Peter Handke: Pop als poetisches Prinzip 9783412334550, 9783112203863, 9783412203863

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Peter Handke: Pop als poetisches Prinzip
 9783412334550, 9783112203863, 9783412203863

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böhlau

Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 15 Herausgegeben von Klaus Amann Hubert Lengauer und Karl Wagner

Anja Pompe

Peter Handke Pop als poetisches Prinzip

B Ü H L A U VERLAG K Ö L N • W E I M A R • W I E N

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Foto: Peter Handke. © Suhrkamp Verlag

© 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-112-20386-3

INHALT EINLEITUNG

7

I.KAPITEL P O P ALS AVANTGARDE

Theorie und Geschichte des avantgardistischen Pop-Projektes

13

1. Pop ist mannigfaltig - Definitionsschwierigkeiten

13

2. Projekt Pop - Begriffsbestimmung und Differenzierung

26

3. Pop als avantgardistisches Projekt

31

3.1

Avantgarde - Begriffsgeschichte und-problematik

31

3.2

Kriterien der Pop-Avantgarde

39

3.3

Das Neue als zentrale Kategorie der Pop-Avantgarde

46

4. Innovationsstrategien der Pop-Avantgarde

49

4.1

Abwertung des Wertvollen

49

4.2

Aufwertung des Wertlosen

56

4.3

Scheinbare Aufwertung des Wertvollen

61

5. Pop in der Literatur - Pop-Literatur

71

2. KAPITEL ABWERTUNG DES WERTVOLLEN

Pop-avantgardistische Abwertung im Werk Peter Handkes

73

1. Abwertung des Wertvollen im Frühwerk

74

1.1

Verweigerte Bedeutung: Die Hornissen und Publikumsbeschimpfung....

77

1.2

Sprechende Sprache: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt

89

1.3

Ready mades: Deutsche Gedichte

97

2. Fortsetzung der Strategie 2.1

101

Imitation, Duplikation, Reproduktion: Falsche Bewegung

104

2.2

Leserschaft und Autorschaft: Die Stunde der wahren Empfindung

111

2.3

Anonyme Vermittlung: Die linkshändige Frau

116

3. Abwertung des Wertvollen im Spätwerk

123

3.1

Daedalus statt Ikarus: Die Lehre der Sainte-Victoire

125

3.2

Homer - Erinnern als Erneuern: Der Himmel über Berlin

131

Inhalt

6 3. KAPITEL AUFWERTUNG DES WERTLOSEN

Pop-avantgardistische Aufwertung im Werk Peter Handkes

137

1. Aufwertung des Wertlosen im Frühwerk

141

1.1

Fugale Strukturanalogie und Pop-Musik: Publikumsbeschimpfung

142

1.2

Krimi-Transformation: Der Hausierer und Die Angst des Tormanns

148

2. Fortsetzung der Strategie

157

2.1

Konstituenten des Westerns: Der kurze Brief zum langen Abschied

2.2

Filmisches Erzählen: Falsche Bewegung und Die linkshändige Frau .... 164

3. Aufwertung des Wertlosen im Spätwerk

4.

159

171

3.1

Kino-Erinnerungen: Der Himmel über Berlin

172

3.2

Technische Medien als Botschaft: Versuch über die Jukebox

178

KAPITEL

SCHEINBARE

AUFWERTUNG

DES

WERTVOLLEN

Pop-avantgardistische Abwertung im Spätwerk Peter Handkes

183

1. Verkehrung: Über die Dörfer

187

2. Vermischung: Das Spiel vom Fragen

195

3. Verzerrung: Don Juan (erzählt von ihm selbst)

201

ZUSAMMENFASSUNG

206

LITERATUR

209

ABBILDUNGEN

244

NAMENSREGISTER

245

EINLEITUNG

„Partei ergriffen wird für die Beatles", erklärte Peter Handke in seinem ersten Rundfunkfeuilleton. Jedoch „nicht nur für diese vier Jungs aus Liverpool, welche [...] die Erde unsicher gemacht haben, sondern auch für die, welche durch die Beatles sich unsicher machen ließen." Denn dazu gehöre so Handke weiter im Namen seiner Generation - „Vorurteilslosigkeit, Aufgeschlossenheit, Unbefangenheit, Unruhe; andererseits [...] Widerwille gegen einen scheinbar unveränderlichen Lebenszustand, Trotz, Ungehorsam und die vielzitierte Langeweile."1 Unsicherheit stiften gegenüber machtstabilisierenden Instanzen der Kultur - das war Handkes Absicht, als er 1966 die literarische Szene betrat, nach sensationellen Erfolgen am Theater zum ersten „Popstar"2 der deutschsprachigen Literatur avancierte und als literarisches „Enfant terrible" wie kein anderer Schriftsteller die Öffentlichkeit der sechziger Jahre in Atem hielt. Sein erstes Sprechstück,3 das vollkommen mit dem konventionellen Theater brach und gleichzeitig beanspruchen konnte, die klassische Einheit von Zeit, Raum und Geschehen perfekt zu erfüllen, bezeugt dies ebenso wie die spektakuläre Kollegenbeschimpfung bei laufenden Tonbändern auf der vorletzten Tagung der Gruppe 47 in Princeton 1966. Beschränkt sich die „Publikumsbeschimpfung" nicht nur auf die Dekonstruktion von Theaterkonventionen, weil sie Fortführung und Bruch vereint, impliziert der Affront gegen die etablierte Literatur seiner Zeit auch die Aussicht, die Exposition von Alternativen im eigenen Werk zu verfolgen. Hier wie dort erschöpft sich das Insistieren auf Verunsicherung nicht in provokant und wirkungsvoll inszenierten Attacken gegen das Establishment, sondern ist verbunden mit dem Bemühen, ein anderes Sprechen, eine andere Referenz in Stellung zu bringen. Den Habitus der weltberühmt gewordenen Beatles dabei kopierend und deren Erfolgskonzept der Rebel-

2

3

Handke, Peter: Der Rausch durch die Beatles. Ungedruckt. Rundfunkmanuskript. ORF/ Studio Steiermark. Zit. nach: Holzinger, Alfred: Peter Handkes literarische Anfänge in Graz.- In: Peter Handke.- Hrsg. v. Fellinger, Raimund.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985. S. 11 - 24 (hier: S. 17) Vgl. dazu: Haslinger, Adolf: Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers.- Salzburg; Wien: Suhrkamp, 1992. S. 110 ff, 130; Pichler, Georg: Der Popstar. Düsseldorf, Paris, Kronberg.- In: Ders.: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biographie.Wien: Ueberreuter, 2002. S. 6 9 - 1 0 9 Vgl.: Handke, Peter: Publikumsbeschimpfung.- In: Ders.: Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiel, Aufsätze.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969. S. 179 - 211

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Einleitung

lion gegen zweifelsfrei anerkannte Handlungsnormen im Blick, verschreibt sich der Newcomer jenem Verfahren, das für die Pop-Avantgarde bestimmend ist. Unmittelbar werden durch Aggression und fortwährende Reizung sozialer Rollenmuster, erstarrter Bestimmungsformen, verfestigter Mentalitäten und Kulturhierarchien - das war zeitgemäß und marktgerecht,4 ebenso Etikettierungen zu verkehren und die Freiheit von Identitätszuweisungen zu behaupten, um neue Kunst- und Lebensformen zu kreieren. Im Flankenschutz antiautoritärer Affekte der Studentenbewegung setzt Handke auf Dissidenz und Neuanfang, auf das noch Offene, nicht leicht Erwartbare und eröffnet im Gestus der Entschiedenheit, mit Pathos und kalkulierter Raserei sein Pop-Projekt. Inwieweit dieser Weg bestimmend blieb, auch'nach dem Wandel der Zeit, ohne die Zustimmung einer ganzen Generation, ist die Frage, die nachfolgend im Mittelpunkt steht. Bedeutsam ist sie, weil Handke nach seinen ersten Erfolgen in unerwarteter Richtung weiter zu arbeiten begann. „Peter Handke" - schrieb Michael Lentz zu Peter Hamms Filmporträt anlässlich des sechzigsten Geburtstages des Autors im Jahre 2002 - „machte die Schulzeit erträglicher. 'Publikumsbeschimpfung', das war [...] nach unserem Geschmack. [...] Das gab Hoffnung. Peter Handke, ein Versprechen auf [...] Zukunft." „Dann" - so Lentz im Rückblick auf die Entwicklung des Autors - sei „irgendwann der Faden gerissen." Handke solle „allein (weiter)-schreiben", habe man sich gedacht.5 Dass er es tat, weiter bemüht um Neubewertung und gegen jede Verständigungsroutine zeigen Texte, mit denen sich Handke immer wieder ins Abseits schrieb. Sie einer vorurteilsfreien Lektüre zu unterziehen und ihrer poetischen Vorgeschichte nachzugehen, macht sich das vorliegende Buch zur Aufgabe. Es fragt danach, in welchem Umfang sich literarische Prinzipien und Innovationsstrategien der Pop-Avantgarde im Gesamtwerk des Autors nachweisen lassen. Zu prüfen, ob und inwieweit sich Peter Handke seit den sechziger Jahren immer wieder in eine der letzten Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts eingeschrieben hat, ist daher das Ziel. Wird dazu zunächst geklärt, wie sich Pop in der Literatur beschreiben lässt, werden Fragestellungen aufgegriffen, die in der in den neunziger Jahren geführten Debatte um die Pop-Literatur der Gegenwart unberücksichtigt geblieben sind, weil diese weitgehend ohne Kriterien, ohne ästhetische Kategorien gefuhrt worden war.6 Stattdessen verwiesen die Befürworter des

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Zur Legitimationskrise der spätbürgerlichen Gesellschaft vgl.: Habermas, Jürgen: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. Ein Dichter, der den Mut hat, allein zu sein. Michael Lentz über Peter Hamms Handke-Porträt.- In: Die Welt. Montag, 09. 12. 2002. S. 30 Vgl.: Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur.- Hrsg. v. Köhler, Andrea; Moritz, Rainer.- Leipzig: Reclam, 1998.

Einleitung

9

„Neuen Erzählens" auf „die Energie des Abfalls",7 während die Kritiker die Potentiale eines rebellischen Spiels mit Vorhandenem und subkulturell Verachtetem bezweifelten und die Frage, ob das Ja zur Welt je berechtigt und die Affirmation des Alltäglichen je kritisch war, entschieden verneinten. Der Versuch, Pop als ein Modell dynamischer Attacken zu beschreiben und Innovationsstrategien zu erhellen, mit denen Pop als Avantgarde auf den IstZustand unserer Kultur reagiert, ist daher auch ein Nachtrag zu dieser Debatte. Dabei werden Thesen, wie die von Paolo Bianchi oder Boris Groys, berücksichtigt. Mit Blick auf die bildende Kunst der neunziger Jahre hält Ersterer fest, die Provokation habe ausgedient, weil sie sich durch ihren kommerziellen Erfolg abgenutzt habe. Dass bestimmte Aktionen, mit denen Künstler von der Beat-Generation bis zur Punk-Bewegung das moralisch-ästhetische Bewusstsein des Establishments zu attackieren versuchten, nicht mehr funktionieren, führt er darauf zurück, dass deren „kreative Impulse erschlafften und die experimentellen von Werbung und Mode aufgesogen"8 worden seien. Groys gelangt in seiner kulturökonomischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Kulturgeschichte zu einem ähnlichen Ergebnis.9 Ausgehend von einer Unterscheidung zwischen einem Bereich des Kulturellen und einem des Profanen, vertritt er die Ansicht, dass künstlerische Innovationen letztlich nichts anderes seien als die beständige Verschiebung der Grenze zwischen beiden Bereichen. Das zum Künstlerischen erhobene Andere verdränge bewahrenswerte Bestandteile der Kultur aus den Archiven in den Raum des Banalen und werde dort im gleichen Moment gewöhnlich. Der Archivierung für würdig befunden, bestehe der Wert des kulturalisierten Banalen anschließend darin, als zerstörbarer Bestandteil der Kultur in deren Gedächtnis einzugehen. Groys und Bianchi berühren sich folglich in der Annahme, dass eine der Allgemeinheit zugänglich gemachte Verstörung ihr beunruhigendes Potential verliert. Die Rebellion, die sich als Norm etabliert, rebelliert nicht mehr. Dazu bedarf es einer erneuten Begegnung mit dem Verachteten, dem Verborgenen. Vor dem Hintergrund dieser Thesen wird zu klären sein, wie sich Pop als heiß umkämpftes Feld bewahren ließ, um ein von Zuschreibungen freies Terrain zu behaupten, das beharrlich verweigert, was dem Konsens dient. 7

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Brinkmann, Rolf Dieter: Vanille.- In: März Texte 1. Trivialmythen.- Augsburg: März Verlag, 2004. S. 108 - 142 (hier: S. 123) Bianchi, Paolo: Subversion der Selbstbestimmung. Assoziationen im Spiegel von Kunst, Subkultur, Pop und Realwelt.- In: Kunstforum international. 134/1996. S. 56 75 (hier: S. 26) Vgl.: Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie.- Frankfurt a. M.: Fischer, 1999.

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Einleitung

Mit der Frage, ob und inwieweit Peter Handke in den unterschiedlich akzentuierten Phasen seines Schaffens einen Beitrag dazu geleistet hat, werden Ergebnisse der jüngeren Handke-Forschung berücksichtigt, die die traditionelle Phaseneinteilung in „Sprachkritik" (1966-1970), „Hinwendung zur Subjektivität" (1972-1979) und „Kontingenzbewältigung" (seit 1979) zunehmend in Zweifel ziehen.10 Hatte sich die frühe Forschung darauf verständigt, dass die Phase der „Sprachkritik" mit den „Hornissen" (1966) beginne und durch die Erzählung „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" (1970) beendet werde, die Phase der „Hinwendung zur Subjektivität" dagegen mit der Erzählung „Der kurze Brief zum langen Abschied" (1972) einsetze, während die „Kontingenzbewältigung" durch die „Langsame Heimkehr" (1979) eröffnet werde, ' konzentriert sich die neuere Forschung eher auf das Verbindende der einzelnen Werkphasen. Im Wesentlichen an Christoph Bartmanns These anknüpfend, nach der Handkes Schreiben im Ganzen eine „Suche nach Zusammenhang"12 sei, fragt sie danach, welche Bedeutung das mit der „Langsamen Heimkehr" eröffnete Programm im Gesamtwerk spiele. So ist vermutet worden, dass die Erzählung „Die Stunde der wahren Empfindung" (1975)13 die Werke der achtziger Jahre begründe und eine vermittelnde Stellung insofern einnehme, als dass sie bekannte Motive und literarische Formen aufgreife.14 Dass die „Heimkehr-Phase" als eine Art Zusammenfassung oder Zuspitzung gelesen worden ist, als Kritik am Gewesenen, als Revision des bis dahin Erreichten, war jedoch nur möglich, weil die Texte der sechziger Jahre lediglich am Rande berücksichtigt wurden und das Verhältnis der Werkeröffnungsphase zu späteren Arbeiten weitgehend unklar blieb. Bedeutsam ist die Beziehung zwischen dem frühen und mittleren Werk aber auch deshalb,15 weil die ersten Texte von den „Hornissen" (1966) über den „Hausierer" (1967), die skurrile Kurzprosa des Bandes „Begrüßung des Aufsichtsrates" (1967) bis

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Vgl.: Dinter, Ellen: Gefundene und erfundene Heimat. Zu Peter Handkes zyklischer Dichtung „Langsame Heimkehr" (1979 - 1981).- Köln; Wien: Böhlau, 1986. Vgl.: Handke, Peter: Die Hornissen.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977. Ders.: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1972. Ders.: Der kurze Brief zum langen Abschied.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974. Ders.: Langsame Heimkehr. Erzählung.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984. Vgl.: Bartmann, Christoph: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozess.Wien: Braumüller, 1984. Vgl.: Handke, Peter: Die Stunde der wahren Empfindung.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1978. Vgl.: Siebert, Tilman: Langsame Heimkehr. Studien zur Kontinuität im Werk Peter Handkes.- Göttingen: Cuvillier, 1997. Vgl.: Handke, Peter: Der Hausierer.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. Ders.: Begrüßung des Aufsichtsrates.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981. Ders.: Kaspar.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968.

Einleitung

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hin zum „Kaspar" (1967) immer wieder als Sprach- und Gattungsexperimente verstanden und auf den Strukturalismus von Ferdinand de Saussure, auf linguistische Thesen von Edward Sapir und Benjamin Whorf oder die sprachphilosophischen und erkenntnistheoretischen Ansätze Ludwig Wittgensteins zurückgeführt wurden.16 Die Pop-Impulse indes gerieten nur unzureichend in den Blick. Zwar konstatiert Paul Konrad Kurz bereits 1971, dass die „Verbindung von Sprachbewusstsein und Pop"17 nur ungenügend zur Kenntnis genommen werde, doch geändert hat sich daran im Wesentlichen nichts. Denn entweder begnügt man sich mit dem Hinweis, Peter Handke habe eine Verbindung zu avantgardistischen Strategien wiederholt bestritten, womit jedoch der Fokus von der Strukturanalyse literarischer Texte auf interpretationsbedürftige Selbstaussagen des Autors gelenkt wird, was an sich schon problematisch ist, oder man deutet die frühen Werke als Vorarbeiten zu einer späteren Mythologisierung, um die Kontinuitätsthese, vom Spätwerk ausgehend, behaupten und eine „noch nicht zur vollen Entfaltung gekommenen literarischen Produktivität"18 entdecken zu können. Insofern steht eine differenzierte Analyse des Frühwerks noch immer an.19 Mit dem Ziel, die pop-avantgardistischen Innovationsstrategien zu erhellen, bestimmt das erste Kapitel zunächst die Begriffe „Pop", „Avantgarde", „Pop-Avantgarde" und „Pop-Literatur". Im Ergebnis wird Pop als ein Projekt begriffen, das Neubewertungen ermöglicht und im Versuch des Außerhalbseins eine endgültige Synthese verheißt und doch verfehlt, was aber auch bedeutet, dass die Möglichkeit eines durch Konventionsbruch und Grenzüberschreitung gekennzeichneten Neuen strukturell noch immer vor16

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Vgl.: König, Hartmut: Sprachkritik und Sprachverwendung. Anmerkungen zu ausgesuchten Texten.- Hollfeld: Beyer, 1978. Nägele, Rainer; Voris, Renate: Peter Handke.- München: Beck; Edition Text und Kritik, 1979. Renner, Rolf Günter: Peter Handke.- Stuttgart: Metzler, 1985. Dujmic, Daniela: Literatur zwischen Autonomie und Engagement. Zur Poetik von Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke und Dieter Wellershoff - Konstanz: Hartung-Gorre, 1996. Kurz, Paul Konrad: Beat - Pop - Underground.- In: Ders.: Über moderne Literatur III. Standorte und Deutungen.- Frankfurt a. M.: Knecht, 1971. S. 233 - 279 (hier: S. 262) Mixner, Manfred: Peter Handke.- Kronberg: Athenäum, 1977. S. 80; Bartmann (Anm. 12) S. 36 Vgl. analog dazu die Kritik der siebziger Jahre. Michael Scharang monierte die „Reduzierung gesellschaftlich vermittelter Sachverhalte auf eine literarische Dimension", Michael Buselmeier polemisierte gegen einen „rechtsanarchistischen Avantgardismus", und Uwe Timm kritisierte die Suche nach neuen Darstellungsweisen als „Manier". Über Peter Handke.- Hrsg. v. Scharang, Michael.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1972. S. 12; Buselmeier, Michael: Zur Ästhetik des Formalismus. Am Beispiel der Essays von Peter Handke.- In: Kürbiskern, 1971. S. 107 - 119 (hier: S. 110); Timm, Uwe: Peter Handke oder sicher in die siebziger Jahre.- In: Kürbiskern, 1970. S. 611 — 621 (hier: S. 61 lf)

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Einleitung

handen ist. Wenn Neues demnach noch immer entstehen kann und das Streben danach keineswegs überwunden ist, wie postmoderne Diskurse Glauben machen, kann die Suche danach beginnen. Das zweite Kapitel eröffnet diese Suche, indem es danach fragt, in welchem Umfang die Aufkündigung der ästhetischen Werkform, mit der die Pop-Avantgarde die epochale Krise bürgerlicher Kunst und ihrer Repräsentationsfunktion reflektiert, einen Werkzusammenhang im Schreiben Peter Handkes stiftet. Davon ausgehend, dass jede Abwertung eine Aufwertung einschließt, ist die Antwort auf diese Frage auch eine Antwort darauf, welche wertlos erachteten Dichtungskonzepte in den einzelnen Schaffensperioden Wertschätzung erfahren. Auch das dritte Kapitel thematisiert die Hinwendung zu Elementen des profanen Raumes im Gesamtwerk des Autors, wobei nun die Frage im Vordergrund steht, welche irrelevant erachteten, nicht eigens aufbewahrten und daher vergänglichen Objekte populären oder fremden Ursprungs Verarbeitung finden, womit zugleich ersichtlich wird, in welchem Maße die Abwertung tradierter ästhetischer Hierarchien einen Werkzusammenhang bildet. Klären die zentralen Abschnitte somit, inwieweit Peter Handke immer wieder aus dem Reservoir des Profanen für eine potentiell neue Kunst schöpft, beantwortet das letzte Kapitel die Frage, in welchem Umfang das Spätwerk von jener Abwertungsbemühung zeugt, mit der Pop seit den achtziger Jahren radikaler denn je die Prinzipien moderner Kunstproduktion und -rezeption in Zweifel zieht.

1. KAPITEL POP ALS AVANTGARDE

Theorie und Geschichte des avantgardistischen Pop-Projektes

1. Pop ist mannigfaltig - Definitionsschwierigkeiten Pop wuchert auf den pittoresken Ruinen der sogenannten Hochkultur. Große Ideen werden vulgarisiert. Pop ist ein Abfallprodukt, Kompost, Pilz, Schimmel, Saprophyt. [...] Haarsträubende Missverständnisse sind das Maggi des Lesens. (Günther Gero)1

Missverständlich ist nicht nur die Rezeption von Pop-Phänomenen aller Art, sondern auch die Geschichte des Begriffs selbst, der seine Anziehungskraft nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken scheint, dass er sich einer abschließenden Definition beharrlich verweigert. Entsprechend wird man - so Georg M. Oswald - „nicht einen Menschen auf diesem Planeten finden, der leugnet, dass Phänomene wie Andy Warhol und Madonna Pop sind - und keine zwei, die dies gleich begründen." 2 Verweisen die „haarsträubenden Missverständnisse" der Pop-Rezeption daher auf die Schwierigkeit, den von Beginn an mit assoziativen Vieldeutigkeiten aufgeladenen und aus Amerika importierten Begriff genau zu umreißen, markieren sie zugleich eine Fülle von Deutungs- und Umdeutungsversuchen, die der eingängigen Unbestimmtheit von Modewörtern nicht selten folgt. Darüber hinaus tangieren sie die spezifische Situation der Pop-Rezeption in den sechziger Jahren, die zum Ausgangspunkt unterschiedlichster Begriffsbestimmungen werden konnte. Dies insofern, als dass der Begriff unmittelbar, nachdem er sich auf die Pop-Art, den Rock'n'Roll, den Avantgarde- und Undergroundfilm aus 1

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Günther, Gero: Countdown to TXTC (Voulez-Vous-Version). 11 wichtige Hinweise, die man beachten sollte, ehe man mit der Popliteratur ins Bett steigt.- In: Pop, Technik, Poesie. Die nächste Generation. Literaturmagazin. Nr. 37.- Hrsg. v. Hartges, Marcel; Lüdke, Martin; Schmidt, Delf.- Reinbek: Rowohlt, 1996. S. 1 0 - 13 (hier: S. 12) Oswald, Georg M.: Wann ist Literatur Pop? Eine empirische Antwort.- In: Der deutsche Roman der Gegenwart.- Hrsg. v. Freund, Wieland; Freund, Winfried.- München: Fink, 2001. S. 29 - 43 (hier: S. 29)

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1. Kapitel - Pop als Avantgarde

Frankreich, England und den USA und die amerikanische Beatgeneration bezog, 3 schon bald zum ebenso schillernden wie umstrittenen Etikett für ein offenes, äußerst diffuses Phänomen innerhalb der gesellschaftlichen und kulturellen Emanzipationseuphorien jener Jahre wurde. Zurückzufuhren ist die Diffusion des „semantisch vieldeutigen Palindroms"4 Pop, das auf das Adjektiv „populär" (populär, bei der Masse beliebt) und auf „to pop" (knallen, zusammenstoßen, platzen) verweist, jedoch nicht nur auf die Vielzahl höchst unterschiedlicher Tendenzen, die er in sich vereint, und damit auf Fehlinterpretationen im Zuge von Akkulturationsprozessen, sondern auch auf die Nähe des Begriffs zu den nicht weniger unsicheren Bezeichnungen „Beat" und „Underground". Während „Beat" zum einen die britische Rock- und Pop-Musik der sechziger Jahre erfasst, zum anderen die amerikanische Literatur um Autoren wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg, die in Deutschland bereits in den späten fünfziger Jahren rezipiert wurden, meint „Underground" im Wesentlichen die Radikalisierung bestimmter Beat-Techniken und Sprechweisen, etwa in der amerikanischen Lyrik von Ed Sanders oder Frank O'Hara.5 Da diese Musik-, Kunst- und Literaturströmungen Deutschland mit Verzögerung erreichten und mit dem Auftauchen von Happenings, Fluxus, dem französischen Situationismus6 und dem Höhepunkt der Protestbewegung von 1968/69 zusammenfielen, wurden sie hierzulande als „zusammengehörende Phänomene"7 wahrgenommen und unter dem Terminus „Pop" subsu-

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Rolf Dieter Brinkmann hat diese Kunst- und Literaturströmungen zu Recht als einflussreich für jene Wende in der Literatur der sechziger Jahre bezeichnet, die seitdem mit dem Autor selbst untrennbar verbunden ist. Brinkmann, Rolf Dieter: Briefe an Hartmut. 1974 - 1975.- Reinbek: Rowohlt, 1999. S. 145 Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre.- Stuttgart: Metzler, 1998. S. 15 Vgl. dazu: Huder, Walther: Die Pop-, Beat-, Hippie- und Underground- Generation und ihre Literatur. Frage, Antwort und Bericht.- In: Welt und Wort. Literarische Monatsschrift. 24/ 1969. S. 139 - 145; Kurz, Paul Konrad: Beat - Pop - Underground. In: Ders.: Über moderne Literatur III. Standorte und Deutungen.- Frankfurt a. M.: Knecht, 1971. S. 233 - 279; Kramer, Andreas: Von Beat bis „Acid". Zur Rezeption amerikanischer und britischer Literatur in den sechziger Jahren.- In: Pop-Literatur. Text und Kritik. Sonderband. X/03.- Hrsg. v. Arnold, Heinz Ludwig; Schäfer, Jörgen.- München: Edition Text und Kritik, 2003. S. 26 - 40 Eine erste Dokumentation erscheint 1965, eine weitere 1969. Vgl.: Happenings. Fluxus - Pop Art - Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation.- Hrsg. v. Becker, Jürgen; Vostell, Wolf.- Reinbek: Rowohlt, 1965. Ohff, Heinz: Pop und die Folgen! oder die Kunst, Kunst auf der Straße zu finden.- Düsseldorf: Droste, 1969. Schäfer, Jörgen: „Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen". Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur.- In: PopLiteratur. Text und Kritik. Sonderband. X/03.- Hrsg. v. Arnold, Heinz Ludwig; Schäfer Jörgen.- München: Edition Text und Kritik, 2003. S. 69 - 80 (hier: S. 71)

1. Kapitel - Pop als Avantgarde

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miert.8 Lose miteinander verbunden waren sie alle durch ein gemeinsames Ziel, die Wege dorthin variierten und waren doch vergleichbar: Im Bruch mit den als erdrückend empfundenen Normen tradierter Kunst und Literatur berührten sie sich vage, sensibel für einen umfassenden Komplex von Widersprüchen war ihnen das Alltägliche, Verworfene und Verkannte in den Blick geraten, erwiesen sie dem stigmatisierten Populären und Fremden ihre Referenz. Die alte Dichotomie der europäischen und deutschen Kultur, die Unvereinbarkeit zwischen tradierter Hochkultur und fremder Populärkultur trieb sie um. Neues aus einer Affirmation als Subversion zu erschaffen - das war das Verbindende, das diese Formen kulturkritischer Artikulation vereint und an die Avantgarde der Jahrhundertwende anknüpft; Neues, das die Aufhebung der Werthierarchien behauptet und gleichzeitig verfehlt, das aber dennoch kulturgeschichtlichen Wert erlangt, weil es eine Dynamik erzeugt, in der das Verständnis dessen, was ist und sein könnte, ein anderes wird als zuvor, oder - wie es der wohl bekannteste deutsche Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen formuliert - gemeinsam war ihnen eine „Transformation, im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten."9 War der Begriff „Pop" demnach von Anfang an eine eher unbestimmte Chiffre für ein heterogenes Gebilde, für eine durch das Ziel der Annäherung von Kunst und Lebenswelt nur vage verbundene Neo-Avantgarde und damit für ein verändertes Lebensstil-Projekt, das den Widerstand gegen einen vorschnellen Konsens beschrieb und in Musik, Kunst und Literatur seinen Niederschlag fand, droht er in den neunziger Jahren zu einem modisch gebrauchten Schlagwort herabzusinken, das keine subkulturellen Inszenierungen, sondern Verkaufsstrategien bezeichnet. Zu Recht wurde daher betont, dass die Symbolkraft von Pop dazu führte, den Begriff als verkaufsförderliches Markenzeichen zu verwenden, um zum Beispiel „neue Automodelle und Chips-Sorten zu adeln."10 In diesem Sinne klagt auch Diederichsen kurz 8

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In diesem Zusammenhang weist Jörgen Schäfer darauf hin, dass Rolf Dieter Brinkmann die Bezeichnung „Pop" nur „vorläufig" für eine neue „Sensibilität" akzeptieren wollte, „die den schöpferischen Produkten jeder Kunstart die billigen gedanklichen Alternativen verweigert: hier Natur - da Kunst und hier Natur - da Gesellschaft, woraus bisher alle Problematik genommen wurde". Brinkmann, Rolf Dieter: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter.- In: Christ und Welt. 15. 11. 1968. Wieder abgedruckt in: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur.- Hrsg. v. Wittstock, Uwe.- Leipzig: Reclam, 1994. S. 65 - 77 (hier: S. 71); Vgl.: Schäfer (Anm. 7) Diederichsen, Diedrich: Pop - deskriptiv, normativ, emphatisch.- In: Pop, Technik, Poesie. Die nächste Generation. Literaturmagazin. Nr. 37.- Hrsg. v. Hartges, Marcel; Lüdke, Martin; Schmidt, Delf.- Reinbek: Rowohlt, 1996. S. 36 - 44 (hier: S. 38f) Kemper, Peter; LanghofF, Thomas; Sonnenschein, Ulrich: Vorwort.- In: „Alles so schön bunt hier": Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute.- Hrsg.

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1. Kapitel - Pop als Avantgarde

vor der Jahrtausendwende, dass der Pop-Begriff „nicht nur endlos zuständig, sondern auch endlos dehnbar zu sein" scheint. „Zwar gab es" - so der Kritiker - „schon zu seinen Anfangszeiten in den frühen Sechzigern unterschiedliche Verwendungsweisen, und einige sind hinzugekommen. Doch heute scheint schier alles Pop zu sein. Oder will Pop sein - vom Theatertreffen bis zur Theorie, von der sozialdemokratischen Kandidatenkür bis zur Kulturkatastrophe."11 Aus dieser berechtigten Kritik an der Marketing-Strategien gehorchenden Verwendung des Begriffs aber zu schließen, Pop habe sich als Modell dynamischer Attacken verabschiedet, weil die Revolte, die sich einst des Konsums bediente, vom Konsum vereinnahmt wurde, hieße nicht nur, die Gegebenheiten zu negieren, durch die Pop erst zum Mythos wurde, sondern auch, dem neuesten Soziologietrend folgend, die Auflösung subversiver Strategien zu verkünden, ohne die Evidenz dieser These zweifelsfrei belegen zu können.12 Die Annahme, die kulturindustrielle Ermächtigung der PopKultur habe ihr subversives Potential verbraucht und damit die emanzipatorischen Hoffnungen der Vergangenheit revidiert,13 fuhrt darüber hinaus nicht selten dazu, noch einmal genau die Vorbehalte zu bemühen, die im deutschen Kunst- und Literaturbetrieb vor allem auf Theodor Adorno und Max Horkheimer zurückgehen.14 Dies zeigt in besonderer Weise die in den

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v. Kemper, Peter; Langhoff, Thomas; Sonnenschein, Ulrich.- Leipzig: Reclam, 2002. S. 9 - 11 (hier: S. 9) Diederichsen, Diedrich: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt.- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1999. S. 273 Vgl. etwa: Baacke, Dieter; Ferchhoff, Wilfried: Von den Jugendsubkulturen zu den Jugendkulturen.- In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen. 2/1995. S. 33 46 In Anlehnung an Tom Holert und Mark Terkessidis erklärt zum Beispiel Dirk Frank, dass inzwischen auch der „vom kommerziellen Kalkül scheinbar unberührt gebliebene Independentbereich" erfolgreich vermarktet wird und schlussfolgert, dass sich die „überhöhten Hoffnungen" bestimmter Kreise an „ein gewisses subversives, emanzipatorisches Potential" der Pop-Kultur „nicht erfüllt" hätten. Frank, Dirk: Einführung in das Thema.- In: Popliteratur. Arbeitstexte für den Unterricht.- Hrsg. v. Frank, Dirk.Stuttgart: Reclam, 2003. S. 5 - 33 (hier: S. 9); Vgl.: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft.- Hrsg. v. Holert, Tom; Terkessidis, Mark.- Berlin; Amsterdam: Edition ID-Archiv, 1996. Bekanntlich sahen Horkheimer und Adorno in der Kulturindustrie einen vereinheitlichenden, manipulierenden Apparat. Ihre Kritik übertrugen sie unterschiedslos auf alle Formen der populären Kultur. Vgl.: Horkheimer, Max; Adorno, Theodor: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug.- In: Dies.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.- Hrsg. v. Tiedemann, Rolf.- Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. S. 141 - 191; Die Verdikte gegen die Populärkultur galten in der Folgezeit auch für literarische Texte und Kunstwerke, die sich auf diese bezogen. Exemplarisch zeigt dies die Monographie von Hermand. Vgl.: Hermand, Jost: Pop international. Eine kritische Analyse.- Frankfurt a. M.: Athenäum, 1971.

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neunziger Jahren geführte Debatte um die Pop-Literatur der Jahrtausendwende. 5 Und schließlich mobilisiert die These vom Ende der Pop-Kultur in der Regel nicht nur die Ausschließungs- und Verwerfiingsdiskurse der Moderne gegen das verdächtig gewordene Populäre, dem Pop sich zuwendet, ohne deshalb zwangsläufig populär zu sein, sondern sie übersieht auch, dass Pop immer schon in das Leben, die Welt, den Markt und seine Gesetze verstrickt war und diese „Verstrickung"16 nicht als Störfaktor, sondern Mittel kultureller Emanzipation verstanden wurde. „Als Teil der Kulturindustrie" - so Ulf Poschardt in seinem Aufsatz „Welcome in the Realworld" - war Pop „auf

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Gedeih und Verderben in die gesellschaftlichen Prozesse eingegliedert." Er konnte und wollte am Warencharakter der Kunst nie etwas ändern. Entgegen der bürgerlichen Hochkultur, die sich einem Modell der Autonomie verpflichtet, setzt Pop auf Strategien des Partizipierens und verabschiedet sich von der Unabhängigkeitsidee, um seinen Wirkungsort dort zu finden, wo Mode, Markt und Medienmainstream unverhohlen regieren. Pop feiert den Diebstahl, inszeniert die Verdrehung und beherrscht das System, dessen Teil zu sein er bereit ist. Ein geschlossenes Ganzes, das auf Zuschreibungen, die ihm widerfahren, strategisch reagieren könnte, ist Pop jedoch nicht, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Fülle der Anbindungsversuche nicht gegen Pop, sondern für seine Anziehungskraft spricht. „Pop hat kein Problem. Selbst dann nicht, wenn Tony Blair plötzlich Pop sein will."18 - so ein Bonmot von Thomas Meinecke, das von der Einsicht kündet, dass nicht alles Pop ist, was ihm zugeordnet wird oder ihm angehören will. Ob Pop verschwindet oder unter den veränderten Bedingungen neu entsteht, ist daher eine Frage, die sich nicht beantworten lässt, indem man darauf verweist, dass Pop allerorts stattzufinden scheint. Die Tatsache, dass ein Begriff unscharf wird, weil seine Anziehungskraft einem undifferenzierten Gebrauch Vorschub leistet, bedeutet nicht, dass das, 15

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Vgl. dazu: Schäfer, Jörgen: „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit". Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968.- In: Pop-Literatur. Text und Kritik. Sonderband. X/03.- Hrsg. v. Arnold, Heinz Ludwig; Schäfer Jörgen.- München: Edition Text und Kritik, 2003. S. 7 - 25 „Pop ist [...] aus der Verstrickung geboren", betont Diederichsen. Diederichsen, Diedrich: Wer fürchtet sich vor dem Cop Killer? Zehn Thesen von Diedrich Diederichsen.- In: Spiegel Spezial. 2/1994. Pop und Politik. S. 23 - 27 (hier: S. 25) Poschardt, Ulf: Welcome in the Realworld. Warum der Realismus weiterhin die einzig fortschrittliche Kunstform ist.- In: Kunstforum international. 134/ 1996. Art & Pop & Crossover. S. 119 - 131 (hier: S. 131) Meinecke, Thomas: 2 Plattenspieler, 1 Mischpult.- In: Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ostwärts - westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns.- Hrsg. v. Schulz, Gedrun; Kagel, Martin.- Eiswasser, 2001. S. 1 8 8 - 189 (hier: S. 189)

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was er bezeichnet, nicht mehr existiert oder gar nie stattgefunden hat. Die Sache mit dem Wort gleichzusetzen und mit dem Verzicht auf seine Verwendung die Diskussionen um seine Verschleißerscheinungen beenden zu wollen, verfehlt die Klärung der Sache selbst, die jedoch retrospektiv wie prospektiv überaus gewichtig ist. Die kulturelle Dynamik mit Pop zu erhellen, ist mithin immer noch möglich, freilich erst, wenn sichtbar wird, worin der Gehalt des Begriffes besteht. Irreführend und nur in einem noch zu präzisierenden Sinne berechtigt ist er. Brauchbar wird er durch eine Bestimmung seiner Bedeutungsbestandteile, die Verbindlichkeiten benennt, Differenzen gelten lässt, effektive Kritik ermöglicht und Konzepte oder Ansprüche reflektiert. Die Einsicht, dass Pop Auseinandersetzungen um den Status Quo zweier Werthierarchien erfasst bzw. Verhandlungen zwischen dem Wertvollen und dem Profanen, ist dafür grundlegend. Diese sind jedoch als Zwiespalt ideologischer Konstrukte zu begreifen, da die beiden widerstreitenden Bereiche keine wirklichen Entitäten darstellen, die sich anhand von Kriterien klassifizieren und hierarchisieren ließen, sondern wandelbare Lebensäußerungen und deren Aus- und Wechselwirkungen. Wenn der Begriff Pop also Konfrontationen zweier Handlungsfelder und Symbolsysteme bezeichnet, bezieht er sich im Grunde genommen auf konstruierte Wirklichkeiten, in denen sich gleichwohl Differenzen spiegeln, die sozialen, politischen, religiösen, ethnischen und geschlechtsspezifischen Ursprungs sind. Die Konstruiertheit der terminologischen Unterscheidung mitdenkend, ist ferner zu bedenken, dass das wertvoll Erachtete und das Profane zwei Bereiche darstellen, die äußerst heterogen gestaltet und nicht deckungsgleich mit dem Hoch- bzw. Populärkulturellen sind. Sie gehören zusammen und beeinflussen sich wechselseitig. Im Ergebnis der Austauschprozesse verschwimmen die Differenzen zwischen beiden Lagern, ohne jedoch zu verschwinden. Sie können partiell aufgehoben und durch neue ersetzt werden, sich verschieben, verlagern oder andernorts neue Dimensionen entfalten, aufheben lassen sie sich nicht. Sie bleiben konstitutiv, sind Motor der Entwicklung. Es geht daher weder um eine vollkommene Verschmelzung noch um strenge Gegensätze. Der Widerstreit vollzieht sich vielmehr - so Paolo Bianchi - als „kontrolliertes Schwanken, das verschiedene mehr oder weniger voneinander entfernte Positionen berührt."19 Aus diesem Grund verfügt Pop auch weiterhin über Handlungsspielräume und -potentiale. Die Rede vom Verlust seiner materiellen Basis im Zuge der postmodernen Pluralität, vom Ende in der Entropie, versperrt dagegen nicht nur den Blick für neue avantgardistische Phänomene innerhalb der Pop-Kultur, son19

Bianchi, Paolo: Subversion der Selbstbestimmung. Assoziationen im Spiegel von Kunst, Subkultur, Pop und Realwelt.- In: Kunstforum international. 134/ 1996. S. 56 75 (hier: S. 70)

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dem vor allem für die Veränderungen, unter denen diese ihre Wirksamkeit entfalten.20 So absorbiert Pop längst hochkulturelle Strategien der Abgrenzung und reproduziert hierarchische Differenzierungen, indem sich verschiedene Formen voneinander absetzen, deren Konkurrenz zugleich das System erhält. Produkte der Kulturindustrie reihen sich neben jene, die eine dezidierte Kritik am Bestehenden transportieren, entweder über inhaltliche Angriffe oder über Formen materialästhetischen Aufbegehrens. In diesem Sinne hat Martin Büsser Phänomene wie DJ Bobo als kulturindustriellen, populären Pop bezeichnet, den er von einem inhaltlichen Angriff des Punk oder marginalisiert arbeitenden Gruppen, wie Voice Crack und Kapotte Muziek, unterscheidet.21 Eine vergleichbare Differenzierung nimmt Hubert Winkels für den Bereich der Literatur vor. Er unterscheidet „zwischen populärer Literatur, die mit Pop-Versatzstücken umgeht, und einer Pop-Literatur im eminenten Sinn." Letztere verfuge - so Winkels - über einen höheren „Grad an Reflexivität" und werde - so die These - von Autoren wie Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister vertreten, während Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Benjamin Lebert oder Alexa Hennig von Lange den populären Pop repräsentieren.22 Man muss diese Ansicht nicht teilen, fest steht aber, dass Pop tatsächlich "

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„nie ein Eldorado der Übersichtlichkeit" gewesen ist, wie Rolf Schwendter im Nachwort seines neu aufgelegten Klassikers zur Subkultur aus dem Jahre 1971 betont. Dass er seine Spannweite in den letzten vierzig Jahren erheblich erweitert hat und als heterogenes Konglomerat ästhetischer Artikulationsweisen inzwischen über vertikale und horizontale Oppositionen verfugt, 20

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Vgl.: Frank, Dirk: Propheten und Nostalgiker. Reflexivität in der Pop-Literatur der Gegenwart.- In: Literatur und Identität. Beiträge aus der 10. Internationalen Arbeitstagung „Germanistische Forschungen zum literarischen Text".- Hrsg. v. Parry, Christoph; Voßschmidt, Liisa; Wilske, Detlef.- Vaasa, 2000. S. 264 - 276 Büsser, Martin: Super Discount: Pop im Jahrzehnt seiner Allgegenwärtigkeit. Zum gegenwärtigen Stand von Popkultur und Popkritik.- In: Pop & Mythos: Pop-Kultur, Pop-Ästhetik, Pop-Musik.- Hrsg. v. Geuen, Heinz; Rappe, Michael.- Schliengen: Ed. Argus, 2001. S. 41 - 51 (hier: S. 43) Winkels, Hubert: Grenzgänger - Neue deutsche Pop-Literatur.- In: Sinn und Form. 51/1999. S. 585 Schwendter, Rolf: Nachwort.- In: Ders.: Theorie der Subkultur.- Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1993. S. 420 - 441 (hier: S. 427); Den Begriff Pop hält Rolf Schwendter allerdings für problematisch, weil er den differenzierten Strukturen der verschiedenen Subkulturen nicht gerecht werden könne. Subkulturen, die er als „Ensembles von Personen" definiert, „deren Werte und Normen, Institutionen und Objektivationen in einem wesentlichen Ausmaß sich von denen der jeweiligen Gesamtgesellschaft unterscheiden", ließen sich nur bedingt in „einem formalen Sammelbegriff zusammenfassen, so Schwendter. Schwendter, Rolf: Zum Urbanen Leben.- In: Pop & Mythos: Pop-Kultur, Pop-Ästhetik, Pop-Musik.- Hrsg. v. Geuen, Heinz; Rappe, Michael.- Schliengen: Ed. Argus, 2001. S. 197 - 207 (hier: S. 204f)

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erschwert vielleicht seine Analyse, sein Ende beweist dies nicht. Im Mit-, Gegen- und Nebeneinander verschiedenster Ausprägungen, im traditionellen Wechselspiel mit hochkulturellen Gegebenheiten, mit nicht selten unterschwellig verlaufenden Einflüssen und Anbindungen bewahrt er seine Dynamik und kulturgeschichtliche Brisanz. Im Spannungsfeld zweier Systeme bleibt Pop, was er immer schon war: der archivierten Kultur und dem Profanen in gleicher Weise verpflichtet. Da beide Bereiche weder in Auflösung begriffen noch konstante, unangreifbare Größen darstellen - Letzteres mag die bildungsbürgerliche Rede vom Kanon suggerieren - , weil sie in gleicher Weise vom disparaten Zugleich der Gegenwart erfasst werden, verändert sich Pop unaufhörlich. Die Antwort, die er auf die Frage gibt, ob das, was die einen „gut finden, auch gut ist\ die zugleich eine danach ist, ob das, „was sie schlecht finden, anderen nur gut scheint,24 wird daher nie mehr sein als eine vorläufige Übereinkunft im Ergebnis von sich ständig verändernden Wertzuschreibungen und damit ein zeitlich begrenztes Diskursresultat. Der Vorläufigkeitscharakter von Pop und die Erweiterung seiner Spannweite führten indes nicht nur zur These seines Verschwindens am Ende der neunziger Jahre, eine These, die sich übrigens schon Ende der sechziger Jahre findet, sondern auch zur Annahme, Pop sei ein ungreifbares, polyvalentes Phänomen.25 Diese Vermutung wiederum verstärkte zum einen die Vorbehalte gegenüber dem Begriff bzw. die Verdrängungsängste vor dem Populären,26 zum anderen schien sie geradezu nachhaltig ein Verweigerungsverhal24

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Schulze, Gerhard: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur.- Frankfurt a. M.; New York: Campus, 1999. S. 16 Diese Sicht gilt für den deutschen Kulturraum als bestimmend. Sie wird darauf zurückgeführt, dass Begriff und Phänomen nicht deutschen Ursprungs sind und sich einer Eindeutschung entziehen. Diederichsen betont außerdem, dass es „keine deutsche Version" gibt, die „die Dimension der Eigenproduktivität des >PopulusVolk< sein kulturelles Bedürfnis mit Schlagern, Comics und Dreigroschenromanen befriedigte. [...] da tauchten um 1960 mit einem Male ein paar >Barbaren< auf, die dieses System als unfair [...] empfanden. Die ersten waren die Maler, die sich gegen diese Standesklausel empörten und der konsequent durchgeführten Stiltrennung das Schlagwort >A11 is pretty< (Andy Warhol) entgegensetzten. [...] Schon nach wenigen Monaten hatte man für diese neue Masche einen höchst effektvollen Namen zur Hand. Man nannte sie einfach >Pop