenden Reiseziel. Der prominenteste Besucher dieser Zeit ist Alexander der Große, der das Orakel dazu nutzen will, um seine Herrschaft als Pharao Ägyptens zu legitimieren.44 In der Folgezeit gerät der Amun-Tempel allerdings mehr und mehr in Vergessenheit, so dass es kaum möglich erscheint, ihn überhaupt wiederzufinden. Auch Peter

40 Auf dem letzten Reiseabschnitt zum Kap der Guten Hoffnung begegnet Schlemihl einem „Loewe[n]“ und versorgt sich später mit einem „Ei aus einem Straussen Nest“ (Chamisso o. J. [2013], S. 174). Lichtenstein wiederum warnt nicht nur vor der Gefährlichkeit des Löwen, auch empfiehlt er den Verzehr von Straußeneiern. Vgl. Lichtenstein 1811/12, Bd. 2, S. 48, 44f. Über die Aneignung der Straußeneier schreibt er : „Wenn […] die Colonisten ein Nest finden, pflegen sie sich mit einem oder ein Paar der umherliegenden noch nicht bebrüteten Eier zu begnügen, scharren mit einem Strauch sorgfältig die Spur ihrer Fußtritte wieder zu und können auf diese Art ein solches Nest zu einer wahren Vorrathskammer eines sehr angenehmen Nahrungsmittels machen, aus welcher alle zwei bis drei Tage soviel geholt werden kann, als die Haushaltung davon bedarf.“ (Ebd., S. 44.) 41 Browne 1800, S. XXIII. 42 Vgl. Herodot: Historien II, 54f.; Herodotus 1756, S. 142f. 43 Ebd., S. 143. Zu diesen Ursprungsmythen vgl. Parthey 1862, S. 133. Vgl. auch Kuhlmann 1988. 44 Vgl. Quintus Curtius Rufus: Historiae Alexandri Magni Macedonis IV, Kap. 7; Curtius Rufus / Ostertag 1799, Bd. 1, S. 342.

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Schlemihl muss zu Beginn seiner Reise bekennen: „Ich lauschte vergebens in der Wüste nach der Oasis ammon.“45 Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist nun, dass der bereits erwähnte Engländer William George Browne im Jahr 1792 in der Region Siwa unterwegs ist, um nach dem Amun-Tempel zu suchen. Zwar entdeckt er dort Überreste eines Tempels, ist sich aber nicht sicher, ob er tatsächlich das gesuchte Bauwerk gefunden habe: „Die Entdeckung dieses berühmten Tempels bleibt also immer noch zur Vergeltung der Anstrengungen kühner Reisenden oder zur Täuschung des Nachsuchens von Forschbegierigen aufbewahrt.“46 Schon kurz darauf macht sich der Forschungsreisende Friedrich Konrad Hornemann (1772–1801) im Auftrag der African Association Ende 1797 auf den Weg, die Erkundung Nordafrikas fortzusetzen.47 Über Hornemanns Aufenthalt in der Oase Siwa berichtet der Göttinger Naturwissenschaftler Johann Friedrich Blumenbach im März 1800: Hier hat er [Hornemann] Browne’s Bemerkungen über das sonderbare kleine antike Gebäude bestätigt, das derselbe da gefunden hat; hat auch die Grundlage von Mauern, die dasselbe umgeben, so verfolgt, daß es nun um so wahrscheinlicher wird, daß dies doch wirklich Ruinen sind, die zu dem berufenen Ammon’s-Tempel gehört haben mögen.48

Auch wenn Peter Schlemihl bei seiner Suche nach dem Amun-Tempel im Gegensatz zu Hornemann nicht fündig wird, führt zumindest eine vage Spur von dem Afrikareisenden ins direkte Umfeld Chamissos. Denn Hornemann ist der Vetter des Agrarwissenschaftlers Georg Wilhelm Ernst Crome (1781–1813), der seit 1808 am landwirtschaftlichen Lehrinstitut Albrecht Daniel Thaers in Möglin arbeitet. Zwar ist Möglin in unmittelbarer Nachbarschaft vom Landgut der Adelsfamilie Itzenplitz in Kunersdorf gelegen, allerdings verstirbt Crome, der ebenso wie Chamisso Botaniker und Dichter gewesen ist,49 am 2. Mai 1813 und damit just zu der Zeit, als Chamisso in Kunersdorf eintrifft. Ob Chamisso überhaupt mit den Schriften Cromes in Kontakt gekommen ist bzw. ob er über Crome gar auf den Afrikaforscher Hornemann gestoßen ist, lässt sich nicht mehr ermitteln. Erwähnenswert bleibt aber, dass Hornemann in seinem posthum erschienenen Tagebuch seiner Reise von Cairo nach Murzuck (1802) die Entdeckung des Amun-Tempels keineswegs für gesichert hält: „Ich weiß sehr wohl, daß diese Beschreibung zu unvollständig ist, als daß sie Jemanden in den Stand 45 Chamisso o. J. [2013], S. 173. 46 Browne 1800, S. 40. Vgl. Parthey 1862, S. 174. 47 Vgl. die anonyme Anzeige über Hornemanns Reisebeginn vom 12. Oktober 1796 in der Zeitschrift Der Neue Teutsche Merkur, [Anonym] 1796, S. 326f. 48 Blumenbach 1800, S. 297f. Vgl. Parthey 1862, S. 175; Schulte 2002, S. 149–161. 49 Vgl. Natho 1978, S. 81–84.

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setzen könnte, mehr als Vermuthungen zu wagen, ob diese Ruinen Ueberbleibsel von dem berühmten Tempel Jupiter Ammons sind.“50 Denkbar ist, dass sich Chamisso aufgrund dieser Ungewissheit, ob dieser Tempel noch existiert oder nicht, dafür entschieden haben könnte, Schlemihl vergebens in der Wüste danach suchen zu lassen. Erfolgreicher ist Schlemihl hingegen bei der Besichtigung von „Memnons Bildseule“,51 die er im Anschluss an die Stadt Theben besucht. Auch wenn Schlemihl in der Einzahl spricht, meint er damit die zwei altägyptischen Kolossalstatuen, die im 14. Jahrhundert v.u.Z. zu Ehren des Pharaos Amenophis III. errichtet wurden. Memnon wiederum, von Pindar als König der Äthiopier beschrieben,52 wird in der griechischen Mythologie als Sohn der Göttin Eos angesehen, den Achilles im Verlauf des Trojanischen Krieges tötet.53 Ihre Tränen bewegen Zeus dazu, Memnon Unsterblichkeit zu verleihen, der fortan die Morgenröte mit einem Klagelaut begrüßt. In Anlehnung an diesen Mythos werden die Kolossalstatuen auch als ,Memnons Bildsäulen‘ bezeichnet, da sie bei Sonnenaufgang, wie schon Pausanias mitteilt,54 einen klingenden Ton von sich geben.55 Schon Mitte des 18. Jahrhunderts wird den Bildsäulen neues archäologisches Interesse zuteil. 1743 veröffentlicht der englische Reiseschriftsteller Richard Pococke seine Observations of Egypt, in denen er unter anderem eine akribische Wiedergabe der Sockelinschriften von beiden Memnons-Säulen präsentiert.56 Pocockes Forschungen führen auf der einen Seite dazu, dass die MemnonsSäulen schon bald „ein Gegenstand gelehrter Untersuchungen“ werden.57 Auf der anderen Seite avancieren sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem „Emblem der Romantischen Poesie“.58 50 51 52 53 54 55

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Hornemann 1802, S. 30f. Chamisso o. J. [2013], S. 174. Vgl. Pindar : Pythische Oden VI, Strophe 4; Pindar / Dönt 2007, S. 145. Vgl. zum folgenden: Ovid: Metamorphosen XIII, V. 578–622; Ovid / Breitenbach 1995, S. 427–429. Vgl. Pausanias 1766, Theil 1, Kap. 42, S. 178ff. „[…] eine noch viel größere Verwunderung erregt der Koloß, den man zu sehen bekommt, wenn man in dem egyptischen Thebe über den Nilstrom nach dem Orte gehet, welcher Syringes […] heißt. Es ist daselbst die Bildsäule einer sitzenden Person, welche man das Denkmahl des Memnons nennt. […] Kambyses hat das Bild so zerschlagen, daß Kopf und Brust auf der Erde lieget. Der übrige Theil ist noch sitzend auf seiner alten Stelle, und giebt alle Tage, wenn die Sonne aufgehet, einen hellen Laut von sich, den man mit dem Tone einer Saite, die auf der Laute oder Leyer zerspringet, vergleichen möchte.“ (Pausanias 1766, 1. Theil, Kap. 42, S. 178f.) Vgl. Pococke 1754, S. 163–165. Plessing 1788–1790, Bd. 2, Theil 1, S. 109. Als Beleg für Plessings Behauptung vgl. Jablonski 1753. Vgl. Menke 2000, S. 311–321.

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Ein früher Hinweis für diesen zweiten Bedeutungshorizont findet sich in der Dialogschrift Alexis oder Von dem goldenen Weltalter (1787) des Philosophen Frans Hemsterhuis. Darin lässt er Diokles zu dem Schluss kommen, dass die Poesie der Wahrheit das ist, „was Aurora der Bildsäule des Memnon ist, wenn sie dieser Licht und Sprache giebt.“59 Novalis, der diese Dialogschrift für seinen geplanten Roman Die Lehrlinge zu Sais (posthum 1802) auswertet, notiert in verknappter Form: „Der Geist der Poesie ist das Morgenlicht, was die Statüe des Memnons tönen macht.“60 Das baugeschichtliche Denkmal wird folglich zu einem Anschauungsobjekt für die dichterische Produktivkraft aufgewertet. Erst dank des schöpferischen Ingeniums der Poesie werde es möglich, Töne – und damit: Dichtung – hervorzubringen. Eine weitere Intensivierung erfährt dieser Gedanke schließlich bei Christian Kosegarten, der in seiner Schrift Memnons Bildsäule in Briefen an Ida (1799) das baugeschichtliche Denkmal zum „Symbol“ des „Unbegreiflichen und Ewigen“ erhebt.61 Angesichts dieser signifikanten Bedeutungserweiterung erscheint Chamissos Streichung der Memnons-Säule recht aufschlussreich. Offenbar wollte er es vermeiden, mit einem um 1800 poetologisch stark aufgeladenen Motiv vom individuellen Schicksal Schlemihls abzulenken.62

III.

Resümee

Die deutlichen Differenzen, die im Hinblick auf Peter Schlemihls Afrikareise zwischen Urschrift und Erstdruck bestehen, führen Chamissos Bereitschaft vor Augen, angesichts der Drucklegung seiner Märchenerzählung radikale Kürzungen vorzunehmen. Gewiss dürften die Streichungen vorgenommen worden sein, um die ästhetische Ausgewogenheit des gesamten Textes herzustellen,63 nur begründet eine solche Behauptung nicht die Spezifik ebendieser Streichungen. Zunächst ist die starke Reduktion der Reiseroute festzustellen, bei deren Bearbeitung Chamisso die ursprüngliche Süd-Nord-Bewegung fast vollständig wegfallen lässt. Im Vordergrund steht vielmehr die Konzentration auf Schlemihls Inbesitznahme einer neuen Wohnstätte als Ausgangspunkt seiner späteren 59 [Hemsterhuis] 1787, S. 94. 60 Novalis 1981, S. 373. 61 Kosegarten 1799, S. XVI. Vgl. dazu die kritische Rezension in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek (Km. 1801, S. 359f.). 62 Ergänzend sei erwähnt, dass mit August Klingemanns Deutung der Memnonsfigur in seiner Zeitschrift Memnon (1800) eine weitere semantische Verschiebung einsetzt. Aufgrund ihrer „wuchtige[n] Größe und Materialschwere“ avanciere die ägyptische Statue zum „Zeichen des schweigenden Toten und Statischen“ (Polaschegg 2005, S. 121). 63 Vgl. Rogge 1919, S. 439.

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Nikolas Immer

Reisen. Darüber hinaus entscheidet sich Chamisso bewusst für die Namenstilgung der in der Urschrift erwähnten Afrikaforscher Martin Hinrich Lichtenstein und Mungo Park. Es entsteht der Eindruck, dass Schlemihl weder als Adept Lichtensteins bei der Erforschung Südafrikas noch als Konkurrent Parks bei der Entdeckung Timbuktus vorgeführt werden soll. Schließlich bleibt insbesondere für den Großraum Ägypten zu konstatieren, dass Chamisso in der Druckfassung auf die Nennung vieler Kulturdenkmäler verzichtet. Während sich die Märchenerzählung auf diese Weise vom Charakter eines enzyklopädischen Reiseberichts emanzipiert, kann die Tilgung einzelner Baudenkmäler auch den semantischen Kontexten geschuldet sein, die sie im frühen 19. Jahrhundert aufrufen. Trotz der umfangreichen Reduktionen, die Chamisso vornimmt, bleibt der Naturforscher Peter Schlemihl dem afrikanischen Kontinent verbunden, da er am Ende der Märchenerzählung darlegt, „die Geographie vom Innern von Afrika […] festgesetzt“ zu haben.64 Seinen wissenschaftlichen Nachlass erhält allerdings nicht die Berliner Universität, sondern er gelangt, wie Ludwig Bechstein in seiner ,kosmologisch-literarischen Novelle‘ Die Manuscripte Peter Schlemihl’s (1851) ausführt, in den Besitz des Korrektors Mendel. Nach dessen abenteuerlicher Bergung der Papiere aus Schlemihls Wohnstätte in der Thebais versucht Mendel erfolglos, die Manuskripte zu publizieren. Das allerdings habe einen triftigen Grund, wie ein Verleger andeutet: Der moderne Leser sei nicht an Fußreisen durch Afrika, sondern nur noch am neuesten Fortbewegungsmittel interessiert: an der „Eisenbahn“.65

Abbildungen Nikolas Immer

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64 Chamisso 1814, S. 125. 65 Bechstein 1851, Bd. 2, S. 181.

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Nikolas Immer

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Schlemihl in Afrika. Auf den Spuren seiner ursprünglichen Reiseroute

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Das Unbekannte erfahren – Aufbruch in neue Welten

Anna Busch / Johannes Görbert

,Rezensiert und zurechtgeknetet.‘ Chamissos Briefe von seiner Weltreise – Original und Edition in Gegenüberstellung

Wer sich heutzutage mit Adelbert von Chamissos autobiographischen Selbstzeugnissen zu seiner Weltreise mit der russischen Rurik-Expedition (1815–1818) beschäftigen möchte, hat dazu in aller Regel gleich mehrere verlässliche und leicht zugängliche Editionen zur Auswahl.1 Chamissos chronologischer Reisebericht, das Tagebuch von 1836, erschien erst kürzlich in einer von Matthias Glaubrecht veranstalteten Prachtausgabe unter dem Titel Reise um die Welt, erstmals in Kombination mit den Lithographien des Expeditionsmalers Ludwig Choris.2 Auch für die weniger bekannten und populären, naturkundlichsystematisch aufgebauten Bemerkungen und Ansichten von 1819 liegen schon seit längerem die zwei sorgfältig edierten und kommentierten Studienausgaben von Volker Hoffmann und Jost Perfahl bzw. von Werner Feudel und Christel Laufer vor.3 Wer noch tiefer in die Materie einsteigen möchte, findet dort auch die zu verschiedenen Zeitpunkten angefertigten Reisegedichte bzw. weiterführende Hinweise auf die Originalausgaben der Weltreiseberichte, die inzwischen nicht selten auch in digitalisierter Form im Internet frei verfügbar sind.4 Ganz anders stellt sich die Editionslage jedoch bei den erhaltenen Briefen Chamissos von seiner Weltreise dar. Hierfür bleiben Interessenten nach wie vor auf Julius Eduard Hitzigs Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso verwiesen: Eine zweibändige Ausgabe, die vor 175 Jahren, kurz nach Chamissos Tod, zum ersten Mal erschien und im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehrfach neu herausgegeben bzw. erweitert wurde.5 Wie bereits an anderer Stelle ausführlich gezeigt, genügen diese beiden Bände gegenwärtigen Standards in der Editi1 Dieser Artikel führt Studien weiter, die wir mit unseren Dissertationen zu Adelbert von Chamisso bzw. zu Julius Eduard Hitzig vorgelegt haben, vgl. Johannes Görbert 2014 und Anna Busch 2014. 2 Vgl. Chamisso 2012. Vgl. dazu auch die Rezension von Busch 2014. 3 Vgl. Chamisso 1980/1981 und Chamisso 1975. 4 Vgl. den Internet-Link für den offiziellen Expeditionsbericht von Otto von Kotzebue 1821 im Literaturanhang. 5 Vgl. Chamisso 1839.

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onswissenschaft längst nicht mehr.6 Hitzig, mit dem Chamisso eine sehr enge Freundschaft verband, den er sogar einmal als das „centrum gravitatis“ bzw. als den „Probierstein aller [seiner] Gedanken“ bezeichnet hat, erlaubte sich im Rahmen seiner Herausgeberschaft weitreichende Eingriffe in das Briefmaterial.7 Seine Veränderungen beschränkten sich keineswegs auf Formalien wie Orthographie, Interpunktion oder Stilistik. Auch inhaltlich redigierte Hitzig die ihm vorliegenden Quellen Chamissos grundlegend, wobei zum Beispiel pikante autobiographische Details, Derbheiten im Ausdruck oder erläuterungswürdige, für nicht eingeweihte Leser ,dunkle‘ Stellen seiner Zensur zum Opfer fielen.8 Einige der letzten Briefe des Freundes von seiner Weltreise unterschlug Hitzig gleich ganz.9 Legitimiert fühlen konnte er sich durch Äußerungen von Chamisso selbst, die ihn zu genau dieser Vorgehensweise anhielten. So erteilt ihm Chamisso beispielsweise in einem Brief von 1815 folgende Vollmachten: „[R]ecensire streng […] und knete Dir meine Schreib und Darstellungsweise nach möglichkeit dir zurecht.“10 Chamisso-Philologen bereitet diese Vereinbarung unter Freunden bis heute kontinuierlich Probleme: Arbeiten sie dadurch doch zum Teil auf einer Textbasis, die nicht den originalen Wortlaut des Autors, sondern die davon deutlich abgewandelte Version seines ersten Biographen und Nachlassverwalters bietet. Wie erheblich das Ausmaß der editorischen Eingriffe ausfällt, soll nachfolgend am Beispiel der Briefe Chamissos von seiner Weltreise gezeigt werden, die Hitzig, anders als in anderen Abschnitten seiner Ausgabe, ohne selbst verfasste biographische Einschübe vorgelegt hat. Dazu soll die Textgestalt der in Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso abgedruckten Dokumente mit den Originalmanuskripten verglichen werden, die sich in der Handschriftensammlung des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt/Main (Hs-3318 bis Hs-3337) befinden. Sie sind Teil einer insgesamt 24 Briefe umfassenden Mappe, die im Rahmen der Stargardt-Auktion der Autographensammlung Alexander Meyer Cohn 1905 durch das Freie Deutsche Hochstift erworben worden ist.11 Schon eine erste, rein quantitative Gegenüberstellung der jeweiligen Textmengen zeigt, wie viele Passagen Streichungen Hitzigs zum Opfer fielen. So bieten die Originalmanuskripte 21,7 % neuen, in der Briefausgabe nicht veröffentlichten Text. Rechnet man die vier Briefe vom Ende der Weltreise hinzu, die Hitzig überhaupt nicht 6 7 8 9 10 11

Vgl. dazu Busch 2013. Zitiert nach dem Nachwort von Volker Hoffmann in Chamisso 1975, Bd. 2, S. 673. Siehe Busch 2013, S. 207ff. Siehe dazu Busch / Görbert 2013, S. 134ff. Freies Deutsches Hochstift, Hs-3318. Wie die Briefe in die Sammlung Alexander Meyer Cohns gelangt sind, lässt sich aus dem 1886 durch den Sammler selbst erstellten Verzeichnis seiner Sammlung, in dem die Briefe bereits verzeichnet sind, nicht ermitteln. Vgl. Alexander Meyer Cohn 1886, S. 67.

,Rezensiert und zurechtgeknetet.‘ Chamissos Briefe von seiner Weltreise

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drucken ließ, sind es sogar 25,44 %.12 Das heißt: Circa ein Viertel der Briefäußerungen Chamissos erscheint nach Hitzigs Bearbeitung nicht mehr. Hinzu kommen die erwähnten Veränderungen in Zeichensetzung und Rechtschreibung, welche die Vorlage zwar lediglich stilistisch glätten sollten, aber grundsätzlich ebenfalls stets Potenzial für Sinnverschiebungen mit sich brachten. Es bleibt daher danach zu fragen, wie genau und weshalb Hitzig die Quellen seines Freundes derart stark bearbeitete und welche Konsequenzen sich für die in den Briefen stattfindende Darstellung der Weltreise ergeben.

I.

Vom Rohmaterial zur Publikation: Literarisierungsstrategien Chamissos und Hitzigs

Die Briefe Adelbert von Chamissos an seinen Freund Julius Eduard Hitzig von der Weltreise zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl die Funktion eines alltäglichen, durchaus gängigen Kommunikationsmittels übernehmen, als auch als Speicher naturwissenschaftlichen, literarischen, sozialen und historischen Rohmaterials fungieren.13 Die als Privatkorrespondenz angelegten Dokumente sind Vorstufe und Textquelle für drei spätere Publikationen: für Chamissos Bemerkungen und Ansichten, für sein Tagebuch und für die von Hitzig herausgegebene Biographie Leben und Briefe. Die Auflösung der intimen Korrespondenzsituation durch die Publikation wird durch die umfangreiche Bearbeitung der Briefe, die von dem jeweiligen Herausgeber vorgenommen wird, entscheidend befördert und macht deutlich, wie sich aus einem vertrauten Briefdialog eine literarisch überformte Publikation entwickeln kann. Das gilt für die von Chamisso selbst herausgegebenen Schriften in gleichem Maße wie für die Publikation seines Freundes Hitzig. Dennoch divergieren die Veröffentlichungen in einem entscheidenden Punkt. Während Chamisso sowohl in den Bemerkungen und Ansichten (1821) als auch im Tagebuch (1836) eine Mischform wählt, die entweder den Inhalt der Briefe stillschweigend in bearbeiteter Form in seine Publikation aufnimmt oder aber Briefauszüge in seinen Fließtext integriert,14 12 Dieser Rechnung liegt eine Gegenüberstellung der Weltreisebriefe in der Druckausgabe von Hitzig (Chamisso 1839) mit einer von uns neu vorgenommenen Transkription sämtlicher im Freien Deutschen Hochstift befindlicher Weltreisebriefe (Freies Deutsches Hochstift, Hs3318 bis Hs-3341) auf Wortebene zu Grunde. 13 Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf die ausgesprochen ergiebige Arbeit von Jana Kittelmann 2010, die eine allgemeine Theoriebildung zur Literarisierung von privaten Reisedokumenten unternimmt und von der die vorliegende Studie entscheidend profitiert hat. Leitend war auch der Gedanke Hans Zellers, wonach schon die Edition eines Privatbriefes an sich seine Literarisierung bedeutet, der nur durch Dokumentation zu begegnen sei (vgl. Zeller 2002, S. 36). 14 So zum Beispiel am Ende des Kapitels „Fahrt von Brasilien nach Chile. Aufenthalt in Tal-

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schreibt sich Hitzigs Leben und Briefe (1839) schon im Titel explizit den Abdruck der Briefe auf die Fahne. Hier muss der Leser davon ausgehen, tatsächlich den Brieftext vor Augen zu haben. Die Faszination, die von Briefpublikationen ausgeht, liegt in der Vorstellung begründet, dass man dem Schreiber mit jedem Wort, das man liest, ein Stück näher kommt: dass man ihn, seine Geschichte, sein Leben, seine Gedankenwelt besser versteht. Dass es sich hierbei um eine Illusion handelt, liegt nicht allein – aber doch zu seinem großen Teil – daran, dass der kreative Schreibprozess grundsätzlich nicht nur durch den Schreiber selbst vollzogen wird. Auch der Leser, der Herausgeber, der Lektor und der Verleger schreiben am Bild des Autors mit. Der Schreibakt ist in dieser Hinsicht immer ein vermittelter, der Brief weniger authentisch-biographischer Beleg als vielmehr Produkt verschiedenster Literarisierungsprozesse. Während Chamisso seine Brieftexte in den Bemerkungen und Ansichten und im Tagebuch weitestgehend aus einem Korrespondenzzusammenhang löst und die Briefinhalte in einem Fließtext aufgehen lässt, erweckt der Briefabdruck in Leben und Briefe den Eindruck, man erhalte Einblick in Chamissos intime Privatkorrespondenz. Sowohl in den Bemerkungen und Ansichten als auch im Tagebuch ermöglicht die Rückschau unter Zuhilfenahme der Brieftexte als Gedankenstütze eine literarische Selbstinszenierung des schreibenden Subjekts. Passagen können neu gewichtet, geordnet und teilweise gänzlich neu verfasst werden. Der Text kann anders strukturiert und damit der assoziative Charakter des Privatbriefes aufgehoben werden. Der direktere und ungeschliffenere Sprachstil des privaten Briefes wird zugunsten einer gehobeneren Schriftsprache umgearbeitet. Damit wird der Blick des Verfassers distanzierter und büßt die Unmittelbarkeit des Erlebens und Schreibens ,von unterwegs‘ ein. Gleichzeitig erfährt der Text eine Ausrichtung auf sein Zielpublikum, indem er so geformt wird, dass er den Ansprüchen eines an Reiseliteratur gewöhnten Publikums gerecht wird. Die Situierung in einem zeitgenössischen Forschungsdiskurs mit fachspezifischem Vokabular und die Einarbeitung aktueller Wissenschaftsentwicklungen unter Einbezug der neueren Reiseliteratur tragen ebenfalls zu einer stärkeren stilistischen Überformung des Ausgangsmaterials bei. Auf den ersten Blick nicht ganz so offenkundig zeigen sich die Literarisierungsstrategien, die Hitzig bei der Publikation der Briefe Chamisso in Leben und Briefe anwendet. Hier kann erst der detaillierte Vergleich von Brief- und publiziertem Text Einblick in die spezifischen Techniken geben. caguano.“ Chamisso leitet diese Stelle so ein: „Bevor ich dieses Land verlasse, werde ich aus dem Briefe, den ich aus Talcaguano an den Freund in der Heimat schrieb, etliche Zeilen mitteilen, worin die Stimmung der flüchtigen Stunde ihr dauerhafteres Gepräge zurückgelassen hat: […].“ Chamisso 1975, Bd. 2, S. 66.

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Zunächst wird aus den unzähligen von Hitzig gestrichenen und bearbeiteten Stellen deutlich, dass Chamissos Selbstentwurf in seinen Briefen nicht deckungsgleich ist mit dem Bild, das sein Freund Hitzig von ihm entwickelt. Zu bedenken ist dabei, dass auch Chamisso bei der Abfassung seiner Briefe durchaus schon eine spätere Publikation im Sinn hatte. Er forderte Hitzig auf, die Briefe, die er als „Archive“15 seiner Weltreise begriff, für spätere Lektüre und Studien aufzubewahren, sie sollten gleichsam den Grundstock und das Material für die Reiseschilderung bilden, falls er „vielleicht über unsern Zug zu schreiben aufgefordert werde.“16 Tatsächlich reflektierte Chamisso also die Selbstinszenierung als Ausgangssituation des Schreibprozesses. Deutlich wird daraus, wie sehr bereits Chamissos eigene, schriftlich festgehaltene Briefidentität einer Literarisierungsstrategie folgt. Das Briefmaterial, wie es sich in Hitzigs Leben und Briefe dem Leser präsentiert, ist also einer doppelten Wertung unterworfen: einmal derjenigen Chamissos selbst und dann derjenigen seines langjährigen Freundes Hitzig.17 Das Schreibprogramm Chamissos, der sich in seinen Briefen in der Rolle als Naturforscher und Weltreisender inszeniert, manifestiert sich gerade in den von Hitzig gestrichenen Stellen. Genau hier reflektiert Chamisso seine Schreibsituation, seine Rolle an Bord, beschreibt er naturwissenschaftliche Entdeckungen und Beobachtungen, positioniert sich im Kreis literarisch ambitionierter Freunde und naturforschender Kollegen, zeigt sich von seiner menschlichen Seite, thematisiert körperliche Bedürfnisse und finanzielle Angelegenheiten. Für den Leser sind die Eingriffe in den Brieftext nicht ersichtlich. Zwar kennzeichnet Hitzig Auslassungen mitunter durch Gedankenstriche oder ein „usw.“, aber diese Hinweise folgen keiner Regelhaftigkeit. Grundsätzlich erfolgen Eingriffe in die Interpunktion, Orthographie und Grammatik der Briefe Chamissos. Zahlen werden ausgeschrieben, Geminationsstriche im Druck aufgelöst, Unterstreichungen werden weggelassen, Veränderungen der Groß- und Kleinschreibung (vor allem an Satzanfängen) werden vorgenommen und Chamissos Vorliebe, ein „g“ statt eines „ch“ zu verwenden („erfreuliger“, „vermogte“ etc.18), wird dem zeitgenössisch gängigen Deutsch angepasst. Die Aussparung sämtlicher von Chamisso in seinen Briefen vorgenommenen 15 Vgl. Chamisso 1839, I, S. 58f.: „Lebe wohl, Guter, verwahre meine Briefe, wie ich die Deinen thue, einst müssen wir sie mit Freuden wieder zusammen ansehen. Briefe sind Archive.“ 16 Chamisso 1839, II, S. 27f. 17 An dieser Stelle ist zusätzlich zu bemerken, dass Hitzigs Streichungen und sonstige Eingriffe in den Brieftext mitunter auch das Ziel haben, den Selbstentwurf Chamissos, den dieser im Tagebuch entwickelt, in besonderer Weise zu stützen und damit Chamissos Inszenierungsstrategien zu decken. Hitzig streicht Stellen aus den Briefen, die Chamissos Selbstdarstellung im Tagebuch nicht entsprechen (siehe dazu die Überlegungen weiter unten). 18 Vgl. z. B.: Freies Deutsches Hochstift, Hs-3318.

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Korrekturen und Streichungen, die stillschweigende Integration von Hinzufügungen und Nachträgen Chamissos in den Brieftext, die Aufhebung der Anordnung des Schriftbildes auf der Seite (Seitenränder, Briefumschlag etc.) berauben den Leser um eine weitere Ebene der Interpretationsmöglichkeit. Diese Art der Normierung, die auch jede Form der Auseinandersetzung mit Papierqualität, Format, Schriftbild, Schreibmaterial, Schreibtechnik – sprich der Materialität des Briefes – verhindert und die in erster Linie den editorischen Gepflogenheiten der Zeit geschuldet ist, verändert den Text entscheidend und interpretiert ihn wiederum. Der Leser sieht Chamissos Brieftext durch die bearbeitende, bereinigende, normalisierende Herausgeberbrille. Dazu zählt auch die Variation und Umstellung von Orts- und Datumsangaben, die Anpassung und Vereinheitlichung ihrer Schreibung, sowie die generelle Unterschlagung jeglicher Adressinformationen, die Hitzig im Druck vornimmt. Besonders augenfällig wird diese „Beeinträchtigung der Authentizität“19 durch einen grundlegenden Eingriff Hitzigs in Chamissos Schreibstil. Chamissos handschriftliche Briefe lesen sich oft wie ein Produkt eines stream of consciousness. Sachverhalte, die sich dem Leser nicht unbedingt erschließen, werden weder in ihre Zusammenhänge eingebettet noch erklärt. Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Reflexionen werden in ungeordneter Folge aneinandergereiht. Das geht einher mit syntaktischen Verkürzungen, z. B. dem Wegfall von Bezugswörtern oder Verben.20 Chamissos Eigenart, einzelne Satzteile, Halbsätze oder Gedankenketten durch einen Gedankenstrich voneinander abzutrennen oder durch mehrere gereihte Gedankenstriche die Sätze im Ungefähren enden zu lassen, unterstützt den Eindruck eines ungebrochenen Bewusstseinsstroms. Die Originalbriefe, so der Leseeindruck, geben Einblick in Chamissos ungefilterte Innenwelt. Aber : Viele Gedankenstriche werden von Hitzig im Druck getilgt und durch andere Formen der Interpunktion ersetzt, Zusammenhänge mitunter durch vom Herausgeber eingeschobene Ergänzungen hergestellt oder per Fußnotenkommentar erklärt. Fehlende Worte werden zur Vervollständigung der Satzstruktur ergänzt, desgleichen Namen (aus „Rosa“ im Privatbrief wird „Rosa Marie“ im Druck21) und Titel (aus „Julius“ wird „Dr. Julius“22). Hitzig macht die Briefe gleichsam „zugänglicher“, indem er sie zusätzlich in einen Kontext von anderen Briefen einordnet, einen Erzählrahmen schafft und sie damit in einer Umgebung situiert, die sie zu erklären scheint. Offenkundig wird dies in der linear-chronologischen Ordnung, mit der Hitzig die Briefe unter einem bestimmten Datum in der Edition präsentiert, und der 19 20 21 22

Zeller 2002, S. 53. Vgl. dazu Jochen Vogt 81998, S. 182ff. Freies Deutsches Hochstift, Hs-3318. Freies Deutsches Hochstift, Hs-3318.

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Zuordnung der Briefe zu bestimmten Reiseabschnitten der Weltreise. Jedem Brief wird in der Edition als Überschrift eine der Stationen der Reise zugewiesen. Dass Hitzig die Briefe damit aber zugleich aus ihrer ursprünglichen Korrespondenzsituation herauslöst und sie ihrem Entstehungszusammenhang entfremdet, ist dem Ziel der Konstituierung eines verständlichen Textes bzw. einer nachvollziehbaren Reiseroute und dem Aufbau einer stringenten Handlung geschuldet. Mit dem Blick auf den Leser wird so eine schlüssige, an den tradierten reiseliterarischen Darstellungsformen orientierte Textpräsentation entwickelt:23 eine Überformung des privaten Reisebriefs mit einer literarisierenden Struktur. Ähnliches lässt sich auch für die Aufhebung der Dialogform konstatieren. Durch die Aneinanderreihung allein der Briefe aus Chamissos Feder im Druck und die Aussparung sämtlicher Antwortbriefe seines Briefpartners Hitzig geht das eigentlich intime Gespräch zweier Freunde auf in einem Monolog Chamissos, der sich an eine breite Öffentlichkeit richtet. Der Korrespondenzcharakter wird zugunsten einer Autor-Leser-Beziehung aufgehoben. Viel deutlicher kann Literarisierungsstrategie nicht implementiert werden: Brief wird zu Text. Die heterogene Leserschaft, die Hitzig bei der Publikation der Briefe in den Blick nimmt, ist mit Sicherheit ebenfalls ausschlaggebend für die Auslassung größerer Teile, die eine inhaltliche Wiederholung mit vorangegangenen Briefen liefern würden.24 Überlegungen zu Markt und Zielpublikum veranlassen die inhaltlichen Straffungen. Das gegebene Material soll in erster Linie neu und interessant sein. Die Attraktivität, die der (Brief-)Text für ein breites Publikum entwickeln soll, macht detaillierte Schilderungen Chamissos zur beobachteten und untersuchten Pflanzen- und Tierwelt samt lateinischer Namensauflistungen in den Augen des Herausgebers obsolet.25 Gleiches gilt für ausführliche Schilderungen von Naturphänomenen26 und des Reiseverlaufs.27 Die daraus resultierenden Eingriffe in den Brieftext sind integrales Kennzeichen des Publikationsprozesses und der Literarisierung des privaten Briefzusammenhangs. Damit einher geht die Aussparung persönlich-biographischer Details in der

23 Vgl. Kittelmann 2010, S. 294f. 24 Beispielhaft sei auf die Weglassung dieses Abschnittes aus Brief Hs-3322 (Freies Deutsches Hochstift) verwiesen: „Die wiederholung der letzten Fahrt, nur daß Wir, ohne es ausf Aufs erste ankomen zu lassen, nach Gestern am Tage dem Winde den Willen Thaten, und den Schutz des ?Brielwetres aufsuchten, hinter welchem wir ohne Schaden den Anker fellen ließen.“ 25 Vgl. die Briefe Freies Deutsches Hochstift, Hs-3323, Hs-3324, Hs-3326. 26 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3320 und Hs-3326. 27 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3326 und Hs-3328.

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Druckversion der Briefe: „Unsere liebe Freundin in Leipzig“28, an die Chamisso viel denkt, wird gleich an zwei Stellen gestrichen. Der ironische Kommentar Chamissos zu einer nicht sehr reichhaltigen Frühstückseinladung bei Herrn v. Stuvens in Hamburg („der frühstück [bestand] aus 2 Tassen Chocolade, von denen er eine trank und ich die andre“29) entfällt. Jede Passage, die sich auf Geldangelegenheiten bezieht, wird im Druck ausgespart.30 Damit wird dem Leser eine Facette der persönlichen Austauschebene zwischen den Briefpartnern vorenthalten. Darunter fällt z. B. auch die intim-vertraute Anrede mit der den engsten Freunden vorbehaltenen Kurzform des Hitzigschen Vornamens „Ede“, die im Druck zu „Eduard“ geändert wird.

II.

Wissenschaftler im Sozialgefüge: Kooperationen und Konflikte an Bord

Ein erster ins Auge fallender inhaltlicher Schwerpunkt der Streichungen Hitzigs liegt auf den sozialen Kooperationen und Konflikten, die sich zwischen den Mitgliedern der Schiffsbesatzung während der Forschungsexpedition abspielten. Aufgrund des Hierarchiegefälles zwischen der Expeditionsleitung und dem Rest der Besatzung sowie den funktional unterschiedlichen Interessen, welche die Teilnehmer der Expedition mit ihren Tätigkeiten verfolgten, waren solche Annäherungs- und Distanzierungsprozesse nur zu typisch für den Ablauf einer maritimen Entdeckungsreise im frühen 19. Jahrhundert.31 Auch in diesem Zusammenhang bleibt auf ausführliche Überlegungen zu verweisen, die bereits an anderer Stelle zum ambivalenten Verhältnis zwischen Chamisso und dem Schiffskapitän Otto von Kotzebue angestellt wurden.32 Bei den Briefen von der Weltreise entscheidet sich Hitzig dafür, Chamissos Berichte von den nicht selten problematischen zwischenmenschlichen Beziehungen an Bord zwar nicht ganz zu unterdrücken, wohl aber durch seine Streichungen deutlich in den Hintergrund treten zu lassen. Dies beginnt schon bei der ersten Vorstellung der Schiffsbesatzung. „Otto Astawitsch, Kapitain von Kotzebue. Ein junger, frischer Schiffsmann, ohne Härte für die Schiffsordnung und mit Fleiß für Gemächlichkeit und Gesundheit seiner Mannschaft sorgend“, so lautet die freundlich ausfallende erste Charakterisierung des Kapitäns in der 28 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3323 und Hs-3326. 29 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3319. 30 Vgl. dazu die Briefe Freies Deutsches Hochstift, Hs-3319 – Hs-3323 und den Brief Hs-3335, in denen Chamisso Hitzig über seine prekäre Geldsituation und die von ihm getroffenen Vorkehrungen informiert. 31 Vgl. dazu auch Harry Liebersohn 2003, S. 37. 32 Vgl. Görbert 2013.

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Briefedition.33 Im Brief selbst stehen jedoch weitere, weit weniger schmeichelhafte Zuschreibungen. So endet der letzte Satz des Zitats nicht mit dem wiedergegebenen Punkt, sondern mit dem Nebensatz „sonst um nicht vieles“, was die geschilderte „Sorge“ des Kapitäns um seine Crew deutlich relativiert. Zudem unterdrückt Hitzig zwei wichtige Sätze nach der Namensnennung, in denen er Kotzebue als wenig gebildeten und zum Teil unzureichend auf die Expedition vorbereiteten Navigator skizziert: „in der Nautischen Astronomie pracktisch geübt, ohne wissenschaftlich zu~sein. Ohne belesenheit, selbst in den Werken der Seefahrer seiner Vorgänger.“34 Als Resultat ergibt sich eine beträchtliche Akzentverschiebung: Wo der Leser von Hitzigs Briefausgabe allen Grund hat, anzunehmen, dass Chamisso die Persönlichkeit Kotzebues zwar knapp, aber ausschließlich wohlwollend skizziert, zeigt das Originaldokument, dass der Naturforscher seinem Kapitän von Anfang an kritisch gegenübertritt.35 Die überwältigende Mehrheit der gestrichenen Stellen entfällt jedoch auf Konflikte mit einem anderen Teilnehmer der Rurik-Expedition. Es handelt sich um den von Chamisso so genannten „frei willige[n] Naturforscher“36 Morten Wormskjold (1783–1845) aus Dänemark, der die Weltumsegelung in den Jahren 1815 und 1816 bis zum ersten Aufenthalt auf Kamtschatka begleitete. Wormskjold, der sich in seiner wissenschaftlichen Laufbahn vor allem mit botanischen Studien beschäftigte, hatte bereits 1812 und 1813 an einer naturkundlichen Exkursion nach Grönland teilgenommen. Nach seinem Abschied von der RurikExpedition blieb er noch bis 1818 auf Kamtschatka, um weitere Untersuchungen auf dem Feld der Pflanzenkunde zu betreiben.37 In den Briefen Chamissos von seiner Weltreise und im Tagebuch fällt das Urteil über Wormskjolds Persön33 Hitzig 1839, S. 12. 34 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3320. Zu den Transkriptionsrichtlinien vgl. Fußnote 39. 35 Des Weiteren streicht Hitzig Stellen, die über schwierige Entscheidungen des Kapitäns mit weitreichenden Konsequenzen für Besatzungsmitglieder Auskunft geben. Dies betrifft zum Beispiel den Fall des Zweiten Leutnants Iwan Jakowlewitsch Sacharin, der nach seiner Erkrankung auf Kamtschatka zurückgelassen wurde. Ähnlich wie im Tagebuch (vgl. Chamisso 1975, Bd. 2, S. 83f.) erwähnt Chamisso dessen Fall auch in Hs-3326 ( Freies Deutsches Hochstift). Hier bezeichnet er den Leutnant als „krank und verdrießlich“, aber nicht dazu entschlossen „hier abzutreten“. Da der Kapitän jedoch auf seinem Verbleib auf Kamtschatka besteht, folgt ein Abschied im Streit: „Der Capt. rief mich eben – Ivan Iacowitsch bleibt doch hier, und da er gereitzt seinen Zustand einzusehen sich weigerte, konnte diese Trennung nicht ohne Zerreißung stattfinden.“ In Hitzigs Abdruck des Briefs (Chamisso 1839, S. 35–44) erscheint von diesem Konflikt nichts mehr. 36 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3319. 37 Etliche Pflanzenarten tragen bis heute seinen Namen, zum Beispiel das Algengewächs Urospora wormskioldii. Zudem haben sich einige seiner Sammlungen im Botanischen Museum in Kopenhagen und an der Universität Oslo erhalten, obwohl der überwiegende Teil, der sich in seinem Privatbesitz befand, 1842 durch einen Brand zerstört wurde. Vgl. zu Wormskjolds Biographie einführend den Artikel von Jessie M. Sweet 1972 sowie die Monographie von Peter Jessen 1987.

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lichkeit zunächst sehr wohlwollend, letztlich aber doch vernichtend aus. Wiederum präsentiert Hitzigs Edition diese breite Palette an biographischen Skizzen in Schieflage, indem sie die lobenden, nicht aber die polemischen Schilderungen zu Wormskjold vollständig nach der Textgrundlage abdruckt. So wird zum Beispiel bei der schon im letzten Absatz erwähnten Vorstellung der Schiffsbesatzung nichts von dem getilgt, was Chamisso anfangs an seinem naturwissenschaftlichen Kollegen rühmt. „[D]er Lieutenant Wormskiold aus Copenhagen, der schon in naturhistorischer Hinsicht eine Reise in Grönland gemacht hat, wo er in einem Jahre unerwartete Schätze gesammelt hat, der eifrigste Naturforscher, der beste Knabe von der Welt, mehr sehr guter Freund […], und den mitzuhaben mich unendlich freut“, so gibt Hitzig ungekürzt wieder, was Chamisso ihm an dieser Stelle als Vorlage liefert. Auch die kurz darauf im selben Brief geschriebenen Zeilen, in denen Wormskjold als „ein sehr guter, verträglicher, sich zu schicken wissender, immer zufriedener Gesell“ erscheint, finden ohne Probleme ihren Weg in Hitzigs Briefausgabe.38 Ganz anders verhält es sich mit den Briefstellen, in denen sich abzeichnet, dass der Arbeitsalltag an Bord den vorteilhaften ersten Eindruck von dem Kollegen in den Naturwissenschaften nicht eben bestätigt, ja ihn geradezu in das Gegenteil verkehrt. Sobald Chamisso damit beginnt, seiner Unzufriedenheit über Wormkjold Ausdruck zu verleihen, zensiert Hitzig großflächig. Eine erste lange gestrichene Passage, die hier komplett wiedergegeben werden soll, findet sich in dem Briefabschnitt, in dem Chamisso über die Forschungen auf der Überfahrt nach Teneriffa zum Generationswechsel der Salpen berichtet. Nur der erste Teil des ersten Satzes bis zu den Worten „frommer Rührung voll“ erscheint auch in der Briefausgabe: MirIch istbin so wohlig, so heiter, und, als ich wieder mit dem Gedanken und dem Worte, wie stets mit dem Herzen, bei Dir bin, mein treuer Bruder, so frommer Rührung voll, daß ich ungern, wie ich es doch vorbeugend muß, ein unangenehmes Wort anzuheben mich anschicke: ich bin in meiner gegebenen Lage, mit Chef und Genossen vollkommen zufrieden, nur mit dem Einen bin ich es nicht, nur mit dem nicht, den ich mir, wie ein Bruder gewünscht hatte, und dem, ich kann es sagen, ich als ein solcher mit offenen Armen entgegen gegangen war – ob ich aber Grund habe mit ihm zufrieden zu sein, richte die Welt. 38 Chamisso 1839, S. 9ff. Direkt im Anschluss gibt Chamisso zu erkennen, dass er Wormskjold wohl auch wegen einer geteilten Passion für den Tabakkonsum anfänglich als sympathisch beurteilt: „[E]r schätzt den frischen Wallfischtrahn als eine gute Speise, und hat manche halbe Woche lang mit Plaisir und Lustigkeit von gekautem und verschlucktem Taback gelebt.“ (ebd).

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am 4/16 hatte der Capt bei Windstille die Chaloupe aussetzen lassen und Wormskuld bescheftigte sich darauf mit Experimente über die temperatur des Meeres Wassers. ich hatte indeß mit D. Eschholz mehrere Exemplare von einer neuen Art Salpo gefischt, die wir schon seit einiger [Zeit] gesehen hatten, und an welchen der Doctor die merkwürdigsten Entdeckungen machte, denen weiter nachzuforschen er mich hinzu rief,. aAls Wormskiold an Bord wieder kam, eilt ich ihm freudig mitzutheilen die Frucht unseres Fleißes, mitzutheilen, und er beschrieb und zeichnete auf der Stelle nach unsern Exemplaren und Mittheilungen. Ich selbst kam später dazu, und ich bat ihn zum diesem Behufe um die bloße Ansicht seiner Zei entworfenen Zeichnung, und er – – schlug mir diese Mittheilung ab. Ich hatte Wormskiold, frohe seiner auf Reisen erlangten fertigkeit im Experimentiren zur Mitwirkung zu bei den Physikalischen untersuchungen, die ich vorhatte, aufgefordert, Er faßte die Instrumente an, und als ich weiter hinzu kam, sagt er mir bald: Geh weg! Du machst mich Confus (confus ist er wirklich) ich ließ ihn ohne Arg gewähren – auch war ich während meiner langen See Krankheit zu allem untüchtig, der Capt überandwortete ihm die Instrumente, und so ward ich von dieser Seite ganz verdrängt. – was er anfaßt bleibt mir abgekürzt, beim sammeln, beschreiben u s w hab ich ihm, biß itzt, alles lieberal mitgetheilt, und ich habe nicht ein Strunk von einem Fucus von ihm er wieder halten, er ist [neben mir wie ein offener Schlund,] ein buch von ihm zur Absicht zu bekommen fält schwer. – Anderer seits ist jede uUnterhaltung mit ihm, unmöglich besonders über gelehrte Gegenstände unmöglich, er ist von einer wirklich übertriebenen Abwesenheit des Geistes: wenn man zu ihm sagt: Guten Tag, Martin petrowitsch, so andwortet er eine siebenzehn Minuten nachher, : Tag? so so! Gewiß, aber ich weiß nicht was es an~der Zeit ist. und wenn man einfach eine Gelehrte Frage zur ferneren beleuchtung aufwirft, so entgegnet er stets bittre Persönlichkeiten, als wolle man ihm feindlich und ungerecht sein kümmerliches Boot abdisputieren, so auch ermangelte er nicht unsere Mittheilung zu erwidern, als wir ihn erst zu unseren Salpen einluden. – „au demeurant le meilleur fils du monde.“39 39 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3323. Das sprichwörtliche Zitat auf Französisch, das auf Deutsch mit „Im Übrigen der beste Sohn der Welt“ wiedergegeben werden kann (und damit das vorher Gesagte konterkariert), stammt im Original von Cl¦ment Marot (1495–1544). – Grundsätzlich ist zur Transkription der hier erstmals präsentierten Briefauszüge Folgendes zu bemerken: Die Orthographie und Interpunktion folgt in allen Eigenheiten derjenigen Chamissos. Grundsätzliche Unsicherheit besteht bei der Groß- und Kleinschreibung, da sich

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Und ähnlich wenige Zeilen später in demselben Brief (Abb. 1): H. Wormskiold aber trachtete gerne mir das Meer mit seinem Schnupftuch den Himmel mit seiner Mütze zu überdecken. alles war auf das Vordeck gezobgen wird und er mit frechgieriger und gewaltsamer Faust an sich zu reissen gelegenheit findet wahrnimt, verwahrt er vor mir verschlossen, und lässt es lieber untergehen als es nur dem Auge mitzutheilen [zu gönnen], und sein wo ich ihn nach der Temperatur frage und s w giebt er zu Andwort er hätte es aufgeschrieben. – Das ist das Verhältniß das er itzt festgesetzt hat, und so thonernen Menschen hab ich mich mit meiner [Freundschaft] an den Hals geworfen – – !40

Aus Gründen des Taktgefühls leuchtet es zum Teil ein, weshalb Hitzig diese Zeilen unterdrückte, die Wormskjold als unkollegialen, unfairen und unsachlichen Arbeitskollegen porträtieren; schließlich veröffentlichte er die erste Ausgabe seiner Briefedition noch zu Lebzeiten des dänischen Naturwissenschaftlers. Trotzdem erscheint Hitzigs Zensur an dieser Stelle gleichermaßen überraschend, da sie einen Moment des Konflikts ausspart, über den Chamisso in seinem Tagebuch bereitwillig Auskunft gegeben hatte – und der damit bei seinem Lesepublikum als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Schon dort betont Chamisso die „eifersüchtelnde Nebenbuhlerschaft“ Wormskjolds, über die Auskunft zu geben ihm „so schwer wie eine Beichte aufs Herz gefallen“41 sei. Zugleich stellt der Berliner Weltreisende in dieser Passage seine autobiographische Distanz zu den jahrzehntelang zurückliegenden Streitigkeiten heraus: Ich lächle jetzt über den tiefen Kummer, über die Verzweiflung, in die ich darüber geriet, und wovon die Briefe zeugen, die ich aus Teneriffa, Brasilien und Chile schrieb. […] Jetzt kann ich, ein alter Mann, nach abgekühlter Leidenschaft […] Richter sein über mich

diese selten einwandfrei bestimmen lässt. Der Zeilenfall wird wiedergegeben. Alle editorischen Zeichen sind kursiv gesetzt. Die verschiedenen „s“-Zeichen können nicht wiedergegeben werden. ? : vor einem Wort bezeichnet eine unsichere Lesart. [ ] : steht für Einfügungen im Textverlauf; [[ ]] : steht für Einfügungen neben dem Text; [–] : steht für Ausrisse oder beschädigtes Papier. & : bezeichnet einen unlesbaren Buchstaben. Streichungen und Doppelstreichungen werden wiedergegeben. ~ : Zusammenschreibungen mehrerer Worte werden kenntlich gemacht. Ligaturen/Geminationsstriche werden aufgelöst. Worte in lateinischer Schreibweise werden in Kapitälchen gesetzt. 40 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3323. 41 Chamisso 1975, Bd. 2, S. 36.

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Abb. 1: Brief Chamissos an Julius Eduard Hitzig, aus Teneriffa 1815, Freies Deutsches Hochstift, Hs-3323 [Photographie: Freies Deutsches Hochstift].

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selbst und sprechen: ich war wirklich außer Schuld.42

Zwei mögliche Gründe lassen sich dafür anführen, dass Hitzig diese (und auch die weiter unten folgenden) Briefpassagen zu Wormskjold trotzdem aufgrund ihrer möglichen Brisanz gestrichen hat. Erstens behandelt die soeben angeführte Textstelle nicht nur den Konflikt mit dem dänischen Naturforscher, sondern auch eine der wichtigsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen der Rurik-Expedition. Gemeint ist das Phänomen des Generationswechsels der Salpen, dessen naturwissenschaftliche Darstellung Chamisso kurz nach seiner Rückkehr nach Preußen seinen Ehrendoktortitel an der Berliner Universität einbrachte.43 Schon von Zeitgenossen wurde in diesem Zusammenhang angezweifelt, ob es sich bei dieser Analyse auch tatsächlich um die alleinige Leistung Chamissos gehandelt habe, oder ob nicht vielmehr der Schiffsarzt Johann Friedrich Eschscholtz (1793–1831) als eigentlicher Entdecker dieses Naturprozesses anzunehmen sei.44 Im betreffenden Kapitel seines Tagebuchs umgeht Chamisso diese Schlüsselfrage damit, indem er behauptet, dass er mit Eschscholtz „immer gemeinsam studiert, beobachtet und gesammelt“ bzw. „in vollkommener Eintracht nie das Mein und Dein gekannt“ habe.45 Im Briefausschnitt steht jedoch eine andere Aussage: Hier arbeiten die beiden Naturwissenschaftler keineswegs gleichzeitig und gleichberechtigt an diesem Phänomen, sondern Chamisso tritt als nachträglicher und nachgeordneter Beobachter zu Forschungen hinzu, die Eschscholtz zuerst am gemeinsam gesammelten Material initiiert hat. Die Inszenierung eines paritätischen, selbstlosen Forscherteams in seinem Reisebericht nützt Chamisso somit, da er auf diese Weise (und durch seine nach der Weltreise allein angefertigte Dissertation) letztlich ausschließlich für sich die naturwissenschaftlichen Lorbeeren für eine offensichtlich zunächst von Eschscholtz angestoßene Forschungsarbeit beanspruchen 42 43 44 45

Ebd. Vgl. dazu ausführlich Matthias Glaubrecht / Wolfgang Dohle 2012. Vgl. zu Leben und Werk von Eschscholtz einführend Erki Tammiksar 2004. Siehe das Kapitel „Reise von Plymouth nach Teneriffa“, Chamisso 1975, Bd. 2, S 35. Ähnlich stellt Chamisso die naturwissenschaftliche Kooperation mit Eschscholtz auch in der Einleitung zu seiner Dissertation De Salpa (1819) dar, die in der Edition von Ruth SchneebeliGraf (Chamisso 1983, S. 47) in deutscher Übersetzung vorliegt: „Der Romanzoffschen Forschungsexpedition […] war ich als Naturforscher zugeteilt. Dort habe ich als Mitwirkenden bei allen Arbeiten meinen Freund Dr. med. Eschscholtz gehabt, der als Arzt eingesetzt war. Zu unserem gemeinsamen Eifer für die Naturwissenschaft gehörte immer gemeinsame Freude. Daher wissen wir nicht und wollen auch nicht wissen, was von den dargestellten Dingen dem einen oder dem anderen zuzuteilen ist.“ Direkt im Anschluss beansprucht Chamisso jedoch eine Vorreiterrolle bei der Entdeckung über die Salpen: „Bei einer so großen Menge von Gegenständen war es aber notwendig, daß jeder sich sein Sachgebiet zueignete. Mir fiel es unter anderem zu, auszuarbeiten und darzustellen, was wir über die Meereswürmer erfahren würden.“

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kann. Neben dem Konflikt mit Wormskjold bietet auch diese markante Abweichung zu Chamissos autobiographischer Selbstinszenierung als Naturwissenschaftler seinem Freund Hitzig offensichtlich genügend Gründe, um die betreffende Passage nicht vor die Augen der Öffentlichkeit zu bringen. Zweitens lassen sich auf Basis des gestrichenen Briefmaterials zumindest Zweifel daran anmelden, ob Chamisso in seinem Verhalten gegenüber Wormskjold während der Weltreise tatsächlich derartig voll und ganz „außer Schuld“ gewesen sein mag, wie er es später in seinem Tagebuch schreibt. Dazu lassen sich nachfolgend auch weitere, von Hitzig ebenfalls nicht berücksichtigte Manuskriptstellen anführen, die erst das ganze Ausmaß des Konflikts um Wormskjold eröffnen. Diese Passagen demonstrieren in aller Deutlichkeit, dass neben verbalen ebenfalls körperliche Attacken, auch gegenüber dem Expeditionsmaler Ludwig Choris (1795–1825),46 genauso mit im Spiel gewesen sein müssen wie disziplinarische Interventionen des Kapitäns, an den sich die enervierten Expeditionsteilnehmer mit ihren Beschwerden wandten.47 Auch diese Passagen sollen hier, erstmals für die Chamisso-Forschung, in aller Ausführlichkeit zitiert werden: Das ausgesprochene Mißverhältniß mit mir ward drückender – ich verhielt mich immer leidend. W. machte sich indessen bei allen verhaßt bei allen besonders bei den Sprach verwanten, dem friedreichen Choris den er verächtlich behandelte und D. Eschscholz. Den officier war er bloß lästig. – Den Choris verfolgte er darauf eine Zeit lang mit unanständigen sSpässen, die darin bestanden sich seiner Blähungen gegen ihn zu entladen. Co. hatte sich seiner ihm erklärt er habe ihn mit Frieden zu lassen er wolle keine Gemeinschaft mit ihm haben. – wir waren einst in der Cabine versamelt, als W. hereintrat und Choris der bei seiner Arbeit sass mit Näckereien heimzusuchen begann, dieser währte sie mit bestimmtheit ab, W. fuhr fort und der Mahler both ihm zu 3 verschiedenen Malen, da er immer fort fuhr, laut und ernst ohrfeigen an. wie dieses 46 Dass Chamisso selbst „Neckereien“, wenn auch vergleichsweise harmloserer Natur, gegenüber Choris äußerte, verdeutlicht eine weitere, von Hitzig ebenfalls zensierte Stelle. In ihr berichtet Chamisso von „unserem vielgeliebten Choris denm wir botaniker Corispermann, und nach Umstände bald Squarrosum bald laerem, bald barbatum bald nutantem [&&] zu nennen nicht ermangeln“ (Freies Deutsches Hochstift, Hs-3320). 47 Zunächst verordnet der Kapitän Chamisso und Wormskjold, wie eine ebenfalls gestrichene Stelle in Hs-3323 (Freies Deutsches Hochstift) verdeutlicht, „3 tage Uhrlaub nach dem Inneren.“ Bei Chamisso tritt in der Folge, wie er an dieser Stelle schildert, tatsächlich etwas mehr Ruhe ein, wofür er aber auch die Landung der Expedition auf Teneriffa verantwortlich macht: „ich fühle schon, wovon ich bereits gelesen habe, die Erde den Haß abkühlen, der auf dem Wasser in Bittrer Hüppigkeit heran wuchs! – Gott gebe das Bessere –“ Und ein paar Zeilen später mit Bezug auf Wormskjold: „Das Land scheint auch ihn milder gemacht zu haben“ (ebd.).

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nichts verschlug gegen der guten Laune W. sagte er ihm er würde ihn beim Capt verklagen und er thats [wobei ihn Eschscholz mit seinem Zeugniß unterstützte]. er wurde ausge vom Capt ausgescholten, und er suchte mich nachher, zum 4ten Mal auf, da ich ihm [fest] erklärt, ich wolle von der anstößigen Geschichte nichts weiter erwähnen horen, um mir mit übertriebener lustigkeit von dem Ereigniß als von einem Sieg zu erwähnen – Er fiel bei uns in Verschieß und keiner wechselte mehr ein Wort mit ihm. – ich hatte ihn bald nachher in Amtsverhältniße zu verklagen da [indem] er mir ein Fisch den ich für mich aufheben [ich hatte ihm] laßen, &&&weg genommen, [[ich hatte ihm im Vorher gegangenen Gespräch [3 bücher lösch=]papier ins Gesicht geworfen die er von mir zurück gbei dieser Gelegenheit zurück gefordert.]] er kriegte wieder einen Verweis, EschScholz bald nachher both ihm wieder maulschellen an. Der Capt ließ ihn ein andermal kommen, um ihn zur vVertragligkeit zu ermahnen – als mich dieas gräß tiefste Mitleiden über [für] ihn zu ergreifen anfing, beschwigtigten neue Anfalle von ihm mein Gewissen. [[Der Capt im Gespräch mit seinen officier nannte ihn das Wundertier, die Matrosen unter sich den Hasen, die Steuerbank den Stolzen.]]48

Und weiter nach der Ankunft im Hafen von Santa Catarina (Brasilien), dessen Erwähnung im Brief Hitzig als einzige Passage innerhalb einer langen Briefstelle stehen lässt: Wormskiold blieb – Der Capt nahm ihn am 2ten Tage mit mir in seinem Kane nach der Stadt: Er fing an, uns, die wir zusammen sassen, zu ermahnen, ob nicht es bässer wäre uns freundlich zu vertragen. Ich nahm das Wort und entwarf dem Capt eine Schnelle Geschichte mit flüchtigen Worte die Geschichte unseres Verhältnißes in seinem fortgang und Wächsel, – nach dem Vorgefallenen [aber] könne es kein anderes Werden und es ware [sei] also festgesetzt, – bei dem angstlichsten Streben aber mir Schulden darin zu mir selber zuzuschreiben, konne ich das nicht – ich sei rein, darauf mich zu W. wendend drang ich offen [in] ihn sein früher geaußer[–] vVorhaben die Expedition zu verlassen auszuführen, [sein Verhältniß] er könne [für ihn selbst] an einem Ort wo er alle Liebe und Achtung verlohren verscherzt habe, selbst kein angenehmes sein, er wenn es ihm dazu an Geld fehle stünden ihm 1000 Thaler, oder 164 pfund Sterling zu welchem [auf] jeder von ihm zu bestimenden bedingung Weise zu Geboth. – sein Geschräch schweifte umher, ich ern& wiederholte meine Anrede und legte einen scharfern accent auf Lieb und Achtung – Der Capt ermahnte ihn mein Anerbieten zu befherzigen. er erklärte der Capt könne ihn aussetzen ?wann er wolle, und er wäre dann nicht bang [um sein 48 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3324.

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fortkommen] – er würde aber ohne dem bleiben, der Capt erklarte mir, es wäre nicht genug vor gegen den Herrn von W. vorhanden um ihn auszusetzen, er würde aber jedes ungebürlige an seinem Bord zu unterdrücken [in Zaum zu halten] wissen und er habe es schon gethan. Das beste aber wäre uns wenn auch nur ?wernedend zu vertragen zu suchen. ich wiederholte mit gehaltenem Affect meine Meinungen, und ersuchte den Capt darauf rücksicht zu nehmen [zu bedenken] daß ich mit nichten an den Letzten dingen [ereignißen] gemischt wäre die das Verhaltniß des H. v W. festgesetzt hatte und mich zu ihm wendend ersuchte ich ihn dazs Zeichen eines Verhältnisses das er selbst zerstört habe, auch aufzuheben, – wir waren von nun an nicht wieder auf du da nach both ich ihm einmal mit dem Sie, die Hülfe meines Beutels an um aus einem drückenden Verhaltniße zu kommen, an einem Orte wo er alle Liebe und Achtung verloren hatte. ein mal im Gespräch ersuchte ich wo er eine von mir aufgestellte Thatsache umdrehen wollte, ersuchte ich ihn fest mich kein nicht länger zu strafen, und er schwieg – endlich wie~das Gesprach hin und hergewallt und wir jeder bei unserer Aussage blieben, schwiegen wir und der Capt bei der Rückreise wobei W. fehlte, hub wieder freundschaftlich die Sache mit mir druchzusprechen [an], wobei ich ihm sagte, ich konne nun wohl darüber mit ihm reden, da ich es vor und mit W. selbst gethan, habe aber darüber nichts zu dem gesagten hinzuzusetzen. – ich kandarf sagen daß ich an Bord geliebt bin, und als [vielleicht] mit Glied zu der einigen familie gehore die wir aus machen, und && die ein sich verhaßter Fremden aufzudrengen nicht entbledet. –49

Über weite Strecken lesen sich diese langen Briefpassagen, in denen sich Chamisso bei Hitzig über Wormskjold beschwert, wie ein Minutenprotokoll der stattgefundenen Auseinandersetzungen. Erst durch die erste gestrichene Stelle erfährt der Leser zum Beispiel, dass sich die Streitigkeiten keinesfalls auf naturwissenschaftliche Egoismen beschränkten, sondern dass sie Handgreiflichkeiten und Unflätigkeiten seitens der Streitparteien mit einschlossen.50 Die zweite Stelle bietet darüber hinaus, ebenfalls im Unterschied zu sämtlichen bislang publizierten Schriften über die Weltreise, ausführliche Darstellungen der Verhandlungen zwischen dem Kapitän und den Naturwissenschaftlern über einen vorzeitigen Abschied des Querulanten von der Rurik-Expedition. Dass Chamisso Wormskjold schlussendlich sogar selbst Geld anbietet, damit er nicht weiter an Bord des russischen Kriegsschiffs Ärger und Unfrieden verursacht, zählt ebenfalls zu den bemerkenswerten Aussagen des originalen Briefmaterials. 49 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3324. 50 Vgl. zu Gewalttätigkeiten der Besatzung auch die folgende gestrichene Passage aus Freies Deutsches Hochstift, Hs-3326: „am 16/28 Marz 1816 probierte unser blinde passagier um auf die Oster Insel zu landen, zum ersten Mal seine RegimentsMontürung wieder an, – ladete sorgfältig seinen Rüttel, und schnallte seinen frisch geschliffenen Säbel um – so ins both hin Breit [sich] gemacht und tüchtige Ohrfeigen vom Doctor erhalten, und das war gut.“

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Entscheidend für die Streichungen, so lässt sich vermuten, könnten jedoch die auffälligen Abweichungen von der autobiographischen Selbstbeurteilung sein, die der Weltreisende, wie oben zitiert, durch die Äußerungen in seinem Tagebuch für sich beansprucht. Sein „ich war wirklich außer Schuld“ lässt sich schließlich umso schwerer aufrechterhalten, umso mehr die persönliche Beteiligung Chamissos an den Handgreiflichkeiten sowie seine Unnachgiebigkeit bei den Schlichtungsversuchen des Kapitäns durch die Briefpassagen publik gemacht worden wären. Insgesamt bietet der Originalwortlaut der während der Weltreise geschriebenen Briefe somit wesentlich detailliertere Angaben zum komplexen Sozialgefüge der Rurik-Expedition als die von Hitzig veranstaltete, die Briefaussagen Chamissos wesentlich verkürzende Edition. Zugleich widerspricht er in Teilen dem im Tagebuch fixierten Selbstporträt Chamissos, das Hitzig mit seiner Edition im Wesentlichen fortzuschreiben sucht, anstatt es, auch über bislang unveröffentlichte Selbstäußerungen des Freundes, Inkonsistenzen und Selbstwidersprüche aufdecken zu wollen.

III.

Naturforschung im Feld: Beobachtung und Dokumentation während der Weltreise

Ein zweiter Themenbereich, bei dem Hitzig nach Analyse des Briefmaterials stets geneigt scheint, den Rotstift anzusetzen, sind die Feldforschungen Chamissos an sich, derentwegen er seine Weltreise überhaupt erst über die Vermittlung Hitzigs antreten konnte. Zum Teil stehen diese Streichungen in Verbindung mit den Konflikten und Kooperationen während der Rurik-Expedition, die Hitzigs Edition nicht im vollen Umfang zur Geltung kommen lässt. So verhandelt eine Passage beispielsweise die erschwerten Bedingungen für das Anlegen von naturkundlichen Sammlungen an Bord, wofür sowohl die Enge der Schiffsräumlichkeiten als auch die Abhängigkeit Chamissos von Kotzebue und Wormskjold verantwortlich gemacht werden: gegen alles Sammeln hat vom aAnfange an der Capt protestirt, den Raum und die Gelegenheit zu besetzen weiß auch nur Martin petrowisch dem es mit gebalter Faust streitig zu machen die Schiffsordnung verwehrt, auch hat nur er papier iInsecten Kasten, überhaupt, und papier in gehöriger Menge – so bin ich in seinen Händen. – In dem Bilde muß ich bemerken daß der Vorsprung wofran das ?Kamil lehnt, (der Kasten des grossen Mastes und der ?&uerlgen,) in der Wirkligkeit viel weiter hervortrit und mein Bett (das, worin [in dessen Grund] die Bücher zu sehen sind,) zu 2/3 bedeckt. Die thür auf diese Seite, geht [führt] nach dem Raume für das Schiffsvolk, die gegen über nach unserer treppe und

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der Cabine des Kapitaines. – Das 2te Bett ist das des Doctors gegen über sind in gleicher Ordnung die der 2 Officier. – [Mit anderer Feder/Tinte nachträglich ergänzt: Als Hintergrund zu der anderen]51

Generell unterdrückt Hitzig jedoch weniger solche Stellen, die Rahmenbedingungen des naturwissenschaftlichen Arbeit schildern als andere Briefpassagen, die Beobachtungen der Feldforschung selbst darbieten. Ganz offensichtlich intendiert er seine Briefausgabe stärker für ein allgemeines Publikum als für spezialisiertere Leser, die an den Befunden Chamissos etwa in der Botanik, Zoologie oder Mineralogie während der Weltreise interessiert wären. Zum Beispiel streicht Hitzig regelmäßig Passagen, in denen lateinische Pflanzennamen auftauchen.52 Für die heutige Chamisso-Forschung ist auch dies ein herber Verlust: Unterschlägt diese Vorgehensweise des Herausgebers doch bemerkenswerte Beobachtungen des Naturforschers. Darunter fällt zum Beispiel folgende, auf Teneriffa beobachtete astronomische Erscheinung, mit deren Beschreibung Chamisso sich direkt in die Nachfolge Alexander von Humboldts stellt: Am 20 8br/1 9 abends um 34 auf 9 Uhr, im Canal zwischen Teneriffa und Canaria ward eine Leuchtkugel gesehen, die vom Wahren Westen einen Punckt gegen Nord in einer Hohe von ungefähr 158 über den Horizont sich zu entzünden schien, und zur perpendicular fallend unter dem selben, hinter der Gebürgs Masse des Pics unterging die Lichtspur war über 2 Minuten am Himmel zu sehen (?) Beobachtung des Steuermanns Nach kurz vor 9 Uhr ging im entgegengesetzen Striche des Himmels mit geringerem Lichte eine andere Leuchtkugel (Sternschnuppe) hinter der anderen Erde Canaria unter. Das Licht erschien mir, der ich gegen Westen hinschaute wie ein schwaches Wetter leuchten. Humboldts Bemerkung der in diesen Gegenden heufigere und glenzendere Sternschnuppen beobachtet hat, mögte ich eher auf die Zeit als auf den Ort beziehen, giebt es wohl nicht überall Nächte und Zeiten, wo sich dieses Phae nomen heufiger und glenzender zeigt.53

Zwar findet sich im Tagebuch eine ähnliche Genealogie, die „von Alexander von Humboldt („Reise“, Band I) und von mir“ erforschte Phänomene beschreibt.54 Jedoch handelt es sich hier nicht mehr um das Himmels-, sondern um das Meeresleuchten in der Gegend um Teneriffa. In der Originalausgabe der Bemerkungen und Ansichten, in denen ebenfalls der Verweis auf Humboldt als naturwissenschaftlichem Vorgänger auf Teneriffa nicht fehlen darf, geht Cha51 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3323. Ähnlich berichtet Chamisso von derartigen Mängeln im vierten Kapitel des Tagebuchs, vgl. Chamisso 1975, Bd. 2, S. 19–33. 52 Vgl. etwa Freies Deutsches Hochstift, Hs-3324 und Freies Deutsches Hochstift, Hs-3326. 53 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3324. 54 Chamisso 1975, Bd. 2, S. 38f.

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misso dagegen überhaupt nicht auf die beobachteten Erscheinungen in der Astronomie ein.55 Einzig der zusätzliche Blick in die Briefmanuskripte erlaubt somit den kompletten Nachvollzug dessen, was Chamisso von seiner Feldforschung auf Reisen dokumentiert hat.56 Des Weiteren verschleiert Hitzig mit der Streichung von Passagen, die auch in den späteren Reiseberichten auftauchen, wesentliche Facetten der Textgenese der Reiseliteratur Chamissos von den Notaten in den Reisebriefen bis zu den für ein breiteres Publikum gedachten Buchkapiteln über die Rurik-Expedition. Dies soll hier beispielhaft anhand eines Textvergleichs gezeigt werden, der eine längere gestrichene Briefpassage mit ihrer weiteren Ausformulierung im Tagebuch kontrastiert. Diese Stelle betrifft die nach den Worten Chamissos eigentliche „Entdeckungs-Reise“ der Rurik-Expedition quer durch neu zu erforschendes Territorium im Pazifik.57 Ihre Struktur ergibt sich über Reisedaten, unter denen Chamisso die vorgeblich neu entdeckten Inseln und deren Beschaffenheit zu Protokoll gibt. Die bei Hitzig nicht gedruckte Passage schließt sich direkt an die Schilderungen Chamissos zum Besuch der Oster-Insel durch die Rurik-Expedition an: am 4/16 [avril] die zweifelhafte Insel (hunden bland?? lemaire und Schutten) ohne Cocos und unbewohnt. 8/20 avril. Romanzoff. auf die wir am 8/21 (dem Russischen Ostertag) landeten, eine aleine Insel mit wenigen Cocosbäumen, die von andern Inselaren bes deren Spuren wir fanden [ergänzt: ohne ihr Land zu sehen] besucht wird, Eine Junge Erde deren Flora nur 20. höchstens 25 Pflanzen begreift. – 10/22 Spiridoff 11/23 Die lange Kette der Ruricks Inseln, im Norden der ?balineeren von Kook 12/24 die längere Deans Kette (drow Smith Kook) in einer Weite von beiläufig 120 Meilen verfolgt ohne den ganzen um Kreis zu sehen 13/25 Krusenstern Insel sammtlich ohne Cocosbaüme und bewohner. –58

Daraufhin folgt eine bei Hitzig erhaltene Passage, die über die natürliche, vor allem geologische Beschaffenheit der bereisten Gegenden im Pazifik sowie über den Wasserproviant an Bord Auskunft gibt. Danach führt Chamisso die, in der

55 Vgl. Chamisso in Kotzebue 1821, Bd. 3, S. 7f. 56 Dazu gehört auch eine weitere astronomische Beobachtung, von der Chamisso in einer bei Hitzig unterdrückten Briefstelle in Freies Deutsches Hochstift, Hs-3320 berichtet. Siehe dazu die weiter unten zitierte Textstelle im Abschnitt zu den Kontaktnetzwerken Chamissos. 57 Vgl. Chamisso 1975, Bd. 2, S. 67ff. 58 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3326.

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Edition Hitzig bis auf einen Satz nicht berücksichtigte, chronologische Reiseschilderung weiter : am 18/30 bekamen wir sSicht der Penrhyne Inseln, – ein Riff reich an Erde und Cocos Wälder, der eine starke bevölkerung ernährt, wir verkehrten am 19 avr./1 May mit den Insulanern, die uns in ihren Canots besuchten am 25 26 Av/7 8 M. wurden auf unserm Schiffe 4 Seeschwalben (Sterna Stolida) gefangen, sie flohen uns im buchstablichen Sinn des Wortes in die Hände. Wir liesen Zwei wieder auffliehen nachdem wir ihnen ein Zettel um den Hals gebunden. – am 28/10 may feierten wir den Jahrstag wo der Rurick vom Stapel gelaufen und durchkreuzten 29/11 den Equator zum zweiten Mal. wir suchten am 7/19 die Mulgraff Inseln auf – deren Lage falsch angegeben sein muß, und uns im künftigen Winter bescheftigen wird. an diesem Tage ward am Abende dieses Tages ward der Capt gefährlich vom ?Bisonbaum getroffen der bei einer Schnellen Veränderung des Windes von einer Seite Zur andern floh. Dieser uns sehr erschreckende Vorfall hatte keine Folgen. Am 8/20 ward das aufsuchen aufgegeben und wir steuerten nord N.N.W. um Kamtschatka zu gewinnen. – am 9/21 ward unversehens Land gerufen, – Zwei nah gelegene Corallen riffe mit weniger Ede, der erste nur mit einigen Cocosbaüme und bewohnt, die Menschen von sehr dunkler farbe, reich an Zierrathen und schöngeflochtenen Matten, mit Kunstreichen Canots die geschickt gegen den Wind zu lawiren verstehen. – Die Kutusoffsund die Suwaroffs Inseln. wir hatten am 15/27 die Sonne am Zenitt und durchschnitten am 16/28 den Nördlichen Tropik. – Den großen Bären (schon aus von der südlichen Halbkugel aus) sich erheben zu sehen, und gegen über das Kreuz sich senken, den Polarstern zu erst zu begrüßen, und den heimathlichen Himmel sich nach und nach über unser Haupt wieder rücken zu fühlen ist hat doch etwas seltsames und großartiges59

59 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3326. Der von Hitzig gedruckte Satz steht in der Textmitte und lautet: „Am 8/20. Mai ward das Aufsuchen aufgegeben und wir steuerten N.N.W. um Kamtschatka zu gewinnen, u.s.w.“, Chamisso 1839, S. 38.

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Obwohl sich der Reiseverlauf an dieser Stelle auch durch die Schilderungen im Tagebuch recht plastisch rekonstruieren lässt, zeigt ein Vergleich beider Fassungen, wie die Redaktion der Reisebriefe durch Chamisso selbst funktioniert. Aus der Rückschau von über zwei Jahrzehnten nach der Forschungsexpedition leitet Chamisso diesen Abschnitt zunächst dadurch ein, dass er auf die Unzuverlässigkeit der von Kotzebue veröffentlichten Daten hinweist: „Die mir während der Reise vom Kapitän mitgeteilten Zahlen (Breiten und Längen, Bergeshöhen usw.) stimmen nie mit denen, die ich in seinem Werke verzeichnet finde. Ich bin hier den letzteren gefolgt, wo ich keinen Grund habe, einen Druck- oder Schreibfehler zu argwöhnen.“60 Ebendiese während der Reise notierten Koordinaten fügt Chamisso im Tagebuch hinzu. Dafür streicht er, sicherlich einer besseren Übersichtlichkeit wegen, die parallelen Datumsangaben des in Preußen benutzten gregorianischen und des in Russland gängigen julianischen Kalenders.61 Zudem unterdrückt Chamisso ebenso einige Namen von Seefahrern (etwa „lemaire und schutten“) wie er die Orthographie etwa von „Kook“ anpasst. Weiterhin trennt Chamisso die Daten und Fakten im Tagebuch von den Reiseerlebnissen, während in der gestrichenen Passage Erlebnisse wie die Feier der Äquatorüberquerung, der Unfall des Kapitäns und die Vögeln umgebundene Reisepost getrennt voneinander erscheinen. Somit unterschlägt Hitzigs Brieffassung nicht nur wichtige Erlebnisse der Entdeckungsreise selbst, sondern auch textliche Vorstufen dessen, was der spätere chronologische Reisebericht weiter ausformuliert. Neben einem unzensierten Zugriff auf die Feldforschung Chamissos während der Expedition gehen dadurch auch direktere Einblicke in seine naturwissenschaftlich-literarische Schreibwerkstatt verloren. Ein analoger Befund ergibt sich durch einen Vergleich einer weiteren gestrichenen Briefpassage mit der Parallelstelle in den Bemerkungen und Ansichten. Hier wie dort behandelt Chamisso jeweils die Naturkunde der Pazifikregion zu beiden Enden der Beringstraße: Die St Laurents Insel und beide Küsten der Boehringstrasse bieten eine gleich alpinische [dem boden angedrückte] Vegetazion dar, die sich aber erhiebt wenn man durch die Einläße des Meeres tiefer in das Land eindringt. Die Salices werden schon strauchartig so wohl im Grunde des Kotzebues-sund als im Grunde der St. Laurents bucht. Die Nordische Flora gehört zu den bekanntesten, wir glauben jedoch sie mit einigen [neuen] Species zu bereichern zu konnen, der Boden ist Urgebürg, das nur in einigen Profilen in den Lage erscheint und auf allen abgeflächten Rücken als in Trümmern liegt, im Grunde des Sundes schließen sich 60 Chamisso 1975, Bd. 2, S. 69. 61 Im 19. Jahrhundert ergibt sich zwischen den beiden Kalendersystemen eine Differenz von zwölf Tagen, wobei der julianische dem gregorianischen Kalender stets nachläuft.

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Schlemmsand und Lehm in un unter brochenen sanft gebogenen Hügeln dem Uhrlande an, in einem punkt liegt eben in unmerklicher fortsetzung zwischen beiden, eine beträchtliche Strecke von Eis. [[Dr. Eschscholz bemerkte zu erst diese Eisberge und die Bucht an welcher sie Liegen erhielt sein Nahme.]] Das profil, wo es zum Vorschein vom Meer genagt zum Vorschein kommt, hat eine Höhe von beilaüfig 80 fuß. Der Rücken selbst das doppelte die ?daue Erde, die vom angenagten Hügel herab fällt schützt wieder dehren Fuß, und der ferneren Zerstörung geschieht Einhalt wenn der Abhang einen Winkel erreicht sich unter einem Winkel senkt der keinen Sturz mehr zuläßt [[Ein S&Es scheint dort ein dünner Lager Lehm gewesehen (2–3 Zoll) das Eis bedeckt und daß sich die Vegetazion auf diesem angesetzt hat.]] Die ?deue erde aus Carices und Sphagnum gebildet hat hier un mehr über einen [über dem Eise] [hier ungefähr 1.] Fuß Tiefe. und&& [Die Erde] taut über all nur wenige Zoll auf. man findet in den angeschlemmten Lehm: und sSand-Hügel – Flößholz wie am Strande selbst, und auf der amerikanischen Küste sind die Elephanten Zähne (Molar Zähne mit Wellenförmigenr Zeichnungen, und Hauzahne mit einfacher Krümung) gemein. Die Völker beider Küsten und der St Laurents insel gehören, wie die Alleuten, zu der asiatischen Race, Navigazion und Waffen Brauche Tracht Künste, sind uberall bei allen dieselben oder ähnlich, und die gerühmten Tschucktschi haben vor ihren Brüdern nichts voraus, sondern stehen ihnen in den Künsten und in mancher hHinsicht nach. – Die Tschucktschi und die [von der] Americanischen Küste haßen sich wie Brüder, die erstern, die die Rußische oberherrschaft anerkennen, und mit welchen wir den größten Verkehr hatten, sagten sagten uns daß jene, wie sie selbst ihr aus Kolima die gleichen Waren hohllen, ([blaue] glaß Körner und Eisen) woran wir sie reich gesehen – hat sich ihre Navigazion zwischen Eis und Land eine Straße gebohrt, wo da, wo die Rußischen Seefahrer (Billings in Saritschoffs beschreibung) den Polar glätscher als dem Bande auf [an]liegend darstellen? Ich laße über Unalaschka – die Vulkanische Kette der Aleutischen Inseln, und deren unterdrückten und ausgehenden Völker, die Rußen selbst und Langsdorf sprechen. uUnalaschka hat einen weit milderen Klima als Kamtschatka, und die Vegetatzion der Thäler, entspricht dem, sie bringt aber keine Bäume hervor, welches wohl den Winden zuzuschreiben sein mag. – Der Pic von Unimack, vielleicht der hochste Gipfel dieser

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Kette, ward im vorbei ges segeln, trigonometrisch gemessen 859 ?Fois. – Der Schnee bedeckte nach ungefährer Schätzung 2/3 der Höhe. (Die Nordliche breite ist 548 26‘.) Diese obige Messung scheint mir ohne große zZuverläßigkeit. Die Küste von Californien biete bietet unter einer gleichen Breite mit der Chileschen, eine viel kümmerlichere Vegetazion dar – die Seewinde pressen [landeinwärts] dem Boden an die fluchten beladenen Haupter der niedrigen Eichen mit stachlichen Blätter, und der andern Gestrauche, die hier das einzige Holz sind. Flugsand bedeckt zum ei an vielen Orten die Hügeln die von grobem Sandstein, von mit f Kalkspathgängen, von Quarzartigen gebirgs arten oder von einem groben Conglomerat von einem Talkartigen? grünen Gestein sind, – Die flora scheint arm zu sein, obgleich schon [und noch ganz unerforscht] der Herbst [hatte schon] zerstort hatte, die schwerdlilien sollen die im frühjahr, gärten [die fluren in] Blumen Bete aus den fluren ver wandeln. wir sammelten besonders viele Samereyen und versprechen unseren Gärten viele neue Gattungen und Arten.62

Chamissos naturwissenschaftliche Spezialisierung als Botaniker ist in diesem Abschnitt deutlich sichtbar, etwa dadurch, dass er ihn mit pflanzenkundlichen Aussagen einleitet und abschließt. Darüber hinaus finden sich, dem enzyklopädisch-universalwissenschaftlichen Programm seiner Reisepraxis gemäß, aber ebenfalls Äußerungen, die sich einer Fülle von weiteren Disziplinen zuordnen lassen, zum Beispiel Mineralogie, Zoologie oder Ethnologie. Erkennbar ist außerdem, dass es sich bei dieser Briefstelle um vorläufige, kursorische Notizen zu dem handelt, was sein naturwissenschaftlich-systematischer Bericht von seiner Weltreise wesentlich fundierter und strukturierter dem Urteil eines Fachpublikums vorlegt. Hier ändert sich auch die Perspektive des Berichterstatters: Während der stetige Wechsel der Themen in der Briefpassage die Nahperspektive der dahinter stehenden, recht kontingenten Beobachtungen „im Feld“ repräsentiert, abstrahiert Chamisso in den Bemerkungen und Ansichten stärker davon. Obwohl er auch hier en passant auf den Reiseverlauf eingeht, dominiert doch ein stärker davon distanzierter Blick. Erkennbar wird diese Vogelperspektive, die der Naturforscher einnimmt, zum Beispiel direkt zu Beginn des Abschnitts „Kamtschatka, die Aleutischen Inseln und die Berings-Straße“, der auf Reisenotizen wie denen der bei Hitzig unterdrückten Briefstelle aufbaut.63 Zudem ordnet 62 Freies Deutsches Hochstift, Hs-3328. 63 Vgl. Chamisso 1975, Bd. 2, S. 462: „Wir haben mit einem Blick das Becken des großen Ozeans und seine Ufer überschaut, und die Inseln, welche sich darinnen zwischen den Wendekreisen erheben, von Ostindien aus betrachtet, als von dem Mutterlande, dem sie

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Chamisso in den Bemerkungen und Ansichten seine Betrachtungen stärker nach dem klassischen Schema der Relationes, welches die jeweiligen Reiseziele nach dem Muster einer hierarchischen gestuften Reihenfolge von Disziplinen beschreibt.64 Petra Dietsche hat dieses Phänomen als eine „Aufrasterung eines Reiseberichts nach Erzählbereichen“ bezeichnet, innerhalb derer sich die Beschreibungsabfolge jeweils wiederholt.65 Hinzu kommt außerdem, dass Chamisso in seinen Bemerkungen und Ansichten der Forschungsdiskussion über seine Reiseziele wesentlich mehr Platz einräumt als in der Briefpassage, die lediglich hier und dort die Protagonisten vorheriger Expeditionen mit Namen nennt.66 Auch mit dieser Streichung erschwert es Hitzig folglich der ChamissoForschung, über textliche Vorstufen wichtige Einblicke in die schriftstellerische Arbeitsweise seines weltreisenden Freundes zu gewinnen.

IV.

An die Daheimgebliebenen: Grüße und Erwähnungen des Berliner Netzwerks

Ein drittes Themenfeld, bei dem sich die Eingriffe Hitzigs besonders markant zeigen, umfasst die in den Briefen geäußerten Grüße und Erwähnungen ihm bekannter Personen. Einige von diesen Passagen übernimmt Hitzig für die gedruckte Fassung, einen Großteil streicht er. Im Folgenden sollen diejenigen Briefstellen, die in der Edition auftauchen und diejenigen, die nur in den Manuskripten stehen, einander gegenübergestellt werden. Nachfolgende Grüße bzw. Erwähnungen des Kontaktnetzwerks von Chamisso finden sich in Leben und Briefe wieder : „mögen mir, wie es sich anschickt, meine treuen und lieben Lehrer und Freunde Erman Lichtenstein, Weiss Rudolphi, Otto, Haine, Klaproth, Horkel, Knape, nicht zürnen, wenn diese meine Reise, statt einer grossen Ausbeute für die Wissenschaft, keine Andere Frucht bringt als mich ein bischen zu lüften.“ (Hs-3321)

angehören, und von woher die organische Natur und der Mensch sich auf dieselben verbreitet haben. Wir wenden uns nun von jenen Gärten der Wollust nach dem düstern Norden desselben Meerbeckens hin. Der Gesang verhallt. Ein trüber Himmel empfängt uns gleich an der Grenze des nördlichen Passats. Wir dringen durch die grauen Nebel, die ewig über diesem Meere ruhen, hindurch, und Ufer, die kein Baum beschattet, starren uns mit Schneebedeckten Zinnen unwirtbar entgegen. Wir erschrecken, auch hier den Menschen angesiedelt zu finden!“ 64 Vgl. dazu auch Beatrix Langner 2008, S. 247 und die Einleitung von Görbert 2014. 65 Petra Dietsche 1984, S. 111f. 66 Vgl. Chamisso 1975, Bd. 2, S. 462–464.

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„Lebe wohl, lieber Ede, Tante und Kinderling lebt wohl blüht und gedenket, mein, auch Vater, Muter, Brüder Schwestern Schwägern und Schwägerin, lebt wohl besonders Ötzel rede freündlichst von mir.“ (Hs-3321) „Du theilst Erman Weiss. Lichtenstein Rudolfi das aus meinen Briefen woran sie Antheil nehmen können – meine Erinnerung ist immer bei ihnen und vielleicht geb ich ihnen noch von hier aus Beweis davon, ich habe mit Escolar von Weiss gesprochen und er hat dessen Adresse genommen.“ (Hs-3323) „thue mir die Liebe, Cotta wissen zu lassen: daß ein Liebhaber der Litteratur ihm von teneriffa aus vorwürfe machen laßt, daß er so lange die Deutschen Manuscripte von Oehlenschläger, die er seit einigen Jahren schon liegen hat, der gelehrten Welt vorenthält. –“ (Hs-3323) „– an K A Varnhagen wenn Du ihn siehst: daß letzthin, wenn ich einmal in die && auf der hohen See in die Nacht und zu den Sternen des Südlichen Himmels sah (das Kreuz war noch nicht aufgegangen) seien mir die Verse in den Sin gekommen, und hatten mich wunderbar bewegt.“ (Hs-3324) „Laß Heinrich Itzenpliz, Schlechtenthal u s. w. meines Herbarii sich an nehmen […].“ (Hs-3326) „Grüße herzlich […] Perthes wenn Du an ihn schreibst.“ (Hs-3326) „Lebe wohl Eduard, grüße Berlin potzdam Leipzig, wenn es sein kann Heidelberg – grüße Hamburg. […] Deine auf blühenden Mädchen werden mich nicht so w erkennen so wenig ich auch verändert sein komme zurück komme – vielleicht noch wohl die gute Tante.“ (Hs-3328) „meine theologischen Freunde liegen mir aus dem Wege aber nicht aus dem Sinne. Neander – ich werde ihm von Missionen zu erzahlen haben – Seegemund […].“ (Hs-3328) „Eduard […] mache daß ich gleich so bald als moglich und auf jedem Weg nachricht von Dir – von allem was mir lieb ist, von Fouqu¦ um den ich vorzüglich bang ich weiß nicht warum besorgt bin erfahre – – und seid ihr alle wohl. umarmt einander in meinem Nahmen – Lichtenstein sei mir besonders gegrüßt, […].“ (Hs-3331) „Lichtenstein und die Freunde werden es mir nicht vergargen, daß ich an mich halte und ihnen aus der fatalen Stimung

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nicht die Zeit mit leeren Papier Wisch Briefen [–]. – Bei Gott. bei Gott ich bin mehr bei euch allen als hier zugegen –“ (Hs-3335)

In den Briefmanuskripten erscheinen im Vergleich ungefähr noch einmal genauso viele Referenzen an Freunde und Kollegen Chamissos: „Durch Schlechtendahl erhallt Rudolphi ein Paar Worte von mir zu hören.“ (Hs-3319) „Da ich nach London nicht gekommen bin möge mich Rudolphi in betreff seiner dahin lautenden Aufträgen für entschuldigt halten.“ (Hs-3320) „Für Erman. Am17/29 August. in der Nordsee. 52.844’ N.B. 2841‘ Ost [B] von Gränn: abends gegen. 8 12 ward im Norden eine Luftkugel im Norden gesehen, die ungefähr durch das vordere Rad des Wagens ging und etwa 13 grad vom Horizonte endete [hier fügt Chamisso eine Zeichnung ein] Ich selber war zwar auf dem Verdecke, aber hinter dem Segel, als das Licht wie eines Blitzes mich nach dahin wenden machte. – ein Steuermann hatte sie beobachtet.“ (Hs-3320) „Mein innigster Gruß. Itzenplitz –. Neander. Kohen Sander Schede Hertz. Becker, Reimer. – Heinrich. Schlechtendahl und Ruth sollen meiner gedenken und meines Herbariums in der Zeit erbarmen. Die wilde Pfeife Segemund und freunde meiner gedenken. – schreibst Du einmal nach Hamburg so gedenke ja meiner gegen den mir unvergeßlichen Perthes.“ (Hs-3321) „an wem ich viel denke ist an unsere liebe Freundin in Leipzig. –“ (Hs-3323) „Davon ein ander mal mehr. – an Rudolphi ich hätte seinen Auftrag an Longsdorf: schriftlich ab ausgerichtet, an alle Freunde Gruß und Kuß. An Lichtenstein Erman Weiss. mein härtlichster Gruß.“ (Hs-3324) „Des Friedlandischen Gartens erwähn ich gegen Otto, dem ich eine schöne Ärnte Sämereien zuschicke – es soll für unausgesprochene Grüsse – mich entschuldigen: Was ist aus dem ?Wildnauischen herbarium, und bibliothek geworden? sind die beabsichtigten Ankeufe [von Büchern] für die berliner bibliothek geschehen?“67 (Hs-3326) „grüsse alle Lieben von mir. ist der kleine Neumann auf der eingeschlagenen Bahn, in ein Wirkliches effectives Nichts 67 Chamissos Schreibweise des „Wildnauischen“ Herbariums wird in der Handschrift mit anderer Tinte zu „Wildnowischen“ korrigiert.

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zusammen geschwunden, und gar nicht mehr vorhanden? Die herzlichsten Grüsse unserer Freundin in Leipzig! was macht H. was wird aus ihr?“ (Hs-3326) „Grüße herzlich H. Spenner von mir, dessen ich Ggedenken will, […].“ (Hs-3326) „Grüße mir besonders Lichtenstein, Weiss rudolphi – den Verfasser der der fantasie Stücke in Callots manier, was macht der lange dünne – ? Grüße Schuden, die Herz die Sander. was machen Neumann Varnhagen und, die wie getrocknete Blätter (der quondam Grünen) in dem Winde herum fliegen? Oetzel?“ (Hs-3328) „Seegemund und die sein Buch hasser – meine botanische Studenten –“ (Hs-3328) „Mund ist ein tüchtiger Gelehrter ein wackerer und hochst pracktischer Mann – Man bedauert daß ihm der Andere nur ein S&&&&fe um den [Müllstein am] Fuß ist. ?Polimann wird schon in berlin gewesen sein, und von allem bald mehr und mündlich […]“ (Hs-3331) „Laß mich beim Französchen Prediger Riquet in Stetin einen Gruß vorfinden – und ein in Berlin ein etwas größeres Quartier als sonst. – wohne ich mit Neumann? – bei dir frag ich an. Die Ungnade worin einerSeits der Kanzler und andererseits der alte Kotzebue (der es zu grob gemacht) stehen, – hat uns getroffen. – Der ?Grgs kam – – als der ?Kerster gegangen war – und bonjour! – Plauder stoff bringe ich für einen Groschen mit. 1/13 7 1818. an Lichtenstein hab ich ein Wort geschrieben.“ (Hs-3336)

Aus diesen zum Teil recht kryptischen Briefstellen allgemeine Kriterien bzw. Muster zu erkennen, nach denen diese editorischen Entscheidungen vorgenommen wurden, fällt schwer – zumal einige der Genannten auf recht inkonsistente Art und Weise sowohl in den beibehaltenen als auch in den ausgeschiedenen Passagen auftauchen. Einige Grundtendenzen lassen sich jedoch durchaus (mit Vorsicht) ableiten. Wie ersichtlich wird, behält Hitzig häufig dann Grüße und Erwähnungen bei, wenn sie nicht relativ isoliert, sondern in Kombination mit weiterführenden Überlegungen Chamissos erscheinen. Dies betrifft etwa Ausführungen zum natur- und kulturwissenschaftlichen Ertrag der Weltreise, zur Pflege der daheim zurückgelassenen Arbeitsstätten sowie litera-

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turkritische und -praktische Statements gegenüber den Freunden und Kollegen. Zudem erhält Hitzig eine Auswahl der Briefpassagen, in denen Chamisso seiner besonderen emotionalen Bindung an das Berliner Kontaktnetzwerk Ausdruck verleiht: Etwa indem er den Daheimgebliebenen mitteilt, dass er eigentlich die ganze Zeit während der Weltreise in Gedanken bei ihnen ist, oder indem er sich ausführlich um das Befinden seines besten Freundes und dessen Familie sorgt. Für vieles davon lassen sich sicherlich auch Belege in den gestrichenen Stellen finden; insgesamt fallen diese jedoch schwächer als in den gedruckten Passagen aus. Generell kommen noch weitere Gründe für die Streichungen in Betracht, über die sich aber zum größten Teil nur mutmaßen lässt: eine mögliche Distanzierung von den aufgeführten Personen, ihre Anonymisierung, persönliche Rücksichten gegen die in den Briefen (für sie womöglich enttäuschenderweise) nicht genannten Freunde und Kollegen, sowie die bereits oben erwähnte Vermeidung von Wiederholungen und die daraus resultierende inhaltliche Straffung des Textmaterials. Für die Chamisso-Forschung bedeutet auch dies einen nicht unbeträchtlichen Verlust, da auf diese Weise nur etwa die Hälfte der Bezugnahmen auf das Kontaktnetzwerk in der Briefedition vorliegt, während die andere Hälfte bis zu diesem Zeitpunkt dem Lesepublikum unbekannt bleiben musste. Generell lässt sich festhalten: Tatsächlich sind alle Orte der Briefverwertung, sowohl die Bemerkungen und Ansichten und das Tagebuch Chamissos als auch Hitzigs Leben und Briefe, von der Forschung lange als verlässliche autobiographische Quellen gelesen, interpretiert und vielfach als Belege herangezogen worden. Die Briefe haben durch ihre Publikation (und die damit einhergehenden unterschiedlichen Bearbeitungsprozesse) in den Augen des Publikums weder den für das Genre Reiseliteratur integralen Anspruch auf Authentizität verloren noch die ihnen zugrundeliegenden Literarisierungsstrategien offengelegt. Aus der obigen Untersuchung, die sich die Offenlegung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Privatbrief und publizierter Fassung zum Ziel gesetzt hatte, muss konsequenterweise geschlussfolgert werden, dass durch die Veröffentlichung von Chamissos bearbeiteten Weltreisebriefen im Rahmen von Leben und Briefe die Briefe auch hier tatsächlich zu Literatur werden und ihren Zeugnis- und Dokumentcharakter zum größten Teil einbüßen. Hitzig orientiert sich damit an der im 19. Jahrhundert gängigen Praxis der Veröffentlichung privater Reisebriefe als Charakteristikum der Reiseliteratur und folgt in ihrer Publikation gängigen Literarisierungsmustern. Ein Blick hinter den edierten Text auf die Originalmanuskripte lohnt sich von daher aus mehreren Gründen. Zum einen legt er die Methodik des Herausgebers offen, der das autobiographische Selbstbild seines engen Freundes fortschreiben und zugleich durch seine eigene Perspektive präsentieren möchte. Dabei verfolgt Hitzig ebenso das Interesse, durch seine Redaktion nicht nur einen durch seine

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Sicht gefilterten, sondern auch einen für den Erfolg beim Publikum geglätteten Text zu produzieren, der etwa problematische Konflikte zwischen der Schiffsbesatzung und Chamisso ebenso ausspart wie womöglich sperrig zu lesende naturwissenschaftliche Spezialergebnisse oder allzu private Referenzen des Weltreisenden an sein Kontaktnetzwerk in Berlin. Zum anderen eröffnet sich darüber hinaus ein „kompletterer“ Zugang zu Chamissos allgemeiner schriftstellerischer Aufarbeitung seiner Forschungsexpedition. Ausschließlich über die Originalmanuskripte zeigen sich in vollem Ausmaß die Widersprüche und Inkonsistenzen zu dem autobiographischen Bild, das Chamisso von sich selbst im Tagebuch und verwandten Schriften konstruiert, zum Beispiel in seinem sozialen Verhältnis zu den Schiffskollegen Kotzebue, Wormskjold und Eschscholtz; einzig über die Briefe selbst lässt sich ableiten, wie genau der Autor von Peter Schlemihls wundersame Geschichte auch seine naturwissenschaftlichen Texte sorgfältig auf Grundlage seiner ersten Notizen umstrukturiert, durch Einarbeitung von weiteren Materialien und Forschungsliteratur ergänzt sowie durch vielfältige Änderungen im Wortlaut weiter ausformuliert. Zudem bietet gerade die ungeschliffene, einem schriftstellerischen Bewusstseinsstrom gleichende und stilistisch häufig sehr eigenwillige Form vieler Briefe einen wesentlich unmittelbareren Einblick in die Gedanken- und Schreibwelt Chamissos als ihre stark bearbeitete Gestalt in Hitzigs Edition. Die Bemerkungen und Ansichten, das Tagebuch und auch Leben und Briefe bieten somit keineswegs einen Zugriff auf den „gesamten“ Weltreisenden Chamisso, der erst durch eine verlässliche Edition und Interpretation seiner Briefe, Tagebücher und sonstigen Nachlassmaterialien auch in Zukunft aufs Neue zu entdecken bleibt.

Abbildung Brief von Adelbert von Chamisso an Julius Eduard Hitzig, aus Teneriffa 1815, Freies Deutsches Hochstift, Hs-3323.

Ungedruckte Quellen Chamisso, Adelbert von: Nachlass Adelbert von Chamisso, Freies Deutsches Hochstift Frankfurt/Main. o. J.

,Rezensiert und zurechtgeknetet.‘ Chamissos Briefe von seiner Weltreise

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„Das ist Natur!“ – Adelbert von Chamissos Bildkritik an Ludwig Choris’ Voyage pittoresque zwischen ästhetischem und wissenschaftlichem Anspruch

Ludwig Choris’ Werk Voyage pittoresque autour du monde wird vielfach zur Illustration von Chamissos zwischen 1815 und 1818 unternommener Weltreise herangezogen und gilt innerhalb der historischen Kulturanthropologie als herausragendes historisches Dokument der Überlieferung indigener Kulturen des pazifischen Raums.1 Sein Wert als ein ausgezeichnetes Beispiel einer Synthese von Naturwissenschaft und künstlerischer Darstellung ist jedoch bislang nicht ausreichend erkundet. Obgleich bekannt ist, dass Adelbert von Chamisso eigene Texte und Bildvorlagen zu diesem Werk beigesteuert hat, ist erst durch einen nun identifizierten Briefentwurf Chamissos an Choris vom 7. März 1821 ersichtlich, welchen großen Einfluss Chamisso auf die Konzeption und die Darstellungsweise dieses Reisewerkes nahm und wie er Choris in Fragen der ästhetischen Umsetzung der lithographierten naturkundlichen Objekte, der kulturellen Zeugnisse, der Landschaftsdarstellungen und der künstlerischen Umsetzung der Porträts beraten hat.2 Ebenso ungefähr ist auch die Beratungs1 Choris 1820–22. Das Werk wurde in 23 Einzellieferungen ausgegeben. Ein zugänglicher und mit einer Einleitung versehener Neuabdruck dieses Werks, leider kein Faksimile (die Lithographien wurden gegenüber dem Original durch Bearbeitung verändert), wurde von St¦phane Martin 2008 vorgelegt. Neben der vollständigen Abbildung aller Lithographien, Chamisso 2012, ist Choris’ gesamtes Reisewerk u. a. durch ECHO – Cultural Heritage des Max Planck Institute for the History of Science der Wissenschaft zugänglich gemacht worden (http:// echo.mpiwg-berlin.mpg.de/MPIWG:Y4S7TG6X). – Die Erforschung von Ludwig Choris’ Leben und künstlerischem Wirken wurde durch Nikolaus Rudolf Schweizer wieder angeregt, der mit der Transkription des Reisejournals von Choris eine weitere Quelle der Expeditionsreise der Rurik publiziert hat (Journal des Malers Ludwig York Choris 1999). Vgl. zum Nachlass naturkundlicher Objekte von Ludwig Choris Hamy 1906, die Darstellung von Choris als einem ethnographischen Künstler mit der Transkription zweier Briefe an Chamisso von Liebersohn 1998, sowie die Würdigungen von Schweizer und Renn im Ausstellungsband Mit den Augen des Fremden 2004. Schweizer hebt heraus, dass insbesondere die Porträts des Königs Tamm¦amea (Kamehameha I., der Große) für die nationale Geschichte Hawaiis bis heute sehr bedeutsam seien. Das originale Aquarell, das Kamehameha in der Uniform eines englischen Offiziers zeigt, ist im Besitz des Bernice Pauahi Bishop Museum, Hawaii. 2 SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 18, Nr. 2b (vgl. Abbildung 1 und die Transkription im Anhang).

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tätigkeit Alexander von Humboldts an der spezifischen Umsetzung und Auswahl der Abbildungen und Texte geblieben, die anhand der Briefe von Choris an Chamisso in einigen Details rekonstruiert werden kann.

Abb. 1: Adelbert von Chamissos Briefentwurf an Ludwig Choris vom 7. März 1821, SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso: K. 18, Nr. 2b, Blatt 2v [Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin].

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Durch die jüngst abgeschlossene, archivalische und wissenschaftliche Erschließung des Nachlasses Adelbert von Chamissos können eine Vielzahl neuer Aspekte von Chamissos Werk neu befragt und erstmals erforscht werden.3 Der hier vorgestellte Briefentwurf von Adelbert von Chamisso an Ludwig Choris, der sich in seinem Nachlass in einem ungeordneten Konvolut von Materialien zum Thema Weltreise aufgefunden hat und nun unter den Briefen Chamissos aufbewahrt wird, enthält bislang gänzlich unbekannte genrebezogene ästhetische Überlegungen von Chamisso. In ihnen wird die Entstehung von Choris’ Werk im Spiegel von Chamissos Konzept ästhetisierender Naturdarstellung reflektiert. Chamissos ästhetische Einsichten zu Choris’ Lithographien bewerten in differenzierter Weise das Verhältnis von Text und Bild, die einzelnen Bildgenre in Bezug auf die dargestellten Inhalte in ihrer fachwissenschaftlichen und ästhetischen Qualität und reflektieren neben der rezeptionsästhetischen Wirkung der Einzelbilder die gegenseitigen Vorzüge bei der Gegenstandsauswahl literarischer und bildnerischer Darstellung. Damit ist dieser Briefentwurf in der bislang bekannten Überlieferung ein in seinem Aspektreichtum singuläres Zeugnis zu einer konzeptionellen Beziehung von Naturwissenschaft und Ästhetik, die Chamisso für die bildnerische Darstellung forciert eingefordert, für seine naturwissenschaftliche Arbeitspraxis aber strikt abgelehnt hat. Der überlieferte Text ist ebenfalls von großem Wert für eine Verortung von Chamissos Poetik ab 1821, dem Jahr der neu einsetzenden lyrischen Produktion Chamissos, das ihn als informierten Ästhetiker in der Gemengelage ästhetischer Epochenströme und im Kontext der Einteilung der Künste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt.4 Chamisso äußert seine Bildkritik im Horizont einer Ästhetik des Pittoresken, die in der ästhetischen Theorie der Romantik einen neuen Stellenwert errungen hatte.5 Pittoreske Darstellungen waren um 1820 ein bereits etabliertes Genre von Reisewerken, das sich auf dem Buchmarkt durch malerische Ansichten außereuropäischer, aber auch europäischer Landschaften, Städtebilder und kultureller Lebensweisen und Traditionen durchsetzen konnte. Sein Aufschwung begann bereits Mitte des 18. Jahrhunderts durch eine meist antikisierende Darstellung außereuropäischer Kulturen, die in idyllischen Szenen, ungewöhnlichen Naturund Kulturformationen wie Vulkanen und Gebirgen, Felslandschaften, Ruinen, Wasserfällen, aber auch durch die malerische Rahmung eines Landschaftsbildes 3 Vgl. die Kurzdarstellung dieses durch die Robert Bosch Stiftung geförderten Erschließungsund Digitalisierungsprojekts unter http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/ abteilungen/handschriften/aufgaben-profil/projekte/nachlaesse-und-autographen/nachlassadelbert-von-chamisso/. 4 Vgl. zum lyrischen Neubeginn Chamissos im Jahr 1821 Hoffmann 1976 und 2015. 5 Vgl. zur Konzeptgeschichte des Pittoresken die Gesamtdarstellung von Wolfzettel 2001, S. 760–790.

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durch antikisierende, biblische oder idyllische Staffage einen Blick in ferne Gegenden ermöglichte. Unstrittig ist in der Forschung, dass die pittoreske Darstellung, die vornehmlich Landschaften und Landschaftskulturen anbot, sich produktionsästhetisch einer „Verstehensdisposition“ verdankt: Die Wahrnehmung ordnet hierbei die Landschaften unter einem ästhetischen, meist historisierenden Blickwinkel ein, so dass das Dargestellte als malerischer Eindruck eines Erinnerungsbildes entworfen wird.6 Damit einher geht eine Produktionsästhetik, die in den Modi des Erhabenen, des Schönen und des Charakteristischen die Landschaften als subjektiv gefärbte Empfindungsbilder hervorbringt, die der Selbstvergewisserung der subjektiven Identität des Betrachters dienen. In zunehmendem Maße werden in der Tradition pittoresker Darstellungen diese ästhetischen Qualitäten den Natur- und Kulturgegenständen nicht mehr appliziert, sondern sie selbst werden als Gewährsformen dieser Qualitäten verstanden und herangezogen.7 In diesem Sinne hat schon Eckhard Lobsien resümiert, dass „das Pittoreske keine Wahrnehmungsqualität, sondern ein Weltverhältnis“ beschreibe.8 In diesem wird die Natur in der Art subjektiv gestimmter und pointiert gewählter Ansichten zu einem Erfahrungsraum des eigenen kulturellen Standorts. Vor allem in ihrer Trivialisierung in Reisewerken außereuropäischer Kulturen dient die pittoreske Abbildung von Gesellschaftsszenen und Landschaftscharakteristiken der Vergewisserung einer scheinbar echten Natürlichkeit, die in Stellung gebracht wird gegen eine als deviant empfundene anthropologische Existenz in den modernen Gesellschaften.9 In der Rezeptionsästhetik der Romantik wird das Malerische mit dem Erhabenen verschwistert, die Abbildungen subjektiver Ästhetik vermitteln Erlebnisse der Überwältigung, der stimmungsvollen Reflexion, des Genießens aus der Ferne.10 In der Diskussion um die Wiedergabe naturkundlicher Gegenstände entstand im 19. Jahrhundert eine in unterschiedlichen Konzepten modulierte Spannung zwischen Detailtreue in der Typisierung einzelner Spezies und ihren unsichtbaren oder wenig auffälligen Eigenheiten wie etwa der Gliederung eines Blattes oder einer Durchsicht auf den Organaufbau und ihrer Ästhetisierung, etwa durch Symmetrie, Kontrastierung oder Betonung von Umriss und Strukturen, und zwischen der Situierung im Auffindeort und seiner Darstellung in Ansichten, die den Erfordernissen des malerischen Bildgenres genügen sollten. Eine zusätzliche komplexitätssteigernde Komponente ergab sich aus der Forderung nach einem naturgeschichtlichen und kulturvergleichenden, also einem 6 Vgl. den Forschungsüberblick von Korte 1994, S. 255–265, hier S. 255. 7 Wolfzettel 2001, S. 770. Vgl. für eine solche Umsetzung bei Alexander von Humboldt Hey’l 2007, S. 226–238. 8 Lobsien 1981, S. 129. 9 Wolfzettel 2001, S. 769f. 10 Vgl. Wolfzettel 2001, S. 769 und 776–780.

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den eigenen und fremden Kulturraum mitreflektierenden historisierenden Blick auf die Einzeldarstellungen, die auf ein Konzept ,wahrhafter‘ Natur hin befragt wurden. Insbesondere die Porträts dienten vielfach einer typisierenden Darstellung, die auf physiognomische Eigenheiten und Kulturpraktiken einer indigenen Gruppe abzielte und als Informationsquelle für charakterliche Eigenheiten unter der Einwirkung verschiedener Klimata und Regierungsformen herangezogen wurden – wobei hierbei die Theorie häufig den Blick verstellte bis hin zur Etablierung phrenologischer Rassentheorien, wie sie Franz Joseph Gall mitbegründet hat.11 Umgekehrt wurden auch Abbildungen individueller Porträts konzipiert, die über Topoi der Antike versuchten, die kulturelle Eigenart als gleichrangig, wenn nicht gar als anthropologisch überlegen im Vergleich mit der europäischen Kultur hervorzuheben. Durch die Porträtästhetik der Romantik, die Ludwig Choris ebenso wie Chamisso präferierte, erfuhren die Porträts zunehmend einen künstlerischen Wert, der mit einer naturgeschichtlichen Darstellungstheorie nicht mehr vereinbar war. Chamissos ästhetische Überlegungen können aufgrund des rudimentären Charakters eines einzigen Briefentwurfs nicht in all diesen Aspekten ausgeleuchtet werden; in der Summe des überlieferten Textentwurfs (vgl. Anhang) ergibt sich dennoch eine differenzierte ästhetische Position romantischer und klassizistischer Prägung. Es ist ein Glücksfall der Überlieferungsgeschichte, dass uns mit diesem Entwurf vom 7. März 1821 gerade die erste kritische Reaktion Chamissos auf die erste Lieferung von Choris Reisewerk vorliegt, die neben der Vielfalt der in ihr besprochenen Bildgenre auch auf grundsätzliche Fragen der Gestaltung und auf die Text-Bild-Relation des Reisebuchs eingeht.12 Chamissos Briefentwurf ist das einzige erhaltene Dokument Chamissos aus einer umfangreichen Korrespondenz mit dem vierzehn Jahre jüngeren Ludwig Choris, die 1820 begonnen wurde, nachdem sich Choris in Paris niedergelassen hatte. Hier setzte er an der Acad¦mie des beaux arts unter der Leitung der Maler Jean-Baptiste Regnault und FranÅois-Pascal Simon G¦rard seine künstlerische Ausbildung fort, um seine Kenntnisse in der Landschafts- und Historienmalerei sowie der Porträtkunst zu vertiefen. Zugleich ließ er sich in die Technik des Steindruckverfahrens unterweisen, die durch das noch junge Verfahren auf der Basis der Abstoßung von Fett und Wasser relativ hohe Druckauflagen farbiger 11 Vgl. den Überblick über eine „Phrenologie des Fremden“ von Dietz 2007. 12 Die Datierungsmöglichkeit ergibt sich aus Chamissos Briefjournal von 1821–25. Hier sind zwei eingehende Briefe von Ludwig Choris Ende Februar sowie am 1. März 1821 vermerkt, der zweite mit dem Zusatz „und sein Werk“, sowie ein abgesendeter Brief an Choris am 7. März 1821. Vgl. SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 4. Der Briefentwurf selbst beginnt mit den Worten: „Und auch am ersten, eine Stunde Später, Ihre voyages pittoresques [sic!]! Herzlichen Dank! Herzlichen Dank, lieber Choris […]“ (vgl. Anhang). Ludwig Choris hat am 26. März 1821 auf diesen Brief geantwortet.

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Werke gestattete.13 Choris war in Charkow und St. Petersburg zum Porträtzeichner ausgebildet worden und hatte schon vor der Rurikexpedition Erfahrungen als Expeditionszeichner auf der Kaukasuserkundung des Botanikers Friedrich August Marschall von Bieberstein gesammelt. In seinem auf der gemeinsamen Weltreise geführten Reisejournal schätzt er Chamissos künstlerische Kenntnisse, die zu einem Austausch über ästhetische Verfahren, Kunstwerke und die eigenen Zeichnungen geführt haben.14 Überliefert sind im Nachlass Adelbert von Chamissos 47 Briefe von Choris zwischen dem 3. April 1820 und dem 24. November 1827, in denen dieser Dialog über Kunst und im Speziellen über die künstlerischen Verfahren der Weltreisezeugnisse geführt wird.15 Die geringe Aufmerksamkeit auf die Werke von Choris ist sicher teilweise seiner kurzen Wirkungszeit zuzuschreiben; sein künstlerisches Profil wurde durch seine Ermordung in Mexiko im März 1828 abgeschnitten.16 Choris schrieb meist aus Paris, aber auch aus London, Frankfurt am Main, Brest und zuletzt aus Guadeloupe, wohin er im Auftrag des Pariser Jardin du Roi und durch die Protektion Alexander von Humboldts gereist war, mit dem Plan, über mehrere Jahre in Mexiko vorwiegend naturkundliche Objekte zu sammeln und zu zeichnen.17 Der überwiegende Teil dieser Briefe von 13 Neben diesen Lithographien im Flachdruckverfahren hat Choris jedoch auch einige Kupferstiche in sein Werk eingefügt. Vgl. seine Auskunft im Brief vom 28. November–3. Dezember 1822. Die Voyage pittoresque wurde sowohl in überwiegend schwarz-weißen wie vollständig illuminierten Exemplaren ausgegeben. Hatte Choris zunächst noch Mitarbeiter für die Einfärbung herangezogen, so übernahm er zunehmend die gesamte Arbeit und kam damit einer Kritik Chamissos entgegen. Das heute nur noch vereinzelt und oftmals nicht vollständig überlieferte Werk ist bislang noch nicht auf die Varianten der abgebildeten Lithographien untersucht worden, die laut Choris’ Auskunft jedoch bei mehreren Abbildungen bestehen. Eine englischsprachige Ausgabe dieses Werkes, die 1823 nachgefragt wurde, kam nicht mehr zustande, weil die Steinplatten zwischenzeitlich abgeschliffen worden waren, vgl. den Brief von Choris vom 28. Juli [1823] nach seiner Rückkehr aus London. – Vgl. zur Geschichte des Steindrucks Zeidler 1994, bes. S. 105ff. 14 Vgl. Schweizer 1999. 15 SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 26, Nr. 51 und Nr. 52. Die brieflichen Zeugnisse von Choris enthalten zahlreiche bislang unbekannte Informationen über Choris’ Werdegang, so über seine Künstlerreise nach England, seine Arbeiten für G¦rard in Marseille. Er reiste als Assistent seines Lehrers G¦rard 1826 nach Reims, um eine Zeichnung der Krönung Karls X. zu entwerfen. Er berichtete von der Ermutigung Humboldts zu einer Fortsetzung seines Reisewerkes, den Vues et paysages des r¦gions ¦quinoxiales (1826), und verfolgte den Plan, die Porträtzeichnungen charakteristischer Volksgruppen seiner ersten Kaukasusreise herauszugeben (postum erschienen: Recueil de tÞtes et de costumes des habitans de la Russie avec des vues du Mont Caucase et de ses environs, 1824). Während Chamissos Aufenthalt von Oktober bis Dezember 1825 in Paris trafen sie sich mehrfach. 16 Vgl. Hamys Bericht über die Nachrichten von dem Überfall auf Choris, Hamy 1907, S. 356f. 17 Vgl. Hamy 1907, der Humboldts Empfehlung für Choris wiedergibt, hier S. 355: „C’est un devoir bien doux — remplir pour moi, que de rendre — M. Choris le t¦moignage du talent, de l’immense activit¦, d’une grande aptitude — faire des collections d’histoire naturelle et du plus noble caractÀre.“

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Choris, 35 Briefe, konzentriert sich thematisch auf die Entstehung und die Fortschritte des 23 Lieferungen umfassenden lithographischen Werks bis 1822. Die Dichte der Korrespondenz zeigt, wie interessiert beide an dieser Zusammenarbeit waren, die aufgrund der Ferne auf den schriftlichen Dialog und einige Beiträge Chamissos zum Reisewerk reduziert bleiben musste.18 Chamisso hat in diesem Zeitraum mindestens fünfzwanzig Briefe an Choris gesendet, wie durch sein Briefjournal 1821–25 gut dokumentiert ist.19 Im Auftakt der Korrespondenz berichtete Choris von seiner Rückkehr und beruflichen Perspektivlosigkeit in St. Petersburg, von seiner Übersiedelung nach Paris im August 1819 und seiner erfolgreichen Aufnahme an der Acad¦mie des Beaux-Arts und die Arbeiten für seine künstlerischen Lehrer. Auch seine Kontakte zur gelehrten Welt erwähnte er, die entscheidenden Einfluss auf Anlage und Durchführung seines bildnerischen Werks haben werden. Choris hatte ein sicheres Gespür für die Vorteile solcher Förderung, da er sich selbst noch am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn sah, und versuchte auch durch sie, sich die Wertschätzung und produktive Kritik Chamissos zu erhalten. Allen voran konnte Choris einen Kontakt zu Alexander von Humboldt aufbauen, über den er die Teilnahme von Humboldts Mitarbeiter, dem Naturforscher Georges Cuvier, Chamissos Forscherkollegen, dem Malakologen Achille Valenciennes und dem Phrenologen Franz Joseph Gall gewann, sowie dem auf dem Titelblatt ungenannten Botaniker Karl Sigismund Kunth, der jahrelang die Sammlungen Humboldts ausgewertet hatte, bevor er 1820 an die Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität und als Vizedirektor des Königlich Botanischen Gartens berufen wurde. Bereits der Titel von Choris’ Werk Voyage pittoresque autour du monde, avec des portraits de sauvages d’Am¦rique, d’Asie, d’Afrique, et des „les du Grand Oc¦an, des paysages, des vues maritimes, et plusieurs objets d’histoire naturelle; accompagn¦ de descriptions par M. le Baron Cuvier, et M. A. de Chamisso, et d’observations sur les cr–nes humains, par M. le Docteur Gall20 kündigte eine Werkanlage an, die aus dem Verbund verschiedener Expertisen bestand und eine 18 Die Bildvorlagen Chamissos betreffen insgesamt sechs Lithographien. Seine Texte zu diesem Werk finden sich in Ermangelung einer vollständigen Werkausgabe seiner naturwissenschaftlichen Schriften nur vereinzelt wieder abgedruckt. 19 Dieses umfangreichste Briefjournal aus dem Nachlass Chamissos verzeichnet neben der nicht allzu genauen Eintragung der eingehenden und abgesendeten Korrespondenz Chamissos auch eine Fülle detaillierter Informationen über Briefbeilagen und über die Wahl des Brieftransports. Es bietet damit für fünf sehr produktionsreiche Jahre aus Chamissos Leben bislang unbeachtete Informationen (SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 4). Vgl. die Skizze eines Korrespondenzmonats von Verf. 2012. 20 Choris 1820–22. Der Titel lautet in der deutschen Übersetzung: ,Malerische Reise um die Welt, mit Porträts der Wilden Amerikas, Asiens, Afrikas und der Inseln des Pazifischen Ozeans, Landschaften, Seeblicke und mehreren naturhistorischen Gegenständen, begleitet von Beschreibungen von Herrn Baron Cuvier, und Herrn A. von Chamisso, und von Beobachtungen über die menschlichen Schädel von Herrn Doktor Gall‘, Übersetzung M.S.

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für die wissenschaftliche Welt relevante Reisebeschreibung beabsichtigte.21 Dabei ist von Interesse für die Einschätzung des Werkes, dass sich dieser Titel dem Einfluss Humboldts verdankt, wie Choris am 9. Dezember 1820 berichtet.22 Während die Bildvorlagen, die Chamisso zu diesem Werk beitrug, und sämtliche Lithographien dieses Werkes durch eine Neupublikation wieder leicht zugänglich gemacht wurden,23 blieben seine Textbeiträge überwiegend unbeachtet, wie auch die wissenschaftlichen Texte der genannten Autoren sowie der erzählende Haupttext von Choris als genuiner Reisebericht der Expedition von Otto von Kotzebue in ihrer Komposition noch unerforscht sind.24 Chamisso lieferte in Aquarellen die Bildvorlagen und Texte für „Vers marins, Pl. I und II“, für „Coqueiro du Br¦sil, Pl. V“ und „Spathe du coqueiro du Br¦sil, Pl. VI“, für „Fucus antarctique, Pl. VII“, wobei der jeweils mitgegebene Untertitel „Dessin d’aprÀs nature de Adelbert de Chamisso“ nicht nur Chamisso als einen Künstler autorisiert, sondern sein bildnerisches Verfahren als eines ausweist, das Naturbeobachtung und Exemplarität des Naturgegenstandes für sich behauptet.25 Eine erzählende Darstellung über seine Exkursion zum „Volcan de Taal“ entlieh Chamisso seinem Manuskript der Bemerkungen und Ansichten zusammen mit einer weiteren Bildvorlage26, sowie den Aufsatz „Notices sur les „les de corail du 21 Dies umso mehr, da gerade in den Gelehrtenkreisen von Paris und auch von Humboldt durch die Verzögerung des Expeditionsberichtes von Otto von Kotzebue befürchtet wurde, dass Choris’ Werk die einzige Rezeptionsquelle dieser Expedition bleiben könnte. Vgl. Choris’ Brief vom 26. März 1821. – Nach Erscheinen der russischen Ausgabe von Kotzebues Reisebericht hatte sich Chamisso bemüht, seinen Bericht Bemerkungen und Ansichten in französischer Übersetzung mit Bildbeilagen von Choris zu publizieren – ein Plan, den laut Choris Humboldt initiierte –, was ihm jedoch durch Kotzebue, aber auch durch den Expeditionsmagnaten Rumjanceff untersagt blieb, die die Rechte an seinem Text besaßen. Zu den Bedingungen, unter denen die Naturforscher dieser Expedition Russlands forschen konnten vgl. Görbert 2012; einen Überblick über Expeditionsbedingungen und -techniken seit der Aufklärung gibt Despoix 2007. 22 Ursprünglich plante Choris es als Collection d’Estampes. Vgl. SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 26, Nr. 51. Auch der Titel seines zweiten lithographischen Werkes geht auf Humboldt zurück und steht deshalb in Beziehung zur Konzeption „Ansichten“ genannter Publikationen Humboldts; Choris hat infolgedessen diesem das Werk gewidmet. 23 Chamisso 2012. 24 Texte der anderen Autoren sind von Karl Sigismund Kunth: „Sur le Coqueiro de SainteCatherine“, Franz Joseph Gall: „Cr–ne de femme trouv¦ dans le Golfe de Kotzebue, Pl. VI & VII“, eine Mitarbeit von George Baron de Cuvier an „L’ours gris de l’Am¦rique septentrionale“ ist dokumentiert und an „Le macareux hupp¦“ wahrscheinlich. Sicher schrieb er den Kommentar „Chapeau de bois sur lequel sont peints divers animaux marins“. Achille Valenciennes trug den Text „Sur le genre Guillemot“ bei. Vermutlich hat der Übersetzer Jean Baptist Beno„t EyriÀs die deutschen Manuskripttexte von Choris stilistisch bearbeitet (Vgl. Schweizer 1999, S. 14). 25 Diese Untertitelung fehlt bei allen anderen Lithographien. 26 Aufgrund einer verzögerten Briefzustellung hat Chamisso auf die Bitte von Choris ein zweites Aquarell dieses Motivs begonnen, das sich noch im Nachlass erhalten hat (Abb. 12).

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Grand Oc¦an“, der auf Anregung Humboldts in Choris’ Reisewerk aufgenommen wurde.27 Aufgrund der Überlieferungslage beschränke ich mich allein auf eine Darstellung der ästhetischen Kritik Chamissos an der ersten Lieferung der Voyage pittoresque, die thematisch die Reiseabschnitte Kalifornien und Sandwich-Inseln umspannt,28 sowie auf die Überlegungen, die Chamisso zum Verhältnis von Text und Bild sowie zur Textsortenauswahl in seinem Briefentwurf anstellt. Als „alter strenger wohlmeinender Freund“ nahm Chamisso die Rolle des in der Ästhetik bewanderten Kritikers ein, die Choris ihm zugedacht hatte.29 Immer wieder forderte Choris Chamisso zu ernsthafter und nicht beschönigender Kritik auf. Selbst nach der erfolgreichen Werkpublikation beachtete Choris noch Kritikpunkte, die Chamisso sachlich detailliert, aber zuweilen auch humorvoll geäußert hatte. Aus London, wo er Gemälde des von Chamisso geschätzten Landschaftsmalers Claude Lorrain gesehen und sich mit dem Porträtmaler Sir Thomas Lawrence besprochen hatte, erinnerte Choris angesichts der Besichtigung englischer Landschaften im Somerset House daran, wie Chamisso seinerzeit ,die Güte gehabt habe, seine Landschaften mit Kräuteromeletts zu vergleichen‘.30 Choris ließ sich weiterhin von G¦rard in der „lieblichen Behandlung“ von Porträts schulen, d. h. einer am Pittoresken und Romantischen orientierten Ästhetik.31 Aus dem Dialog mit Chamisso wird seine Kenntnis bildgenrespezifischer und bildhauerischer ästhetischer Verfahren deutlich, die er möglichst an Originalen studierte, so erwähnte er Gemälde von Canova in Paris und von Claude Lorrain und Reinhold in London, er besuchte Theater und Ballett, sah Skulpturen in London und Marseille, plante zusammen mit seinem Lehrer G¦rard das Krönungsgemälde für Karls X. in Reims.32 Seiner Voyage 27 Vgl. die Briefe von Ludwig Choris an Adelbert von Chamisso vom 23. November und 9. Dezember 1820 (SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 26, Nr. 51). Am 26. Dezember 1820 erhielt Choris diesen Aufsatz Chamissos zusammen mit einer Ausgabe des Peter Schlemihl (vgl. ebd., den Brief vom 8. Februar 1821). Der Aufsatz wurde von Choris an Conrad MalteBrun weitergereicht und wurde zuerst in dessen Zeitschrift Nouvelles Annales des Voyages, de la G¦ographie et de l’histoire VIII (1821) publiziert. 28 Es handelt sich um die Kapitel „Port San Francisco & ses habitants“ und „£les Sandwich“, die laut Choris’ brieflicher Auskunft im Dezember 1820 publiziert wurden. Vgl. den Brief vom 15. Dezember 1820 (SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 26, Nr. 51. 29 SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 18, Nr. 2b, Blatt 1r. Im Folgenden wird bei Zitaten die Seitenangabe im Text eingefügt. Für den vollständigen Wortlaut des Textes und die Transkriptionsrichtlinien vgl. den Anhang. 30 Brief vom 25. Mai–26. Mai 1823. Im Original: „– quelques paysages qui ressemblaient beaucoup — une ommelette [sic!] aux fins herbes – comme vous aviez la bont¦ de comparer les miens [sic!]! –“ 31 Vgl. im Brief an Chamisso vom 28. November–3. Dezember 1822. 32 FranÅois G¦rard: Couronnement de Charles X (1827), heute im Mus¦e des beaux-arts de Chartres.

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pittoresque ließ er denn auch zwei weitere lithographische Reisebücher folgen, eine beabsichtigte pittoreske Darstellung der Themse blieb eine Idee. Zugleich wuchs in ihm durch die Auseinandersetzung mit den Darstellungsforderungen seiner Kontakte mit Wissenschaftlern der Wunsch, sich durch den Besuch eines naturkundlichen Kurses bei Kunth, der ihm diese Ausbildung vorgeschlagen habe, einen Blick für die Organisationsstrukturen natürlicher Phänomene zu erarbeiten.33 Chamissos erste Reaktion auf das lithographische Werk würdigte Choris als einen Künstler pittoresker Darstellung: „Ich erkläre es für unbedenklich. für ein sehr schönes, in vielfacher Beziehung nützliches, Liebhabern Künstlern gelehrten gleich erwünschtes Werk, ein Werk wie welches gefehlt hat, und wofür ihnen Lob~und-Dank gebührt.“ (1r) Die doppelte Zielsetzung einer Komposition von Abbildungen, die sowohl naturwissenschaftlich präzise sei wie sie auch künstlerisch die Ästhetik des Pittoresken erfüllen müsse, schien ihm zunächst gegeben zu sein. Seine Kritik richtete sich im Folgenden auf die konkreten Schwächen bei der ästhetischen Umsetzung der naturkundlichen und kulturellen Darstellung. Chamissos Lob wie seine Kritik gehen dabei von einem Begriff einer ,wahren‘ Natur aus, und so von einem Projektionsbegriff, dessen Voraussetzungen zu einer Vervielfachung von Bildgenre und Darstellungsmodi in der Ästhetikgeschichte geführt hatte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren es solche Imaginationen einer eigentlicheren Natur, die in zeitdiagnostischen, geschichtsphilosophischen, ästhetischen wie wissenschaftlichen Programmen vielgestaltig aufgerufen wurden. Aus der Perspektive auf die Konzeptualisierungen von Natur und den Paradigmen ihrer Darstellung wurde die allmähliche Differenzierung von Kunst und Naturwissenschaft einerseits angestoßen, vielfach aber auch wieder rückgebunden. Chamissos vielzitiertes Diktum, demnach er stets Wissenschaft und Kunst getrennt habe und so ihre Prämissen einer an der empirischen Beobachtung orientierten Wissenschaft einerseits und einer an ästhetische Operationen und an die Einbildungskraft adressierten Kunst andererseits beachtet habe, ist oft herangezogen worden, um den Ertrag seiner wissenschaftlichen Arbeiten gegenüber einer weit verbreiteten naturphilosophischen Naturkunde abzugrenzen: „Ich habe wohl in meinem Leben Märchen geschrieben, aber ich hüte mich, in der Wissenschaft die Phantasie über das Wahrgenommene hinaus schweifen zu lassen.“34 In seiner kritischen Bespre33 Vgl. im Brief an Chamisso vom 28. November–3. Dezember 1822. 34 Chamisso 1975, Bd. 2: Reise um die Welt. 1. Teil: Tagebuch, S. 243. Er kommentierte hier seine Entdeckung des Generationswechsels einiger Salpenarten. Das oft zitierte Diktum Chamissos ist daher nicht auf jeden Arbeitsbereich Chamissos anzuwenden. Der Kontext legt nahe, dass Chamisso sich hier um eine Abgrenzung gegenüber den Freiheiten naturphilosophischer Spekulationen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemühte. Denn natur-

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chung der Naturdarstellungen von Ludwig Choris leugnete Chamisso diese Differenzierung von Naturwissenschaft und Kunst keineswegs. Und doch scheint in dem Begriff des ,Wahrgenommenen‘ mehr als nur empirische Naturbeobachtung angesprochen. So zeigte sich Chamisso begeistert von der Ansicht auf San Francisco (Abb. 2), die sich eigentlich für eine malerische Umsetzung nicht angeboten habe: Bravo! Aus einer schlechten gGegend ein charmantes Bild – das ist Natur! das ist Californien! der Licht=blik in der Mitte, die Schatten zu beiden Seiten, die das Bild zusammen halten erinnern mich an eine gleich einfache Landschaft von Rimbrandt [sic!]! die Staffage hübsch und wahr. – Bravo! (1r)

Abb. 2: Lithographie von Ludwig Choris. Ó Abbildung aus Chamisso (2012) [Photographie: Anja Stimberg].

Diese Diktion betrifft jedoch vorrangig die Landschaftsdarstellung und nicht vereinzelte naturkundliche Motive. Der Verweis auf Rembrandt, der Vorbild für den blickleitenden Lichteffekt des Chiaroscuro und die Beschreibung von Rahphilosophisch gedacht wurde etwa von einigen seiner Korrespondenzpartnern, so von dem Mesmeristen und früheren Polarsternverbündeten David Ferdinand Koreff, dem von Goethes Metamorphosentheorie affizierten Naturforscher Nees von Esenbeck, aber auch von seinem Freund und Expeditionskollegen Johann Friedrich Eschscholtz, der die Erkundung der Salpen entscheidend begleitet hatte und doch eine auf physiognomische Analogien setzende Tierordnung vorlegte. Eschscholtz hatte diese Schrift (Ideen zur Aneinanderreihung der rückgrathigen Thiere, auf vergleichende Anatomie gegründet, 1819) an Chamisso gesendet, war aber von Chamissos Reaktion entgeistert, der ihm mit einer „unchristlichen Recension“ geantwortet habe. Vgl. SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 27, Nr. 11, Brief vom 28. Mai [jul.]/9. Juni [greg.]1820–25. Juni [jul.]/6. Juli [greg.]1820, Blatt 8v.

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mung und Staffage nennt Vorzüge, wie die Naturansicht bildnerisch auf ihren Gehalt hin umgesetzt werden kann. Die Natur soll erscheinen, wie sie der Wahrnehmung entspricht, also der subjektiven Ästhetik pittoresker Genre, und nicht, wie sie vorgefunden wurde. Damit legte Chamisso eine Darstellungstheorie zugrunde, die aus dem reflektierten Einsatz ästhetischer Verfahren gerade erst Natur in ,Ansichten‘ hervorbringen wollte, so dass in der Rezeption nicht nur eine Einsicht, sondern auch eine Empfindung für die Natur- und Kulturphänomene entstehen konnte. Im Gegenzug kritisierte Chamisso aber Ungenauigkeit, die auf freie Erfindung oder Unkenntnis zurückgehe, etwa in der Farbgebung, oder bei einer falschen geographischen Situierung und den physiognomischen Kennzeichen von Pflanzen, Tieren und kulturellen Artefakten. So bemängelte er, dass Choris keine Farbtafel bei sich geführt habe, um bei der Ausführung seiner Skizzen und Aquarelle in der Farbwiedergabe sicher sein zu können.35 Choris’ Beispiele unterschiedlicher Volksgruppen erschienen ihm hierdurch für die Kulturanthropologie unzureichend, weil sie künstlerisch zu frei und schlicht generalisierend seien: Eine Bemerkung (ein mal für alle mal), sie haben [sich] die Hautfarbe der verschiedenen Menschen ?rasse, Stämmen und Individuen die wir gesehen bestimmt und fest in [nach] ihren [verschiedenen Mischungen und] Abstufungen [einzuprägen und] aufzubewahren versäumt und können nicht mehr einer foderung genügen [leisten] die der Naturforscher an Sie zu machen berechtigt ist. (1v)

Ebenso rügte Chamisso die Verpflanzung des Baumfarns in ein Bild von San Francisco, wo es nicht vorkomme und zudem nicht so aussehe, wie Choris ihn gezeichnet habe. Er ironisierte die Abbildung eines Beils unter Geräten der Sandwich-Inseln: „X Hübsch. – wo haben sie das Beil her? das ist jetzt über all zu sehen ausgenommen auf den Sandwich inseln?“ (1v) Den von Choris gezeichneten und von Cuvier mit Begleittext als Ursus griseus bestimmten Bär hielt Chamisso für einen Ursus arctos, die Zeichnung von Choris käme dafür aber überhaupt nicht in Frage. Chamissos ästhetisches Konzept teilt sich insbesondere in den Bildbesprechungen mit, in denen er den ästhetischen Eindruck reflektierte. Für den technisch fehlerhaften oder unzulänglichen Einsatz der Farbgebung machte Chamisso immer wieder auch Choris’ Illuminatoren verantwortlich, die im

35 Vgl. 1v. Eine Farbtafel wurde auf Expeditionen mitgeführt, um mit eingetragenen Nummerierungen auf den Zeichnungen einzelne Farbtöne und -differenzierungen festzuhalten. Dieses Verfahren stellte sicher, dass auch die mitgeführten Exponate, die unter den Bedingungen ihrer Aufbewahrung Farbänderungen erlitten, in den Farben ihres lebendigen Zustandes mitgeteilt werden konnten.

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Produktionsprozess des Steindrucks den Farbauftrag vorgenommen hatten.36 Choris hat mehr und mehr auf ihre Hilfe verzichtet und Verbesserungen durchgeführt, die insbesondere die Farbigkeit und die Kontrastierung betrafen. Denn es waren Licht und Sonne der Länder auf dem Gürtel des Äquators, die Chamisso nicht intensiv genug spürbar waren: sie hielten den Betrachter fern, statt ihn in das Geschehen hineinzuziehen. Diese Forderung nach stärkerer Bildwirkung gibt einen Hinweis darauf, dass die Lithographien im Rezipienten einen Eindruck hinterlassen sollen, der die eigene Erfahrung und Begegnung ersetzen könne. Der Rezipient solle den dargestellten Ort in der Anschauung erleben als sei er selbst dort – nur so wäre Natur ins Bild zu bringen. So ist Chamissos Aussage, manches Motiv sei „in Paris ersonnen, gezeichnet und gemacht“ (1v), eine Absage an die künstlerische Umsetzung, die auf das Fehlen von Illusionierung hinweist. Und neben der Unwahrscheinlichkeit der wiedergegebenen Hautfarbe – „schäckig, roth und grün […] ungleich mit farbe überfloßen“ (2r) – und des fehlenden kulturtechnischen Inventars, vermochte in Chamissos Urteil das in der Individualisierung gelungene Bild der Königin Kahoumanu unter einem nordisch-europäischen Himmel keinerlei Wirkung zu erzielen (Abb. 3): „aAber vor allem die Sonne, die Sonne des Wende Kreiße! warum leuchtet und warmet und brennet sie nicht da draußen, damit wir wissen wo wir sind – drin ist lange weile und draußen ist’s kalt.“ (2r) Chamisso ging es offenbar darum, in der Einbildungskraft des Betrachters das Bild entstehen zu lassen, das der erinnerten Ansicht entspricht. Dabei war ihm bewusst, dass diese erinnerte Ansicht eine Wahrnehmung war, deren Perspektivik sich bereits einer verinnerlichten Ansicht verdankte, die die Reisenden in die fernen Kulturen hineintrugen. Schon Georg Forster hatte in seiner Reise um die Welt die mitgebrachte ästhetische Rezeptionshaltung thematisiert, die ein Forschungsreisender nicht ablegen, ein Reiseschriftsteller jedoch durch Textrahmungen idyllischer Verse durchaus apostrophieren könne.37 Die an der Antike orientierte, historisierende Perspektive des Europäers auf die neue Welt war ein Topos, der als Folie brauchbar war und bildlich kommentiert und variiert werden konnte.38 Im Fokus des aufgeklärten Europäers erschienen die nicht aufgeklärten Kulturen als unterschiedliche, noch gegenwärtige Originale einer sogenannten ,kinderähnlichen Natur‘, die mit der untergegangenen Antike keinen Vergleich zu scheuen brauchte. Chamisso stützte sich auf diese Projektion. Die ,schöne Natürlichkeit‘ erfuhr er jedoch im Zeichen des Untergangs, wenn nicht sogar des Verlustes. So hat er sich auch nicht einer Utopie der 36 Eine Übersicht dieser Künstler findet sich in Voyage dans le Pacifique (1998), S. 187. Sie werden aber auch in der Untertitelung der Lithographien aufgeführt. 37 Vgl. Garber 2001. 38 Diese Thematik zwischen Ästhetisierung und Stereotypisierung im Verlauf populärer Reisegenre hat Dürbeck 2007 ausgeleuchtet.

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Abb. 3: Lithographie von Ludwig Choris. Ó Abbildung aus Chamisso (2012) [Photographie: Anja Stimberg].

Wiederherstellung schöner Natürlichkeit angeschlossen. Schon in seinen Bemerkungen und Ansichten (entstanden 1819, gedruckt 1821) verwies er auf die depravierenden Einflüsse der Europäer, durch die die gegenwärtigen fremden Kulturen bereits als historische verstanden werden müssten. Chamisso bestärkte eine Forschungs- und Darstellungsabsicht, die darin bestand, das Verlorene einem historisierenden Blick in Beschreibungen und Bildern erfahrbar zu machen. Der Reisende, so ließe sich formulieren, ist im Zuge dieses Konzepts auch in der neuen Welt ein Kulturanalytiker im Auftrag einer Archäologe der Moderne. Deshalb ist der moderne Rezipient von Reisebildern und Reiseberichten angewiesen auf Darstellungsverfahren, die diese Durchsicht auf eine verlorene Idylle als einem historischen Abschnitt der Menschheitsgeschichte ästhetisch produzieren. Die rein ästhetischen Gründe, die gegen bestimmte Motive sprachen, wogen deshalb schwerer als ungenaue Details. In der Voyage pittoresque sind es daher die Lithographien und nicht die Texte, die durch künstlerische Verfahrensweisen eine Rekonstruktion der Natur hervorbringen sollten, wie sie war. Die ästhetischen Mittel, auf die Chamisso in seiner Kritik hinwies, sind das Idyllische, das Charakteristische und das Erhabene, Schlüsselkonzepte klassizistischer und romantischer Ästhetiken. Insofern

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der Rezipient das gewählte Genre reflektierte, fand er das Dargestellte durch die ausgestellte Künstlichkeit als Verlust markiert. Ohne ästhetische Form schien die Mitteilung ,wahrer‘ Natur nicht möglich. Choris’ Selbsteinschätzung war es, die Natur, wie sie ist, dargestellt zu haben. Der Schwierigkeit der naturkundlichen Gegenstandsdarstellung wusste er sich noch nicht ganz gewachsen, wie aus dem Brief vom 19. Februar 1821 deutlich wird. Dennoch beanspruchte er für sich, durch die ästhetische Behandlung auch hier Naturwahrheit erreicht zu haben und ärgerte sich darüber, dass er in Kotzebues Werkankündigung nicht einmal erwähnt wurde: Aufrichtig gesagt. Es ist nicht hübsch von Kotzebue daran nicht gedacht zu haben. – da überhaupt nie [Textverlust] bis unserer Reise und auf keiner Reise fer[Textverlust] hatt man so viel, und so exacte Sachen abgebil[Textverlust] nie waren die Sachen wahrhaft vorgest[Textverlust] meine Zeichnungen ohne Korrektheit villeicht, stellen die Natur der Länder ziemlich die wir gesehen haben.39

Zwischen ihm und Chamisso wurde denn auch nur die Umsetzung der Gesetzmäßigkeiten dieser ästhetischen Modi diskutiert, während ihr Einsatz unstrittig war. Chamissos Konzept idyllischer Ansichten war sicherlich durch die Ästhetik Schillers beeinflusst, den er als junger Dichter verehrte. Schillers Theorie einer dichterischen Idylle ist eng gebunden an den Begriff des sentimentalischen Dichters, der idyllische Szenerien nur im Modus des Verlustes und der Utopie entwerfen kann. Im Medium des Bildes sind Idyllen pittoresk umzusetzen. Chamisso führte sämtliche Darstellungsverfahren auf, hier an dem stark kritisierten Beispiel der Hafenansicht von Hanarourou (Abb. 4). Verzeihen Sie, lieber Choris, das ist eine sehr unglühkliche gewählte aussicht (vom Schiffe doch?) die uns weder den Riff noch den umfa&ng des Hafvens, noch die volkreiche Stadt, noch den Sonnigen Saum der Insel, noch die formen ihrer grünen Berge mit den Silber laubigen des Massen des lucui Baumes (aAleurites triloba) die sich [darauf] aus zeichnen noch die Characteristischen Vulcanen Crater, (den hinter der Stadt und [den der] das Vorgebürge rechts [bildet]) zu sehen vergönnt – das ist nicht viel. – und wieder ihre Illuminateurs! – wir erhalten dioch noch die Aussicht vom Lande aus, unter den baumen[Palmen] auf die See. – die mir so~wohl gefiel. (2r)

Die hohe Zahl der vermissten Bildinhalte verdeutlicht Chamissos Forderung einer geeigneten Bildkomposition, die die Merkmale der Bildperspektive, der Bildlinien, die die Landschaft strukturieren und ihr den Tiefenblick geben, sowie die für den Ort charakteristischen Bildelemente enthalten, hier der Candlenußbaum, der Inselsaum und die Vulkankrater. Aufschlussreich sind die Adjektive 39 SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 26, Nr. 51, Blatt 11–12, hier 12r. Der Textverlust ist durch ein ausgeschnittenes Siegel verschuldet.

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Abb. 4: Lithographie von Ludwig Choris. Ó Abbildung aus Chamisso (2012) [Photographie: Anja Stimberg].

Abb. 5: Lithographie von Ludwig Choris. Ó Abbildung aus Chamisso (2012) [Photographie: Anja Stimberg].

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aller Gegenstände, die auf eine emotionale Mitteilung durch Farbe, Sinnlichkeit, Struktur und Konkretion abzielen. Eine solche emotionale Wirkung, mit Menschengruppen bei verschiedenen Tätigkeiten in der Abendsonne, fand Chamisso in der Perspektivenumkehr vom Hafen aus, die Choris – vielleicht auf Chamissos Klage hin – seinem Werk in der nächsten Lieferung noch hinzugefügt hat (Abb. 5). Chamisso schätzte, dies wird in seinen weiteren Bildkritiken deutlich, einige Porträts als besonders gelungen ein, weil er sie als charakteristisch bewertete. Das Beispiel des Königs Tamm¦amea (Abb. 7) im Kontrast zu einer Gruppierung von drei Kaliforniern im Schmuck des Tanzes (Abb. 6) kann verdeutlichen, dass Chamisso sich hier auf die ästhetischen Vorgaben des romantischen Porträts bezog. Innerhalb der romantischen Malerei avancierte das Künstlerporträt zum Möglichkeitsraum einer neuen Porträtästhetik, deren Zielsetzung eine Verdichtung des Symbolgehaltes sowie der Charakteristik war.40 Chamisso stellte vor dem Hintergrund dieser Ästhetik in Frage, ob die Abbildung der drei Kalifornier überhaupt Porträts seien: „Köpfe mit Schmuck – ein sehr wohl gelungenes Blatt, – aber sind das auch portraits? – Charackteristisch sind sie nicht [so] wie die andern. Besonders der Pl gegen den Kopf in profil hege ich zweifel.“ (1v) Während die drei Kalifornier in den unterschiedlichen Profilansichten gleichsam einen einzigen Menschen umrunden und der Fokus eindeutig auf Schmuck und Hautbemalung liegt denn drei Individuen vorzustellen, ist die Darstellung von Tamm¦amea auf das Individuelle ausgerichtet. Der ovale Bildausschnitt, die Gestaltung eines Hintergrundes, das eintreffende Licht auf den Gesichtspartien, die Schlichtheit des Mantels führen zu einer besonderen Betonung des Augenausdruckes, zur Mitteilsamkeit einer individuellen historischen Person. Der Betrachter sieht hier nicht die objektivierten Kulturattribute einer fernen Kultur, sondern verweilt und kommuniziert im Blick von Tamm¦amea. Chamisso war gleichwohl nicht ganz zufrieden: Bravo bravo! das ist er, und das ist ein schöner Kopf, fleissig und gut geabrbeitet – dank auch für das Schwarze Gewand, ob es gleich etwas vernachläßigt, – mit dem Hintergrungd bin ich nicht zufrieden. zu viel [darauf] und zu undeutlich. (2r)

Chamisso ignorierte hier König Tamm¦ameas eigene Vorstellung seiner Selbstinszenierung, denn dieser hatte sich lieber in der europäischen Uniform malen lassen. Die Illusionierung einer natur- und kulturgeschichtlichen Ansicht ließe sich allerdings so nicht umsetzen. Tamm¦amea sollte – unverstellt durch bereits erfahrene Einflüsse und in seiner modernen Eigenschaft als ein Han40 Vgl. Kanz 1998, der zeigt, wie das Charakteristische zur leitenden Kategorie im romantischklassizistischen Diskurs um Konzepte einer Vermittlung von Authentizität und Ideal avancierte.

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Abb. 6: Lithographie von Ludwig Choris. Ó Abbildung aus Chamisso (2012) [Photographie: Anja Stimberg].

delspartner der Europäer – im Horizont seiner kulturellen Situierung gezeigt werden. Es gibt auch Bildinhalte, die Chamisso für ein pittoreskes Reisewerk vollständig verwarf. Dazu gehören die geographischen Ansichten, für die Choris eine Vogelperspektive einsetzte. Chamisso hielt sie für falsch gezeichnet und sprach ihnen das Leserinteresse ab. Weitaus interessanter ist jedoch seine Absage an die Darstellung von Tanz und Musik in der Malerei (vgl. Abb. 8). Diesen Eindruck zu reproduzieren, sei der Poesie vorbehalten, hielt er Choris entgegen und entwarf zugleich eine Möglichkeit wie dieser Bildinhalt zumindest eine schwache Umsetzung erfahren könne. Hierbei rekurrierte er recht konventionell auf Topoi der antiken Bildhauerei (Abb. 10) und der Historienmalerei (Abb. 9), blieb aber skeptisch: Verzeihen Sie, lieber freund! Ist das das Schauspiel, das uns entzückte? uns hinriß, uns vor Bewunderung den Athem ausgeh&& [versetzte]? – Ich habe ihnen gesagt, daß Tanz und musikgesang sich nicht malen läßtassen. Ich protestire gegen den Gegenstand. – Wolten sie es [aber] ?Weisen, so müßten sie die Schönste Antike, (meinet wegen den Apol [nehmen]) und ihn drei Mal neben einander wiederholen [stellen] [[etwa halb &&& [So daß die 3] , daß eine Gruppe entstünde [bildeten]. (le serment des horaces de David. [etwa wie die horazier von David.]] ?ihnen [Sie ?so ?dann] schwärzen [ihnen] die Tracht geben den Federschild in derie Hand, die Züge O Waihisch werden lassen

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Abb. 7: Lithographie von Ludwig Choris. Ó Abbildung aus Chamisso (2012) [Photographie: Anja Stimberg].

jedem verschieden aber [allen] den Gleichen [und erhabenen] Ausdruck des Vorbildes behalten. – dann aber ihre Zuschauer in den Rausch der Freude in die Verwirrung des Rausches versetzen. – das ist kein hurra hurra! – Ihre ?Frazen halten nicht einmal Tact: und die Weiber langweilen sich dahinten. – verzeihen Sie lieber Choris, das ist ein schlechtes Blatt. – (2v, Abb. 1)

Im Zentrum dieser Bildkritik steht die Affektqualität, die sich nicht mitteile, weil die Schönheit der Kulturform des Tanzes und die Schönheit der Tanzenden im statischen Bild nicht erfasst werden könne. Daher könne diese Lithographie für einen Atlas von stimmungsvollen Erinnerungsbildern nicht gebraucht werden. Chamisso hat sich nach der Weltreise um eine Übersetzung und Anverwandlung indigener Dichtkunst bemüht.41 Seine lyrischen Beispiele, die Malaiischen Weisen, machen zwar nicht den Tanz, aber die Musikalität der fremden Sprache fühlbar. Die Überlieferung dieser ,Naturdichtungen‘ ist im Horizont der zeitgenössischen Sprachursprungstheorien zu sehen.42 Chamisso konnte hier auf 41 Er tat dies im Zuge einer Aufbewahrung der hawaiianischen Dialekte, denen er eine vergleichende Grammatik gewidmet hat, ein Wörterbuch konnte er nur noch vorbereiten. 42 Vgl. Bär 1999, S. 100ff.

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Abb. 8: Lithographie von Ludwig Choris. Ó Abbildung aus Chamisso (2012) [Photographie: Anja Stimberg].

Abb. 9: Jacques-Louis David: Le Serment des Horaces (1784). Ó Mus¦e du Louvre.

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Abb. 10: Apoll von Belvedere, Musei Vaticani. Ó Marie-Lan Nguyen.

Überlegungen von August Wilhelm Schlegel in seinen in den Horen publizierten Briefen über Poesie, Silbenmaaß und Sprache zurückgreifen.43 In Choris’ Werk ist die Beziehung von Bild und Text funktional geregelt. Die Bilder haben einen ästhetischen Auftrag, der erläuternde Text liefert naturwissenschaftliche und zeitdiagnostische Hintergrundinformationen über die Kultur- und Naturgegenstände. Chamisso hatte an dieser Konzeption einen wichtigen Anteil. So betrachtete er nicht nur die Bilder als „den eigentlichen Text“ – und gab damit einen Hinweis auf die immense Bedeutung, die er Choris’ Lithographien beimaß –, er forderte von Choris auch Textbeiträge, die sich direkt auf die Bildinhalte bezögen. Nicht eine Reisebeschreibung solle neben den Bildern beiherlaufen, sondern konkrete, sachliche und anekdotische Informationen. Es ging ihm um eine Individualisierung und Historisierung der Bildinhalte. Ich hatte, hatten sie mich zu~rath ziehen konnen und wollen &&&ga [so hatte ich ihnen] ganz etwas anderes vorgeschlagen, ich hatte ihnen vorgeschlagen [ich hatte ihnen zugemuthet] anstatt [uns] einer Zusammen=Hangenden Beschreibung der Lander und Volker hatte ich ihnen zu geben, von ihren Bildern wie dsie da~sind aus zu gebhen, und recht eigen sie zu erklären und bei dene und indem sie sie uns [?ein&&st ?im ?Tagebuch] erklärt, recht eigentlich Fort zu mahlen, durch localfarben, umriße, Localfahrben uns das einzelne in bestimten Umrißen und Farben recht lebendig hervor treten zu laßen, anecdoten zu erhzahlen der Menschen die Menschen von deren portrait sie uns geben, recht lebendig mit kleinenZügen. und anectdoten recht lebendig vor zu führen. (2v, Abb. 1)

43 Schlegel 1795 und 1796.

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Abb. 11: Lithografie von Ludwig Choris nach einer Zeichnung von Adelbert von Chamisso (1821/22). Ó b p k.

Abb. 12: Adelbert von Chamisso: Aquarellskizze (1821), SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 8, Nr. 6: „Notizheft der Weltreise“, Beilage 3 [Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin].

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In der Darstellung des Vulkans de Taal auf Luzon, das auf eine Vorlage Chamissos zurückgeht (Abb. 12) und für das er den Erläuterungstext verfasst hat, ist diese Konzeption deutlich nachzuvollziehen. Bildlich wird die ästhetische Kategorie des Erhabenen umgesetzt. Wir sehen eine Vulkanlandschaft, deren Krater aktiv sind und deren Geschichte durch die rahmenden größeren Bergformationen zugleich sichtbar gemacht wird. (Abb. 11) Chamisso schilderte seine Exkursion in diese erhabene Landschaftsformation und ironisierte zugleich die Wirkung des Schauerlichen. Er kontrastierte den Aberglauben seiner Exkursionsbegleiter, der Vulkan werde neuerlich ausbrechen, wenn Spanier ihm zu nahe kämen, mit seiner naturkundigen Nüchternheit. Im Bild tritt so allein die Überwältigung des Subjektes durch die Macht der Natur und seine Geschichte hervor. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die kleine Figur im Vordergrund, in der Choris nach eigenem Bekunden Chamisso dargestellt hat. Bild und Text gehen so eine Koalition ein, die durch Illusionierung der ästhetischen Verfahren einerseits eine Rezeption der Beteiligung, des Empfindens ermöglicht, und andererseits textuell Informationen anbietet, die eine wissenschaftliche Einordnung und Historisierung, auch eine kulturvergleichende Perspektive ermöglichen. Anekdoten und Erzählungen der dargestellten Personen verbinden wiederum die ästhetische Individualisierungsabsicht mit einem ortsgebundenen Informationsgehalt. Interessant an dieser textuellen Strategie ist überdies, dass auch die erläuterten kulturellen Artefakte, Pflanzen und Tiere nicht typisiert, sondern als einzelne Beispiele größerer Gruppen vorgestellt werden. Nicht zuletzt ist ausgehend von diesen textuellen Rahmungen der Bilder zu überlegen, wie in diesem Reisewerk verschiedene Perspektiven ineinander geführt wurden. Rahmungen, Paratexte, Inszenierungsverfahren des Erzählens, Verbürgens und behaupteter Faktizität waren um 1820 vielfach angewandte ästhetische Praktiken, in deren Rezeption Übung bestand. Gerade vor dem Hintergrund dieser Kompilation von Texten und Bildern tritt ein weiteres ästhetisches Mittel hervor, das Choris umgesetzt hat: die Kontur. Seine Lithographien waren nur teilweise farbig ausgeliefert; daher musste ihre Rezeption als pittoreske Bilder auch ohne Farbe möglich sein. Innerhalb der romantischklassizistischen Diskussion war es etwa Goethe, der dem Umriss eine besondere Auszeichnung zuteilwerden ließ. Kontur und Umriss wurden zu charakteristischen Genre einer modernen Ästhetik, deren Gehalt über das Bild hinauswies und symbolisch wurde.44 Im Kontext auch dieser ästhetischen Debatte leisten die Lithographien von Choris einen Beitrag zur modernen Ästhetik.

44 Vgl. Oesterle 2000.

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Zur Transkription des Briefentwurfs Die Orthographie und Interpunktion folgt in allen Eigenheiten derjenigen Chamissos.45 Ebenso wird die Blatt- und Zeilengestaltung wiedergegeben. Alle editorischen Zeichen sind kursiv gesetzt. Die verschiedenen „s“-Zeichen können nicht wiedergegeben werden. ? : ein kursives Fragezeichen vor einem Wort bezeichnet eine unsichere Lesart & : unlesbarer Buchstabe Streichungen und Doppelstreichungen werden wiedergegeben. [ ] : für Einfügungen im Textverlauf; [[ ]]: für Einfügungen neben dem Text ~ : Zusammenschreibungen mehrerer Worte werden kenntlich gemacht, Bsp.: „besser~gezeichnet“. Ligaturen und Abbreviaturen werden aufgelöst, Bsp.: „bestimmt“ In Antiqua geschriebene Worte werden in Kapitälchen wiedergegeben.

[1r] Und auch am ersten, eine Stunde Sspäter, Ihre Voyages pitoresques! – Herzlichen Dank! Herzlichen Dank, lieber Choris, Ihr Werk, so~wie es ist, hat mir eine hohe freude gemacht. Ich erkläre es für unbedenklich. für ein sehr schönes, in vielfacher Beziehung nützliches, Liebhabern Künstlern gelehrten gleich erwünschtes Werk, ein Werk wie welches gefehlt hat, und wofür ihnen Lob~und-Dank gebührt. – Ich werde es beherzigend durchgehen, ich ihr alter strenger wohlmeinender Freund! laßen sie sich nicht irren, daß sie viel des Tadels vernehmen werden. untadelich ist nichts, ihr Werk auch nicht, aber man tadelt [werdt ist auch] aber nur, was man [Lieb= und Ehrenwerth] ehrt, liebt, was man gelten läßt, ich ehre, liebe, laße ihr Werk gelten [ist und das ist mir ihr Werk] und vielleicht liegt auch in mir, bei der freude, die es mir macht, ihnen zu zu rufen,: laßen sie sich nicht [sich] den Teufel der Eitelkeit [nicht] in den Leib 45 Besondere Schreibeigenheiten, wie sie etwa beim großen „S“ am Wortanfang, beim kleinen „r“ und „s“ am Wortende und in der Kombination von kleinen „i“ und „n“ in einem Wort vorliegen, werden ihrer Bedeutung entsprechend aufgelöst, sofern diese durch Vergleichsstellen abgesichert werden kann.

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fahren zu laßen. so erst von den Bildern, die ich als den eigentlichen Text betrachte, und betrachtet haben will. von dem sogenannten Text nachher. San francisco I. Solche Profile sgehörten eigentlich bei dem Nautischen Theile der Reise. Sie sind zu nächst für den Seefahrer bestimmt, kaum mag sie [ein anderer, etwa] der Geognost eines Blickes würdigen. K. hat sie, (die nach der Ankündigung zu urtheilen, aus der deutschen Reisebeschreibung gelassen, und so mögen sie denn bei ihnen erscheinen, immerhin, obgleich [aber] viele ihrer Abonenten ungern Geld dafür [werden sie ungern bezahlen] ausgeben werden. – (wird eine Russische Ausgabe (und mit Altlas) erscheinen wissen sie was davon? I russisches ist übrigens so~gut als für die Welt gar nicht da.) [für die Welt]) – verstehen Sie in Paris die Schrift nicht reiner auf den Stein zu bringen? II. Bravo! Aus einer schlechten gGegend ein charmantes Bild – das ist Natur! das ist Californien! der Licht=blik in der Mitte, die Schatten zu beiden Seiten, die das Bild zusammen halten erinnern mich an eine gleich einfache Landschaft von Rimbrandt! die Staffage hübsch und wahr. – Bravo! III Minder gut, selbst auf der verbesserten Platte. – ein Tanz bleibt &in ?unglücklich [gewählt] ?gegenstand für den Maler#########t – Warum ist der Ochsen kopf weg geblieben, der sich so vortrefflich auf den Vordergrung ausnahm?!

[1v] IV Könnte besser~gezeichnet sein, und [so] wie das vorige feiner ausgeführt && leicht ?meist nicht liederlich werden – Eine Bemerkung (ein mal für alle mal), sie haben [sich] die Hautfarbe der verschiedenen Menschen ?rasse, Stämmen und Individuen die wir gesehen bestimmt und fest in [nach] ihren [verschiedenen Mischungen und] Abstufungen [einzuprägen und] aufzubewahren versäumt und können nicht mehr einer foderung genügen [leisten] die der Naturforscher an Sie zu machen berechtigt ist. – Ich fand mir war es auch so ergangen war, als &&&&& ich vergleichen mußte –

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[daß es mir schwer] [diese Hautfarbe hat mir auch Kummer gemacht.] – Vertheidigen Sie sich nicht, sie färben jetzt ihre Menschen als Künstler und [nach ihnen] Ihr Illuminateur als Handwerker [auf gut Glück Sie] – und laßen es darauf ankommen. Aber die Glaubwürdigkeit ist hin – was hatte uns helfen können? eine Farben Tabelle. mit Mischungen von Schwarz Roth Gelb und Weiss. V. Ein Bär überhaupt, von dem Cuvier, nach dem oOrt des Vorkommens geurtheilt hat, daß ers [der] U: griseus [ins.besondere] gewesen sein möchte – nach dem Schädel glaube ich [halte ich aber dafür] es sei U: arctos. – Ihr Baer überhaupt kommt dabei nicht in Betracht. VI. VII. Ueber diese Köpfe wissen Sie meinen Urtheil. dank ihnen dafür lieber Choris. aber halten sie doch einmal ihre Illuminateurs in Zucht – VI ist wirklich mit dem Besen überfahren und die Hälfte vergessen. [ausgeblieben.] – der Arm von VI.4! – Zeichnen ist noch nicht gezeichnet. VIII Leicht und hübsch. IX.8 (ist X gezeichnet (Bateau du port x.) das giebt Irrtum). Gut. X.gut Ich würde Sie sehr schelten, wenn sie ihre auf O Wahu erhandelten Pfeife der NW Küste, ohne gute Zeichnungen davon zu machen, verkteilt hätten – Es war ein Kunstwerk, welches in aller Betracht bekannt~gemacht zu werden verdiente. – Ich erwarte es hier zu sehen, und dieses giebt mir nicht Ersatz dafür. – XI (überschrieben XII, vermeiden sie doch das) Köpfe mit Schmuck – ein sehr wohl gelungenes Blatt, – aber sind das auch portraits? – Charackteristisch sind sie nicht [so] wie die andern. Besonders der Pl gegen den Kopf in profil hege ich zweifel. XII. Ein hübsches Blatt, aber Zweifel wie oben. – das ist in Paris ersonnen, gezeichnet und gemahlt. – und was wachst da? auf Californien bei S Francisco wächst kommt kein Baum artiges Farren kraut vor, und übrigens sieht ein Baumartiges Farrenkraut auch nicht so aus. – das muß ich verstehen. Sandwich Inseln ?I. wenn die Zeichnung richtig ist, so ist die Schattirung falsch, Mauna Kea ist bei weitem höher als [der] Wororay – und müßte bei dem winkel

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worunter man ihn da sieht eben so fern und so~blas als der Vororaiy sein. – in der gegend Richtung ungefähr ist muß er sein, das ist richtig aber vielleicht

[2r] hinter den Vorhügeln versteckt. – Ein solches, und noch dazu klein ?geharktes Profil giebt, beiläufig gesagt, gar kein Bild. II Bravo bravo! das ist er, und das ist ein schöner Kopf, fleissig und gut geabrbeitet – dank auch für das Schwarze Gewand, ob es gleich etwas vernachläßigt, – mit dem Hintergrungd bin ich nicht zufrieden. zu viel [darauf] und zu undeutlich. III das ist sie nun wohl. und ähnlich! – die hHand ist nicht gut gezeichnet [sie hält wenigstens nicht den flederwisch]. – das Zelt zu lehr,. wWo~hat sie Spiegel, Pfeife, wWasserglaas gefäße, ?frühte, ?Hände ((zum Flohfangen) u sw? aAber vor allem die Sonne, die Sonne des Wende Kreiße! warum leuchtet und warmet und brennet sie nicht da draußen, damit wir wissen wo wir sind – drin ist lange weile und draußen ist’s kalt. – Ihre Illuminateur in Zucht gehalten! – Sie haben mir den armen Jungen schäckig, roth und grün, werden laßen – und die hohe Herrin ist auch sehr ungleich mit fFarbe überfloßen. IV Bravo, bravissimo, der würdige Herr wie er leibt und lebt, – (Ich glaube nicht daß wir den verschmitzten KareimoKu zu erwarten haben? sSchade!) V. gut. nur blauer die Luft, glühender die Sonne, und auf der Erde mehr fülle, mehr lLeben. – das Land ist bevolkerter als das. – Rauch aus dem dorf da Links, wo rauch ist sind auch mMenschen, – zwei fFiguren da vorn sind zu wenig. VI VII VIII „Es muß auch solche ?Krüge geben“. IX Verzeihen Sie, lieber Choris, das ist eine sehr unglühkliche gewählte aussicht (vom Schiffe doch?) die uns weder den Riff noch den umfa&ng des Hafvens, noch die volkreiche Stadt, noch den Sonnigen Saum der Insel, noch die formen ihrer grünen Berge mit den Silber laubigen des Massen des lucui Baumes (aAleurites triloba) die sich [darauf] aus zeichnen noch die Characteristischen Vulcanen Crater, (den hinter der

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Stadt und [den der] das Vorgebürge rechts [bildet]) zu sehen vergönnt – das ist nicht viel. – und wieder ihre Illuminateurs! – wir erhalten dioch noch die Aussicht vom Lande aus, unter den baumen[Palmen] auf die See. – die mir so~wohl gefiel.

[2v] X Je mehr Köpfe, je besser. X Hübsch. – wo haben sie das Beil her? das ist jetzt über all zu sehen ausgenommen auf den Sandwich inseln? XII. Verzeihen Sie, lieber freund! Ist das das Schauspiel, das uns entzückte? uns hinriß, uns vor Bewunderung den Athem ausgeh&& [versetzte]? – Ich habe ihnen gesagt, daß Tanz und musikgesang sich nicht malen läßtassen. Ich protestire gegen den Gegenstand. – Wolten sie es [aber] ?Weisen, so müßten sie die Schönste Antike, (meinet wegen den Apol [nehmen]) und ihn drei Mal neben einander wiederholen [stellen] [[etwa halb &&& [So daß die 3] , daß eine Gruppe entstünde [bildeten]. (le serment des horaces de David. [etwa wie die horazier von David.]] ?ihnen [Sie ?so ?dann] schwärzen [ihnen] die Tracht geben den Federschild in derie Hand, die Züge O Waihisch werden lassen jedem verschieden aber [allen] den Gleichen [und erhabenen] Ausdruck des Vorbildes behalten. – dann aber ihre Zuschauer in den Rausch der Freude in die Verwirrung des Rausches versetzen. – das ist kein hurra hurra! – Ihre ?Frazen halten nicht einmal Tact: und die Weiber langweilen sich dahinten. – verzeihen Sie lieber Choris, das ist ein schlechtes Blatt. – Was den Text anbetrift, mein lieber Choris so~bin ich mit mit Ihnen gar keines weges mit dem Plan dem sie damit zufrieden. Ich kan ?diesem Plan den sie sich in Hinsicht des Textes befolgen kmeinen Beifall nicht geben. (Sagen sie mir ob dieser [etwa der] Text [den~sie uns geben] eine Uebersetzung ihres [mehr] Erwähnten Jour nal Journals [ist], welches sie St. Petersburg verkauft haben dessen Bekantmachung wir aus Petersb

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zu erwarten, und von dem, beiläufig gesagt, [bis jetzt] noch keine Ankündigung, kein Vorbot welches namen es sei, [kurz keine Wort] in die Litterarische Welt gegange verlautet hat –)) Ich hatte, hatten sie mich zu~rath ziehen konnen und wollen &&&ga [so hatte ich ihnen] ganz etwas anderes vorgeschlagen, ich hatte ihnen vorgeschlagen [ich hatte ihnen zugemuthet] anstatt [uns] einer Zusammen=Hangenden Beschreibung der Lander und Volker hatte ich ihnen zu geben, von ihren Bildern wie dsie da~sind aus zu gebhen, und recht eigen sie zu erklären und bei dene und indem sie sie uns [?ein&&st ?im ?Tagebuch] erklärt, recht eigentlich Fort zu mahlen, durch localfarben, umriße, Localfahrben uns das einzelne in bestimten Umrißen und Farben recht lebendig hervor treten zu laßen, anecdoten zu erhzahlen der Menschen die Menschen von deren portrait sie uns geben, recht lebendig mit kleinen Zügen. und anectdoten recht lebendig vor zu führen. Ich habe, wie sie, ausser wissenschaftliche Untersuchungen, [von meinen wi] – kein wie sie keine Erzählung und Geschichte dem K. überlaßen d ich sage mir – wie sie [nur allgemeine Ansichte ansichten] und übersichten und sage mir wie sie, (wissenschaftliche Untersuchungen [Es folgen fünf Zeilen Notizen, vtl. zum Text der Voyage pittoresque.]

Abbildungen Lithografie von Ludwig Choris nach einer Zeichnung von Adelbert von Chamisso (1821/ 22). b p k Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Bildnr. 00010642. Chamisso, Adelbert von: Reise um die Welt. Mit 150 Lithographien und einem essayistischen Nachwort von Matthias Glaubrecht. Berlin 2012, S. 171, S. 204, S. 208f., S. 176, S. 196, S. 229. Photographien von Anja Stimberg. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. Adelbert von Chamisso: K. 18, Nr. 2b: Briefentwurf Adelbert von Chamisso an Ludwig Choris, Blatt 2v (http:// digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN770914942& PHYSID=PHYS_0004).

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K. 8, Nr. 6: „Notizheft der Weltreise“, Beilage 3 (http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN770912028& PHYSID=PHYS_0058). Jacques-Louis David: Le Serment des Horaces (1784). Mus¦e du Louvre, Paris. Apoll von Belvedere. Musei Vaticani, Rom. Photographie von Marie-Lan Nguyen.

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. Adelbert von Chamisso: K. 8, Nr. 6: „Notizheft der Weltreise“, Beilage 3. K. 18, Nr. 2b: Briefentwurf Adelbert von Chamisso an Ludwig Choris. K. 26, Nr. 51 und 52: 47 Briefe von Ludwig Choris an Adelbert von Chamisso. K. 27, Nr. 11: Briefe von Johann Friedrich Eschscholtz an Adelbert von Chamisso. K. 34, Nr. 4: Briefjournal 1821–25.

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Wolfgang Dohle

Adelbert von Chamisso und seine Entdeckung des Generationswechsels bei den Salpen

Einleitung In den Studienplänen für das Biologie-Studium sind Seminare zur Wissenschaftsgeschichte nicht vorgeschrieben. Daher sind die Kenntnisse über Zeit und Umstände der Entdeckung wichtiger biologischer Phänomene selbst bei etablierten Wissenschaftlern oft sehr ungenügend fundiert. Besonders wenig präsent erscheint die Zeit zwischen 1790 und 1840, obwohl in dieser Zeit Biologie als Fach in Umrissen definiert wurde und die Auseinandersetzung zwischen Naturphilosophie und exakter Naturwissenschaft weitgehend zugunsten der letzteren entschieden wurde. Allenfalls denkt man bei dieser Zeit an die eigenwilligen Ansätze zu einer Transformationslehre durch Lamarck, an die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen durch Goethe oder an die Beschreibung des Säugetier-Eies durch Karl-Ernst von Baer. Auch die Entdeckung des Generationswechsels durch Adelbert von Chamisso fällt in diese Zeit und wird manchmal in Lehrbüchern erwähnt. Aber es werden auch Namen anderer Naturforscher genannt, wie Michael Sars, Johannes Japetus Smith Steenstrup oder Carl Theodor von Siebold. In der gängigen Literatur war darüber keine eindeutige Auskunft zu erlangen, und deshalb wurde die Entdeckung dieses wichtigen biologischen Phänomens kürzlich einer genaueren Analyse unterzogen. Es stellte sich heraus, dass Chamisso 1819 in der Tat als erster den Generationswechsel bei den Salpen in aller wünschenswerten Klarheit beschrieben hat. Es zeigte sich außerdem, dass die Publikation anfangs entweder ignoriert, von vielen Fachleuten auch abgelehnt, umgedeutet und bekämpft wurde und erst ungewöhnlich spät wieder entdeckt und anerkannt wurde. Dieses Ergebnis wurde von Glaubrecht und Dohle 2012 detailliert dargestellt. In dem vorliegenden Beitrag sollen die Tatbestände nochmals kurz zusammengefasst werden, unter Weglassung des in dem genannten Artikel notwendigen technischen und terminologischen Beiwerks. Zusätzlich fließen einige Erkenntnisse und Ergänzungen ein, die in der Zwischenzeit durch die Bearbeitung und Übersetzung von Notizen in Reisetage-

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büchern, die sich im Nachlass Adelbert von Chamisso in der Staatsbibliothek zu Berlin gefunden haben, gewonnen wurden. Es wird außerdem versucht, die anfängliche Ablehnung und späte Anerkennung der Entdeckung wissenschaftshistorisch einzuordnen.

Chamissos Studium und die Weltumsegelung Der abenteuerliche Lebensweg des Dichters und Naturforschers Adelbert von Chamisso (1781–1838) hat in den letzten Jahren wieder verstärktes Interesse erregt. In den Biographien von Feudel (1971), Fischer (1990) und Langner (2008) kann man sich gut einen Überblick verschaffen. Nach einer bewegten Jugendzeit zwischen Champagne, Berlin, Paris und Genf kehrte Chamisso 1812 nach Berlin zurück, um an der vor zwei Jahren neu gegründeten Universität ein Studium der Medizin aufzunehmen. Ein eigenständiges Fach Biologie gab es damals noch nicht, aber es gab auf Zoologie und Botanik spezialisierte Naturforscher, die ihre Kenntnisse in Vorlesungen und Übungen vermittelten, wie Lichtenstein, Rudolphi, Horkel, Hayne, Link oder der kurz vor Chamissos Ankunft verstorbene Willdenow. Kurz darauf brach im Frühjahr 1813 der „Freiheitskrieg“ gegen Napoleon los. Da Chamisso als Franzose und ehemaliger preußischer Offizier in einer prekären Lage war, begab er sich nach Kunersdorf im Oderbruch, wo er, wie allgemein bekannt, die Erzählung Peter Schlemiel’s Schicksale schrieb, die später als Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte weltberühmt wurde. Er legte dort aber auch ein Herbar an und ergänzte eine Liste der lokalen Flora. Nach der Rückkehr nach Berlin beschäftigte sich Chamisso, wie durch Briefe belegt ist, an dem von Lichtenstein geleiteten Zoologischen Museum mit Fischen, Krebsen und parasitischen Würmern. Noch bevor er sein Studium abschließen konnte, bekam Chamisso die Gelegenheit, als „Titulargelehrter“ an der Weltumseglung der russischen Brigg „Rurik“ teilzunehmen. Dieses Unternehmen ist durch die dreibändige Reisebeschreibung, zu der Chamisso fast einen ganzen Band beigetragen hat, sowie durch das sehr viel später geschriebene „Tagebuch“ der Reise um die Welt bekannt geworden. Die Reise führte im Laufe von über drei Jahren durch Atlantik und Pazifik zur Beringstraße, zu den Radack-Inseln (heute Ratak-Kette der Marshall-Inseln), über Hawai’i und Manila nach Kapstadt und über die Azoren und England zurück nach St. Petersburg. Die biologische und mineralogische Ausbeute Chamissos war in zwanzig Kisten verpackt, die er bei seiner Rückkehr nach Berlin mitnehmen konnte. Deren Inhalt, besonders die gesammelten Pflanzen, wertete er in den kommenden Jahrzehnten aus. Die auf der Reise gefangenen, skizzierten und teilweise in Weingeist eingelegten marinen Wirbellosen beschrieb Chamisso in zwei

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Publikationen. Die erste, De Salpa, ist bereits im Frühjahr 1819 erschienen.1 In ihr werden elf Salpen-Arten beschrieben, und zum ersten Mal wird in einer wissenschaftlichen Publikation der Generationswechsel dargestellt. Die zweite ist zusammen mit dem Berliner Kollegen Karl Wilhelm Eysenhardt verfasst2 und enthält neben Beschreibungen von Korallen, Quallen, Schnecken, Seegurken, Seeigeln und Ringelwürmern auch die Erstbeschreibung einer Appendicularia. Alle diese Tiere wurden unter dem – schon damals – veralteten Linn¦schen Begriff „Würmer“ zusammengefasst („reliquos vermes continens“).

Die Kenntnisse über Salpen vor 1815 Salpen sind im Hochseeplankton meist weit von den Küsten entfernt lebende Tiere, die nur in seltenen Fällen in Buchten zusammen getrieben oder an den Strand gespült werden. Sie sind nicht, wie man zu Chamissos Zeit annahm, „Weichtiere“ (Mollusca), sondern Manteltiere (Tunicata) und damit den Vertebraten näher verwandt. Salpen treten in zwei voneinander unterschiedlichen Generationen auf. Die eine Generation ist durch Einzeltiere repräsentiert. Diese bilden einen fadenförmigen Stolo prolifer aus, an dem sich Reihen von Knospen zu Kettensalpen differenzieren. Diese lösen sich in Teilstücken ab. In jeder Kettensalpe bildet sich je ein Embryo, der wieder zu einer Einzelsalpe heranwächst, wodurch sich der Zyklus schließt. Manche Einzelsalpen, z. B. von Salpa maxima, werden über einen Dezimeter groß, die Bänder von Kettensalpen können mehrere Meter messen. Es gibt über 40 Arten in allen Weltmeeren, etwa ein Viertel der Arten kommt auch im Mittelmeer vor. Da manche bei massenhaftem Auftreten die Netze verstopfen können, waren sie mit Sicherheit den Fischern des Altertums bekannt. Wissenschaftlich wurden Salpen aber erst sehr spät beschrieben. Die früheste, sehr ungenaue Beschreibung stammt von Patrick Browne, der auf einer Reise nach Jamaika Salpen fing und sie 1756 beschrieb. Diese Beschreibung wurde von Linn¦ in seiner X. Auflage des Systema naturae 1758 aufgenommen. Salpen, die auf einer der Reisen von Captain Cook gefangen wurden, wurden von Hawkesworth in seinem Reisebericht erwähnt. Die erste genauere Beschreibung einer Salpen-Art stammt von Pallas 1774. Diese Art hat Chamisso auf der Rückfahrt bei den Azoren gefangen und sie Salpa zonaria genannt. Auch hat er die Typenexemplare in St. Petersburg gesehen. Einen wirklichen Fortschritt markiert das Werk des Dänen Petrus Forsk”l. Seine Aufzeichnungen von einer Reise durch das Mittelmeer wurden posthum in 1 Chamisso 1819. 2 Chamisso / Eysenhardt 1821.

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zwei Bänden herausgebracht. Er führte den Gattungsnamen Salpa ein. Die meisten seiner beschriebenen und abgebildeten Arten sind heute identifizierbar. Interessant ist, dass er von einer Art, der heutigen Cyclosalpa pinnata, beide Generationen abgebildet hat; er beschrieb die Einzelsalpe als Varietät (Figur 1).

Figur 1. Salpa (=Cyclosalpa) pinnata. Ausschnitt aus der Tab. XXXV aus dem Band Icones von Forsk”l (1776). B. Eine isolierte Kettensalpe (Blastozooid) von dorsal. 1 Mundöffnung, 2 Kloakalöffnung, 3 der ventrale Fortsatz, mit dem die Kettensalpen zusammenhängen. b.1. Eine Einzelsalpe (Oozooid), von Forsk”l als Varietas bezeichnet. 1 und 2 wie in B., 3 der Darmkanal, 4 die Leuchtorgane, die viermal durch Muskeln unterbrochen sind. b.2. Ein Ring von 10 Kettensalpen, die mit ihren ventralen Fortsätzen (3) zusammenhängen.

Erst 1802 erschienen wieder zwei Publikationen über Salpen. Die eine ist die Beschreibung einer Art, Thetys vagina, die auch heute noch so heißt, durch den Forschungsreisenden Tilesius von Tilenau. Tilesius machte kurz danach die Weltumsegelung mit den russischen Schiffen Nadeshda und Newa unter dem Kapitän von Krusenstern mit und war insofern ein Vorgänger von Chamisso. Alle diese Arbeiten kannte Chamisso vor seiner Reise nicht, hat sie aber in seiner Dissertation 1819 berücksichtigt und zitiert. Wichtig wurde für Chamisso das Buch von Louis Augustin Guillaume Bosc. Bosc hat 1802 ein dreibändiges Werk mit dem Titel Histoire naturelle des Vers herausgebracht. Die ,Würmer‘ umfassten dem damaligen, an Linn¦ orientierten Sprachgebrauch entsprechend praktisch alle bilateralen Tiere, die nicht Wirbeltiere oder Gliederfüßer waren. Chamisso trieb dieses Werk auf seiner Reise bei einem Aufenthalt in St. Peter und Paul (heute Petropavlovsk) auf Kamtschatka auf. Er schrieb im Juni 1816 an seinen Freund Hitzig in Berlin: Diese sehr interessanten Thiere sind noch sehr unbekannt und von dem wenigen, was über sie geschrieben, besaß ich bis jetzt keine Zeile, vielleicht nehmen wir den Boso

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[sic!] aus der hiesigen durch Reisende (von Beering’s Zeiten her) zusammengekommenen Bibliothek mit.3

An dem Druckfehler „Boso“ erkennt man, dass Hitzig mit dem Namen Bosc nicht viel anfangen konnte. Bei der Frage, ob Chamisso schon bei Beginn der Reise Kenntnisse über die Salpen hatte, ist man bisher auf diese wenigen zitierten Zeilen angewiesen. Danach hört es sich so an, als ob Chamisso die Literatur über Salpen völlig unbekannt war. Man kann auch ziemlich ausschließen, dass er die große Arbeit von Georges Cuvier von 1804 M¦moire sur les Thalides et sur les Biphores kannte. Beides waren Namen für Salpen, die im Französischen gebraucht wurden. Cuvier hatte dem Zoologen FranÅois P¦ron, der die von Baudin geleitete Expedition in den Jahren 1800–1804 begleitete, den expliziten Auftrag erteilt, Salpen zu sammeln. Cuvier beschrieb sechs Arten („espÀces“).4 Er ahnte nicht, dass zwei dieser Arten eindeutig die beiden Generationen von nur einer Art waren. Cuvier war der erste, der Salpen sezierte. Er hat einige innere Organe sehr gut beschrieben und ihre Funktion erkannt. Das ist beachtlich, besonders wenn man bedenkt, dass er nur fixiertes Material zur Verfügung hatte. Er hat sich aber auch in mehreren Punkten geirrt; so hielt er die Leuchtorgane für Eierstöcke. In den elf Jahren bis zum Beginn der Weltreise Chamissos erschien keine Originaluntersuchung mehr über Salpen.

Reisetagebücher und Dissertation Im Nachlass liegen zwei Reisetagebücher, die bisher unbeachtet geblieben sind.5 In ihnen hat Chamisso auf Deutsch teils chronologische Notizen über die Fahrt und die Aufenthaltsorte gemacht, teils längere Passagen über bestimmte Gebiete geschrieben, die später als Unterlagen für seine Bemerkungen und Ansichten dienten. Für unser Thema besonders interessant sind aber die lateinischen Notizen, die er über alle möglichen Arten von Meerestieren gemacht hat. Diese lateinischen Notizen, soweit sie die Salpen betreffen, werden zur Zeit transkribiert, übersetzt und kommentiert.6 Bereits am Anfang der Reise, bei einer mehrtägigen Windstille im Meer nördlich von Lissabon, hat Chamisso die Art Cyclosalpa pinnata, die er im Reisetagebuch Salpa mirabilis nennt, gefangen und den regelmäßigen Wechsel von zwei Generationen erkannt und ganz eindeutig beschrieben. Dies war nur durch intensive Beobachtung lebender Tiere möglich. 3 4 5 6

Chamisso 1856, Bd. 6, S. 45. Cuvier in: Annales du Mus¦um National d’Histoire Naturelle 4, 1804, S. 360–382. SBB, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 33, Nr. 11 und 12. Dohle / Weber [2016], in Vorb.

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Trotzdem ist es schwer begreiflich, wie er innerhalb weniger Tage den gesamten Lebenszyklus der Art erfassen konnte. Die nächsten drei Arten, die im ersten Reisetagebuch unter dem Namen Salpa beschrieben wurden, können Chamisso in der Annahme, dass das Phänomen für alle Arten der Gattung gültig sein könnte, nicht bestätigt haben. Von der einen Art fing er nur Einzelsalpen, von der anderen überhaupt nur ein Exemplar, und die dritte Art ist keine Salpe, sondern eine calycophore Staatsqualle. Diesen Irrtum hat er wohl schon während der Reise bemerkt, diese Art wird später nicht in seine Arbeit De Salpa aufgenommen, sondern erscheint bei den „reliquos vermes“. Erst bei der nächsten Art, Salpa aspera, fand Chamisso die beiden Generationen wieder, wenn ihm auch die Beobachtung eines lückenlos zusammenhängenden Zyklus nicht gelang. Auch bei der nächsten Art, die er Salpa affinis nannte (= heute Cyclosalpa affinis), sah er nicht die Geburt der Einzelsalpen aus den Kettensalpen, aber er fand die starke Übereinstimmung mit der zuerst beschriebenen Art. Die nächsten zwei Arten, die Chamisso beschrieb, brachten eigentlich manches durcheinander. Chamisso hielt sie für die beiden Generationen einer Art, was aber retrospektiv nicht richtig ist. Chamisso hatte zwar selbst seine Zweifel, konnte aber das Rätsel nicht lösen. Erst gegen Ende der Reise, auf Höhe der Azoren, fing er zwei weitere Arten, von denen die eine, Salpa runcinata (= heute Salpa fusiformis), wieder die zwei unterschiedlich gebauten Generationen in aller Klarheit zeigte. Danach war Chamisso offensichtlich überzeugt, dass es sich um ein für die Gattung allgemein gültiges Phänomen handelt oder, wie man das damals sah, um ein Gesetz („generationis lex“). In diesem Sinne schrieb er auch Ende Juni/ Anfang Juli 1818 von England aus an den Grafen Rumjancev (Chamisso schrieb Romanzoff). In diesem Brief, der durch Vermittlung seines Bruders in einer französischen Zeitschrift abgedruckt wurde, schilderte Chamisso in wenigen Zeilen das Phänomen des Generationswechsels völlig eindeutig: „Deux g¦n¦rations dissemblables et alternatives constituent l’espÀce“.7 Er hatte Cuvier in London getroffen, und dieser hat ihn, wie Chamisso es darstellt, zu einer Publikation ermuntert.8 Im Oktober 1818 kehrte Chamisso nach Berlin zurück. Er hat sein gesamtes Sammlungsmaterial mit sich nehmen dürfen. Lichtenstein hat ihn dabei maßgeblich unterstützt und hat ihm in einem Brief nach St. Petersburg gute Ratschläge für die Beförderung erteilt. Er war als Direktor des Zoologischen Museums nicht ganz uninteressiert an dem Material. Chamisso übergab später einen großen Teil seines zoologischen Materials an das Museum, auch die von 7 Chamisso 1818, S. 207. 8 Chamisso 1818, S. 207: „M. Cuvier, que j’ai rencontr¦ — Londres, m’a demand¦ de publier sans d¦lai mes observations et mes dessins sur un sujet auquel il attache une grande importance.“

Chamisso und seine Entdeckung des Generationswechsels bei den Salpen

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ihm gesammelten und konservierten Salpen, die er als erstes nach seiner Rückkehr bearbeitete. Diese Bearbeitung muss unglaublich intensiv gewesen sein. Die Arbeit De Salpa muss vor März 1819 gedruckt worden sein, denn im Märzheft der von Oken herausgegebenen Isis ist der Eingang eines Sonderdruckes registriert.9 Man muss bedenken, dass sich Chamisso in Berlin einrichten musste, viele Punkte an seinem Material nachuntersuchen musste, die ganze Literatur, die ihm bis dahin weitgehend unbekannt war, durcharbeiten musste. Einen nicht geringen Aufwand bedeutete auch die Herstellung der großen kolorierten Tafel.

Das Besondere an Chamissos Beschreibung Ein Teil von Chamissos lateinischer Dissertation, nämlich der allgemeine Teil und die Beschreibung einer Art (von den elf in der Arbeit behandelten), ist von Friedrich Markgraf ins Deutsche übersetzt worden.10 Die anderen beschriebenen Arten und das noch heute erhaltene Sammlungsmaterial ist von Glaubrecht und Dohle (2012) ausführlich besprochen worden. Es soll daher hier nur das Besondere an Chamissos Arbeit hervorgehoben werden. Mehrere Punkte in Chamissos Bearbeitung sind für die damalige Zeit ganz ungewöhnlich, wenn nicht gar revolutionär zu nennen. Das bezieht sich nicht nur darauf, dass Chamisso den Generationswechsel als erster beschrieben hat, sondern auch, wie diese Beobachtung zustande kam. Das Hauptanliegen der Expeditionen war seinerzeit, eine möglichst große Menge an neuen Arten zu sammeln. Dafür wurden diese so bald als möglich in Weingeist konserviert, eine genauere Beobachtung der Lebensgewohnheiten lag außerhalb des Interesses. Chamisso hat die Tiere nicht nur besonders schonend gefangen, sondern hat sie zusammen mit dem Schiffsarzt Johann Friedrich Eschscholtz auch stunden- und tagelang lebend beobachtet. Die Tiere müssen einzeln in Schüsseln gehalten worden sein, sind ab und zu herausgenommen worden, um die Differenzierung der Foeten zu kontrollieren, möglicherweise sogar unter dem Mikroskop. Das ist zwar nirgends beschrieben, aber anders wären die exakten Beobachtungen nicht möglich gewesen (Figur 2). Bemerkenswert ist schon die Beschreibung der Lebenserscheinungen. Die Fortbewegung durch Kontraktion der Ringmuskeln, der Verlauf des durch die Nahrung gefärbten Darmkanals und die Abgabe der Faeces in die Kloakenhöhle, der Schlag des Herzens und die Bewegung des Blutes in den Gefäßen wurden erkannt. Besonders plastisch ist aber die Entwicklung 9 Lorenz Oken hat 1816 die „Encyclopädische Zeitung“ Isis gegründet, die Referate und Originalpublikationen brachte: Isis, 1817ff. 10 Schneebeli-Graf 1983, S. 47–62.

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des Stolo prolifer beschrieben, die graduelle Differenzierung der Knospen, je weiter sie vom Ursprung entfernt sind, die wiederholte Abgabe von Kettensalpen, die anfangs miteinander verbunden bleiben, aber doch jede ihren eigenen Bewegungsrhythmus haben, das Heranwachsen der Kettensalpen, die Bildung eines einzelnen Embryos in der Kloakenhöhle, der ebenso wie die Mutter, aber wieder mit eigenem Rhythmus pumpt, die morphologischen Unterschiede dieses Embryos zu der mütterlichen Kettensalpe, mit der er anfangs einige Zeit durch einen Nabelstrang verbunden ist, seine Ablösung und sein Schlüpfen aus der Kloakenhöhle und sein Heranwachsen zu einer Einzelsalpe. Durch diese kontinuierliche Beobachtung konnte nicht nur diese spezielle Form des Generationswechsels, sondern, viel allgemeiner und überhaupt zum ersten Mal, der gesamte Lebenszyklus eines marinen Wirbellosen erkannt werden. Mir ist vor Chamisso und bis zu seinem Tode keine andere Arbeit bekannt, in der lückenlos der Lebenszyklus eines wirbellosen Meerestieres durch alle Entwicklungsstadien hindurch beschrieben wurde. Chamisso war unvoreingenommen an die Dinge herangegangen. Er hat aber die Bedeutung seiner Beobachtung und seiner Herangehensweise durchaus erkannt. In seiner Dissertation schreibt er mit einem gewissen Stolz über Salpa pinnata: „Hac in unica specie fatemur nos integrum metamorphoseos cyclum, hiatu nullo, omnibus suis momentis absolutum persecutos esse oculis …“.11 Erst in den 1840er Jahren können Meeresforscher diese Sätze wieder für sich in Anspruch nehmen.12 Die ungeklärten Fragen sind: Weshalb haben Chamissos Zeitgenossen diese Herangehensweise nicht aufgegriffen? Weshalb wurden der Generationswechsel und auch allgemeiner die Metamorphosen der marinen Tiere nicht nur nicht weiter verfolgt, sondern vehement geleugnet? Weshalb hat Chamisso nicht selbst stärker darauf gedrungen, dass seine Ergebnisse zur Kenntnis genommen werden? Weshalb haben seine ,Lehrer und Freunde‘, wie er sie in seinen Briefen bezeichnete, wie etwa Lichtenstein, Rudolphi, Horkel, Weiss, aber auch später Ehrenberg, ja selbst Humboldt, ihn nicht in diesem Punkte ermuntert oder unterstützt?

11 Chamisso 1819, S. 10. Deutsche Übersetzung vom Verf.: „Bei dieser einen Art rühmen wir uns, den gesamten Zyklus der Metamorphosen, ohne jede Unterbrechung, in allen seinen Phasen vollständig mit den Augen verfolgt zu haben.“ 12 Michael Sars (1846, S. 77) zitiert diesen Satz und schreibt: „Unsere Beobachtungen an der Salpa runcinata, von welcher ich mich der Worte Chamisso’s [es folgt das lateinische Zitat, Anm. W.D.] bedienen darf, beweisen also zu völliger Evidenz die Wahrheit der Theorie dieses geistreichen Naturforschers […]“.

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Figur 2. Salpa (=Cyclosalpa) pinnata. Ausschnitt aus der Tafel aus der Dissertation De Salpa von Chamisso (1819). 1 A Die Einzelsalpe (Oozooid) von der linken Seite mit ventral dem Stolo prolifer. Der dunkel gefärbte Darm liegt über dem Kiemenbalken; die violetten Leuchtorgane sind in 5 Paaren vorhanden. 1B Dieselbe von dorsal. 1C Vergrößerung des Stolo prolifer. 1D Eine isolierte Kettensalpe (Blastozooid). Der dunkel gefärbte Darm liegt ventral des Pharynx. Der Fortsatz, mit dem die Tiere aneinander hängen, ist ventral. Es ist nur ein Paar nicht unterbrochener Leuchtorgane vorhanden. In der Kloakenhöhle hängt der Embryo einer Einzelsalpe an einem Nabelstrang. 1E Kettensalpe von dorsal. 1F Ein Ring von Kettensalpen, die mit den ventralen Fortsätzen zusammenhängen. 1G und 1H Details der Muskeln einer Kettensalpe. 1I ein vergrößerter Embryo einer Einzelsalpe (Oozooid) [Museum für Naturkunde Berlin, Historische Schrift- und Bildgutsammlungen; Bestand Paläontologisches Museum. Reproduziert von dem Reprint aus dem Nachlass des Geologen Leopold von Buch im Museum für Naturkunde Berlin; Photographie: Matthias Glaubrecht].

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Die Ablehnung des Generationswechsels Man muss festhalten, dass die Beschreibung des Generationswechsels bei den Salpen von Fachkollegen, die sich mit marinen Tieren und auch speziell mit Salpen befassten, über mehr als 20 Jahre unisono abgelehnt, missverstanden, uminterpretiert oder angegriffen worden ist. Diese einhellige Ablehnung ist bei Glaubrecht und Dohle (2012) zwar relativ detailliert dargestellt worden, eine wirklich plausible Erklärung dafür konnte aber bislang nicht gefunden werden. Auch die spätere Forschergeneration, die in den 1840er Jahren den Generationswechsel wiederentdeckte, wie Sars, Krohn, Huxley, Leuckart, hat diese frühere allgemeine Ablehnung nicht richtig verstehen können. Mit einer gewissen Skepsis ist bereits Lorenz Oken bei seiner Besprechung in der Isis an Chamissos Arbeit herangegangen.13 Er monierte, dass die Publikation keine Abbildung enthält, in der die verschiedenen anatomischen Details beschriftet sind. Chamisso hat die Kritik aufgenommen und eine Replik geliefert (Figur 3).14 Das hatte aber noch einen anderen Effekt. Die Isis hatte eine weite Verbreitung. Durch diese Replik in der Isis muss die Entdeckung und die Publikation allen Interessierten bekannt gewesen sein. Die mögliche Annahme, Chamissos Beschreibung sei den meisten zeitgenössischen Kollegen nicht bekannt gewesen, kann also nicht zutreffen. Jeder Leser der Isis konnte sie kennen. Trotzdem wurde sie von vielen ignoriert. Adolph Wilhelm Otto aus Breslau, den Chamisso bei seiner Rückkehr 1818 in London getroffen hatte und der bald danach wie Chamisso Mitglied der Akademie Leopoldina wurde, hat 1823 eine neue Salpenart beschrieben, ohne die Möglichkeit, dass Generationswechsel vorliegen könnte, überhaupt zu erwähnen.15 Selbst der Reisegenosse und Freund Chamissos, der Schiffsarzt Johann Friedrich Eschscholtz, dem Chamisso die Ehre zubilligt, den Generationswechsel als erster erkannt zu haben – „sprach zuerst das Wort des Räthsels aus“16 –, hatte wohl die richtige Intuition, scheint aber an die allgemeinere Gültigkeit des Phänomens nicht geglaubt zu haben. Auf seiner nächsten Schiffsreise, die er von 1823–1827 wieder unter Kotzebue mitmachte, beschrieb er eine angeblich neue Salpenart, ohne die Frage der beiden Generationen anzusprechen.17 Eine weitere interessante Publikation ist die von Sars (1829). Michael Sars 13 14 15 16 17

Oken 1819, Sp. 652–653. Chamisso 1820, Sp. 273–276 und Taf. 2. Otto 1823, S. 303–305, Tab. XLII, Fig. 1: Salpa spinosa. Chamisso 1820, Sp. 273. Eschscholtz 1825, Sp. 738–739, Taf. V, Fig. 7: Salpa caudata.

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Figur 3. Salpen. Ausschnitt aus der Taf. 2 aus der Replik von Chamisso (1820) in der Isis. Vergleiche die Fig. 2. IA – I Salpa (=Cyclosalpa) pinnata. IA. Einzelsalpe (Oozooid) von der linken Seite mit dem ventral liegenden Stolo prolifer (y-z). Der Darm (a-e) liegt dorsal vom Kiemenbalken (l–m). Die Leuchtorgane (s) sind in 5 Paaren vorhanden, viermal durch Muskelringe unterbrochen. IB. Einzelsalpe von dorsal. 1.D. Isolierte Kettensalpe (Blastozooid) mit dem ventralen Fortsatz (z). Der Darm (a-e) liegt ventral des Pharynx. Es ist nur 1 Paar nicht unterbrochener Leuchtorgane vorhanden. An der mit einer Warze (x) versehenen Nabelschnur hängt der Embryo in die Kloakenhöhle. 1.I. Embryo einer Einzelsalpe (Oozooid), vergrößert. 4C Isolierte Kettensalpe von Salpa aspera. 5C Einzelsalpe von Salpa runcinata.

(1805–1869) war junger cand. theol. in Bergen und hatte begonnen, die Lebenserscheinungen der Seetiere ganz auf eigene Faust zu untersuchen. Im Jahre 1827 waren große Mengen von Salpen in die Fjorde getrieben worden. Er beschrieb zwei Arten, die er Biphora tricuspidata und Biphora depressa nannte. Erst viele Jahre später korrigierte er, dass dies die beiden Generationen einer Art waren, die Chamisso schon eindeutig als solche unter dem Namen Salpa runcinata beschrieben hatte.18 Bei Sars in seiner Abgeschiedenheit ist am ehesten anzunehmen, dass er 1829 die Publikation von Chamisso noch nicht kannte. Bergen war damals ein abgelegener Ort ohne Bibliothek oder wissenschaftliche Institution.19 Sars hat, damals auch völlig unüblich, viele Meerestiere gehalten und sie lange lebend beobachtet. Er hat dadurch später die Entwicklung und die Lebenszyklen vieler Arten herausgearbeitet. Zum Beispiel hat er den Generationswechsel zwischen Polyp und Meduse bei Scyphozoen erstmals entschlüsselt.20 Als die Bourbonen in Frankreich ab 1815 wieder auf den Thron gekommen waren, schickten sie nacheinander drei große Expeditionen um die Welt. Der ersten von 1817–1820, die unter dem Kommando des Kapitäns Freycinet auf der 18 Sars 1846. 19 Helle 2006. 20 Sars 1841.

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Uranie stand, begegnete die Rurik auf ihrer Rückfahrt im April 1818 in Kapstadt. Als Zoologen waren die beiden Schiffsärzte Quoy und Gaimard an Bord. Nach der Rückkehr erstellten sie einen aufwendigen Bericht, in dem unter anderem 13 Arten von Salpen beschrieben wurden. Die Arbeit von Chamisso wird von ihnen zitiert und es wird lange diskutiert, wie die Orientierung der Tiere beim Schwimmen ist. Chamisso wird als „naturaliste franÅais au service de la Russie“ bezeichnet, aber nach einer Erwähnung des Generationswechsels sucht man vergeblich.21 Die nächste Expedition von 1822–1825 mit der Coquille unter Kapitän Duperrey begleitete als Naturforscher Ren¦-PrimevÀre Lesson. Auch er schrieb in dem Reisebericht einen längeren Passus über Salpen. Er zitiert Chamisso, gibt aber dessen Beschreibung völlig falsch wieder.22 Danach lässt er in seiner eigenen Deutung der beiden Generationen seiner Phantasie freien Lauf. Er spekuliert, dass Einzelsalpen zu Gruppenkopulationen zusammen kommen und danach wieder auseinander gehen, „um neue Abenteuer im Schoß des Meeres zu bestehen“.23 Die dritte Expedition von 1826–1829 wurde von Dumont d’Urville geleitet, der schon auf der vorigen Reise stellvertretender Kommandant war. Chamisso hatte d’Urville 1825 in Paris kennen gelernt und hatte mit ihm und dessen Frau zusammen die Reise nach CaÚn zu seinem alten Regimentskameraden Louis de la Foye gemacht. D’Urville hat sogar gefragt, ob Chamisso ihn auf seiner nächsten Reise begleiten wolle. Chamisso lehnte das ab. Dadurch wurde die Zoologie wieder von Quoy und Gaimard bearbeitet. Diesmal nehmen sie die zwei verschiedenen Generationen und Chamissos Beschreibung zur Kenntnis, setzen aber wieder eine andere Deutung dagegen. Sie meinen, dass die beiden unterschiedlichen Formen durch unterschiedlichen Druck im Uterus zustande kommen.24 Interessant ist vielleicht noch, wie Cuvier die Tatsachen in der zweiten Auflage seines großen Werks Le RÀgne Animal wiedergegeben hat.25 Er zitiert Chamisso, aber keineswegs in einer Form, die darauf schließen lässt, dass er den Generationswechsel für eine wichtige Entdeckung hält. Cuvier beschreibt in seinem Werk zuerst die Kettensalpen. Dann sagt er : „M. de Chamisso assure d’avoir 21 Quoy / Gaimard 1824, S. 497–513, hier S. 498. 22 Lesson 1830, S. 256–279. 23 Übersetzung vom Verf.; im Original: „La f¦condation termin¦e, les salpas se d¦sagrÀgent et vaguent — l’aventure sur le sein des mers“. Lesson 1830, S. 262. 24 Quoy / Gaimard 1835, hier S. 567: „ […] leurs tassement dans l’uterus peut occasioner des difformit¦s […]“. 25 Die erste Auflage von Le RÀgne animal ist ohne Jahreszahl, wird meistens auf 1817 datiert, ist aber wohl schon 1816 erschienen. Die zweite Auflage ist ebenfalls ohne Jahreszahl, das Vorwort des 1. Bandes stammt von 1828, der 3. Band Mollusca ist aber wohl erst 1830 erschienen.

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constat¦ un fait beaucoup plus singulier encore …“. Das klingt nicht sehr überzeugt. In demselben geschraubten Satz beschreibt Cuvier den Generationswechsel.26 Zumindest ist er richtig wiedergegeben. In der deutschen Übersetzung von Cuvier’s Werk durch Voigt (1834) ist der Satz gar nicht mehr zu verstehen.27 Er wird von Voigt zusätzlich noch mit der Anmerkung versehen, dass Meyen hier eine andere Meinung vertritt. Dadurch wird natürlich die Richtigkeit von Chamissos Beobachtung zusätzlich in Frage gestellt. Aus diesem Grunde müssen wir uns noch mit dem Beitrag von Meyen zu dieser Diskussion auseinandersetzen.

Der Fall Meyen Der „Fall Meyen“ (ich nenne ihn bewusst so) ist am wenigsten zu verstehen, wenn man nur die publizierten Texte betrachtet. Es müssen hier noch andere Motive eine Rolle gespielt haben. Im Jahr 1830 wurde die erste preußische Weltumsegelung ausgerüstet. Naturforscher und Schiffsarzt an Bord wurde Franz Julius Ferdinand Meyen (1804–1840). Er war Militärarzt in Köln, Bonn, Potsdam und Berlin gewesen. Er hatte in Botanik promoviert, hatte den Saftstrom in Pflanzen beschrieben, hatte aber auch merkwürdige, naturphilosophisch angehauchte Ansichten, wenn auch sein Freund Ratzeburg dies in seinem Nachruf (1843) anders darzustellen versuchte. So behauptete Meyen, dass parasitische Pflanzen, wie Orobanche, nicht aus Samen entstehen, sondern durch die Wirtspflanze selbst gebildet werden. Er stritt ab, dass Spaltöffnungen sich öffnen können usw. Das Schiff, die Prinzess Louise, umrundete im Eiltempo den Globus; nach weniger als zwei Jahren, Ostern 1832, war es wieder zurück. Noch im selben Jahr publizierte Meyen in den Nova Acta eine 60 (!) Seiten lange Arbeit über Salpen. Warum gerade über Salpen? War ihm das nahegelegt worden? Meyen leugnete den Generationswechsel, drückte sich allerdings etwas gewun26 Cuvier 1828, S. 239: „M. de Chamisso assure avoir constat¦ un fait beaucoup plus singulier encore, c’est que les individus qui sont sortis ainsi d’un ovaire multiple n’en ont point de pareil, mais produisent seulement des individus isol¦s et assez diff¦rens pour la forme, qui, eux, donnent des ovaires pareils — celui don’t est sorti leur mÀre, en sorte qu’il y aurait alternativement une g¦n¦ration peu nombreuse d’individus isol¦s, et une g¦n¦ration nombreuse d’individus agr¦g¦s, et que ces deux g¦n¦rations alternantes ne se resembleraient pas.“ Man vergleiche damit den völlig klaren und eindeutigen französischen Text bei Chamisso (1818, S. 207, zitiert in Glaubrecht / Dohle 2012, S. 330). Übrigens, das Wort „Ovar“ vermeidet Chamisso absichtlich, er benutzt Uterus; das Wort „ovaire multiple“ ist eine Erfindung von Cuvier. 27 Cuvier 1834, deutsche Übersetzung durch Voigt, S. 574: „Meyen (l. c.) sagt, er könne zwar noch keine directen Gegenbeweise beibringen, glaubt aber doch, dass die Sache sich nicht so verhalte; wenigstens habe er oft in solchen angeführten Arten jedes Mal nur ein Junges im Inneren gesehen, die sich, geboren, nachmals doch aneinander reihten.“

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den aus. Er behauptete, dass er bei der „unzählbaren Menge von Individuen“, die er gesehen hat, nie eine kettenbildende Einzelsalpe gefunden habe.28 Das ist nachweislich falsch. In der Arbeit von Meyen ist eine Einzelsalpe (Oozooid) von Thalia democratica sehr genau abgebildet, bei der der Stolo prolifer, der sich hier kreisförmig um den Nucleus windet, deutlich eingezeichnet ist (Figur 4B). Von dieser Art hat Meyen auch Sammlungsmaterial ins Museum gegeben. Dieses Material habe ich mir angesehen. In den Kettensalpen (Blastozooiden), die er im Gegensatz zu der Einzelsalpe nur sehr ungenau abgebildet hat, ist bei mehreren Individuen das jeweils einzige Oozooid in der Kloakenhöhle bereits weit herangewachsen und zeigt klar die Merkmale, die es von dem Elterntier unterscheiden, z. B. die langen hinteren Dornen. Die beiden deutlich unterschiedlichen Generationen sind hier also, wie bei Salpen üblich, ineinander geschachtelt. Es ist fast unmöglich, dass Meyen dies nicht gesehen hat. Meyen hat außerdem in Kettensalpen von Cyclosalpa pinnata, also der „Paradesalpe“ von Chamisso, die Embryonen der Einzelsalpen, die sich in der Kloakenhöhle entwickeln, nicht nur gesehen, sondern auch sehr genau gezeichnet. Er ordnete acht von diesen heranwachsenden Einzelsalpen in einer Entwicklungsreihe an (Figur 4 A). Der älteste gezeichnete Embryo ist so weit entwickelt, dass er die Merkmale, die ihn von der mütterlichen Kettensalpe unterscheiden, schon alle haben müsste, z. B. die viermal unterbrochenen, sehr auffälligen Leuchtorgane; genau diese sind aber in der Abbildung weggelassen. Dagegen ist die Gehirnanlage, die Chamisso nicht erkannt hat, eingezeichnet, ebenso die Knospe des Stolo prolifer. Es liegt also auf der Hand, dass Meyen Details, die für Chamissos These sprachen, bewusst unterdrückte. Was ja auch nicht zu verstehen ist: Meyen hätte sich in Berlin mit Chamisso besprechen können. Wenn er dies vermeiden wollte, hätte er sich dessen Sammlungsmaterial im Museum ansehen können, bei dem selbst heute noch Chamissos Beobachtungen und Schlussfolgerungen nachvollziehbar sind. Meyen machte nach der Rückkehr und nach dieser Publikation eine steile Karriere. Er wurde 1834 außerordentlicher Professor für Zoologie und Naturgeschichte an der Universität, eine Berufung, die nicht leicht nachzuvollziehen ist, wenn man sieht, welches hohe Niveau damals die zoologisch orientierten Professoren an der Berliner Universität, wie Lichtenstein, Rudolphi oder Ehrenberg, hatten. Ich vermute, dass hier auch politische Gründe eine Rolle spielten. Sicher war bei Hofe gern gesehen, dass Meyen befördert wurde. Er hatte immerhin die Ergebnisse von jemandem wie Chamisso, der sozialkritische und politisch brisante Gedichte drucken ließ, der den dem Königshaus verhassten französischen Dichter B¦ranger verehrte und übersetzte und sich völlig unge28 Meyen 1832, S. 403. Die Arbeit ist wortgleich, nur mit anderer Paginierung, nochmals in dem Expeditionsbericht 1834 abgedruckt.

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Figur 4. Salpen. Ausschnitte aus der Arbeit von Meyen (1832): A: Salpa (=Cyclosalpa) pinnata. Acht Embryonen von Einzelsalpen (Oozooiden), die sich in der Kloakenhöhle je einer Kettensalpe entwickeln. Fig. 16 Ein weit entwickelter Embryo, der nicht weit davon entfernt ist, sich abzulösen. Vergleiche Fig 1I bei Chamisso (1819, 1820). Abkürzungen (gelten nur für Fig. 16): b Placenta, c Nabelstrang, d Mundöffnung, e Eläoblast, f Knospe des Stolo prolifer, g Kiemenbalken, h Gehirnanlage. Muskeln und Leuchtorgane sind nicht eingezeichnet, obwohl sie vorhanden sein müssen. B. Salpa (=Thalia) democratica. Einzelsalpe (Oozooid) mit kreisförmig aufgerolltem Stolo prolifer.

niert an der französischen Juli-Revolution 1830 begeisterte, in Frage gestellt und damit dessen wissenschaftlichen Ruf angekratzt. Dies führt zu einer weiteren Frage: Wieso war Chamisso nicht längst den Einwänden entgegen getreten? Wieso hat er nicht weitere Fakten gesammelt oder das vorhandene Material ausgearbeitet, um seine These zu unterstützen? Nach der Replik in der Isis hat er sich 15 Jahre lang nie wieder öffentlich über Salpen oder den Generationswechsel geäußert. Das befremdet. Chamisso hat an den Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte 1828 in Berlin und 1830 in Hamburg teilgenommen, in Hamburg hat er sogar über Ergebnisse von Ehrenberg referiert.29 Wieso nicht über seine eigenen Ergebnisse? Hier kann man sich nur schwer in Chamisso hinein versetzen. Eine Entdeckung, die neu ist und 29 Ehrenberg, Christian Gottfried (1795–1876), Prof. f. Theorie, Geschichte und Methodik d. Medizin Univ. Berlin. Chamisso nahm intensiv Anteil am persönlichen und wissenschaftlichen Schicksal Ehrenbergs, siehe z. B. Briefstellen in Chamisso 1856, Bd. 6, S. 129, 206f., 229f. Eine entsprechende Unterstützung durch Ehrenberg ist nicht bekannt.

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die man auch selbst für wichtig hält, würde man vehement gegen skeptische Einwände verteidigen, würde mit Demonstrationsmaterial die Kollegen zu überzeugen versuchen. Nur einmal noch tauchen die Salpen und der Generationswechsel später in Chamissos Texten auf, und zwar in dem im Winter 1834/35 geschriebenen und 1836 gedruckten Tagebuch der Reise um die Welt. Dort wird das Phänomen in zwei Sätzen zwar präzise, aber im Plauderton vorgestellt. Er nennt es zwar eine „uns wichtig dünkende Entdeckung“, aber niemand kann an diesem Text die einhellige Ablehnung erkennen, die damals und noch für weitere Jahre dieser Beschreibung entgegen schlug.30 Bis zu seinem Tode ist in keinem mir bekannten Werk die Entdeckung des Generationswechsels gewürdigt oder nur eindeutig wiedergegeben worden, geschweige denn an einem anderen der vielen Beispiele im Tier- und Pflanzenreich nachvollzogen oder bestätigt worden. Das passierte erst etliche Jahre später.

Die Bestätigung des Generationswechsels Aus den handschriftlichen Notizen Chamissos ergibt sich, dass Chamisso und Eschscholtz den Generationswechsel bei der Salpe, die sie zuerst Salpa mirabilis nannten, innerhalb weniger Tage erkannt haben. Genau genommen waren es vier Tage, nämlich zwischen dem 13. September 1815, an dem nach den Stürmen in der Biskaya die Windstille einsetzte, und dem 16. September, an dem Chamisso seine lateinische Eintragung in dem Reisetagebuch machte. Die beiden Generationen sind in diesen Notizen bereits völlig eindeutig charakterisiert, ebenso die unterschiedliche Weise, wie sie entstehen. Demgegenüber nimmt die Entdeckung der nächsten Fälle von Generationswechsel einen erheblichen Zeitraum in Anspruch. Als ein Beispiel unter vielen soll hier der Fall der Ohrenqualle Aurelia aurita besprochen werden, die auch heute noch als Schulbuchbeispiel für Metagenese, also den Wechsel zwischen vegetativer und sexueller Fortpflanzung, dient. 1829 hatte Sars in der schon oben erwähnten Publikation zwei neue „Seethiere“ beschrieben, Scyphistoma filicorne und Strobila octoradiata. Obwohl sie eigentlich an den Meeresküsten häufig vorkommen, waren sie noch nie beschrieben worden. Sars hatte auch keinerlei 30 Chamisso 1856, Bd. 1, S. 41: „Hier beschäftigten mich und Eschscholtz besonders die Salpen, und hier war es, wo wir an diesen durchsichtigen Weichthieren des hohen Meeres die uns wichtig dünkende Entdeckung machten, daß bei denselben eine und dieselbe Art sich in abwechselnden Generationen unter zwei sehr wesentlich verschiedenen Formen darstellt; daß nämlich eine einzeln freischwimmende Salpa anders gestaltete, fast polypenartig aneinander gekettete Jungen lebendig gebiert, deren jedes in der zusammen aufgewachsenen Republik wiederum einzeln freischwimmende Thiere zur Welt setzt, in denen die Form der vorvorigen Generation wiederkehrt.“

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Ahnung, dass sie zwei Stadien im Lebenszyklus ein und derselben Art waren, und er beschrieb sie deshalb unter zwei verschiedenen Gattungsnamen. Wie sich später zeigte, bildet sich der Scyphistoma-Polyp zu der Strobila dadurch um, dass die Tentakel sich zurückbilden und am Stiel ringförmige Einschnitte gebildet werden, so dass das Tier wie ein Zapfen aussieht und schließlich wie ein Stapel kleiner Tellerchen. Der jeweils oberste Teller löst sich dann als junge Qualle ab. Sars hatte bei seinen Beobachtungen solche Ablösungen gesehen und sah die kleinen Quallen davon schwimmen, war aber dadurch nur verwirrt. Er meinte, er habe hier ein „Bindeglied zwischen vestsitzenden Zoophyten und den Medusen“ vor sich.31 Im selben Jahr, 1829, publizierte Eschscholtz seine Monographie über die Acalephen, das sind die freischwimmenden Quallen, über deren Reproduktion trotz einer Unzahl bereits beschriebener Arten keinerlei Kenntnisse vorlagen. Eschscholtz beschrieb auch die kleine Qualle, die Sars gesehen hatte, als Ephyra octolobata, war aber der Meinung, eine fertige Qualle vor sich zu haben. In diesem Jahr 1829 wurden also drei Stadien aus dem Lebenszyklus der Ohrenqualle, die als erwachsenes Tier unter dem Namen Medusa aurita ja längst bekannt und beschrieben war, unter drei verschiedenen Gattungs- und Artnamen beschrieben. Ein genetischer Zusammenhang wurde gar nicht in Erwägung gezogen. Es dauerte dann über zehn Jahre, bis die Lücken im Lebenszyklus geschlossen werden konnten. Es musste dafür beobachtet werden, dass die winzigen Ephyren binnen eines halben Jahres zu den riesigen Ohrenquallen heranwachsen, dass aus deren Eiern bewimperte Larven schlüpfen, die sich ins freie Wasser begeben, dann festsetzen und sich zu den ScyphistomaPolypen umbilden und dass diese zur Vorbereitung der Querteilungen zu einer Strobila werden. Es dauerte noch bis 1841, also drei Jahre nach Chamissos Tod, bis Sars den vollständigen Lebenszyklus der Ohrenqualle präsentieren konnte. In dieser selben Publikation steht eine Fußnote, dass Sars auch den Zyklus der Salpen beobachtet hatte und dass er der Meinung war, „dass Chamisso (welcher von mehreren Naturforschern so üble Worte über seine redlichen Beobachtungen hören musste, weil diese nicht in ihre Systeme passten) doch im Wesentlichen ihre Entwicklung richtig beobachtet hat“.32 Diese Aussage war durch einen glücklichen Zufall möglich. 1839 war wieder eine Situation wie 1827, dass Salpen an die norwegische Küste gespült wurden, und Sars hat an zwei Arten den Generationswechsel bestätigt. Erst 1846 wurde diese Beobachtung ausführlich publiziert. Aber vorher hatte Steenstrup (1842) schon die Beobachtungen von Sars, sowohl was die Medusen wie die Salpen betrifft, aufgegriffen, hatte selbst Untersuchungen an Hydrozoen gemacht und hatte die bekannten Fälle von 31 Das Zitat ist der Arbeit von Thienemann (1833), welche die Ergebnisse von Sars (1829) zusammenfasst, entnommen, hier Sp. 226. 32 Sars 1841, S. 29.

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mehreren Generationen bei Distomen, also Trematoden, einbezogen und schrieb ein grundlegendes Buch über den Generationswechsel. Insofern kann man die Jahre 1841 und 1842 als diejenigen ansehen, in denen die ablehnende Barriere durchbrochen wurde, die gegen die Akzeptierung eines Generationswechsels offensichtlich bestand. Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen und kann diese frühen 1840er Jahre als den Kipppunkt betrachten, an dem die Waage sich so neigte, dass die exakte und wiederholbare Beobachtung durchgehend das stärkere Gewicht und die Priorität vor der vorgefassten Meinung und der ideologischen Spekulation erhielt. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Meeresbiologie. Ab 1840 nahm die Zahl der Untersuchungen über Entwicklung, Metamorphosen der Larven und Lebenszyklen bei marinen Tieren sprunghaft zu. Während bis dahin allein schon die Existenz von anders gebauten Jugendstadien entweder überhaupt nicht in Betracht gezogen oder kategorisch geleugnet wurde, wurden nun die Tiere über lange Zeit beobachtet, gehältert und ihre unterschiedliche Reproduktion minutiös beschrieben. Diese Aussage gilt für fast alle Gruppen von Meerestieren.

Wissenschaftshistorische Einordnung Der Generationswechsel ist ein Phänomen, das, wie gesagt, keineswegs nur bei Salpen, sondern bei mehreren anderen Gruppen des Tier- und Pflanzenreichs auftritt. Insofern ist es fast als Kuriosum zu werten, dass dieser Wechsel zwischen zwei oder mehreren ungleichen Generationen nicht längst vorher bei anderen, leichter zugänglichen Objekten festgestellt wurde. Trotzdem ist die späte Entdeckung zu einem gewissen Teil verständlich. Es gibt dafür meines Erachtens zwei unterschiedliche Erklärungsmöglichkeiten. Die eine zieht mehr ideologische Gründe in Betracht, die andere fokussiert mehr auf technische Schwierigkeiten. Mit Sicherheit gab es eine Denkblockade, die ideologische Gründe hatte. Das ist zu erkennen an der fast allgemeinen Ablehnung durch die Fachwelt. Die Erörterung dieses Problems, nämlich die Nichtanerkennung eindeutiger und nachvollziehbarer Fakten durch die etablierte Wissenschaft zu Chamissos Zeit, ist bisher in der wissenschaftshistorischen Literatur kaum aufgegriffen worden. Ein deutliches analoges Beispiel bieten die larvalen Metamorphosen. Bei Schmetterlingen und bei Fröschen war eine tiefgreifende Verwandlung seit langem bekannt. Sie war so offensichtlich, dass sie gar nicht hinterfragt wurde. Selbst überzeugte Präformisten haben sie nicht als Problem empfunden, obwohl sie eklatant ihren Anschauungen widersprach. Bei wirbellosen Meerestieren war die Situation anders. Hier waren Larven und Metamorphosen bis Anfang des

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19. Jahrhunderts unbekannt. Daraus hatte sich die oft unausgesprochene Überzeugung entwickelt, dass Verwandlungen nicht existierten und auch nicht vorkommen durften. Ein Beispiel: Den Insekten als vollkommenen „Annulosa“ wurde Metamorphose zugestanden; die Krebse als angeblich weniger vollkommene Tiere durften sie nicht haben. Die Entdeckung durch Thompson (1828, 1835), dass sich die früher als Gattung beschriebene Zoea in eine Megalopa und dann in eine Krabbe umwandelt, wurde jahrelang negiert und von Entomologen wütend bekämpft.33 Erst in den 1840er Jahren gelang, wie zeitgleich beim Generationswechsel, der ideologische Durchbruch, nämlich dass die Beobachtung Priorität vor der ideologischen Festlegung erhielt. Chamisso war diesen Schritt „von der Spekulation zur Erfahrung“ früher und konsequenter gegangen als andere.34 Ein anderer Erklärungsstrang betrifft mehr die technischen Schwierigkeiten. Generationswechsel kommt nicht bei Tieren vor, die man bequem wie eine Seidenraupe oder eine Kaulquappe halten und ihre jeweilige Metamorphose ohne besondere Hilfsmittel und kontinuierlich bei einzelnen Exemplaren betrachten und verfolgen kann. Bei den meisten Beispielen, wie bei Scyphozoen und Hydrozoen, sind im Lebenszyklus mikroskopische Stadien eingeschaltet, die nicht leicht zu isolieren und weiter zu halten sind. Bei Trematoden leben zusätzlich Stadien parasitisch in verschiedenen Wirten. Ihre Entdeckung geht weit über die Liebhaber-Beobachtung hinaus. Entsprechend brauchte es lange Zeit und viel Geduld, den Entwicklungsgang von Polyp und Meduse oder die verschiedenen Generationen eines Leberegels zusammenzusetzen. Hier hatte Chamisso den unleugbaren Vorteil, dass er viele Exemplare beider Generationen gleichzeitig betrachten konnte und dass die Generationszeiten bei Salpen unglaublich kurz sind.35 Sein Nachteil war es, dass Salpen als Hochseetiere zur Nachprüfung nicht jedem zugänglich waren und dass seine Nachfolger auf 33 Westwood 1835. J. O. Westwood war Secretary of the Entomological Society. Er schrieb unter anderem in seinem Pamphlet 1835: „Annulosa which are less typical will not exhibit metamorphoses“. „The non-existence of transformation in the Crustacea in general has been asserted by every crustaceologist […]“; „[…] no sufficient ground … that a metamorphosis of Zoes into Crabs takes place.“. „[…] optical delusion or other case of error in the isolated observations which Mr. Thompson has given us.“. „[…] totally at variance with one of the received principles of ecdysis […]“. Thompson hatte die Metamorphose bei Cirripediern und einer großen Zahl von Krabben nachgewiesen. 34 Chamisso hatte diesem Grundsatz in vielen Briefen zu Anfang seines Studiums Ausdruck gegeben. Im November 1812 schreibt er an Louis de la Foye: „Der Wissenschaft will ich durch Beobachtung und Erfahrung, Sammeln und Vergleichen mich nähern.“ Am. 17. November 1812 an Rosa Maria Assing, geb. Varnhagen: „Tauge ich überhaupt zu irgend etwas, so ist es für die Naturwissenschaften, auf dem Wege der Erfahrung … und von müßiger Spekulation wend’ ich mich mit Verdruß ab.“ Zitate aus Chamisso 1856, Bd. 5, S. 370 u. 371. 35 Bei der Art Thalia democratica kann der life cycle in nur 46 Stunden vollendet sein (Godeaux et al. 1998, S. 18).

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französischen, russischen und deutschen Schiffen in den 1820er und 1830er Jahren oberflächliche oder voreingenommene Beobachter waren, die „die Sache mehr verwirrt als beleuchtet“ haben.36 Dies verhinderte eine Bestätigung von Chamissos Entdeckung. Auf jeden Fall war Chamisso mit seiner klaren Beschreibung des Generationswechsels seiner Zeit um gute 20 Jahre voraus. Dies rechtfertigt, dass er als der erste Entdecker des Phänomens gefeiert wird. Es ist vielfach versucht worden, die Bedeutung der Entdeckung für die Biologie zu überhöhen. Klengel (1913) schreibt, dass „in mancher Beziehung ein Vergleich mit Charles Darwin nahe liegt“. Portmann (1965) meint, dass die Entdeckung Chamissos „das Denken in den Begriffen der Evolutionstheorie vorbereitet“ hat.37 Das trifft nicht zu. Es ist Glaubrecht zuzustimmen, dass „Chamisso keinesfalls ein darwinistischer Vorläufer mit einer dynamisch-transmutativen Vorstellung im Sinne der späteren Evolutionstheorie“ war.38 Chamisso hat an der Konstanz der Arten festgehalten, und meines Erachtens zu seiner Zeit auch zu Recht. In den Zeiträumen, in denen man damals meistens dachte, waren die Arten tatsächlich weitgehend konstant. Die seinerzeit kursierenden Theorien über Transformationen waren sehr wenig begründete Spekulationen. Erst später begann man, in ,geologischen‘ Zeiträumen zu denken, in denen sich realistischerweise die Veränderungen der Arten vollzogen haben konnten. Wenn man nach parallelen Fällen sucht, nämlich solchen, bei denen eine wichtige Entdeckung anfangs abgelehnt wurde und für eine gewisse Zeit in Vergessenheit geraten ist, dann liegt ein Vergleich mit der Entdeckung der Vererbungsgesetze durch Gregor Mendel (1822–1884) nahe. Mendel hat seine „Gesetze“ ganz klar herausgearbeitet, er hat sie 1866 publiziert, und entgegen manchen anders lautenden Annahmen ist diese Publikation durchaus zur Kenntnis genommen worden.39 Sie wurde bewusst ignoriert, z. B durch Nägeli, die damalige Autorität in Fragen von Pflanzenhybriden, teilweise bekämpft und auch lächerlich gemacht. Mendel setzte sich, ähnlich wie Chamisso, in der Folge nicht intensiv für die Popularisierung seiner Entdeckung ein, und sie geriet lange Zeit in Vergessenheit. Bei Mendel waren es sogar 34 Jahre, bis die Zeit reif war und die Gesetze gleichzeitig durch mindestens drei Forscher wieder entdeckt wurden. Aber auch in seinem Fall war es so, dass er diese Rehabilitierung nicht mehr selbst erlebt hat. Mendel starb 16 Jahre, bevor Tschermak, de Vries und Correns 1900 unabhängig voneinander Mendels Gesetze wieder entdeckten und 36 Sars 1846, S. 69. 37 Die beiden Zitate sind dem Buch von Schneebeli-Graf (1983) entnommen, hier S. 288 u. S. 294. 38 Glaubrecht 2013, S. 71. 39 Mendel 1866. Mayr 1984 widmet der Frage auf S. 578–581 ein Kapitel unter der Überschrift „Warum Mendels Werk unbeachtet geblieben war“.

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damit das Zeitalter der Genetik einläuteten. Chamisso starb drei Jahre, bevor der nächste Fall von Generationswechsel belegt werden konnte, und acht Jahre, bevor 1846 ebenfalls gleichzeitig und unabhängig voneinander Michael Sars und David August Krohn den Generationswechsel bei Salpen eindeutig bestätigten, zu einer Zeit, als die Untersuchungen über Entwicklung und Lebenszyklen mariner Tiere zu boomen begannen.

Danksagung Frau Monika Sproll und Frau Anja Stimberg, die mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung den Nachlass Chamisso im Verbundkatalog Kalliope verzeichnen, machten mich auf die lateinischen Notizen über die Salpen in den Reisetagebüchern aufmerksam. Frau Dr. Jutta Weber, stellvertretende Leiterin der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, übersetzte die lateinischen Texte. Frau Martina Rissberger und Herr Hans-Ulrich Raake waren in der Bibliothek des Museums für Naturkunde bei der Suche nach Literatur behilflich. Ihnen allen gilt mein Dank.

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Chamisso und seine Entdeckung des Generationswechsels bei den Salpen

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Botanische Orte: Sammeln und Auswerten

Besucher des Botanischen Museums Berlin-Dahlem sind oft verwundert, wenn sie in der Eingangshalle auf ein Bronzemedaillon von Adelbert von Chamisso stoßen (Abb. 1), denn selbst Chamisso-Kennern ist oft nicht bekannt, dass der Dichter in seiner zweiten Lebenshälfte Botaniker war.1 Sein Arbeitsplatz war aber nicht in Dahlem, sondern im alten Botanischen Garten in Schöneberg.

Abb. 1: Adelbert von Chamisso, Bronzemedaillon nach einer Plakette von David d’Angers; früher an seinem Sterbehaus in der Friedrichstraße 235 in Berlin, seit 1959 in der Eingangshalle des Botanischen Museums Berlin-Dahlem.

Nachdem Preußen von Napoleon besiegt worden war, erreichte Chamisso 1808 den schon 1806 beantragten Abschied vom preußischen Militärdienst. Im Januar 1810 folgte er seinen Brüdern nach Frankreich, konnte dort aber keine ihm zusagende Tätigkeit finden. Bei einem mehrere Monate dauernden Aufenthalt in Paris pflegte er besonders zu einigen Deutschen Kontakt und lernte auch den 1 Vgl. Hiepko 2000, 2004. Vgl. auch Wagenitz 2004.

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schon berühmten Forschungsreisenden Alexander von Humboldt kennen, der dort an der Auswertung seiner Sammlungen aus Südamerika arbeitete. 1811 lud ihn die von Napoleon ausgewiesene Schriftstellerin Germaine de StaÚl, bei der er schon vorher einige Zeit verbracht hatte, nach Coppet am Genfer See ein. Dort traf er den Sohn Madame de StaÚls, Auguste, der botanisch sehr interessiert war und mit Chamisso ausgedehnte Exkursionen in die Berge der Umgebung unternahm. Um die reiche Alpenflora besser kennen zu lernen, sammelte er viele Pflanzen und legte ein Herbarium an. Hierdurch ergab sich die für seinen weiteren Lebensweg entscheidende Hinwendung zur Botanik. „Der Wissenschaft will ich durch Beobachtung und Erfahrung, Sammeln und Vergleichen mich nähern“, schrieb er an seinen Freund Louis de la Foye.2 Chamisso ging zum Studium aber nicht nach Paris, sondern kehrte nach Berlin zurück, um im Herbst 1812 als 31jähriger an der dortigen Universität das Medizinstudium zu beginnen – damals die einzige Möglichkeit Biologie zu studieren. Doch schon im Frühjahr 1813 musste er das Studium unterbrechen, weil Freunde ihm bei Beginn der Befreiungskriege gegen die französische Besatzung rieten Berlin zu verlassen. Durch Vermittlung seines Zoologie-Professors Heinrich Lichtenstein ging Chamisso für ein halbes Jahr als Gast auf das von Friedland-Itzenplitzsche Gut in Kunersdorf am Rande des Oderbruchs, wo er u. a. die Söhne des Gutsherren in Französisch und Botanik unterrichtete. Dort entstand sein wohl bekanntestes Werk: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Er beschäftigte sich aber besonders intensiv mit der Flora der Umgebung und verfasste seine erste botanische Veröffentlichung mit dem Titel Adnotationes quaedam floram berolinensem C. S. Kunthii, die 1815 als Anhang zu der dritten Auflage vom Verzeichniss der auf den Friedländischen Gütern cultivierten Gewächse veröffentlicht wurde.3 Im Herbst 1813 setzte Chamisso das Studium in Berlin fort. Aus dem Nachruf des Studienfreundes und späteren Kollegen Diederich Franz Leonhard von Schlechtendal wissen wir, dass er das Studium sehr eifrig betrieb. Ueberall war Chamisso voran, der erste, der eifrigste, von kräftigem Körper und fester Ausdauer. Eine alte schwarze Kurtka oder eine nicht minder alte, etwas verschossene und fleckige Sommerkleidung, […] eine schwarze Mütze von Samt oder Tuch auf dem lockigen Haupte, eine mächtige grüne Kapsel an ledernem Riemen umgehängt, eine kurze Pfeife im Mund, […] das war der Aufzug, in welchem er auszog, und Abends, durch Schweiss und Staub nicht verschönert, oft noch ein kräutergefülltes Taschentuch in der Hand, den geputzten Schaaren der Berliner Sonntagswelt entgegen trat, und uns gutmühtig neckte, wenn wir nicht mit ihm den graden Weg durch die Stadt ziehn wollten, sondern Umwege und Seitenstrassen wählten, um unbemerkt nach Hause zu gelangen.4 2 Zitiert nach Schmid 1942, S. 21. 3 Vgl. Sproll 2014, S. 9. 4 Schlechtendal 1839, S. 95.

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Chamissos größter Wunsch war es aber, eine Forschungsreise in ferne Länder zu unternehmen. Nachdem die Bemühungen zur Teilnahme an einer Brasilienreise negativ ausgingen, ergab sich überraschend die Möglichkeit als Naturforscher an einer russischen Expedition teilzunehmen. Das unter dem Kommando des Kapitäns Otto von Kotzebue stehende Segelschiff Rurik sollte die Möglichkeit einer Durchfahrt vom Stillen zum Atlantischen Ozean entlang der Nordküste Russlands erkunden. Obwohl dieses Hauptziel der Reise nicht erreicht wurde, erlebte Chamisso eine dreijährige Weltreise, über Teneriffa nach Brasilien, vorbei an Kap Hoorn nach Chile und über mehrere Inselgruppen der Südsee nach Kamtschatka. Nach dem ersten Vorstoß in die Beringstraße ging es wieder nach Süden, über Kalifornien und Hawaii zu den Ratak-Inseln. 1817 führte ein erneuter Vorstoß nach Norden zu einem längeren Aufenthalt auf der AlÚutenInsel Unalaschka (heute Unalaska). Chamisso bemühte sich auf allen Stationen der Reise möglichst viele Pflanzen zu sammeln und zu herbarisieren, was wegen der sehr beengten Verhältnisse auf dem Schiff nicht leicht war. Er musste die Pflanzen beim Trocknen bewachen und das Herbarmaterial in seiner Koje verstecken. Selbst der Kapitän hatte kein Verständnis für das Sammeln der Pflanzen und anderer Objekte, weil der ebenfalls anwesende Zeichner alles festhalten könne. Nur der zoologisch interessierte Schiffsarzt Johann Friedrich Eschscholtz mit dem Chamisso sich angefreundet hatte, half ihm beim Sammeln. So gelang es Chamisso eine umfangreiche Sammlung von Pflanzen, Tieren und Mineralien nach Berlin zu bringen. Die Pflanzensammlung mit rund 2500 Arten und zahlreichen Dubletten behielt er selbst, die anderen Teile der Sammlung übergab er den Museen der Universität. Sie werden heute im Museum für Naturkunde in Berlin aufbewahrt.5 Nach seiner Veröffentlichung über den Generationswechsel der Salpen6 im Jahr 1819, der wichtigsten zoologischen Entdeckung der Reise, die er zusammen mit Eschscholtz gemacht hatte, wurde Chamisso die Ehrendoktorwürde verliehen. Direkt danach wurde er als „Mitaufseher des botanischen Gartens“7 im Königlichen Botanischen Garten in Schöneberg bei Berlin angestellt. Am Eingang des Gebäudes des alten Botanischen Museums, das lange nach Chamissos Tod am Südrand des Botanischen Gartens – dem heutigen Kleistpark in Berlin-

5 Pers. Mitt. von Dr. Hannelore Landsberg, wonach von Chamisso gesammelte Mineralien, Korallen, Seepocken, Mollusken, Insekten, Salpen, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger im Museum für Naturkunde sicher vorhanden sind; Zahlenangaben sind nicht möglich, weil sich alle Objekte in den systematisch geordneten Sammlungen befinden. Außerdem gibt es dort Holzmodelle verschiedener Walarten von den AlÚuten. 6 Die Bedeutung dieser Entdeckung wurde erst kürzlich von Glaubrecht und Dohle (2012) ausführlich gewürdigt. 7 Urban 1916, S. 16.

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Schöneberg – errichtet wurde, befindet sich eine „Berliner Gedenktafel“, auf der an die Tätigkeit Chamissos im ehemaligen Botanischen Garten erinnert wird. Obwohl er ursprünglich mit der wissenschaftlichen Aufsicht über den Botanischen Garten beauftragt war, arbeitete er bald mehr in dem neu gegründeten Königlichen Herbarium in der Nähe des Gartens, dem sein Studienfreund Schlechtendal als Kustos vorstand. Hier wertete er zunächst in erster Linie seine eigenen Sammlungen aus und veröffentlichte schon 1820 die Beschreibungen von drei neuen Pflanzengattungen, die er auf der Weltreise entdeckt hatte.8 Dazu gehörte auch der an der Küste Kaliforniens gesammelte Goldmohn, den er nach seinem Freund Eschscholtz mit dem wissenschaftlichen Namen Eschscholzia benannte (Abb. 2).

Abb. 2: Eschscholzia californica Cham., Tab. XV zur Erstbeschreibung in ,Horae physicae berolinenses‘ 1820 (Bibliothek des Botanischen Museums Berlin-Dahlem).

8 Chamisso 1820.

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Dieser Name der heute wegen ihres mützenförmigen Blütenkelches auch als Schlafmützchen bekannten Zierpflanze wurde später öfters durch Ergänzung des „t“ zu Eschscholtzia korrigiert, was aber nach den internationalen botanischen Nomenklaturregeln nicht zulässig ist. Denn es handelt sich hier offenbar nicht um einen Druckfehler, da Chamisso den Namen in lateinischen Texten mehrfach nur mit „z“ schrieb (vgl. Abb. 3, 4. Zeile von unten). Ende 1822 erhielt „Chamisso vom hohen Ministerium den Auftrag, dreißig kleine Herbarien für den botanischen Unterricht auf Schulen einzurichten.“9 Im Zusammenhang mit dieser Aufgabe entstand auch ein mehr als 500 Seiten umfassendes Lehrbuch mit dem Titel Uebersicht der nutzbarsten und der schädlichsten Gewächse, welche wild oder angebaut in Norddeutschland vorkommen.10 Dieses Lehrbuch enthält ein sehr interessantes einleitendes Kapitel „Ansichten von der Pflanzenkunde und dem Pflanzenreiche“,11 das er selbst in einem Brief an seinen Freund Louis de la Foye als sein „wissenschaftliches Glaubensbekenntnis“12 bezeichnet hat. Darin fällt zunächst auf, dass Chamisso sich von den Vorstellungen der Romantischen Naturphilosophie seiner Zeit, die Urzeugung und Umwandlung von Gattungen und Arten für gegeben hielt, ausdrücklich distanziert. Diese Einstellung Chamissos ist sicher auf den Einfluss seiner Lehrer an der Universität zurückzuführen, von denen die meisten ausgesprochene Gegner der Romantischen Naturphilosophie waren13. Seine Ablehnung formuliert er auch an anderer Stelle recht drastisch. Im Tagebuch seiner Reise um die Welt schreibt er, weil ein Algenspezialist bei von ihm gesammelten „Seepflanzen“ die Verwandlung von Gattungen und Arten in andere Gattungen und Arten annahm: Ich habe wohl in meinem Leben Märchen geschrieben, aber ich hüte mich, in der Wissenschaft die Phantasie über das Wahrgenommene hinaus schweifen zu lassen. Ich kann in einer Natur, wie die der Metamorphosler sein soll, geistig keine Ruhe gewinnen. Beständigkeit müssen die Gattungen und Arten haben, oder es gibt keine.14

In diesem Text findet man auch mehrere heute noch gültige Grundsätze der Biodiversitätsforschung. So wird zum Beispiel die große Bedeutung wissenschaftlicher Pflanzensammlungen klar hervorgehoben: Dem Botaniker ist ein Herbarium notwendig. Das Herbarium ist sein lebendiges Gedächtnis, darin lieget ihm zu jeder Zeit die Natur zur Ansicht, zur Vergleichung, zur

9 10 11 12 13 14

Schlechtendal 1839, S. 101. Chamisso 1827. Dieses Kapitel findet man bei Schneebeli-Graf 1983, S. 149–223. Zitiert nach Schmid 1942, S. 62. Wagenitz 2005, S. 41ff. Chamisso 1975, Bd. 2, S. 243.

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Untersuchung vor. […] Proben, die von den Naturforschern herrühren, welche die Arten benannt und bekannt gemacht haben, werden vorzüglich wert gehalten.15

Die zuletzt genannten Proben sind noch heute in der botanischen Taxonomie unentbehrliche Belege, die als nomenklatorische Typen bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang sieht Chamisso als wichtigste Aufgabe des Botanikers die natürliche Verwandtschaft der Pflanzen zu erkennen, um sie in das nach dem künstlichen System Linn¦s neu entwickelte natürliche System einordnen zu können. Die Einordnung neuer Pflanzengattungen in die Familien dieses natürlichen Systems ist deshalb eine nicht zu unterschätzende wissenschaftliche Leistung, wie zum Beispiel die richtige Zuordnung der neuen Gattung Eschscholzia durch Chamisso zu der Familie der Mohngewächse (Papaveraceae) zeigt. Denn der bedeutende Genfer Botaniker Augustin Pyramus de Candolle16 stellte die Gattung später fälschlich in eine andere Pflanzenfamilie. Herbarien sind aber auch für die Erforschung der Flora eines Landes von großer Bedeutung. So schrieb beispielsweise Eric Hult¦n, Autor der zehnbändigen Flora of Alaska and Yukon (Lund 1941–1950) in einem Artikel über die botanische Erforschung dieses Gebietes, nachdem er die unzureichende Bearbeitung früher Pflanzensammlungen beklagt hatte: Chamisso stands out as the one splendid exception to this rule. This prescient and brilliant investigator was the first systematically to collect all vascular plants found in the place he visited. He not only made excellent collections but also worked them up and published accounts of them with full details. From his work the scientific world was for the first time able to form some conception of the total flora of vascular plants found in one place in Alaska.17

Die meisten botanischen Arbeiten erschienen ab 1826 in den ersten zehn Bänden der von Chamisso mit initiierten und von Schlechtendal herausgegebenen Fachzeitschrift Linnaea (Abb. 3). Es handelt sich dabei um die nach Pflanzenfamilien geordneten Bearbeitungen seiner eigenen und anderer neuerer Sammlungen aus Süd- und Mittelamerika, die meist in Zusammenarbeit mit Schlechtendal entstanden. Nach Günther Schmid, der 1942 eine vollständige Bibliographie der naturwissenschaftlichen Publikationen Chamissos veröffentlichte, umfassen diese Texte insgesamt 1950 Seiten18. Der Name Chamissos ist – allein oder in Kombination mit dem Schlechtendals – mit mehr als 1280 Namen neu beschriebener Gattungen und Arten verbunden (in der heute üblichen Abkürzung als Cham. bzw. Cham. / Schltdl.). 15 Schneebeli-Graf 1983, S. 221f. 16 Candolle 1828, S. 344. Eschscholzia mit ? bei den Loasaceae, einer Pflanzenfamilie, die im System weit von den Mohngewächsen entfernt steht. 17 Hult¦n 1940, S. 290. 18 Schmid 1942, S. 9.

Botanische Orte: Sammeln und Auswerten

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Abb. 3: Titelseite der ersten Veröffentlichung von Chamisso / Schlechtendal über die von Chamisso auf der Weltreise gesammelten Pflanzen im 1. Band der Zeitschrift Linnaea, 1826 (Bibliothek des Botanischen Museums Berlin-Dahlem).

Als Schlechtendal 1833 als Ordinarius an die Universität Halle berufen wurde, übernahm Chamisso für gut fünf Jahre bis zu seinem frühen Tod als erster Kustos die Leitung des Königlichen Berliner Herbariums. Das von ihm gesammelte Pflanzenmaterial einiger größerer Verwandtschaftskreise gab Chamisso bereitwillig zur Bearbeitung an Spezialisten ab, so z. B. die Farnpflanzen, die von dem Hallenser Botaniker Kaulfuss19 bearbeitet wurden. Während die Etiketten der von ihm selbst bearbeiteten Herbarbelege stets mit dem Kürzel „AdvCh“ versehen sind (siehe Abb. 4), schrieb er für das 19 Kaulfuss 1824.

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weitergegebene Material offenbar neue Herbarzettel mit dem Text „legit deditque AdvChamisso“ (Abb. 5).

Abb. 4: Herbaretikett einer 1829 von Chamisso im Königlichen Botanischen Garten gesammelten Pflanze. Das von Chamisso selbst geschriebene Etikett zeigt das kaligraphische Kürzel, das er schon während der Weltreise benutzte: AdvCh. Der Name Chamisso links unten wurde von D. F. L. von Schlechtendal ergänzt (Herbarium des Botanischen Museums Berlin-Dahlem).

Abb. 5: Etiketten auf dem Herbarbogen eines Typusbeleges eines von Chamisso auf der Insel Oahu gesammelten und von Kaulfuss neu beschriebenen Farnes Cibotium chamissoi. Auf dem offenbar neu geschriebenen Etikett Chamissos, der bei allen an Spezialisten weitergegebenen Pflanzen auftauchende Text: legit deditque AdvChamisso. Die neueren Revisionsetiketten lassen die Bedeutung derartiger Typusbelege für die taxonomische Forschung erkennen (Herbarium des Botanischen Museums Berlin-Dahlem).

Botanische Orte: Sammeln und Auswerten

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In Anerkennung seiner Leistungen wurden mehr als hundert Pflanzen- und mehrere Tierarten nach ihm benannt.20 Auch die Benennung von fünf Pflanzengattungen ist von seinem Namen abgeleitet. So ist das Andenken an die großen Leistungen des Naturforschers Adelbert von Chamisso auf Dauer bewahrt. Das Herbarium Chamissos mit rund 12000 Arten, einschließlich des ersten Satzes der während der Weltumseglung gemachten Sammlungen, wurde nach seinem Tod von der Kaiserlich Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg erworben und befindet sich noch heute in dem botanischen Institut der dortigen Akademie.21 Dem Königlichen Herbarium zu Berlin schenkte Chamisso viele Dubletten seiner Sammlung, die unglücklicherweise im 2. Weltkrieg größtenteils zerstört wurden.22 Unter dem geretteten Herbarmaterial befinden sich noch ca. 100 von Chamisso gesammelte Pflanzen, von denen 82 in dem im Aufbau befindlichen Virtuellen Herbarium des Botanischen Gartens und Botanischen Museums Berlin-Dahlem im Internet betrachtet werden können. Weitere Dubletten der Sammlungen Chamissos befinden sich in mehreren anderen Herbarien, so. z. B. in Halle, Hamburg, München, Brüssel, Kopenhagen, Leiden, London und St. Louis. Die im Herbarium der Universität Halle befindlichen Exemplare sind durch Schlechtendal dort hingelangt; viele dieser Belege kann man sich auch hier in einem Virtuellen Herbarium im Internet ansehen.

Abbildungen Herrn Michael Rodewald, Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-Dahlem, danke ich sehr für die Bearbeitung der Abbildungsvorlagen zu diesem Beitrag. Abb. 1. Adelbert von Chamisso, Bronzemedaillon nach einer Plakette von David d’Angers (Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-Dahlem). Abb. 2. Eschscholzia californica Cham., Tab. XV zur Erstbeschreibung in ,Horae physicae berolinenses‘ 1820 (Bibliothek des Botanischen Museums Berlin-Dahlem). Abb. 3. Titelseite des 1. Bandes der Zeitschrift Linnaea, 1826 (Bibliothek des Botanischen Museums Berlin-Dahlem). Abb. 4. Herbaretikett einer 1829 von Chamisso im Königlichen Botanischen Garten gesammelten Pflanze (Herbarium des Botanischen Museums Berlin-Dahlem). Abb. 5. Etiketten auf dem Herbarbogen eines Typusbeleges von Chamisso (Herbarium des Botanischen Museums Berlin-Dahlem).

20 Einige der Chamisso gewidmeten Namen findet man bei Schneebeli-Graf 1983, S. 280ff. und bei Hiepko 2004, S. 115f. 21 Imkhanitzkaya 1996. 22 Hiepko 1987.

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Paul Hiepko

Literatur Candolle, Augustin Pyramus de: Prodromus systematis naturalis regni vegetabilis. Paris 1828, Bd. 3, S. 344: Eschscholzia (?) bei den Loasaceae. Chamisso, Adalbertus de: ,Ex plantis in expeditione Romanzoffiana detectis genera tria nova‘, in: Nees ab Esenbeck, Ch. G. (Hg.): Horae physicae berolinenses collectae ex symbolis virorum doctorum. Bonn 1820, S. 69–76, Tab. XIV–XVI. Chamisso, Adelbert von: Uebersicht der nutzbarsten und der schädlichsten Gewächse, welche wild oder angebaut in Norddeutschland vorkommen. Berlin 1827. [Ohne das einleitende Kapitel, revidierter Nachdruck in: Adelbert von Chamisso: Illustriertes Heil-, Gift- und Nutzpflanzenbuch, hg. von Ruth Schneebeli-Graf. Berlin 1987, S. 9–315. Das einleitende Kapitel Ansichten von der Pflanzenkunde und dem Pflanzenreiche findet sich in Schneebeli-Graf, 1983, S. 149–223.] Chamisso, Adelbert von: Sämtliche Werke. 2 Bände. Textredaktion Jost Perfahl; Anmerkungen, Nachwort, Glossar etc. von Volker Hoffmann. München 1975. Glaubrecht, Matthias / Dohle, Wolfgang: ,Discovering the alternation of generations in salps (Tunicata, Thaliaceae): Adelbert von Chamisso’s dissertation „De Salpa“ 1819 – its material, origin and reception in the early nineteenth century‘, in: Zoosystematics and Evolution 88 (2012) H. 2, S. 317–363. Hiepko, Paul: ,The collections of the Botanical Museum Berlin-Dahlem (B) and their history‘, in: Englera 7 (1987), S. 219–252. Hiepko, Paul: ,Adelbert von Chamisso‘, in: Bredekamp, Horst / Brüning, Jochen / Weber, Cornelia (Hg.): Theater der Natur und Kunst. Essays. Berlin 2000, S. 213–218, Anm. S. 268–269. Hiepko, Paul: ,Der Naturwissenschaftler Adelbert von Chamisso und das Herbarium am Botanischen Garten in Schöneberg‘, in: Bz´dziach, Klaus (Red.): Mit den Augen des Fremden. Adelbert von Chamisso – Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender. Kreuzberg Museum, Berlin 2004, S. 107–116. Hult¦n, Eric: ,History of botanical exploration in Alaska and Yukon territories from the time of their discovery to 1940‘, in: Botaniska Notiser 1940, Lund 1940, S. 289–346. Imkhanitzkaya, Nadeshda Nikolajewna: ,Collections of A. Chamisso and J. F. Eschscholtz in the Komarov Botanical Institute herbarium (St. Petersburg, LE)‘, in: Botanicˇeskij Zˇurnal 81 (1996), S. 3–11 (russisch). [Deutsche Übersetzung (leicht gekürzt) von Lioudmila Bouditch: ,Die Sammlungen von Chamisso und Eschscholtz im Herbarium des Botanischen Institutes „W. L. Komarow“ der Russischen Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg‘, in: Mit den Augen des Fremden. Adelbert von Chamisso – Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender. Kreuzberg Museum, Berlin 2004, S. 123–132.] Kaulfuss, Georg. Frid.: Enumeratio Filicum quas in itinere circa terram legit cl. Adalbertus de Chamisso adiectis in omnia harum plantarum genera permultasque species non satis cognitas vel novas animadversionibus. Leipzig 1824. Schlechtendal, Diederich Franz Leonhard von: ,Dem Andenken an Adelbert von Chamisso als Botaniker‘, in: Linnaea 13 (1839), S. 93–106. Schmid, Günther : Chamisso als Naturforscher. Leipzig 1942.

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Schneebeli-Graf, Ruth (Hg.): Adelbert von Chamisso, … und lassen gelten was ich beobachtet habe. Naturwissenschaftliche Schriften mit Zeichnungen des Autors. Berlin 1983. Sproll, Monika: Adelbert von Chamisso in Cunersdorf. Frankfurter Buntbücher 55. Frankfurt (Oder) 2014. Urban, Ignaz: Geschichte des Königlichen Botanischen Museums zu Berlin-Dahlem (1815–1913) nebst Aufzählung seiner Sammlungen. Dresden 1916. Wagenitz, Gerhard: ,Adelbert von Chamisso – der Dichter und sein „geliebtes Heu“‘, in: Elsner, Norbert / Frick, Werner (Hg.): „Scientia poetica“ Literatur und Naturwissenschaft. Göttingen 2004, S. 273–292. Wagenitz, Gerhard: ,Adelbert von Chamisso als Naturforscher und E. T. A. Hoffmann als Wissenschaftskritiker‘, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, II. Mathematisch-Physikalische Klasse (2005) Nr. 2, S. 35–60.

Dorit Müller

Chamissos Reise um die Welt: Explorationen geographischer und literarischer Räume

Adelbert von Chamissos Reise um die Welt erschien 1836 als erster Band der gesammelten Werke Chamissos im Verlag Reimer und Hirzel in Leipzig. Es handelt sich um die nachträglichen Aufzeichnungen des Dichters und Botanikers über seine Reiseerlebnisse während der russischen Rurik-Expedition, die zwanzig Jahre zuvor unter der Leitung des Kapitäns Otto von Kotzebue zwischen 1815 und 1818 stattfand.1 Das Schiff führte Chamisso, der sich als ,Titulargelehrter‘ an Bord befand, von Kopenhagen über Teneriffa nach Brasilien und Chile, über die Osterinseln und die Marschall-Inseln u. a. nach Kamtschatka und über die Beringsee nach Alaska. Anspruch der Weltumseglung war es, von der Beringsee aus die Nordwestpassage zu entdecken.2 Eine solche Nordwestpassage hätte Schiffsreisen zwischen Europa und Ostasien entscheidend verkürzt, weshalb die Expedition Unterstützung durch Zar Alexander I. fand und vom russischen Grafen Rumanzoff finanziert und ausgerüstet wurde.3 Da Russland über zahlreiche Handelsstützpunkte an der Westküste des nordamerikanischen Kontinents verfügte, welche als Anlaufpunkte zur Versorgung der Mannschaft und zur logistischen Unterstützung des Unternehmens dienen konnten, versprach man sich hier entsprechenden Erfolg. Das Ziel wurde jedoch aufgrund ungünstiger Wetterbedingungen und einer Erkrankung Kotzebues nicht erreicht.4

1 Die Ergebnisse der Reise wurden bereits 1821 von Otto von Kotzebue in drei Bänden publiziert, wobei den dritten Teil Chamisso unter dem Titel „Bemerkungen und Ansichten auf einer Entdeckungs-Reise in den Jahren 1815–1818 unter dem Befehle des Lieutenants von Kotzebue“ verfasste. Kotzebue 1821. 2 Es handelte sich nicht um die Nordostpassage, wie es in der Forschungsliteratur oft fälschlich heißt, wohl weil der Titel des Reiseberichts von Kotzebue als Ziel die nordöstliche Durchfahrt nennt; Nordwestpassage deshalb, weil die Entdeckung von Westen aus geschehen sollte, von der Beringsee aus Richtung Osten. 3 Zu den Hintergründen und zum Ablauf der Reise ausführlich Langner 2008, S. 150–232. 4 Die erste komplette seemännische Durchfahrt der Nordwestpassage erfolgte erst knapp hundert Jahre später (1906) durch Roald Amundsen, nachdem etliche Polarfahrer an der

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In wissenschaftlicher Hinsicht kann die Reise dennoch als erfolgreich bezeichnet werden: Kotzebue kartographierte über 400 Inseln in Polynesien und weite Teile der Westküste Alaskas. Chamisso legte eine beachtliche Sammlung von Pflanzen an (etwa 2500 Pflanzenarten), katalogisierte etwa einhundertsiebzig neue Tierarten und brachte Mineralien, Knochen und handwerkliche Erzeugnisse der besuchten Völker nach Europa. Darüber hinaus studierte er die Sprachen, Sitten und Gebräuche dieser Völker : der kalifornischen Indianer, der Bewohner Chiles und Brasiliens, der Inuit, der Tschuktschen und Aleuten, der Einwohner der Sandwich-Inseln und der Ratakgruppe (heute die Marshall-Inseln). Er fertigte einen Reisebericht an und kommentierte die Bedingungen der Beobachtung seiner Untersuchungsgegenstände. Er entdeckte das biologische Phänomen des Generationswechsels bei den Salpen, er untersuchte den Bau von Korallenriffen und beschrieb die Lebensweise von Walen. Diese Erträge wurden in jüngeren Schriften gewürdigt und wissenschaftshistorisch untersucht.5 Die spezifischen literarischen Verfahren, mit denen Chamisso seine wissenschaftlichen Gegenstände beschreibt, narrativiert, autorisiert, kulturell verortet sowie seine Beobachtungs-, Wissenschafts- und Schreibpraxis reflektiert, wurden dagegen weniger in den Blick genommen – und wenn, dann vor allem mit dem Fokus auf die Erkundung der Südsee.6 Mein Beitrag wird sich hingegen auf die Exploration des nördlichen Raumes konzentrieren, insbesondere auf die Erkundung der Gebiete Kamtschatkas, Alaskas und der Beringstraße. Im Folgenden interessieren mich vor allem folgende Fragen, die zugleich die Gliederung der Untersuchung vorgeben: I. Wie lässt sich der Reisetext gattungsspezifisch innerhalb des Spektrums der Weltreiseaufzeichnungen Chamissos verorten und welche Wissensansprüche formuliert er? II. Welche Schreibverfahren werden im Prozess des Reisens und Entdeckens und seiner nachträglichen Rekonstruktion ausgebildet? III. Inwieweit reflektiert der Text die wissenschaftlichen Praktiken der Expedition und welche Darstellungsformen kommen dabei zum Einsatz? IV. Welche Bedeutung gewinnt der Text als historisch konkreter Wissensraum, in dem Vorstellungen sowohl über die Beschaffenheit arktischer Regionen als auch über ihre literarische Präsentation verhandelt und unterschiedliche Umgangsweisen mit Wissen erprobt werden?

Aufgabe gescheitert und umgekommen waren. Der berühmteste unter ihnen war John Franklin. Zur Geschichte der Entdeckung der Nordwestpassage vgl. Williams 2009. 5 Vgl. Hiepko 2000; Federhofer 2011; Federhofer 2012; Glaubrecht 2013. 6 Eine Ausnahme bildet die umfassende Studie von Görbert 2014. Zur Südsee vgl. Dürbeck 2007, S. 74–110. Im Zusammenhang mit Chamissos Arbeit über Wale auch bei Federhofer 2012, insb. S. 35–37.

Chamissos Reise um die Welt

I.

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Gattungsspezifik und Wissensansprüche

In einer direkt an den Leser gerichteten Vorankündigung aus dem Vorwort des Reiseberichts, der vom Autor selbst und in der Forschung gemeinhin als Tagebuch bezeichnet wird, formuliert Chamisso gewissermaßen das Schreibprogramm und verweist zugleich auf die Vorgeschichte und die intertextuelle Vernetzung der Reiseschilderung von 1836: Die Erzählung meiner eignen Reise ist nicht von mir gefordert worden, und ich habe, wenig schreibselig, es gern anderen, dem Herrn von Kotzebue und dem Maler Choris, überlassen, eine solche jeder für sich zu verfassen. Ich habe nur sächlich über die Lande, die wir berührt haben, meine ,Bemerkungen und Ansichten‘ in den Blättern niedergelegt, von denen ich mehrere, unerachtet ihrer oft unvermeidlichen Dürre, gegenwärtiger Sammlung einverleiben will. Und, offenherzig gesprochen, das eben ist’s, was mich veranlaßt, das Versäumte nachzuholen und an euch, ihr Freunde und Freunde meiner Muse, diese Zeilen zu richten. Ich bilde mir nicht ein, vor Fremden, sondern nur vor Freunden zu stehen, da ich von mir unumwunden zu reden und ein Hauptstück meiner Lebensgeschichte vorzutragen mich anschicke.7

Wie wir erfahren, hatte Chamisso zwar bereits kurz nach der Weltumseglung einen Bericht mit dem Titel Bemerkungen und Ansichten veröffentlicht, in dem er seine wissenschaftlichen Ergebnisse beschrieb. Dieser Text erschien jedoch nicht als eigenständiges Werk Chamissos, sondern war Bestandteil des 1821 veröffentlichten Reiseberichts von Kotzebue.8 Glaubt man Chamissos programmatischer Vorrede, so folgte letzterer einem eher wissenschaftlichen denn unterhaltenden Anspruch, zeichnete sich durch eine eher sachliche, denn populärwissenschaftliche Beschreibungssprache aus. Diese, so legt das Zitat nahe, bleibe nun der späteren Reisebeschreibung vorbehalten, was in der Forschung zur Einschätzung geführt hat, es handle sich bei der Reise um die Welt um einen tendentiell „subjektiv-bekenntnishaften“ Text, der „statt Faktenerschließung“ den „Weltgewinn des wahrnehmenden Subjekts“9 vorführe und das Anekdotische in den Vordergrund stelle.10 Dass Chamisso die programmatisch vorgetragene Einteilung in einerseits wissenschaftliche und andererseits poetischsubjektive Reiseprosa jedoch auf vielschichtige Weise unterläuft, wurde mehrfach betont.11 So wie der subjektive, bekenntnishafte und poetische Stil des Tagebuchs in einem spannungsreichen Verhältnis zum wissenschaftlich-kritischen Zugriff steht, so finden sich in den Bemerkungen und Ansichten von 1821 zahlreiche narrative Elemente und Passagen, welche „den trockenen Stil des 7 8 9 10 11

Chamisso 1975, Bd. 2, S. 8f. Seitenangaben ab sofort im Text. Vgl. Anm. 1. Bonnlander 1998, S. 119. Vgl. Heinritz 1998, S. 233. Vgl. Brockhagen 1977, S. 422; Menza 1978, S. 55f.; Brenner 1990, S. 451.

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wissenschaftlichen Berichts auflockern“.12 Es ist deshalb fraglich, ob eine Aufspaltung der einzelnen Reisetexte Chamissos in Gattungsformen und eine daran anknüpfende Bewertung des wissenschaftlichen Ertrags weiterführend ist. Vielmehr stellt sich die Frage, welchen epistemischen Mehrwert gerade diese in der Reise um die Welt vorgeführte Verknüpfung von programmatischer Vorrede, tagebuchartigen Auflistungen, impressionistischen Ausführungen, erläuternden Anekdoten, gelehrten Passagen und Bezugnahmen auf den literarischen Bildungskanon hervorbringt. Bereits die oben zitierte Ankündigung Chamissos aus der programmatischen Vorrede deutet auf ein Spektrum unterschiedlicher Ansprüche hin, die der Reisebericht einlösen soll: Es geht sowohl um forschungsstrategische Positionierungen als auch um den Versuch, dem Publikum durch direkte Ansprache und Personalisierungsstrategien einen spezifischen Zugang zum vermittelten Wissen zu verschaffen. Zunächst einmal scheint Chamisso die Vorrede zu nutzen, um sich retrospektiv im wissenschaftlichen Feld zu rehabilitieren bzw. sich als ernstzunehmender Akteur in Szene zu setzen. Ganz offensichtlich scheint er auf eine ihm 1821 zugefügte Kränkung zu reagieren, die erst nach Jahren der wissenschaftlichen und literarischen Profilierung ausgesprochen wird: „Die Erzählung meiner eignen Reise ist nicht von mir gefordert worden“. (S. 9) Otto von Kotzebue hatte keinen Wert auf Chamissos „Erzählung“ der Reise gelegt, sondern diese sich selbst vorbehalten. Nach knapp zwanzig Jahren soll „das Versäumte“ nun nachgeholt werden, und zwar durchaus im Gestus der Überbietung und mit harscher Kritik am offiziellen Reisebericht von 1821. Chamisso beklagt nicht nur die vom Verlag verschuldeten „unzähligen, sinnzerstörenden Druckfehler“ seiner eigenen Abhandlung (S. 7), sondern bedauert auch, dass „die deutsche Originalausgabe der Reisebeschreibung des Herrn von Kotzebue sich dergestalt inkorrekt erweist, daß die im Texte angegebenen Zahlen aller Zuverlässigkeit ermangeln“, dass „viele Karten und Pläne“ fehlen, die „ihm die Hydrographie verdankt“, und dass Kotzebue schließlich „die zur See während einer längeren Zeit zu verschiedenen Stunden des Tages beobachteten Barometerstände aufzubewahren verschmäht“ habe (S. 68f.). Angesichts dieser provokanten Infragestellung der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit Kotzebues lässt sich vermuten, dass sein Reisebericht vor allem zur Positionierung gegen den Konkurrenten sowohl im Feld der Wissenschaft als auch der Reiseliteratur diente.13 Zugleich könnte die Passage als späte Abrechnung mit Kotzebues Geringschätzung der botanischen Forschung Chamissos an Bord der Rurik ge12 Dürbeck 2007, S. 78. Siehe hier auch den umfassenden Überblick zur Forschungsdebatte über Chamissos Reisebericht, S. 74–79. 13 Zu den Positionierungsstrategien Chamissos im Reisebericht und zum Konkurrenzverhältnis zu Otto von Kotzebue vgl. den Beitrag von Görbert 2013.

Chamissos Reise um die Welt

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deutet werden. Nach Aussagen Chamissos hatte jener keine Gelegenheit ausgelassen, die botanischen Arbeiten des Gelehrten zu marginalisieren und den Wirkungskreis Chamissos einzuschränken.14 Es wäre allerdings zu kurz gefasst, diese Auseinandersetzung auf einen Kontrahentenstreit zu reduzieren. Vielmehr verweist sie auf eine grundlegende Interessenkollision zwischen Schiffsleitung und wissenschaftlicher Besatzung, die für Entdeckungsreisen im 18. und 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich ist.15 Die Konsequenzen, die sich aus dieser konfliktreichen Grundkonstellation auf Forschungsreisen für den Wissensprozess und seine literarische Repräsentation ergeben, sind bisher kaum untersucht worden. Als frühes und markantes Beispiel für diesen Zusammenhang kann der wenig bekannte Reisebericht des Botanikers Georg Wilhelm Steller über die von 1741 bis 1742 durchgeführte Reise von Kamtschatka nach Amerika genannt werden.16 Seine Aufzeichnungen dokumentieren den harten Kampf des Forschers, welcher sich auf Reisen gegen die Ignoranz und Anmaßung der See-Offiziere zur Wehr setzen muss, um seinen Aufgaben nachkommen zu können. Wie Chamisso beobachtet und problematisiert Steller die kontroversen Aushandlungen zwischen den Akteuren des Reiseunternehmens, diskutiert die beschränkten Zugangsmöglichkeiten zu den Wissensobjekten und nutzt den Reisebericht als Forum der Rehabilitierung vor dem Lesepublikum.17 Darüber hinaus gibt es weitere Anknüpfungspunkte, die Stellers Bericht zu einer Art Prätext für Chamissos Reisebeschreibung machen, obwohl sich im Tagebuch keine expliziten Bezugnahmen nachweisen lassen.18 Wie Chamisso listet Steller nicht nur die botanischen und zoologischen Entdeckungen auf; er beschreibt und katalogisiert sie, stellt Bezüge zu unter14 Beispielsweise untersagte Kotzebue aufgrund mangelnden Platzes auf dem Schiff das Aufbewahren von Pflanzensammlungen, die für den Naturforscher die Grundlage seiner Untersuchungen bildeten: „Der Kapitän protestiert beiläufig gegen das Sammeln auf der Reise, indem der Raum des Schiffes es nicht gestatte und ein Maler zur Disposition des Naturforschers stehe, zu zeichnen, was dieser begehre. Der Maler aber protestiert, er habe nur unmittelbar vom Kapitän Befehle zu empfangen.“ (S. 22) 15 Darauf machen Liebersohn (2003, S. 37) und Görbert (2013, S. 37f.) aufmerksam. 16 Georg Wilhelm Steller (1709–1746) beschreibt die im Rahmen der von Russland finanzierten und von Vitus Bering geleiteten zweiten Kamtschatkaexpedition (1733–1743) unternommene Entdeckungsreise nach Alaska, während der die Mannschaft Schiffbruch erlitt und Bering starb. Stellers Bericht wurde erst lange nach seinem frühen Tod vom Sibirienreisenden Peter Simon Pallas im Jahre 1793 herausgegeben. Vgl. zu den Umständen der Entdeckungsreise Matthies 2013. 17 Vgl. Steller 1793 und Matthies 2013, S. 37–43. 18 Obwohl Steller wie Chamisso Botaniker war, in russischen Diensten stand und an der Erschließung der Gebiete um die Beringsee beteiligt war, geht Chamisso im Tagebuch nicht auf Stellers wissenschaftliche Arbeiten ein. Dass sie Chamisso bekannt waren, bezeugen die knappen Erwähnungen seiner naturgeschichtlichen Studien in den Bemerkungen und Ansichten: „Steller zuerst, den Pallas den Unsterblichen nennt, hat unter Bering die Naturgeschichte dieses Land- und Meerstriches enthüllt“. Chamisso 1975, S. 488.

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schiedlichen Wissensgebieten auf, formuliert Hypothesen und widerlegt bisherige fehlerhafte Deutungen.19 Er kommentiert überdies die Konsequenzen wissenschaftlicher Praxis und nutzt zentrale Verfahren der Wissenserhebung und Wissensvermittlung, welche für die Forschungsreisen der Aufklärung seit Ende des 18. Jahrhunderts konstitutiv werden: er beobachtet, protokolliert, vergleicht, klassifiziert und konstruiert Fallgeschichten. Das Ganze wird in einem popularisierenden allgemeinverständlichen Stil vorgebracht: Belehrung und Unterhaltung werden verknüpft, Wissensbestände personalisiert und emotionalisiert.20 Eben dieses Schreibprogramm verfolgt auch Chamisso knapp einhundert Jahre später. Denn in der Vorrede richtet er sich an die Leser als die „Freunde meiner Muse“ (direkte Ansprache) und verspricht „ein Hauptstück meiner Lebensgeschichte vorzutragen“ (Personalisierung des Wissensprozesses), gleichzeitig möchte er aber auch Teile der sachlichen Reisebeschreibung von 1821 einfließen lassen (Bildungsanspruch). (S. 9) Die Vorrede des Reiseberichts verkündet also eine Anknüpfung an seine wissenschaftlichen wie auch literarischen Vorarbeiten, womit das Konzept eines integrativen und genreübergreifenden Schreibverfahrens formuliert wird. Der Text soll einerseits die spezifische, individuelle Sichtweise des Gelehrten Chamisso präsentieren, die Wissensbestände in eine narrative Struktur bringen sowie an eine Leserschaft gerichtet sein, welche als Kenner seiner dichterischen Werke adressiert wird. Andererseits will Chamisso seinen Bericht keineswegs nur dem Unterhaltungssektor und der Dichtung zugeordnet wissen. Explizit weist er auf die Trennung beider Bereiche hin: „Ich habe wohl in meinem Leben Märchen geschrieben, aber ich hüte mich, in der Wissenschaft die Phantasie über das Wahrgenommene hinaus schweifen zu lassen.“ (S. 243) An anderer Stelle betont er : „Was ein gradsinniger Mann, der selbst gesehen und geforscht, in der Kürze aufgezeichnet hat, verdient doch wohl in dem Archiv der Wissenschaft niedergelegt zu werden“. (S. 8) 19 Die Ergebnisse umfassen ein breites Spektrum unterschiedlicher Wissensgebiete: Steller entdeckte 160 Pflanzenarten auf der Kayak-Insel, die er in einem Katalog versammelte sowie eine Vogelart – den nach ihm benannten Diademhäher (Cyanocitta stelleri). Auf der Beringinsel, wo das Expeditionsschiff strandete und überwinterte, beobachtete Steller Seevögel, Steinfüchse, Wale, Seeotter, Seelöwen, Seebären und Seekühe, deren Körperbau, Lebensgewohnheiten und Nutzen in wissenschaftlichen Abhandlungen detailreich beschrieben wurden. Ruhm erlangte der Naturwissenschaftler vor allem durch die Entdeckung und Beschreibung der nach ihm benannten „Stellerschen Seekuh“, ein bis zu acht Meter langes Säugetier, das sich ausschließlich von Wasserpflanzen ernährte und das Steller als einziger Wissenschaftler jemals zu Gesicht bekam, weil es einige Jahrzehnte nach der Reise ausstarb. 20 Beispielhaft können diese Verfahren insbesondere im ethnographischen Teil der Reisebeschreibung, in den von Steller entworfenen Szenarien der Begegnung mit den Eingeborenen der Aleuten, nachgewiesen werden. Vgl. Steller 1793, S. 37f.; 66f.

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Der Reisebericht widmet sich dieser Aussage nach zunächst einmal dem Beobachten, Protokollieren und Erläutern von Natur- und Kulturerscheinungen, was spezifische literarische Schreibweisen erfordert, wie der zweite Abschnitt zeigen wird. In diesem Zusammenhang scheint es Chamisso auf eine möglichst vollständige Erfassung und Übermittlung des Unbekannten anzukommen, er fordert die nachfolgende Wissenschaftsgeneration auf, jede noch so kleine Beobachtung ernst zu nehmen.21 Darüber hinaus erlangt der Text Bedeutung als Reflexionsraum, in dem die Bedingungen der Wissensproduktion auf Reisen verhandelt werden. In Passagen, die eine Mixtur aus Erlebnisbericht, polemischer Zuspitzung, anekdotischer Erläuterung und philosophischem Essay darstellen, werden die problematischen Umstände wissenschaftlichen Arbeitens an Bord des Schiffes diskutiert,22 die Ausfechtung der Machtansprüche zwischen den Schiffsinsassen wiedergegeben23 sowie die ambivalenten Wahrnehmungsformen der Reisenden beschrieben, die durch das Schiff in einer diffusen Zwischenräumlichkeit zwischen Heimat und Ferne gehalten werden. Für den Wissensprozess scheint die Bindung des Forschers an das Schiff nicht unerheblich zu sein, lenkt es doch den Blick zurück ins vertraute Europa statt sich unbefangen dem Fremden zu öffen: Es ist hier der Ort, von der abgesonderten kleinen Welt, zu der ich nun gehörte, und von der Nußschale, in der eingepreßt und eingeschlossen sie drei Jahre lang durch die Räume des Ozeans geschaukelt zu werden bestimmt war, eine vorläufige Kenntnis zu geben. Das Schiff ist die Heimat des Seefahrers; bei solcher Entdeckungsreise schwebt es über zwei Drittel der Zeit in völliger Abgeschiedenheit zwischen der Bläue des Meeres und der Bläue des Himmels; nicht ganz ein Drittel der Zeit liegt es vor Anker im Angesichte des Landes. Das Ziel der weiten Reise möchte sein, in das fremde Land zu gelangen; das ist aber schwer, schwerer als es sich einer denkt. Überall ist für einen das Schiff, das ihn hält, das alte Europa, dem er zu entkommen vergeblich strebt, wo die 21 „Ich erkannte fast keine von diesen Tieren; ich konnte sie in meinen Büchern nicht auffinden, und ich entrüstete mich ob meiner Unwissenheit. Ich habe erst später erfahren, daß wirklich die mehrsten unbekannt und unbeschrieben sein mußten. Ich habe im Verlauf der Reise manches auf diese Weise versäumt, und ich zeichne es hier geflissentlich auf zur Lehre für meine Nachfolger. Beobachtet, ihr Freunde, sammelt, speichert ein für die Wissenschaft, was in euren Bereich kommt, und lasset darin die Meinung euch nicht irren: dieses und jenes müßte ja bekannt sein, und nur ihr wüßtet nicht darum. – War doch unter den wenigen Landpflanzen, die ich von Plymouth zum Andenken mitnahm, eine Art, die für die englische Flora neu war.“ (S. 26) 22 Z.B. die beschränkten Arbeitsmöglichkeiten des Naturforschers, der sich im Schiff keine geeignete Arbeitsumgebung schaffen konnte, der kaum einmal die Chance hatte, einen Tisch als Arbeitsplatz nutzen zu können (S. 26). 23 Chamisso berichtet, dass Kotzebue ihm gleich zu Beginn der Reise unmissverständlich zu verstehen gab, dass er „als Passagier an Bord eines Kriegsschiffes […] keinerlei Ansprüche zu machen habe“ (S. 24) und schließt daraus, dass es sinnvoller sei „auf Entdeckungsreisen keine Titular-Gelehrten“ mehr mitzunehmen, sondern dafür zu sorgen, dass „alle Teilnehmer der Expedition Gelehrte seien“, was in Frankreich und England bereits der Fall sei (S. 24f.).

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alten Gesichter die alte Sprache sprechen, wo Tee und Kaffee nach hergebrachter Weise zu bestimmten Stunden getrunken werden, und wo das ganze Elend einer durch nichts verschönerten Häuslichkeit ihn fest hält. So lange er vom fremden Boden noch die Wimpel seines Schiffes wehen sieht, hält ihn der Gesichtsstrahl an die alte Scholle festgebannt. (S. 20)

Neben Reflexionen über die Konditionierung des Wissensprozesses durch das Fortbewegungsmittel treten solche, die das wissenschaftliche Vorgehen vor Ort berühren, also Formen und Konsequenzen des Zugriffs auf die fremde Kultur erörtern. Diese Überlegungen, so wird der dritte Abschnitt belegen, sind Bestandteil eines ethnografischen Schreibens, welches durch szenische Umsetzung und Perspektivwechsel gesprägt ist – also Elemente des dramatischen Genres in die narrative Beschreibungssprache aufnimmt. Nicht zuletzt vollzieht sich die Nennung, Beschreibung und Erläuterung geographischer, botanischer, zoologischer und ethnographischer Wissensbestände in einem genreübergreifenden Setting, das sich im Laufe der Reiseerzählung immer weiter ausdifferenziert – angefangen von der programmatischen Vorrede, über biographische Ausführungen, zu wissenschaftsgeschichtlichen Erörterungen, philosophisch-essayistischen Reflexionen und Bezugnahmen auf die Literaturgeschichte bis hin zu anekdotischen Fallgeschichten und lyrischen Einsprengseln. Durch die Einbindung dieser Genremixtur in eine tagebuchartige Struktur, die noch dazu mit Chamissos Lebensgeschichte verwoben ist, äußert sich sowohl der Anspruch einer authentischen Ereigniserzählung als auch das Bestreben, Entdeckungsreise und Lebensweg in ein unmittelbares Verhältnis zu setzen. Die Forschungsergebnisse werden damit nicht nur „Teil einer individuellen Biographie und dadurch konkreter fassbar“,24 sondern die Gesamtdramaturgie der Reiseschilderung begründet damit auch ein für die Entdeckerliteratur des 19. Jahrhunderts typisches Narrativ, welches Forscherleben und Entdeckerreise metaphorisch und strukturell so verknüpft, dass beide ihre Relevanz wechselseitig bestätigen und bestärken.25

II.

Schreibverfahren

Die Grundidee des Tagebuchs, so authentisch wie möglich über den Reiseverlauf zu berichten, einerseits Forschungsergebnisse zu präsentieren, andererseits „das fremde Land und die fremden Menschen, oder vielmehr nur mich selbst in 24 Dürbeck 2007, S. 82. 25 Zur strukturellen Analogie zwischen dem Verlauf von Entdeckerreisen und einzelnen Forscherlebensläufen vgl. die Untersuchung zum skandinavischen Expeditionsbericht Eglinger 2010.

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der fremden Umgebung dem teilnehmenden Leser zu vergegenwärtigen“ (S. 8), erfordert die Herausbildung und Zusammenführung unterschiedlicher literarischer Verfahren, die im folgenden an einigen Passagen aus dem Kapitel Nordfahrt von Kamtschatka aus in die Beringstraße veranschaulicht werden. Es handelt vom ersten Vorstoß ins Eismeer, der am 17. Juli 1816 mit dem Auslaufen aus der Bucht von Awatscha auf Kamtschatka begann und am 16. September 1816 mit dem Verlassen des zur amerikanischen Inselkette gehörenden Unalaschka und der Fahrt Richtung Kalifornien endete. Chamisso bezeichnet diesen Reiseabschnitt als Vorbereitung des eigentlichen Ziels der Reise – die „Erforschung einer nordöstlichen Durchfahrt“ (S. 84). Der Plan sah vor, einen „sicheren Ankerplatz für das Schiff“ im Norden der Beringstraße zu suchen, „von wo aus mit Baidaren und Aleuten, diesen Amphibien dieser Meere“ (S. 84)26 sowie mit Unterstützung durch Beamte der „russisch-amerikanischen Compagnie“ auf Unalaschka die Durchfahrt im nachfolgenden Sommer 1817 versucht werden sollte (S. 85). Anders als auf den Südseeinseln, wo die Schiffsmannschaft länger andauernden Aufenthalt nahm und eine freundschaftliche Beziehung zu den Einwohnern aufbaute, schien sich das Verhältnis zu den „Nordländern“ (S. 88), wie Chamisso sie gelegentlich nennt, eher durch Zurückhaltung und Ambivalenz auszuzeichnen. So betont Chamisso gleich zu Beginn des Kapitels, sie hätten zwar „mit den Eingebornen, den Bewohnern der St. Laurenzinsel, den Eskimos der amerikanischen Küste, den Tschuktschi der asiatischen, häufig verkehrt“, doch „mit und unter ihnen nicht gelebt“ (S. 86). Des Weiteren verweist er auf seine Ausführungen über die „Völker mongolischer Race“ in den Bemerkungen und Ansichten27 sowie auf Kotzebues Bericht und das „Zeichenbuch des Malers“ (Louis Choris), welche „belehrender“ seien als sein „dürftiges Tagebuch“ (ebd.). Letzterer Vergleich erweist sich eher als eine rhetorische Floskel denn als ernstgemeinter Versuch, die Aussagekraft der unterschiedlichen Repräsentationsformen (Forschungsbericht, Zeichnung und tagebuchartige Reiseschilderung) gegeneinander auszuspielen. Denn im Kontrast zur Behauptung der vermeintlichen Dürftigkeit stehen die im Tagebuch nun folgenden Darstellungen der fremden Kultur im Zeichen einer komplexen, durch zahlreiche Wissenskontexte angereicherten Ereignisschilderung, die sich vielfältiger literarischer Strategien bedient. Die Begegnungen mit den Menschen, Objekten und Erscheinungen der Fremde werden hier in Mikroerzählungen eingebettet. Diese 26 Baidare sind die Boote der Einheimischen, die auf der amerikanischen Küstenseite die Bevölkerungsgruppe der Aleuten ausmachen. 27 Diese Ausführungen bestehen in einer knappen Gegenüberstellung der Eigenarten dieser Volksstämme und betonen vor allem – nicht ohne anklagenden Seitenhieb auf russischen Machtmissbrauch – das auffällige Elend der Aleuten, die „harmlose, armselige Sklaven“ seien, „deren Stamm sehr bald versiegen wird“. Chamisso 1975, S. 494.

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verdeutlichen nicht nur die Umstände der Beobachtungen und Entdeckungen, sondern kontextualisieren sie auch, ordnen den Prozess der Identifizierung von Wissensbeständen in ein kulturelles Umfeld ein. Zudem werden durch Vergleiche und philosophische Reflexionen Zusammenhänge hergestellt und dadurch das Wissensfeld überhaupt erst konturiert und festlegt. Beispielhaft sei dies an einer Textstelle vorgeführt, die das Anlegen der Mannschaft auf der St. Laurenzinsel südwestlich der Westspitze von Alaska inmitten der Beringsee schildert: Am 27. steuerten wir auf das Land zu, das uns im heitersten Sonnenschein erschien, sowie wir in seiner Nähe aus der Nebeldecke des Meeres heraustreten. Zwei Boote wurden zu einer Landung ausgerüstet. Indem wir nach dem Ufer ruderten, begegneten wir einer Baidare mit zehn Eingebornen. Wir verkehrten mit ihnen, nicht ohne wechselseitig auf unserer Hut zu sein. »Tabak! Tabak!« war ihr lautes Begehren. Sie erhielten von uns das köstliche Kraut, folgten unsern Booten freundlich, fröhlich, vorsichtig und leisteten uns beim Landen in der Nähe ihrer Zelte hülfreiche Hand. Die hier am Strande aufgerichteten Zelte von Robben- und Walroßhäuten schienen Sommerwohnungen zu sein und die festen Wohnsitze der Menschen hinter dem Vorgebürge im Westen zu liegen. […] Während der Kapitän, der in ein Zelt geladen worden, den Umarmungen und Bestreichungen sowie der Bewirtung der freundlichen tranigen Leute, die er mit Tabak und Messern beschenkte, ausgesetzt blieb, bestieg ich allein und unbefährdet das felsige Hochufer und botanisierte. Selten hat mich eine Herborisation freudiger und wunderlicher angeregt. Es war die heimische Flora, die Flora der Hochalpen unserer Schweiz zunächst der Schneegrenze, mit dem ganzen Reichtum, mit der ganzen Fülle und Pracht ihrer dem Boden angedrückten Zwergpflanzen, denen sich nur wenige eigentümliche harmonisch und verwandt zugesellten. (S. 87)

Wir haben es in dieser Textstelle mit unterschiedlichen Wissensbereichen (Botanik, Völkerkunde, Alltagswissen) und verschiedenen Wissensformen zu tun: mit Erfahrungswissen (wie verkehre ich mit Eingeborenen, die ich nicht einschätzen kann?) und Faktenwissen (Datum oder Pflanzennamen), mit lebensweltlichem Wissen (Wohnkultur und Tauschrituale der Eingeborenen) und Wissen, das z. B. durch Analogiebildungen erworben wird (der Vergleich mit der alpinen Pflanzenwelt, welcher die Flora der St. Laurenzinsel in ein europäisches Vorstellungsraster eingliedert). Die Mikroerzählung ermöglicht hierbei eine narrative Strukturierung und Kontextualisierung der einzelnen Wissenselemente: (1) Sie werden in ein Handlungsschema eingebunden, das in den einzelnen Kapiteln jeweils unterschiedlich aktualisiert wird (hier : Sichtung des Landes – Überwindung der meist als problematisch empfundenen da nicht berechenbaren Zugangsbedingungen (Boot) – Begegnung mit den Fremden unter Berücksichtigung eingeübter Rituale (Geschenke oder Tausch) – engere Kontaktaufnahme (Bewirtung im Zelt) – Beobachtung und Erkundung

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des unbetretenen Raumes und dessen Vereinnahmung durch Benennung, Analogsetzung und Klassifizierung (hier z. B. die Einordnung der Pflanzen). (2) Die Wissenelemente werden perspektiviert durch einen intradiegetischen „Ich“- Erzähler beziehungsweise durch ein kollektives „Wir“, welches die bereisten Räume als Erlebnisräume von Subjekten konstruiert. (3) Die beobachteten Objekte (hier z. B. die Inuit) werden mittels einer spezifischen Beschreibungssprache charakterisiert, welche Wissenskontexte eröffnet (z. B. durch die ambivalenten Zuschreibungen „freundlich“, „tranig“, „fröhlich“, „vorsichtig“), die in einer späteren Passage ergänzt werden durch eine Kontrastierung der „schmutzigen Ichthyophagen des Eismeeres“ (heißt Inuit) mit den „zierlichen, reinlichen Lotophagen der Südsse“ (S. 89). Diese Gegenüberstellung enthält nicht nur Anspielungen auf antike Historiographie und griechische Mythologie. In ihrer Kontrastierung der schmutzigen Fischesser des Nordens mit den reinlichen Pflanzenessern der Südsee zeigt sich auch die Teilhabe der Reiseerzählung am Diskurs der Südsee-Idealisierung, welcher durch Rousseaus zivilisationskritische Schriften mitbegründet worden war.28 Zugleich aktualisiert Chamissos Darstellungsweise Konzepte des ,unedlen Wilden‘, indem er den Nordvölkern ,mäßige Kultiviertheit‘ und Verstöße gegen die Sittlichkeit vorwirft. Explizit wird diese Einstellung in Bezug auf die Tschuktschi, deren Verhalten Chamisso zufolge in einem harschen Gegensatz „zu den anmutsvollen Polynesiern“ stand (S. 100).29 Auch wenn der Reisebericht zivilisationskritische Tendenzen aufweist und Chamisso allgemeine Zuschreibungen wie „Wilde“ kritisch reflektiert (sich z. B. gegen die Verwendung des Begriffs zur Bezeichnung für sesshafte Ethnien ausspricht, wie es Kotzebue tut), so tradiert er doch mit dieser Aufteilung ein eurozentristisches Modell weiter, welches von einer Höherentwicklung des nomadischen zum zivilisierten westlichen Volk ausgeht.30

28 Ausführlich zu den Idealisierungstendenzen bzw. zur Wiederkehr exotischer Topoi zur Beschreibung der Bewohner südlicher Inselgebiete, die durch Rousseau inspiriert sind, siehe Dürbeck 2007, S. 86–94 und Spennemann 2004. 29 Chamisso erwähnt an dieser Stelle eine Begebenheit, die verallgemeinert wird: „Ich kann einen Zug nicht unterschlagen, der mir zu dem Bilde dieser Nordländer bezeichnend zu gehören scheint. […] Einer der Wortführer bei der vorerwähnten wichtigen Konferenz, während er vor dem Kapitän stehend mit ihm sprach, spreizte, unbeschadet der Ehrfurcht, die Beine auseinander und schlug unter seiner Parka sein Wasser ab.“ (S. 100) 30 „Ich greife dieser Gelegenheit auch hier, gegen die Benennung ,Wilde‘ in ihrer Anwendung auf die Südsee-Insulaner feierlichen Protest einzulegen. […] Ein Wilder ist für mich der Mensch, der ohne festen Wohnsitz, Feldbau und gezähmte Tiere, keinen anderen Besitz kennt, als seine Waffen, mit denen er sich von der Jagd ernährt.“ (S. 74f.) Zur Perzeption des Kulturstufenmodells durch Chamisso siehe Dürbeck 2007, S. 88.

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(4) Eine vierte Ebene betrifft die kontextuelle Einbettung der Untersuchungsobjekte in allgemeine kulturelle und gesellschaftliche Betrachtungen, welche das Beobachtungsfeld erweitern und Debatten der europäischen Gegenwart in den Reisediskurs einfließen lässt. So wirft Chamisso etwa angesichts Pfeife rauchender Inuit die Frage auf, warum „Tabakrauchen“ sich aus Amerika kommend in Europa und von dort in allen Weltteilen durchgesetzt habe, warum diesen Brauch bestimmte soziale Schichten und Völker bevorzugen und ob es gerecht sei, den niederen Schichten eine Tabaksteuer abzuverlangen.31 Ein anderer, an die Beobachtung von Walen geknüpfter Reflexionsgegenstand ist die effektive Ausnutzung tierischer Ressourcen zur Überbrückung geographischer Entfernungen. Ebenso wie Gänse gezähmt werden könnten, so Chamissos Argumentation, wäre es denkbar Wale zu züchten und für den Transport von Menschen über die Meere zu verwenden: „Ob übrigens der Wallfisch ziehen oder tragen soll, ob und wie man ihn anspannt oder belastet, wie man ihn zäumt oder sonst regiert, und wer der Kornak des Wasser-Elefanten sein soll, das alles findet sich von selbst.“ (S. 103) Trotz der eher anekdotischen Darstellungsform greift die Passage einen zentralen Faden auf, der den gesamten Reisetext durchläuft – eine grundsätzlich fortschrittsaffine Haltung, welche sich insbesondere dort äußert, wo Chamisso dem freundschaftlich verbundenen Südsee-Insulaner Kadu die Vorteile der technisch und wissenschaftlich entwickelten europäischen Kultur zu vermitteln sucht.32 (5) Die fünfte Ebene der narrativen Kontextualisierung von Wissensansprüchen ist an den eben bereits erwähnten anekdotischen Stil geknüpft. Er eröffnet einerseits eine didaktische Dimension, indem er zur Veranschaulichung von interkulturellen Kontaktsituationen beiträgt. Andererseits kann er aber auch die Projektion unreflektierter Prämissen transportieren, wie die folgende Szene zeigt:

31 „Ich habe immer nur mit Wehmut sehen können, daß grade der kleine Anteil von Glückseligkeit, welchen die dürftigere Klasse vor den begünstigteren voraus nimmt, mit der drückendsten Steuer belastet werde, und empörend ist es mir vorgekommen, daß, wie zum Beispiel in Frankreich, für das schwer erpreßte Geld die schlechteste Ware geliefert werde, die nur gedacht werden kann.“ (S. 89) 32 Dürbeck vertritt deshalb die These, Chamisso mache Kadu „zum Sprachrohr für die eurozentristische Auffassung der technischen Überlegenheit der Europäer und zugleich zum Gewährsmann ihrer humanitären Ansichten“. Dürbeck 2007, S. 101. Heinritz (1998, S. 227) betont die „kompensatorische Qualität“ dieser Freundschaft für den Europäer Chamisso. Bonnlander (1998, S. 116) wirft ihm „kolonialistische und eurozentristische Sichtweisen vor“.

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Hier, auf dem Kap Espenberg […], besuchten uns die Eingebornen in großer Zahl. Sie zeigten sich, wie es wackern Männern geziemt, zum Kriege gerüstet, aber zum Frieden bereit. Ich glaube, daß es hier war, wo, bevor wir ihrer ansichtig geworden, ich allein und ohne Waffen auf meine eigne Hand botanisierend, unversehends auf einen Trupp von beiläufig zwanzig Mann stieß. […] Ich zog meine Nadelbüchse heraus und beschenkte die Fremden, die sich in einen Halbkreis stellten, vom rechten Flügel anfangend der Reihe nach jeden mit zwei Nadeln. Eine wertvolle Gabe. Ich bemerkte stillschweigend, daß einer der ersten, nachdem er das ihm Zugedachte empfangen, weiter unten in das Glied trat, wo ihm die andern Platz machten. Wie ich an ihn zum zweiten Male kam und er mir zum zweiten Male die Hand entgegenstreckte, gab ich ihm darein, anstatt der erwarteten Nadel, unerwartet und aus aller Kraft einen recht schallenden Klaps. Ich hatte mich nicht verrechnet; alles lachte mit mir auf das lärmendste; und wann man zusammen gelacht hat, kann man getrost Hand in Hand gehen. (S. 93)

Mittels Anekdote soll vorgeführt werden, wie eine interkulturelle Kontaktsituation friedlich bewältigt werden kann. Dabei wird sowohl das Gefälle zwischen zivilisierter und nomadischer Welt (Geber und Nehmer) fundamentiert als auch eine nicht hinterfragte Vorannahme formuliert und vermeintlich belegt: Das Lachen, so die Botschaft, dient als universelles Verständigungsmittel und vertrauensstiftende Maßnahme zwischen differenten Kulturen. Dass Mimik und emotionale Entäußerungen der fremden Kultur möglicherweise konträr zum europäischen Verständnis ausdeutbar sein könnten, wird nicht in Erwägung gezogen. Die anekdotisch zugespitzte Episode offenbart, ähnlich wie viele andere im Reisebericht,33 eine universalistische Auffassung, welche Gleichheit in emotionaler Hinsicht unterstellt und zugleich europäische Überlegenheit demonstriert, indem Chamisso sich selbst als Geber und moralische Instanz gegenüber den Fremden inszeniert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Text mittels Plotstruktur, Perspektivierung, rhetorischer Figuren, essayistischer Einlassungen und anekdotischer Zuspitzungen nicht nur ein breites Spektrum an unterschiedlichen literarischen Darstellungsformen erprobt und bündelt, sondern auch vielfältige Wissensbereiche (Geographie, Botanik, Ethnographie), Wissensformen (Fakten-, Erfahrungs- und Alltagswissen) sowie Wissensdiskurse (Zivilisationskritik, Kulturstufenmodell, Universalismus, Eurozentrismus) zusammenführt und damit den Diskurs der geographischen Landnahme bereichert.

33 Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Einwohner von Hawaii wählt Chamisso die Anekdote als adäquates Mittel zur Charakterisierung der Einwohner : „Nach dem, was ich in meinen ,Bemerkungen und Ansichten‘ über die O-Waiher gesagt, bleibt mir nur übrig, sie selbst in kleinen Anekdoten und Zügen auftreten zu lassen.“ (S. 127) Zur anekdotischen Darstellung interkultureller Kontaktsituationen in Chamissos Südseepassagen siehe die Ausführungen von Dürbeck 2007, S. 94–98.

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III.

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Reflexion der Wissenschaftspraxis

Neben der Beschreibung, Narrativierung, Perspektivierung und Kontextualisierung von Wissensbeständen spielt die Reflexion der eigenen Wissenschaftspraxis eine zentrale Rolle in Chamissos Text. Dies geschieht vor allem in Hinsicht auf die wissenschaftliche Tätigkeit des „Sammelns“ als dem Paradigma des empirischen Wissenschaftsverständnisses. Zum einen setzt Chamisso sich mit den vielfältigen Erschwernissen dieser Aufgabe vor Ort auseinander. So beklagt er den geringen Status seiner Sammelbemühungen im Rahmen der Schiffsreise und beschreibt auf anekdotische bis polemische Weise, wie unbekümmert man mit seinen kostbaren Funden umgehe. Frustiert konstatiert er beispielsweise, dass „mehrere Bruchstücke fossilen Elfenbeines“, die für das Berliner Minerologische Museum vorgesehen waren, von den Mannschaftsmitgliedern zur Unterhaltung eines Feuers genutzt wurden. Bei seiner Suche nach neuen Sammelobjekten hätte man ihm „jede Hülfe“, ja „selbst ein schützendes Wort“ verweigert (S. 95). Solche Auslassungen, die auf das eingangs erwähnte Konfliktpotential zwischen Schiffspersonal und wissenschaftlicher Besatzung sowie dessen Konsequenzen für den Forschungsprozess rekurrieren, werden flankiert von Überlegungen zur Auswirkung des Sammelns auf die fremde Kultur : Ich fand auf der Höhe der Insel unter dem zertrümmerten Gesteine, das den Boden ausmacht, einen Menschenschädel, den ich, unter meinen Pflanzen sorgfältig verborgen, mitnahm. Ich habe das Glück gehabt, die reiche Schädelsammlung des Berliner Anatomischen Museums mit dreien, nicht leicht zu beschaffenden Exemplaren zu beschenken: diesem von der Sankt-Laurenz-Insel, einem Aleuten aus einem alten Grabmal auf Unalaschka und einem Eskimo aus den Gräbern der Bucht der Guten Hoffnung in Kotzebues Sund. Von den dreien war nur der letztere schadhaft. Nur unter kriegerischen Völkern, die, wie die Nukahiwer, Menschenschädel ihren Siegestrophäen beizählen, können solche ein Gegenstand des Handels sein. Die mehrsten Menschen, wie auch unsere Nordländer, bestatten ihre Toten und halten die Gräber heilig. Der Reisende und Sammler kann nur durch einen seltenen glücklichen Zufall zu dem Besitze von Schädeln gelangen, die für die Geschichte der Menschenrassen von der höchsten Wichtigkeit sind. (S. 87f.)

Chamissos Text zeigt die Bedingungen auf, unter denen Objekte zu Handelsobjekten oder zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses werden können – nämlich dann, wenn sie ihrer rituellen Bedeutung entrissen und einem vermeintlich höher gestellten Ziel (der Historiographie von Menschenrassen) überantwortet sowie in eine wissenschaftliche Institution überführt werden. Was hier nur angedeutet wird (durch Chamissos Verweis auf das Verbergen des Schädels unter seiner Pflanzensammlung), wird an anderer Stelle expliziter ausgeführt: So reflektiert Chamisso im gleichen Kapitel über die moralische Fragwürdigkeit der Praktiken einer Forschung, welche das Plündern der Gräber

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eingeborener Völker in Kauf nimmt, um Alltagsgegenstände und archäologische Funde zu sammeln: Alle Gerätschaften, welche die Hinterbliebenen ihren Toten mitgeben, sind gesucht und aufgelesen worden; endlich sind unsere Matrosen, um das Feuer unseres Biwak zu unterhalten, dahin nach Holz gegangen und haben die Monumente zerstört. – Es wurde zu spät bemerkt, was besser unterblieben wäre. Ich klage uns darob nicht an; wahrlich, wir waren alle des menschenfreundlichsten Sinnes […]. – Aber hätte dieses Volk um die geschändeten Gräber seiner Toten zu den Waffen gegriffen: wer mochte da die Schuld des vergossenen Blutes tragen? (S. 97)

Das trotz beibehaltener eurozentrischer Perspektive („wir waren alle des menschenfreundlichsten Sinnes“) durchaus ungewöhnliche Schuldeingeständnis Chamissos ist im Kontext der Reiseliteratur Georg Forsters zu sehen. In seiner Beobachtung der allmählichen Zerstörung indigener Sitten und Bräuche (die insbesondere auch in den Kapiteln zum Südpazifik ausgeführt wird) und gleichzeitigem Fortschrittsdenken (eingeschlossen der Idee, das Verstehen des Fremden liege auf Seiten der Europäer) weist Chamissos Reisetext erstaunliche Parallelen zu Forsters Argumentation in dessen Publikation Reise um die Welt von 1778/80 auf.34 Andererseits gehören beide Texte zu den frühen Zeugnissen einer selbstreflexiven Wissenschaftskultur und können als literarische Orte „wechselseitiger Interpretation und Relativierung von kulturellen Selbstverständlichkeiten“ gedeutet werden.35 Chamisso hat diese Praxis der wechselseitigen Interpretation und Relativierung szenisch umgesetzt, indem er aus der Perspektive eines Inuit die europäischen Eindringlinge als Fremde inszeniert: Er [„der Eingeborene“ – D.M.] hatte sich entschlossen, mutig und klug benommen, wie einem tapfern Mann gegen Fremde geziemt, die ihm an Kraft überlegen sind und deren Gesinnung er verdächtigen muß. Der Kapitän, indem er seine Begleiter entfernte und allein ohne Waffen auf ihn zuging, hatte den Mann beschwichtigt, und Geschenke hatten den Frieden besiegelt. Der Eskimo hatte ihn gastlich unter seinem Zelte aufgenommen, wo er sein Weib und zwei Kinder hatte; doch schien ihm nicht heimlich bei den zudringlichen Fremden zu werden. (S. 96f.)

Ethnografisches Schreiben wird hier zum narrativen Akt der Bedeutungskonstitution. Indem Chamisso den Akteuren des Kulturkontakts neue Rollen zuweist, die Perspektive der Eingeborenen auf die Reisenden als fremde Eindringlinge einnimmt bzw. imaginiert, gelingt es ihm die Grenzen zwischen ,fremd‘ und ,eigen‘ – zumindest in dieser Passage – brüchig zu machen.

34 Vgl z. B. Fischer 2006. 35 So Yomb May in ihrer 2011 erschienenen Studie über Forster, S. 18.

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IV.

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Reisebericht als Wissensraum

Zurück zu den Ausgangsfragen: Werden im Prozess des Reisens und Entdeckens spezifische Schreibverfahren ausgebildet? Und: Welche Bedeutung gewinnt der Text als historisch konkreter Wisssensraum, in dem Vorstellungen sowohl über die physische und kulturelle Beschaffenheit arktischer Regionen als auch über ihre wissenschaftliche und literarische Präsentation verhandelt werden? Wie beispielhaft belegt wurde, erprobt der Reisetext unterschiedliche Gattungsformen, literarische Schreibweisen sowie Reflexionsformen und setzt diese in Beziehung zueinander : Der Text ist in Tagebuchform verfasst, wird in der Ichund Wir-Form erzählt, enthält impressionistische Ausführungen, anekdotische Mikroerzählungen, szenische Darbietungen und philosphische Einlassungen, aber auch beschreibend-dokumentarische, selbstreflexive und gelehrte Passagen – kurz: Er präsentiert sich als Gattungsmix und als Sammelsurium aus Portraits, Anekdoten, Reflexionen, Daten und Fakten der Reise. Erkennbar ist ein integratives Modell der Reiseschilderung, in dem heterogene Informationsquellen, wissenschaftshistorische und subjektive Perspektiven, aber auch Wissensgebiete und Wissensformen zusammengeführt werden. Diese Kombinationsleistung wiederum erfolgt, wie die Beispiele gezeigt haben, durch die Anwendung vielfältiger literarischer Verfahren, die im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Ästhetik angesiedelt sind und je unterschiedliche Funktionen im Wissensprozess erfüllen: Das Spektrum umfasst: (1) Protokollieren im Sinne der Überführung von Messbarem und Ereignissen in eine verbindliche institutionalisierte schriftliche Form, wie etwa Datum, Temperatur und Ortsangaben. (2) Beobachten empirischer Befunde im Modus der literarischen Aufzeichnung, d. h. zielgerichtetes Wahrnehmen von Ereignissen der Umwelt oder der eigenen Verfassung im Modus figurengebundener Wahrnehmungsakte. (3) Vergleichen als ein erkenntnisfördernder Vorgang, durch den Wissensbestände reflektiert und geordnet werden und das zugleich als rhetorisches Stilmittel dient, welches wesentlich die ästhetische Qualität literarischer Sprache bestimmt. (4) Konstruieren von Fallgeschichten bzw. von (anekdotischen) Mikroerzählungen, welche aufgrund ihrer narrativen Strukturierung Vorfälle in Handlungsschemata einbinden und mittels spezifischer Rhetorik mit Zuschreibungen versehen, so dass diese zum Bestandteil eines größeren Wissenszusammenhangs werden und zur Veranschaulichung eines allgemeinen Problemfeldes dienen können. (5) Nicht zuletzt gehören dazu Popularisierungsverfahren, die einen allgemeinverständlichen Sprachstil bevorzugen, Belehrung und Unterhaltung

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verknüpfen, Wissensbestände personalisieren, Forschungsabläufe emotionalisieren und aus ihren Konventionen herauslösen. Jedes dieser Verfahren trägt sich auf spezifische Weise in die Wissenspräsentation ein. Indem Chamisso im Text Beobachtungs- und Kulturbegegnungsprozesse nachgestaltet, narrativiert, perspektiviert, in Szene setzt, mit anderen Fallgeschichten vergleicht und die Bedingungen seiner eigenen Wissenspraxis hinterfragt, geht sein Reisetext über die bloße Beschreibung geographischer Räume und ihrer Verortung im Wissenschafts- und Entdeckerdiskurs der Zeit hinaus. Vielmehr eröffnet er einen komplexeren Raum. Sein Text avanciert gleichsam zu einem Wissensraum, in dem nicht nur Wissensbestände und Wissenspraktiken, Forschungsnarrative und Theoriebildungsprozesse im Rahmen naturwissenschaftlicher Settings verhandelt werden, sondern der auch ein Forum bildet, um neue Schreibweisen zu erproben und die eigenen Bedingungen der Raumbeobachtung und Wissenserzeugung zu reflektieren.

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Lyrische Stationen

Volker Hoffmann

Selbstinitiation in eine neue Werkphase. Ein Brief Chamissos an Uhland wiedergelesen

Den hier zu behandelnden Brief, den Chamisso am 5. Januar 1821 aus Berlin an Uhland schrieb, der sich zu diesem Zeitpunkt auf der Rückreise von seinem einjährigen Studienaufenthalt in Paris befand, habe ich vor nahezu 40 Jahren im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft erstmals vollständig veröffentlicht.1 Die damit verbundene Kommentierung des Briefs verrät mit dem Titel Drücken, Unterdrücken – Drucken mein Interesse an der Psychoanalyse, neben Freud waren es vor allem Heinz Kohuts Veröffentlichungen zum Narzissmus, wobei seine Ausführungen zur so genannten „Kreativitätsübertragung“ für mich besonders anregend waren.2 Dass ich den 1976 zuerst publizierten Brief erneut vorlege, hat abgesehen von der gelegentlichen Gräberpflege auf dem Friedhof der Zeitschriften mehrere Gründe. Anlass unseres Treffens in Berlin ist die Neuordnung des Chamisso-Nachlasses in der Staatsbibliothek, bei der auch jeder einzelne Brief formal und inhaltlich erschlossen wird. Dabei ist an die Selbstverständlichkeit zu erinnern, dass verschickte Briefe nicht Teil des jeweiligen Schriftstellernachlasses sind und bei der Vielzahl von Adressaten einer Streuüberlieferung unterliegen.3 Da Uhland auf Chamissos Brief nicht geantwortet hat, wäre unser Brief für den Chamisso-Nachlass gleichsam inexistent. Das trifft nicht ganz zu. Chamisso hat von früh an, wenn auch nicht immer regelmäßig, Briefjournale über die aus- und eingegangenen Briefe geführt. In dem Briefjournal 1821–1825 ist unter der Rubrik Briefe geschrieben unser Brief unter dem Datum 1821 Januar verzeichnet: „an Uhland nebst Sonett“.4 Unser Brief ist, wie zu erwarten, im Uhland-Nachlass, der 1897 für das Schiller-Nationalmuseum in Marbach a. N. angekauft wurde, überliefert.5 Das Deutsche 1 Hoffmann 1976, S. 40–44. Zitate aus dem dort transkribierten Brief im Folgenden nach diesem Schema: Chamisso 40/1–9 (= Seiten- und Zeilenangabe nach der Transkription aus Hoffmann 1976, S. 38–86. Nicht berücksichtigt sind die handschriftlichen Korrekturen Chamissos). 2 Kohut 1974; ferner Kohut 1975, S. 93–139. 3 Eine erste Übersicht über die verstreuten Chamisso-Handschriften bei Brockhagen 1977. 4 Vgl. Nachtrag Hoffmann 1976, S. 86, den ich Dörte Brockhagen verdanke. 5 Der Brief hat dort die Inventarnummer 47 685.

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Volker Hoffmann

Literaturarchiv Marbach hat darüber hinaus eine Chamisso-Sammlung (1 Kasten, 10 Mappen)6, aus der in unserem Zusammenhang die Druckvorlage für die von Hitzig nach Chamissos Tod 1839 besorgte Briefausgabe (Band 5 und 6 der ersten Werke-Ausgabe) von besonderem Interesse ist, weil sie viele eigenhändige Streichungen und Randbemerkungen Hitzigs in den Briefabschriften enthält. Letztere sind allerdings nicht vollständig, weil Hitzig gleichzeitig Briefe Karl August Varnhagen von Ense zu dessen Gedenk-Publikation überlassen hatte.7 Noch wichtiger als diese überlieferungsgeschichtlichen, speziell epistolarischen Gründe sind die inhaltlichen Gründe, die mich zu einer Neulektüre des Briefes veranlassen. Der Brief an Uhland markiert auf den Tag genau den Neuanfang von Chamissos Lyrik in Form von politischen Sonetten. Abgesehen von dieser Werkzäsur verlangt die vertrackte Argumentationsführung des Briefs nach Dechiffrierung. Eine Fülle sprachlich-argumentativer Indizien verrät den unterschwelligen Wunsch Chamissos, mit seiner neuen Lyrikproduktion in Konkurrenz zu dem erfolgreichen Uhland zu treten. Also Selbstinitiation in eine neue Werkphase mittels einer „Kreativitätsübertragung“!8 Widersprüchlich ist gleich der Briefanfang. Ich, der trägste aller, die je mals Briefe zu schreiben versäumten, kann dem Drange nicht widerstehen an Sie, den Dichter, den Mann nach unserm Herzen, dessen Gedichte jetzt Thaten sind und solche wie die Zeit sie heischt und braucht, zu schreiben – Ihnen die Hand, die sie ein mal flüchtig gedrückt wieder zu reichen. Aber Sie wissen wohl nichts mehr von mir? – Und wenn ich mit frommem Sinn zu Ihnen komme, Sie meinen lieben Uhland nennen möchte, = – habe ich wohl mehr recht an Ihnen, als Tausende die sich mit Ihnen freuen? Dem sei wie ihm wolle. – –9

Chamisso fühlt sich gedrängt, an Uhland zu schreiben, obwohl er sich als träge gehemmter Briefschreiber stilisiert, und er beansprucht gleich eine privilegierte freundschaftliche Nähe zu Uhland, obwohl er zehn Jahre keinen Kontakt mehr mit ihm hatte. Dem Widerspiel von Trägheit und Mitteilungsdrang entspricht die Formulierung am Ende des Briefes: „Ich eile diesen Brief zuzuschließen aus Furcht ihn nicht abzuschicken.“10 Über den Grund seines Schreibens schweigt sich Chamisso aus, stattdessen gibt er Uhland einen autobiographischen Rückblick auf die verflossenen zehn Jahre. In der Mitte dieses Berichtes fügt er ein Heimkehrgedicht von seiner 6 Kussmaul 1999, S. 119. Vgl. auch die Aktualisierungen in dem elektronischen Datensystem KALLIAS des Deutschen Literaturarchivs Marbach. 7 Varnhagen von Ense 1838. Vgl. dazu bei Busch 2014 das Kapitel S. 101–123. 8 Hoffmann 1976, S. 61–64, 77. 9 Chamisso 40/1–9. 10 Chamisso 44/92f.

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Weltreise ein11, das ihm allerdings viel weniger wichtig erscheint als das spätere politische Sonett, denn im Unterschied zu diesem erwähnt er es in dem oben zitierten Briefjournal nicht. Auffallend im ersten Teil vor dem Gedichteinschub ist die lediglich nachträglich eingefügte unpersönliche Wendung im Zusammenhang mit der Entstehung des Schlemihl. Sie entspricht der medialen Angabe auf dem Titelblatt des Schlemihl „mitgetheilt von Adelbert von Chamisso und herausgegeben von Friedrich Baron de la Motte Fouqu¦“ und damit der aus der Genieästhetik sattsam bekannten Leugnung der persönlichen Autorschaft: Dichtung ist ein Naturprodukt. […] anno 13. Ich war als geborener Franzoß, und nur gepfropfter Deutscher, sehr in meiner Wurzel erschüttert, Ich machte den Feldzug nicht mit, und studirte fort, da ward auch ein Peter Schlemihl12

Leitmotivisch ist im zweiten Teil des autobiographischen Rückblicks der Widerspruch zwischen einer ausschließlich für die Naturwissenschaft und die häusliche Idylle vorbehaltenen literarischen Produktion Gedichte lasse ich nicht mehr drucken, aber ich bin wohl noch im Stande, einmal, bei verschlossenen Thüren, meiner Frau ein Liedchen vorzusingen, das gut genug für die Stube klingen mag.13

und einer an die Öffentlichkeit drängenden poetischen Produktion, die offensichtlich politische Dimensionen hat, denn Chamisso beruft sich mit der Formulierung eines Uhlandschen Gedichttitels auf den „Ernst der Zeit“14, der ihn zum Verlassen der häuslichen und wissenschaftlichen Klause zwingt. […] und lebe nun an der Wiege meines Kindes, und in Gärten und Herbarien ein Leben, das wohl genügen möchte, wäre es nicht der Ernst der Zeit, der, mein Lieber Uhland, schwer, schwer über uns drückt. Aber wenn der Feigenbaum Knospen treibt, vertrau ich fest, es werde der Frühling kommen. – und er wird auch kommen, man kann die Geburten der Zeit und der Erde nicht unterdrücken.15

Das ist nicht nur die bei Chamisso vielfach belegte Berufung auf die unaufhaltsam fortschreitende Zeit, sondern eine Produktionsankündigung in eigener Sache. Was hier im Konflikt von „drücken“ und „unterdrücken“ mit apokalyptischen Drohwendungen als Geburt der Zeit beschworen wird, wird wenige 11 „Heimkehret, fernher, aus den fremden Landen,“, noch ohne die späteren Titel „An die Heimat“ bzw. „Bei der Rückkehr. Swinemünde im Oktober 1818“, siehe Chamisso 1975, Bd. 1, S. 146 und 798. 12 Chamisso 41/15–18. 13 Chamisso 42/53–55. 14 Chamisso dürfte Uhlands Gedicht noch vor dessen Publikation in der 2. Auflage von Uhlands Gedichte (1820) über Varnhagen kennen gelernt haben. Vgl. Uhland 1980, Bd. 1, S. 60, 540f. sowie Hoffmann 1976, S. 52f. 15 Chamisso 42/38–44.

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Zeilen später zur Geburt eines eigenen Zeitgedichts, eines ersten politischen Sonetts, das sich schon im Titel auf die synoptische Apokalypse beruft. – Und, lieber Uhland, wie ich an Sie schreibe erwächst eben aus meinem Brief ein Sonnet, das ich mich nicht entblöde an Sie, deren Muse mich begeistert, zu schicken. Ja. überhand nimmt Ungerechtigkeit Und Noth, Empörung, Krieg, Verrath befärdten. Die falschen Christi wollen sich geberden, Als mit dem Unrecht, nicht dem Recht, im Streit. Bald aber, nach der Trübsal dieser Zeit, Wird den Geschlechtern allen auf der Erden Des Menschen Zeichen offenbahret werden, Mit großer Kraft und hoher Herrlichkeit.

Ev. Mat: 24.

Vom Feigenbaume lernt: An seinen Zweigen Erkennet ihr des Sommers anbeginn, Wann steigt der Saft und blätter schon sich zeigen. Wo habt ihr, blöde Thoren, doch den Sinn? ? Ihr seht den Saft in alle Zweige steigen, Und leugnet euch den Sommer immerhin! Machen sie damit was Sie wollen, andere werden mich auslachen, daß ich Wasser nach dem Brunnen trage, und was für welches, und was für einen Brunnen!!16

Die Einleitungspassage „erwächst eben aus meinem Brief ein Sonnet“ erinnert an die nachträglich eingefügte Erwähnung der Entstehung des Schlemihl „da ward auch ein Peter Schlemihl“.17 Chamisso wählt reichlich distanzierte und anonyme Formulierungen, um etwas über das Entstehen seiner Texte auszusagen. Die eigenen Dichtungen werden zu Gebilden, näherhin zu Gewächsen der Natur stilisiert, auf deren Entstehen der Autor kaum Einfluss zu haben scheint. Die aktiven Teile der Autorschaft werden verleugnet. Chamisso wagt sich nur einzugestehen, dass er – notgedrungen – sein eigener Sänger18 bzw. sein eigener Sammler ist, wie er in einem späteren Brief an den lebenslangen Freund de la Foye hinzufügt. Sammler aber ist Chamisso zuerst und vor allem als Botaniker. Die spätere Briefstelle verdichtet diese Komponenten zu einer einzigen Aussage: Ich singe noch ein Lied, wenn es mir grad einfällt, und ich sammle sogar diese Zeitrosen zu einem eigenen Herbario, für mich und meine Lieben auf künftige Zeit, aber es bleibt unter den vier Pfählen, wie es sich gebührt.19 16 17 18 19

Chamisso 42/56–43/77. Chamisso 41/17f. Chamisso 42/54f. An de la Foye, 12. 10. 1822, in: Chamisso 1864, Bd. 6, S. 189.

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Chamisso vermag auszudrücken, dass er seine Lieder singt, nicht aber, dass er sie macht. Soweit bei dem Singen der Lieder noch eine aktiv-schöpferische Bedeutung mitschwingt, wird sie verschoben auf die gelegentlichen Einfälle, die zum auslösenden Faktor gemacht werden. Zu „eigenen“ Gedichten werden die Texte erst, wenn sie im „eigenen Herbario“ gesammelt werden, d. h. wenn sie in das Hausbuch, das mit der Aufschrift Herbarium seine ursprüngliche Bestimmung verrät, eingetragen werden. Dieser naturkundlichen Aneignung der eigenen Produktion entspricht die Bezeichnung „Zeitrosen“ für die eigenen Gedichte, sie bringt die Verknüpfung von Zeitthematik und naturhafter Genese der Texte treffend ins Bild. Das Sonett selbst bindet das erwartete revolutionäre Zeitereignis in einen naturgesetzlichen Zusammenhang ein. Bei dem Bild vom Feigenbaum handelt es sich natürlich nicht nur um einen der Natur entnommenen Vergleich, sondern, wie der Titel des Sonetts zeigt, um ein leicht verändertes Zitat aus der Gleichnisrede Jesu im Rahmen der so genannten synoptischen Apokalypse, die von einer Naherwartung des jüngsten Gerichtes ausgeht.20 Solange das Zeichen von der Ankunft des Menschensohnes ausbleibt, müssen andere Zeichen genügen, die das nahe Ende ankünden. Der synoptische Jesus rekurriert in seiner Gleichnisrede auf die alljährliche Erfahrung mit der Natur; wie der Wachstumsstand die kommende Jahreszeit anzeigt, so signalisieren die Zeichen der Zeit für den Kundigen das nahe Ende. Im Sinn von Jesus zieht der predigerhafte Sprecher im letzten Terzett unseres Sonetts daraus die Berechtigung zu einer Scheltrede gegen die Toren, welche die Zeichen der Zeit bzw. der Natur zwar sehen, deren Bedeutung aber nicht wahrhaben wollen. Der Scheltredner agiert also im Auftrag der Zeit, deren Zeichen an der Natur ablesbar sind, nicht aus eigener Machtvollkommenheit. Er übt lediglich eine abgeleitete Aktivität aus, übernimmt die mediale Rolle, „Stimme der Zeit“ zu sein, wie ein späteres Zeitgedicht Chamissos betitelt ist.21 Analog der schon mehrfach beobachteten Widersprüche des Briefes sticht von der Brisanz des übernommenen Evangeliumzitates der Kontext des Briefes ab, der einen Automatismus auch für umstürzende Zeitentwicklungen suggeriert, in die der einzelne nicht einzugreifen braucht. Es genügt, der in der Zeit enthaltenen apokalyptischen Sprengkraft wie dem Wachstum der Natur zu vertrauen. Nun hat es aber mit der Entstehung und Veröffentlichung des in Frage stehenden ersten politischen Sonetts von Chamisso eine besondere Bewandtnis, die über die botanische Kaschierung seiner literarischen Produktion hinausgeht. Das Sonett ist in einem Brief an Uhland entstanden, dessen Muse Chamisso nach eigener Aussage begeistert. Uhland war ja wenige Jahre zuvor in der Zeit des 20 Synopsis 1973, S. 396–408, 405f. 21 Chamisso 1975, Bd. 1, S. 488–490.

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württembergischen Verfassungskampfes mit politisch engagierten Zeitgedichten hervorgetreten, von denen sich Chamisso jetzt offensichtlich zu analoger Produktion anregen lässt. Die überschwängliche Formulierung „begeistert“ lässt auf das Vorliegen einer idealisierenden Übertragung, die den Brief- und Sonettschreiber kreativ anregt, schließen. Und der mit Gedichtpublikation erfolgreiche Uhland soll offensichtlich etwas aus der brieflichen Sonettzusendung machen, wie die Briefpassage verrät, welche die Niederschrift abschließt. Sie ist so raffiniert formuliert, dass sie einer eigenen Betrachtung wert ist: „Machen sie damit was Sie wollen, andere werden mich auslachen, daß ich Wasser nach dem Brunnen trage, und was für welches, und was für einen Brunnen!!“22 Machen soll Uhland etwas aus der Sonettzusendung. Fraglich ist nur, ob Chamisso Uhland, wie behauptet, die volle Verfügungsfreiheit überlässt, denn mit der bildlichen Redensart „Wasser zum Brunnen tragen“ insinuiert er die Gleichwertigkeit seiner Zeitdichtung mit derjenigen Uhlands, deren Zusendung an Uhland entgegen der Redensart gar nichts Überflüssiges an sich hat. Offensichtlich erschrickt er selbst über die Zumutung und schiebt den korrigierenden Nachsatz „und was für welches, und was für ein Brunnen“ nach, der gegen den ursprünglichen Sinn der bildlichen Redensart gerade eine Wertdifferenz zwischen Brunnen und zugetragenem Wasser suggeriert. Es liegt nahe, dass Chamisso hier indirekt Uhland zur Veröffentlichung seines Sonetts auffordert, für das er unterschwellig dieselbe Qualität wie für die bewunderte Zeitdichtung Uhlands beansprucht. Uhland ist nicht nur bewundertes Vorbild für die Entstehung von Chamissos eigener politischer Dichtung, sondern er ist aus der Sicht Chamissos, der sich mit seiner neuen Produktion an die literarische Öffentlichkeit drängt, auch ein geeigneter Vermittler, der trotz der Konkurrenzsituation des literarischen Marktes zur Veröffentlichung der gleichwertigen Produktion seines Schriftstellerkollegen beitragen soll. Das dürfte einer der verschwiegenen Gründe für Chamissos spontanen und langen Brief von Anfang 1821 sein, mit dem er versucht, nach zehn Jahren Pause, den Briefkontakt mit Uhland wieder aufzunehmen. Es ist verständlich, dass Uhland, der 1820 zwar eine zweite Auflage seiner Gedichte herausbrachte, selbst aber kaum mehr Gedichte schrieb, auf diese Zumutung nicht reagierte. Chamisso bot daraufhin Anfang März 1821 dieses und weitere vier politische Sonette seinem Freund Trinius für Rückerts Frauentaschenbuch an. Trinius wollte aber zensurbedingt den kleinen Zyklus auflösen, worauf Chamisso nicht einging.23 So blieb der inzwischen auf fünf Texte angewachsene Zyklus liegen, bis er erst 1829 in Wendts Musenalmanach veröffentlicht wurde. Die lange Verzögerung der Publikation von Chamissos 22 Chamisso 43/75–77. 23 Hoffmann 1976, S. 50f., 71, 77; Chamisso 1975, Bd. 1, S. 373–376, 829f.

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innovativer Zeitlyrik dürfte nicht nur von diesen äußeren Umständen bedingt sein, sondern auch von inneren Konflikten, die Chamisso jahrelang hinderten, mit seiner aggressiven Zeitkritik an die Öffentlichkeit zu gehen.24 Diese Konflikte dürften auch schon hinter der zitierten Schlussbemerkung des Briefschreibers stehen, mit der Chamisso seine Hemmung, den geschriebenen Brief an Uhland abzuschicken, eingesteht: „Ich eile diesen Brief zuzuschließen aus Furcht ihn nicht abzuschicken.“25 Die ambivalente Haltung gegenüber dem Adressaten Uhland kommt hier noch einmal zu Wort: ein starker Mitteilungsdrang kämpft gegen die Hemmung und gewinnt auch hier wie zu Beginn des Briefes die Oberhand. Der Brief wird abgeschickt – aber ohne den erwarteten Erfolg.

Literatur Brockhagen, Dörte: ,Adelbert von Chamisso‘, in: Martino, Alberto / Häntzschel, Günter / Jäger, Georg (Hg.): Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert. Tübingen 1977, S. 373–423. Busch, Anna: Hitzig und Berlin. Zur Organisation von Literatur (1800–1840). Hannover 2014. [Chamisso, Adelbert von] Adelbert von Chamisso’s Werke. 5., vermehrte u. berichtigte Auflage. 6 Bde., besorgt v. Friedrich Palm. Berlin 1864. Chamisso, Adelbert von: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Nach dem Text der Ausgaben letzter Hand und den Handschriften. Textredaktion Jost Perfahl. Bibliographie u. Anmerkungen v. Volker Hoffmann. München 1975. Hoffmann, Volker : ,Drücken, Unterdrücken – Drucken. Zum Neubeginn von Chamissos politischer Lyrik anhand eines erstveröffentlichten Briefes an Uhland‘, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 38–86. Kohut, Heinz: Die Zukunft der Psychoanalyse. Aufsätze zu allgemeinen Themen und zur Psychologie des Selbst. Frankfurt a. M. 1975. Kohut, Heinz: ,Kreativität, Charisma, Gruppenpsychologie. Gedanken zu Freuds Selbstanalyse‘, in: Psyche 29 (1975), S. 681–720 (amerik. Originalbeitrag 1974). Kussmaul, Ingrid: Die Nachlässe und Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, [3., wesentlich erweiterte Ausgabe], Marbach am Neckar 1999, Bd. 1: Nachlässe und Sammlungen, Marbach am Neckar 1999 (= Deutsches Literaturarchiv. Verzeichnisse, Berichte, Informationen 23/1). Synopsis Quattuor Evangeliorum, Locis parallelis evangeliorum apocryphorum et patrum adhibitis, edidit Kurt Aland, 8. Auflage, Stuttgart 1973, S. 396–408. Uhland, Ludwig: Werke, hg. v. Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler, 4 Bde. München 1980–1984, Bd. 1: Sämtliche Gedichte, München 1980.

24 Hoffmann 1976, S. 49, 58f., 72–85. 25 Chamisso 44/92f.

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Varnhagen von Ense, Karl August: ,Zum Gedächtnis Adelbert’s von Chamisso‘, in: Der Freihafen. Galerie von Unterhaltungsbildern aus den Kreisen der Literatur, Gesellschaft und Wissenschaft. Hg. Theodor Mundt, Altona 1838, 1 (1838), H. 4, S. 1–61.

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Dialektische Überschneidungen? Realer und imaginärer Ort in Einem: Die Sehnsucht nach der Kindheit als Utopie des Glücks in Chamissos Das Schloß Boncourt (1827) Das Faktum genügt nicht, die Träumerei arbeitet. (Gaston Bachelard: Poetik des Raumes)

Das lyrische Werk Adelbert von Chamissos hat in den letzten Jahren relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren. Abgesehen von einigen Aufsatzpublikationen1, beschränkt sich die Forschung zu den Gedichten auf zeitlich weit zurückliegende Beiträge, die eher einen überblicksartigen Charakter aufweisen.2 Auch die neue Biographie von Beatrix Langner aus dem Jahr 20083 geht hauptsächlich von einem zu vernachlässigenden Stellenwert einer im Wesentlichen den Anforderungen eines modernen Literaturverständnisses nicht gerecht werdenden Lyrik aus und scheint damit die damalige pejorative Einschätzung Thomas Manns aus dem Essay von 1911 gegenüber Chamissos Gedichten und ihrer angeblichen Vorliebe für grässliche Stoffe zu wiederholen.4 Vielleicht lassen sich derlei Desiderate aus der Doppelbödigkeit mancher Verse begründen, die nach einer Einschätzung von Volker Hoffmann im Lexikon für Theologie und Kirche in ihrer Tonalität und Thematik oft „zwischen ideologischer bzw. formaler Stereotypik 1 Vgl. hierzu Hoffmann 1983, S. 60–68; Hartung 2007, S. 24–33. Beide Essays betonen den poetologischen Gehalt der lyrischen Texte Chamissos. 2 Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts widmeten sich gleich zwei Dissertationen den Versen des Autors mit jeweils eher formalem bzw. autobiographisch-kulturvergleichendem Erkenntnisinteresse: Schubotz 1910; Ehrlich 1932 (ND: 1967). Zu diesem Thema vgl. als neuere Arbeit auch die Monographie von Schlitt 2008. 3 Vgl. Langner 2008. 4 Vollzogen in Mann: ,Chamisso‘, in: ders. 21974, S. 35–57. Auch Manns elitärer und umfassend gebildeter Kollege Rudolf Borchardt versieht Chamissos dichterisches Werk mit wenig lobenden Kommentaren, wenn er in seinem Vorwort zu der von ihm besorgten Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie über die Gedichte schreibt, „daß sie samt und sonders nach fertigen Rezepten gearbeitete Effektstücke von erstaunlicher Kälte in ihrer Wirkungsabsicht sind“ und sie teilweise „für nichtgenießbar“ hält. Borchardt: ,Nachwort‘, in: ders. 1926, S. 441–484, S. 457. Ob jenes Urteil sich aus Chamissos Vorliebe für bisweilen grelle Farben und blutige Themen, oder aus seiner Orientierung an althergebrachten Formen (Terzinen, Sonette etc.) ergibt, vermag ich nicht zu beurteilen. Letzteres würde jedenfalls im Fall von Borchardt verwundern, da dieser selbst zu einer Transformation dieser lyrischen Formen in die Moderne beigetragen hat.

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und zukunftsweisender liberaler Zeitkritik5 angesiedelt sind. Das mag mitunter den Zugang zu den Gedichten problematisieren. Dabei machen die poetischen Texte Chamissos nicht nur einen Großteil seiner schriftstellerischen Tätigkeit aus. Sie repräsentieren auch das Ineinandergreifen unterschiedlicher literarischer Strömungen des 19. Jahrhunderts6 (Romantik/Biedermeier/Vormärz), die Reflexion zeitgenössischer Diskurse und Wissensdisziplinen (Naturwissenschaft, Botanik, Krieg, Politik, Literatur), die Thematisierung des existentiell und ontologisch relevanten Verhältnisses des Eigenen zum Fremden, geboren aus Chamissos Exilsituation, wodurch sie auch einen autobiographischen Charakter inne haben, und geben darüber hinaus auch noch Aufschluss über ästhetische Produktivität und imaginative Prozessualität, wodurch einiges über Chamissos Dichtungs- und Kunstverständnis deutlich wird. Grund genug also, Chamissos (autobiographisch orientierte und sich mit dem Heimataspekt auseinandersetzende) Lyrik zu untersuchen mit Blick auf das Verhältnis von realen und imaginären Orten. Anhand des 1827 entstandenen Gedichts Das Schloß Boncourt7, welches sich mit Chamissos (in den Revolutionswirren aufgegebenen und zerstörten) Geburtsort in der Champagne auseinandersetzt, soll der dialektische Zusammenfall (und zugleich dessen Überwindung) von geographischer Realität und Imagination durch Rekonstruktion der dem Gedicht inhärenten poetologischen Verfahren und Parametern einer „kreativen Erinnerung“ als spezifischer Variante des dichterischen Produktionsprozesses aufgezeigt werden, also anhand „des verlorenen und nur im Gedicht bewahrten Schloß Boncourt“8, wie es Harald Hartung auf den Punkt bringt.9 Das Motiv der Heimatlosigkeit, populär geworden durch die allegorische 5 Hoffmann 32009, S. 1006. 6 Zur literar- und sozialhistorischen Verortung Chamissos vgl. den umfassenden Artikel von Brockhagen 1977. 7 Zur literarischen Motivik und Symbolik des Schlosses vgl. die Überblicksartikel von Daemmrich / Daemmrich 21995, S. 311; Tomasek 22012. Auf Chamissos Gedicht geht merkwürdigerweise keiner der beiden Artikel ein, was einmal mehr die Unterschätzung der Lyrik des Autors durch einen Großteil der literaturwissenschaftlichen Forschung dokumentiert. Neben den bekannten Werkausgaben von Julius Eduard Hitzig, Werner Feudel und Volker Hoffmann, existiert kaum eine brauch- und beziehbare neue Einzel- oder Auswahlausgabe der Gedichte Chamissos, auch nicht mehr bei Reclam. Das war allerdings nicht immer der Fall: Im Otto Hendel Verlag erschien die Ausgabe Chamisso 1886, die wiederum auf die große Wertschätzung und Popularität des Autors im ausgehenden 19. Jahrhundert verweist. Wenig später erschien als eine der ersten Arbeiten: Tardel 1902. Tardel betätigte sich im Jahr 1907 auch als Herausgeber der Werke Chamissos. 8 Hartung 2007, S. 33. 9 Auch dokumentiert ein Brief Chamissos an Louis de la Foye vom 22. Juni 1822, dass der Autor in diesem Jahr in lyrischer Hinsicht recht aktiv war. Nachzulesen in Chamisso 1839, Bd. 6, S. 151f. (=Hitzig 1839, Bd. 2).

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Funktion des fehlenden Schattens in Chamissos Peter Schlemihls wundersamer Geschichte (1814), wird hier bewältigt durch den Modus einer kreativ gestaltenden Erinnerung. Das Gedicht vom Schloss Boncourt erfüllt damit zunächst und auf den ersten Blick scheinbar eine ähnlich ausgleichende Funktion wie das Reisen und Wandern in dem volksliedhaften Frisch gesungen! (1829)10 oder in den Sieben-Meilen-Stiefeln in der berühmten Novelle, die auf Chamissos spätere Doppelexistenz als Schriftsteller und reisender Botaniker verweisen. An die Stelle der Dynamik tritt nun – wenn auch als Fiktion (und Wunsch) – eine räumlich zu verortende Repräsentation von Identität und kulminiert im Verlauf des Gedichts, trotz der konkreten Benennung eines vermeintlich statischen Ortes, in der lyrischen Darstellung eines Lebensweges in vier Stationen: Idylle, Zweifel, Verarbeitung, Erlösung über Dichtung und Gesang. Dies erscheint als Kompensation gegenüber dem Ungenügen an der Realität. Bei der Interpretation werden fokussiert: a) die ästhetisch-sprachliche Inszenierung und Funktion der Erinnerung als Prozess dichterischer Imagination b) das Verhältnis von Sinnlichkeit und Anschaulichkeit11 in der „Ortserschreibung“ des Schlosses Boncourt c) die Bedeutungen von Heimat bzw. Herkunft und Kindheit für den lyrischen Sprecher d) der (selbsttherapeutische) Umgang mit dem Verlust.12 Letztendlich mündet die Erkenntnis des memorierenden lyrischen Ich in der versöhnlichen Akzeptanz der Exilsituation gegenüber der Allmacht der Geschichte, was wiederum im späten nachgelassenen Sonett Mahnung (1838) sein Fazit findet, welches daher auch vergleichend knapp in die Überlegungen integriert werden soll.

10 Relativiert wird diese These durch Ren¦-Marc Pilles komparatistisch ausgerichteten Essay ,Boncourt, Combourg, Lubowitz. L’image du ch–teau perdu chez Chamisso, Chateaubriand et Eichendorff‘ 1997. Vor allem die über eine Abgrund-Metapher erfolgende Dekonstruktion des imaginierten Heimatglücks in Eichendorffs Gedicht Denkst du des Schlosses noch auf stiller Höh? bewegt Pille dazu, den Memorierungsprozess ex negativo aufzufassen. Freilich ergibt sich aus der daraus entwachsenden Melancholie ein neuer Katalysator für lyrische Produktivität. Diese dient dem lyrischen Ich bei Chamisso – ähnlich wie das Reisen – als Bewältigungsmöglichkeit gegenüber dem Verlust eines Existentials. 11 Als charakteristisches Merkmal des Gedichts bereits 1950 attestiert durch den knappen Essay des Dramaturgen Julius Bab, ,Schloß Boncourt. Eine Neujahrsbetrachtung‘, in: ders. 1960, S. 80. 12 Dazu gehört auch die Akzeptanz der Situation. Nach Tomasek „kann das Verlassen des Schlosses als Symbol der […] Überbrückung sozialer Stände oder Aufgabe von Adelsprivilegien dienen.“ Tomasek 2012, S. 376f.

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These: Die Rekonstruktion von Örtlichkeit aus dem Akt der Imagination

Bereits Harald Weinrich bringt 1997 in seinem bekannten Buch Lethe die Thematik des memorierten heimatlichen Schlosses Boncourt mit der Rekonstruktion einer durch die französischen Revolutionswirren verschwundenen und zugleich einer Art „damnatio memoriae“13 anheimgefallenen Epoche in Verbindung, wenn er schreibt: Dieses Gedicht kann in seinen ersten Strophen gewiß als Bekräftigung des alten vorrevolutionären Gedächtnisses gelesen werden, das dem republikanischen Vergessensgebot zum Trotz […] nach einem poetischen Ausdruck sucht. Das Schloß mit seinen Zinnen und Wehrtürmen, mit Wappen und Waffen, mit Burgkapelle und Ahnengrab steht ja da, als sei es „treu und fest“ eine schimmernde Vision des Ancien R¦gime.14

Doch diese Reanimation aristokratischer Vergangenheit inmitten eines republikanischen Zeitalters ist kaum als reaktionärer Zugriff auf die Zeit zu verstehen, worauf bereits Albrecht Koschorke in seinem Artikel über Chamissos Lyrik verwiesen hat. Diese behandelt Abkehr von der Welt des Feudaladels, der er selbst entspringt, ostentative Zuversicht in bezug auf einen gesellschaftlichen Fortschritt, der nach seiner Überzeugung in einer geradezu deterministischen Weise durch beständigen Wandel freiheitliche und gerechte Lebensverhältnisse hervorbringen wird.15

Trotz der betont geschichtsphilosophischen Deutung der Gedichte Chamissos durch Koschorke ist diese von ihm postulierte Grundhaltung des Autors eine wichtige Bedingung für das Vorstellungspotential des lyrischen Sprechers im hier zu diskutierenden Gedicht. Ein Verharren an spezifischen historischen Zuständen würde sich wohl als diametraler Befund gegenüber auch einem romantischen Verständnis von literarischer Kreativität erweisen. Für Koschorke ist Das Schloß Boncourt „ein Gedicht, in dem Chamisso sich an die Stätte seiner Kindheit zurückversetzt und an dessen Ende er die Zerstörung des Familiensitzes durch die Französische Revolution im Sinn seines Fortschrittsglaubens ,segnet‘“.16 Neben dieser „politische[n] Vorwärtsgewandtheit17 ergeben sich aus der Emanzipation von festen Orten und Zeiten auch poetologische Möglichkeiten: Vielmehr ist nämlich das radikale Verschwinden einer Epoche, auch Nicht13 14 15 16 17

Weinrich 1997, S. 144. Weinrich 1997, S. 148. Koschorke 1997, S. 310. Ebd. Ebd.

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Gestalt geworden in dem vollkommen entschwundenen Schloss der Ahnen, die konstitutive Voraussetzung für die kreative Imagination einer Vergangenheit, deren radikale Unwiederbringlichkeit sich auch in Chamissos Autobiographie ausdrückt. Zu Beginn seiner 1836 publizierten Reise um die Welt schreibt er : „Die Auswanderung des französischen Adels entführte mich schon im Jahre 1790 dem Mutterboden.“18 Trotz der konkreten Rückbindung des Verlusts von Heimat und Kindheit an ein historisches Ereignis steht dieses nicht als solches im Vordergrund. Noch weniger geht es hier um ein Bedauern über den Zusammenbruch der Ständeordnung. Beides steht vielmehr symbolisch für Epochenumbrüche und existentiell relevante Veränderungen wie Verlust, Trauer und deren Überwindung an sich. Der durch die Französische Revolution und den Grand Terreur evozierte Paradigmenwechsel korrespondiert in dieser Notiz des Autors auf raffinierte Weise mit dem Ende einer unbeschwerten Kindheit.19 Das Auswandern der Aristokratie in ständisch verfasste Staatengebilde wie England oder Preußen ist hier nicht nur als Spatialität zu verstehen, sondern vielmehr temporär. Heimatlicher Ort und historische Epoche markieren in ihrer Auflösung den Bruch mit der Kindheit und schaffen damit die entscheidende Vorbedingung für den ästhetischen Imaginationsprozess. Dass dieser Bruch mit so kardinalen Umbrüchen verzahnt wird, ist als literarisches Ausdrucksmittel für die existentielle Relevanz des Abschieds von der Kindheit für das memorierende autobiographische Ich zu verstehen und synchron der Katalysator für das Memoriam qua Phantasie. So bekannte denn auch der Verfasser : „Die Erinnerungen meiner Kindheit sind für mich ein lehrreiches Buch, worin meinem geschärften Blicke jene leidenschaftlich erregte Zeit vorliegt.“20 Die Buch-Metapher lässt den gesamten Vorgang nun zu einem Procedere des Fingierens werden.21 Radikaler ausgedrückt: Nur wo nichts mehr in realiter vorhanden ist, kann etwas dank der Einbildungskraft entstehen. Aufgrund der 18 Chamisso 1975, S. 577. 19 Das zeigt sich auch noch in späteren Gedichten Chamissos. In dem 1831 entstandenen Memento wird die Flucht König Charles’ X und seiner Familie, in Folge der 1830er Revolution, nach England, gerade aufgrund der selbst erfahrenen Aufgabe des heimatlichen Schlosses in der Kindheit, als dramatisch-einschneidendes Ereignis begriffen und nachempfunden, „weil es ihn an sein eigenes und seiner Eltern (Schicksal) erinnert haben mochte.“ Langner 2008, S. 281. 20 Chamisso 1975, S. 577. 21 Der Zusammenhang von Prozessen des Erinnerns und Fingierens über narrative Modi wird in der aktuellen Forschung über kartographische Techniken rekonstruiert durch die Arbeit des Erfurter Romanisten Jörg Dünne, Die kartographische Imagination – Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Iberischen Welt der Frühen Neuzeit (2011). Dadurch wird der Realitätsgehalt von auf Konkretisation setzenden Wissenspraktiken und Bewahrungsverfahren um seine ästhetisch-phantastische Dimension ergänzt. Obgleich Chamissos Gedicht auf Kartenzeichnung verzichtet, ergeben sich durch den Rundgang durch das Schloss Analogien zu Ortsskizzen.

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Unzeitgemäßheit von feudalistischem Besitz nach den Umbrüchen ab 1789 werden dieser und die damit verbundene Geschichte zu einem poetologischen Projekt der Imagination. Auch Weinrich warnt davor, das lyrische Ich dieser Zeilen als einen konservativen Nostalgiker zu interpretieren. Daher „ist in einem umfassenderen, die Intention des Gedichts wohl genauer treffenden Verständnis Chamissos Gedicht eher als ein poetischer Dialog mit dem Vergessen aufzufassen.“22 Bevor die dichtungstheoretische Konsequenz dieser These genauer erfasst wird, soll zunächst das zur Diskussion stehende Poem in einem close reading interpretiert werden.

2.

Das Schloß Boncourt (1827) – ein Produkt literarischer Einbildungskraft

Der vorliegende Analysezugriff versteht das Gedicht als eine Visualisierung literarischer Gestaltungstechniken von produktiven Vorstellungsinhalten.23 Das impliziert nicht eine immanentistische Exklusion historischer Faktizitäten, sondern diese und die Situation des Exil-Schriftstellers Chamisso, gewissermaßen eines Dichters in DaF, werden vielmehr als Grundierung des imaginativen Umgangs mit entschwundenen Orten und Zeiten begriffen. Das Gedicht setzt nach Weinrichs Einschätzung die Leistung des Gedächtnisses an die Stelle der Realität. Die gezielte Verknüpfung von Memorierungsprozessen und dichterischer Vorstellungskraft bzw. Phantasie wird offenbar, denn das lyrische Ich „sanktioniert damit seine eigene Abkehr vom alten, raumund besitzbezogenen Adelsgedächtnis, das er für seine Person durch ein neues Gedächtnis ersetzt.“24 Gerade durch die materielle Auflösung des einstmals 22 Weinrich 1997, S. 148. 23 Vgl. Chamisso 1975, S. 118f. und in diesem Band, S. 298. Zitate werden im Haupttext mit Angabe von Strophe und Vers belegt. Das Fazit der letzten Strophe ist auch die Kernaussage des Wanderlieds Frisch gesungen! von 1831, welches den Optimismus der Dynamik und Unstetigkeit noch emphatisiert und auf den die Freiheit des literarischen Imaginationsvorgangs nach einem idealistisch-romantischen Verständnis zu applizieren wäre. Dass der Autor Chamisso in seiner Exil-Situation kaum eine andere Wahl hatte, als sich mit der ausbleibenden Restitution abzufinden, ist ein anderes Thema. 24 Weinrich 1997, S. 148. Auch im Romantik-Band der kanonischen marxistischen Literaturgeschichte Erläuterungen zur klassischen deutschen Literatur wird diese Einschätzung bereits antizipiert und erkannt, dass „die Erinnerung an die Vergangenheit nicht Anlaß ist zur rückwärtsabgewandten Sehnsucht oder zu elegischer Klage um das Verlorene; sie schließt das Bekenntnis zur gegenwärtigen Wirklichkeit ein.“ (Böttcher / Mittenzwei / Berger u. a. 1973, S. 545.) Trotz des Testats einer unterdrückten Melancholie übersieht diese Interpretation die poetologischen Konsequenzen aus dieser Tatsache und untermauert dagegen – ein wenig sich selbst widersprechend – einen radikalen Wirklichkeitsbezug des Autors. Dabei ist die nicht mehr vorhandene oder bereits gewesene Wirklichkeit des Ahnenschlosses das

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Vorhandenen, ist es dem lyrischen Ich möglich etwas zu erschaffen. Bereits in der ersten Strophe fallen Memoria und Imago zusammen, vermischen sich aktive und passive Komponenten, wenn es heißt: „Was sucht ihr mich heim, ihr Bilder, / Die lang ich vergessen geglaubt?“ (I, 3–4). Die hier angesprochene Pikturalität steht für das Vorstellungspotential des lyrischen Ich. Die Überwindung des Vergessens qua Bildevokation impliziert das Erinnern. Das Resultat zeichnet sich im detaillierten Wiederaufbau des Schlosses Boncourt und damit auch einer mit diesem Ort verknüpften Zeit ab. Was auf den ersten Blick wie die Antizipation einer durch plötzliche Sinneseindrücke herbeigerufenen m¦moire involuntaire — la Proust erscheinen könnte, ist die Folge eines vom Willen noch nicht vollends kontrollierten Vorstellungsablaufs. Das lyrische Ich kreiert dann aber gezielt Bilder, um der Konfiguration von Erinnerungen eine adäquate Gestalt geben und sie damit ordnen zu können, womit gleichzeitig auch das poetologische Verfahren des Poems benannt wird. Das mag zwar stark verallgemeinernd klingen, aber bereits Volker Hoffmann hat davor gewarnt, Chamissos bekanntes Schloss-Gedicht in erster Linie als simplen autobiographischen Text zu rezipieren, als er diagnostizierte, „daß es sich bei dem traumhaft imaginierten Suchgang weniger um eigene Kindheitserinnerung als um einen Versuch, Totes bzw. nicht mehr Existierendes zu beschwören, handelt.“25 Darüber gibt bereits die zweite Strophe Aufschluss, wo das Gebäude durch den Erinnerungsprozess erst Gestalt gewinnt und dem für das Vergessen symbolisch stehenden Schatten entzogen wird: „Hoch ragt aus schatt’genGehegen / Ein schimmerndes Schloß hervor“ (II, 5–6). Das Entbergen des Gebäudes markiert die Entstehung eines poetischen Bildes, einer konkreten dichterischen Phantasie. Da das reale Schloss nicht (mehr) existent ist, wird es zum Produkt des lyrischen Ich. Die historische Faktizität, obgleich Voraussetzung für die Verlusterfahrung, relativiert sich aufgrund des selbstbewussten Dichtungsverständnisses des lyrischen Sprechers, welcher explizit benennt: „Ich kenne die Türme, die Zinnen, / Die steinerne Brücke, das Tor.“ (II, 7–8). Sie sind ihm bekannt, da er sie in seinem Erinnerungsprozess bildhaft entworfen hat. Die Vertrautheit der Umgebung ergibt sich für das lyrische Ich nicht ausschließlich aus einem autobiographisch und faktisch zu verortenden Korrelat oder einer historischen Referenz, sondern aus einem subjektiven Blick und einem Schöpferwillen, welcher das heimatliche Schloss in einer Art Vision entstehen lässt. Volker Hoffmann macht in diesem Zusammenhang auf eine Präponderanz der

Apriori, die Bedingung für den Dichtungsvorgang, welcher nach Weinrich 1997, S. 148 eben in den Modus einer kreativen Memorierung gebettet wird. 25 Hoffmann 1983, S. 63.

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„Erinnerungsrealität“ gegenüber der „Außenrealität“26 aufmerksam, für die er beim lyrischen Sprecher die „traumähnliche Erinnerungssituation eines SängerDichters“27 als Beleg angibt und damit auf ein Konzept aktiver Mnemotechnik verweist.28 Diese offenbart sich nicht nur in den Bildphantasien der SchlossErschreibung, sondern auch im Fazit der neunten Strophe, die das lyrische Ich zum Vaganten-Dichter werden lässt. Bevor die Ursachen für diesen Entschluss erkennbar gemacht werden können, soll Chamissos Gedicht selbst in seiner Funktion als „dichterische Bau- und Grundlagenreflexion“29, verbunden mit dem hier präsentierten und für die lyrische Produktivität konstitutiven Geschichtsverständnis, deutlich werden. In der dritten Strophe werden die einstigen Insignien aristokratisch-feudalistischer Macht in ihrer Semantik entfaltet. Auch sie artikulieren sich über visuelle Codierungen: „Es schauen vom Wappenschilde / Die Löwen so traulich mich an, / Ich grüße die alten Bekannten, / Und eile den Burghof hinan.“ (III, 9–12) Trotz der in der Memoria erfahrenen Vertrautheit mit der Visualisierung des Standes verweilt das lyrische Ich nicht bei einer melancholischen oder gar geschichtspessimistischen Haltung, sondern wählt die Dynamik, um seinen Weg durch das imaginierte Schloss fortzusetzen. Trotz seiner geographischen Verortbarkeit wird dadurch die Statik des Raumes aufgehoben und weicht einem durch die Erinnerung durchschweifbaren Bewegungsraum. Damit schließt Chamisso an literarische Techniken der aktiven Aufhebung räumlicher Grenzen und architektonischer Statik durch die Vorstellungskraft an. Der feste Ort bietet nun die Möglichkeit des Schweifens und Wanderns, wie es vor Chamisso schon in Xavier de Maistres damals berühmter Voyage autour de ma chambre von 179430 und teilweise auch in E. T. A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (1822) vollzogen wurde, welches wiederum von einer Verarbeitung damaliger optischer Diskurse und von nicht hintergehbaren neuen Möglichkeiten der Mobilität zeugt. 26 Ebd., S. 61. 27 Ebd. 28 In interdisziplinärer Breite nimmt sich diesem kulturwissenschaftlich relevanten Thema unter anderem an die Aufsatzsammlung von Assmann / Harth 1991. 29 Hoffmann 1983, S. 67. 30 Der Bruder des konservativen Philosophen und Staatstheoretikers Josephe de Maistre betreibt damit nicht nur eine ironische Perspektivierung des für das späte 18. Jahrhundert typischen Weltreiseoptimismus, indem er das Reisen auf engsten Raum kondensiert. Er sieht in seiner Reise in der Klausur auch eine Möglichkeit, sich gegenüber den durch die Französische Revolution ausgelösten Paradigmenwechseln zu entziehen. Diesem Fluchtgedanken durch räumliche Isolation werden sich weder das lyrische Ich im Gedicht noch der reale Adelbert von Chamisso anschließen. Er teilt mit ihm lediglich die literarische Gestaltung des Bewegungsraums, kann diesen aber auch jeder Zeit wieder verlassen und damit die Dynamik auch performativ und nicht nur in der Ekphrase vollziehen. De Maistres Text erschien bei Zweitausendeins in einer neuen deutschen Übersetzung. Vgl. de Maistre 2005.

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Alles andere würde eine sowohl historisch unangemessene als auch kreative Stagnation implizieren. Auch die vierte Strophe setzt zunächst die Besichtigungstour fort, um dann zu einem ersten Höhepunkt im narrativen Verlauf des Textes zu gelangen: „Dort liegt die Sphinx am Brunnen, / Dort grünt der Feigenbaum, / Dort, hinter diesen Fenstern, / Verträumt ich den ersten Traum.“ (IV, 13–16) Bereits hier werden künstliche Schlossarchitektur und Naturerscheinung in einem Atemzug, innerhalb einer Beobachtung genannt, wobei letzterem das Attribut des Vegetabilischen und der Vitalität attestiert wird, während die vergangene und vielleicht auch verlorene Zeit an den abgeschlossenen Ort hinter den Fenstern verbannt und nicht mehr aufgesucht wird.31 Das beantwortet meines Erachtens auch die Frage von Volker Hoffmann, „weshalb die traumartige Erinnerung an dieser Stelle abbricht“ und „weshalb das Kind sein Schlafzimmer meidet und dafür die Ruhestätte des toten Ahnherrn sucht“.32 Die Kindheit des lyrischen Ich ist an diesen Ort gebannt. So wie der Ort verschwunden ist, ist es auch die Kindheit. An der weiteren Entwicklung des Sprechers hatte das Schloss keinen Anteil mehr, ebenso wie der Sprecher das Schloss eben nur als Kind kennt, so dass kein Bezug zu späteren Lebensphasen konstruiert werden kann.33 Das fusioniert mit der von Ren¦-Marc Pille aufgeworfenen Skepsis gegenüber der These von einer gelungenen Kompensation qua Memorabilien, denn „l’enfance du poÀte demeure lettre close, toute comme les 31 Solche Dualitäten finden sich im Text oft. Nach Hoffmann unterzieht der Dichter Schloss und Natur einem Gendering und setzt dafür männliche und weibliche Attribuierungen ein. Letzteres schlägt sich dann auch in der „spezifisch weiblich angesehenen Vokalkunst“ nieder, also in den Wanderliedern der letzten Strophe. Hoffmann 1983, S. 67. Auch die hymnische Anrede von „o Schloß meiner Väter“ (VII, 25) und „Sei fruchtbar, o teurer Boden“ (VIII, 29), verweist auf eine maskuline Konnotation der Bauwerke und aufgrund der Fähigkeit zur Fruchtbarkeit auf ein weiblich-mütterliches Verständnis vom Boden, also von der Natur. Ich danke herzlich Walter Erhart für diesen Hinweis. 32 Ebd., S. 63. 33 Ontologische und psychologische Dimensionen einer solchen Trennung der Entwicklung von Biographie und Haus hat auch immer wieder Gaston Bachelard in seinem Buch Poetik des Raumes (1987) problematisiert. Auf deren existentielle Relevanz und der der Behausung an sich kommt auch Martin Heidegger in seiner Arbeit Bauen Wohnen Denken (1992) zu sprechen. Vor allem im modernen Wohnungsbau sieht der Philosoph die Gefahr einer Enthausung, einer ausbleibenden Identifikation des Bewohners mit seiner Wohnstatt, die auf diese Weise Charakteristika des Unheimlichen in sich birgt. Auch darauf haben bereits Erzählungen der Romantik aufmerksam gemacht, so etwa E. T. A. Hoffmanns Nachtstück Das öde Haus (1817). Vgl. dazu auch meine Studie ,Eine Architektur des Wunderbaren oder des Unheimlichen? E. T. A. Hoffmanns Nachtstück Das öde Haus oder der ,Freak‘ im Keller‘ (in: Le Blanc / Twrsnick 2008). Hier ist es nicht eine externe Fremde, sondern die interne Behausung selbst, die eine Erfahrung der Fremdheit, gerade durch Elemente des nur AllzuBekannten auslöst. Letzteres wird sowohl von Schelling als auch von Freud zu den elementaren Gegebenheiten des Unheimlichen gerechnet. In Chamissos Gedicht über die Kraft des Erinnerns bleiben derlei destruktive Erfahrungen dank der Möglichkeit kreativer Bewältigung aus.

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fenÞtres qui l’ont abrit¦e.“34 Spatiale und temporäre Abgeschlossenheit einer Episode verhindern also jegliche Revokation. Daran ist das lyrische Ich auch nicht interessiert. Das Dichten zeugt nicht vom Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, sondern reduziert sich ganz auf die erst durch den Verlust möglich gewordene Bildproduktion, da das Vergangene durch sein Verschwinden selbst fiktiv geworden ist und die Kindheit an den Ort ihres Erlebens verbannt ist und daher nicht reanimiert werden kann. Insofern scheitert an dieser Stelle der versöhnliche Versuch einer möglichen literarhistorischen Antizipation einer Proust’schen m¦moire involuntaire, die freilich auch über plötzlich eintretende Synästhesien, wie die des Geruchs und Geschmacks der Madeleines, und nicht über abstrakte Verfahren der Einbildungskraft vollzogen wird. Auch aus diesem Grund verknüpft Volker Hoffmann mit Blick auf unterschiedliche Gedichte Adelbert von Chamissos auch „Utopien“, die sich wie Das Dampfroß (1830) mit den technischen Errungenschaften der industriellen Revolution und deren mentalitätshistorischer Wirkung auseinandersetzen, mit sogenannten „literarischen Traumbildern35, zu denen das besagte Schloß Boncourt zu zählen ist, welches auf diese Weise sowohl einer sozialen wie auch einer persönlichen Funktionalität im Sinne von Ersatz entzogen ist. Nicht nur die eigene Vergangenheit in Gestalt des Schlosses, welches ja einer „destruction physique“36 unterzogen wird, sondern die Geschichte selbst erfährt in diesem Gedicht eine radikale Relativierung, angesichts der Allmacht von Natur und auch Dichtung. Oder, um mit Pille zu argumentieren, Chamissos Verse „montrant que la nature finit en quelque sorte par dig¦rer l’histoire.“37 Dieses Verhältnis von Natur, Wandel und Geschichte drückt sich auch in der fünften und sechsten Strophe aus, in welchen sich das lyrische Ich in die Gruft seines Ahnherrn begibt und dort beim Entziffern der Inschriften scheitert. Ohne jeglichen Fatalismus wird berichtet, dass auch die Burgkapelle, das in ihr aufgefundene Grab und „das alte Gewaffen“ (V, 20)38 nur für die Vergangenheit stehen und ihre einstige politisch-soziale Funktion entbehrt haben.39 Lediglich in der Imago des 34 35 36 37 38

Pille 1997, S. 208. Hoffmann, in: Chamisso 1975, S. 1007. Pille 1997, S. 209. Ebd. Hinsichtlich solcher Verse geht die frühe Arbeit von Elisabeth Ehrlich (1932, ND 1967, S. 89f.) zu weit, wenn sie Chamisso unterstellt, angesichts dieser Formulierungen schiene es, „als sei er sich ihrer Altersfarbe nicht bewußt.“ Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Aus der Registrierung des Alten und Vergangenen und damit Verlorenen, entwickelt sich ja erst die kreative Potenz des Schlossbesuchers im Gedicht. 39 Auf das für Fiktivität sprechende Argument, dass der Ahnherr der Chamissos nicht auf Schloss Boncourt zur letzten Ruhe gebettet wurde, sondern in einem benachbarten Ort, ist die Forschung wiederholt eingegangen. Deshalb muss es an dieser Stelle nicht noch einmal aufgegriffen werden. Vgl., neben den Arbeiten von Hoffmann 1983 und Pille 1997, Feudel 2 1980.

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memorierenden Ich haben sie noch die Bedeutung, die es ihnen selbst in seiner eigenen kreativ und bildhaften Erinnerung zukommen lässt. Wenn es heißt: „Noch lesen umflort die Augen / Die Züge der Inschrift nicht, / Wie hell durch die bunten Scheiben / Das Licht darüber auch bricht“ (VI, 21–24), dann ist durch den Wegfall der Schrift von einer Desemantisierung die Rede. Eine kardinale Referenzstelle fällt mit diesem Signifikat weg, dass noch nicht einmal durch die aufklärerische und traditionell für den Erkenntnisprozess stehende Lichtmetapher in Vers 24 ergriffen werden kann. Sie ist nun „dans un pass¦ mythique“, wie es Pille formuliert.40 Durch die Verweigerung einer konkreten Bezeichnung wird auch das Projekt einer realen Wiederbelebung der Vergangenheit negativiert. Die Unlesbarkeit der Inschrift markiert an dieser Stelle noch einmal den endgültigen Verlust von konkreter oder naturalistischer Verortbarkeit und den Zusammenbruch bzw. den Abbruch des dynastischen Bezugsrahmens, lässt jedoch als Alternativen das kreative Potential und die damit gegebene Möglichkeit des räumlichen Schweifens des lyrischen Ich vermehrt zu. Letzteres kommt daher für sich selbst in den letzten drei Strophen auch zu einem sowohl geschichtsphilosophischen als auch produktionsästhetischen Fazit: „So stehst du, o Schloß meiner Väter, / Mir treu und fest in dem Sinn, / Und bist von der Erde verschwunden, / Der Pflug geht über dich hin.“ (VII, 25–28) In diesen Versen ist das Bedingungsverhältnis von historischem Wandel, welcher zum Verschwinden einer fassbaren Vergangenheit führt, und deren fiktiver Erschaffung qua pikturaler Erinnerung eindeutig auf den Punkt gebracht. Trotz der mit der Pflug-Metapher zum Ausdruck gebrachten Verwandlung der heimatlichen Gefilde, sind sie in der Einbildungskraft des lyrischen Ich vorhanden, was hier mit der auf transzendentale Parameter abzielenden Kategorie eines festmachenden und eine eigene Realität erschaffenden Sinns in Vers 26 verbunden wird. Daher ist der – fast selbsttherapeutisch anmutende – Moment des Loslassens für das heimatlose Ich auch kein Problem. Die Verwandlung des Bodens und seine Übergabe an die Natur durch einen segnenden lyrischen Sprecher in der achten Strophe erkennen zugleich die Allmacht der Geschichte an und trennen ungeheuer selbstbewusst die imaginativen Qualitäten des schöpferischen Ich von diesen Gegebenheiten eines permanenten Wandels, da ja schlussendlich die gesamte Schlosserschreibung eben jenen seine bildhafte (Re-)Konstruktion verdankt. Das produktionsästhetische Werkzeug für diesen Vorgang wird dann auch in den letzten Versen des Gedichts offenbart: „Ich aber will auf mich raffen, / Mein Saitenspiel in der Hand, / Die Weiten der Erde durchschweifen, / Und singen von Land zu Land.“ (IX, 33–36) Die letzten Zeilen greifen bekanntlich die aus der Problematik des schatten- und damit heimatlos gewordenen Peter Schlemihl erwachsene Konsequenz wieder auf. Die 40 Pille: 1997, S. 208.

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Heimatlosigkeit des lyrischen Ich wird überwunden durch Reiseemphatik. Ein neues Weltbürgertum geht einher mit einem Bekenntnis zur freien Kreativität, eingefangen in der noch frühneuzeitlichen Dichterphantasie vom VagantenSänger41, die hier mit einem romantischen Kreativitätsverständnis verbunden wird. Somit ist der Abschied von fester Örtlichkeit und Zeitlichkeit nicht nur das Apriori für literarische Kreativität und damit den Erinnerungsprozess, sondern er korrespondiert auch mit einem neuen Zeit- und Geschichtsbewusstsein. Feste Größe, Statik und Stagnation werden als unzureichende und als nicht mehr erfüllbare Kategorien in Konfrontation mit Epochenumbrüchen, diskursivem Wandel und der Etablierung neuer Denkweisen und Zeitwahrnehmungen erkannt und wie das abgetragene Schloss Boncourt zurückgelassen. Ähnlich, wenn gleich schon in die Nähe eines modernen Pessimismus rückend, hat dieses Geschichtsverständnis des Autors auch Norbert Miller beschrieben. Für ihn ist die Akzeptanz der historischen Unwiederbringlichkeit durch den Künstler auch Ausdruck einer veränderten Weltansicht des Romantikers Chamisso: das zeitlosgegenwärtige Reich der Ideale, in das der Dichter jederzeit als in seine eigentliche Heimat zurückkehren kann, ist von Chamisso fatalistisch durch den Gang der Geschichte, durch die sich entfaltende Notwendigkeit ersetzt, deren früh erfahrene Macht über das Subjekt ihm immer drohend bewusst blieb.42

Die Konsequenz aus dieser Resignation ist jedoch keinesfalls nur Passivität. Bereits in der frühen Erzählung Adelberts Fabel (1806), die noch stark dem Bildarsenal der literarischen Frühromantik (Novalis, Tieck) verpflichtet ist, ist es gerade die Passivität, visualisiert durch den im Eis festgefrorenen und immobilen Adelbert, die durch eine gewaltige gedankliche und körperliche Kraftanstrengung aufgegeben und durch eine Verbindung von Reisen und tieferer Erkenntnis ersetzt wird.43 Der von Miller benannte Fatalismus Adelbert von Chamissos gilt dann eher einer reaktionären und unpragmatischen Haltung, womit er theoretisch schon Positionen des Vormärz in die Wege leitet. An die Stelle des romantischen Konservativismus treten das freie und unbeeinflusste Spiel mit der Sprache und der Imagination ebenso wie neue Möglichkeiten des forschungsorientierten und zugleich poetisch inspirierten Reisens und der Durchsetzung des Bruchs mit einer scheinbar unauflöslichen Ständeordnung. Schlemihls Sieben-MeilenStiefel würden dadurch ebenso zum Schreibwerkzeug werden, wie das Schiff des 41 Diese wurde aber bekanntlich von der Romantik, unter anderem von Joseph von Eichendorff und Clemens Brentano, vielfach übernommen. 42 Miller 2002, S. 90–113, S. 104. 43 Es wäre interessant, in einem eigenen Aufsatz, die Reise- und Erkenntnisthematik von Chamissos symbolisch-allegorischen Text mit der freimaurerischen Philosophie zu verknüpfen, um hier eventuell Ansätze für einen möglichen Interdiskurs zu ermitteln. Chamissos eigene Zugehörigkeit zum Bund läge dem nahe.

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Kapitäns Otto von Kotzebue und die memorierende Träumerei des lyrischen Ich im Gedicht Das Schloß Boncourt. Sie alle lassen Bilder mit neuen Modi des Ausdrucks, der Wahrnehmung und der Dynamik entstehen, die an die Stelle vorheriger Geschichts-, Zeit- und wohl auch Autorenverständnisse getreten sind. Oder, wie es Volker Hoffmann in seinem Nachwort der Chamisso-Ausgabe formuliert: Der Zwang, sich forschend […] und […] rastlos über die Erde bewegen zu müssen, isoliert zwar von der Mitwelt, gibt aber zugleich die Sicherheit, von dem Zeitenwandel nicht noch einmal überrascht zu werden. Angesichts der skizzierten Zeitkonzeption ist die Rolle des Dichters […] die des Künders, Propheten und wohl auch Förderers der alles verändernden Zeit.44

Man könnte noch weiter gehen und auch vom Nutzer der alles verändernden Zeit sprechen. Denn sie ist es, die sich in der beinahe allegorischen Gestalt des Wanderers in ihrer Unstetigkeit ausformuliert und unbeeinflusst von der Gebundenheit an den statischen Ort eben einen solchen zu einem Projekt der Sehnsucht, der Utopie und damit der Imagination werden lassen kann. Deshalb ist es auch ein wenig reduktionistisch, wenn man wie Alexandra Hildebrandt angesichts dieses Gedichts einfühlend behauptet, dass „es ein bezeichnendes Licht auf die prekäre Situation des inneren und äußeren Exils wirft, wenn Chamisso noch im Jahre 1827 mit ,epischer Ausführlichkeit‘ die Ruinen des väterlichen Schlosses besingt.“45 So wichtig der autobiographische Bezug des in DaF dichtenden Exilautors auch sein mag, hier wird zu konkretistisch-materiell gedacht zu Ungunsten des erst durch die poetische Imagination erzeugten Schlossaufbaus, der übrigens in der Vision des lyrischen Ich frei von jeglichem Ruinenstatus ist, was wiederum die hier vollzogene Erinnerung als einen Akt des Fingierens erkennen lässt. Insofern wäre dieses Gedicht auch als mögliche Realisierung von Emil Staigers Grundbestimmung des lyrischen Stils in seinen als Triage angelegten Grundbegriffen der Poetik zu bezeichnen, welcher für ihn bekanntlich die „Erinnerung“ ist.46 Letztendlich ist das nur fiktiv rekonstruierte Schloss nichts anderes als ein „Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches“, die gewiss nicht „als Zeugen in irgendeiner Sache“47 auftreten können, wie es Staiger etwas melancholisch auf den Punkt bringt und damit die Fiktivität des Erinnerungsprozesses implizit bestätigt, wohl aber als Zeugen für den Prozess dichterischer Kreativität. Jener 44 Hoffmann, in Chamisso 1975, S. 1008. 45 Hildebrandt, 1999, S. 122. Hildebrandt übersieht hier geflissentlich, dass es auch gar keine Ruinen mehr gab. Das gesamte Schloss ist während der revolutionären Umtriebe geschleift worden. 46 Staiger 51983, bes. S. 11–61. 47 Ebd., S. 60.

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verliert sich in diesem Gedicht allerdings nicht in der Weite, so wie Chamissos Reisetagebücher oder seine an der Romantik angelehnten Wanderlieder, sondern kondensiert das imaginative Potential auf einen einzelnen Ort und verleiht diesem durch das imaginäre Umherschweifen Bewegung und Tiefe, simuliert auf diese Weise Entfernung. Gerade aufgrund dieser geographischen und spatialen Zentripetalisierung (und gleichzeitigen innerräumlichen Expansion), wird das imaginäre Element bei der (Re-)Konstruktion von Reisebildern deutlich, ganz gleich, ob der Autor um den Globus segelt, oder vor seiner Haustür stehenbleibt. Dieses produktionsästhetische Credo und diese Verknüpfung von Rastlosigkeit und Kreativität findet seine Bestätigung in weiteren Gedichten Chamissos, die abschließend und bestätigend knapp gestreift werden sollen.

3.

Frisch gesungen und Mahnung. Hinweise auf eine Produktionsästhetik?

Das unter anderem von Friedrich Silcher (1789–1860) vertonte volksliedhafte Poem Frisch gesungen! (1829) und das späte Sonett Mahnung (1838)48 wirken wie eine Synopse der sowohl in der Schlemihl-Novelle als auch der im SchlossGedicht gemachten Erfahrungen und daraus gezogenen Konsequenzen für das dichterische Tätigsein.49 So enthält das bewusst einfach gestaltete Wanderlied Frisch gesungen! mit seinen vier Strophen nicht mehr und nicht weniger als die Skizzierung eines kompletten Lebenswegs in vier Stationen, welcher auch als bestätigende Hintergrundfolie und Synopse für die Erfahrungen und Schlussfolgerungen im Boncourt-Gedicht gelesen werden kann. So erstellt die erste Strophe eine idyllische Situation, die man zwar nicht direkt als heimatlich, aber auf jeden Fall als geborgen-unbeschwert bezeichnen kann, wodurch dem lyrischen Ich seine Liedproduktion erleichtert wird. Die 48 Vgl. Chamisso 1975, S. 125 und S. 571. 49 Es ist interessant, dass sich diese Skepsis gegenüber temporärer, existentieller und kreativer Stagnation nicht nur in der Auseinandersetzung mit den verloren gegangenen Adelsprivilegien des Ancien R¦gime findet, sondern auch von einem anti-bourgeoisen Kunstverständnis übernommen wird. Sowohl in Joseph von Eichendorffs Gedicht In einem kühlen Grunde bzw. Das zerbrochene Ringlein (1807/1808) als auch in seiner Taugenichts-Novelle (1826) werden Reisen und dichterische Potenz als miteinander kongruent verstanden und als Alternativen gegenüber einer geschützten und doch unzureichenden Broterwerbs-Existenz begriffen, die bald das pejorative Attribut des Philisters erhalten wird, der ebenfalls Veränderungen scheut und sich in biedermeierliche Behaglichkeit inkludiert. Allerdings fehlt bei Joseph von Eichendorff die von Chamisso vollzogene geschichtsphilosophische Umrahmung. Das von ihm dargestellte Verhältnis von Stillstand, Reisen und literarischer Produktivität fokussiert sich auf ein ganz und gar subjektives Erleben und sind beim lyrischen Ich als direkte Reaktionen auf ein enttäuschendes bzw. traumatisches Erlebnis wie den Treuebruch der Geliebten zu rezipieren.

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Verse der zweiten Strophe dagegen konfrontieren den lyrischen Sprecher mit Zweifel und Sorge. Eine neue Lebensphase ist angebrochen, welche von Isolation gekennzeichnet ist. Mit Blick auf das bereits interpretierte Gedicht vom Schloß Boncourt könnte diese Station mit der Aufgabe der unbefangenen und von auch sozialer Harmonie getragenen Kindheit begriffen werden. Hier ist dann der Gesang nicht das aus der Idylle geborene Resultat glücklicher Erfahrungen, sondern er erfüllt eine ausgleichende Funktion gegenüber den gemachten desillusionierenden Erfahrungen und Verlusten. Die dritte Strophe beschreibt die daraus entwachsenen Folgen in Form eines Prozesses der Verarbeitung der gemachten Erlebnisse, während schlussendlich die vierte Strophe das Fazit aus diesen drei existentiellen Phasen eines Lebens oder einer allgemeinen Reflexion zieht. Verbunden werden alle vier Strophen und damit auch Stationen mit der Erkenntnis der beinahe vitalistischen Kraft des Singens. Sie stellt quasi die Antwort auf jedes der einzelnen Segmente dar und schafft innerhalb des Gedichts auch architektonisch eine Kohärenz zwischen den Strophen. Eine Revokation der Idylle gerade aufgrund ihres ursprünglichen Verlustes ist die Folge aus der Entscheidung für die Dichtung, was vor allem durch die immer wieder auftauchende Beschwörung des Superlativs, dass „alles wieder gut wird [oder] war“, seine beinahe refrainhafte und damit beschwörende Bestätigung erfährt. Die Gründe der Notwendigkeit für diese existentiell und anthropologisch relevante Funktion der Dichtung werden in der zweiten Strophe des Gedichts nur umrissen und angedeutet. Präziser geht in diesem Zusammenhang das fordernde Alters-Sonett Mahnung vor. Es verwirft die Rückkehr in die Vergangenheit, die hier noch einmal in der „Haus“-Metapher (I, 1) auftaucht, als Option total und fordert sogar dessen Übergabe und die seines Interieurs an den natürlichen Verfall und damit an den Lauf der Geschichte, wenn es heißt: „Laß rosten deiner Väter Schild und Schwert; / Die tun es nicht, die geben nicht den Wert, / Die Zeit ist abgelaufen, wo sie galten.“ (I, 2–4) Damit ist nicht nur die Aufhebung feudaler Privilegien auf Grund der postrevolutionären Durchsetzung republikanischen Gedankenguts in Frankreich gemeint, sondern es enthält eine allgemein verbindliche Aussage.50 Verse wie „Das Neue wird. Das Alte muß veralten“ (II, 5) decken sich mit „[…] erwirb und lasse fahren“ (IV, 13) und verweisen auf ein Bewusstwerden zyklischer Prozesse. Was auf den ersten Blick wie simple Allgemeinplätze und Binsenweisheiten anmutend mag, ist die Darlegung der für den sich hier selbst mahnenden Sprecher unhintergehbaren Gesetzmäßigkeit von Stirb und werde, welche das ,aufrecht halten des Glanzes‘ (I, 1) alter Zeiten als irrelevant erscheinen lässt und gerade durch die Emanzipation von den (entschwundenen) räumlichen und 50 Das würde Chamisso eher als einen anthropologisch und poetologisch interessierten Autor kennzeichnen, als als einen politisch oder revolutionär orientierten.

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ständischen Vorgaben eine existentielle Bereicherung anbietet, die sich sowohl in der rein phantastischen Rekonstruktion des Schlosses Boncourt über Bildarsenale als auch in dem durch das Wandern und Singen ausgedrückten Imaginations- und Erfahrungsprozess abgezeichnet hat. Insofern fallen kreative Freiheit und anthropologische Funktionalität auf dialektische Weise im durch Chamissos Lyrik transportierten Dichtungsverständnis ebenso dialektisch zusammen, wie die reale Plastizität des Ortes Schloss Boncourt aufgrund seiner Nichtvorhandenheit erst möglich, weil vom Dichter gestaltbar und in Form des imaginierten Bewegungsraums durchschreitbar wird.51 Das bestätigt auch Volker Hoffmann in seinem erläuternden Kommentar zum Schloß Boncourt, wo erkannt wird, dass es wie viele Einzelmotive (Schloß, Traum, Sänger) an die Bilderwelt der Romantik [erinnert], die hier wie auch sonst bei Chamisso nicht nur elegisch zitiert, sondern in einem flexibel-fortschrittlichen Sinn verwendet und mit einem neuartigen Detailrealismus der Schilderung verbunden wird.52

Das bedeutet nicht etwa Restauration, denn dem gegenüber erweist sich das lyrische Ich bei Chamisso als ausgesprochen skeptisch, wohl aber die Vergegenwärtigung eines existentiellen, politischen und poetologischen Liberalismus53, dank dessen Schloss Boncourt auf allen möglichen Reisen und an jedem Ort wiederaufgebaut kann. Ergo: „Und alles wird wieder gut.“54

Literatur Assmann, Aleida / Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung. Frankfurt am Main 1991. Bab, Julius: ,Schloß Boncourt. Eine Neujahrsbetrachtung‘, in: ders.: Über den Tag hinaus. Kritische Betrachtungen. Ausgewählt und herausgegeben von Harry Bergholz. Heidelberg / Darmstadt 1960, S. 78–80. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard. Frankfurt am Main 1987.

51 An dieser Stelle jedoch noch in einer romantischen Vagantenkonzeption, ohne den technischen Enthusiasmus, wie er sich im Dampfroß-Gedicht und teilweise in der Reise um die Welt abzeichnet. 52 Hoffmann, in: Chamisso 1975, S. 857. 53 Das scheint auch den realen Adelbert stark von seinem eher reaktionären Bruder Hippolyte zu unterscheiden. Während der eine in einem Brief an Louis de la Foye vom 3. August 1822 zugibt, dass es ihm eigentlich schon gar nicht mehr möglich ist, über den Verlust von Heimat und Adelsprivilegien zu fluchen, versteht sich der andere weiterhin als katholisch-royalistisch. Der Brief findet sich in: Chamisso 1839, Bd. 6, S. 130–132. 54 Chamisso 1975, S. 125: „Frisch gesungen!“ (IV, 16).

Dialektische Überschneidungen? Realer und imaginärer Ort in Einem

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Marie-Theres Federhofer

Die „Facilitäten der Communication“ – Die Béranger-Übersetzung von Adelbert von Chamisso und Franz von Gaudy als ein Beitrag zur Weltliteratur

I Ein „Weltbürger“1 wurde Adelbert von Chamisso 1840 im Literaturblatt genannt. In dem „Biographie“ betitelten Beitrag, der das Erscheinen der von Julius Eduard Hitzig herausgegebenen zweibändigen Briefausgabe2 zum Anlass nimmt, um den Lebensweg des zwei Jahre zuvor verstorbenen Schriftstellers und Naturwissenschaftlers nachzuzeichnen, wird dabei auf dessen Weltreise und „Wanderung unter allen Zonen“3 angespielt. Zweifellos hat sich Chamisso durch seine Reisetätigkeit und sein Interesse an unterschiedlichen europäischen und außereuropäischen Kulturen, aber auch durch sein besonderes Emigrantenschicksal, das ihn zwar Preußen als Wahlheimat annehmen, seine Verbundenheit mit der französischen Kultur aber nie aufgeben ließ, als ein Weltbürger ausgewiesen. Nicht nur im zeitgenössischen Diskurs wurde dies registriert. Bis in die Gegenwart hält sich – freilich meist unverbindlich und stereotyp – die Redeweise von Chamisso als einem Weltbürger.4 Ausgehend von neueren Untersuchungen zu Weltbürgertum, Weltliteratur und Kosmopolitismus im 18. und 19. Jahrhundert,5 möchte ich die Einschätzung Chamissos als eines Weltbürgers konkretisieren und zu zeigen versuchen, dass sich Weltbürgertum nicht nur Reisetätigkeit oder Emigration, sondern ebenso schriftstellerischen Praktiken verdankt. Weltbürgertum lässt sich als ein Resultat literarischer Verfahren verstehen, und der Weltbürger-Diskurs ist auch ein Diskurs über Literatur bzw. Weltliteratur. Diesen Gesichtspunkt will ich am 1 [Anonym] 13. Mai 1840, S. 194. 2 Leben und Werke von Adelbert von Chamisso. Herausgegeben von Julius Eduard Hitzig. 2 Bde. Auch unter dem Titel: Adelbert von Chamissos Werke. Fünfter und sechster Band. Leipzig 1839. 3 [Anonym] 13. Mai 1840, S. 194. 4 Velder 1955, Fischer 1990, Langner 2008. 5 Zu nennen sind für den deutschsprachigen Kontext vor allem Thielking 2000, Albrecht 2005, Goßens 2011.

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Beispiel eines literarischen Übersetzungsprojekts näher darlegen, genauer gesagt an der Übersetzung B¦ranger’s Lieder (1838) von Adelbert von Chamisso und Franz von Gaudy. Nicht zuletzt Übersetzungen galten den Fürsprechern einer Weltliteratur als eine der Praktiken, durch die sich Weltliteratur realisieren lässt. Daher erscheint der Versuch reizvoll, die Übertragung Chamissos und Gaudys vor dem Hintergrund der Weltliteratur- und Kosmopolitismusdebatte zu fokussieren, die seinerzeit aus teilweise unterschiedlicher Perspektive u. a. von Goethe und den Romantikern geführt worden ist.6 Im letzten Heft zu Ueber Kunst und Alterthum führt Goethe aus: Und so ist jeder Uebersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein geistigen Handels bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Uebersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr.7

August Wilhelm Schlegel, um ein weiteres repräsentatives Beispiel für diese Diskussion im 19. Jahrhundert zu geben, hat es folgendermaßen formuliert: Das Übersetzen „ist auf nichts Geringeres angelegt, als die Vorzüge der verschiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich in alle hineinzudenken und hineinzufühlen, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften.“8 Der Versuch, B¦ranger’s Lieder als Ausdruck einer weltliterarischen Position zu verstehen, weiss sich nicht zuletzt durch den Umstand abgesichert, dass Goethe selbst auf B¦rangers Chansons hinwies, als er sein Verständnis von Weltliteratur formulierte: sie lösen – etwa neben der chinesischen und englischen Literatur – Goethes Vorstellung von Weltliteratur ein und kommen seinem Gedanken vom bildungs- und gesellschaftspolitischen Potential von Weltliteratur entgegen. Nehmen Sie dagegen B¦ranger […] seine Lieder [sind] so voll reifer Bildung, so voll Grazie, so voll Geist und feinster Ironie, und von einer solchen Kunstvollendung und meisterhaften Behandlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewunderung von Frankreich, sondern des ganzen gebildeten Europas ist.9

6 Vgl. zur Differenz zwischen dem Weltliteratur-Verständnis Goethes und der Romantiker Becker 2005. 7 Goethe, Sämtliche Werke, 1999, Bd. 22, [FA I, 22], S. 434. 8 Schlegel 1965, S. 36. Zu Schlegel als Übersetzer vgl. Huyssen 1969, Mix / Strobel 2010 und Strobel 2010. Strobel diskutiert u. a. die politisch bedingten, einer antinapoleonischen Haltung geschuldeten Ausgrenzungsmechanismen, derer sich Schlegel in seinen literaturhistorischen Vorlesungen bzw. in den Blumensträußen bedient und die sein Europa-Bild prägen. 9 Eckermann 1976, S. 630 (Gespräch vom 3. Mai 1827).

Die Béranger-Übersetzung von Adelbert von Chamisso und Franz von Gaudy

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Dieser Spur – Goethes Engführung von B¦ranger, Übersetzungen und Weltliteratur, die er übrigens auch an einer anderen Stelle vollzieht10 –, soll im Hinblick auf Chamisso weiter nachgegangen werden. Dass Chamisso, der von Goethes im privaten Gespräch mit Eckermann formulierter Aussage vom „Ende der Nationalliteraturen“ und der beginnenden „Weltliteratur“11 nichts wissen konnte, von transnationaler „Verschmelzung“ spricht, als er Gustav Schwab gegenüber B¦ranger erwähnte,12 dass ganz ähnlich auch B¦ranger, als er Chamisso in einem Brief für dessen deutsche Übersetzung von vier seiner Gedichte dankte, von der „alliance des peuples“13 schreibt, die er durch Dichtung garantiert sieht, zeugt bei den beiden Schriftstellern Chamisso und B¦ranger von einem transnationalutopischen Literaturverständnis, das aus heutiger Sicht womöglich naiv und eskapistisch-defensiv erscheint. Gleichwohl sind diese Briefstellen auch ernst zu nehmen als Ausdruck eines zeitgenössischen Verständnisses, das schriftstellerisch-literarische Praktiken als adäquate Herangehensweisen erachtete, um kosmopolitische Positionen zu propagieren und zu reflektieren. Medialität, Performativität und Netzwerkbildung sind die Kategorien, an Hand derer sich mein Rekonstruktionsversuch orientiert. Mir geht es also nicht um eine philologische Analyse der B¦ranger-Übersetzung Chamissos und Gaudys oder um einen Vergleich dieser Übertragung mit anderen zeitgenössischen Übersetzungen. Diese Aspekte sind bereits untersucht. Zu nennen sind, was neuere Publikationen betrifft, insbesondere die Arbeiten des Romanisten Dietmar Rieger.14 Im Fokus stehen auch nicht eine inhaltlich-stilistische Interpretation der Gedichte Chamissos und Gaudys bzw. der (neuerliche) Nachweis, dass mit Chamissos B¦ranger-Rezeption in Deutschland eine sozialkritische Lyrik einsetzte, die dann von den Vertretern des Jungen Deutschland weitergeführt worden ist. Zu diesem Gesichtspunkt haben bereits Werner Feudel und Hans-Georg Werner Wesentliches beigetragen.15 Bevor ich im Folgenden skizziere, wie sich Chamissos und Gaudys B¦ranger-Übersetzung auf den Kosmopolitismus-Diskurs der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beziehen lässt, möchte ich allerdings einen Umweg über Goethe einschlagen und kurz repetieren, wie sich dessen Sicht auf Weltliteratur zu jener der Romantiker verhält.16

10 Im Beitrag „Serbische Gedichte“, erschienen im ersten Heft des sechsten Bandes von Ueber Kunst und Alterthum, vgl. Goethe, Sämtliche Werke, 1999, Bd. 22 [FA I, 22], S. 383–387, hier: S. 386. 11 Eckermann 1976, S. 229 (Gespräch vom 31. Januar 1827). 12 Chamisso an Schwab, 14. Mai 1833, in: Chamisso 31852, Bd. 6, S. 320. 13 B¦ranger an Chamisso, 1. August 1834, in: Boiteau 1880, Bd. 2, S. 180f. 14 Rieger 1987, Rieger 1993, Rieger 1994, vgl. auch Fischer 1988. 15 Feudel 1965, Feudel 31988, Werner 1969. Zum Verhältnis zwischen B¦ranger und Vertretern des Jungen Deutschland, vgl. u. a. Häfner 2007, Jaff¦ 1947, Pollack 1908, Ponsard 1998. 16 Dabei beziehe ich mich im Folgenden insbesondere auf Becker 2005 und Birus 1995.

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II Gleich zweimal beziehe ich mich im Titel meines Beitrages auf Goethe. Den Ausdruck „Facilitäten der Communication“ verwendete Goethe in einem Brief an Carl Friedrich Zelter vom 6. Juni 1825 und meinte damit die verkehrstechnischen Entwicklungen und Neuerungen seiner Zeit, nämlich die „Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe“, die den gesellschaftlichen Kontakt und Austausch beschleunigten und zu „Reichthum und Schnelligkeit“ in der Welt führten.17 Zwei Jahre später, 1827, führte Goethe den Begriff „Weltliteratur“ in die öffentliche Diskussion ein. Er verwendete ihn im ersten Heft des sechsten und letzten Bandes seiner Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum – tatsächlich dem „Organ der Goetheschen ,Weltliteratur‘-Konzeption“18 –, in dem er auszugsweise französische Rezensionen seines Tasso übersetzte. Zu diesem Verfahren, Besprechungen eines eigenen Werkes zu übertragen und zu publizieren, führt er erläuternd aus: „Die Mittheilungen, die ich aus französischen Zeitblättern gebe, haben nicht etwa allein zur Absicht, an mich und meine Arbeiten zu erinnern, ich bezwecke ein Höheres […].“ Dieses „Höhere“ besteht seiner Ansicht nach darin, dass „sich eine allgemeine Weltliteratur [bilde], worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist.“19 „Weltliteratur“ wird in Goethes Argumentation als ein Prozess des Austausches zwischen den National-Literaturen verstanden. Zwischen den beiden genannten Konzepten – dem der „Communication“ und dem der „Weltliteratur“ – stellt Goethe insofern einen engen Zusammenhang her, als seine Idee einer Weltliteratur die Vermittlung kultureller Güter meint. Sein „hoffnungsreiches Wort: daß bey der gegenwärtigen höchst bewegten Epoche und durchaus erleichterter Communication eine Weltliteratur baldigst zu hoffen sey“,20 drückt eine doppelte Erwartung aus. Goethe verspricht sich von der Beschleunigung und Verbesserung des transnationalen Kontakts, dass sich eine Weltliteratur herausbilde, ist aber auch davon überzeugt, dass Weltliteratur ihrerseits zu dieser „Communication“ beitrage. Anders gesagt: Weltliteratur ist Goethe zufolge eine von diversen „Facilitäten der Communication“. Obwohl es nicht Goethe, sondern August Ludwig Schlözer war, der den Ausdruck „Weltliteratur“ nachweislich erstmals verwendete,21 so führte doch 17 Goethe, WA IV, Bd. 39, S. 216. 18 Seifert 2003, S. 104f. 19 Goethe, Sämtliche Werke, 1999, Bd. 22, [FA I, 22] S. 356. Der Ausdruck „Weltliteratur“ taucht außerdem im zweiten Heft des sechsten Bandes von Kunst und Alterthum auf (ebd., S. 427, S. 491) sowie in den Schemata zu Heft 3 (ebd., S. 724). Vgl. auch die sorgfältige Rekonstruktion der Kontexte, in denen Goethe den Weltliteratur-Begriff einführt, von Birus 1995. 20 Goethe, Sämtliche Werke, 1999, Bd. 22, [FA I, 22] S. 427. 21 Vgl. Goßner 2011, S. 83–85 sowie die dort verzeichnete Forschungsliteratur.

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erst Goethes Gebrauch dazu, den Begriff für eine breitere Auseinandersetzung gleichsam hoffähig zu machen. Bis in die Gegenwart hat das Konzept – das zeigt die beachtliche Anzahl literaturwissenschaftlicher Forschungsarbeiten zu diesem Thema in jüngerer Zeit22 –, nicht an Prestige verloren. Dies dürfte sich nicht zuletzt eben dem prominenten Initiator des Weltliteratur-Diskurses verdanken. Indessen gilt ironischerweise auch, dass das Verständnis von Weltliteratur, wie es in der Gegenwart gewöhnlich formuliert wird, mit dem von Goethe Gemeinten wenig bis gar nichts zu tun hat. Gemeinhin wird unter Weltliteratur ein Kanon (meist europäischer) literarischer Meisterwerke verstanden, deren Bedeutung und Qualität allgemein anerkannt und quasi zeitlos gültig sind. Im Unterschied zu dieser selektiv-normativen Festlegung von Weltliteratur vertrat Goethe ein prozessorientiertes und performatives Verständnis von Weltliteratur : Weltliteratur ist nicht die crÀme de la crÀme literarischer Werke aller Zeiten und Länder, sondern ein Vorgang, der nicht abgeschlossen und immer wieder zu initiieren ist. Er sei davon überzeugt, so Goethe, dass „sich eine allgemeine Weltliteratur“ erst „bilde“23, und er spricht auch von einer „anmarschirenden Weltliteratur“.24 Ihr Ziel ist Verständigung und Kommunikation. Anne Bohnenkamp bringt es in ihrem Kommentar zu Goethes Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum folgendermaßen auf den Punkt: „,Weltliteratur‘ im Sinne Goethes meint internationale und interkulturelle Kommunikation.“25 In einem ganz ähnlichen Sinn spricht Peter Goßens in seiner Studie über transnationale Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert von Weltliteratur als einem „kommunikative[n] Prozess“ und einem „transnationalen Literaturaustausch“.26 Oder anders gesagt: transnationale Kommunikation wird nicht allein durch eine verkehrstechnische Infrastruktur gewährleistet, durch „Eisenbahnen, Schnellposten und Dampfschiffe“, sondern auch durch Weltliteratur ermöglicht. Dieser Gedankengang lässt sich, um meine Ausführungen zu Goethe hier kurz zu unterbrechen, auch auf Chamisso beziehen: Bekanntlich stand Chamisso der verkehrstechnischen Entwicklung seiner Zeit positiv gegenüber. Er verfasste nicht nur ein enthusiastisches Gedicht auf das „Dampfroß“, tatsächlich das erste Eisenbahngedicht in der deutschen Lyrik,27 sondern investierte in Eisenbahnaktien und reiste 1837, schon sehr erkrankt, auf der gerade fertig gestellten Eisenbahnverbindung Leipzig – Dresden. Dass er in einem Brief an seine Verleger Reimer und Hirzel aus dem gleichen Jahr, [13.9.]1837, einen Wiener Almanach und „Göthe, Petrarka, Uhland und B¦ranger“ erwähnt und 22 23 24 25 26 27

Vgl. Fußnote 5. Goethe, Sämtliche Werke, 1999, Bd. 22, [FA I, 22] S. 356. Goethe an Zelter, 4. März 1829, in: WA IV, Bd. 45, S. 187. Goethe, Sämtliche Werke, 1999, Bd. 22, [FA I, 22] S. 398f. Goßens 2011, S. 18. Feudel 31988, S. 207.

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kurz darauf „von der Eisenbahn, die […] verbinden soll“28 spricht, könnte man als ein belanglose Aneinanderreihung unterschiedlicher Mitteilungen abtun. Man könnte diese Konstellation aber auch ernstnehmen als Indiz für Chamissos Interesse, das er den verschiedenen Formen und Praktiken von Kommunikation und Austausch entgegenbrachte. Literarische Zeitschriften und Almanache zählen aus dieser Perspektive ebenso dazu wie die Eisenbahn. Doch zurück zu Goethe: Weltliteratur wird bei Goethe verstanden als Teil eines Gesamtprojekts, an dem sich europäische Intellektuelle im Interesse „einer universalen Bildung“29 beteiligen. Weltliteratur erhält somit deutlich kulturpolitische und ethische Implikationen und wird „im Rahmen eines gesellschaftsutopischen Reformdenkens verwandt.“30 Dieses performative, gesellschaftsbezogene und zukunftsorientierte Verständnis von Weltliteratur war, wie Peter Goßens gezeigt hat, auch prägend für die Phase von 1830 bis etwa 1848, als Vertreter des Jungen Deutschland und des Frühsozialismus, Georg Herwegh, Karl Gutzkow und Heinrich Laube etwa, sozialutopische Positionen im Rückgriff auf Goethes Verständnis von Weltliteratur formulierten. Nach 1848 wurde das Konzept Weltliteratur gleichsam entpolitisiert und nahm die auch heute noch gebräuchliche Bedeutung von Kanon an.31 Es ist kein Zufall, dass Goethe den Begriff „Weltliteratur“ in einem Kontext einführt, der an das Medium Zeitschrift gebunden ist32 – im konkreten Fall Ueber Kunst und Alterthum – und der von Rezensionen und Übersetzungen handelt. Denn Zeitschriften, Rezensionen und Übersetzungen schaffen eben die Kommunikationsstrukturen, derer Weltliteratur bedarf, um zum transnationalen Austausch beizutragen. Anders gesagt: Konzipiert als ein nationenübergreifender Interaktionszusammenhang, kann Weltliteratur diese Aufgabe nur dann erfüllen, wenn spezifische Darstellungsformen zur Verfügung stehen, durch die dieser Anspruch konkretisiert, medialisiert bzw. vermittelt wird. Übersetzungen bieten sich, wie oben erwähnt, als eine Möglichkeit an. So gesehen „mündet also Goethes Begriff der Weltliteratur in eine Theorie der Übersetzung und des kulturellen Austauschs.“33 Übersetzung ist eine literarische schriftstellerische Praxis, durch die sich die Programmatik einer Weltliteratur umsetzen lässt. In ihrer historisch-semantischen Diskursanalyse des Kosmopolitismus um 1800 hat die Literaturwissenschaftlerin Andrea Albrecht gezeigt, dass sich Goethes Weltliteraturprogramm als eine Manifestation der in sich sehr differenzierten literarisch-kulturellen Kosmopolitismusdebatte des beginnenden 28 29 30 31 32 33

Chamisso an Reimer und Hirzel, [13. September] 1837, in: Kossmann 1909, S. 190. Goßens 2011, S. 3. Ebd., S. 5. Ebd., S. 10f., S. 124–398. Vgl. zu diesem Aspekt auch Seifert 2003. Naumann 2004, Sp. 495.

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19. Jahrhunderts begreifen lässt. Weniger interessiert an den verfassungsrechtlichen und politischen Aspekten kosmopolitischen Denkens, fokussierten deutsche Intellektuelle im frühen 19. Jahrhundert eher dessen kulturpolitische Dimension. Kosmopolitismus definierten sie vor allem als den Austausch kultureller Güter. Wenn August Wilhelm Schlegel in seiner Geschichte der romantischen Literatur sein Verständnis von Weltliteratur entfaltet, dann geschieht das wie erwähnt auch unter Hinweis auf Übersetzungen. „Übersetzen“ so stellt Andrea Albrecht fest, ist für Schlegel eine „elementare Tätigkeit kosmopolitischer Vermittlung.“34

III Damit ist inzwischen mehrmals das Stichwort gefallen – Übersetzung –, das es mir erlaubt, den Bogen zu den B¦ranger-Übertragungen Chamissos und Gaudys zu schlagen. Übersetzungen nicht nur aus dem Französischen sind bekanntlich ein wichtiger Bestandteil von Chamissos lyrischer Produktion. Etwa drei Dutzend seiner Gedichte tragen Vermerke wie „aus dem Dänischen“, „aus dem Neugriechischen“, „aus dem Russischen“ oder haben, wie den Kommentaren der Werkausgaben zu entnehmen ist, einen nicht-deutschsprachigen Text zur Grundlage. Die meisten dieser Gedichte veröffentlichte Chamisso zunächst in periodisch erscheinenden Publikationskanälen, also in Zeitschriften oder Almanachen. Man könnte also sagen, dass Chamissos Lyrik ein Stück praktizierte Weltliteratur ist. Dies wurde bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannt. Unter Hinweis auf seine Übersetzungen von Hans Christian Andersen bzw. von Gedichten aus dem Isländischen und Malaiischen wurde festgestellt, dass Chamisso „[…] auch als sprachgewandter Uebersetzer […] bei seinem ethnographischen Interesse mannigfach thätig gewesen [ist] und […] in dieser Hinsicht Herders Völkerstimmen ergänzt [hat].“35 Durch Übersetzungen und Adaptionen brachte Chamisso nicht-deutschsprachige Literatur einem deutschsprachigen Lesepublikum nahe, das er in einem umso größeren Umfang anvisieren konnte, als er sich bei seinen Übersetzungen den seinerzeit zur Verfügung stehenden Medien bediente, die von vornherein auf Austausch und Zirkulation zwischen Rezipienten angelegt waren: Zeitschriften und Almanache. Ausdrücklich als „vermittelnd“ will Chamisso seine und Gaudys B¦rangerÜbersetzung verstanden wissen, die den „chansonnier B¦ranger […] der

34 Albrecht 2005, S. 307f. 35 Laun 1869, S. 193.

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deutschen gelehrten Welt näher zu rücken versucht.“36 Mit diesem Vorsatz rechtfertigt er auch die eigene Herangehensweise beim Übersetzen: nicht Originaltreue und größtmögliche Äquivalenz waren die Richtlinien, er habe B¦ranger, „le plus intraduisible des poetes“,37 hingegen „mehr verdeutscht als übersetzt.“38 Wenn in Übersetzungstheorien des 20. Jahrhunderts Übersetzungen ein „Kommunikationsmittel“ genannt werden, „das zwischen das Werk des Autors in seiner authentischen Gestalt und die Mehrzahl der Leser des Werks getreten ist“39 und Übersetzen vor allem als eine „teleological activity“40 verstanden wird, die in einem kulturell vorstrukturierten Kontext stattfindet und sich stets an eine Zielgruppe, die Rezipienten, richtet, so realisiert sich dieses Verständnis von der kommunikativen Funktion von Übersetzung bereits mehr als 100 Jahre zuvor in Chamissos eigener Übersetzungspraxis, die Übersetzung – modern gesprochen – als eine interkulturelle Transferleistung begreift. Es ist ein Teil der Rezeptionsgeschichte Chamissos, dass spätere Generationen dessen Beschäftigung mit B¦ranger sowohl einer deutsch-nationalen Perspektive anzupassen wussten als auch als Ausdruck einer kosmopolitischen Disposition begriffen. Ein „Sänger mit einem Herzen, wie nur noch eines in der Welt schlägt, das Herz B¦rangers“:41 Mit diesem Vergleich huldigte Georg Herwegh 1839 dem ein Jahr zuvor verstorbenen Adelbert von Chamisso. Die Bewunderung Herweghs für Chamissos lyrische Arbeiten ist repräsentativ für die Haltung der jungen Schriftsteller des Vormärz, etwa Heinrich Heines, Franz Dingelstedts oder Heinrich Laubes.42 Der sozial- und zeitkritische Ton seiner Gedichte, ihre dem Einfluss Pierre-Jean B¦rangers zugeschriebene Volkstümlichkeit und Volksnähe begeisterten die nachromantische Generation. Ihre politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen und Hoffnungen verlangten nach einem literarischen Ausdruck, den aus ihrer Sicht das ästhetische Programm der Romantiker nicht mehr zu realisieren wusste, der sich aber in der Dichtung Chamissos umso beispielhafter manifestierte.43 Es gelte, so Herwegh, das „Leben des Volkes“44 darzustellen, wie es B¦ranger, der „Apoll der Hütte“,45 exemplarisch vorgeführt habe. Seine Forderung nach neuen literarischen Maßstäben in der zeitgenössischen Lyrik und einer „Poesie [der] Hütte“ ließ ihn prophezeien: 36 Chamisso 1982, Bd. 1, S. 542. 37 So Chamisso in einem Briefentwurf an B¦ranger, vermutlich aus dem Jahr 1838; vgl. die Transkription des Briefes in Pille 1985, S. 318f., Zitat S. 319. 38 Ebd. 39 Levy 1969, S. 172. 40 Toury 1980, S. 82. 41 Herwegh 1971, S. 46. 42 Feudel 31988, S. 217f., Ponsard 1998. 43 Miller 1979. 44 Herwegh 1971, S. 176. 45 Ebd.

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„Die Lyrik wird sich mehr an Chamisso und B¦ranger anschließen“.46 Herweghs Hoffnung auf eine neue Lyrik birgt freilich auch die Sehnsucht nach nationaler Einigung. Denn im Zusammenhang mit dem Vergleich zwischen Chamisso und B¦ranger beklagte er zugleich, dass der Deutsche Musenalmanach nach Chamissos Tod „schmählich […] zu Grunde“ gegangen war. Gerade Chamisso mit dem „Herz B¦rangers“ hätte es verdient, dass ihm „das Banner aus der Hand genommen“ worden wäre, hatte doch der Musenalmanach einen „Vereinigungspunkt“ für „die Gefühle Deutschlands“ geschaffen.47 Eine ähnliche Ambivalenz zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus findet sich dreißig Jahre später in der bereits zitierten Schrift des heute vergessenen Adolf Launs, eines Gymnasiallehrers, der seinerzeit vor allem durch seine Übersetzungen aus dem Französischen bekannt wurde. Er schrieb über Chamisso, dass […] gerade er, der […] so ganz der unsere wurde, […] eine erfreuliche Gewähr dafür [gibt], daß wir, so lange wir das durch unsere große Epoche Gewonnene zu wahren wissen, kein neues Geistesjoch zu fürchten haben, sondern schon stark genug sind, die von Göthe vorausgesehene Weltliteratur, deren Vermittlung unser Beruf ist, anzubahnen […].48

Etwa zu der Zeit, als Goethe den Begriff Weltliteratur ins Gespräch brachte, begann Chamisso, sich näher mit B¦ranger zu beschäftigen. Während seines Paris-Aufenthaltes im Herbst und Winter 1825 lernte er unmittelbar die Wirkung kennen, die die Chansons seines „Lieblingsdichters“,49 wie er ihn einmal nannte, auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich hatten. Die Forschungsliteratur hat mehrfach auf die Bedeutung B¦rangers für Chamissos lyrische Produktion50 wie für die Entstehung einer politischen Lyrik in Deutschland insgesamt hingewiesen.51 Die Bekanntschaft Chamissos mit B¦rangers Chansons wird als ein markantes Ereignis gewertet, durch das seine lyrische Produktion wieder angekurbelt wurde, ihr eine spezifische Richtung verlieh und ihn schon im Urteil von Zeitgenossen zu einem „der eigentümlichsten und bedeutendsten modernen Dichter“52 machte. Vertreter des Vormärz wiederum schätzten den französischen Chansonnier als ein Vorbild, schrieb man es doch der Popularität seiner antimonarchistischen und antiklerikalen Chansons zu, dass die Juli-Revolution von 1830 erfolgreich verlaufen und über die Restauration siegen konnte. Bis 1848 galt die politische Entwicklung in 46 47 48 49 50 51

Herwegh 1971, S. 177. Ebd. Laun 1869, S. 197. Chamisso an de la Foye, 9. Juni 1838, in: Chamisso 31852, Bd. 6, S. 254. Miller 1979, Feudel 31988. Giuriani 1902, Pollack 1908, Jaff¦ 1947, Fischer 1960, Touchard 1968, Bd. 2, S. 512–515, Rieger 1993, Rieger 1994, Linder-Beroud 1999, Häfner 2007. 52 Heine 1981, Bd. 5, S. 491.

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Frankreich Anhängern des Jungen Deutschland denn auch als nachahmungswürdig.53 Tatsächlich rühmte sich B¦ranger selbst, wie Chamisso in der Vorrede zur Übersetzung hinweist, an der Julirevolution von 1830 „mitgewirkt zu haben“,54 durch die die Herrschaft der Bourbonen endgültig beendet und eine (zunächst) liberale Monarchie in Frankreich eingeführt wurde. B¦ranger war seinerzeit, zwischen 1820 und 1850, einer der populärsten Dichter in Frankreich, und seine rund 350 Chansons sind zu Lebzeiten in mehreren Auflagen erschienen.55 Vor allem in Deutschland begeisterten sich Intellektuelle und Schriftsteller für B¦ranger, und im 19. Jahrhundert war er derjenige Autor, der am häufigsten übersetzt wurde.56 Das gute Dutzend verschiedener deutschsprachiger Ausgaben der Chansons, die in diesem Zeitraum erschienen, legt davon ein beredtes Zeugnis ab.57 Der Stellenwert, der B¦rangers Liedern in Deutschland seinerzeit beigemessen wurde, lässt sich nicht nur an der Zahl ihrer Übersetzungen ablesen. Schaut man sich daneben die Anthologisierung der übersetzten Texte an, also wie häufig sie in Lyrikanthologien aufgenommen wurden, so fällt auf, […] daß der heute mehr oder weniger vergessene Lieddichter in fast allen deutschen Anthologien des vorigen Jahrhunderts mit französischem Anteil neben Victor Hugo und sogar noch vor Musset und Lamartine zu den wichtigsten und am stärksten vertretenen französischen Lyrikern zählt.58

In Johannes Scherrs 1848 erschienenem Bildersaal der Weltliteratur, der „ersten umfangreichen Weltdichtungsanthologie“,59 sind 15 Gedichte B¦rangers enthalten, drei davon übrigens in der Übersetzung von Chamisso bzw. Gaudy. Weltdichtungsanthologien veröffentlichten gewöhnlich Übersetzungen, die bereits an anderer Stelle, in Zeitschriften oder Werkausgaben etwa, publiziert 53 Keck 1996. 54 Chamisso 1982, Bd. 1, S. 540; vgl. auch B¦ranger 1857, S. 244f.: „[…] j’ai contribu¦ comme eux et plus que beaucoup d’entre eux aux ¦v¦nements de la R¦volution de juillet 1830.“ 55 Brochon 1956, Duneton 1998, Fischer 1988, Schneider 1988 und 1999. 56 Linder-Beroud 2006, S. 34. 57 Rieger 1993 und 1994. Auch im Kreis um Chamisso beschäftigte man sich in den Jahren 1820 und 1830 intensiv mit B¦ranger. Wilhelm Neumann publizierte 1826 in Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz eine Artikelserie über B¦ranger (Nr. 167–172; 20. Okt. –28. Okt. 1826). Ludwig Robert veröffentlichte 1838 einen Beitrag unter dem Titel „Projektirte Uebersetzung der Lieder von B¦ranger“, in dem er Wilhelm Neumanns Beitrag im Gesellschafter lobt und B¦ranger den „größte[n] [Dichter]“ nennt, „den Frankreich jetzt besitzt, weil er der wahre und einzige Volksdichter ist.“ Doch „gerade deswegen kann man den Vorschlag, dessen sämmtliche Volkslieder zu übersetzen nicht billigen,“ da deren „lasziver Inhalt“ und „politischer Scherz“ nicht übersetzbar seien, obwohl „Deutschland sich rühmen kann, die Kunst der Uebersetzun zu einer Vollendung gebracht zu haben, die früherhin hier unmöglich gehalten wurde.“ Robert 1838, Bd. 1, S. 146f. 58 Keck 1996, S. 337. 59 Eßmann 2004, S. 274; zu Scherrs Bildersaal vgl. auch Goßens 2011, S. 361f.

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worden waren und beanspruchten, jeweils das ,Beste‘ aus den jeweiligen Nationalliteraturen auszuwählen. Aus heutiger Sicht hat [k]ein anderes Medium der Literaturvermittlung […] den deutschsprachigen Lesern im vergleichbaren Zeitraum so viele verschiedene fremde Dichterinnen und Dichter vorgestellt, und nach bisherigen Erkenntnissen hat kein anderes Land eine so lange und reichhaltige Tradition von Übersetzungsanthologien hervorgebracht wie der deutschsprachige Raum. Übersetzungsanthologien haben dementsprechend deutschen Lesern stets ein [..] breites Rezeptionsangebot zur Verfügung gestellt […].60

Es waren zunächst weniger die literarischen Qualitäten seiner Chansons, die B¦ranger in Deutschland bekannt machen. Nachweislich erstmals erwähnt wurde sein Name in deutschen Medien im Jahr 1822, nämlich im Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände,61 das vom Prozess gegen B¦ranger berichtete. 1821 war die zweite Auflage der Gedichte B¦rangers erschienen. Sie wurde verboten, da die Texte als Angriff auf König und Klerus verstanden wurden, und B¦ranger musste für eine kurze Zeit ins Gefängnis. Dieser Fall von Zensur sorgte für Aufsehen unter deutschen Lesern und verlieh dem französischen Dichter ein großes Ansehen. Kurz danach folgten die ersten Übersetzungen in deutschsprachigen Zeitungen bzw. Zeitschriften, 1830 lag die erste größere deutsche Übersetzung vor.62 Als Chamisso zwischen 1828 und 1833 vier Lieder B¦rangers übersetzte63 und (zumindest drei von ihnen) in Cottas Morgenblatt veröffentlichte, dann 1837/1838 gemeinsam mit Gaudy weitere 98 Chansons B¦rangers übertrug,64 war B¦ranger also ein in Deutschland ausgesprochen populärer Schriftsteller. Seine Gedichte zählen, das betont Chamisso eigens in der Vorrede zur Übersetzung, zu den „Blüthen“ der „gesammte[n] europäische[n] Literatur“,65 sie sind mithin ein Stück Weltliteratur. Will man die B¦ranger-Übersetzung, wie hier vorgeschlagen, als eine interkulturelle Transferleistung verstehen, die am Weltliteratur-Projekt des frühen 19. Jahrhunderts partizipierte, so lässt sich diese Position anhand der Vorrede näher präzisieren. Chamisso formuliert dort ein Literaturverständnis, das nicht auf ästhetischer Autonomie und der Trennung zwischen Literatur und Alltagswelt insistiert, sondern vielmehr die Funktionalisierung von Literatur fordert. Er zeigt sich fasziniert davon, dass 60 Eßmann 2004, S. 275. 61 Nr. 27, Korrespondenz vom 31. Dezember 1821. Vgl. Jaff¦ 1947, S. 335; Pollack 1908, S. 13; Rieger 1994, S. 12. 62 Die Übersetzerin war Philippine Engelhard, geb. Gatterer, die ihre Übersetzung unter dem Titel Lieder, Kassel 1830, veröffentlichte. 63 Er schickte B¦ranger seine Übersetzungen, der sich in einem Brief dafür bedankte, vgl. Feudel 31988, S. 189f. 64 Von den insgesamt 98 Liedern übersetzte Chamisso 36, Gaudy 56, sechs Lieder übertrugen sie gemeinsam. 65 Chamisso 1982, Bd. 1, S. 542.

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„[d]ie chanson […] wenn gleich keine selbständige Macht, doch das Organ einer Macht [ist], das Organ der Meinung bald des Volkes, bald der Parteien im Volke.“66 In einer Zeit staatlicher Zensurbestimmungen ist es „[l]a chanson, die volkstümliche, nicht zu unterdrückende Freiheit der Franzosen“, die „bei ihnen die Stelle anderer Freiheiten (Rede-, Preßfreiheit, Petitionsrecht u. s. w.)“67 vertritt. Literatur wird in Chamissos Perspektive zu einer Ersatzöffentlichkeit. Diese Position rückt ihn nicht nur in die Nähe von Vertretern des Vormärz, sondern leistet einem handlungsorientierten Weltliteratur-Verständnis Vorschub, das literarische Praktiken als Versuche begreift, in die gesellschaftliche Welt einzugreifen und sie mitzugestalten. Dass diese Rezeptions- und Übersetzungsleistung von Weltliteratur durch Chamisso und Gaudy nicht nur durch unterschiedliche publizistische Kanäle – Almanach, Anthologie, Buchveröffentlichung – weitervermittelt und kommuniziert wird, sondern ihrerseits in einem kommunikativ strukturierten Raum oder, wie ich sagen würde, innerhalb von Netzwerkstrukturen verortet ist, lässt den Zusammenhang zwischen Weltliteratur und Kommunikation noch dichter erscheinen. Dazu abschließend einige kurze Bemerkungen, die hier allerdings nicht weiter ausgeführt, sondern lediglich aufgelistet werden. Entscheidend für das utopische Weltliteratur-Verständnis jener Zeit war gewiss der Umstand, dass Goethe den Begriff geprägt und in die öffentliche Diskussion in Umlauf gebracht hat. Ebenso ausschlaggebend für das Prestige des Weltliteratur-Konzepts dürfte aber auch das Goethe-Bild in jenen Jahren gewesen sein bzw. die Verehrung, die ihm in bestimmten literarischen Kreisen entgegengebracht wurde.68 Maßgeblich beteiligt an diesem positiven GoetheBild waren Varnhagen und sein Netzwerk. Aus heutiger Sicht ist „Varnhagens Position als Vermittler innerhalb eines umfassenden Netzwerks von Intellektuellen seiner Zeit […] gerade im Hinblick auf die Transformationen der Vorstellungen von Weltliteratur nicht zu unterschätzen“,69 war es doch „die vermittelnde und publizistische Präsenz Karl Augusts, die […] zur Verbreitung und Bewahrung des goetheschen Denkens in dieser Zeit beitrug.“70 Chamisso zählte bekanntlich zum Kreis um Varnhagen. Zu nennen ist im Zusammenhang mit der Goethe-Verehrung des 19. Jahrhunderts außerdem der Deutsche Musenalmanach, ein Netzwerkunternehmen, dessen Redaktion Chamisso ab 1832 übernahm und dessen erster Jahrgang Goethe gewidmet war.71 Als ein literarisches 66 67 68 69 70 71

Ebd., S. 539. Ebd. Vgl. zu diesem Aspekt auch Thoma 1986 und 1988. Vgl. Goßens 2011, S. 124–175. Ebd., S. 145. Ebd., S. 147. Ich erwähne diesen Punkt nur kurz und verweise für den Zusammenhang zwischen Netzwerk und dem Deutschen Musenalmanach auf Federhofer 2013.

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Netzwerk lässt sich auch die 1824 von Julius Eduard Hitzig gegründete Mittwochsgesellschaft bezeichnen – sie nannte sich später auch „Gesellschaft für inund ausländische Literatur oder Gesellschaft für schöne Literatur–,“72 die sich uneingeschränkt zu Goethe bekannte und jährlich seinen Geburtstag feierte. 1830 widmete Goethe der „hochansehnliche[n] Gesellschaft für ausländische schöne Literatur in Berlin“ die deutsche Übersetzung von Thomas Carlyles Schiller-Biographie,73 zu der er eine Einleitung verfasst hat. In dieser Einleitung stellte er auch er sein Verständnis von Weltliteratur dar, das sich insofern von früheren Konzepten unterscheidet, als Weltliteratur nun als ein „ethisches Handlungsmodell“ verstanden wird.74 Chamisso war ein Mitglied dieser Gesellschaft und hielt dort in der Zeit, in der er sich intensiv mit B¦ranger befasste, also zu Beginn der 1830er Jahre, einen Vortrag über den französischen Chansonnier, wie der junge französische Schriftsteller und Reisende Xavier Marmier bezeugen konnte.75 Auch ein anderer Franzose, Jean-Jacques AmpÀre, wurde durch die Mittwochsgesellschaft mit Chamisso bekannt und publizierte in seinem Heimatland Besprechungen zu Chamissos Werken, u. a. zu dessen B¦ranger-Übersetzung.76 Die Schreibwelten Chamissos, denen sich die internationale ChamissoKonferenz 2013 widmete, sind auch eine Auseinandersetzung mit Weltliteratur. Chamissos Schreibwelten sind, um abschließend noch einen ganz anderen Bogen zu schlagen, in hohem Maße durch Korrespondenzen und Transformationen – so das Thema der Chamisso-Konferenz 2011 – strukturiert.

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72 Vgl. zur Mittwochsgesellschaft den ausführlichen Beitrag von Berbig 1998; vgl. auch Wruck 2001. 73 Carlyle 1830. 74 Vgl. zu diesem Aspekt Goßens 2011, S. 115f. 75 Feudel 31988, S. 150. 76 Vgl. Haufe 1935, S. 69–72.

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Caroline Gerlach-Berthaud

Adelbert von Chamisso als Selbstübersetzer

Chamissos „Lebens- und Schreibwelten“ sind sehr vielfältig. Wie viele seiner Zeitgenossen hatte Chamisso einen enzyklopädischen Wissensdrang, den er vor allem auf naturwissenschaftlichem Gebiet verwirklichen konnte, aber das ist nur eine Seite seines Tätigkeitsbereichs. Herausragend sind ebenso sein Interesse an fremden Sprachen und die Leichtigkeit, mit der er sich diese aneignete, woraus sich als natürliche Folge auch Aktivitäten als Übersetzer ergaben. Ich möchte mich hier besonders mit drei Selbstübersetzungen des Dichters befassen und zwar mit der französischen Übersetzung seines berühmten Kunstmärchens Merveilleuse histoire de Pierre Schl¦mihl von 1838 und den beiden selbstübersetzten französischen Fassungen des Gedichts Le ch–teau de Boncourt, eine in Prosa (1828) und eine in Versform (1829).1 Eine Selbstübersetzung ist ein Text oder ein literarisches Werk, das von seinem Autor selbst in eine andere Sprache übertragen worden ist. Die Selbstübersetzung ist ein neues Forschungsgebiet in der Übersetzungswissenschaft. Die Tätigkeit von Dichtern oder Autoren, die ihre Texte in eine andere Sprache übersetzen, ist uralt und reicht bis in die Anfänge der Literaturgeschichte zurück,2 dennoch ist sie in der Forschung bisher nahezu unbeachtet geblieben oder wurde einfach am Rande unter der Rubrik „Zweisprachigkeit“ eingeordnet und nicht mit Übersetzungs- oder Literaturwissenschaften in Verbindung gebracht.3 Bei einer Selbstübersetzung sind Autor und Übersetzer ein und dieselbe Person, und die Bedingungen für die Ausführung, Beschreibung oder Analyse von Übersetzungen haben sich zwangsläufig verändert. Der Selbstübersetzer ist ein

1 Siehe Texte am Ende dieses Aufsatzes. Die deutsche Version von Das Schloß Boncourt wurde aus der Chamisso-Ausgabe von Perfahl / Hoffmann übernommen (S. 192), die beiden französischen Übersetzungen sind Transkriptionen aus dem Nachlass von Chamisso. Sie zeigen mehrere Abweichungen von den gedruckten Fassungen, auch enthält die Version En vers mehrere Übersetzungsvarianten, die ich in meiner Dissertation behandle. 2 Vgl. Lagarde / Tanqueiro 2013, S. 9. 3 Vgl. AUTOTRAD 2007, S. 92.

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Caroline Gerlach-Berthaud

„idealer“ oder „privilegierter“ Übersetzer,4 da er in seiner Übersetzung seine Schreibvorhaben oder Zielvorstellungen am besten verwirklichen kann.5 Die Selbstübersetzung zeichnet sich vor allem durch ihr großes Potenzial für kreatives Neubearbeiten aus.6 Es stellt sich nun die Frage, inwieweit diese Vorgaben bei Chamissos Aktivitäten als Selbstübersetzer zur Anwendung kommen können. Ich möchte in diesem Beitrag zeigen, wie Chamisso den Schlemihl und das autobiographische Gedicht Das Schloß Boncourt in Französisch gestaltet hat, welche romantischen Übersetzungstheorien dabei zum Tragen kommen und wie Chamisso die literarische Bandbreite dieser Werke durch seine Übersetzungen auf kreative Art erweitert hat. Bevor ich auf die Selbstübersetzungen eingehe, möchte ich kurz das Gedicht Herein!7 (Anfang 1827) vorstellen, in dem der Dichter sich selbst als Übersetzer präsentiert und das als eine poetologische Darstellung seiner dichterischen, übersetzerischen, poetischen und sprachlichen Konzepte und Theorien angesehen werden kann. Chamisso hatte das Gedicht zum Anlass einer der Zusammenkünfte der Neuen Mittwochsgesellschaft geschaffen, einer musisch-literarischen Vereinigung, die am 26. Oktober 1824 von Julius Eduard Hitzig ins Leben gerufen worden war und die außer von Chamisso auch von mehreren anderen bekannten Dichtern, Malern, Schauspielern oder Dramatikern wie Joseph von Eichendorff (1788–1857), Friedrich de la Motte Fouqu¦ (1777–1843), August Kopisch (1796–1853), Wilhelm Müller (1794–1827) und vielen anderen Künstlern frequentiert wurde.8

Herein! In diesem scherzhaften Rollengedicht treten Figuren aus der Welt der Künste, der Literatur oder der Dichtung auf, die, indem sie ihre jeweilige künstlerische Tätigkeit vorstellen, den Eintritt in einen Künstlerbund ersuchen. Es sind der „Tragiker“, der „Komiker“, der „Mimiker“, der „Übersetzer“, der „Lyriker“, der „Maler“, der „Musiker“ und der „Leser“. Das heterometrische Gedicht hat acht Strophen jeweils mit Refrain. Der Aufbau des Gedichts mit dem griechischen Motto, auf Deutsch „Seid gegrüßt, Kinder des Zeus, […]!“,9 klingt an Formen des 4 5 6 7

Vgl. ebd. S. 92. Vgl. ebd. S. 93. Vgl. ebd. Siehe Text in der Chamisso-Ausgabe von Perfahl / Hoffmann 1975, S. 299. Meine Analyse dieses Gedichts erscheint hier in gekürzter Form, der ausführliche Text ist auch Teil meiner Dissertationsschrift. 8 Vgl. Geiger 1888, S. 570 und Der grosse Brockhaus 1980 9 Vgl. Perfahl / Hoffmann 1975, S. 821.

Adelbert von Chamisso als Selbstübersetzer

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griechischen Dramas an und zeugt von der starken Antikenrezeption bei Chamisso. Zugleich sind Reminiszenzen an die Gestaltung des Faust von Goethe vorhanden. In den ersten drei Strophen, zuerst im antiken Trimeter und dann zweimal im prosanahen Blankvers geschaffen, lässt Chamisso die Hauptträger des antiken griechischen Theaters auftreten. Dabei lässt sich in der ironischen Gegenüberstellung der beiden Sichtweisen des „Tragikers“ und des „Komikers“ ein Charakteristikum romantischer Schreibtechnik erkennen. In Bezug auf „die von den Romantikern sogenannte Tragikomödie Shakespeares und den tragikomischen Don Quijote des Cervantes“ besteht diese Technik in der „Kontrastierung von Komik und Pathos, Groteskem und Erhabenem“10, wie sie hier durch die Nebeneinanderstellung der beiden Strophen entsteht. Der besondere Zug des Tragikomischen lässt sich auch noch in anderen Texten von Chamisso feststellen. Im September 1813, während er an seinem Schlemihl arbeitet, schreibt er in einem Brief aus Cunersdorf an seinen Freund Hitzig: […] – Nun Du die Sache so nimmst, muß ich doch sehen, wie ich ihn [den Schlemihl] weiter bringe – doch fehlt mir schon die Laune – ich fürchte, daß das Komische erlischt und das Weinerliche zu sehr aufkomme; – denn er besteht doch und soll bestehen aus a + b, Ideal und Karikatur, das tragische und komische Element.11

Das Tragikomische kommt also auch im Schlemihl zum Tragen. Es ist aus der romantischen Aufgabe der Vermittlung des Endlichen und des Unendlichen entstanden. Daraus resultiert auch die Vermischung und Verwirrung der rhetorischen Stillagen,12 wie sie in diesem Gedicht, im Schlemihl und in anderen Werken Chamissos aufgezeigt werden können. Der „Mimiker“ bringt die Werke des „Tragikers“ und des „Komikers“ auf die Bühne, hier wohl ein Anklang an Chamissos Dichtungen und Übersetzungen von romantischen Versdramen und Theaterstücken. In der vierten Strophe, gestaltet in einer Variation des italienischen Endecasillabo, wird der „Übersetzer“ vorgestellt. Schon der erste Vers „Ihr staunet ob dem königlichen Gast“ trägt poetologisch dem Übersetzerdiskurs im Anfang des 19. Jahrhunderts Rechnung, ein Zeitabschnitt, in dem Übersetzen und Übersetzungstheorien Hochkonjunktur hatten. In der Übersetzerfigur sind klar die autobiografischen Züge des Dichters zu erkennen. Chamisso war stolz auf seine Übersetzungen, wie der Vers „Der stolz erscheint inmitten eurem Rat“ bekundet. Die Zeilen „Ein Heim’scher doch, und doch ein Fremder fast. / Ich bin’s, und bin ein andrer euch genaht“ klingen an seine persönliche Situation an, an sein Leben als französischer Emigrant in Deutschland, seiner Wahlheimat. 10 Vgl. Kremer 2007, S. 100. 11 Palm 1864, Bd. 5, S. 386. 12 Vgl. Kremer 2007, S. 100.

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Zugleich ist darin auch eine Beziehung zu seiner deutsch-französischen Dichterpersönlichkeit vorhanden. Außerdem hebt Chamisso in dieser Strophe die Rolle des Übersetzers als kultureller Vermittler hervor. Die nächste Strophe ist dem „Lyriker“ zugeeignet. Sie besteht aus drei Vierzeilerstrophen mit jambischen Vierhebern, Kreuzreim und klingender und stumpfer Kadenz. Diese Versform wurde im 19. Jahrhundert oft in der huldigenden Anrede an Personen gebraucht, als Ausdruck der Hinwendung zu einem geliebten Menschen und von Glück und Schmerz in der Liebe.13 Dieser formellen Semantik entspricht auch der Inhalt der Strophe von Chamisso. Er kann zugleich als Widmung an die Muse und an eine Geliebte (hier Chamissos Frau Antonie) angesehen werden. Das Datum des Gedichts, 1827, fällt in das Jahr der Geburt seiner Tochter Ad¦lade und des Erscheinens der zweiten Auflage des Peter Schlemihl mit einem Anhang von Liedern und Balladen. In diesen Versen lässt sich offenkundig auch die Beziehung von Musik und Dichtung bei Chamisso erkennen. Hier wird das Konzept des „Dichters als Sänger“ thematisiert, das bis in die vorschriftliche Kultur Griechenlands zurückgeht.14 Dichten und Singen gehörte für Chamisso zusammen.15 Die Aussagekraft dieses poetischen Gedankens wird unterstrichen durch die synästhetischen Elemente von „Gesang“ für das Akustische, und „ihres Auges strahlend Licht“ für das Visuelle, dem romantischen Topos von der Verwandtschaft zwischen Ton und Licht.16 Ähnliche Beziehungen sind auch in der Strophe des „Musikers“ zu finden, die in freien Rhythmen17 ohne Reim mit Enjambements gestaltet worden ist. In der Romantik wird die Musik zur höchsten Kunst deklariert. Töne stehen dem romantischen Idealbild der Entgrenzung am nächsten.18 In Chamissos Strophe wird die Entgrenzung durch den Hinweis auf den Kosmos in den Versen „Rauschend auf Cherubs- / Schwingen getragen, / Verträum ich mein Leben / In Harmonien“ ausgedrückt. Die Zeilen lassen den synästhetischen Topos der Sphärenharmonie anklingen, und die Musikästhetik entwickelt sich als poetisches Traummotiv, das eine Glückserfahrung chiffriert.19Die Freien Rhythmen mit Enjambements erlaubten Chamisso, die rhythmische Gestalt der Verse so eng wie möglich an den Stropheninhalt anzupassen und so durch eine aus-

13 14 15 16 17 18 19

Vgl. Frank 1980, S. 233–234. Vgl. Brockhaus, Literatur 2007, S. 578. Vgl. Szczerbowska-Prusevicius 2005, S. 208. Vgl. Wanner-Meyer 1998, S. 31. Vgl. Szczerbowska-Prusevicius 2005, S. 211. Vgl. Schmitz-Emans 2009, S. 48. Zu poetischen Funktionen von Träumen in romantischen Texten vgl. Alt / Leiteritz 2005, S. 7–8.

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drucksstarke Rhythmisierung dem Thema der Musik und Wortmusik gerecht zu werden. Ergänzend zu diesen facettenreichen Dimensionen der Beziehung Chamissos zur Musik muss auch der Refrain des Chors genannt werden, dessen Verse als Kontrafaktur auf das Lied „Bekränzt mit Laub den lieben vollen Becher“ geschaffen worden sind. Dieser Text mit dem Titel „Rheinweinlied“, ursprünglich im Jahr 1775 von Matthias Claudius (1740–1815) gedichtet, wurde dann im Jahr 1776 von Johann Andr¦ (1741–1799) auf volkstümliche Art vertont.20 Chamisso hat den Text und die Silbenverteilung der Verse seines „Chors“ genau dem Rhythmus und der Melodie dieses Lieds angepasst. Diese Art der Dichtung, nach französischen oder deutschen Melodien, ist noch öfter bei Chamisso zu finden.21 Kontrafakturen waren ebenso gängige Praxis bei anderen romantischen Dichtern, und auch bei Goethe. Wie die Relation zur Musik bei Chamisso auch auf das Übersetzen erweitert werden kann, möchte ich später noch zeigen. Die Strophe zwischen der des „Lyrikers“ und des „Musikers“ ist dem „Maler“ gewidmet, diesmal wieder im Blankvers verfasst. Gleich der erste Satz fällt ins Auge durch seine doppeldeutige Formulierung. Der „Maler“ wird als „Dichter“ dargestellt, der mit Farben und Formen etwas kunstvoll gestaltet. Oder könnte es auch so verstanden werden, dass der „Dichter“ ein „Maler“ ist und die „Farben“ mit den Worten und Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache gleichzusetzen sind? Wie die wechselseitige Bedeutung von Dichtung und Farbe bei Chamisso auf die Übersetzung übertragen werden kann, soll später noch veranschaulicht werden. Die letzte Strophe, auch in Blankversen gehalten, ist dem „Leser“ zugeeignet. Die romantische Poesie neigt zur Verrätselung und Hermetik. Deshalb muss sie sich auch auf die Position eines hermeneutisch geschulten Lesers beziehen.22 In vielen romantischen Texten wird die Funktion des Lesers immer wieder selbstreflexiv kommentiert.23 So hat auch Chamisso in dieser letzten Strophe dieser Figur einen Platz eingeräumt. Ebenso kann diese einen Bezug auf die Zunahme des Leserpublikums, der Bildung literarischen Salons und der Lesekultur im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts darstellen.24 Zusammenfassend für das Gedicht Herein! muss neben der semantischen 20 Vgl. Jöde 1929, S. 64. 21 Für drei deutsche Gedichte nach deutschen Melodien von Chamisso vgl. SzczerbowskaPrusevicius 2005, S. 280. Ebenso scheint das Gedicht A Pauline, das Chamisso im Musenalmanach von 1804 veröffentlicht hat, eine Kontrafaktur auf das Lied Femme sensible aus der Oper Ariodant von Êtienne-Nicolas M¦hul (1763–1817) zu sein. Auch das Gedicht Liebeskampf, das am 28. August 1827 im Zweiten Heft des Liederbüchlein der Mittwochgesellschaft abgedruckt worden ist, ist eine Kontrafaktur (Hinweis auf das Gedicht in Berbig 1998, S. 329). 22 Vgl. Kremer 2007, S. 103. 23 Ebd. 24 Vgl. Brockhaus, Literatur 2007, S. 474–475.

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Dichte und Vielschichtigkeit die poetische Selbstreflexion des eigenen poetologischen Programms von Chamisso hervorgehoben werden und der besondere Platz, den der (Selbst-)Übersetzer darin einnimmt. Chamisso hat sich aber nicht nur in der Übersetzerfigur, sondern in jeder einzelnen Rolle selbst dargestellt. Das lyrische Ich ist hier mit dem des Autors gleichzusetzen. Dazu sind in diesem Gedicht Ausdrucksformen und Stilmittel der Synästhesie, der Annäherung und Vermischung verschiedener Sinnesqualitäten vorhanden.25 Die Dichtung erstrebt zugleich Wirkungen der Musik und der Malerei. Die Romantiker haben das „Gesamtkunstwerk“26 privilegiert, bei dem Dichtung und Sprache eine vorrangige Stellung eingenommen haben, und Chamisso ist auch in diesen Kreis einzuschließen. Ausgehend von Chamissos Gedicht und seinen Prämissen möchte ich jetzt zur französischen Übersetzung Merveilleuse histoire de Pierre Schl¦mihl übergehen und mittels einer kontrastiven Analyse zeigen, wie dieser Text übertragen wurde und welche Rolle die eben vorgestellten Aspekte der romantischen Sprachtheorie dabei spielen können. Einerseits, inwieweit hat Chamisso bei der Gestaltung als Übersetzer agiert, der den Ausgangstext respektiert, und welche Übersetzungstheorien kommen dabei zum Tragen? Andererseits, wie hat er bei der Übertragung seines erfolgreichen Werks seine Freiheit als Übersetzer/Autor ausgeübt und wie hat er seine Dichtung dabei auf kreative Art bereichert und erweitert?

Merveilleuse histoire de Pierre Schlémihl Ich habe für meine kontrastive Analyse den deutschen Text der Ausgabe von 1836 benutzt, die der französischen Veröffentlichung von Merveilleuse histoire de Pierre Schl¦mihl. Enrichie d’une savante pr¦face o¾ les curieux pourront apprendre ce que c’est que l’ombre von 1838 zeitlich am nächsten steht. Die folgenden zwei Abbildungen zeigen das Frontispiz und das Titelblatt der Ausgabe von 1838. Auf Ersterem wird der schattenlose Schl¦mihl mit seinem Manuskript dargestellt, das er, wie es in der Herausgeberfiktion beschrieben wird, Chamisso zu treuen Händen übergeben wird (siehe Abb. 1). Das nachfolgende Titelblatt trägt den Hinweis auf den berühmten Zusatz von Chamisso über den Schatten im Vorwort, der in dieser Ausgabe zum ersten Mal veröffentlicht wird (siehe Abb. 2).

25 Vgl. Kluckhohn 1961, S. 182. 26 Vgl. ebd., S. 183.

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Abb. 1: Schl¦mihl übergibt sein Manuskript. Nachstich einer Zeichnung von Franz Joseph Leopold aus dem Jahre 1813 von Christian Ros¦e (1827) mit Randzeichnungen in Farbe, vermutlich vom Maler und Kupferstecher Peter Carl Geißler (1835) [Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin].

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Abb. 2: Titelblatt [Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin].

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Bei der Analyse von Selbstübersetzungen wird zwischen Übertragungen unterschieden, die allein oder unter der Mitwirkung von zweiten oder dritten Personen ausgeführt worden sind.27 Dabei sollen die Textmerkmale hervorgehoben werden, die vom Dichter selbst stammen. Diesem französischen Text liegt die Ausgabe der ersten Übersetzung von 1822 zugrunde, deren Manuskript, zuerst ausgeführt von Chamissos Bruder Hippolyte und nachher vom Dichter selbst korrigiert, von einem Beauftragten des Pariser Verlegers Charles Ladvocat (1790–1854) namens Am¦d¦e Pichot (1795–1877) überarbeitet worden ist.28 Chamisso selbst, der gar nicht glücklich war mit dieser „verstümmelten“29 Übersetzung, hat diese im Jahr 1838, seinem Todesjahr, noch einmal revidiert, woraus diese, von ihm autorisierte, Ausgabe entstanden ist. In Beziehung zur Figur des „Malers“ in Chamissos Gedicht Herein! möchte ich meine Analyse der Übersetzung des Schlemihl unter das Vorzeichen einer Übersetzungsmetapher stellen, die Chamisso selbst benutzt hat, nämlich die „Gemäldemetapher“.30 Im Jahr 1834 ist eine fast vergessene französische Übersetzung des Schlemihl von Marie Philippe Aim¦ de Golb¦ry, einem französischen Gelehrten, in der Nouvelle Revue Germanique erschienen, einer französischen Zeitschrift, betrieben von Xavier Marmier, die zum Ziel hatte, die deutsche Literatur in Frankreich bekannt zu machen. Chamisso hatte sich dazu in einem Brief folgendermaben geäubert: – vor etlichen Jahren (4 etwa) hat eine neue Übersetzung von Golbery in der Revue Germanique [!] gestanden. – Ich habe hineingeblickt, sie hatte, was das Wesentliche ist, eine frische Farbe und einen guten Ton – aber der Übersetzer hatte zuweilen das Sächliche der Erzählung ganz mibverstanden.31

Mit dem Ausdruck „frische Farbe“ macht Chamisso offensichtlich eine Anspielung auf das Bild vom Übersetzer als Maler, der einen Text (ein Gemälde) in anderen Farben wiedergibt. Der Begriff „Farbe“ findet sich in vielen Wendungen und Titeln der Literatur um 1800, die mit Übersetzung zu tun haben, auch haben andere Romantiker wie Clemens Brentano oder der Philosoph Arthur Schopenhauer32 diese Metapher benutzt. Es liegt daher nahe, das berühmte Prinzip von Horaz Ut pictura poesis auf den Schlemihl-Text anzuwenden. In der Tat enthält er viele Ausdrücke und Begriffe, die mit Malerei zu tun haben. Gleich im ersten Kapitel, bei der Szene der 27 28 29 30

Vgl. AUTOTRAD 2007, S. 95–96. Vgl. Pille 1986, S. 28–29. Ebd. S. 28. Für eine Darstellung und Beschreibung der „Gemäldemetapher“ im 18. Jahrhundert, vgl. Münzberg 2003, S. 153–161. 31 Rath 1919, S. 35. 32 Friedrich / Killy 1965, S. 584.

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Gesellschaft der Herrn Thomas John, die sich auf dem grünen Hügel ergeht, suggeriert der Ausdruck der „ausgespannten Landschaft“33 das Thema der Landschaftsmalerei, wie eine Leinwand, die ausgespannt wird.34 Der Text ist als eine „Geschichte der Wahrnehmung, der Blicke und des Augensinns“35 komponiert worden. So enthält er viele Ausdrücke, die mit „sehen“ oder „wahrnehmen“ synonym sind, oder Schilderungen, bei denen der visuelle Aspekt dominiert.36 Das Wort „Schlagschatten“ ist ein Terminus aus der Malerei,37 der auch im Titel der Urschrift des Schlemihl erscheint. Im weiteren Teil des Märchens hat der Schlemihl einen berühmten Maler bestellt, der ihm einen „Schlagschatten malen“ sollte. Auch im Bild des grauen Mannes, der den Schatten nach dem Verkauf von der Erde aufhebt, zusammenrollt und einsteckt wie eine Leinwand oder eine Papierrolle, kann eine Analogie zur Malerei gesehen werden (siehe Abb. 3).38 Das Konzept der Farbe würde sich hier, wie in den Versen des Gedichts Herein!, auf die verschiedenen stilistischen Charakteristiken und die Ausdrucksweise beziehen.39 Was die Übersetzung angeht, so könnte man das Ut pictura poesis in Ut pictura translatio verwandeln, um der Übersetzungsmetapher von Chamisso gerecht zu werden. Eine wesentliche Charakteristik des Schlemihl-Textes sind die verschiedenen Briefe und Vorworte im Vorspann, die eine Herausgeberfiktion bilden. Chamisso bedient sich dieses Stilmittels, das um die Zeit um 1800 sehr beliebt war, um die Figur seines Helden zu konstruieren. Er hat ihr dabei nach dem Vorbild von Jean Paul halb autobiographische, halb erfundene Züge verliehen, was später zu unzähligen Hypothesen und Fragestellungen geführt hat, ob sich Chamisso in der Gestalt des Schlemihl selbst dargestellt hat oder nicht. Die Herausgeberfiktion ermöglicht auch die literarische Darstellung des Doppelgängermotivs. Daneben hat der Dichter viele Anspielungen auf lebende Personen aus seinem Umkreis in das Kunstmärchen einfließen lassen. All diese Beziehungen innerhalb und außerhalb des Textes würden bei einer französischen Übersetzung, bestimmt für einen anderen Kulturkreis, vom Leser nicht rezipiert werden. Chamisso hat dem entsprechend Vorsorge getragen und eine neue Herausgeberfiktion geschrieben, die sich speziell an das französische Publikum richtet und bei der auf geistreiche Weise auch der bisherigen, internationalen Rezeptionsgeschichte des Schlemihl Rechnung getragen wird. Dabei hat er einen 33 34 35 36 37 38 39

Chamisso 1836, S. 241. Hinweis auf diese Metapher in Brüggemann 1999, S. 156. Braun 2007, S. 200. Vgl. ebd. S. 201. Sulzer 1792, S. 299. Chamisso 1838, zwischen S. 12 und 13. Vgl. Münzberg 2003, S. 154.

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Abb. 3: Der Graue löst Schl¦mihls Schatten vom Boden ab, um ihn zusammenzurollen und einzustecken. Nachstich eines Kupferstichs von George Cruikshank aus dem Jahre 1823 von Christian Ros¦e (1827) mit Randzeichnungen in Farbe, vermutlich vom Maler und Kupferstecher Peter Carl Geißler (1835) [Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin].

wissenschaftlichen Abschnitt über den Schatten aus dem zweiten Band des Trait¦ ¦l¦mentaire de physique des Abb¦ Ren¦-Just Haüy vom Jahr 1821 hinzugefügt.40 Die wissenschaftliche Notiz von Haüy, die Chamisso ironisch und wissenspoetisch verarbeitet und in einen anderen Zusammenhang gebracht hat, hat, wie wir wissen, in der Folge viele Kommentare und Deutungsversuche hervorgebracht. Chamisso selbst hat sich zeit seines Lebens auch nicht auf eine ausdrückliche Erklärung der Passage eingelassen. Ausgehend von diesem Teil des französischen Textes kann gesagt werden, dass es sich hier um eine adaptierende Übersetzung handelt, deren Inhalt auf das Zielpublikum ausgerichtet ist. Ob

40 Nähere Informationen über den Abb¦ Haüy werden in der Chamisso-Forschung kaum oder gar nicht erwähnt. Er wurde 1743 in Saint-Just-en-Chauss¦e im D¦partement Oise geboren und starb 1822 in Paris. Er war Botaniker, Pfarrer, ein berühmter Wissenschaftler und der Begründer der geometrischen Kristallografie und der Mineralogie in Frankreich und wurde ebenfalls während der Französischen Revolution verfolgt. Es ist anzunehmen, dass Chamisso diesen Wissenschaftler, dessen Lehren und Theorien ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert und in der Aufklärung hatten, sehr geschätzt hat. Vgl. Kunz 1918, S. 61–89.

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dieses Charakteristikum auch für den gesamten Text gilt, soll im Weiteren festgestellt werden. Ein besonderes Merkmal des Schlemihl-Textes ist, dass Chamisso in seiner Erzählweise sehr viele parataktische Satzkonstruktionen benutzt. Chamisso war ein grober Bewunderer Goethes und seiner Art zu schreiben. Die Sprache Goethes während der Klassik ist gekennzeichnet durch Neologismen und Sonderbedeutungen und vor allem durch das Streben nach „Klarheit“,41 einem Lieblingswort des Dichters. Das Streben nach Klarheit bedeutete aber auch den Abbau von unübersichtlichen Schachtelsätzen und eine Neigung zu Parataxen.42 Interessant ist überdies die Feststellung, dass der Text des berühmten Faustbuchs aus dem Jahr 1587, das Joseph Görres im Jahr 1807 in seinem Band Die Teutschen Volksbücher wieder neu herausgegeben hatte,43 hauptsächlich parataktische Satzstrukturen aufweist.44 Das Faustbuch muss auch als ein Grundtext des Peter Schlemihl angesehen werden. Der folgende deutsche Textabschnitt aus dem ersten Kapitel des Schlemihl besteht ganz aus einer parataktischen Reihe: Ich nahm den Hut auch ab, verneigte mich wieder, und stand da in der Sonne mit blobem Haupt wie angewurzelt. Ich sah ihn voller Furcht stier an, und war wie ein Vogel, den eine Schlange gebannt hat. Er selber schien sehr verlegen zu sein; er hob den Blick nicht auf, verbeugte sich zu verschiedenen Malen, trat näher, und redete mich an mit leiser, unsicherer Stimme, ungefähr im Tone eines Bettelnden.45

In der französischen Version kann festgestellt werden, dass die Sätze auch in einer parataktischen Aufreihung dargestellt werden, obwohl an manchen Stellen die Interpunktionszeichen anders gesetzt sind, manche Sprachbilder erweitert worden sind und manche verkürzt: Je lui útai donc aussi mon chapeau et lui rendis son salut. Je restai la tÞte nue, en plain soleil, immobile comme si j’eusse pris racine sur le sol : je le regardais fixement, avec une certaine crainte, et je ressemblais — l’oiseau que le regard du serpent a fascin¦; luimÞme paraissait embarrass¦; il n’osait lever les yeux, er (sic) s’avanÅait en s’inclinant — diff¦rentes reprises. Enfin, il m’aborde et m’adresse ces paroles, — voix basse, et du ton ind¦cis qui aurait convenu — un pauvre honteux:46

Diese Art in Französisch zu schreiben ist sehr ungewöhnlich und normalerweise kein Usus in der literarischen Schriftsprache oder unter französischen Schriftstellern und Dichtern. Hier kommt eine romantische Übersetzungstheorie zum 41 42 43 44 45 46

Zitiert nach Ernst 2005, S. 204. Vgl. ebd. Görres 1807, S. 207. Wolff 2009, S. 125. Chamisso 1836, S. 243–244. Chamisso 1838, S. 9–10.

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Tragen, die von Wilhelm von Humboldt aufgestellt worden ist. Der berühmte Sprachphilosoph und Denker hat in der Einleitung seiner Übersetzung (1816) von Aischylos Agamemnon aus dem Griechischen (485 v. Chr) für eine gute Übersetzung Folgendes gefordert: Soll aber das Uebersetzen der Sprache und dem Geist der Nation dasjenige aneignen, was sie nicht, oder was sie doch anders besitzt, so ist die erste Forderung einfache Treue. Diese Treue muss auf den wahren Charakter des Originals […] gerichtet seyn , so wie überhaupt jede gute Uebersetzung von einfacher und anspruchsloser Liebe zum Original […] ausgehen, und in sie zurückkehren muss. Mit dieser Ansicht ist freilich nothwendig verbunden, dass die Uebersetzung eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt, aber die Gränze, wo dies ein nicht abzuläugnender Fehler sein wird, ist hier sehr leicht zu ziehen. Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht; wo aber die Fremdheit an sich erscheint, […] da verräth der Uebersetzer, dass er seinem Original nicht gewachsen ist.47

Ein Postulat der Übersetzer der Romantik für eine gute Übersetzung war der Begriff der Treue. Damit setzten sie sich alle ab von der Art der Übersetzung der belles infidÀles nach französischem Muster, die im 18. Jahrhundert praktiziert wurde. Zuerst ist die „Treue“ zum „Charakter des Originals“ wichtig, und daraus resultierend soll die Übersetzung eine „gewisse Farbe der Fremdheit“ an sich tragen, wie es in der vorherigen Textpassage des Schl¦mihl zum Ausdruck kommt. Es zeigt sich, dass die französische Übersetzung der Form nach eine verfremdende ist, da sich viele der parataktischen Satzstrukturen des Originals erhalten haben, dem Inhalt nach aber eine adaptierende und einbürgernde, wie wir gleich weiter sehen werden. Ein Übersetzer, der zugleich Autor des Originaltextes ist, hat besondere Freiheiten. Ein herausragendes Charakteristikum ist dabei seine Kreativität, die die formale oder inhaltliche Erweiterung eines literarischen Werkes bewirkt. Er kann in einem Werk bewegen, was vorher für fest und unbeweglich gehalten worden ist, ohne dass es als eine komplette Neuschöpfung angesehen wird.48 Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die Analyse der kulturellen Referenten gelegt. Sie sind das frappierendste Beispiel für die Anpassung der Übersetzung an den Empfänger und für die kulturelle Vermittlung.49 Im Schlemihl sind mehrere kulturelle Referenten enthalten, von denen ich einige hier vorstellen möchte. Chamisso hatte im Jahr 1821 in einem Brief an seinen Bruder Hippolyte diesem Empfehlungen zur Übersetzung der Kleinodien, die der Graue aus seiner 47 Humboldt 1909, S. 132 (Hervorhebung CGB). 48 Vgl. AUTOTRAD 2007, S. 93–94. 49 Vgl. Tanqueiro 2007, S. 106.

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unergründlichen Tasche zum Tausch für den begehrten Schatten anbietet, übermittelt. Er verweist dabei auf die französischen Volkserzählungen, „wie sie im Munde jeder Kinderfrau“, um Ähnliches für die Übersetzung herauszufinden und erklärt die Bedeutung der deutschen Elemente.50 Im deutschen Text macht der seltsame Graue folgendes Angebot: Dagegen als Beweis meiner Erkenntlichkeit gegen den Herrn, überlasse ich ihm die Wahl unter allen Kleinodien, die ich in der Tasche bei mir führe: die ächte Springwurzel, die Alraunwurzel, Wechselpfennige, Raubthaler, das Tellertuch von Rolands Knappen, ein Galgenmännlein zu beliebigem Preis; doch, das wird wohl nichts für Sie sein: besser, Fortunati Wünschhütlein, neu und haltbar wieder restaurirt; auch ein Glücksseckel, wie der seine gewesen.51

In der französischen Version lautet das Anerbieten wie folgt: En ¦change, et pour prouver — Monsieur ma reconnaissance, je lui laisserai le choix entre plusieurs bijoux que j’ai avec moi. L’herbe pr¦cieuse du pÞcheur Glaucus; la racine de Circ¦; les cinq sous du juif errant; le mouchoir du grand Albert; la Mandragore; l’armet de Mambrin; le rameau d’or ; le chapeau de Fortunatus, remis — neuf, et richement remont¦, ou si vous pr¦f¦riez sa bourse .52

Die Wunderdinge sind bis auf drei Elemente sehr verschieden: Das Element „l’herbe pr¦cieuse du pÞcheur Glaucus“ bezieht sich auf die Legende des berühmten Fischers Glaukos, der in der griechischen Stadt Anthedon in Böotien gelebt haben soll. Eines Tages soll er nach einem Fischfang bemerkt haben, dass die Fische, die er auf das Gras gelegt hatte, plötzlich wieder Kraft und Leben bekamen und sich zurück in den Ozean stürzten. Er kam auf den Gedanken, auch von diesen Graskräutern zu essen, und soll daraufhin sofort ins Meer gesprungen sein, wo er von den Meeresgöttern als einer der unsterblichen Ihren aufgenommen worden sei.53 Für die „Alraunwurzel“ („Mandragora officinarum“ nach ihrem botanischen Namen) hatte Chamisso in seinem Brief schon „la Mandragore“ angegeben. Die „Mandragore“ ist eine sehr giftige Tollkirsche, die vor allem in Mittelmeergebieten wächst. Wegen der Form ihrer Wurzel, die manchmal an die Form eines Mannes oder einer Frau erinnert, und wegen des phosphoreszierenden Scheins, den die Beeren im frühen Morgenlicht abgeben, wurden ihr magische Eigenschaften zugeschrieben. In der griechischen Antike wurde die Pflanze „l’herbe

50 51 52 53

Rath 1919, S. 28. Chamisso 1836, S. 245. Chamisso, 1838, S. 12. Vgl. Gaedechens 1890, Sp. 1678–1680 und Ziegler / Sontheimer 1964–1970, Zweiter Band, S. 810.

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de Circ¦“ oder „la plante de Circ¦“ genannt, also hier das Äquivalent von „la racine de Circ¦“.54 Das Element „les cinq sous du juif errant“ bezieht sich auf die Legende von einem jüdischen Schuster, der zum ewigen Umherirren verurteilt wurde, weil er Christus, der sein Kreuz trug, einen Augenblick des Innehaltens und der Ruhe verweigert hatte. Er durchstreift die Welt, sein Körper erneuert sich in jedem Jahrhundert, wie auch die „cinq sous“, die fünf Pfennige, die er auf einmal ausgeben kann und die er immer wiederfindet.55 Dieses Motiv ist wohl als Pendant zu den Wechselpfennigen oder dem Raubtaler gedacht, die sich ebenfalls vervielfältigen können. Das Element „le mouchoir du grand Albert“ verweist auf ein Zauberbuch, das Le Grand Albert genannt wurde und dessen erste lateinische Handschriften bis ins 13. Jahrhundert zurückgehen sollen. Seine Autorschaft ist fälschlicherweise Albertus Magnus zugeschrieben worden. Nach einer langen Geschichte von Übersetzungen in verschiedene europäische Sprachen, zeitweiligen Verboten und auch von Veränderungen im Text, soll es im 19. Jahrhundert noch in ländlichen Gegenden populär gewesen sein.56 Das Buch handelt vom Einfluss der Sterne auf die Konzeption, auf die Geburt der Kinder und auf den Gebrauch bestimmter Kräuter, es enthält Rezepte für die magische Anwendung von bestimmten Steinen, Geheimrezepte, um Eisen zu erhärten, zu erweichen oder zu vergolden oder Rezepte für abführende Kataplasmen und Heilmittel gegen alle möglichen Leiden.57 Der Ausdruck „l’armet de Mambrin“ hebt ab auf den verzauberten Helm des Mambrin, eines maurischen Königs, der von den christlichen fahrenden Rittern begehrt wurde, weil er der Legende nach denjenigen, der ihn trug, unverwundbar machte.58 Der „rameau d’or“ ist ein Motiv aus einem Märchen von Marie-Catherine d’Aulnoy (1650–1705).59 Der „rameau d’or“ ist ein kostbarer, aus Gold gearbeiteter Zweig, der mit roten Rubinen verziert ist, die wie Kirschen an ihm hängen. Er hat wunderbare Eigenschaften. Schon durch ein einzelnes Blatt kann der Besitzer zu ewigem Reichtum gelangen, er bringt Geld, er löst Verzauberungen oder Verwünschungen, und er gibt Schönheit und ewige Jugend.60 54 55 56 57 58 59

Vgl. Guiley 1989, S. 223. Vgl. Klauber 2014. Vgl. Le Grand et le Petit Albert 1970, S. 7–21. Vgl. ebd. S. 69–187. Vgl. Wahlen 1843, S. 548. Marie-Catherine d’Aulnoy hielt einen literarischen Salon in Paris, sprach mehrere Sprachen, malte, musizierte und widmete sich vor allem dem Schreiben von Feenmärchen. Eine ihrer berühmtesten Geschichten ist das Märchen Le Rameau d’or (vom „Goldenen Zweig“). Vgl. Merdrignac 2007. 60 Vgl. Cagnat-Debœuf 2008, S. 210.

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Die wichtigsten kulturellen Referenten in der Geschichte bleiben die Utensilien des Fortunatus, das Glückssäckel, daneben wird auch noch das Wünschhütlein („le chapeau de Fortunatus“) genannt. Die alte Fortunatus-Geschichte ist seit ihrer ersten Aufzeichnung im Jahr 1509 auch durch Übersetzungen in Frankreich bekannt geworden, vor allem durch die Auflage der Nouvelle BibliothÀque bleue61 im Jahr 1783. Eines der Hauptmotive des Schlemihl konnte also ohne Probleme in den französischen Text übernommen werden. Nach alledem soll der wichtige literarische Aspekt, das poetische Leitmotiv, nicht vergessen werden. Das Leitmotiv im Schlemihl ist der „Mann im grauen Rock“ und die graue Farbe schlechthin. Die Formulierung im Deutschen vom „Mann im grauen Rock“62 ist dabei die herausragendste und am meisten verwendete, die im Text auch in Varianten vorkommt, wie „der seltsame graue Mann“63 oder „der gefällige Mann […] im grauen Kleide“64 und ähnliche. Im französischen Text wird dieses Motiv meistens von „l’homme en habit gris“65 übersetzt, manchmal mit dem Zusatz „l’homme ¦trange en habit gris“66 oder einfach durch „l’homme gris“67 oder „l’inconnu“68 oder „l’odieux homme gris“.69 Die Formulierung „l’homme en habit gris“ ist dabei die häufigste. Die Farbe „grau“ erscheint auch in anderen deutschen Ausdrücken wie „Mir war schon lang unheimlich, ja graulich zu Mute […]“70, aber in der Übersetzung kommt dieser Anklang meistens nicht zum Tragen. Ein anderer kultureller Referent ist der Ausdruck „Kurtka“ im Vorwort, ein polnisches oder russisches Wort für Jacke und ursprünglich Benennung für einen russisch-polnischen Waffenrock. Anstatt im Französischen das Wort ganz einfach mit „veste“ oder „blouson“ wiederzugeben, wie es die meisten französisch-polnischen Lexika vorschlagen, hat Chamisso hier den jiddischen Ausdruck „Kurtke“71 benutzt, um die ursprüngliche sprachliche Eigenart zu erhalten.72 Im französischen Text kann einerseits oft eine Tendenz zur Vereinfachung der Wiedergabe der einzelnen Motive oder Begriffe beobachtet werden, was immer wieder auch durch Auslassungen verursacht wird. Andererseits sind in vielen 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Vgl. Velay Vallantin 1984, S. 164–165. Chamisso 1836, S. 241. Ebd. S. 243. Ebd. S. 241. Chamisso 1838, S. 5ff. Ebd. S. 9. Ebd. S. 8. Ebd. S. 21 und S. 26. Ebd. S. 63. Chamisso 1836, S. 242. Vgl. W3-Dictionary. Chamisso 1838, S. VI.

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Fällen im selben Satz Umformulierungen vorhanden und viele andere Ausdrücke sind dann wieder mit Erweiterungen versehen oder verdeutlicht übertragen worden. Desgleichen sind manche Metaphern teilweise moduliert73 wiedergegeben worden. All dies gehört ebenfalls zur kulturellen Vermittlung. Das war ein kleiner Auszug aus den Charakteristika des französischen Schlemihl, für dessen vollständige Textanalyse hier der Raum leider nicht gegeben ist. Im Nachlass von Chamisso existiert noch ein handschriftliches Manuskript des Dichterbruders Hippolyte mit einer französischen und von Chamisso korrigierten Übersetzung des Schlemihl, das offenbar für die erste französische Veröffentlichung im Jahr 1822 bestimmt war74 und das ich in meiner Dissertation behandle.

Le château de Boncourt, En prose und En vers Abschließend möchte ich zu den beiden französischen Versionen von Das Schloß Boncourt übergehen, die neue Einsichten in die Übersetzerpraxis von Chamisso vermitteln können. Sie liegen in einer Prosa- und in einer Versfassung vor (vgl. im Anhang). Die deutsche Fassung dieses Gedichts besteht aus neun Vierzeilerstrophen, deren Verse mit drei Versfüßen, daktylischen oder doppelten Senkungen, klingender und stumpfer Kadenz im Wechsel und einem durchbrochenen Reimschema ausgestattet sind. Das Schema des Metrums sieht aus wie folgt: . . . x X xx X xx X x x . . . x X xx X xx X a . . . x X xx X xx X x x . . . x X xx X xx X a Es handelt sich bei dieser Strophenform um eine Variante der Nachbildung der Volksliedstrophe. Nachdem Herder im Jahr 1778 mit seinen Übersetzungen der Volkslieder das Volkslied populär gemacht hatte und vor allem im Jahr 1806 der erste Band der Volkslieder-Sammlung Des Knaben Wunderhorn von Clemens Brentano und Achim von Arnim erschienen war, war diese Form der Dichtung zu Anfang des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus sehr beliebt. Sie findet sogar 73 Eine Modulation ist ein „Übersetzungsverfahren“, bei dem eine „Aussage“ des „Ausgangstextes“ im „Zieltext“ eine Änderung der Sichtweise erfährt. Bei Modulationen können u. a. folgende Ausdrucksverschiebungen auftreten: die Verwendung eines Teils für das Ganze (pars pro toto), eines abstrakten Ausdrucks für einen konkreten, einer passivischen Konstruktion für eine aktivische (und umgekehrt). Vgl. Delisle / Lee-Jahnke / Cormier 1999, S. 357. 74 Dennerlein 2013, S. 99 (dort mit der Sigle hF2 bezeichnet).

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bis heute Verwendungen in der modernen Poesie. Viele Versmaße von Chamissos Gedichten sind Nachbildungen von Volksliedstrophen, entweder in dieser oder in abgewandelten Formen verfasst. Die Volksliedstrophe gilt als eine der musikalischsten und liedhaftesten unter den Gedichtformen,75 die Variante von Chamissos Gedicht, bei der die Freiheit doppelter Senkungen ausgeschöpft wurde, war seit dem Jahr 1790 eine rasch beliebte Strophenform des Kunstlieds geworden.76 Die Übersetzung des Gedichts En prose vom Jahr 1828 hatte Chamisso zusammen mit der zweiten Auflage des Schlemihl an seinen Bruder Hippolyte und dessen Familie in Paris geschickt. Der Dichter wollte dadurch sein Werk seiner Verwandtschaft näher bringen. Diese Version ist nie zu Chamissos Lebzeiten in einer seiner Werkausgaben veröffentlicht worden. Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine sehr dichte, etwas wörtlichere Übersetzung, in der die Gedanken und Gefühle des Dichters wiedergegeben sind. Nichtsdestoweniger lassen sich schon hier Ansätze zum Reim und Assonanzen erkennen. Diese Fassung ist dem Original gegenüber inhaltsgetreuer als die Übersetzung En vers, bei der Chamisso mit der Sprache gespielt hat und bei der der Lyriker auf den Plan tritt. Der Leser könnte geneigt sein, Erstere als eine Rohfassung der späteren Versübersetzung zu betrachten, beide Versionen sind aber auf ihre Art mit künstlerischem Geschick ausgeführt worden und verdienen jeweils eine individuelle Würdigung. Dies wird am besten durch ein Zitat von Goethe illustriert. Goethe hatte in seiner Schrift Dichtung und Wahrheit für das prosaische Übersetzen von Gedichten plädiert, nachdem er die Prosaübersetzungen einiger Werke von Shakespeare von Christoph Martin Wieland (1733–1813) gelesen hatte: „Ich ehre den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst zur Poesie wird, aber das eigentlich tief und gründlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und Fördernde ist dasjenige, was vom Dichter übrigbleibt, wenn er in Prosa übersetzt wird.“77 Was dagegen die metrische Übersetzung von Gedichten anbelangt, so ist Chamisso vor allem den Theorien und Vorgaben von August Wilhelm von Schlegel verpflichtet, wie sich an folgenden Zitaten aus Schlegels Aufsatz Etwas über Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters aus dem Jahr 1796 und dem Vorwort der Übersetzung von B¦ranger’s Lieder von Chamisso und Franz Freiherr von Gaudy aus dem Jahr 1838 sehen lässt. Schlegel drückt seine Gedanken über das Übersetzen mit diesen Worten aus: Wenn es nun möglich wäre, ihn [Shakespeare] treu und zugleich poetisch nachzubilden, Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Theil der 75 Vgl. Kayser 2002, S. 40. 76 Vgl. Frank 1980, S. 115. 77 Goethe 1908, S. 524.

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unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen!78

Im zweiten Teil des Vorworts von B¦ranger’s Lieder steht: „Beider Bearbeiter Grundansicht war aber, das Wort dem Geiste zu opfern, lieber lose und frei über dem Original zu schweben, als dessen Farbe zu verwischen, sich eher selber zu emancipieren, als den Autor herabzuziehen.“79 Die Verwandtschaft der beiden Aussagen ist offensichtlich und zeigt, dass die romantischen Lehren von Schlegel für Chamisso auch noch in der Epoche des Biedermeier und danach maßgebend waren. August Wilhelm von Schlegel war einer der größten deutschen Übersetzer. In seiner romantischen Sprachtheorie erscheint die Sprache als „als eine Art Urpoesie der Menschheit“, eine Sprachursprungstheorie, die auf den in Deutschland vor allem durch Herder angestellten Überlegungen zur ,Ursprache‘ fubt und auf den Überlegungen von Rousseau, der den metaphorischen Charakter und die rhythmische, also musikalische, Struktur der Ursprache sowie allgemein den gemeinsamen Ursprung von Sprache, Spiel, Tanz und Gesang postuliert hatte.80 Durch die Poesie und Dichtung sollte die ursprüngliche Einheit der verschiedenen Disziplinen wieder hergestellt werden. Dabei gehörte der Metrik Schlegels besondere Aufmerksamkeit. Er sagte: „Zur Poesie und Musik mub […] etwas Menschliches kommen; zur Musik mub dann auch der Takt kommen“.81 Die Grundvoraussetzung für eine echte poetische Übersetzung muss demnach die „Entsprechung metrischer Formen“ sein,82 d. h. das Original-Versmaß muss genau nachgebildet werden.83 Zudem waren für Schlegel Poesie und Übersetzung musikalisch, wie diese Zitate zeigen: Alle unmittelbare Darstellung innerer Zustände, d. h. aller Ausdruck ist entweder mimisch oder musikalisch. Da nun der mimische Ausdruck einer einzelnen Gemütsbewegung sich gar nicht von wirklicher Natur unterscheiden läßt und also auch nicht ins Gebiet der Kunst gehören würde, so ist der Ausdruck im lyrischen Gedichte notwendig musikalisch.84 Freilich wäre mit der bloßen Theorie wenig geholfen, wenn man nicht die Kunst selber besitzt, ich arbeite daher, mir diese zu erwerben, und Sie müßten den überschickten Gesang als einen meiner vielen Studien dazu betrachten.85

78 79 80 81 82 83 84 85

Böcking 1846, Siebenter Band, S. 39–40 (Hervorhebung CGB). Chamisso / Gaudy 1845, S. XIII (Hervorhebung CGB). Vgl. Strobel 2010, S. 79. Zitiert aus Strobel 2010, S. 169. Vgl. ebd. S. 170. Vgl. Gebhardt 1970, S. 87. Behler / Jolles 1989, S. 70. Böcking 1846, Vierter Band, S. 127.

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Chamisso war bestens mit dem Gedankengut Schlegels vertraut. So lässt sich auch Chamissos Beziehung zur Musik und Wortmusik, wie er sie in der Strophe des „Lyrikers“ ausgedrückt hat, auf die Übersetzung übertragen. Der Dichter hat oft bei seinen poetischen Übersetzungen angeführt, dass das Originalversmaß respektiert worden sei. Beim Gedicht Le ch–teau de Boncourt in Versen hat er versucht, ein traditionelles deutsches Versmaß ins Französische zu übertragen. Es ist ihm auch fast bei allen Versen gelungen, wenn man das Gedicht nach dem Fall der natürlichen Betonungen betrachtet. Dazu hat er auch den Reim übertragen, und die französische Version ist besonders kunstvoll, da sich die erste und dritte Zeile der Strophe reimen. Für Chamisso waren Reime schon seit seinen Anfängen in der Dichtkunst ein wesentliches Element gewesen, wie es zudem aus den vielen handschriftlichen Reimlisten in seinem Nachlass ersehen werden kann. In diesem Sinne hatte auch Schlegel immer großen Wert auf die Beibehaltung des Reims bei der Übersetzung gelegt, da er ein wesentlicher Bestandteil des „eigenthümlichen Kolorits“ einer Dichtung sei, selbst mit der Konsequenz „einer weniger wörtlichen Treue“.86 Chamissos Gedicht enthält demgemäß inhaltlich einige Freiheiten gegenüber dem Original, was wieder der kreativen Freiheit des Selbstübersetzers und einer bildlichen und textuellen Erweiterung des Werks zugeordnet werden kann. Für Schlegel war ein Gedicht in seiner Form eine organische Einheit, weshalb bei der Übersetzung das Versmaß, das Metrische und jedes Detail des Charakters des Originals möglichst getreu wiedergegeben werden mussten. Chamisso war stolz auf seine genauen metrischen Übersetzungen, und deshalb muss unter Anführung einer „impliziten“ Übersetzungstheorie87 angenommen werden, dass er das Konzept des Organischen kannte und sich auch zu eigen gemacht hatte.

Chamisso, sein geliebtes „Heu“ und Jean-Jacques Rousseau Abschließend möchte ich noch ein Faktum vorstellen, das Chamisso als Übersetzer auszeichnet: Das berühmte Wort „Heu“, mit dem Chamisso liebevoll seine Pflanzen bezeichnet und das in seinen Schriften oft zu finden ist, ist bisher nicht von der Forschung hinterfragt worden. Es ist eigentlich eine Übersetzung aus dem Französischen. Jean-Jacques Rousseau (1712–1787) hatte seinerzeit auch Botanik betrieben. In seinen berühmten RÞveries du promeneur solitaire spricht er in der SeptiÀme Promenade von seiner Leidenschaft für diese Aktivität.88 In 86 Zitiert nach Becker 1998, S. 114. 87 Vgl. Koller 2011, S. 28f. 88 Vgl. Rousseau 2001, Introduction, S. 29.

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diesem Kapitel und sehr oft in seiner Korrespondenz bezeichnet er seine Pflanzen als „foin“, wie es der folgende Abschnitt aufzeigt: Je ne peux rien — mon sort, je n’ai que des inclinations innocentes et tous les jugements des hommes ¦tant d¦sormais nuls pour moi, la sagesse mÞme veut qu’en ce qui reste — ma port¦e je fasse tout ce qui me flatte, soit en public soit — part moi, sans autre rÀgle que ma fantaisie, et sans autre mesure que le peu de force qui m’est rest¦. Me voil— donc — mon foin pour toute nourriture, et — la botanique pour toute occupation.89

Chamisso hat Jean-Jacques Rousseau sehr stark rezipiert und die meisten seiner Werke gelesen. Offensichtlich hat er diesen Ausdruck daraus entnommen und übersetzt. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass in Chamissos Schreibwelten die Übersetzung eine zentrale Rolle einnimmt. Dies ist bestätigt allein durch die Tatsache, dass er im Rollengedicht Herein! den Übersetzer mit seinen Qualitäten als besondere Figur aufführt und hervorhebt und sich dadurch sogar selbst als Übersetzer stilisiert. Die Einblicke in seine Sprach-, Schreib- und Übersetzungstheorien, die anhand der Analyse dieses Gedichts, der französischen Übersetzungen des Schlemihl und des Gedichts Das Schloß Boncourt gewonnen werden konnten, zeigen auf, wie der Dichter mit den ästhetischen, poetologischen und wissenschaftlichen Debatten und Diskursen seiner Zeit vernetzt war. Chamisso hat nicht nur Gedichte übersetzt. Die Übersetzung hat ihn sein Leben lang begleitet, und es muss festgehalten werden, dass Übersetzung ein integraler Bestandteil seiner Poetik und Sprache ist.

Textanhang Der deutsche Text von Das Schloß Boncourt folgt der Ausgabe Chamisso 1975, S. 192f. Die beiden französischen Versionen En prose und En vers sind Transkriptionen von mir aus dem Nachlass von Chamisso. (Bei der Transkription sind Zeilenanordnungen, Orthographie und Zeichensetzung von Chamisso respektiert worden.)

89 Vgl. ebd. S. 131.

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Das Schloß Boncourt

Le ch–teau de Boncourt

Ich träum als Kind mich zurücke, Und schüttle mein greises Haupt; Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder, Die lang ich vergessen geglaubt?

En vers Je rÀve encore mon jeune age Sous le poids de mes cheveux blancs, Tu me poursuis, fidÀle image, Dont n’a pas triomph¦ le temps.

Hoch ragt aus schatt’gen Gehegen Ein schimmerndes Schloß hervor, Ich kenne die Türme, die Zinnen, Die steinerne Brücke, das Tor.

Du sein d’une mer de verdure Un ch–teau s’¦lÀve en donjon, Oui, j’en reconnois la toiture, Les tours, les crenaux, le fronton.

Es schauen vom Wappenschilde, Die Löwen so traulich mich an, Ich grüße die alten Bekannten, Und eile den Burghof hinan.

Ces lions de nos armoiries Ont encor leur regard d’amour; Je vous souris, gardes cheries, Et je m’¦lance dans la cour.

Dort liegt die Sphinx am Brunnen, Dort grünt der Feigenbaum, Dort, hinter diesen Fenstern, Verträumt ich den ersten Traum.

Voil— le Sphinx — la fontaine, Voil— le figuier verdoyant, L— s’¦vanouit l’ombre veine Des premiers songes de l’enfant.

Ich tret in die Burgkapelle Und suche des Ahnherrn Grab, Dort ist’s, dort hängt vom Pfeiler Das alte Gewaffen herab.

De mon ayeul dans la chapelle Je cherche et revois le tombeau, Voil— la colonne — laquelle Pendent ses armes en faisseau.

Noch lesen umflort die Augen Die Züge der Inschrift nicht, Wie hell durch die bunten Scheiben Das Licht darüber auch bricht.

Ce marbre que le soleil dore Et ces caractÀres pieux – Non, je ne puis les lire encore Une voile humide est sur mes yeux.

So stehst du, o Schloß meiner Väter, Mir treu und fest in dem Sinn, Und bist von der Erde verschwunden, Der Pflug geht über dich hin.

FidÀle Ch–teau de mes pÀres Je te retrouve tout en moi – Tu n’es plus, superbe naguÀres, La charrue a pass¦ sur toi.

Sei fruchtbar, o teurer Boden, Ich segne dich mild und gerührt, Und segn’ ihn zwiefach, wer immer Den Pflug nun über dich führt.

Sol que je ch¦ris, sois fertile Je te b¦nis d’un cœur serein, Et b¦nis encor l’homme utile Dont le soc sillonne ton sein.

Ich aber will auf mich raffen, Mein Saitenspiel in der Hand, Die Weiten der Erde durchschweifen, Und singen von Land zu Land.

Je me relÀve et prends ma lire Devant moi l’espace est ouvert, Avance, chante, fais r¦dire Tes vers — l’¦cho du desert.

Adelbert von Chamisso (1827)

Adelbert von Chamisso (1829)

Adelbert von Chamisso als Selbstübersetzer

Le ch–teau de Boncourt En prose Je rÀve de nouveau mon enfance et secoue mes cheveux blancs. comment me rechercher encor, images que je croyois dÀs longtemps ensevelies dans l’oubli? Un chateau resplendisant domine des enceintes de verdure, je les connois, ces tours, ces creneaux, ce pont de pierre, cette entr¦e. Les lions qui supportent l’¦cusson me contemplent d’un regard affectueux; Je salue ces vieux amis et m~¦lance dans la haute cour. Voil— le Sphinx au bord de la fontaine, – voil— l’antique figuier – et l— – oui, ce sont l— les crois¦es derriÀre lesquelles je me suis r¦veille de mon premier songe! Je p¦nÀtre dans la Chapelle et cherche des yeux la tombe de mon ayeul: l— voil— – je reconnois la vielle armure appendue — ce pilier. Mes yeux humides se voilent et n’en peuvent encor d¦chifrer l’¦pitaphe, c~est en vain que l~¦claire la lumiÀre vive qui y tombe — travers des vitres color¦s Chateau de mes pÀres, tu m’es donc rest¦ stable et fidÀle dans la m¦moire et tu as disparu de la terre, la charrue sillonne le sol que tu occupois! Terre ch¦rie, sois fertile, attendri et sans amertume Je te benis, et beni doublement, quel qu’il soit, celui dont la charrue ouvre ton sein. Pour moi, Je me releverai ma lyre en main, par courrai les espaces de la terre et de pays en pays repeterai mes chansons. Adelbert von Chamisso (1828)

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Caroline Gerlach-Berthaud

Abbildungen Abbildungen 1–3, aus: Chamisso, Adelbert von: Merveilleuse histoire de Pierre Schl¦mihl. Enrichie d’une savante pr¦face o¾ les curieux pourront apprendre ce que c’est que l’ombre. Paris, Leipzig, Nuremberg 1838. Staatsbibliothek zu Berlin – PK / Abteilung Historische Drucke / Signatur: 19 ZZ 2786.

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Roland Berbig

Chamissos Notizbuch 1828. Analytische Stichproben

Unter Wissenschaftlern, die Erfahrung mit Nachlassarbeit haben, kursiert die Gewissheit: Wer ins Archiv geht, findet immer etwas. Das ist so unzweifelhaft wahr wie anfechtbar. Findet er, was er sucht, oder findet er, was er nicht gesucht hat, aber nun als Fund verbucht? Diktiert der Nachlass und seine Ordnung bzw. Unordnung jenes Finden oder verwandelt der Akt des Suchens den Nachlass selbst, sein Profil, seine Beschaffenheit und letzthin sein Ordnungsgefüge? Das Bild, das der Nachlass abgibt, ist Gabe und Gegebenes zugleich. Es ist Spiegel wie Gespiegeltes, und dunkler Grund ist es auch. Der Verursacher eines Nachlasses gibt das preis, was einmal Ur-Sache gewesen ist, und verursacht gleichermaßen das Preisgegebene: ein Anderes, ein Neues. Was die Praxis von Nachlassarbeit ist, wird zur Voraussetzung ihrer Theorie, das eine bedingt das andere – beide zusammen markieren das Phänomen. Was von ihr ausgeht, geht ein in das Autoren-Arbeitsbild, das entsteht, wo die schriftstellerische Überlieferung keine Konsultations-, sondern Teil einer Re-Konstituierungsgröße wird. Keine historisch-kritische Ausgabe bannt es, selbst digitale Editionen stoßen an Grenzen. Es gewinnt sein Profil, wo es in Dialog tritt zum Gedruckten, das es begründet, auf dessen Grund es aber nicht stehen muss. Der dieses Terrain betritt, wird, wenn es gut geht und er aufmerksam ist, Augenzeuge von einem sich findenden Schreiben, das sich der Dokumentation jenseits von Faksimile oder Scan entzieht, sich verflüchtigt oder verzerrt wird. Kaum eine Gattung vermag Phänomene der eingangs skizzierten Art besser zu kristallisieren und damit kenntlich zu halten als Notizbücher. Das ist, natürlich, Behauptung. Sie beruht auf einer Erfahrung, die nur dann haltbar bleibt, wird sie wieder und wieder belegt. Michael Rutschky hat einen Essay über den Notizkalender (eine Gattung aus der unmittelbaren Nachbarschaft) getitelt „Vor

Monika Sproll, Dr. Jutta Weber, Prof. Dr. Erdmut Wizisla (Akademie der Künste / Berlin) und unserer studentischen Arbeitsgruppe habe ich zu danken für die Begleitung bei diesem anregenden Chamisso-Ausflug.

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dem Schreiben“.1 Das klassifiziert den Begriff „Schreiben“, unterschätzt aber, dass auch dieses schriftliche Festhalten schon im Einzugsgebiet von „Schreiben“ liegt. Hypomnema nannte man im klassischen Griechenland solche Bücher, übersetzt heißt das so viel wie niedergelegte Erinnerung. Hermann Eichele fixierte diesen Terminus „für konkrete Dinge, die zur Erinnerung dienen (sollen), wie Bilder, Gräber, Denkmäler und insbesondere schriftliche Aufzeichnungen in Prosa“, wobei das Spektrum „von privaten Notizen über Urkunden und Akten bis zu wissenschaftlichen Abhandlungen […]“2 reiche. Nicht für die Öffentlichkeit gedacht, haftet den Notierungen ein Übergangsstadium an. Und im wikipedia-Eintrag, griffig formuliert, heißt es: […] Sie dienten als Gedächtnisstützen, waren aber auch persönliche Leitfäden zur Lebensführung. In sie trug man Zitate, Teile von Arbeiten, Aphorismen und Beispiele ein. Aber auch Handlungen, deren Zeuge man gewesen war oder über die man Berichte gelesen hatte, Gedanken und Überlegungen, die man gehört hatte oder die einem selbst in den Sinn gekommen waren. Das Hypomnema bildete ein materielles Gedächtnis gelesener, gehörter und gedachter Dinge und bot diese dem Benutzer als einen angehäuften Schatz zum Wiederlesen und für spätere Meditationen an. […]3

Der Anthropologe Michael Taussig verlieh für seine Feldforschungstheorie dem Notizbuch einen exklusiven Status,4 und er konnte sich dabei, wie so häufig, auf Walter Benjamin als stichwortgebenden Gewährsmann berufen. Für Benjamin waren Notizbücher unerlässlich, sie garantierten ihm in Gestalt und Gehalt individuelle Wissensspeicher. „Vielleicht weißt Du garnicht [!]“, schrieb Benjamin, „wie schön es ist, die wechselnden und ungleich gearteten Gedanken so vieler Jahre immer wieder gastfreundlich von den zartesten und saubersten Quartieren, die Du ihnen anweist, aufgenommen zu sehen.“5 Diese „zartesten und saubersten Quartiere[]“ waren ihm seine Notizbücher. Was den Schreibenden unverzichtbares Arbeitsmaterial mit nicht selten magischer Kraft war und ist, ist für die erschließende Nachwelt – und die edierende zumal – eine Herausforderung und, je nach Kanonisierungsgrad des Autors, Anlass meist stiller Kapitulation. Dem Zauber, den dieses Schreib- und Schriftmedium ausstrahlt, droht durch die Schwierigkeit, ihn in Druckbares und Wissen und Wissenswertes zu übersetzen, die Auflösung.6 1 2 3 4 5

Rutschky 2002. Eichene: Art. „Hypomnema“, Sp. 122. Zit. nach http://de.wikipedia.org/wiki/Hypomnema [18. 01. 2014]. Siehe Taussig 2011. Walter Benjamin an Alfred Cohn, 2. Januar 1933. Zit. nach: Walter Benjamin Archiv 2006, S. 122. 6 Neben den editorischen Bemühungen, denen in der Regel transkriptorische vorausgehen und die zuweilen von Entmutigungsphasen begleitet werden, etwa bei Thomas Mann oder Bertolt Brecht, sind in jüngster Zeit die zu Theodor Fontanes Notizbüchern der Theodor Fontane-

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Die Notizbücher Chamissos, schreibt Michael Bienert in seiner feinen, kleinen Studie, rangieren „in der überlieferten Ordnung“ von dessen Nachlass „ganz am Ende.“ Er konstatiert generell eine „Zurückhaltung der Forschung bei der Auswertung“ solcher Bestände, die sich nicht allein, aber doch auch aus der „bisher fehlende[n] Feinerschließung“ erklären lässt. Sie sei „symptomatisch“7 für den Umgang mit derartigen überlieferten Zeugnissen, indes nicht hinnehmbar. Mag die Zuwendungsschwelle bei Autoren bzw. Autorinnen, von denen sich die Nachwelt hinlänglich unterrichtet meint, niedrig sein, so hebt sie sich umgehend bei jenen, deren Quellenlage dünn und das Nachweltwissen entsprechend schmal ist. Man möchte mehr wissen, die Notizbücher, trotz ihrer häufig kryptischen, lückenreichen und fragmentarischen Züge, versprechen es. Das trifft auf die Situation Chamissos zu: Die biographischen wie werkgeschichtlichen Quellen sprudeln in Maßen, wenn nicht mäßig, und ihre Aufbereitung steht in keinem Verhältnis zu Chamissos europäischem Rang. Für den hier unternommenen Anlauf bedeutete das Anreiz, Herausforderung und Wagnis in einem. Sich genauer den Notizbüchern zu widmen, lockte schließlich mehr als die ebenfalls große Verführungskraft, die von den Briefzeugnissen, an denen es nicht mangelt, ausgeht, oder als eine kritische Sichtung noch nicht zugeordneter Einzelblätter und kleinerer Konvolute. Wo die einen auf einen personengebundenen Schreibvorgang zielen und die anderen sich im meist Unbestimmbaren zu verlieren drohen, suggerieren die Notizbücher Geschlossenheit wenigstens formal: Buchdeckel begrenzen, was ins Grenzenlose weist. Aber das sind schon erste Thesen. Das Wechselverhältnis von Finden und Gefundenwerden im Dickicht der so verschiedenartigen handschriftlichen Einträge begleitete die Gruppe der Studierenden auf ihren ersten Wegen in das kleine Büchlein, das die Signatur Nachlass Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6 trägt. Angelegt hat es Chamisso 1828 als Briefjournal (vgl. Blatt 2r), mithin am Beginn einer ungemein intensiven Dichtungsphase, die bis 1834 währen sollte. Anspielungsreich hat man von „sieben poetisch fetten Jahre[n]“8 gesprochen Forschungsstelle an der Georg-August-Universität Göttingen zu nennen. Vgl. http://textgrid. de/fileadmin/praesentationen/tg-summit-2012/poster-fontane-1.pdf [18. 01. 2014] und Radecke 2010. 7 Bienert 2013, S. 107. Bienerts Text gibt einen komprimierten und konstruktiven Einstieg in die Welt von Chamissos Notizbüchlein, ergänzt um Verweise auf die allgemeine Forschungsund Editionslage. Als dieser grundlegende Text Bienerts veröffentlicht wurde, war unsere Arbeitsgruppe schon durch jenes Untersuchungstor geschritten, auf das Bienert mit so wacher Nachdrücklichkeit verweist. Für seine Anregungen auch während der Tagung selbst sind wir ihm zu Dank verpflichtet. 8 Vgl. Osterkamp 2014, S. 86. Einen freundlichen Dank an Prof. Dr. Ernst Osterkamp, der uns seinen aufschlussreichen und für den Zugang zu diesem Notizbuch hilfreichen ChamissoAufsatz noch vor Drucklegung zur Verfügung stellte.

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und Chamisso zu Recht eine atemberaubende poetische Wendung vom „früh vergreisten Kind[-]“ zum „jugendlichen Greis[-]“9 attestiert. Jean-Jacques AmpÀre, Franzose wie er und Globe-Herausgeber, hat nach einer Begegnung mit Chamisso 1827 in dessen Zügen „einen eigenthümlichen Ausdruck von Wohlwollen und Festigkeit“ beobachtet, „es lag darin gleichzeitig etwas Zartes und Kräftiges, Abgespanntes und Kühnes.“10 Chamisso selbst klagte im Januar 1828 gegenüber einem anderen Landsmann, Louis de la Foye, über ein Leben „im gewohnten kurzen Schritte“ „am äußern Ufer der Geschichte“11. Und im Juni desselben Jahres verstand er, in der Botanik wie bei den Musen bewandert, sich zu dem Bekenntnis, er glaube fast, er „sei ein Dichter Deutschlands“: „Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle.“12 Dass das Notizbüchlein dieses werkgeschichtlich gewichtigen Jahres ein akuter Gebrauchsgegenstand war, bezeugen die Spuren, die jene Zuweisung hinterließ: Die Kanten sind abgestoßen, das Papier ist zum Teil fleckig, nicht alle Seiten haben die Zeit in der Hand ihres Benutzers unbeschadet überstanden (Ein- und Abrisse u. ä.). Das Büchlein umfasst 116 unlinierte Seiten, zu Beginn sind einige Blätter weitgehend herausgetrennt worden (drei Seiten vollständig, vier Seiten zum Teil). Bemerkenswert ist das, weil dabei kein Wert auf Notiertes gelegt wurde, selbst wenn es Verse waren – es sei denn, Mutwille von fremder (vielleicht kindlicher) Hand waltete. Nicht ungewöhnlich, aber doch als Eigenart des Dokuments muss gelten, dass es einmal regulär von vorne beschrieben und dann gewendet wurde, um es von seinem Ende her wie ein unbeschriebenes ,neues‘ Buch zu nutzen. Ungefähr in der Mitte treffen sich die beiden Partien, gewissermaßen paritätisch. Einige Seiten überschneiden sich in dieser Benutzung. Man muss das Buch drehen, um alles zu entziffern. Es ist, als sei es Chamisso egal gewesen, wo dessen Anfang und Ende sei. Ein zweifelsfreier Grund für diese Buchverwendung lässt sich nicht ermitteln. Versehen ist ebenso gut möglich wie der Wunsch, sich nicht selbst ins Dichtgehege zu kommen, denn der Beginn am Ende des Buches geschieht gänzlich voraussetzungs- oder einleitungslos. Chamisso notierte Verse samt Versfüßen, er schien ins Dichten geraten zu sein und wollte unbeeinflusst festhalten, was ihm der Moment eingab. Beinahe ausschließlich dominiert Literarisches, unterbrochen nur von Zeichnungen, darunter Selbstporträts. Diese eher verspielten Bleiskizzen scheren sich nicht um ihre Stellung zur Schrift. Eigen9 Vgl. Osterkamp 2014, S. 80. 10 So Jean-Jacques AmpÀre in einer Erinnerung, zuerst gedruckt in der Revue des deuxmondes Mai 1840. Zit. nach: Chamisso 1856, Bd. 6, S. 222. 11 Adelbert von Chamisso an Louis de la Foye, 10. Februar 1828. Zit. nach: Chamisso 1856, Bd. 6, S. 223. 12 Adelbert von Chamisso an Louis de la Foye, 10. Juni 1828. Zit. nach: Chamisso 1856, Bd. 6, S. 224.

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sinnig und eigen verteidigen sie ihren Platz in der Welt der Worte. Frei von kommentierender Intention, genügt ihre bloße Existenz wie ein unausdeutbarer Kommentar. Doch noch ein kleines Stück weiter in der allgemeinen Beschreibung des Fundstücks. Ganz wie es zu einem Notizbüchlein passt, das unterschiedlichen Zwecken dient, wechseln die Einträge: Dem Lesenden begegnet der Botaniker Chamisso, der Fachspezifisches festhielt. Er trifft auf den Briefschreiber Chamisso, der sich Rubriken wie „Geschrieben“ und „Erhalten“ für Postaus- und -eingänge einrichtete – und gegebenenfalls auch rasch einmal eine Seite für das Festhalten einer Adresse opferte. Das Notierte macht ihn vertraut mit den wechselnden Arbeiten, die der Besitzer aufschrieb, um sie – ja, wir wissen nicht, welche Funktion diese ausgesprochen sporadisch auftretenden Einträge hatten. In Notierungen wie diesen waltet der Chronist, eher achtlos, eilig: Wir erfahren, er hat am 6. Januar 1828 an einem Gedicht mit dem Titel „Die Sennerin und der gemsen [sic] Jäger“ (veröffentlicht unter dem Titel: „Der Gemsen-Jäger und die Sennerin“) gearbeitet, vermerkte unter dem 10. Januar „Schlemihl ein Geisterseher“ und erwähnte unter dem 28. nicht nur die Mittwochsgesellschaft, sondern auch die Namen von deren Mitgliedern Adolf Streckfuß und Friedrich Wilhelm Gubitz. Dass das Flüchtige zur Gattung gehört und um Chamisso keinen Bogen schlug, bezeugt schließlich der Eintrag „Humbodts [!] Vorlesungen“ (Blatt 4r), doch nicht nur der. Chamisso kostete die Möglichkeiten aus, die ihm das Büchlein anbot. Es begünstigte, was seinem Besitzer Bedürfnis war : dem prozesshaften Denken und Dichten Augenblicke von Halt zu ermöglichen. Seine offene Form öffnete formelle Vielfalt, formelle Vielfalt beförderte ungeregelte Phantasie, diese wiederum regelstrenge Poesie. In ihr vertrug sich die botanische mit der poetischen Sphäre und beide widerstandslos mit spontanen Notierungsverfahren aller Art. Chamisso ahnte nicht – und warum auch? –, dass jene Flüchtigkeit, die ihm Vehikel für wissenschaftlich wie literarisch Produktives war, in diesem Büchlein dauerhafte Gestalt erhielt: nicht unbedingt für die Ewigkeit, so aber doch für jene, die um die Dauer seines Tuns wissen und die mit Nachwelt nur unzulänglich umschrieben sind. Freilich: Es „so streng“ zu führen „wie die Behörde das Fremdenregister“13, das lag ihm fern. Dennoch gilt für Chamisso wohl, was die Forschung für Benjamins Umgang mit diesen kleinen Heftchen konstatiert hat. Sie halten dem Autor „einen Spiegel vors Antlitz“, in dem „Vorlieben und Eigenheiten“ zu sehen sind: „Er [Benjamin] schrieb simultan an mehreren Texten. […] Und er mochte seine Arbeit nicht in Klausur, abgedichtet gegen die Wirklichkeit erledigen, […].“14 Nach diesem Streifzug schlagen wir das Buch noch einmal auf. Diesmal aber 13 Benjamin 1991, Band IV/1, S. 106. 14 Wizisla 2006, S. 123.

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wollen wir auf einigen Seiten verweilen, um tiefer in sie zu dringen und das hier vorerst Beraunte in handfestes Wissen zu überführen. Die zutreffende Auswahl fiel nicht leicht, bestätigte aber ausnahmslos das Urteil, dass es sich bei diesem Bestand „um einen sehr ergiebigen Nachlassteil handelt, der mehr Aufmerksamkeit verdient als bisher.“15 Das Auszuwählende sollte Exemplarisches wie Singuläres umfassen. So fiel die Wahl auf zwei Gedichtentwürfe, die, vollendet, Eingang in Chamissos ersten, so grandiosen Gedichtband finden sollten, der in der Leipziger Weidmann’schen Buchhandlung 1831 herauskam. Der auffällig wechselnde Gebrauch von Tinte und Blei provozierte – und nicht minder die frappierende Vielzahl an Wortlisten, hinter denen Chamisso das Geheimnis seines Schreibens zu verbergen schien. Und schließlich galt es zu prüfen, ob Vernunft oder Unvernunft beim Heraustrennen von Seiten walteten, und ob ein zweiter Blick auf die Zeichnungen offenbaren, was der erste schon wahrzunehmen glaubte: deren Zauber.

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6.

Gedruckte Quellen Benjamin, Walter: ,Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen‘, in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Sieben Bände (in 14 Teilbänden). Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, Band IV/1. Bienert, Michael: ,Botanisieren auf Papier. Ein Blick in Chamissos Notizbücher‘, in: Federhofer, Marie-Theres / Weber, Jutta (Hg.): Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso. Göttingen 2013, S. 107–121. [Chamisso, Adelbert von] Adelbert von Chamisso’s Werke. Begründet von Julius Eduard Hitzig. Vierte Auflage. Hg. von Friedrich Palm. Berlin 1852–1856, Bd. 6: Berlin 1856. Eichele, Hermann: Art. „Hypomnema“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Redaktion: Gregor Kalivoda, Lavinia Keinath, Franz-Hubert Robling, Thomas Zinsmaier. Band 4: Hu – K. Tübingen 1998, Sp. 122–128. Osterkamp, Ernst: ,Verjüngung als Altersstil: Adelbert von Chamisso‘, in: Neumann, Gerhard / Oesterle, Günter (Hg.): Altersstile im 19. Jahrhundert. Würzburg 2014, S. 73–92. Radecke, Gabriele: ,Theodor Fontanes Notizbücher. Überlegungen zu einer überlieferungsadäquaten Edition‘, in: Schubert, Martin (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft. Berlin 2010, S. 95–106 (Beihefte zu editio 32). 15 Bienert 2013, S. 118.

Chamissos Notizbuch 1828. Analytische Stichproben

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Rutschky, Michael: ,Vor dem Schreiben. Über Notizkalender‘, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56 (2002) H. 6, S. 480–493. Taussig, Michael: Fieldwork Notebooks / Feldforschungsnotizbücher. Deutsch – Englisch. Ostfildern 2011. Walter Benjamin Archiv (Hg.): Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichnungen. Bearb. von Ursula Marx, Gudrun Schwarz, Michael Schwarz, Erdmut Wizisla. Frankfurt am Main 2006. Wizisla, Erdmut: ,Zarteste Quartiere. Notizbücher‘, in: Walter Benjamin Archiv (Hg.):Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichnungen. Bearb. von Ursula Marx, Gudrun Schwarz, Michael Schwarz, Erdmut Wizisla. Frankfurt am Main 2006, S. 123.

Internetquellen Anonym: ,Hypomnema‘, o. J., verfügbar unter : http://de.wikipedia.org/wiki/Hypomne ma [18. 01. 2014]. Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen: ,Genetisch-kritische Hybrid-Edition von Theodor Fontanes Notizbüchern‘, o. J., verfügbar unter : http://textgrid.de/fileadmin/ praesentationen/tg-summit-2012/poster-fontane-1.pdf [18. 01. 2014].

Benjamin Fiechter

Tinte und Blei: Überlegungen zur Wertigkeit von Schreibgeräten

Wer sich mit Notizbüchern befasst, muss sich auch mit den Schreibgeräten und -materialien des Besitzers beschäftigen. Daher beschäftigt sich dieser Beitrag mit der Verwendung von Tinte und Bleistift und der Frage, wie Chamisso sie in diesem exemplarisch ausgewählten Notizbuch Nr. 6 benutzt hat. Das Thema ist aus mehreren Gründen besonders interessant. Zum einen fällt die Benutzung unterschiedlicher Schreibmaterialien bei Betrachtung der Aufzeichnungen schnell ins Auge. Zum anderen zeigt die nähere Beschäftigung dieses Thema als ein nicht zufälliges Phänomen, das in Chamissos Schreibprozess eine wichtige Rolle spielt.1 Schreib- und Notationshilfen unterlagen im Laufe der Geschichte sehr unterschiedlichen Entwicklungen. Einige kurze Bemerkungen zur langen Geschichte von Bleistift und Tinte werden den Gebrauch derselben erhellen, bevor es um das Notizbuch selbst geht. In der griechisch-römischen Antike verwendete man unter anderem echtes Blei als Schreibmaterial, das entweder in Formen gegossen oder zu Griffeln geformt wurde.2 Auch der Graphit war bekannt, wurde aber, wenn überhaupt, wie Kohle oder Kreide für Wandkritzeleien verwendet.3 Diese Blei-Stifte hatten allerdings mit der heute geläufigen Variante sowohl im Aussehen als im Schreibergebnis sehr wenig gemein.4 Erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden erste Stifte, die Graphit als Minen verwendeten, in England gefertigt.5 1 Die Handschrift selbst als sekundäre Funktion der Schrift, aber auch der Schreibprozess sind bisher nur marginalisiert in der Forschung untersucht worden. So fehlt eine „umfängliche historische und systematische Studie von Handschrift als Kulturpraktik“, wie Anja Neef bemerkt. Vgl. Neef 2008, S. 26–27. Die Wichtigkeit des Schreibprozesses für die Textgenese und Texttheorie betont das Vorwort von Hughes, Peter / Fires, Thomas / Wälchli, Tan 2008, S. 7–11. Vgl. auch die Einleitung von Greber, Erika / Ehlich, Konrad / Müller, Jan-Dirk 2002, S. 9. 2 Vgl. Huber 1985, S. 39. 3 Vgl. Koschatzky 1999, S. 47–48; Eule 1955, S. 97. 4 Vgl. Eule 1955, S. 73–74. 5 Vgl. Huber 1985, S. 40.

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Schon kurz darauf wurden sie in Deutschland bekannt; 1664 wird Friedrich Staedtler in den Büchern der Stadt Nürnberg als Bleyweißschneider und Steftmacher geführt.6 Schließlich wurde um 1790 ein Verfahren entwickelt, bei dem der Graphit mit Ton und Wasser gemischt wurde, was erlaubte, den Härtegrad der Mine beliebig zu beeinflussen.7 Die historischen Bezeichnungen Bleiweiß, Reißblei, Schreibblei, Wasserblei oder französisch crayon sind heute nicht mehr geläufig, der Bleistift selbst aber veränderte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kaum. Eine längere Tradition kann die Tinte aufweisen, die bereits im antiken Ägypten um 3000 v. Chr. als Schreibmaterial verwendet wurde. Im Frühmittelalter kam die Gänsefeder auf und ersetzte schnell den bis dahin verwendeten Kalamos.8 Nach vielen gescheiterten Versuchen einen Füllfederhalter zu entwickeln, wurde er durch verschiedene Erfindungen – zuerst die Stahlfeder und den zugehörigen Federstiel, später den Füllfederhalter – seit den 1880er Jahren zum Massenprodukt.9 Aber davon konnte Chamisso nicht mehr profitieren.10 Einen Eindruck davon, wie diese Schreibgeräte Anfang des 19. Jahrhunderts aussahen, erhält man durch zeitgenössische Bilder. Einen einfachen Bleistift, der dem heute bekannten sehr ähnlich sieht, finden wir auf einem Gemälde von Joseph Karl Stieler, der 1820 Ludwig van Beethoven porträtierte.11 Ein aufwendigeres Modell hatte Johann Wolfgang von Goethe zur Verfügung, der einen Minenstift in silberner Haltung aus London benutzte.12 Ein Bild von Jan Ekels dem Jüngeren zeigt einen jungen Mann, der gerade seine Schreibfeder spitzt; auf dem Tisch vor ihm sehen wir dazugehörige Utensilien wie das Tintenfass.13 In Chamissos Notizbuch stellt die Verwendung von Tinte eher die Ausnahme als die Regel dar, wie eine einfache Auszählung zeigt: Nur auf sechs Seiten schreibt er ausschließlich mit Tinte, während Blei auf 104 von 116 Seiten vorkommt. Von den Gedichtentwürfen wurden neun mit Tinte geschrieben, skiz6 7 8 9 10

Vgl. Huber 1985, S. 40; Dambier 2014. Vgl. Huber 1985, S. 53. Vgl. Huber 1985, S. 19. Vgl. Knoll 2001, S. 85–87. Noch 1833 wurden 24 Millionen Gänsefedern nach England exportiert. Vgl. Huber 1985, S. 34. 11 Joseph Karl Stieler : Beethoven mit dem Manuskript der Missa solemnis, 1820, BeethovenHaus Bonn (verfügbar im digitalen Archiv des Beethoven-Haus Bonn: http://www.beet hoven-haus-bonn.de/sixcms/detail.php?id=15123& template=dokseite_digitales_archiv_ de& _dokid=i537 [17. 02. 2015]). 12 Carl August Schwerdgeburth: Johann Wolfgang von Goethe, 1832, Klassik Stiftung Weimar (vgl. Sabine Schulze (Hg.): Goethe und die Kunst. Hatje 1994, S. 176, Kat. 125). 13 Jan Ekels der Jüngere: Ein Schreiber, der seine Feder anspitzt, 1784, Rijksmuseum Amsterdam (ein Microfiche-Scan ist beim Bildindex der Kunst und Architektur (Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg) verfügbar : http:// www.bildindex.de/dokumente/html/obj20360629 [17. 02. 2015]).

Tinte und Blei: Überlegungen zur Wertigkeit von Schreibgeräten

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zierte Gedichte mit Bleistift finden sich auf mehr als 60 Seiten. Dabei lassen sich zwei Bereiche feststellen, in denen Tinte hauptsächlich verwendet wurde: Zum einen die eben erwähnten Gedichtentwürfe, um die es im Folgenden gehen soll, zum anderen verschiedene Formen von Listen: das Briefjournal, in dem die erhaltenen und versandten Briefe sorgfältig aufgelistet sind (Blatt 2, 3v), Namenslisten (z. B. Blatt 16r), botanische Listen (Blatt 51r) und ein Verzeichnis der eigenen Arbeiten (Blatt 4r).14 Es wird hieran deutlich, dass das Buch verschiedene Zwecke erfüllen sollte. Zum einen hatte Chamisso offenbar vor, seinen Briefverkehr systematisch festzuhalten. Dieses Vorhaben gibt er allerdings nach drei Monaten und ebenso vielen Seiten wieder auf. Stattdessen benutzt er das Notizbuch nun, um Gedichte zu skizzieren. Es ist wahrscheinlich, dass Chamisso das im Januar 1828 angefangene Notizbuch nach wenigen Monaten bis 1830 nicht mehr benutzt hat. So sind alle im Notizbuch enthaltenen Gedichte und Gedichtfragmente in der Erstausgabe seiner Gedichte, erschienen 1831, auf 1830 datiert (darunter Das Dampfroß, Das Mordthal, Mateo Falcone, der Corse, Das Mahlerzeichen, Teile von Thränen und von Das Krucifix). Unwahrscheinlich scheint eine einheitliche Umdatierung aller Gedichte – zumal Der Stein der Mutter, das Chamisso im Verzeichnis seiner Arbeiten (Blatt 4r) nennt (und das damit 1828 entstanden sein muss), auch im Gedichtband auf 1828 datiert ist.15 Auffällig ist der Wechsel des Schreibgeräts. Während Chamisso die Brieflisten ausschließlich mit Tinte schreibt, bringt er seine Gedichte meistens mit Bleistift zu Papier. Ausnahmen hiervon, also Gedichte, die mit Tinte geschrieben wurden, erregen sofort besondere Aufmerksamkeit. Die Vermutung liegt nahe, dass Chamisso Gedichte in einem weiter fortgeschrittenen Stadium mit Tinte statt mit Bleistift geschrieben hat, während die Ausführungen in Bleistift einen eher skizzenhaften Charakter haben.16 Dieser unterschiedliche Gebrauch erklärt sich aus dem Charakteristikum der Tinte, der Nicht-Tilgbarkeit. Was einmal mit Tinte geschrieben ist, kann nur schwer wieder entfernt werden, ohne dass das Blatt sichtbar und dauerhaft beschädigt wird. Früher wie heute ist es daher Usus, teilweise sogar vorgeschriebene Regel, für amtliche Dokumente Tinte zu ver14 Zum Phänomen der Listen vgl. den Beitrag von Moritz Rauchhaus in diesem Band. 15 Vgl. Chamisso 1831. Die Titel der Gedichte sind nach dieser Ausgabe zitiert. Die Datierungen in Chamissos „Poetischen Hausbüchern“ verifizieren diese Vermutung einmal mehr; vgl. Poetisches Hausbuch 4 (SBB – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 32, Nr. 3) bzw. 3 (SBB – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 32, Nr. 2). 16 Vgl. Bohnenkamp 2008, S. 31: „Einfache Handhabung und Radierbarkeit prädestinieren den Bleistift zum Werkzeug für die Phase des Entwurfs.“ Sie weist weiterhin auf den „Charakter des Improvisierten, Inoffiziellen, Vertraulichen“ im Bezug auf mit Bleistift geschriebene Briefe hin.

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wenden.17 Anders der Bleistift, der die vollständige oder teilweise Entfernung von Geschriebenem erlaubt.18 Auch wenn eine Tilgung keine Spuren hinterlassen kann, ist sie eine Option des Verfassers, die bei der Untersuchung der Textgenese nicht vergessen werden sollte. Mit dem Schreibgerät ist die Schreibgelegenheit eng verbunden. Man brauchte eine Schreibfeder, einen Federhalter, ein Tintenfass, in der Regel auch Schreib- bzw. Streusand und ein Federmesser. Dieses Arsenal an Schreibgeräten führte meistens dazu, dass eine feste Unterlage, ein Schreibtisch oder Pult, benötigt wurde.19 Das alles trug deutlich zur Statik, zum Fest- und Stillstehen des Schreibprozesses mit Tinte bei.20 Ganz anders der Bleistift, der eine ganz und gar dynamische Weise des Schreibens möglich machte. Durch ihn wurde ein schnelles, unkompliziertes Festhalten von Gedanken und Informationen realisierbar.21 Vorausgesetzt, dass die Mine spitz war, brauchte es nichts weiter als den Stift selbst und ein Blatt Papier. Nicht verwunderlich, dass einige mit Bleistift geschriebene Stellen im Notizbuch so hingeworfen sind, dass sie kaum lesbar sind (Blatt 12r, 28r). Auch zeichnerische Skizzen (Blatt 6r, 41r, 48v, 49r, 55v, 56r) und andere spielerische Elemente (z. B. Blatt 29v, 39r) deuten auf diese Art der spontanen Benutzung des Notizbuchs hin.22 Außerdem hat Chamisso Adressen mit Bleistift aufgeschrieben, die er vielleicht unterwegs in Erfahrung bringen konnte (Blatt 10r, 20v, 21r, 29r, 38v, 54v); so finden wir zum Beispiel die Adressen des Schriftstellers und Historikers Jean-Jacques AmpÀre, der sich Mitte der 1820er Jahre auch mit 17 Vgl. Neef 2008, S. 131. 18 Elastische Gummis zum Ausradieren werden schon seit ca. 1770 verwendet. Vgl. Bohnenkamp 2008, S. 31. Zuvor wurden in der Regel Brotkrumen zum Abreiben verwendet. Vgl. Neef 2008, S. 128. 19 Vgl. Bohnenkamp 2008, S. 28: „Denn zumindest zu Zeiten von Feder und Tintenfaß setzt das Schreiben mit Tinte nicht nur geeignetes Werkzeug, sondern auch einen entsprechenden Arbeitsplatz voraus. Der handwerkliche Vorgang selbst erfordert einen spürbaren Aufwand und eine spezifische Aufmerksamkeit.“ Dazu auch S. 31. 20 Vgl. Koschatzky 1999, S. 121–122. 21 Vgl. die vielzitierte Passage von Johann Wolfgang von Goethe: „Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammen finden zu können, daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte.“ In: Trunz 1998, S. 80–81. Einen ähnlichen Hang zum Bleistift beschreibt Robert Walser über 100 Jahre später. Vgl. dazu Huber 1985, S. 39. 22 Ausführlich geht der Beitrag von Johanna Hähner in diesem Band auf die zeichnerischen und spielerischen Elemente ein. Vgl. Huber 1985, S. 39: „Die Bleistiftspur ist nicht für die Ewigkeit bestimmt, ist löschbar und verführt uns damit zum Spielen, Kritzeln, Formensuchen.“

Tinte und Blei: Überlegungen zur Wertigkeit von Schreibgeräten

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Goethe traf, wohnhaft in der „Rue Mo[n]signi n 6“ (wohl Paris?) (Blatt 29r) oder des Mediziners und Botanikers Johann Horkel in der Kronenstraße 59 (Berlin) (Blatt 20v).23 Chamisso nutzte sein Notizbuch also wahrscheinlich sehr viel häufiger unterwegs, um spontane Einfälle und eingeholte Informationen festzuhalten, als zu Hause am Schreibpult. Diese Überlegungen führen zu der Annahme, dass eine unterschiedliche Wertigkeit der Schreibgeräte Tinte und Bleistift den Notizen Chamissos zugrunde liegt. Hat das Blei den unverbindlichen, schnellen und unmittelbaren Charakter,24 wird der Tinte mehr Gewicht zugemessen, weil das einmal Geschriebene nicht oder nur schwer wieder entfernt werden kann.25 Ihr Einsatz ist überlegter, weil sie das Blatt endgültig beschreibt.26 Angesichts der nicht geringen Kosten für Papier und Schreibmaterialien war es immer bedenkenswert, ob das Geschriebene von Dauer sein sollte. Im Anschluss an diese Überlegungen zeigen die Beiträge von Lisa Trekel und von Tabitha van Hauten anhand von zwei lyrischen Beispielen, dass diejenigen Verse, die mit Tinte geschrieben wurden, eine weiter ausgeformte Fassung zeigen als die mit Blei verfassten.

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6.

Literatur Bienert, Michael: ,Botanisieren auf Papier. Ein Blick in Chamissos Notizbücher‘, in: Federhofer, Marie-Theres / Weber, Jutta (Hg.): Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso. Göttingen 2013, S. 107–121. Bohnenkamp, Anne: ,Schreibgeräte‘, in: Dies. / Wiethölter, Waltraud (Hg.): Der Brief – Ereignis und Objekt. Frankfurt am Main, Basel 2008, S. 19–72. Boike, J. W. (Hg.): Allgemeiner Wohnungsanzeiger für Berlin und dessen nächste Umgebungen, auf das Jahr 1830. 9. Jahrgang. Berlin 1830. Chamisso, Adelbert von: Gedichte. Leipzig 1831.

23 Vgl. Boike 1830, Eintrag Horkel, J., S. [320]. 24 „Aber auch für den Entwurf, das engineering, das skizzenhafte Aufzeichnen von Gedankenarchitekturen und überhaupt als Hilfsmittel für jegliches vorläufiges Schreiben tut der Bleistift ausgezeichnete Dienste.“ Neef 2008, S. 128. 25 Vgl. Neef 2008, S. 130. 26 Dieser Annahme folgt auch Michael Bienert. Er vollzieht den Entstehungsprozess einiger Verse des Gedichtes Lebtest du so sehr im Scherze im „Briefjournal 1810–12“ nach. Nachdem die ersten Ideen demnach „mit Graphitstift hingehuscht“ wurden, lässt er Chamisso danach „mit Tinte […] zu einem vorläufigen Resultat“ kommen. Vgl. Bienert 2013, S. 116–117.

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Benjamin Fiechter

Eule, Wilhelm: Mit Stift und Feder. Leipzig 1955. Froschauer, Harald: ,Antike Schreibgeräte von Ägypten bis Rom‘, in: Gastgeber, Christian / Harrauer, Hermann (Hg.): Vom Griffel zum Kultobjekt. 3000 Jahre Geschichte des Schreibgerätes. Wien 2001, S. 1–14. [Goethe, Johann Wolfgang von] Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Sonderausgabe. München 1998, Band X: Autobiographische Schriften II. Greber, Erika / Ehlich, Konrad / Müller, Jan-Dirk (Hg.): Materialität und Medialität von Schrift. Bielefeld 2002. (Schrift und Bild in Bewegung 1) Huber, Jürg-Peter : Griffel, Feder, Bildschirmstift. Eine Kulturgeschichte der Schreibgeräte. Aarau und Stuttgart 1985. Hughes, Peter / Fires, Thomas / Wälchli, Tan (Hg.): Schreibprozesse. München 2008. (Zur Genealogie des Schreibens 7) Knoll, Reinhold: ,Wie es zur Füllfeder kam … Die Abbreviatur einer Geschichte‘, in: Gastgeber, Christian / Harrauer, Hermann (Hg.): Vom Griffel zum Kultobjekt. 3000 Jahre Geschichte des Schreibgerätes. Wien 2001, S. 85–94. Koschatzky, Walter: Die Kunst der Zeichnung. Technik, Geschichte, Meisterwerke. 9. Auflage. München 1999. Neef, Anja: Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Berlin 2008.

Internetquellen Dambier, Yvonne (STAEDTLER Mars GmbH & Co. KG): ,Chronik der Firma Staedtler‘. 2014, verfügbar unter : http://www.staedtler.de/de/unternehmen/tradition-und-inno vation/der-bleistift/ [17. 02. 2015].

Lisa Trekel

Adelbert von Chamissos Das Dampfroß – Das Notizbuch von 1828 als „Dichterwerkstatt“

Die Schnelligkeit der Eisenbahn, des „ungeheuren Pferdes“, verarbeitet Adelbert von Chamisso thematisch in seinem Eisenbahngedicht Das Dampfroß (1830).1 Der Rausch der Geschwindigkeit, in dem die natürliche und historische Zeit aufgehoben und so die Vergangenheit eingeholt werden kann, schlägt sich auch in einem handschriftlichen Entwurf des Gedichts nieder. Abwechselnd mit Blei und Tinte hingetuscht, gezeichnet von zahlreichen Umarbeitungen und schnell notierten Vers- und Wortbruchstücken, verbildlicht sich hier in Chamissos Notizbuch von 1828 buchstäblich die im Dampfroß dichterisch verarbeitete Schnelligkeit. Eine Auswertung dieser handschriftlichen Skizze im Nachlass des Autors verspricht demnach nicht nur neue Einblicke in die Schreibwelten und Arbeitsweisen eines bedeutenden Lyrikers des 19. Jahrhunderts, sondern gibt überdies Auskunft über die Genese dieses elementaren Werkes.2 Im Hinblick auf eine Rekonstruktion des Entstehungsprozesses des erstmals im Berliner Musenalmanach für 1831 publizierten Dampfroß erweist sich die Textsituation des Entwurfes, wie dieser Beitrag zeigen will, als aufschlussreich. So trägt eine Auseinandersetzung mit den hier beobachtbaren Spuren des Chamissoschen Dichtens, wie dem Wechsel zwischen den Schreibmaterialien Tinte und Blei, den zahlreichen Streichungen, Verschiebungen und Ergänzungen auch im Vergleich zur publizierten Dampfroß-Fassung, dazu bei, sich der Dynamik seines Dichtungsprozesses anzunähern.3 Chamissos Dampfroß-Entwurf erstreckt sich innerhalb des Notizbuches insgesamt auf sechs Seiten: 10v, 11r, 11v, 12r, 12v, 13r. Dass der Autor seiner „Poesie des Dampfes“4 nicht platz- und papiersparend Halt verschaffte, sondern großzügig mit dem nötigen Abstand zwischen Strophen, Versen und einzelnen

1 Vgl. Koselleck 2003, S. 150–176, hier S. 150. 2 Schließlich handelt es sich hierbei, wie Mahr und Koselleck ermittelt haben, um das erste Eisenbahngedicht in der deutschen Literatur. Vgl. Koselleck 2003, S. 150; Mahr 1982, S. 51. 3 Chamisso 1831, S. 154–157. 4 Koselleck 2003, S. 151.

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Wortgruppen mit seinen poetischen Eingebungen operierte5, trägt diesem Umstand Rechnung. Neben einem Konglomerat aus flüchtig mit Blei skizzierten Gedanken, Erinnerungspartikeln und sich formelhaft wiederholenden Versbruchstücken auf den Blättern 10v und 11v bis 13r beinhaltet das Notizbuch auch einen in seinem Aufbau strukturierteren und sichtbar planvolleren, im Stadium der Produktion wohl fortgeschrittenen Teil des Gedichtentwurfs: So unterscheidet sich Blatt 11r zunächst durch eine eindeutige Gliederung des Notierten in vier Strophen — vier Verse von den übrigen Blättern.6 Zudem hat Chamisso hier im Gegensatz zu den vorangegangenen und nachfolgenden Blättern nicht überwiegend mit Blei gearbeitet, sondern die einer Strophenunterteilung folgenden Verse mit dem endgültigeren Schreibmaterial Tinte in seinem Notizbuch fixiert. Zum Bleistift griff Chamisso also offenbar nur, um – in deutlicher Abgrenzung zur ,Ernsthaftigkeit‘ und zumindest vorläufiger Endgültigkeit der Tintenverse – an seinem Gedichtentwurf Vermerke und Hinweise einzufügen, wie neben und unter der dritten, als auch unterhalb der vierten Strophe. Vor allem im Hinblick auf die nicht nur in ihrem Schriftbild von Flüchtigkeit gezeichneten Bleiverse am Blattanfang („Schnell schn meines Roßes Beschlag / derweil wir zaudern vergeht der Tag“) liegt desweiteren die Vermutung nahe, dass der Dichter – sich der Tilgbarkeit des Schreibmaterials stets bewusst – Blei verwendete, um die aufblitzenden poetischen Eingebungen unmittelbar festzuhalten. Mit Tinte folgt sodann die erste Strophe des Dampfroß-Entwurfs, in der auch die zuvor notierten Bleiverse ihren Platz finden. Offenbar hat Chamisso hier zunächst schnell einen Gedanken festhalten wollen, den er anschließend mit Tinte innerhalb einer Strophe fixiert und ins Reine schreibt. Bis die erste Strophe allerdings jene Gestalt erlangt, die letztlich der der publizierten Dampfroß-Fassung entspricht, unterzieht Chamisso diese – sie hat ihn augenscheinlich besonders herausgefordert – einigen Umarbeitungen: Das Hinzufügen eines für den Beschlag des Roßes verantwortlichen Schmiedes und die entsprechende Angleichung des „Wir“ zum lyrischen „Du“ verstärkt gleich zu Beginn des Entwurfs die Gegensätzlichkeit des alten, bekannten Transportmittels „Pferd“ und der nicht mehr an die Hand eines Hufschmiedes gebundenen technischen Neuerung, der ungestümen, „ungeheuren“ Lokomotive. Während der Schmied in der Gedicht-Fassung von 1831 zu einer wichtigen Figur avanciert, die immer wieder zur Schnelligkeit angehalten wird und auch selbst das Wort an den Reiter des Dampfrosses richtet, hat Chamisso ihn in seiner poetischen Vorarbeit auf Blatt 11r nicht weiter mitgedacht. Folglich beginnt die zweite Strophe des Manuskripts nicht wie die der publizierten Version 5 Siehe vor allem die Blätter 12r bis 13r des Notizbuches, Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6. 6 Einzig Blatt 12v umfasst noch zwei vollständige Strophen in Tinte.

Das Dampfroß – Das Notizbuch von 1828 als „Dichterwerkstatt“

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mit einer erneuten Aufforderung an den Schmied zur Eile. Bis auf einzelne stilistische Differenzen – für „um die Erde reist“ und „westwerts“ wählt Chamisso in der Druckfassung die klangvolleren Formulierungen „Erde umkreist“ und „von Ost in West“ – weist aber auch die zweite Strophe des Entwurfes überwiegend Ähnlichkeiten zum Dampfroß von 1831 auf. Auch die dritte und vierte Strophe des Dampfroß kommen in der späteren Version ohne den Schmied aus. Demgegenüber lässt sich aber in diesen zwei letzten Strophen auf Blatt 11r doch ein Bild erkennen, das Chamisso für die Druckfassung seines Dampfroß beibehalten hat und das Werk deutlich von anderer Eisenbahnlyrik des 19. Jahrhunderts unterscheidet. So konstatiert Koselleck, dass Chamisso mit seinem Gedicht zur Eisenbahntechnik der Einzige war, „[…] der die Metaphorik der technischen Krafterzeugung überbot und die Beschleunigung selbst thematisierte.“7 Chamisso generiert bereits in seinem Entwurf ein Bild der Zeit, in dem durch das Dampfroß – das Sinnbild einer entfesselten Geschwindigkeit – in einer „märchenhaften Inversion“ die Vergangenheit, nicht aber die Zukunft, eingeholt wird.8 Während das Motiv,Eisenbahn als Zeitmaschine‘ in der handschriftlichen Skizze wiederholt anhand der Phrase „so bin ich gestern schon wieder hier“ entwickelt wird, zeichnet sich die publizierte Fassung durch eine stärkere Bildhaftigkeit aus und gewinnt so im Vergleich zur Notizbuch-Version an poetischer Substanz. Die letzten zwei Strophen auf Blatt 11r zeigen einen Autor, der an seinen Versen – Reim- und Strophenform sind dabei immer feste Konstanten – geradezu laboriert. Dass weder ein „gutes“, „schnelles“, noch „kein träges Thier“, sondern der „Meister der Schnelligkeit“ schließlich seinen Platz in der dritten Strophe der Druckfassung gefunden hat, zeigt, dass der Lyriker Chamisso sein Notizbuch, wie Bienert bereits bemerkt hat, als eine Art „Dichterwerkstatt“ gebrauchte.9 Das Notizbuch ist also Medium eines körperlichen Akts des Schreibens, indem sich die Denkbewegungen des Autors leibhaftig vollziehen und somit in der handschriftlichen Materialität stets auf ihren Urheber verweisen. Eben jene materiale Präsenz der Schrift ist es demnach auch, die den künstlerischen Nutzen des Notizbuches für Chamisso als Raum seiner dichterischen Arbeit im experimentellen Modus des schreibenden Sammelns, Kombinierens, Verwerfens und Weiterentwickelns offenbart. Gerade an Strophe drei und vier des Entwurfes lässt sich beispielhaft beobachten, dass Chamisso im Zuge seines Dichtungsprozesses augenfällig überlegt das Schreibwerkzeug wechselt. Die für die Bleiverse am Blattanfang formulierte Feststellung, diese 7 Koselleck 2003, S. 151. 8 Koselleck 2003, S. 151f. 9 Bienert 2013, S. 107–22, hier S. 116.

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würden einer früheren Textualisierungsphase angehören, gilt offenkundig nicht für die Bleinotierungen an den letzten Strophen. Vielmehr entsteht hier der Eindruck, Chamisso habe nahezu parallel oder nachträglich zum vorläufigen, mit Tinte fixierten Resultat, mit dem unverbindlicheren Bleistift gearbeitet. So werden mit Blei nicht nur zwischen Strophe drei und vier einzelne Verse auf ihre Kompatibilität hin erprobt, die dann in veränderter Form und mit Tinte in Strophe vier erneut erscheinen, sondern auch Vermerke und Änderungen an, in und unter den Strophen vorgenommen. Chamisso setzt sich hier sichtbar erneut mit dem Ergebnis seiner literarischen Produktivität auseinander und nutzt Blei, um die Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit der neuen Umarbeitungen zu markieren. Wie zuvor bei den Vorformulierungen und flüchtig niedergeschriebenen Einfällen scheint auch hier zu gelten: Einen endgültigen Charakter erlangen die Bleiverse erst, wenn sie unverändert oder in modifizierter Form in Tinte überführt werden. Dem bewussten Wechsel der Schreibgeräte und der damit verbundenen funktionalen Unterscheidung von Blei- und Tintennotierung liegt also offenbar eine Strategie zugrunde, mittels derer Chamisso aus den verschiedenen Texteilen im Notizbuch letztlich ein Werk produziert. Aber nicht nur die spezifische Verwendung der Schreibgeräte ist Zeugnis eines prozesshaften Schreibverhaltens. Das Notizbuch dokumentiert, selbst heute noch bestens erkennbar, die autoreigene Dynamik des Dichtens und beweist, dass die Entstehung von Chamissos Dampfroß im Modus des Experimentierens in Stadien erfolgte und das Werk keinesfalls Resultat einer einmaligen schöpferischen Eingebung war.

Zur Transkription Die Orthographie und Interpunktion folgt in allen Eigenheiten derjenigen Chamissos. Ebenso wird die Blatt- und Zeilengestaltung wiedergegeben. Alle editorischen Zeichen sind kursiv gestellt. Bleistift: Wiedergabe in hellem Druck Tinte: Wiedergabe in normalem Druck x: gestrichener Buchstabe. Aber : Nicht alle überarbeiteten Worte und Wortteile sind hier auch gestrichen. []: Einfügung über der Zeile oder [[]]nachgestellte Einfügung. x : hochgestellte Nummerierung der abgeänderten Zeilenabfolge durch Chamisso

Das Dampfroß – Das Notizbuch von 1828 als „Dichterwerkstatt“

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Abb. 1: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6: Notizbuch 1828, Blatt 11r (Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin).

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Lisa Trekel

Schnell, schn meines Roßes Beschlag Derweil wir zaudern vergeht der Tag 1

4 2

8

Schnell! Schnell mit meines[mein Schmied mit des]Roßes Beschlag! derweil wir[du] zaudern[st] verstreicht der Tag! Wie dampfet das[dein] ungeheures Pferd Wieo eilst ihr du so hin, mein Ritter wehrt. – Wer westwerts um die Erde Reist, Wie’s in der Schul man euch unter weist der kommt zu letzt für seine Müh An’s Ziel um einen Tag zu früh.

3

Und wer geschwind genug mag sein der holt die Zeit noch[wohl]wieder ein Thrägt heute davon mich mein gutes Thier [mein Dampfpferd mit mir, das sag ich dir] 12 So bin ich gestern schon wieder hier. Mein Dampfroß ist ein schnelles Thier Es bringt mich gestern schon wieder hier 4

Wer schnell ist holt die Zeit wohl ein Und reit ich heut ab, wie es wohl mag sein Es bringt [1So bin ich]schon gestern mich [schon]wieder hier. 16 2MeinDampfroß ist kein träges Thier

Abbildung Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6: Notizbuch 1828, Blatt 11r

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6.

Das Dampfroß – Das Notizbuch von 1828 als „Dichterwerkstatt“

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Literatur Bienert, Michael: ,Botanisieren auf Papier. Ein Blick in Chamissos Notizbücher‘, in: Federhofer, Marie-Theres / Weber, Jutta (Hg.): Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso. Göttingen 2013, S. 107–122. Chamisso, Adelbert von: ,Das Dampfroß‘, in: Veit, Moritz (Hg.): Berliner Musenalmanach für 1831. Berlin 1831, S. 154–157. Koselleck, Reinhard: ,Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?‘, in: Ders. (Hg.): Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans Georg Gadamer. Frankfurt am Main 2003, S. 150–176. Mahr, Johannes: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. München 1982.

Tabitha van Hauten

Strategien der poetischen Produktion. Adelbert von Chamissos Mordthal-Entwurf im Briefjournal 1828

Um weitere Erkenntnisse über die Arbeitsweisen Adelbert von Chamissos gewinnen zu können, ist eine nähere Untersuchung von Blatt 53 verso des Briefjournals von 1828 aufschlussreich. Dieses ist eine der gewendeten Seiten des Journals, wodurch sich der Charakter des Notizbuches deutlich ausdrückt. Chamisso verschriftlichte hier einen Teil seines Gedichts Das Mordthal, welches erstmals im Gedichtband von 1831 veröffentlicht wurde und in dieser Ausgabe auf das Jahr 1830 datiert ist.1 Es handelt sich bei den handschriftlichen Versen um den letzten Abschnitt des Gedichts in abweichender Version von der publizierten Fassung. Chamissos Mordthal gehört neben Rede des alten Kriegers Bunte-Schlange im Rate der Creek-Indianer und Der Stein der Mutter oder der Guahiba-Indianerin zu den drei Amerika-Gedichten der „Sonette und Terzinen“ der Gedicht-Ausgabe von 1831. Von einem direkten Zusammenhang zwischen den Gedichten und Chamissos Weltreise von 1815 bis 1818 kann nicht ausgegangen werden; die Gedichte sind in geographischen Gebieten verortet, welche Chamisso während seines Amerika-Aufenthaltes nicht besuchte.2 Das Mordthal-Gedicht basiert vielmehr auf einem Bericht der amerikanischen Literaturzeitschrift North American Review3, wie der den Versen vorangestellte Untertitel verrät. Durch die Verwendung von Tinte sowie Blei sticht dieser Gedichtentwurf des Briefjournals besonders heraus. Blatt 53v ist in seiner Umgebung die einzige Seite mit Tintenbeschriftung. Auf drei in Blei verfasste Verse an oberster Position der Seite folgen insgesamt dreiundzwanzig Verse, die Chamisso in Tinte festhielt. Es scheint, als ob die Verse in drei Abschnitte, mögliche „Strophen“, 1 Chamisso 1831, S. 303–315. 2 Ten Kate 1919, S. 63–128. 3 Möglicherweise Whiting 1824, S. 221–234. S. 228: „He made his way to New Orleans by the common road through Georgia, the Indian country, and Alabama. For an account of his observations and perilous adventures on this journey, the formidable swamps and flooded creeks, the stories of Indian murders, the howling of wolves […] was seized with a shaking and profuse perspiration occasioned by fear“.

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gegliedert sind, welche die spätere Publikationsfassung nicht mehr aufweist: zunächst zwölf eng geschriebene Verse als Strophe eins, darauf mit geringem Zeilenabstand folgend ein fünfversiger Abschnitt als Strophe zwei und auf der unteren Hälfte der Seite die letzte in Tinte verfasste Strophe drei mit sechs Versen. Unter den ersten drei Versen der zweiten Strophe (Transkription: V. 16–18) lassen sich drei Zeilen erkennen, die von Chamisso zuvor mit Blei verfasst wurden. Neben den Mordthal-Versen weist der Entwurf eine Wortliste am rechten Seitenrand auf, die sich mittig auf Höhe von Strophe zwei befindet. Darüber steht eine Randnotiz, die Vers acht und neun der ersten Strophe betrifft. Obwohl sich der größere Teil des Texts in Tinte manifestiert, handelt es sich bei diesem Ausschnitt des Mordthal-Gedichts nicht um eine letzte Reinschrift, da noch einige Verbesserungen im Text vorgenommen wurden. Für eine Untersuchung zu Chamissos poetischer Produktion ist dieses Blatt des Briefjournals deshalb bestens geeignet. Die Abweichungen der handschriftlichen Verse von der publizierten Fassung des Mordthals von 1831 äußern sich primär in Rechtschreibung und Zeichensetzung. Besonders die Zusammenzüge von Wörtern stechen ins Auge, deutlich in den drei Bleiversen am Seitenkopf zu erkennen: „MeinNahm“ (Transkription: V. 1) sowie „derletz“ (Transkription: V. 2) sind zusammengezogen. Dieses Phänomen findet sich nicht nur in den Blei-, sondern auch in den Tintenversen: „habich“ (Transkription: V. 9). Neben den orthographischen Unterschieden sind auch inhaltliche Veränderungen zu beobachten; Chamisso weicht in der publizierten Fassung von den handschriftlichen Tintenversen „Mein Nahm ist am Ontario verklungen / Mein Nahme ist am Ontario verhallt“ (Transkription V. 11f.) ab, indem er sie mit der Randnotiz „im Waldes Wiederhall“ (Transkription: V. 11) verbindet: „Mein Nam’ ist am Ontario verklungen, / Und ist in Waldes Wiederhall verhallt“4. In der handschriftlichen Briefjournal-Version findet sich außerdem eine Versfolge, die Chamisso in der publizierten Endfassung nicht verwendet: „Der Donner ruft mein Messer ist gezückt, / Zu euch, ihr meineVäter komm ich hin, / Ich aber stand abgewendet und gebückt / Verhült das Antlitz in des Mantels falten“ (Transkription: V. 17–20). Diese Formulierungen ähneln den Versen im Gedichtband von 1831 („Und eurer, meiner Väter, bin ich werth, / Des Donners Stimme Ruft, – ich komme hin. – / Ich aber stand von fern und abgekehrt, / Verhüllt das Haupt in meines Mantels Falten“5), die Motive wurden zwischen der Notation im Briefjournal und der Publikation umgestellt, in ihrer Symbolik aber beibehalten. Die Bleiverse der Seite, die sich am oberen Rand und im Zentrum des Blattes (hier mit Tinte überschrieben) befinden, stellen keine weiteren Versionen ein4 Chamisso 1831, S. 315. 5 Chamisso 1831, S. 315.

Adelbert von Chamissos Mordthal-Entwurf im Briefjournal 1828

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zelner Gedichtverse dar, sie sind vielmehr Variationen der Tintenverse. So finden sich die drei oberen Bleiverse in der ersten Tintenstrophe wieder : „MeinNahm ist am Ontario verklungen“ (Transkription: V. 1) ist, abgesehen von der Orthographie, identisch mit dem in Tinte verfassten Vers elf. „Der ich derletz meins Stamms bin / Ich habe mir ein Sterbe Lied gesungen“ (Transkription: V. 2f.) gleicht in umgekehrter Anordnung inhaltlich den Tintenversen „Ich habe selbst mein Sterbelied gesungen / Dieweil ich meines Stammes letzter bin“ (Transkription: V. 13f.). Diese Beobachtung setzt sich im Zentrum der Seite fort. Hier wird die Bleinotiz mit Tinte überschrieben, im Falle des ersten Bleiverses sogar im identischen Wortlaut. Aufgrund dieser Wiederholungen und Variationen ist davon auszugehen, dass die Nutzung von Blei und Tinte durchdacht ist; die mit Blei verfassten Verse sind in einer früheren Arbeitsphase entstanden als die Tintenverse, die eine Art erste Reinschrift darstellen. Auch die eigentümlichen Zusammenzüge von Wörtern lassen Hypothesen zur poetischen Produktion und dem Verhalten des Schreibenden zu: der Akt des (Nieder)Schreibens einer Idee oder Inspiration verselbstständigt sich bei Chamisso beinahe. In den mit Blei verfassten Versen ist dies häufiger zu beobachten als in den Tintenversen. Auch im Schriftbild bestätigt sich diese Vermutung. Während die Bleiverse schwer leserlich sind und offenbar in großer Eile niedergeschrieben wurden, hat sich der Dichter bei den mit Tinte verfassten Versen mehr Zeit genommen, sie sind meist ordentlich und gleichmäßig zu Papier gebracht. Das Schriftbild kann außerdem Auskunft über die Genese der einzelnen Tintenversgruppen geben; während die mittleren und unteren Strophenentwürfe in einer ähnlichen Tintenfarbe gleichmäßig zu Papier gebracht wurden, sind die Verse der oberen Terzinengruppe mit kleinerer Schriftgröße und geringerem Zeilen- und Wortabstand in einer intensiveren Tintenfarbe verschriftlicht worden. Es ist deshalb möglich, dass zunächst die unteren, gleichmäßigen Abschnitte des späteren Mordthals entstanden sind und der Dichter den ersten Abschnitt mit Tinte zu einem späteren Zeitpunkt in den Freiraum zwischen den oben stehenden Bleiversen und den bereits vorhandenen unteren Tintenversen setzte. Chamissos Verse entstanden vermutlich nicht in der gleichen Anordnung, die sie in der Fassung der Ausgabe von 1831 haben werden. Für den Entstehungsprozess der Mordthal-Verse ist auf Blatt 53v auch die Liste am rechten Rand der Seite von großem Interesse. Diese besteht aus sieben sich reimenden Wörtern, jedes in einer eigenen Zeile, alle in Tinte festgehalten. Diese Art der Reimliste ist im Briefjournal von 1828 an verschiedenen Stellen zu finden: Ganz offensichtlich ist die Anfertigung solcher Listen ein Bestandteil von Chamissos poetischer Produktion. Jedoch hat keines der rechts stehenden Wörter direkten Eingang in die Mordthal-Verse der Seite gefunden; zum Klang der Reimliste passend ist lediglich „abgekehrt“ (Transkription: V. 24). Mögli-

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Tabitha van Hauten

Abb. 1: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6: Briefjournal 1828, Bl. 53v, gedreht um 1808 (Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin).

Adelbert von Chamissos Mordthal-Entwurf im Briefjournal 1828

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cherweise suchte Chamisso in der Reimliste Inspiration zur Fortführung dieses Verses. Die Reimliste zeigt aber eine Besonderheit der poetischen Arbeitsweisen Chamissos: Obwohl Chamissos Schreib- und Arbeitsweise sich im Akt des Schreibens verselbstständigt, folgt sie dennoch rational geplanten und eingeübten Produktionsstrategien, die für den Verfasser charakteristisch sind.

Zur Transkription Die Orthographie und Interpunktion folgt in allen Eigenheiten derjenigen Chamissos. Ebenso wird die Blatt- und Zeilengestaltung wiedergegeben. Alle editorischen Zeichen sind kursiv gestellt. Bleistift: Wiedergabe in hellem Druck Tinte: Wiedergabe in normalem Druck x: gestrichener Buchstabe. Aber : Nicht alle überarbeiteten Worte und Wortteile sind hier auch gestrichen. [ ]: Einfügung über bzw. unter der Zeile oder [[ ]] nachgestellte Einfügung. ?: unsichere Lesart &: unlesbarer Buchstabe; &: unlesbar gestrichener Buchstabe 1

MeinNahm ist am Ontario verklung n Der ich derletz meins stamms bin Ich habe mir ein sterbe Lied gesungen

[denn seht] iIch spreche selten [reiße] mich vom Lebenlos Und flieg [geh] ins Land der Geister freien Muthes Von Schwächen und von Tadel bar und blos. der Meing’en Mörder, Räüber meines Gutes Ihr weißen, denen meine Rache galt Genug vergoßen habich eures Blutes. 10 Ich bin gesättiget und Müd und alt Mein Nahm ist am Ontario verklungen im Waldes Wiederhall Mein Nahme ist am Ontario ver&hallt undist im heimischen ?Recht Ich habe selbst mein Sterbelied gesungen dieweil ich meines Stammes letzter bin war begehrt 15 Kein Lied erschallt um mich von fremden [anderen] Zungen. belehrt verzehrt Schon lange neigt hin unter sich mein sSinn vermehrt schon lange neigt hin unter sich mein Sinn genährt der Donner ruft mein Messer ist gezückt, gbewehrt Nun hat Donners Geist mich schlagen beschwerhrt 5

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Tabitha van Hauten

Zu euch, ihr väter [meiner] Väter komm ich hin, dringt des Donners wohl – ich komme hin Ich aber stand abgewendet und gebückt 20 Verhült das Antlitz in des Mantels falten verhallten und eurer meine Väter bin ich werhrt der Donner ruft – ich komme zu euch hin.

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Ichaber stand verhüllt [von fern] und abgekehrt verhült das Atntliz in des Mantels falten, So lange noch sein leises Röcheln wehrt. Ich trat hinzu.

Abbildung Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6: Briefjournal 1828, Bl. 53v.

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6.

Literatur Chamisso, Adelbert von: Gedichte. Leipzig 1831. ten Kate, Herman Frederik Carel: ,De Indiaan in de letterkunde‘, in: De Gids 83 (1919), S. 63–128. Whiting, Samuel: ,Hodgen’s Remarks on America‘, in: The North American Review 18 (1824) Issue 43 (April), S. 221–234.

Moritz Rauchhaus

Chamissos Listen

Aus philologischer Perspektive muss man darüber glücklich sein, dass das von Chamisso als Briefjournal von 1828 geplante Heft seinen Gegenstand verlassen hat und unbestimmteren Wegen gefolgt ist. So können wir an Methode und Inhalt die Arbeits- und Denkweise seines Verfassers herauslesen. Auch Michael Bienert hat dies in seinem Überblicksartikel über Chamissos Nachlass in der Staatsbibliothek betont, indem er die „Auseinandersetzung“ mit diesem als eine „Chance zu neuen Einsichten und Fragestellungen“ beschreibt. Er widmet dem hier zugrunde liegenden Notizbuch eine kurze Charakterisierung, die folgende Beschreibung enthält: „Die übrigen Seiten sind ohne erkennbares System angefüllt mit rätselhaften Zahlenkolonnen, Listen mit den Namen berühmter Männer, schwer entzifferbaren Versen, Zeichnungen und Adressen.“1 Tatsächlich lohnt die Beschäftigung mit Chamissos Ordnungen und Formen für das Verständnis seines gesamten Schaffens, wenn man sich aufmerksam auf die Spuren dieser Rätselhaftigkeit begibt. Die unterschiedlichsten Inhalte, seien es Reimwörter, botanische Beobachtungen, Namenslisten oder Adressen, werden im gleichen enumerativen Medium dargestellt. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass es sich um pragmatische2 Listen handelt, die einen Gebrauchswert haben und notiert werden, um später in wissenschaftlichen oder literarischen Arbeiten benutzt werden zu können. Demgegenüber, oder genauer : diese ergänzend, gibt es poetische Listen, die für den ausschließlichen Gebrauch in literarischen Werken oder als literarische Produkte selbst zu verstehen sind. Umberto Eco stellte dazu fest, dass „das, was eine poetische von einer praktischen Liste unterscheidet, nur die Absicht [ist], mit der wir sie betrachten.“3 Hier soll gezeigt werden, wie genau dieser Verdacht der Nähe von poetischen und pragmatische Listen zueinander bei Chamisso bestätigt wird, der als Botaniker und Dichter auch an beide Formen gewöhnt ist. 1 Bienert 2013, S. 110 u. 115. 2 Die Unterscheidung zwischen pragmatischer und literarischer Liste folgt Belknap 2004. 3 Eco 2009, S. 371.

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Moritz Rauchhaus

Den Anfang macht Blatt 2r eine Aufzählung der geschriebenen und erhaltenen Briefe aus den Monaten Januar und Februar des Jahres 1828. Die Einträge sind vertikal angeordnet, mit Endpunkten und oft mit einem vorangestellten Kreuz versehen. In der Beiläufigkeit des Auflistens von Briefkontakten, die den Alltag eines jeden Korrespondierenden des 19. Jahrhunderts ausgemacht haben könnte, wird gleichzeitig die Selbstverständlichkeit des Kombinierens und Formalisierens offenbar, an der sowohl der Forscher als auch der Dichter Chamisso teilhaben. Auf den beiden Seiten von Blatt 4 wird ein ganz ähnliches Gestaltungsmuster sowohl für die erledigten Arbeiten als auch für exemplarische Reimwörter verwendet. Die vier untereinander aufgeschriebenen Reime münden direkt in vier Verse, in denen sie jedoch nicht enthalten sind. Alles ist mit Blei geschrieben worden und einem Notizbuch entsprechend fragmentarisch, schließlich fehlt sogar ein Großteil der Seite. „Forschen“ reimt sich in gewisser Weise auf „rauschen“, vor allem mit einem französischen Akzent4 gedacht, und genau das ist notiert. Mag es eine Gedächtnisübung5 sein, poetische Aufwärmung vor dem eigentlichen Schreiben oder eine Notiz, das Auflisten dieser vier Wörter ist direkt in Ideen zu ganzen Versen übergegangen, die später Teil des 1830 entstandenen Gedichts „Ein Lied von der Weibertreue“6 sein werden. Aus dem Klang – dem Handwerk des Reimens – heraus entstanden diese poetischen Gedanken. Die Liste hilft hier nicht nur beim Systematisieren der erfassten Inhalte, sondern funktioniert auch als ein Ausgangspunkt, von dem aus das Schreiben abstrahiert und erweitert wird. Sie bietet ein empirisches Material, das dieser kleinen Dichtung vorausgeht, ist also eine pragmatische Liste für einen poetischen Zweck. Weitere Listeninhalte sind beispielsweise die auf Blatt 6r notierte, aus Zahlen bestehende Verhältnisliste und, erstmalig auf Blatt 13v, der Komplex der Namenslisten, der nun im Fokus stehen soll. Es handelt sich um Aufzählungen von Namen bedeutender Persönlichkeiten vorwiegend des 18. Jahrhunderts, wobei es sich durch den Umfang und die Häufigkeit im Notizbuch um mehr als Bienerts Beobachtung einer Liste „berühmter Männer“7 handeln muss. In kleinen Struktureinheiten fußen die Listen durchaus auf Äquivalenzen („Göthe“, danach: „Gothes Mutter“), im gesamten Aufbau geben sie jedoch Rätsel auf. Immer wieder werden diese Namen in den verschiedensten Kombi4 Dazu Werner Feudel: „Bis in seine letzten Tage zählte er französisch, den Akzent seiner Muttersprache hat er nie überwunden […].“ Feudel 1971, S. 24. 5 Eco bemerkt zur „Anordnung als Gedächtnisstütze“: „Eine bestimmte Ordnung der Dinge half dabei, sich an sie zu erinnern, sich an die Stelle zu erinnern, die sie im Gefüge der Welt einnehmen.“ Eco 2009, S. 155. 6 Zuerst erschienen in Chamisso 1831, S. 95. 7 Bienert 2013, S. 114f., Anm. 21.

Chamissos Listen

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nationen auftauchen und durch andere Namen erweitert werden.8 Einige sind mit Schlusspunkten versehen, alle mit Blei geschrieben. Sämtliche Namen verweisen auf bedeutende Schriftsteller, Politiker, Künstler, Philosophen, Wissenschaftler und Militärs sowohl aus Europa als auch aus Nordamerika. Ein Teil der notierten Persönlichkeiten waren Chamisso beispielsweise durch seine Aufenthalte in den verschiedensten Intellektuellenkreisen in Deutschland sowie in Frankreich9 bekannt. Es kann sich aber aufgrund der zeitlichen Distanz vieler Personen zum Autor nicht nur um Korrespondenzlisten handeln. Für die Interpretation dieser Auflistungen scheint von Lektürewünschen oder -protokollen bis hin zu Bewunderungslisten alles möglich zu sein. Hier wird es notwendig, das Notizbuch im Kontext des gesamten Schaffens Chamissos, seiner anderen Hefte und Gedanken zu verorten, die dieses Phänomen möglicherweise beschreiben können. Das Briefjournal von 1828 stellt diesbezüglich mehr Fragen, als es zu beantworten vermag. Noch umfangreicher ist das Auflisten dann auf Blatt 16r, auf dem erstmals auch die Anordnung der Namen in Zehnereinheiten vorgenommen wird. In dem nun teilweise auch mit Tinte geschriebenen Dokument lassen sich am linken Rand ein Ansatz zu einem Rahmen und innerhalb der Liste vereinzelte Unterstreichungen beobachten. Diese Aufzählungen sind also abermals in sich gegliedert, so als wäre mit ihnen eine besondere Anordnung angestrebt worden. Vielleicht hat Chamisso dadurch eine Auflistung der zehn in irgendeiner Art richtigen Anordnung von Namen gesucht, also ein Projekt verfolgt, das aus dem Notizbuch allein heraus nicht erkennbar ist. Ebenfalls als praktische Erinnerungen funktionieren die wissenschaftlichen Notizen zur Botanik, denn ihr Verwendungszweck wird aus den vorliegenden Seiten nicht deutlich. Sie tauchen nur vereinzelt auf, zum Beispiel auf Blatt 51r. Sie sind hier mit Tinte geschrieben worden, in lateinischen Buchstaben, durch klare Unterteilungsstriche getrennt und enden vereinzelt mit Schlusspunkten. Diese botanischen Notizen sind wohl die Keimzelle des systematischen Listens, wie es in diesem Notizbuch sichtbar geworden ist. Denn die Fixierung empirischer Beobachtungen, von Ergebnissen oder Vermutungen in einer schnell identifizier- und vor allem verifizierbaren Darstellungsform der Auflistung ist verbreitetes Werkzeug (natur-)wissenschaftlichen Arbeitens. Dabei darf jedoch nicht außer Acht 8 So zum Beispiel auf den Blättern 13v, 15v, 31v und 41r. 9 Feudel schreibt: „[…] der Dichter hingegen entsagte vorläufig der philosophischen Spekulation, seit er in den Salons der jüdischen Familien Cohen, Herz, Levin und Ephraim verkehrte. […] Hier traf sich alles, was Rang und Namen hatte, ohne Rücksicht auf Stand und Bekenntnis.“ Sowie: „Chamisso folgte im Herbst 1810 A. W. Schlegel ins Exil der Frau von StaÚl nach Chaumont und später nach Foss¦ […]. In Chaumont hatte die StaÚl auf einer alten Burg an der Loire einen Kreis interessanter Persönlichkeiten um sich versammelt […].“ Feudel 1971, S. 27 u. 60.

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Abb. 1: Nachl. Adelbert von Chamisso: Notizbuch 1828, Blatt 16r (Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin).

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gelassen werden, dass Chamisso 1828 Zeitgenosse einer sich ausbildenden systematischen Botanik ist. Die bedeutende Grundlagenarbeit Carl von Linn¦s, der Nomenklatur für Tier- und Pflanzenarten, lag nicht lange Zeit zurück, andere wichtige Beiträge zur modernen Biologie werden zum Beispiel erst durch Darwins folgen.10 Der Naturforscher Chamisso adaptierte diese effiziente Arbeitsweise in alle Bereiche seines Schaffens. Reime waren nicht mehr nur Teile eines Verses, sondern poetische Partikel, die gesondert neue Verbindungen miteinander eingehen konnten, wenn sie aufgelistet wurden. Dies galt ebenfalls für Namen, Zahlen, Arbeiten und Korrespondenzen. Möglicherweise begannen sie aus Chamissos Alltag heraus als pragmatische Listen, fungierten dann aber auch als Teil kreativer Prozesse, verwandelten sich also je nach Betrachtungsart durchaus in Listen für poetische Zwecke, legten also ihren ursprünglichen Zweck nie gänzlich ab. Für die Rezeption stellen sie zu seinem umfangreichen Schaffen zwischen den Disziplinen und Kontinenten seiner Zeit eine der aufschlussreichsten Quellen dar. Sie laden nachgerade zwingend zu einer grundlegenden Analyse ein.

Abbildung Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamissos, K. 34, Nr. 6: Notizbuch 1828, Blatt 16r.

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6.

Literatur Becker, Hans Joachim (Hg.): Goethes Biologie. Die wissenschaftlichen und die autobiographischen Texte. Würzburg 1999. Belknap, Robert E.: The List. New Haven 2004. Bienert, Michael: ,Botanisieren auf Papier. Ein Blick in Chamissos Notizbücher‘, in: Federhofer, Marie-Theres / Weber, Jutta (Hg.): Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso. Göttingen 2013, S. 107–121. Chamisso, Adelbert von: Gedichte. Leipzig 1831, S. 95. Eco, Umberto: Die unendliche Liste. Übers. v. Barbara Kleiner. München 2009. Feudel, Werner : Adelbert von Chamisso. Leben und Werk. Leipzig 1971. 10 Vgl. dazu das Kapitel „Wo setzt Goethe mit seinen Untersuchungen an?“, in: Becker 1999, S. 14f.

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Im Jahre 1793 schrieb Friedrich Schiller, dessen Gedichte Adelbert von Chamisso in seiner Zeit als junger Fähnrich im Regiment von Carl Ludwig Bogislav von Götze Trost und Zuflucht boten1, in der Ästhetischen Erziehung des Menschen: „[…] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, u n d er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“2. Dieser Beitrag widmet sich den Manifestationen von Chamissos Spieltrieb3, welcher auf vierzehn von insgesamt 116 Seiten des Notizbuches von 1828 offenbar wird. Anhand der Betrachtung Chamissos als homo ludens4 – der spielende Mensch – soll hier aufgezeigt werden, dass seine schöpferische Produktivität unter anderem darin begründet liegt, dass er nicht „nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt […] [und, J. H.] zum Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft“5 wurde, sondern sich der Mehrdimensionalität der Welt öffnete. Seine „intellektuell[e] Beweglich[keit]“6 lässt sich besonders gut anhand des Notizbuches illustrieren, welches bereits durch seine heterogene Struktur prädestiniert für ein freies Gedankenspiel ist. So stehen in Chamissos Notizbuch botanische Studien lyrischen Entwürfen gegenüber und die zwei Passionen Natur und Kunst, mit welchen Chamisso, wie er es 1810 an Friedrich de la Motte-Fouqu¦ schreibt, „mit leisem Sinn [s]ein Leben zieren“7 möchte, begegnen sich auf gleicher Ebene und befruchten sich 1 Vgl. Feudel 1971, S. 15: „Die Vorliebe des jungen Chamisso für Schillers Weltanschauungsgedichte […] sind im unmittelbaren Zusammenhang mit seinem unsicheren Emigrantendasein zu sehen“. 2 Schiller 1992, S. 614 (Hervorh. i. O.). 3 Spieltrieb wird bei Schiller verstanden als „alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äusserlich noch innerlich nötigt […] Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nehmlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt.“ Schiller 1992, S. 611 u. 613. 4 Vgl. Huizinga 1987. 5 Schiller 1992, S. 572f. 6 Vgl. Bienert 2013, S. 108. 7 Adelbert von Chamisso: An Fouqu¦, in: Chamisso 1842, S. 320.

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gegenseitig.8 Gleich einer „Botanisiertrommel“9 diente Chamisso das Notizbuch als ein Behältnis, in dem er die verschiedensten Entdeckungen, Begegnungen und Anregungen konservierte. Die Aufzeichnungen aber, die sich einer solchen eindeutigen Zuordnung zum schriftstellerischen Schaffen oder zur naturwissenschaftlichen Forschung entziehen, sollen hier unter dem Begriff des Spiels10 subsumiert und beschrieben werden. Bei der Analyse dieser verspielten Elemente überwiegen mit neun von vierzehn Seiten bisher nicht zu decodierende Zahlenquadrate11. Hierbei reihte Chamisso einstellige, natürliche Zahlen in Form eines Quadrats aneinander, wobei seine Verfahrensweise variiert. Naheliegende Vermutungen, es handle sich um damals populäre Zahlenspiele, wie das Eulersche oder Lateinische Quadrat bewahrheiten sich nicht, da sich manche Zahlen in einer Reihe oder einer Spalte wiederholen. Es bedarf somit weiterer Forschung und der Suche nach Entsprechungen in anderen Nachlässen seiner Zeitgenossen um die Bewandtnis der Zahlen eindeutig zu klären. Wenn auch der Zweck dieser Zahlenquadrate dunkel bleibt, so lassen sich doch zwei Tendenzen daran ablesen. Zum einen die offensichtliche Bemühung um Systematisierung und Ordnung, die sich bereits in Form der botanischen Klassifikationssysteme und zahlreichen Listen wiederfindet. Zum anderen aber eine verspielte Suchbewegung, in diesem Fall einer Suche nach Regel- und Gesetzmäßigkeiten in Zahlenkombinationen. Diese Suchbewegung ist auch auf den anderen analysierten Seiten evident und Ausdruck des Spielens. Sich darauf einzulassen, heißt gleichfalls die Ordnung aufzugeben und sich auf ein Spiel von Versuch und Irrtum einzulassen, dessen Ausgang immer unvorhersehbar ist.12 8 Zur Wechselwirkung von Naturwissenschaft und Dichtung siehe Feudel 1988, S. XXXIII. 9 Bienert schreibt: „Die Notizbücher hatten für Chamisso eine vergleichbare Funktion wie eine Botanisiertrommel, in der er Pflanzen schonend aus der Natur auf den Schreibtisch transportierte, um sie dort in Ruhe zu bestimmen und gegebenenfalls zeichnerisch zu dokumentieren“. Bienert 2013, S. 111. 10 Huizinga definiert das Spiel folgendermaßen: „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ,Andersseins‘ als das ,gewöhnliche Leben‘.“ Huizinga 1987, Kap. „Vom Ursprung der Kultur“, S. 37. Siehe auch: Koschorke 2012, der hier die Verwandtschaft der anthropologischen Konzepte des homo ludens und des homo narrans betont. 11 Bienert nennt sie „rätselhafte[] Zahlenkolonnen“. Bienert 2013, S. 115. Sie finden sich im Notizbuch von 1828 auf den Seiten Bl. 19v, Bl. 20r, Bl. 20v, Bl. 24v, Bl. 29r, Bl. 33v, Bl. 33r, Bl. 34r, Bl. 34v. 12 Diese Bemühung um eine gewisse Form der Ordnung, die in den meisten Fällen nicht durchgehalten wird – so steht das Notizbuch im wahrsten Sinne des Wortes Kopf und Gemaltes und Geschriebenes überdecken einander – bemerkt auch Bienert in der Analyse des Notizbuches von 1810: „Als biografisches Dokument betrachtet, erweckt es den Eindruck, dass im Ideenhaushalt des systematisierenden Naturforschers Chamissos ein kreatives Chaos geherrscht haben muss. […] Immer wieder hat Chamisso Anläufe unternom-

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Auch Blatt 39r, auf welchem Chamisso seinen Namen in persischer Schrift niederschrieb13, ist Ausdruck solch einer suchenden Dynamik (korrekte Umschrift: Sˇa¯misu¯). Die wilden Durchstreichungen zuvor lassen auf die Mühe schließen, die Chamisso diese Schrift gekostet haben musste. Auch die Version, die er nicht verworfen hat, weist einige Mängel auf, so sind der erste und der letzte Buchstabe nicht korrekt gezeichnet (richtig wäre: fTi UH). Die Erschließung dieser Seite wirft die Frage nach der Quelle seiner Kenntnisse auf. Ein möglicher Anhaltspunkt ist Chamissos Freundschaft zum Herausgeber des Asiatischen Magazins und Mitglied des „Nordsternbundes“ Julius Klaproth. Klaproth, Orientalist mit dem Forschungsschwerpunkt Sinologie, war der persischen Schrift mächtig, wie ein „Stammbuchblatt“, datiert auf den 1. Juli 1804, aus Chamissos Nachlass14 belegt. Klaproth notierte hier für seinen Freund einen Vers des persischen Dichters Hafis. Karl August Varnhagen von Ense, ebenfalls Mitglied des „Nordsternbundes“ und enger Freund Chamissos, charakterisierte Klaproth als einen Menschen, welcher „in seinem Fache […] für einen Adler galt, oder zum wenigsten gelten wollte“ und sein breites Wissen allzu gerne teilte: „[er] konnte nicht umhin, uns mit der Lage und dem Inhalt seiner näheren Studien bekannt zu machen, und dies blieb nicht im Allgemeinen stehen, sondern bildete sich auch im Besonderen zu förmlichen Unterrichtsstunden im Persischen aus, das er uns als leicht und gewinnreich anrühmte, und Chamisso drängte ihn sogar zu den Anfangsgründen des Chinesischen.“15 Klaproth schätzte Chamisso als Freund wie als Sprachforscher, was ein Brief vom 7. Februar 1824 beweist. In diesem bittet Klaproth Chamisso, „sowohl Mitvater als auch Geburtshelfer“ einer Neuauflage des Mithridates zu werden, ein Sammelwerk zu den Sprachen der Welt in der Tradition von Johann Christoph Adelungs bekanntem Sprachwerk, und die „Sprachen der Philippineninseln und anderer Inseln der Südsee“16 zu übernehmen. Das Projekt scheiterte, belegt aber Klaproths Ambitionen wie Chamissos Reputation als Sprachwissenschaftler. Dieser Exkurs zeigt, dass Chamissos Umfeld ein Inspirierendes war und einen

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men, ein Briefjournal zu führen oder sich Rechenschaft über die geleisteten Arbeiten zu geben, doch diese Versuche brechen nach einigen Seiten, Tagen oder Wochen ab.“ Bienert 2013, S. 114. Dass dies nicht die erste und einzige Begegnung mit dem Persischen ist, zeigt die Durchsicht der gesammelten Notizbücher. Auch Bienert findet im Notizbuch von 1810 einen weiteren Hinweis: „Inspiriert durch Goethes 1819 erschienenen West-östlichen Divan legte Chamisso eine Liste mit den Todesjahren persischer Dichter an, wobei er einen ,Nordwestlichen Divan‘ aus dem Titel machte“. Bienert 2013, S. 114. Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 33, Nr. 6. Kommentiert und übersetzt in Walravens 1999 (b), S. 147. Varnhagen von Ense 1943, S. 316f. Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 28, Nr. 52. Kommentiert und übersetzt in Walravens 1999 (a), S. 86.

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Impuls zur weiteren Forschung in Richtung Chamissos Sprachbegeisterung geben kann. Feststeht: Das Notizbuch wurde zum Ort der spielerischen Auseinandersetzung mit fremden Sprachen, Zahlen, Regelmäßigkeiten, Ordnungen und darüber hinaus nicht zuletzt zum Ort der Suche nach dem Selbst. So hat auch Chamissos Niederschrift seines Namens den Charakter eines „Spiegel[s] im fremden Wort“17, eines Entwurfs, der dazu dient, sich selbst auf die Spur zu kommen, sich seiner selbst habhaft zu werden18, wie Thomas Mann erläutert. Dies vermitteln auch die Bleistiftzeichnungen auf den Blättern 41, 48 und 49. Auf Blatt 41r sind schematisch ineinander verschlungene oder auseinander hervorgehende Körper erkennbar. Der Charakter einer „fröhlichen Übung“19 wird noch durch das zaghafte Aufdrücken des Bleistifts hervorgehoben. Am bemerkenswertesten scheint hierbei das Selbstporträt auf Blatt 48v direkt über einem Entwurf des Gedichts „Mateo Falcone, der Korse“. Für die Vermutung, dass es sich um ein Selbstporträt handelt, sind dabei weniger die Konturen des Gesichts ausschlaggebend als vielmehr die charakteristischen „grauen Locken“. Die „grauen Locken“, die einen festen Topos in Chamissos Lyrik darstellen, dienen ihm insbesondere in der intensiven Schaffensphase zwischen 1827 und 1834, seinen sieben „fetten Jahren“20, dazu, dem vergänglichen Äußeren einen jugendlichen Wesenskern gegenüberzustellen: „Ein halbes Hundert mir entrauschter Jahre / Hat nicht mein Herz berührt, nur meine Haare“21. Dieser Topos korrespondiert mit der vorliegenden Zeichnung, denn Chamisso beließ es nicht bei einem konventionellen Selbstbildnis, sondern ergänzte die Zeichnung wiederum um etwas Verspieltes. Ähnlich dem berühmten Kupferstich von Theodore de Bry22, auf welchem Athene aus dem Kopf des Zeus geboren wird, erweiterte Chamisso das Porträt um das Motiv des Auseinanderhervorgehens und inszenierte sich somit als schöpferischen Menschen. Der Blick auf die scheinbar unbedeutenden Spielereien und Zwischenräume dieses Notizbuches erweist sich als durchaus lohnend, ermöglicht er uns doch, neben dem Einblick in konkrete Wissensbildungsprozesse oder in die Genese von Gedichten, einen unmittelbaren Zugang zum Menschen Chamisso. In seinem Nekrolog „Zum Gedächtnisse Adelbert von Chamisso’s“ schreibt Varnhagen über seinen Beitrag zur posthumen Veröffentlichung von Chamissos Kor17 So der Titel von Vertlib 2007. 18 Thomas Mann betont in seinem Essay Peter Schlemihl Chamissos Ortlosigkeit und seine ständige Suche nach einer identitätsstiftenden „Heimat“, die den Nationalitätsbegriff transzendiert, um seine empfundene „Unbestimmtheit“ und „Unwirklichkeit“ zu überwinden. Mann 2002, S. 252. Insofern könnte auch das Notizbuch eine Manifestation der Suche nach einer solchen Identität und Heimat darstellen. 19 Alsleben 2007, Art.: „Spiel“, S. 788. 20 Vgl. Osterkamp 2014, S. 73–93, hier S. 86. 21 Vers 15f. von Adelbert von Chamissos Gedicht Berlin. Im Jahre 1831, in: Feudel 1988, S. 5. 22 Maier 2006, Emblema XXIII, S. 101.

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Abb. 1: Briefjournal 1828, Blatt 48v, gedreht um 1808 [Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin – PK].

respondenzen, dass ihm damit nicht daran gelegen sei, „eine Schilderung zu versuchen, noch über den Freund ausführlich zu reden, sondern ihn vielmehr selbst reden zu lassen“. So sollten auch die Spielereien aus dem Notizbuch von

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1828 vielmehr für sich selbst sprechen und in ihrem Eigenwert dargestellt sein, um somit einen weiteren „Beitrag zur Kenntnis eines Menschen darzubieten, der in all seinen Äußerungen gekannt zu sein verdient.“23

Abbildung Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6: Briefjournal 1828, Blatt 48v.

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 28, Nr. 52. Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 33, Nr. 6. Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6.

Literatur Alsleben, Brigitte (Red.): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 4., neu bearb. Aufl. Duden Band 7. Mannheim 2007. Bienert, Michael: ,Botanisieren auf Papier. Ein Blick in Chamissos Notizbücher‘, in: Federhofer, Marie-Theres / Weber, Jutta (Hg.): Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso. Göttingen 2013, S. 107–121. Chamisso, Adelbert von: Werke und Briefe. Hg. von Julius Eduard Hitzig. Bd. 5 u. 6: Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso. Leipzig 1842. Feudel, Werner : Adelbert von Chamisso. Leben und Werk. Leipzig 1971. Feudel, Werner (Hg.): Chamissos Werke in einem Band. Hg. von den Nationalen Forschungs-und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Berlin und Weimar 1988. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 1987. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main 2012. Maier, Michael: Atalanta Fugiens. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1618. Nachwort von Dr. Michael Kuper. Mit 52 Kupferstichen von Matthäus Merian. Schalksmühle 2006. Mann, Thomas: ,Peter Schlehmil‘, in: Detering, Heinrich / Heftrich, Eckhard / Kurzke, Hermann u. a. (Hg.): Thomas Mann: Werke – Briefe – Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.1: Essays I (1893–1914), Frankfurt a.M. 2002, S. 277–287.

23 Varnhagen von Ense 1843, S. 177–181, hier S. 178. Zum vertrauten Verhältnis zwischen Karl August Varnhagen von Ense und Adelbert von Chamisso siehe auch Rosenstrauch 2003.

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Osterkamp, Ernst: ,Verjüngung als Altersstil: Adelbert von Chamisso‘, in: Neumann, Gerhard / Oesterle, Günter (Hg.): Altersstile im 19. Jahrhundert. Würzburg 2014, S. 73–93. Rosenstrauch, Hazel: Varnhagen und die Kunst des geselligen Lebens. Eine Jugend um 1800. Berlin 2003. Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Otto Dann, Axel Gellhaus, Klaus Harro Hilzinger u. a., Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main 1992. Varnhagen von Ense, Karl August: ,Zum Gedächtnisse Adelbert von Chamisso’s‘, in: Ders.: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften, Bd. 5: Vermischte Schriften. Zweiter Theil. Leipzig 1843. Vertlib, Vladimir : Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006. Dresden 2007. Walravens, Hartmut: Julius Klaproth (1783–1835). Briefe und Dokumente. Wiesbaden 1999 (a). Walravens, Hartmut: Zur Geschichte der Ostasienwissenschaften in Europa. Ab¦l R¦musat (1788–1832) und das Umfeld Julius Klaproths (1783–1835). Wiesbaden 1999 (b).

Christiane Clever

Die fehlenden Blätter

Wie in den vorangegangen Beiträgen zu Chamissos Notizbuch deutlich geworden ist, lassen sich aus Adelbert von Chamissos Briefjournaleinträgen bemerkenswerte Schlüsse ziehen. Doch wie ist der Umstand zu bewerten, dass zahlreiche Blätter herausgetrennt wurden?1 Auch wenn sie nicht da sind, einfach ignorieren lassen sich die fehlenden Blätter bei der editorischen und inhaltlichen Analyse des Notizbuches schlecht: Zunächst interessiert, ob der Forschung durch ihren Verlust etwas entgeht? Gleich zu Beginn muss konstatiert werden, dass sich dies anhand der vorhandenen Informationen nicht beurteilen lässt. Darüber hinaus bleibt die Frage offen, ob Chamisso es selbst war, der die Blätter herausgerissen hat? Wenn ja, kann das Notizbuch, so gesehen, trotzdem als vollständiger Beitrag zu seinem Werk gelten?2 Wird die Bedeutung der Autorschaft für die Textrezeption, wie in den postmodernen Theorien üblich, grundlegend in Frage gestellt, dann wäre das Konzept des Werksbegriffs an sich ohnehin strittig und gleichzeitig müsste es für die Untersuchung des Notizbuches nicht unbedingt eine übergeordnete Rolle spielen, ob Chamisso die Blätter selbst entfernt hat. Möchte man jedoch die Rolle des Autors nicht außer Acht lassen, sondern versuchen, aus der Interpretation des vorliegenden Materials Rückschlüsse auf den Schriftsteller Adalbert von Chamisso ziehen, bleibt die Frage bestehen, durch wen und warum die Blätter abhanden gekommen sind. Es fällt auf, dass nahezu alle herausgerissenen Blätter, deren Inhalt sich noch 1 Die Blätter 3, 4, 5, 8, 15, 36, 42 sind in Teilen vorhanden, weitere fehlende Blätter deuten sich nur durch Papierreste am Falz an. 2 Mit der Problematik des Werkbegriffs, die sich unter anderem darin zeigt, dass es nicht möglich ist, das Werk einzugrenzen, hat sich beispielsweise Michel Foucault in seinem Aufsatz: „Was ist ein Autor?“ beschäftigt: „Aber wenn man in einem Notizbuch voller Aphorismen einen bibliographischen Nachweis, einen Hinweis auf eine Verabredung, eine Adresse oder einen Wäschereizettel findet: Werk oder nicht Werk? Aber warum nicht? Und so weiter ad infinitum. Wie lässt sich aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren?“ Foucault 1988, S. 7–31, hier S. 13.

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andeutet, mit Blei beschriftet wurden, also dem Material, das Chamisso bevorzugt für seine Entwürfe oder Zeichnungen verwendet hat.3 Daraus könnte man in Anbetracht der Tatsache, dass die meisten der vorhandenen und mit Tinte beschriebenen Seiten unangetastet blieben oder nur halb herausgerissen wurden, schließen, dass der Autor die Blätter selbst herausgetrennt hat. Die Annahme, dass es Adelbert von Chamisso war, der besonderen Wert auf die in Tinte verfassten Schriften legte, bestätigt sich allerdings genauso wenig wie die Vermutung, dass überhaupt jemand darauf achtete, diese zu erhalten. Ausgerechnet die mitunter am kunstvollsten gestalteten Blätter wurden zerrissen. Ein Teil eines in Tintenschrift verfassten Gedichtes an Friedrich Heinrich Karl Baron de la Motte Fouqu¦ fehlt durch den Verlust des Blattes; ein wunderschön gezeichneter Schriftzug in tiefem Schwarz auf Blatt 15 verso ist nur noch partiell vorhanden. Besagte Seite ist noch in einer anderen Hinsicht erwähnenswert. Fast ließe sich annehmen, dass die darauf vorhandene Liste von Chamisso nachträglich – also nach dem Abreißen – erstellt wurde, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass er das Blatt eigenhändig entfernt hat. Es scheint so, als hätte sich die Schrift eher dem diagonal zerrissenen Blatt angepasst als umgekehrt. Die Notierung der Liste hat einen starken Drang nach rechts, die Wörter wirken am unteren Ende, als sei Chamisso beim Schreiben am Falz des Blattes in Platznot geraten. Allerdings muss eingeräumt werden, dass der Hang nach rechts auch bei anderen Listen im Notizbuch ausgeprägt ist. Ob nun Blatt 15 nach oder vor Erstellen der Liste entfernt wurde, es wirkt, betrachtet man die offensichtlich penible Art, nach der der Abriss erfolgt ist, als hätte jemand die Liste erhalten wollen. Doch wer interessierte sich dafür, die für Chamisso typischen Listen4 zu bewahren und ist dabei gleichzeitig so achtlos mit anderem Bemerkenswerten, wie beispielsweise seinen Zeichnungen,5 umgegangen?6 Chamisso könnte die Blätter entnommen haben, weil er unzufrieden mit ihren Inhalten war. Das ist möglich, obwohl es kaum zu der Arbeitsweise passt, die sich sonst in dem Briefjournal beobachten lässt. Vielleicht waren aber auch andere, mit seinem Nachlass betraute Personen – aus welchem Grund auch immer – nicht einverstanden mit dem Inhalt der Blätter und haben sie entfernt?7 3 Vgl. dazu auch den Beitrag „Tinte und Blei – Überlegungen zur Wertigkeit von Schreibgeräten“ von Benjamin Fiechter in diesem Band. 4 Vgl. dazu den Beitrag „Chamissos Listen“ von Moritz Rauchhaus in diesem Band. 5 Vgl. dazu auch den Beitrag „Verspieltes“ von Johanna Hähner in diesem Band. 6 So ist beispielsweise die Zeichnung auf Blatt 3v zerstört worden. 7 Die verschiedenen Stationen, die Chamissos Nachlass durchlaufen hat, lassen sich ab 1937/38 nachvollziehen. Er befindet sich im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin. Für weitere Informationen: http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/handschriften/ aufgaben-profil/projekte/nachlaesse-und-autographen/nachlass-adelbert-von-chamisso/ (16. 02. 2014).

Die fehlenden Blätter

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Abb. 1: Briefjournal 1828, Blatt 15v Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6 [Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin].

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Christiane Clever

Möglicherweise ist die Lösung viel weniger spektakulär, und Chamisso hat die Blätter, weil nichts anderes zur Hand war, herausgerissen, um für jemanden etwas zu notieren. Denkbar wäre auch, dass er seine Beobachtungen beim Rundgang in der Natur festhalten wollte, um sie dann an einem anderen Ort zu archivieren. Einen Mangel an Papier musste Chamisso offensichtlich nicht beklagen, auch wenn einige Seiten mehrfach beschriftet wurden. Die vielen freien Flächen seines Notizbuches zeigen, dass er mit dieser Ressource geradezu verschwenderisch umgegangen ist. Alles in allem betrachtet, kann mit dem jetzigen Wissensstand also nicht geklärt werden, auf welchem Weg die Blätter verschwunden sind. Die Bedeutung ihres Fehlens lässt sich an dieser Stelle lediglich theoretisch beurteilen. Hat Chamisso sie selbst entfernt, dann ist das, egal aus welchem Grund er sich dazu veranlasst sah, eine Entscheidung, die wie schon angesprochen wurde, als Teil seines schriftstellerischen Schaffens verstanden werden kann. Damit ist das Notizbuch komplett. Solange, bis die herausgerissenen Blätter doch noch auftauchen …

Abbildung Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6: Briefjournal 1828, Blatt 15v.

Ungedruckte Quellen Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6.

Literatur Foucault, Michel: ,Was ist ein Autor?‘, in: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main 1988, S. 7–31.

Internetquelle http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/handschriften/aufga ben-profil/projekte/nachlaesse-und-autographen/nachlass-adelbert-von-chamisso/. Letzter Online-Zugriff am 16. 02. 2014.

Anne Baillot

Wissen, Lieben – und Schreiben: Phantastik und Skepsis im Briefwechsel Chamissos mit seiner Frau aus dem Sommer 1823

Im Sommer 1823 unternahm Adelbert von Chamisso eine Beobachtungseise nach Greifswald und Rügen und ließ seine Familie währenddessen in Berlin zurück. Der Briefwechsel, den er zwischen dem 10. Juni und 17. Juli mit seiner Ehefrau Antonie führte, beinhaltet v. a. Reflexionen zum naturwissenschaftlichen Zweck der Reise. Er befasst sich aber auch mit dem Schreibprozess im Dialog mit der geliebten Adressatin. Damit knüpfen diese Briefe sowohl an die Jugendbriefe Chamissos mit seinen damaligen Freunden an und an die Weltreisebriefe. Im Korpus an Reisebriefen, worum es hier gehen soll, liegt aber – verglichen mit der Weltreise – die Fremdheitserfahrung nicht in der Auseinandersetzung mit fremden Kontinenten, sondern mit dem älter gewordenen Ich. Um den Bogen zwischen Jugend und Reife geht es hier, und um diesen zu spannen, ist der erste Teil dieses Aufsatzes dem Briefwechsel Chamissos mit seinem Freund Louis de La Foye aus den Jahren 1804 bis 1812 gewidmet, einer Zeit, in der der Dichter viel umherreiste, bis er sich in Berlin endgültig niederließ. Insbesondere um die Thematisierung des Verhältnisses von (Natur-) Wissenschaft und Dichtung soll es in diesem Korpus gehen, ein Themenkomplex, der im Anschluss im Kontext des Briefwechsels mit der Ehefrau Antonie aus dem Sommer 1823 unter die Lupe genommen wird.1 In beiden Briefkorpora kristallisiert das Motiv des Reisens die Inszenierung von Entfernung und deren 1 Beide Korpora wurden zwischen 2011 und 2014 im Rahmen von BA-, MA- und Hausarbeiten von StudentInnen der Europäischen und Deutschen Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin neu transkribiert und ediert. Sie sind in der digitalen Edition Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800 (http://tei.ibi.hu-berlin.de/berliner-intellektuelle/; Stand 13. November 2014) einsehbar (vgl. Abb. 1). Ich bedanke mich bei Lena Ebert und Henrike Bobzien dafür, dass sie es mir ermöglicht haben, diese Untersuchung nicht auf der Grundlage von redigierten Editionen, sondern auf ihrer Arbeit mit den Originalhandschriften basierend zu konzipieren. Ich werde hier nicht auf die Überlieferungsgeschichte der Korpora eingehen, es sei nur darauf hingewiesen, dass, im Falle des Briefwechsels mit de La Foye beinahe ausschließlich die Briefe von Chamisso und kaum Gegenbriefe vorliegen, während die Briefe Antonies so gut erhalten sind wie diejenigen Chamissos und der briefliche Dialog sich durchgehend rekonstruieren lässt.

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Anne Baillot

Überwindung durch den Akt des Schreibens. So vermischt sich die Reise als naturwissenschaftliche Erkundung mit Überlegungen zur Gestaltung der Liebesbeziehung und der Schreiberidentität. Das Zusammenspiel dieser Elemente im Kontext des hier betrachteten Korpus wird untersucht, ehe in einem letzten Schritt der Analyse auf die Ergiebigkeit des Briefwechsels mit Antonie für das schriftstellerische Wirken Chamissos eingegangen wird.

1.

„Wir brauchen nur eine Stube und ein Bett“2 – die Briefe der frühen Jahre an Louis de La Foye

In der Zeit zwischen 1804 und 1812 war Chamisso ständig auf dem Sprung, noch wusste er nicht, wo er sich niederlassen sollte. Von 1798 bis 1806 diente er im Regiment von Carl Ludwig Bogislav von Götze, zuerst als Fähnrich und seit 1801 als Leutnant. Ab Dezember 1806 hielt er sich in Paris auf, im Sommer 1807 bei den Geschwistern in Vertus und Troyes, kehrte nach Berlin zurück, ehe er sich 1810 wieder nach Paris begab. Nach nur wenigen Monaten in der französischen Hauptstadt schloss er sich Ende September 1810 Mme de StaÚl in Chaumont an, auf deren Vermittlung er den Winter in Napol¦on-Vend¦e verbrachte. 1811 stieß Chamisso erneut zu jenem Kreis um Mme de StaÚl, zunächst in Coppet und später in Genf, von wo aus er mehrere Alpenexkursionen unternahm. 1812 begab er sich dann endgültig nach Berlin. Diese extrem mobile Situation gab Anlass zu ausgeprägten existentiellen Betrachtungen, die sowohl Weltskepsis als auch phantastische Selbstinszenierungen Ausdruck verleihen. Im Briefwechsel mit den engsten Freunden kommen diese variierenden Pole am deutlichsten zum Ausdruck, so anhand der Briefe an den Freund de La Foye, der in vielfacher Hinsicht in Chamissos Briefen als Reflexionsfläche fungiert. Dieses Identifikationsphänomen hat gute Gründe, springen doch die Schicksalsparallelen beider Emigrantenkinder sofort ins Auge. Ebendiese Parallelen wurden nicht zuletzt von der (allerdings verhältnismäßig spärlichen) Forschung stets in den Vordergrund gestellt.3 Kennengelernt haben sich Adelbert von Chamisso und Louis de La Foye 1803, vermutlich über Julius Eduard Hitzig4, Chamissos engen Freund, literarischen Berater, künftigen Verleger und Schwiegervater5. Zusammen mit Julius Eduard

2 Brief an de La Foye vom 16. Januar 1807 (ab hier, wenn nicht anders angegeben, gilt jeder Verweis auf Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin, wie Anm. 1, Stand 13. November 2014). 3 Dufraisse 1995, S. 155–166; ders. 1982, S. 63–90. 4 Hierzu vgl. Busch 2014. 5 Hitzig war Ziehvater der 1800 geborenen Antonie Piaste, die Chamisso 1819 heiratete.

Phantastik und Skepsis im Briefwechsel Chamissos mit seiner Frau (1823)

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Hitzig spielen in den Briefen an de La Foye alle Freunde aus dem Nordsternbund6 eine wichtige Rolle. Dieser literarischen Vereinigung, die von 1803 bis 1806 bestand, gehörten neben Chamisso, de La Foye, Hitzig und Karl August von Varnhagen u. a. auch Friedrich Wilhelm Neumann, Friedrich de la Motte Fouqu¦, Ludwig Robert und Ludwig Friedrich Franz Theremin an. In den von Chamisso und Varnhagen 1804 bis 1806 herausgegebenen Musenalmanachen7 veröffentlichten die Mitglieder des Nordsternbundes ihre lyrischen Werke. Nachrichten der Nordsternbund-Freunde und Bruderschaftsbeteuerungen gehörten zu den strukturierenden Topoi der Briefe Chamissos an de La Foye, so etwa die häufig verwendete Anrede „Adelf“ (Bruder). Eine weitere gemeinsame Erfahrung prägt den Briefwechsel zwischen Chamisso und de La Foye der Jahre 1804–1812 in besonderem Maße: die Erlebnisse in der preußischen Armee. Ab Ende 1799 war de La Foye Offiziersanwärter im Regiment Christian Ludwig von Winning, kehrte aber 1804 nach dem Tod seines Vaters nach Frankreich zurück. Chamisso war es, der sich um de La Foyes Ausscheiden aus der Armee kümmerte.8 Bei Chamisso hinterließ die Zeit beim preußischen Militär tiefe Spuren, die nicht ohne Bezug zu seiner naturwissenschaftlichen Laufbahn standen. Im Herbst 1812, endlich in Berlin als Student der Medizin immatrikuliert, berichtete er etwa: Der Wissenschaft will ich durch Beobachtung und Erfahrung, sammeln und vergleichen mich nähern – vergessen hab ich schon daß ich je ein Sonnet geschrieben. – Gott verzeihe mir meine Sünden – Der alte freundliche Knape, trocken wie seine Lehre von den trockenen Knochen, frug mich letzhin auf dem anatomischen Saale wo er das Prepariren dirigirte, – auf welcher Universität ich früher studirt – Im Regiment von Götze gab ich ihm zu Antwort –9 6 Busch (u. a.) 2014. 7 Chamisso / Varnhagen (Hg.): Musenalmanach auf das Jahr 1804. Leipzig 1804; dies.: Musenalmanach auf das Jahr 1805. Zweiter Jahrgang. Berlin 1805; dies.: Musenalmanach auf das Jahr 1806. Dritter Jahrgang. Berlin 1806. 8 „Deinen Abschied habe ich diese Tage erhalten, nach langen langsamen Bemügungen, die Hunde haben es übel genomen und sie haben darüber schwer geseufzet daß du das Blat geschnitten hattest, und so weiter […]“ (Brief an de La Foye vom 1. März 1805). Vgl. schon im Brief an de La Foye vom 20. September 1804: „Vergiß nicht daß du noch um ein Abschied anzuhalten hast.“ 9 Brief an de La Foye vom Herbst 1812. Auch Chamisso, wie andere Emigranten, und darin auch den preußischen Hugenottenkindern nahe, bekennt sich zum preußischen Patriotismus (vgl. Brief an Hitzig vom Juni 1813, in: Hitzig 1839, Bd. 1, S. 343), was in den napoleonischen Kriegen dazu führte, dass französischsprachige Soldaten einander bekämpften. Im Brief an de La Foye vom Winter 1814 schreibt er explizit: „Nie hab ich mehr unlust an der Politische und mehr ekel gegen Frankreich empfunden als eben jezt. ich schätze mich sehr glücklich nicht da zu sein und begehre gar nichts“. Bereits von Coppet aus hatte er sich 1811–1812 nach seinem „Norden“ gesehnt (Im Brief von Mai oder Juni 1811 erwähnt er das Vorhaben, in Deutschland zu studieren). Die Assoziation zwischen Norddeutschland und dem Nordsternbund wird im Brief vom 1. März 1805 explizit: „Auch die Beibehaltung der Pfeife lob’ ich, sie ist dir jetzt die

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Damit wird eine gerade Linie zwischen Militär und Wissenschaft gezogen, in die die dichterische Karriere nolens volens eingebettet wird. Chamisso gibt an, er habe „vergessen“, „je ein Sonnet geschrieben“ zu haben, so wie er an anderer Stelle in einem vergleichbaren Gestus behauptete, sich vom „Dichtisiren“ seiner frühen Jahre zu distanzieren.10 Doch die Erwähnung des Vergessens ruft gezwungenermaßen die Erinnerung hervor. Das Dichten steht hier wie eine Klammer zwischen militärischer und naturwissenschaftlicher Selbstbestimmung – aber als eine Klammer, die sich nicht ausklammern lässt. 1804 siedelte sich de La Foye infolge der napoleonischen Bemühungen, die emigrierten Adelsfamilien nach Frankreich zurückzuholen und des Todes seines Vaters (Mai 1804) in der Normandie an, während Chamisso mehrere Jahre lang keinen festen Wohnsitz hatte. Durch die Freunde des Nordsternbundes animiert und sich dem Projekt des grünen Almanachs11 leidenschaftlich widmend, beschäftigte sich Chamisso in dieser Zeit mit Feinheiten der deutschen Metrik.12 Gleichzeitig spekulierte er auf ein gemeinsames Leben mit de La Foye: „[D]as dünkt mich wie unser alte Traum. Wir brauchen nur eine Stube und ein Bett, bist du auf deinem Bureau, quäl ich mich und die Deutsche Sprache redlich daheim daß Verse draus werden […].“13 Den Traum eines Dichterlebens gab Chamisso jedoch auf, wie es der spätere Briefwechsel zeigt. Im August 1811 hieß es aus Anlass des Kennenlernens von Jean Charles L¦onard Simonde de Sismondi, dieser sei „ohne das was den Dichter macht“, was zu einer Selbstverortung Anlass gab: „Solches erstirbt auch mehr und mehr in mir, es war wirklich eine Zeit wo wir die Ruthe verdienten. – was ich itzt verdiene – ich weiß es wahrlich nicht doch auf jeden Fall wenig

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Frucht des Vaterlandes […] müssen wir doch nach dem Aufgang die Augen werfen, dem Lande der Erlosung unserem Deutschlande, und wieder uns sehnen, wie nach dem Ewigkeits Blicke des Nordes Sternes selber schauen, den deutschen sind wir doch“. Vgl. auch den Brief vom 12. August 1805 an Varnhagen und Neumann: „O Freunde, lasset uns nicht […] die Zeit, mit Bemühungen des Dichtisiren zerfetzen! und Machwerke doch zum öftern nur machen. […] Das lege ich Euch ans Herz, für mein Theil will ich nicht dichten wollen.“ (Palm 1864, S. 81) Aufgrund der grünen Einbandfarbe wurden die Musenalmanache auch als „Grüne“ bezeichnet. Ende Oktober 1804 schreibt Chamisso an de La Foye: „ich werde nichts schreiben, das nicht probe halte“, und kommt im Brief an de La Foye zwischen Mitte März und Anfang April 1805 auf metrische Feinheiten zu sprechen, ohne sich und Varnhagen jedoch mit dem „Meister[] der Versifikazions Kunst Voss vergleichen“ zu wollen. Brief an de La Foye vom 16. Januar 1807. Mit dem „alten Traum“ meint er sicherlich den bereits im Brief vom 15. August 1804 erwähnten: „Solltest du, nicht Offizier mehr, wiederum nach unserm Norden deine Schritte leiten, so hast du auf dieses zu rechnen: 1. die Hälfte meines Bettes (so lang ich unverheiratet bin) meines Zimmers, meines Lichtes, meiner Heizung. – 2 auch wenn es sein soll die kleinere Hälfte meines täglichen Brotes da ich den grosseren Apetit habe […]“. Also 1804 ein Berliner, 1807 ein Pariser Traum.

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genug.“14 Die Zeit in Genf und Coppet (von 1811 bis 1812) als Gast Germaine de StaÚls empfand er als eine unglückliche Lebensphase. Die Briefe an de La Foye dokumentieren insbesondere Selbstzweifel und ein Gefühl der Unzugehörigkeit, das teilweise in Selbst-, teilweise in Weltverachtung mündete. Der Ausbruch des Krieges hinderte ihn daran, Coppet rechtzeitig zu verlassen,15 um sich seinem Wunsch gemäß zum Sommersemester 1811 an der Berliner Universität zu immatrikulieren.16 Im Brief vom Winter 1811 ging er eindrücklich darauf ein, dass er sich fehl am Platz fühle, dabei seine Unzufriedenheit mit der Coppet’schen ,schönen‘ Gesellschaft andeutend: „Ich spiele den Brumbären in dieser glanzenden rauschenden feinen Welt wo lerm für musik, Eleganz für Gehalt, und Maul Tasche wesen für alle geraubte Freiheit dienen soll.“17 Die Kritik am sozialen Kerker wurde zu einem Motiv des in sich verfaulenden Körpers weitergesponnen: ich bin müde über alle massen, ich habe keinen willen mehr ich sehe es noch mit an, daß mir die Beine vom Leibe weg abfaulen. […] Den Sommer werd ich wohl nicht einmal dazu kommen, einen Spaziergang ins Gebürg zu unter nehmen, ich seh’ es kommen. ich weiß schon wie das alles hier geht. Ich bin mit W.[ilhelm] A.[ugust] Sch.[legel] sehr mißvergnügt wenn wir zusammen im selben Loche eingesperrt sind weiß ich eben nicht wie es gehen wird […]18

Zwischen Einkerkerung in sich selbst und in der Welt einerseits und Freiheit der naturwissenschaftlichen Selbstbildung andererseits sind Reisen (und seien es einfache Wanderungen) als Schlüsselerlebnisse zu verorten. Chamisso füllte seine Flucht aus einer als mangelhaft empfundenen sozialen Identität mit Topoi des Reisens. Seit Herbst 1811 widmete er sich der Lektüre von Reiseliteratur19 und bereitete Exkursionen in die Alpen vor: auch will ich itzt, als mein eigener Herr, bei meinem, auf deinem anstoßen unter nommenen, botanischen Studium, hier den hohen Sommer erwarten, sodann ins ge14 Brief an de La Foye vom 16. August 1811. Die Ruthe kommt in Bezug auf Kindererziehung im Brief Chamissos an Antonie vom 21. Juni 1823 wieder vor: „wird er[= der Sohn] beleidigend unartig – die Ruthe, aber ohne viel davon zu sprechen: Nie ohne Noth, nie ohne Nachdruck. […] aber die Poesie, der Scherz, die Fable, wovon so ein junges Leben vollsteckt, ja nicht für Lüge ansehen.“ 15 Vgl. Brief an de La Foye vom Herbst oder Winter 1811: „Ich mache mir selber weiß daß eben die Gründe die man mir zu gehen gegeben, mich zu bleiben bestimmt haben; die furcht die man mir nemlich in die Glieder jagen wollen als wäre der Standpunkt gefährlich – es ist im Grunde nichts daran – ich bin nur aus mangel an Thatkraft geblieben, aus furcht vor der Kälte, vor dem Kriege im Norden“; Brief an de La Foye von Anfang 1812: „ich habe den Winter auf die alte weise verbracht, am alten Joche gottweißwie gebunden.“ 16 Vgl. Brief an de La Foye vom 16. August 1811. 17 Brief an de La Foye vom Herbst oder Winter 1811. 18 Brief an de La Foye aus Genf, Anfang 1812. 19 Vgl. Brief an de La Foye vom Herbst oder Winter 1811.

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bürg, und nach vollbrachter Wahlfahrt, mißgönnen es da nicht die Zeit umstände, leise nach meinem Norden abrutschen. […] ich kenne schon nach delamarck und De Candolle an ein Paar Hundert Blumen […] die stillen unschuldigen Blumen, unterhalten mich wirklich besser und vertraulicher als Menschen […]20

So wurden die botanischen Streifzüge durch die Alpen21 Momente der Selbstfindung, die Hand in Hand mit einer Neuentdeckung der Natur gingen – nicht zuletzt auf den Impuls de La Foyes, der seinem Freund die Botanik ans Herz legte.22 Die Schreibbewegung ist dabei eine doppelte: Es geht sowohl um eine weltliche Abgrenzung von einer als künstlich empfundenen Geselligkeit als auch um die Verabschiedung eines als ebenso künstlich betrachteten Naturlobs in Versen. Die sich anschließende Reise nach Berlin, zum lang ersehnten Norden, wurde ihrerseits als Heimatfindung in Szene gesetzt: „ich ergreife den wanderstaab und laufe nach berlin, aus mir kann nimmermehr ein Pariser werden“23. Einmal in Berlin angekommen (Herbst 1812), fielen Identität mit Beschäftigung und Lebensort erstmalig zusammen und wurden mit der entsprechenden Entschiedenheit auch in Kombination miteinander verkündet: Ich lebe einmal mit mir und der Welt in Eintracht, und aus der Lüge heraus. Ich habe verständig gewählt und ausgeführt, und bin einmal was ich heiße und heisse was ich bin – Dies ist Studioseo Medicinae der Universität zu Berlin.24

Damit kann der Bogen gespannt werden von der anfänglichen militärischen Fremdbestimmung bis zum festen, selbst bestimmten Lebensort, von 1804 bis 1812, oder vielmehr der Kreis von Berlin nach Berlin, nachverfolgt. Die Briefe an de La Foye aus dieser Zeit zeigen Chamissos Wende von der Dichtung zu den Naturwissenschaften als das Ergebnis einer Identitätssuche, die sich durch eine Reihe von Orts- und Tätigkeitswechseln vollzog. Die immer stärker werdende Geselligkeitskritik veranschaulicht darüber hinaus, wie zentral und bedeutend die Beziehung zu ausgewählten Briefpartnern für die Konstruktion dieses Selbstverständnisses des Dichters und Botanikers war.25 20 Brief an de La Foye von Genf oder Coppet, Frühling 1812. 21 Insbesondere in Begleitung Auguste de StaÚls; vgl. Brief an de La Foye vom Juni oder Juli 1812: „Morgen gehn wir zum vierten Mal in’s Gebürg“. 22 Vgl. Schmid 1942, S. 14ff. sowie Hitzig 1839, S. 244, FN und Br. 136. 23 Brief an de La Foye von Juni oder Juli 1812. Vgl. schon im Brief an de La Foye vom 16. August 1811: „Ich bin wirklich noch hier, mein Lieber […]. Es soll Anfangs künftigm Monats los-, und davon gehen. meiner Seits vermutlich füßlings durch die Schweiz und so fort nach Nord deutschland allein […]“. 24 Brief an de La Foye vom Herbst 1812. 25 Vgl. die Schilderung seines Berliner Lebens ebd.: „Ich habe fast aller schönen Geselligkeit entsagt, und lebe nur mit dem prächtigen geduldigen Hitzig. – ich wohne mit dem guten stachellosen Neumann zusammen, der auch pracktisch geworden […]. Varnhagen florirt hier […] er lebt in der vornehmsten Welt, ich in meiner Tabacks-Brennerei und Theatrum anatomium.“

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1812 war Chamisso jedoch bei Weitem noch nicht am Ende seiner Selbstsuche. Auf das Studium folgte eine Weltreise von 1815 bis 1819, dann eine Anstellung am Königlichen Herbarium, 1819 die Eheschließung mit Antonie. 1820 und 1822 wurden die Söhne Ernst und Max geboren. Mitten in dieser kleinbürgerlichen Idylle brach Chamisso im Sommer 1823 nach Greifswald auf, um Barometermessungen vorzunehmen.

2.

„[J]ung wieder werden in Dir“26 : die Briefe Chamissos an seine Frau

Die Tatsache, dass er die Strecke zwischen Berlin und Greifswald laufend zurücklegen wollte, ließ sein familiäres Umfeld stutzen.27 Möglicherweise motivierte ihn die Erinnerung an die als befreiend empfundenen Alpenexkursionen. Gleich im ersten Brief zeigte sich allerdings eine gewisse Skepsis: „Ich habe mein Barometer so weit wohlbehalten gebracht, aber langweilig, langweilig und abermals langweilig ist eine solche Reise.“28 Es dauerte nicht lange, bis er darauf verzichtete, sein Barometer selbst zu tragen. Er holte sich streckenweise Unterstützung und kommentierte dies folgendermaßen: „[…] es war mir ganz recht. Ich hatte von der Hitze gelitten, mein Pack war mir sehr fatal, mein Ueberrock, meine Stiefel dazu, die zu weit sind und sich schlecht eintreten.“29 Diese wenigen Attribute (Pack, Überrock, Stiefel) evozieren in auffällig dichter Form zentrale Deklinationen von Chamissos literarischer Persönlichkeit der vorangegangenen zehn Jahre: als Schlemihl-Alter Ego einerseits und als Weltumsegler andererseits. Dennoch ziehen sich im Hintergrund nicht nur Weltgewandtheit und wissenschaftliche Anerkennung, sondern auch Selbstzweifel und Skepsis gegenüber der eigenen Weltkenntnis, wie sie in den frühen Briefen an de La Foye zum Ausdruck kamen, ebenfalls durch die Briefe. Im Vergleich zur Korrespondenz mit de La Foye hat sich im Briefwechsel mit 26 Brief an Antonie vom 25. Juni 1823. Die Briefe der Greifswalder Reise werden im Rahmen der digitalen Edition Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800 ediert. Zitiert wird hier nach der Transkription von Henrike Bobzien. 27 Vgl. z. B. Brief von Antonie an Chamisso vom 14. und 15. Juni 1823: „Nachmittags ging ich mit den Kindern zu Pohls, die Tante nimmt den größten Antheil an Dir und hat so unendlich oft, ihr Mitleid mit Dir ausgesprochen, sie konnte sich über Dein zu Fuß gehen, in der Hitze, gar nicht trösten. Zu Hitzig ging ich erst spät, fand da die ganze Familie, Hehring, Forstner, und Sander. Hitzig grüßt Dich herzlich. Erman, Lichtenstein und Andere sagen Du hättest nicht nöthig gehabt zu Fuß zu gehen.“ 28 Brief an Antonie vom 11. Juni 1823. 29 Brief an Antonie vom 11. Juni 1823. Um die schmerzhaften Stiefel geht es auch im Brief vom 21. Juni 1823: „das gehen wird mit nur aus einem Umstand beschwerlich – daß nämlich meine Stiefel zu weit waren, der eine sehr schief getreten und mich gedrückt hatte.“

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der Ehefrau die Dialogsituation von einer Bruder-zu-Bruder- zu einer Vater-zuKind-Geste verschoben, damit sowohl dem tatsächlichen Altersunterschied der beiden Ehegatten Rechnung tragend als auch den Schreibstandards des 19. Jahrhunderts. Bedeutungsträchtige, in den Briefen an de La Foye uns begegnende Symbole finden sich auch in den Briefen der Greifswalder Reise wieder : das Motiv der einen Stube für zwei,30 des Siegelrings,31 ja selbst der für den Nordsternbund typischen Grußformel, die als „griechischer gelehrter Gruß“32 eingesetzt wird. Diese Elemente schaffen eine Kontinuität im Briefhabitus. Antonie fügte sich dem Erwartungshorizont als Ehefrau, als Mutter, als Briefschreiberin, indem sie erst abends, nach erledigtem Tagespensum,33 schrieb und dabei immer so müde war, dass sie kaum die Feder,34 ja nicht einmal die Augen offenhalten35 konnte. Auch kam sie den Erwartungen ihres Mannes als ungelehrte Frau entgegen („Du weißt ja, dass ich keine geübte Schreiberin bin“36) oder wurde am Schreiben gehindert, weil gerade geschneidert wurde.37 Ebenso berichtete sie von einer Predigt über Gehorsam und bekannte sich leidenschaftlich dazu. Oder sie gestand, sie liebe Chamisso mehr als er sie und freue sich darüber.38 Mit diesen, in den Briefen verstreuten Aussagen inszenierte sie sich selbst als Bilderbuchehefrau. Die Frage, ob dies von ihrer Seite als (wenn auch möglicherweise unbewusste) Strategie zur Eroberung eines Freiraums gedeutet werden könnte – z. B. um den erotischen Träumen und zahlreichen Umarmungsphantasien Gehör zu verschaffen – sei hier dahingestellt. Vielmehr soll es darum gehen, was der Schriftsteller selbst daraus machte. 1804 hatte Chamisso seine Weltskepsis als erbitterte Unwissenheit und Unkenntnis der Welt inszeniert: „Ich mögte mit Fäusten mich schlagen! Ein Kerl von 24 Jahren, und nichts gethan, nichts erlebet, nichts genossen nichts erlitten, 30 Brief von Antonie vom 10., 11. und 12. Juni 1823. Auch wenn das Zimmer des Ehepaars (im Gegensatz zum phantasierten gemeinsamen Zimmer mit de La Foye) zwei Betten hat, lässt es, wie es die Folgebriefe zeigen, reichlich Raum für erotische Phantasien zu. 31 Brief von Antonie vom 14. und 15. Juni 1823. 32 Brief an Antonie vom 14. Juni 1823. 33 Brief von Antonie vom 18. und 19. Juni 1823: „zugleich freue ich mich und danke Gott, wenn der Abend erst herangekommen ist, weil es wirklich die einzige Zeit ist, wo ich ungestört, mit Dir, mich unterhalten kann.“ 34 Brief von Antonie vom 14. und 15. Juni 1823. 35 Brief von Antonie vom 4., 5., 6. und 7. Juli 1823, unter Datum des 6. Julis: „Das Schreiben wird mir jetzt des Abends recht sauer die Augen thun mir immer so weh, drum will ich Dir für heute gute Nacht sagen.“ 36 Brief von Antonie vom 14. und 15. Juni 1823. 37 Brief von Antonie vom 21. Juni 1823. 38 Brief von Antonie vom 10., 12., 13. und 14. Juli 1823: „Du hast es mir auch schon zugestanden daß ich Dich mehr liebe als Du mich, ich bin auch mit der Anweisung, die wir Frauen erhalten haben, ganz zufrieden.“

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nichts geworden, nichts erworben, nichts, rein nichts, in dieser erbärmlichen erbärmlichen Welt!“39 In den Briefen an Antonie wiederum wurde mit Reife und Alter40 die Unfähigkeit zum Enthusiasmus in der Beobachtung der Welt thematisiert – und damit auch die Unfähigkeit zur ,richtigen‘ Beobachtung. So lässt sich folgende Aussage Chamissos an Antonie verstehen, geschrieben zu einem Zeitpunkt, an dem er noch hoffte, sie würde nach Greifswald reisen, um ihn auf seiner RügenExkursion zu begleiten: Es ist mir sehr klar geworden, wie ich nur mit und durch dich Freude an meiner Rügner Reise haben könnte, daß ich wieder zum ersten Mal durch Deine Augen die See sehen dürfte, vom Stubenkammer aus in die dir noch soweite weite Welt hinaus schauen, Jung wieder werden in Dir, nichts gesehen haben, und wieder zum ersten Male sehen.41

Das Briefschreiben als Spaltung des Ichs zur Versenkung in eine andere Perspektive kommt bereits in Briefen an de La Foye vor : „kannst du dich in mich hinein denken“42, fragte Chamisso im Frühling 1812. Im Falle Antonies aber geht es nicht darum, durch sie zu denken, sondern, durch sie zu sehen. So wurde der traditionelle geschlechterspezifische Diskurs über weibliche Natürlichkeit vs. männliche Künstlichkeit in Formen der Weltwahrnehmung und -wiedergabe übersetzt. Es heißt im Anschluss daran, über das Barometer spottend: „Wenn nicht anders ist, werde ich hübsch gelehrt nach meinem Barometer sehen, und das Meer da drunten branden sehen – du würdest mir gewiß Lieder gemacht haben.“43 Lieder gegen Barometer, Dichtung gegen Gelehrsamkeit? So eindeutig ist die Spaltung doch nicht. Das zeigt insbesondere die Funktion, die in diesem Briefwechsel den Blumen zukommt. Die Briefe an Antonie enthalten zahlreiche Hinweise auf das Blumeneinlegen. So schrieb Chamisso: „Könnte wohl Vater die Digitalis Purpurea im Logen Garten oder in einem anderen für Geld und gute Worte für 30 Exemplare auftreiben (die kleinsten sind die liebsten) du würdest sie einlegen. […] – Für die Kornblume rechne ich auf euch.“44 Die Antonie einbeziehende botanische Tätigkeit hielt während der gesamten 39 Brief an de La Foye vom 20. September 1804. Noch 1806 heißt es: „Die Minuten sind von Gold so wichtig und fallen dahin, – eh ich mich umschaue hat es mit mir geendet.“ (Brief an de La Foye vom 9. Dezember 1806) 40 Noch in einem Brief an de La Foye aus dem Jahr 1821 heißt es: „Heut bin ich 40 Jahre alt. Und du?“ (Brief an de La Foye vom 30. Januar 1821) 41 Brief an Antonie vom 25. Juni 1823. 42 Brief an de La Foye aus Genf oder Coppet, Frühling 1812. 43 Brief an Antonie vom 25. Juni 1823. 44 Brief an Antonie vom 28. Juni 1823. Vgl. ihre Antwort darauf im Brief vom 1., 2., 3. und 4. Juli 1823. Vgl. ebenso ihren Brief vom 22. und 23. Juni 1823: „Die beiden Pflanzen haben wir nicht vergessen.“

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Reise an. Antonie machte einen Ausflug nach Schöneberg, um Chamissos Informationen seinem Vorgesetzten im Botanischen Garten, Schlechtendal, mitzuteilen.45 Sie stritt sich sogar mit diesem darüber, wer von ihnen beiden die Kornblumen einlegen dürfe.46 Auch das Ende der Reise war mit dem Abschluss eines Blumenlebenszyklus verbunden. Eine Woche vor der Rückkehr schrieb Chamisso: Du könntest immer die Pflanzen, die noch unter der Presse waren, in grossen Bogen heraus nehmen, damit ich freies Papier vorfände. Vielleicht komme ich, wenn das Wetter schön ist, gleich mit einer Heuernte heim. Man muß das Geschäft nicht versäumen, und diese Fahrt hat mich nun etwas verspätet –47

Zieht man noch den Briefwechsel mit de La Foye heran, lässt sich eine Metamorphose des floralen Themas bei Chamisso rekonstruieren. In der Zeit um 1810 waren Blumen noch bevorzugter Teil seiner Dichtung, nicht zuletzt unter dem Einfluss Helmina von Ch¦zys. Ab 1811 wurden sie, aufgelistet, zu Forschungsgegenständen. Bereits 1814 schrieb Chamisso an de La Foye über sein Herbarium, dies sei: „mein Schatz und meine Lust – dass soll es sein und bleiben, lieber was würde aus mir, wenn mir das Heu zu widerstehen anfinge.“48 1823 waren es Blumen, die die bereiste Gegend interessant machten.49 Als Dichtungsgegenstand waren sie nun unter der Feder des Botanikers depotenziert. Das waren sie allerdings auch als Teil von Liebesbeziehungen im Alltag. So schrieb Antonie: „Bitte, pflüke doch ja eine Blume für mich, aber ja pflüke sie mit

45 Ihre Rolle als Botin wird in ihrem Brief vom 18. und 19. Juni 1823 angedeutet: „ich habe dem Schlechtendal Deinen letzten Brief den Dienstag auf dem Wege nach der Faueninsel herrauf gebracht.“ 46 Vgl. Brief von Antonie vom 24., 25., 26. und 27. Juni 1823: „Heute morgen, mein lieber Adelbert, sind wir […] nach Schönberg gegangen, […] zu Schlechtendal, um zu fragen, ob er Deine Briefe bekommen habe den ich gleich gestern hinschickte, wir sagten ihm daß wir Dir Kornblumen hinter Schönberg hohlen wollten, er suchte es uns auszureden, weil er sie morgen selbst wollte einlegen, indeß lies ich es mir nicht nehmen, er ging mit uns und sagte mir weil die Exemplare so sehr viel zu groß sind und keine kleinen zu finden, ich möchte sie mir nach den Bogen schneiden, das habe ich den gründlich befolgt, den Holunder wollte er mir nicht überlassen, er will Dir auch über alle diese Dinge Bericht erstatten.“ Dass sie durchgehend mit Schlechtendal in Kontakt steht, lässt sich ihrem Brief vom 10., 11., 12. und 14. Juli entnehmen: „(Schlechtendal hat mir gestern gesagt er freue sich auch sehr auf deine Rükkunft)“. 47 Brief an Antonie vom 12. Juli 1823. 48 Brief an de La Foye vom Winter 1814. Vgl. auch schon im Juni oder Juli 1812: „Ich hatte sehr anspruchslos Pflanzen zu trocknen angefangen, – und nun zählt mein Herbarium bald tausend gattungen, und nun fängt es an mir als eine Habe mir zu erscheinen […].“ 49 Zu Beginn der Reise heißt es: „Ein ekelhafteres Land giebt es wohl auf der Erde nicht wieder, Kein Pflänzlein in dieser grauen Wüstenei, die einen Botaniker erfreuen könnte.“ (Brief an Antonie vom 11. Juni 1823)

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der Absicht sie mir zu bringen, damit es mir ein Andenken sei, wie du auch in der Ferne Deiner Antonie denkst.“50 In dieser Forderung klingt eine Bitte um Rückversicherung über den Stellenwert ihrer Beziehung, sozusagen eine Bitte um eine Liebeserklärung, an. Denn gibt es eine offensichtlichere Liebesgeste, als auf Reisen eine Blume für die Geliebte zu pflücken und diese mitzubringen? Die Aufforderung kann aber auch als eine Mahnung verstanden werden, der Natur ihren sensiblen Platz wiederzugeben: Blumen sind nicht nur Forschungsobjekte, sie sind mit Affekt besetzte Erinnerungsobjekte. Tatsächlich ließ sich Chamisso im Laufe der Greifswalder und Rügener Reise immer mehr von Affekten durchdringen. Vom Schreibduktus her setzen sich die letzten Briefe von den vorhergehenden ab. Folgende Passage zeigt exemplarisch, wie das (Affekt-)Ich durch die Verbindung mit der Adressatin in der Situation des Briefschreibens mit Kraft hervorgehoben wird: Deine Briefe machten so ein Teil meines Lebens aus. Es fällt jetzt aus – und doch nur einen Tag! Mag sein, aber ich empfinde es doch. Ich weiß nicht recht, was ich sage, Dich von unserem Volksfest zu unterhalten fehlt mir die Laune, ich habe noch manches zu kramen, und der Zeiger der Uhr steht nicht still. ich habe dir im Grunde nichts zu sagen, als was Du schon weißt – Ich liebe Dich, ich komme zu Dir. Ich bin Dein Vater, Dein Mann Dein Bräutigam, dein Freund und dein Geliebter.51

3.

„auch ist mein Heu nichts weniger als in Ordnung“52 – zur Ordnung der Dinge bei Chamisso

Die Reisebriefe an den Freund bzw. an die Frau zeigen die Verwandlung vom jungen Dichter hin zum Naturwissenschaftler, der dann – der Ausblick auf die 1830er Jahre ist schon in den Briefen an Antonie angelegt – wieder zum Dichter finden wird. Bei aller Ähnlichkeit in Ton und Duktus änderte sich jedoch zwischen den Jugendbriefen und den Briefen aus den 1820er Jahren Einiges. Es sei hier die These aufgestellt, dass die Wende, auf die die Briefe bis 1812 zusteuern, deswegen eine Wende ist, weil Chamisso sich von da an zu einer gewissen Selbstund Weltordnung bekannte.

50 Brief von Antonie vom 7. Juli 1823. 51 Brief an Antonie vom 12. Juli 1823. Besonders hervorgehoben seien hier die zahlreichen „ich“-Assonanzen. 52 Ebd.

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Ordnung der Welt (Wissenschaft) Die Wendung zu einem naturwissenschaftlichen Studium wird von Chamisso nicht im Sinne einer Fachspezialisierung, sondern enzyklopädisch, als Ansatz zu einem Gesamtverständnis der Welt, konzipiert. 1812 stand nicht das bereits erkundete Pflanzenreich im Mittelpunkt des angestrebten Studiums, sondern das Tierreich. Die Ambition war eine ausdrücklich allgemeine: diesen Winter freilich anatomie nebenbei Zoologie und Botanik, künftigen anatomia comparata physiologie und Botanik, mein Zweck ist eben nicht zu pracktizieren, ob ich gleich nach dem Doktorhut ringen werde, ich will alle Naturwissenschaften mehr oder weniger umfassen, und in einigen Jahren als ein gemachter Mann und ein Rechter Kerl vor mir stehen, der zu einer gelehrten Reise im allgemeinen, und zu einer grossen Unternehmung der Art, als tauglich sich darstellen könnte.53

Wenige Monate später fasste er seine eigene Entwicklung in Worten einer Spannung zwischen Phantastik und Skepsis mit folgenden Worten zusammen: „So stehts mit mir Adelf – Ich hebe mich von der Spekulation zu der Erfahrung [.]“54 Dieses Weltbild galt den gesamten menschlichen Verhältnissen. Nach erbitterten Betrachtungen über die französische Politik merkte Chamisso an: „ich habe mehr Freude an meinen Eingeweide Würmer die ich zuletzt auf die Muster zu bestimmen und in Ordnung zu bringen habe.“55 Ordnung herzustellen war ebenfalls der Zweck des Reisens als Auseinandersetzung mit der wilden, nicht geordneten Natur :56 Sensible Erfahrungen (die Reise zu Fuß, die Erkundung Rügens „durch die Augen“ Antonies) und Beobachtungen machten dabei die Grundlage des Schreibens aus.57 In Greifswald ordnete die naturwissenschaftliche Tätigkeit nicht nur Naturphänomene, sondern auch soziale Verhältnisse. So schrieb Chamisso kurze Zeit nach seiner Ankunft: „Ich bin Prophet in seinem Lande, ich coursire als Weltumsegler Conversations Lexikons Mann, und Mann ohne Schatten. Die Professoren der Universität kommen mir entgegen.“58 Dieser ordnende Zugang zur Natur war mit einem allgemein konservativen, 53 54 55 56

Brief an de La Foye vom Herbst 1812. Brief an de La Foye von wahrscheinlich 1813. Brief an de La Foye vom März–Juni 1814. So etwa auch die Passivität in der Phase vor der Abreise zur Weltumseglung: „Lieber Freund ich liege auf meinem Heu in Erwartung des frischen Grasses lasse die welt gehn und ziehe einen fuß nach dem andern aus ihr heraus niemand und nichts fesselt mich recht mehr und ich glaube man mögte fast so ein abgekühltes Thier einen Philosophen nennen, ware nicht grade das erste was ich hasse und verachte die Philosophie –.“ (Brief an de La Foye vom 23. Januar 1815) 57 „Sonnabends fange ich zu beobachten an und werde mehr Sachen zu schreiben haben“: Brief an Antonie vom 18. Juni 1823. 58 Brief an Antonie vom 18. Juni 1823.

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aber manchmal doch offeneren Verständnis der Geschlechterrollen verbunden. So hieß es beispielsweise: „Ach ich wünschte ich hätte eine weibliche leidenschaftliche Liebe zur Wissenschaft.“59 So leicht ließen sich weibliche Fantasie und männliche Skepsis doch nicht voneinander trennen.

Ordnung der Geschlechter Obwohl das o. g. Zitat einem Brief an de La Foye entnommen ist, findet sich Lob der weiblichen Weltwahrnehmung vor allem erwartungsgemäß in den Briefen an Antonie, allerdings eingebettet in einen traditionellen Diskurs der Rollenverteilung der Geschlechter. In den außerehelichen Briefen hingegen wird dieser Diskurs hinterfragt. Der Briefwechsel mit de La Foye ist mit Liebesbeteuerungen übersät, die sich grundsätzlich im Rahmen des damaligen Briefduktus unter Männern bewegen. Dennoch fallen an einzelnen Stellen besonders ambigue Aussagen auf.60 Auch Transferphänomene sind zu finden, bezeichnenderweise in der Periode der ihn affektiv überwältigenden Liebesbeziehung mit Helmina von Ch¦zy. So etwa eine „wundersame ergreifende Scene“: Wir [= Chamisso und Helmina] waren mißmutig und es schlug eben nichts an – sie hub an von ihrer Liebe, von ihrem nagenden Kummer, mich nicht früher, vor 10 Jahren, wo sie mich (doch noch in mir selbst Schlummernden) wohl geahndet, und schon ganz zu mir sich hinneigt, mich sag ich damals nicht ganz gekannt, mich nicht ganz geliebt, mich nicht wie nun zu spät, nach einem verpfuschten nicht rein gebliebenen Leben erfaßt zu haben: da wäre es Zeit gewesen, – Zweifelte auch wieder, ob und wie ich sie liebte. Freundschaft, so etwas, nicht verstoßen wollen, lieben weil sie so unglücklich, weil ich so gut und mild: sie hielt traurend meine Hand – es schnitt mir ins Herz und ich sagte nun Gott weiß wie und mit welchem Tone: Ich liebe dich. Da preßte sie krampfhaft stumm trennen-los ihre Lippen auf meine Hand und ihr langer Kuß ging in eine Ohnmacht über aus der Ströme von Tränen über ihr verkläre leuchtenden Angesicht sie spät erhohlten – da wär ihr gedanken gewesen: nun sterben, nun wußte sie es.61

Diese Geschlechterordnung wankt hier an zwei Stellen: erstens, als Chamissos eigene Stimme in dieser Schilderung bei den Worten „gott weiss wie und mit welchem Tone“ wackelig erscheint, und zweitens, weil der dieser Passage vor-

59 Brief an de La Foye von März–Juni 1814. 60 In einem Brief, wo Chamisso von sexuellen Avancen eines Mannes berichtet, schließt er den Bericht mit der andeutungsvollen Frage: „bißt du auch schon so geliebt worden, haben auch Jünglinge deiner begehrt?“ (Brief an de La Foye vom 20. September 1804) 61 Brief an de La Foye von Juli 1810.

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angehende Satz lautet: „Wir speisten selbander bei Grignon, hatten ein Kabinet wo ich noch einmal mir dir zusammen speisen will.“62 Ob nun eine Wiederholung der Liebeserklärungszene samt Ohnmacht mit de La Foye in der Hauptrolle auch mit den Phantasien des „guten, göttlichen Jungen“63 vereinbar gewesen ist, lässt sich den Briefen nicht entnehmen.64 Aber es lässt sich beobachten, dass die generationelle Ordnung die Geschlechterrollen festigte, und dies schon bei der Nachricht der frühen Geburt des Kindes, das er mit Helmina gezeugt hatte. Die Geburt der legitimen Söhne nach der Eheschließung mit Antonie macht dies noch anschaulicher.65 Doch es wäre übertrieben, dies als ausschließlich biedermeierliche Fügung zur Gesellschaftsordnung zu lesen. Chamissos späterer Gedichtzyklus „Frauenliebe und -leben“ (1830) kann etwa genauso plausibel als Adaption der Geschlechterordnung gelesen werden, denn als Spiel mit dieser. In diesen Gedichten ist das lyrische Ich eine junge Braut (zuerst Geliebte, dann Verlobte, dann Braut, dann Ehefrau). So übernimmt Chamisso Antonies Rollen und ihre Stimme. Der Einfühlung in das weibliche Körpergefühl wird dabei im 7. Gedicht „An meinem Herzen an meiner Brust“ bemerkenswert Ausdruck verliehen. Wiederholt auftretende Motive lassen sich auf Antonies Biographie zurückführen, so etwa die Schwesternschar im 5. Gedicht „Helft mir, Ihr Schwestern“, die bereits im 1. Gedicht mit der Erwähnung der „Schwesternspiele“ vorkommt. Auch die Heirat mit dem Ehepartner als eine in der Kindheit zurückliegende Phantasie (4. Gedicht) kann in Anlehnung an Antonies Biographie gelesen werden. Darüber hinaus weisen die Gedichte thematische Berührungspunkte mit dem Briefwechsel der Greifswalder Reise auf. Im ersten Gedicht ist dies der Fall bei der im Gedicht zentralen Thematik der Fokussierung der Welt durch den Blick des Ehepartners (wobei hier nicht der Mann durch die Augen der Frau sieht, sondern umgekehrt – eine Art Transposition von Chamissos Standpunkt in Antonies). Die Hierarchie der Demut der Frau vs. Verherrlichung des Mannes (2. und 5. Gedicht), das Motiv des Traums (3. und 4. Gedicht) und die erotischen Anspielungen (6. Gedicht) ziehen ebenfalls Linien, die eine Inspiration durch die Briefe der Greifswalder Reise suggerieren.

62 Ebd. 63 Vgl. z. B. im Brief vom 15. August 1804. 64 In dieser Hinsicht mehrdeutige Stellen lassen sich häufiger dem Anfang des Briefwechsels entnehmen, etwa dem Brief an de La Foye von Ende Oktober 1804: „[…] wir müssen da sein, und schauen, und an uns selbst zehren, auf daß wir selber verwelken, und nicht Todt bringen dem Geliebten. und wenn wir einst nachdem die Tage der Köstlichen Jugend durchlitten die Bande schliessen die man auch noch wohl der Ehe zu nennen sich erkünet […]“. 65 Der älteste Sohn wird übrigens im Briefwechsel mit Antonie „mein Camerad“ genannt, genauso wie es de La Foye gewesen war.

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Das letzte, 8. Gedicht, „Nun hast Du mir den ersten Schmerz getan“, hebt sich von dieser Logik des Stimmentausches ab: Ich zieh mich in mein Innres still zurück, Der Schleier fällt, Da hab ich dich und mein vergangnes Glück, Du meine Welt!66

Hier sind beide Stimmen austauschbar : Der Tod ebnet die Ordnung der Geschlechter. Der lyrisierte Tod indessen führt den Dichter zurück zu sich selbst und veranschaulicht die Eitelkeit der weltlichen Verhältnisse. An diesem Beispiel zeigt sich, wie Chamisso nicht nur als Botaniker, sondern als Dichter seinen Briefwechsel mit Antonie führte.

Ordnung des Diskurses Die sich im Laufe der hier betrachteten Jahre wandelnde Welt- und Gesellschaftswahrnehmung lässt sich an Änderungen in Chamissos Schreibstil nachverfolgen. Die Entwicklung des Schreibduktus in den Briefen an de La Foye ist dabei von besonderem Interesse. In der Almanachsphase lyrisch angelegt, erreichten die Briefe in der Ch¦zy-Phase ihren hyperbolischen Höhepunkt, danach wurden sie trockener. Der Ärger über die Coppet’sche Geselligkeit gab zwar Anlass zu einer Rückkehr zur Selbstbezüglichkeit, dennoch blieben die langen lyrischen Höhenflüge aus. Der Stil wurde knapper, nicht mehr von Wortund Halbsatzwiederholungen geprägt. Mit den Pflanzenlisten, den botanischen Bemerkungen, dem Austauschen von Blumendoubletten erreichte der Briefwechsel peu — peu den Anstrich eines Gelehrtenbriefwechsels, bis er es realiter geworden war und ein anderer Duktus vorherrschte. Die späteren Briefe an de La Foye blieben herzlich, aber sie waren dezidiert weniger affektiv besetzt und im Schreibstil prosaischer. Die Briefe an Antonie ihrerseits zeigen, wie Chamisso trotz der weniger lyrischen Diktion, trotz der primär auf naturwissenschaftliche Beobachtungen hin gerichteten Schreibweise – Blumen einlegen, barometrische Messungen anstellen – und mithilfe von meist kurzen Satzbauelementen einen neuen Weg nach innen öffnet, zurück zu einem (lyrischen) Ich, das an den anderen – nicht immer, aber manchmal – wie an einen Teil des eigenen Ichs schreibt.67

66 Die Zitate aus dem Gedichtzyklus wurden Friedlaenders Ausgabe von Schumanns Liedern (Bd. I) entnommen, hier S. 105. 67 Hierzu vgl. auch den Brief an Fouqu¦ vom 18. oder 19. Mai 1809: „Ich schicke mich an, mich an dich zu schicken [stellvertretend] für einen Brief, den ich Dir seit gar zu langer Zeit

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Die Wechselbeziehungen zwischen Briefdiskurs, wissenschaftlichem Werk und Lyrik wurden hier am Beispiel der Behandlung der Reise als wissenschaftlicher Welt- und literarischer Selbsterkundung nachverfolgt. So konnten Parallelen zwischen Chamissos Jugend- und Erwachsenenjahren gezogen werden, die insbesondere den Gedichtzyklus Frauenliebe und –leben beleuchten. Verglichen mit der Masse des aufbewahrten schriftlichen Materials zu Chamissos Werk kann das hier herangezogene Korpus nur beispielhaften Charakter haben. Aber diese intensive Auseinandersetzung mit den Handschriften hat gezeigt, dass es unerlässlich ist, um seine Schreibpraxis rekonstruieren zu können, diese zu leisten. Denn die in der hiesigen Analyse relevanten Aspekte hätten kaum anhand der redigierten Ausgaben Hitzigs, Palms oder Riegels durchgeführt werden können, welche Fragezeichen in Ausrufezeichen gewandelt und Pflanzenlisten aus dem Druck ausgeklammert haben. Durch den Rückgriff auf heutige Briefeditionen werden solche neue Lektüren von Chamissos Schriftwerk möglich. Es ist zu hoffen, dass die Chamisso-Forschung sich die Grundlagen für diesen erneuten Zugang zum schriftstellerischen und botanischen Werk in der Form von Neueditionen schaffen wird.

Abb. 1: Die digitale Edition Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800, Brief von Chamisso an de La Foye (o.O., zwischen 1804 und 1806).

schuldig bin, zürne mir nicht, Guter, daß ich Dir nicht geschrieben, und daß ich annoch nicht komme.“ (Hitzig 1839, S. 228.)

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Literaturverzeichnis Busch, Anna: Hitzig und Berlin. Zur Organisation von Literatur (1800–1840). Hannover 2014. Busch, Anna / Katins, Janine / Pravida, Dietmar : ,Polarsternbund (Nordsternbund)‘, in: Motschmann, Uta (Hg.): Handbuch der Berliner Vereine 1786–1815. Berlin 2015, S. 16–26. Chamisso, Adelbert von / Varnhagen, Karl August (Hg): Musenalmanach auf das Jahr 1804. Leipzig 1804. Dies.: Musenalmanach auf das Jahr 1805. Zweiter Jahrgang. Berlin 1805. Dies.: Musenalmanach auf das Jahr 1806. Dritter Jahrgang. Berlin 1806. Dufraisse, Roger : ,Adelbert von Chamisso et Louis de La Foye. Contribution — l’¦tude des relations intellectuelles franco-allemandes — l’¦poque napol¦onienne‘, in: Albrecht, Dieter u. a. (Hg.): Europa im Umbruch 1750–1850. München 1995, S. 155–166. Dufraisse, Roger : ,Un ami mal connu de Chamisso: Louis de la Foye‘, in: Chamisso. Actes des journ¦es franco-allemandes des 30 et 31 mai 1981. Organis¦es par le Centre d’Êtudes Argonnais, l’Acad¦mie Nationale de Reims et la Soci¦t¦ d’Agriculture, Commerce, Sciences et Arts de la Marne. 1982, S. 63–90. Friedlaender, Max (Hg.): Robert Schumann, Lieder, Bd. I. Edition Peters Nr. 2383b. Hitzig, Julius Eduard: Adelbert von Chamisso’s Werke, 5. Band. Leben und Briefe, 1. Band. Leipzig 1839. Palm, Friedrich (Hg.): Adelbert von Chamisso. Leben und Briefe, Bd. 5/6 von: Adelbert von Chamisso, Werke. Berlin 1864. Schmid, Günther : Chamisso als Naturforscher. Eine Bibliographie. Leipzig 1942.

Internetquelle Digitale Edition Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800: (http://tei.ibi.huberlin.de/berliner-intellektuelle/; Stand 13. 11. 2014).

Zu den Autorinnen und Autoren

Anne Baillot, Dr., *1976, Studium an der Êcole Normale Sup¦rieure in Paris, Promotion 2002 an der Universität Paris-8 Saint-Denis, seit 2005 im EmmyNoether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, seit 2010 als Nachwuchsgruppenleiterin am Institut für deutsche Literatur der HumboldtUniversität zu Berlin, [email protected] Roland Berbig, Prof. Dr. phil., *1954, 1974 bis 1978 Studium Germanistik, Anglistik, Pädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1981 Promotion über die Hölderlin-Rezeption in der DDR-Lyrik, lehrt seit 1985 am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin Neuere deutsche Literatur, [email protected] Anna Busch, Dr., *1978, Studium der Literaturwissenschaften, Linguistik, Rechtswissenschaften und Editionswissenschaften in Göttingen, Kapstadt und Berlin, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg im BMBF-Projekt DARIAH-DE, [email protected] Christiane Clever, *1982, seit 2011 Studium der Deutschen Literatur und der Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin, [email protected] Wolfgang Dohle, Prof. Dr., *1936 in Bad Kreuznach/Nahe. Studium in Kiel, Innsbruck, Tübingen; ab 1971 Prof. für Zoologie an der FU Berlin. Längere Forschungsaufenthalte in Banyuls-sur-Mer und Manchester. Pensioniert ab 2000. Arbeiten haupts. über Entwicklungsbiologie von Arthropoden und Anneliden, [email protected] Walter Erhart, Prof. Dr., *1959, Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Tübingen und in St. Louis, 1997 Professor für Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturtheorie sowie ab 2001 Leitung des Wolfgang-

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Zu den Autorinnen und Autoren

Koeppen-Archivs an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, seit 2007 Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, [email protected] Marie-Theres Federhofer, Prof. Dr., *1962, Studium der Philosophie und der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und Paris, Professorin für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tromsø – Norwegens arktische Universität, [email protected] Benjamin Fiechter, *1991, Student der Deutschen Literatur und Geschichte in Berlin, Schwerpunkt in Editionsphilologie in den Digital Humanities. Mitarbeit im Deutschen Textarchiv (BBAW), im Projekt Hidden Kosmos (HU Berlin) und bei Wikisource, [email protected] Caroline Gerlach-Berthaud, *1952, Studium der Germanistik und Romanistik in Freiburg i. Br. und Aix-en-Provence, Studium der Übersetzungswissenschaften (Englisch-Französisch) in Montr¦al, Berufliche Tätigkeit als Übersetzerin, derzeit Doktorandin am D¦partement des lettres allemandes an der Universit¦ de Montr¦al zum Thema „Chamissos Übersetzungen“, [email protected] Johannes Görbert, Dr., *1981, Studium der Germanistik, Geschichte und Anglistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Promotion in Neuerer Deutscher Literatur an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) im Einstein-Projekt „Transpacifica“, johannes.goerbert@ fu-berlin.de Johanna Hähner, *1989, Studium der Deutschen Literatur, Gender Studies und Psychologie, studentische Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin, [email protected] Paul Hiepko, Prof. Dr., *1932, Studium an der Freien Universität, 1960–1965 Assistent am Institut für Systematische Botanik und Pflanzengeographie der FU, Promotion 1965. Seit 1965 am Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin-Dahlem, dort von 1974–1997 Direktor und Professor (Leiter des Herbariums). Forschungsreisen nach Afrika, Asien (Thailand und Neuguinea) und ins nördliche Südamerika, [email protected] Volker Hoffmann, Prof. Dr., *1940, Studium der Philosophie, Theologie, Germanistik an den Universitäten Tübingen und München, em. Profesor für Neuere

Zu den Autorinnen und Autoren

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deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, [email protected] Nikolas Immer, Dr., *1978, Studium der Germanistischen Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Trier, [email protected] Klaus-Dieter Lehmann, Prof. Dr. h.c., *1940, Dipl.-Physiker und wiss. Bibliothekar, Tätigkeiten u. a.: ab 1988 Generaldirektor der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main, ab 1998 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, seit 2008 Präsident des Goethe-Instituts. Mitglied u. a. der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung sowie Kuratoriumsmitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, [email protected] Dorit Müller, Dr., *1969, Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft sowie Promotion an der Humboldt Universität zu Berlin, seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Bauformen der Imagination. Literatur und Architektur in der Moderne“ an der Freien Universität Berlin, [email protected] Ren¦-Marc Pille, Prof. Dr., *1953, Studium der Germanistik, Professor für deutsche Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Paris 8. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Klassik und Romantik im Kontext der Französischen Revolution, [email protected] Moritz Rauchhaus, *1993, Studium der Deutschen Literatur, Philosophie und Europäische Literaturen in Berlin, Rom und Bordeaux, mit den Schwerpunkten Editionsphilologie sowie ital. und franz. Renaissance, befindet sich derzeit im letzten Jahr des Masterstudiums, [email protected] Michael Schmidt, Prof. Dr., *1952, Studium der deutschen Philologie, Geschichte, Sinologie und Philosophie, Professor für deutsche Literatur und Kultur an der Universität Tromsø – Norwegens arktische Universität, michael. [email protected] Monika Sproll, *1972, Studium der Neueren deutschen Literatur und Philosophie, derzeit Promotion zur Ästhetik des Charakteristischen an der JLU Gießen und wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-doc) im DFG-Projekt „Die Aneignung des Weltwissens – Adelbert von Chamissos Weltreise (Materialerschlie-

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Zu den Autorinnen und Autoren

ßung, Transkription, Analyse)“ an der Universität Bielefeld, [email protected] Lisa Trekel, *1988, studiert Deutsche Literatur im Master an der HumboldtUniversität zu Berlin. Zuletzt befasst mit einer Forschungsarbeit zu den Ankunftsszenen in Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, [email protected] Joseph Twist, Dr., *1988, promovierte in Germanistik an der University of Manchester mit dem Schwerpunkt Minderheitenliteratur. Er arbeitet zurzeit als wissenschaftliche Hilfskraft in Manchester und als Gastdozent an der University of Chester, [email protected] Tabitha van Hauten, *1991, studiert Deutsche Literatur und Bibliotheks- und Informationswissenschaft im Master-Doppelstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin, [email protected] Torsten Voß, PD Dr., *1974, Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft und Pädagogik, Promotion 2004 mit „Die Distanz der Kunst und die Kälte der Formen“, Habilitation zum Thema „Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeit in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch“ an der Universität Bielefeld, Torsten. [email protected] Jutta Weber, Dr., *1952, Studium der Fächer Latein, Romanistik und Mittellatein, Promotion im Fach Latein, Leiterin des Referats Nachlässe und Autographen der Staatsbibliothek zu Berlin, [email protected]