Performativität in Sprache und Recht 9783110464856, 9783110462647

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Performativität in Sprache und Recht
 9783110464856, 9783110462647

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Teil 1: Einleitung
Performativität in Sprache und RechtSynopse der einzelnen Beiträge
Teil 2: Auf dem Feld des Rechts sprachlich handeln
Rekursion. Rezeption. RelationRechtstheoretische Aspekte des Performativen
Vom Widerstreit der Lesarten zum Aufschub des RechtsDie performative Logik des juristischen Verfahrens
Linguistische Relativität im Recht?
Teil 3: Vertragstheorie und sprachliche Performativität
Sprachperformanz als Grundlage des Gesellschaftsvertrags
Vertragstheoretische HerrschaftslegitimationMit spieltheoretischer Kreativität, aber ohne sprachliche Performativität
Teil 4: Pragmatik und Semantiken des sprachlichen Handelns auf dem Feld des Rechts
„Performance“ ohne PerformativeÜber Kraft und Wirkung krimineller Drohungen
Rechtssemantik und RechtspragmatikKonflikte zwischen nationalen und internationalen Gerichten aus rechtslinguistischer Perspektive am Beispiel des Falls Görgülü
Indeterminismus und Performanz in der Sprache am Beispiel der Bedeutung von lebenslanger Freiheitsstrafe
Teil 5: Das performative Potenzial von Textstil und Grammatik
Textsortenkonstituierende Parameter von ErpresserschreibenZur performativen Wirkung des Textsortenwissens
Zur Anwendung stilistischer Parameter in der forensischen Textanalyse
CodE Alltag: Ein deutsches E-Mail-Korpus für die Forensische Linguistik
Agensanonymisierung, Modus- und Aspektdisambiguierung in der GesetzesspracheAm Beispiel der Straßenverkehrsordnung (StVO)
Autorenverzeichnis
Index

Citation preview

Performativität in Sprache und Recht

Sprache und Wissen

Herausgegeben von Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat Markus Hundt, Wolf-Andreas Liebert, Thomas Spranz-Fogasy, Berbeli Wanning, Ingo H. Warnke und Martin Wengeler

Band 23

Performativität in Sprache und Recht

Herausgegeben von Lars Bülow, Jochen Bung, Rüdiger Harnisch und Rainer Wernsmann

ISBN 978-3-11-046264-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046485-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046267-8 ISSN 1864-2284 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Das Recht ist nicht ohne die Sprache zu denken. So liegt es auf der Hand, dass sich Rechts- und Sprachexperten über die exponierte Funktion und das Potential der Sprachverwendung für das Handeln in Rechtskontexten austauschen. Eine Plattform dafür bot die interdisziplinäre Tagung „Performativität in Sprache und Recht“, die am 18. und 19. Oktober 2013 an der Universität Passau stattfand. Thematischer Anlass für die interdisziplinäre Tagung war die Beobachtung, dass viele Juristen und Linguisten die performative Kraft der Sprache in Rechtskontexten unterschätzen. Deshalb widmete sich die Tagung ausdrücklich dem performativen Charakter von Sprache in rechtlichen Handlungszusammenhängen. Der Fritz Thyssen Stiftung sowie dem Verein der Freunde und Förderer der Universität Passau möchten wir an dieser Stelle recht herzlich für die finanzielle Unterstützung danken, ohne die die Tagung nicht durchführbar gewesen wäre. Die Vorträge und fruchtbaren Diskussionen haben den Bedarf an weiterer Verständigung offengelegt. Als sinnvoll und wichtig erscheint insbesondere eine Überbrückung der terminologischen Differenzen, die sich schon in der Verwendung des Begriffs „Performativität“ deutlich zeigen. Zudem ist das breite Anwendungsfeld sprachlichen Handelns in rechtlichen Kontexten deutlich geworden. Alle Teilnehmer waren sich daher einig, dass eine Ergebnissicherung in Form einer Publikation ins Auge gefasst werden müsse. Aus den Tagungsbeiträgen ist nun der vorliegende Sammelband entstanden. Dieser verdeutlicht die Bandbreite der Möglichkeiten, mit denen man sich dem Phänomen sprachlichen Handelns in rechtlichen Kontexten widmen kann. Die verschiedenen Autoren aus Sprach- und Rechtswissenschaft nehmen dabei dezidiert eine performative Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Recht ein. Zum einen werden beispielsweise Muster, Traditionen und Strukturen in der Rechtssprache aufgedeckt und somit der performative Charakter dieses Tätigkeitsfeldes aufgezeigt. Zum anderen wird aber auch die performative Kraft der Sprache in Zusammenhang mit der Tatschreibenanalyse diskutiert. Beiträge zur Rechtsphilosophie sind in diesem Band ebenso zu finden wie Diskursanalysen, die aufzeigen, wie Recht performativ erzeugt wird. Ekkehard Felder, dem Herausgeber der Reihe „Sprache und Wissen“, in die dieser Band so wunderbar passt, sei herzlich dafür gedankt, dass er das Buchprojekt mit großem Interesse begleitet und unterstützt hat. Wir danken Daniel Gietz, unserem Ansprechpartner beim Verlag de Gruyter, für die in verlegerischer und redaktioneller Hinsicht sehr konstruktive Betreuung. Viel Mühe und Energie haben unsere studentischen Hilfskräfte Christian Moser und Kathrin

VI | Vorwort

Ketterl in die technisch nicht immer einfache Herstellung der Druckvorlage investiert – auch ihnen gilt unser Dank. Passau und Hamburg, im April 2016

Die Herausgeber

Inhalt Einleitung   Lars Bülow   Performativität in Sprache und Recht Synopse der einzelnen Beiträge | 3 

Auf dem Feld des Rechts sprachlich handeln   Sabine Müller-Mall   Rekursion. Rezeption. Relation.  Rechtstheoretische Aspekte des Performativen | 21  Kent D. Lerch   Vom Widerstreit der Lesarten zum Aufschub des Rechts  Die performative Logik des juristischen Verfahrens | 35  Georgia Stefanopoulou   Linguistische Relativität im Recht? | 49 

Vertragstheorie und sprachliche Performativität   Jochen Bung   Sprachperformanz als Grundlage des Gesellschaftsvertrags | 63  Gerd Strohmeier   Vertragstheoretische Herrschaftslegitimation  Mit spieltheoretischer Kreativität, aber ohne sprachliche Performativität | 79 

Pragmatik und Semantiken des sprachlichen Handelns auf dem Feld des Rechts  Julia Muschalik   „Performance“ ohne Performative  Über Kraft und Wirkung krimineller Drohungen | 101 

VIII | Inhalt

Janine Luth   Rechtssemantik und Rechtspragmatik Konflikte zwischen nationalen und internationalen Gerichten aus rechtslinguistischer Perspektive am Beispiel des Falls Görgülü  | 129  Karin Luttermann   Indeterminismus und Performanz in der Sprache am Beispiel der Bedeutung von lebenslanger Freiheitsstrafe | 163 

Das performative Potenzial von Textstil und Grammatik  Lars Bülow   Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben Zur performativen Wirkung des Textsortenwissens | 191  Ulrike Krieg-Holz   Zur Anwendung stilistischer Parameter in der forensischen Textanalyse | 227  Ulrike Krieg-Holz, Udo Hahn   CodE Alltag: Ein deutsches E-Mail-Korpus für die Forensische Linguistik | 245  Igor Trost   Agensanonymisierung, Modus- und Aspektdisambiguierung in der Gesetzessprache  Am Beispiel der Straßenverkehrsordnung (StVO) | 265  Autorenverzeichnis | 277 Index | 281 

 

| Teil 1: Einleitung

Lars Bülow

Performativität in Sprache und Recht Synopse der einzelnen Beiträge

1 Performativität in Sprache und Recht Müller-Mall (in diesem Band: 21) bringt den Zusammenhang zwischen den Begriffen Performativität, Sprache und Recht auf den Punkt: Und weil jedes In-die-Welt-Kommen von Recht, jede Erzeugung von (positiven) Rechtsnormen, in der Sprache geschieht, liegt es nahe, zur Beschreibung solcher Vorgänge auf das Performative zurückzugreifen.

Der sogenannte ‚performative turn‘ hat mittlerweile nicht nur die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften erfasst, sondern auch die Rechtswissenschaften erreicht. Eine performative Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf die Prozesshaftigkeit und die Dynamik sozialer Interaktion, die auch in rechtlichen Kontexten eine bedeutsame Rolle spielen. Der Fokus liegt zudem auf der „Ausdrucksdimension von Handlungen und Handlungsereignissen“ bzw. auf der „praktische[n] Dimension der Herstellung kultureller Bedeutungen und Erfahrungen“ (Lerch in diesem Band: 36). Nichtsdestotrotz muss eine Einleitung zu einem Buch, das den umstrittenen und vielschichtigen Begriff der Performativität im Titel trägt, zumindest kurz auf die Begriffsgeschichte eingehen. Mit Wirth (2002: 10; Hervorhebung im Original) sei hier schon angedeutet, dass sich dieser „von einem terminus technicus der Sprechakttheorie zu einem umbrella term der Kulturwissenschaften“ entwickelt hat, „wobei die Frage nach den ‚funktionalen Gelingensbedingungen‘ der Sprechakte von der Frage nach ihren ‚phänomenalen Verkörperungsbedingungen‘ abgelöst wurde“. Aus juristischer wie auch aus linguistischer Perspektive unterstreichen aktuelle Arbeiten, die sich mit dem Wesen sprachlicher Verfasstheit von Recht beschäftigen, den Einfluss des handelnden Menschen und seiner Sprache bei der Rechtserzeugung (vgl. Müller-Mall 2012; Vogel 2012; Li 2011; Christensen / Lerch 2005). Sie betonen insbesondere die performative Kraft der Sprache. Zu einem adäquaten Verständnis des Zusammenhangs zwischen Sprache und Recht gehört die Einsicht, dass Sprache über ein hochgradig performatives Potenzial verfügt und so einen wichtigen Beitrag zur rechtlichen Normengenese

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leistet (vgl. Müller-Mall 2012). Sowohl die Sprache als auch das Recht sind dynamische und komplexe adaptive Systeme, die kulturell-sozialen, innersystemischen und kognitionspsychologischen Einflüssen unterliegen.1 Wir müssen akzeptieren, dass Gesetzestexte keine geschlossenen Sinntotalitäten sind, denen qua Abbildrelation zwischen Sprache und Lebenswirklichkeit die wahre und richtige Bedeutung nur entnommen werden müsste. „Weder Bedeutung noch Verknüpfungen sind dem Text inhärent.“ (Christensen / Lerch 2005: 106) Deshalb fordern Christensen / Lerch (2005: 110) auch für das Feld des Rechts „sich von der Idee zu verabschieden, es müsse immer eine einzige Bedeutung geben, die allein für das Reale einzustehen vermag“. Mit der potenziellen Öffnung der Entscheidungsfindung geht allerdings nicht einher, dass die Rechtserzeugung völlig beliebig erfolgt. Entscheidend für eine interdisziplinäre Annäherung an das Thema Performativität in Sprache und Recht ist die Erkenntnis, dass die in rechtlichen Auseinandersetzungen handelnden Akteure ihr Vorgehen und ihre Entscheidungen sprachlich plausibilisieren, also argumentativ erklären müssen. Die Legitimität ihrer Argumente können die Juristen aber nicht ausschließlich aus den Gesetzestexten ableiten, sondern müssen sie auch im Vollzug des eigenen Sprachhandelns begründen. Die Ebenen der sprachlichen Verfasstheit und des Diskurses um Begriffe sind Spezialgebiete des Linguisten, der die Plausibilisierungsversuche von seinem Erkenntnisinteresse her zu untersuchen vermag. Die sprachliche Grundkonstituiertheit rechtlicher Kontexte ist der ausschlaggebende Punkt, warum die rechtliche Seite der Medaille nicht von der sprachlichen Seite getrennt werden kann.2

2 Performativität: ein genealogischer Abriss Der schillerndste Begriff im Titel des Bandes ist sicherlich jener der Performativität. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil Performativität mittlerweile zu einem zentralen Begriff in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften geworden ist, hat es den Anschein, dass sich Performativität zu einem Sammelbegriff für eine Vielzahl von Phänomenen entwickelt hat. Und obwohl Performati|| 1 Die Auffassung, Sprache als dynamisches und komplexes adaptives System zu verstehen, wird beispielsweise von Gell-Mann (1994), Ritt (2004) und Bülow (im Erscheinen) vertreten. 2 Weiterhin hat Müller-Mall (2012: 23) herausgearbeitet, dass die Kriterien des Rechts nur in der Sprache differenzierbar werden und sich damit in fundamentaler Abhängigkeit von ihr befinden.

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vität einer jener Begriffe ist, die in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Konjunktur erlebt haben, bleibt vielen Disziplinen der Facettenreichtum des Begriffes unklar. Velten (2012: 249) kommentiert wie folgt: Yet this dissemination has a dark side: today there is no integrative, consistent theory of performance/performativity, but instead a pluralistic field of eclectic and sometimes contradictory theoretical concepts.

Velten (2012) versteht Performativität als einen dynamischen Begriff und in diesem Zusammenhang als ‚travelling concept‘. Nichtsdestotrotz hat sich so etwas wie eine Performativitätstheorie (‚performativity theory‘) und Performativitätsforschung herausgebildet.3 Miller (2007: 222) vermutet zusammenfassend: „‘Performativity theory‘ […] is a somewhat later hybrid combining speech act theory, Foucault, and performance studies. The lines of filiation […] are complex and inextricably entangled, as is the case with modern theory generally“. Insbesondere Sammelbegriffe wie Performativität zeigen sich anfällig für verschiedene Auslegungsmöglichkeiten. Was Butler oder Fischer-Lichte unter Performativität verstehen, hat nicht mehr viel mit dem gemeinsam, was Austin noch mit seinen performativen Äußerungen (‚performative utterances‘) zum Ausdruck bringen wollte. Und so gibt Miller (2007: 226) weiter zu bedenken: It is important not to be misled by the multiple incompatible uses of the same word, its heterogeneity or plurisignifiance, into seeing identities where there are essential differences. We must disambiguate.

Krämer (2004) geht zwar auch ausführlich auf die verschiedenen Performativitätsauffassungen ein, sie scheint aber doch einen kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden zu haben: „Die Bezugnahme auf das Performative ist motiviert durch eine kritische Einstellung gegenüber der Idee der Repräsentation genauer: gegenüber der Identifizierung von ‚Zeichen‘ mit ‚Repräsentation‘“ (Krämer 2004: 19). Da auch die Autoren dieses Bandes teilweise mit unterschiedlichen Performativitätsauffassungen arbeiten, sollen die grundlegenden Unterschiede einführend kurz skizziert werden. Beginnen müssen diese Ausführungen bei John Langshaw Austin. Der britische Sprachphilosoph und Begründer der Sprechakttheorie hat den Stein ins Rollen gebracht, als er 1962 in How to Do Things with

|| 3 Richard Schechner und Victor Turner haben in den 1960er Jahren im angloamerikanischen Raum außerdem die ‚performance studies‘ etabliert.

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Words explizit machte, dass Sprechen zugleich Handeln ist.4 Etwas sagen heißt, etwas zu tun! Mit Sprache wird die Welt nicht nur beschrieben, sondern durch ihre Kraft können „Weltzustände im Sprechen“ (Krämer 2004: 14) hervorgebracht werden. Austin verfolgt eine systematische Ausarbeitung der Wittgensteinschen Sprachspielhypothese (vgl. Wirth 2002: 10), nach der „das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“ (Wittgenstein PU § 23).5 Felder (2010: 544) verdeutlicht, dass durch Sprachspielregeln auch in rechtlichen Kontexten Begriffe „festgesetzt, stereotypisiert, bestätigt oder modifiziert werden“. Sprechen schafft soziale Wirklichkeit. Sprachhandeln im Sinn der Sprechakttheorie zu verstehen, heißt wiederum, sich die funktionalen und kontextabhängigen Gelingensbedingungen des Sprachhandelns zu vergegenwärtigen.6 Austin bezog seine Klasse der performativen Äußerungen beispielsweise auf Taufen, Kriegserklärungen und auf Richtersprüche. In diesen Situationen wird besonders deutlich, dass Sprache und Lebensform miteinander verknüpft sind. Recht muss beispielsweise von dazu autorisierten Personen gesprochen werden. Auch wenn Austin den Begriff Performativität selbst nie benutzt hat – er spricht vielmehr von performativen Äußerungen (‚performative utterances‘) – bedeutet das Konzept bei ihm, zu spezifizieren, welchen Regeln ein sprachliches Handeln zu folgen hat, um im Rahmen intersubjektiver Beziehungen erfolgreich zu agieren (Krämer 2004: 15; Hervorhebung im Original).

Diese Auffassung davon, was Performativität bedeute, lebt zwar noch in der analytischen Sprachphilosophie und der pragmatischen Linguistik weiter, wurde aber bereits vielfach kritisiert. In diesem Zusammenhang muss kurz auf den Performanzbegriff bei Chomsky eingegangen werden. Dieses Konzept, das zumindest den meisten Linguisten sehr vertraut ist, meint die konkrete Umsetzung eines als Kompetenz angelegten und angeborenen Sprachvermögens. Christensen / Lerch (2005: 72) stellen fest, dass Chomskys Performanzkonzept

|| 4 Sprachliche Äußerungen als konkrete Handlungen zu verstehen, wird gedanklich schon von Humboldt (1836) und Bühler (1934) vorbereitet. 5 Kennzeichnend für Sprachspiele ist, dass in ihnen „sprachliche Tätigkeitsformen mit nichtsprachlichen Tätigkeitsformen konstitutiv verbunden“ (Bertram 2011: 101) sind. 6 Zudem wird deutlich, dass viele sprachliche Handlungen keine logisch-semantischen Wahrheitsbedingungen haben, was insbesondere für die Rechtsprechung ein Rechtfertigungsproblem darstellt (vgl. Lütterfelds 2011), zumal sich die Sprache in wechselseitiger Abhängigkeit mit sich verändernden Lebensbedingungen wandelt.

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mit der klassischen juristischen Auslegung korrespondiert: „Hier liegt ein repräsentatives Verständnis von Performanz vor, wie es auch der klassischen Vorstellung in der Jurisprudenz zu Eigen ist: die vorgeordnete Struktur des Rechts bleibt von der Realisierung unberührt“. Der Vergleich wird an anderer Stelle fortgeführt: Die Sprache als beobachtbares Phänomen ist demnach eine Verzerrung der ‚reinen Sprache‘. Der Akzent liegt hier – ganz im Sinne der klassischen juristischen Auffassung – auf der idealen Struktur. Die Realisierung gilt als zufällig und defizitär. (Christensen / Lerch 2005: 76)

Gemeint ist damit das „Verhältnis von vorgeordnetem Sinn zu nachgeordnetem Vollzug“ (Christensen / Lerch 2005: 77). Diese Idealisierung ist heute auch in der Linguistik sehr umstritten. Der Fokus richtet sich längst nicht mehr auf das idealisierte und abstrakte System Sprache, sondern auf die im konkreten Sprachgebrauch realisierten Varianten und deren Evolution (vgl. Bülow im Erscheinen). Richtungsweisende Kritik an Austins und Searles Verständnis von Performativität und Performanz kommt bereits in den 1960er von Derrida. Er gelangt zu dem Schluss, dass Austin den Bedeutungsüberschuss, der häufig beim Sprachhandeln entsteht, nicht gänzlich erfassen kann.7 Dazu müsste insbesondere den Wechselwirkungen zwischen Sprachstruktur und Vollzug des sprachlichen Handelns mehr Bedeutung geschenkt werden. Außerdem dürften die von Austin noch als parasitär bezeichneten Äußerungen aus dekonstruktivistischer Perspektive nicht aus der Untersuchung ausgeschlossen werden. „Mit jeder Äußerung ist allein aufgrund ihres Auftritts eine neue Situation gegeben. Sie ist als aktuelles Ereignis in eine neue Lage versetzt, ebenso wie sie zugleich eine neue Lage schafft.“ (Christensen / Lerch 2005: 80) Mit jeder Äußerung wird somit der Sinn bis zu einem gewissen Grad abweichen. Auch Derridas eigenes Konzept betont den Umstand, dass Zeichen und deren Sinn erst qua ihrer Iterabilität als Zeichen mit Sinn erkennbar werden. Velten (2012: 253) drückt dies so aus: „The performative speech act can only succeed because it is citational, i.e. repeats known codes embedded in specific ritualised acts“. Zugleich bringen die immer neuen Bedingungen unter denen die Wiederholungen stattfinden aber auch eine permanente Veränderung des Sinns und damit des Zeichens hervor. „Der Sinn geht der Kommunikation nicht voraus, sondern wird erst in der Performanz geschaffen.“ (Christensen / Lerch 2005: 82) Die Möglichkeit der Wie|| 7 Austin (1962/2002) führt dies freilich auf die parasitäre Ausnutzung konventionalisierten Sprachgebrauchs zurück.

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derholung liegt für Derrida in der Distanz zwischen den Realisierungen oder wie er es selbst ausdrückt in der ‚différance‘. ‘Performativität‘ [mit Derrida gelesen; LB] zielt also darauf, dass die Wiederholung von Zeichenausdrücken in zeit- und raumversetzten neuen Kontexten – eine Wiederholung, welche erst die Allgemeinheit im Gebrauch dieser Ausdrücke stiftet – zugleich eine Veränderung der Zeichenbedeutung bewirkt. (Krämer 2004: 16; Hervorhebung im Original)

Letztlich begründet sich Derridas Kritik in der Verschiebung des Blickwinkels auf das Phänomen der Performativität. Nimmt man beide Perspektiven zusammen, kann gesagt werden, dass sich die Sprache durch das Sprechen nicht nur stabilisiert, sondern auch verändert. Die vom Strukturalismus angemahnte Unterordnung des Sprachgebrauchs unter das Sprachsystem ist somit jedenfalls hinfällig. Etwas später setzt eine „kulturwissenschaftliche Wende“ (Wirth 2002: 9) des Begriffs ein, die insbesondere von der Anthropologie, den ‚perfomancestudies‘ und ‚gender-studies‘ getragen wird. Bisher ist noch wenig über den Einfluss der performance-studies auf das aktuelle Performativitätsverständnis gesagt worden. Die performance-studies legen den Schwerpunkt nicht auf die Iterierbarkeit, sondern auf das singuläre Ereignis. Es geht ihnen um „die Instabilität und Flüchtigkeit von Aufführungen, die in eben ihrem Ereignis- und Präsenzaspekt den Rahmen repräsentational fungierender Semiosis immer auch überschreiten“ (Krämer 2004: 17). Die Wechselwirkung zwischen Aufführung und Beobachter, der als Kommunikationsbeteiligter nun konstitutiv ist, wird besonders in der Theatralitätsforschung betont. Diese Auslegung des Performativitätsbegriffes geht davon aus, dass ein durch die Erfahrung der performance inspiriertes Konzept von Theatralität ein Modell abgeben kann für die schöpferische Metamorphose der wahrgenommenen Welt, im Wechselverhältnis von Akteur und Betrachter (Krämer 2004: 18; Hervorhebung im Original).

Dieses theatrale Performativitätskonzept erfährt insbesondere in den Kulturwissenschaften große Beachtung. „Die kulturwissenschaftliche ‚Entdeckung des Performativen‘ liegt demnach darin, dass sich alle Äußerungen immer auch als Inszenierungen, das heißt als Performances betrachten lassen.“ (Christensen / Lerch 2005: 85) Christensen / Lerch (2005: 85f.) schließen aus diesen Überlegungen, dass auch die Rechtssprache und die Gesetzestexte als „Inszenierungen“ zur Durchsetzung der jeweiligen Lesart und Interessen interpretiert werden müssen.

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3 Performative Rechtserzeugung Jedes Verfahren hat beispielsweise einen Ereignischarakter. Recht wird im diskursiven Verfahren durch die Verfahrensbeteiligen und die eingebundenen Medien8 erzeugt.9 Rechtserzeugung muss dabei immer im Spannungsfeld von Medienkonstellationen begriffen werden. Der Begriff der Performativität ist weder vom Zeichenhaften noch vom Rituellen oder der Handlung zu trennen. Dass Performativität aber auch in die Dimension des Rechts hineinreicht, wurde erst verhältnismäßig spät erkannt und ist bis heute nur ungenügend erforscht. Dabei liegt der Zusammenhang doch vermeintlich auf der Hand. Denn in kaum einer anderen Fachsprache sind Tätigkeitsfeld und Sprache so eng verwoben und Wechselwirkungen ausgesetzt wie in der Rechtssprache. Daran erinnert beispielweise der Ausdruck Rechtsprechung. Es handelt sich dabei um ein Tätigkeitsfeld, bei dem Recht erzeugt wird. Performative Rechtserzeugung10 ist in diesem Zusammenhang der zentrale Begriff. Er überwindet das Prinzip der bloßen Rechtsanwendung. Es geht beispielsweise bei der Rechtsprechung um Äußerungen, die nicht nur etwas bezeichnen, sondern zugleich auch unter den gegebenen Umständen, dasjenige was sie bezeichnen, gleichzeitig erzeugen. Die Verwirklichung des Rechts ist aber keine Lektüre, sondern ein praktisches Verfahren, dessen überraschende Wendungen sich der Prognose eines Lesers des Gesetzbuchs regelmäßig entziehen. […] Das Verfahren als Performanz des Rechts ist keine Ausführung des Gesetzes, sondern eine Inszenierung, in der sich immer wieder Neues ereignet. (Christensen / Lerch 2005: 94)

Felder (2010: 560) stellt fest: Norm ist […] nicht eine ante casum in Gesetzes- und Verfassungstexten fest gegebene Größe, vielmehr wird sie – in Abhängigkeit von dem verhandelten Lebenssachverhalt und dem ausgewählten Gesetzestext – erst vom juristischen Funktionsträger gebildet und konkretisiert.

|| 8 „Die Bedeutung von ‚Performativität‘ ist in einer zeitgenössisch interessanten und anschließenden Weise gar nicht ohne einen Bezug auf Medialität zu begreifen.“ (Krämer 2004: 13) 9 Medien sind zwar eine Grundvoraussetzung für das Vorhandensein von Bedeutung, weil Sinn der Korporalität bedarf, sie können aber nicht länger als neutrale Vermittlungsinstanzen betrachtet werden (vgl. Christensen / Lerch 2005: 88ff.; Krämer 2002). 10 Der Begriff ‚performative Rechtserzeugung‘ weist große Schnittmengen mit den Begriffen ‚prozedurales Recht‘ und ‚Rechtsproduktion‘ auf.

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Daher ist sprachliches Handeln in juristischen Kontexten stets das diskursive Aushandeln von Semantik. Mit Bezug auf die Gelingensbedingungen von sprachlichen Handlungen ändern sich so die Kriterien der Bedeutungszuweisung. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Sprachhandeln soziale Tatsachen schafft (vgl. Wirth 2002: 11). So ist der Richter qua institutioneller Verankerung dazu in der Lage, jemanden frei oder schuldig zu sprechen. Die Situation des Richters beschreibt der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer folgendermaßen: Es ist offenbar widersinnig, entgegen den Erkenntnissen zur Vagheit und Porösität von Gesetzesbegriffen oder zum je differenten richterlichen Vorverständnis darauf zu beharren, der Richter müsse sich streng an das Gesetz halten. Er kann es nicht. Konsequenz einer solchen, sich scheinbar rechtsstaatlich begründenden Forderung ist nicht, daß die Rechtsprechung sich exakter an gesetzliche Vorschriften hält, sondern vielmehr, daß sie so tut, als folge sie nur dem Gesetz. (Hassemer; zitiert aus Felder 2010: 563)

Dem Äußerungsakt des Richters gehen in der Regel Rechtsauslegungsakte voraus, die sich um ein Verständnis der aktuellen und sprachlich dokumentierten Rechtslage bemühen, um beispielsweise ein adäquates Strafmaß festzulegen oder um festzustellen, ob Handlungen im Rahmen der gesetzlichen Regelungen stattgefunden haben. Auch muss das Geflecht der verschiedenen juristischen Textsorten beachtet werden.11 Aber auch bei der Aufklärung von Straftaten muss die performative Kraft der Sprache z. B. in Zusammenhang mit dem tradierten Textsortenwissen unbedingt berücksichtigt werden. Bei der Analyse von Erpresserbriefen können individualstilistische Ausprägungen immer nur vor der Folie von Textsortenspezifika herausgefiltert werden (vgl. dazu Bülow, Krieg-Holz und Krieg-Holz / Hahn in diesem Band).

4 Überblick über die Beiträge Die Beiträge dieses Bandes spiegeln die angedeutete Vielschichtigkeit des Performativitätsbegriffes. Insbesondere die linguistischen Beiträge interpretieren den Begriff nach wie vor sprechakttheoretisch und funktional. Auch die Nachwirkungen des phänomenalen Performanzkonzeptes Chomskys sind teilweise deutlich spürbar. Die juristischen Aufsätze hingegen stellen die performative || 11 Felder (2010: 561) unterscheidet beispielsweise zwischen Textsorten a) mit normativer Kraft (Gesetzestexte), b) der Normtext-Auslegung (Gesetzeskommentare) und c) der Rechtsprechung (Gerichtsurteile, Beschlüsse).

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Rechtserzeugung kulturwissenschaftlicher und korporaler Performativitätsprägung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Trotz der unterschiedlichen Auslegungsweisen des Performativitätsbegriffes kann der vorliegende Band keine „Revision des Performanz-Konzeptes der Sprache“ unternehmen, wie es beispielsweise von Mersch12 oder Krämer (2004) auf der Grundlage des Konzepts der Aisthetisierung vorgeschlagen wird. Der Band verdeutlicht vielmehr, dass die Begriffe Performativität und Performanz heute mit unterschiedlichen Perspektivierungen gebraucht werden.

4.1 Auf dem Feld des Rechts sprachlich handeln Müller-Mall untersucht in ihrem Beitrag die rechtstheoretischen Folgen der Annahme, „das In-die-Welt-Kommen von Recht sei ein performativer Vorgang“ (Müller-Mall in diesem Band: 21). Sie fragt, ob die Grundfesten des Rechts betroffen sind, wenn man Recht konsequent mit einer performativen Logik denkt. Dazu skizziert sie zunächst, was sie unter dem Begriff der performativen Rechtserzeugung versteht. Weiterhin erläutert Müller-Mall die drei wichtigsten Aspekte performativer Rechtserzeugung. Diese sind Rekursivität, Rezeptivität und Relationalität. Die Diskussion dieser Punkte führt sie letztlich zu der Frage, was es unter Einnahme einer performativen Perspektive heißt, Recht konsequent als performatives Phänomen zu denken. Lerch kritisiert in seinem Beitrag zunächst, dass die traditionelle juristische Methodenlehre nach wie vor davon ausgeht, dass dem Rechtstext ein objektiver Sinn innewohnt. Er plädiert in seinem Beitrag vielmehr dafür, die klassische Hermeneutik und die Metaphysik des Buches zu überwinden und sich stattdessen dem Zusammenspiel der juristischen Medien stärker zu zuwenden. Ebenso müsse dem Verfahren der Rechtserzeugung und den dabei stattfindenden Kommunikationen mehr Beachtung geschenkt werden. Recht sollte demnach als „Hypertext“ und „Medienkonstellation“ verstanden werden. Das Verfahren selbst ist keine Ausführung des Gesetzes, sondern eine Inszenierung, in der sich immer wieder Neues ereignet (vgl. Christensen / Lerch 2006: 46f.; 2005). Stefanopoulou greift in ihrem Beitrag das linguistische Relativitätsprinzip auf. Dieses postuliert, dass die Sprache das Denken entscheidend beeinflussen würde. Damit referiert sie auf die berühmte und umstrittene Sapir-WhorfHypothese, deren teilweises Zutreffen insbesondere in konstruktivistischen und

|| 12 http://www.dietermersch.de/download/mersch.performativitaet.und.ereignis.pdf (abgerufen am 12.06.2015)

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performativen Sprachtheorieentwürfen betont wird (vgl. Pavlenko 2014). Stefanopoulou diskutiert und hinterfragt im Speziellen, ob die Struktur des jeweiligen Rechtssystems an die Relativität der jeweiligen Sprache gekoppelt sei.

4.2 Vertragstheorie und sprachliche Performativität Die Beiträge von Bung und Strohmeier setzen sich mit der Bedeutung der performativen Kraft der Sprache in Thomas Hobbesʼ Leviathan auseinander. Während Bung dafür argumentiert, dass es ohne Sprache bzw. gelingende Sprechakte, die vertraglichen Charakter haben, kein funktionierendes Gemeinwesen und keinen Gesellschaftsvertrag geben könne, vertritt Strohmeier, indem er direkt auf den Beitrag von Bung eingeht, die Auffassung, dass Hobbesʼ Vertragstheorie – trotz der hohen Relevanz der Sprache für die Politik – gänzlich ohne Sprache auskommt. Bung setzt in seinem Aufsatz voraus, dass sich das Recht des Vertrages aus der Performativität der Sprache ergibt. Weiterhin könne Gesellschaft nicht ohne das Zustandekommen von Verträgen funktionieren. Im Mittelpunkt der Ausführungen Strohmeiers steht hingegen das kontraktualistische Argument. Er kritisiert, dass der Ur- bzw. Naturzustand, den Hobbes beschwört, ein bloßes Konstrukt ist. Der Kontraktualismus ist kein faktisches Ereignis, er ist ein Gedankenexperiment; er ist keine vertragsempiristische, sondern eine vertragsaprioristische Theorie. Deshalb könne der performativen Kraft der Sprache auch keine zentrale Bedeutung für den Gesellschaftsvertrag zugeschrieben werden. Der Gesellschaftsvertrag und seine Rechtfertigung ergäben sich somit nicht aus den sprachlichen Handlungen der Menschen, sondern aus den Argumenten der Vertragstheoretiker.

4.3 Pragmatik und Semantiken des sprachlichen Handelns auf dem Feld des Rechts Muschalik verwendet in ihrem Aufsatz einen Performativitätsbegriff, der wieder auf das frühe Stadium der Austin‘schen Sprechakttheorie verweist. Performativ sind demzufolge insbesondere jene Äußerungssituationen, „[...] in denen etwas sagen etwas tun heißt; in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen“ (Austin 1962/2002: 33, Hervorhebung im Original). Den Schwerpunkt ihrer Untersuchung legt Muschalik auf die „performance“ von Drohungen als illokutionäre Akte und wie diese in Gerichtsverfahren bewertet werden. Es geht ihr um performative Äußerungen, bei denen Sprecher (vermeintlich) drohen, indem sie etwas sagen. Das Spannungspoten-

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zial der von Muschalik untersuchten performativen Sprachhandlungen ergibt sich aus der Tatsache, dass diese häufig indirekt geäußert werden und Dritte auf dieser Grundlage „eindeutig bestimmen [sollen], ob es sich bei einer Aussage tatsächlich um eine Drohung im rechtlich verfolgbaren Sinne handelt“ (Muschalik in diesem Band: 105). Im Falle sprachlicher Äußerungen, die Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen werden, spielt häufiger weniger der Äußerungsakt selbst (Lokution) als vielmehr die Intention (Illokution) und die Wirkung (Perlokution) eine Rolle. Muschalik legt offen, dass vor allem die Bewertung von Intention und Wirkung rechtlich schwierig ist. Luth zeigt anhand des prominenten Sorgerechtsstreits Görgülü, wie semantische Kämpfe um Bezeichnungen, Bedeutungen und Sachverhalte im Recht ausgetragen werden. Dazu nimmt sie eine diskurslinguistische Perspektive ein. Auch aus diesem Blickwinkel wird deutlich, dass die Bedeutung von Texten niemals endgültig definiert ist. Mit Hilfe des diskurslinguistischen Ansatzes können die umstrittenen Positionen der Diskursakteure, insbesondere die der Richter der verschiedenen Instanzen, transparent gemacht werden. Der Fall Görgülü ist aus rechtssemantischer und rechtspragmatischer Perspektive deshalb von besonderem Interesse, weil er eine europäische Ausstrahlung hatte und das Spannungsverhältnis zwischen nationalen und internationalen Gerichten Verschiebungen im gesamten Rechtsgefüge auslöste. Luth verdeutlicht, dass die Aushandlung von Positionen im Diskurs entscheidend dazu beiträgt, die Legitimität vom Gesetzgeber zum entscheidenden Richter zu transportieren. Zudem wird hinsichtlich einer performativen Sichtweise deutlich, dass sich zentrale Begriffe der Rechtsprechung in eine Vielzahl von Lesarten des Rechts aufspalten können. Luttermann knüpft in ihrem Beitrag an Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung an, wonach die Bedeutung eines Wortes seinem Gebrauch in der konkreten Äußerungssituation entspricht (vgl. Wittgenstein PU § 43). Luttermann kritisiert, dass die Wittgensteinsche Gebrauchstheorie den Empfängerhorizont außen vor lasse, obwohl dieser insbesondere für die Rechtssprache von großer Bedeutung sei. Im Zentrum des Aufsatzes steht die Anwendung des Rechtslinguistischen Verständlichkeitsmodells (RVM) am Beispiel des Ausdrucks lebenslange Freiheitsstrafe (§ 211 StGB). Der Vorteil des RVM besteht darin, dass Sprachhandeln in rechtlichen Kontexten mehrperspektivisch untersucht wird und sowohl Rechtsexperten als auch juristische Laien in die Untersuchung einbezogen werden.

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4.4 Das performative Potenzial von Textstil und Grammatik Bülow untersucht die performative Wirkung des Textsortenwissens auf die konkrete Umsetzung von Erpresserschreiben. Sprachlichen Wissensbeständen wie Textsortenwissen kann deshalb eine performative Kraft zugesprochen werden, weil sie durch ständige Einübung, Synchronisierung und Wiederholung das Gelingen der Kommunikation in bestimmten Kontexten sichern. Performative Ereignisse entstehen aus dem Musterwissen und der Sprachsozialisation der Sprecher. Das Performative der Sprache hat auch immer etwas Vorgängiges, das insbesondere für die Analyse von Erpresserschreiben berücksichtigt werden muss. Bülow zeigt, dass sich beispielsweise typische Strukturen des Geschäftsbriefes auch in vielen Erpresserschreiben nachweisen lassen. Weiterhin scheint die Medialität bzw. Materialität der Schreiben mit der Ausprägung bestimmter sprachlicher Muster zu korrelieren. Während Bülow sich auf die Muster konzentriert, die überindividuelle Geltung durch allgemeine sprachliche Sozialisation erlangen, konzentriert sich Krieg-Holz in ihrem Beitrag auf die sprachlichen Strukturen, die zur Identifizierung eines Autors beitragen können. Krieg-Holz zeigt, wie mit Hilfe eines pragmastilistischen Ansatzes individualstilistische Muster aus Erpresserschreiben herausgearbeitet werden können. Die Pragmastilistk versteht Stil als Phänomen der Wahl. Stilistische Auswahlprozesse können sich zu komplexen Strukturen und individuellen Mustern der Textherstellung verfestigen, die über den Text hinaus etwas über den Textproduzenten verraten. Bei der forensischen Methode der Textanalyse geht es um eine Täterprofilerstellung. Krieg-Holz veranschaulicht, ausgehend von der Tatsache, dass sich der konkrete Sprachgebrauch der Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft deutlich unterscheiden kann, und sich diese Unterschiede auf außersprachliche Faktoren wie beispielsweise Bildung und regionale Herkunft zurückführen lassen, dass die Analyse individualstilistischer Muster hilft, Täterprofile zu erstellen. Der Beitrag von Krieg-Holz / Hahn schließt an die Aufsätze von Bülow und Krieg-Holz zur Autorenerkennung an. Krieg-Holz / Hahn nehmen sich des Problems an, dass die Autorenerkennung über zu wenig Referenzdaten verfügt, was das schriftsprachliche Verhalten erwachsener Sprecher betrifft (vgl. Dern 2009: 71f.). Nur mit Hilfe dieser Daten können allerdings „Prognosen über erwartbare Fähigkeiten in Bezug auf einzelne sprachliche Aspekte aufgestellt werden, die für eine grundlegende Kategorisierung unbekannter Täter unerlässlich sind“ (Dern 2009: 71f.). Dieses Desiderat hat Krieg-Holz / Hahn dazu motiviert, das erste deutschsprachige E-Mail-Korpus (KodE Alltag) aufzubauen. Mit diesem Korpus werden sprachliche Äußerungen der elektronischen Alltagskommunika-

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tion erfasst. Insbesondere E-Mails bilden eine große Bandbreite der performativen Varianz ab. Krieg-Holz / Hahn zeigen dies in Bezug auf die Dichotomie zwischen formeller und informeller Kommunikation. Auf Grund des spezifischen Zuschnitts des E-Mail-Korpus kann nun eine große Bandbreite sprachlicher und stilistischer Varianz elektronischer Kommunikation als Referenz für weitere Fragestellungen der forensischen Linguistik dienen. Trost untersucht in seinem Beitrag die Sprache der Straßenverkehrsordnung (StVO). Ein Regelwerk wie die StVO hat zum Ziel, den Bürger/innen Handlungsanweisungen zu vermitteln, um das soziale Zusammenleben zu erleichtern. Daher müssten allerdings besonders hohe Anforderungen an die Verständlichkeit dieser Texte gestellt werden. Trost verweist jedoch auf die in Gesetzestexten häufig vorkommenden modalpassivischen Konstruktionen, die durch ihre hohe funktionelle Komplexität oft unterschiedlich ausgelegt werden können. Schwierigkeiten für eine klare und verständliche Formulierung von Rechtstexten resultieren beispielsweise häufig aus dem Problem, gleichzeitig möglichst genau und verständlich zu schreiben und trotzdem Flexibilität zu gewährleisten. Des Weiteren zeigt Trost in seinem Beitrag, dass die Gesetzessprache nur eine Subklasse der Rechtssprache bildet. Diese sei beispielsweise von der Sprache der Verwaltung oder der Wissenschaftssprache der Rechtswissenschaft abzugrenzen. Trost geht daher auf die Besonderheiten dieser Subklassen genauer ein.

5 Schluss Da sich auch viele Rechtsexperten und Linguisten der performativen Kraft der Sprache (noch) nicht bewusst sind, widmet sich der vorliegende Band ausdrücklich dem performativen Charakter von Sprache in rechtlichen Kontexten. Der Band kann für die unterschiedlichen Traditionsströme, den Performativitätsbegriff in rechtlichen Kontexten auszulegen, sensibilisieren. Die verschiedenen Beiträge dieses Bandes verdeutlichen die Bandbreite der Möglichkeiten, mit denen sich dem Phänomen sprachlichen Handelns in rechtlichen Kontexten gewidmet werden kann. Zum einen werden beispielsweise Muster, Traditionen und Strukturen in der Rechtssprache aufgedeckt und somit der performative Charakter dieses Tätigkeitsfeldes aufgezeigt. Zum anderen wird aber auch die performative Kraft der Sprache in Zusammenhang mit der Tatschreibenanalyse diskutiert. Beiträge zur Rechtsphilosophie sind in diesem Band ebenso zu finden, wie Diskursanalysen, die aufzeigen, wie Recht performativ erzeugt wird.

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Es hat sich gezeigt, dass ein interdisziplinärer Ansatz, der Vertreter der Linguistik sowie der Rechtswissenschaften zusammenbringt, vielversprechende Forschungsergebnisse hervorbringen kann, die unmittelbar für die Praxis relevant werden.

Literaturverzeichnis Austin, John L. (1962/2002): Zur Theorie der Sprechakte. (How to do Things with Words). Deutsche Bearbeitung von Eike v. Savigny, Stuttgart: Reclam. Bülow, Lars (im Erscheinen): Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandelmodell. Stuttgart: Steiner. Christensen, Ralph / Kent D. Lerch (2005): Performanz. Die Kunst, Recht geschehen zu lassen. In: Lerch, Kent D. (Hg.): Die Sprache des Rechts. Studien der interdisziplinären Arbeitsgruppe Sprache des Rechts der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: de Gruyter, 55–132. Dern, Christa (2009): Autorenerkennung. Theorie und Praxis der linguistischen Tatschreibenanalyse. Stuttgart: Richard Boorberg Verlag. Felder, Ekkehard (2010): Semantische Kämpfe außerhalb und innerhalb des Rechts. In: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht 4/2010, 543–572. Gell-Mann, Murray (1994): Das Quark und der Jaguar. Vom Einfachen zum Komplexen – Die Suche nach einer neuen Erklärung der Welt. München: Piper. Krämer, Sybille (2002): Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 323–346. Krämer, Sybille (2004): Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‚Aisthetisierung‘ gründende Konzeption des Performativen. In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Wilhelm Fink Verlag, 13–32. Li, Jing (2011): „Recht ist Streit“. Eine rechtslinguistische Analyse des Sprachverhaltens in der deutschen Rechtsprechung. Berlin: de Gruyter. Mersch, Dieter: Performativität und Ereignis. Überlegungen zur Revision des Performanzkonzeptes der Sprache. http://www.dietermersch.de/download/mersch.performativitaet.und.ereignis.pdf (abgerufen am 12.06.2015). Miller, Hillis J. (2007): Performativity as Performance / Performativity as Speech Act: Derrida‘s Special Theory of Performativity. In: South Atlantic Quaterly 106, 219–235. Müller-Mall, Sabine (2012): Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische Annäherung. Weilerswist: Velbrück. Pavlenko, Aneta (2014): The bilingual mind. And what it tells us about language and thought. Cambridge: Cambridge University Press. Ritt, Nikolaus (2004): Selfish Sounds and Linguistic Evolution. A Darwinian Approach to Language Change. Cambridge: Cambridge University Press.

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| Teil 2: Auf dem Feld des Rechts sprachlich handeln

Sabine Müller-Mall

Rekursion. Rezeption. Relation. Rechtstheoretische Aspekte des Performativen

1 Einleitung Es ist kein Zufall, dass der Begriff der Performativität in den Wissenschaften von der Sprache ebenso auftaucht wie in der Rechtswissenschaft.1 Schließlich wird dieser Begriff immer wieder herangezogen, um zu beschreiben, wie die Wirklichkeit im Gebrauch der Sprache durchformt werden kann (Loxley 2007: 1–4). Und weil jedes In-die-Welt-Kommen von Recht, jede Erzeugung von (positiven)2 Rechtsnormen, in der Sprache geschieht, liegt es nahe, zur Beschreibung solcher Vorgänge auf das Performative zurückzugreifen. Ich möchte im Folgenden allerdings nicht die Möglichkeiten, Rechtserzeugung als performativ zu denken3, untersuchen, sondern die rechtstheoretischen Folgen der Annahme, das In-die-Welt-Kommen von Recht sei ein performativer Vorgang, in den Blick nehmen. Gibt es Konsequenzen performativen Denkens für das Recht, die demselben ins Mark gehen? Gleichwohl gilt es in einem ersten Schritt zu skizzieren, was es eigentlich bedeutet, Recht bzw. die Erzeugung von Rechtsnormen performativ zu denken (dazu 2). In einem zweiten Schritt werde ich dann drei Aspekte performativ erzeugten Rechts beschreiben: Rekursivität, Rezeptivität und Relationalität (dazu 3). Diese Aspekte führen mich schließlich drittens zu der Frage, was es unter den zuvor angenommenen Bedingungen heißt, Recht als Recht zu denken (4).

|| 1 Siehe beispielhaft aus der Sprachphilosophie nur Austin (1962/1975; 1961/1979); für einen Überblick etwa Loxley (2007). Den Bezug zum Recht herstellend Laugier (2004), in Auseinandersetzung mit Derrida auch Ladeur (2012) und grundsätzlicher Christensen / Lerch (2005). 2 Diese Aussage kann erst einmal nur für positive Rechtsnormen gelten. Deswegen beschränken sich meine Überlegungen in diesem Rahmen darauf. 3 Siehe dazu ausführlich Müller-Mall (2012).

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2 Rechtserzeugung als performativer Vorgang Eine gewisse Schwierigkeit besteht in diesem Zusammenhang allerdings darin, dass es sich beim Begriff des Performativen um einen insofern recht verschwommenen handelt, als er in unterschiedlichen Disziplinen, Themenfeldern und Zeiten auf teilweise sehr verschiedene Weise gebraucht wird.4 Er taucht keineswegs allein in sprachphilosophischen Debatten auf, die Bezug auf die berühmten Vorlesungen How to do things with words von Austin (1975) nehmen. Austin hat das Performative zwar begrifflich eingeführt5, um sprachliche Äußerungen, die in ihrem Vollzug etwas tun, von konstativen Äußerungen zu unterscheiden – ließ diese Unterscheidung (performativ - konstativ) aber noch im selben Text kollabieren.6 Der Begriff der Performativität ist gleichwohl in Gebrauch geblieben – teilweise um eine Handlungsdimension sprachlicher Äußerungen zu fassen, um den Vollzugscharakter des Sprachgebrauchs zu untersuchen oder auch um einen Aufführungsaspekt bestimmter Vollzüge der Sprache zu betonen.

2.1 Performativität und Performanz im Sprachgebrauch: Überlappungen Auch in der Rechtswissenschaft kreist der Einsatz des Begriffs um die Aspekte des Vollzugs, des Gebrauchs und der Aufführungsebene von Recht (so etwa Christensen / Lerch 2005; Vismann 2011: 21f.). (Nicht nur) in der Rechtstheorie lässt sich dabei häufig eine Engführung zwar verwandter, aber doch zu unterscheidender Konzepte beobachten, die nicht ganz folgenlos für die Frage ist, welche Rolle dem Begriff der Performativität innerhalb der Beschreibungsvarianten von Recht zukommt: Meine Bemerkung gilt dem Begriffspaar „Performa|| 4 Einen guten Überblick bietet der Sammelband Wirth (2002). Zum Verhältnis der Begriffe Performativität und Performanz sogleich unten. 5 Zuerst wohl: Austin (1979), ein Papier, das auf eine Radiosendung zurückgeht und korrigiert/transkribiert das erste Mal 1956 veröffentlicht wurde (Longworth 2013). 6 Austin findet kein gültiges Unterscheidungskriterium für konstative und performative Äußerungen – deswegen unternimmt er einen neuen Versuch, sich der Handlungsdimension der Sprache zu nähern, indem er eine neue Unterscheidung einführt – jene von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Gehalten einer Äußerung: „Now we failed to find a grammatical criterion for performatives (…). Since then we have found, however, it is often not easy to be sure that, even when it is apparently in explicit form, an utterance is performative or that it is not (…). It is time then to make a fresh start on the problem“ (Austin 1975: 91).

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tivität“ und „Performanz“. Der Begriff „Performanz“ – in der Sprachphilosophie vor allem mit Chomskys (1965: 4ff., 10ff.) Gegenüberstellung von Kompetenz und Performanz verbunden – beschreibt die Aktualisierung des Sprachgebrauchs, das „aktuelle Sprechen“ (Chomsky 1965: 4ff., 10ff.; siehe dazu auch Wirth 2002: 12). Die Performanz des Sprechens lässt sich mit Dieter Mersch (2014: 2) als ein Überschuss beschreiben: Er [der Begriff der Performanz, Anm. S. MM.] stellt dem Sinn, dem Inhalt der Rede ein anderes gegenüber. Das Andere ist die Wirkung, die spezifische Macht der Rede, ihre Kraft, die über den Sinn hinausschießt und ihn zuweilen durchkreuzt und verbiegt.

Diese Variante des Begriffs, welche Überschuss nicht nur als Aktualisierung beschreibt, sondern in seinem Aufführungs-, in seinem Inszenierungsaspekt hervorhebt, findet sich mittlerweile weit verbreitet, auch fernab der Sprachphilosophie in den Kultur-, Theater- und Performance-Wissenschaften wieder (Loxley 2007: 139). Auch in die Rechtswissenschaft ist der Performanzbegriff in dieser Weise eingeführt worden. Christensen / Lerch (2005: 86) fassen das Rechtsgesetz als Aufforderung zur Inszenierung auf, die sich dann im Verfahren verwirklicht: Das Gesetz wird [...] von der Argumentation als Rechtfertigung verwendet und wird so zum Teil der Inszenierung [des] Interesses. Die Gegenpartei versucht, diese Inszenierung zu stören und das Gesetz für die eigenen Interessen ins Spiel zu bringen.

In ähnlicher Weise beschreibt Cornelia Vismann (2011: 21f.) einen Inszenierungsaspekt des Gerichtsverfahrens als „performativ“: die „dinghegende“, durch das Verfahren vor Gericht den Gegenstand des Streits (Ding) in eine Rechtssache verwandelnde Seite des Gerichtsverfahrens. Bei Vismann (2011: 22) allerdings handelt es sich um die „performative“ Seite des Gerichts, nicht um die Performanz des Gerichts. Auch außerhalb der Rechtswissenschaft werden „Performanz“ und „Performativität“ immer wieder in austauschbarer Art und Weise verwendet – paradigmatisch etwa von Wirth (2002: 9ff.), der in seinem grundlegenden Text Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität gar nicht zwischen Performativität und Performanz unterscheidet.7

|| 7 Wirth (2002: 18; Hervorhebung im Original) unterscheidet allerdings sehr wohl zwischen „dem ernsthaften Vollzug einer performativen Äußerung und einer inszenierenden Performance“.

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2.2 Performativität und Performanz im Sprachgebrauch: Differenzen Eine Reihe von Autoren allerdings trennt zwischen Performativität und Performanz8, und ich glaube, dass diese Unterscheidung für die Folgen, die es mit sich bringt, Recht als performativ erzeugt zu denken, durchaus relevant ist. Gleichwohl geht es hier nicht um eine strenge Unterscheidung, denn bei allen begrifflichen Überschneidungen und Erbschaften wäre eine solche so problematisch wie widersprüchlich.9 Schlicht gesagt, geht es darum, dass Performativität etwas mehr meinen könnte als lediglich die allgemeine Eigenschaft von etwas, das einer Aufführung oder Inszenierung ähnelt (Loxely 2007: 140). Zwar eint „Performativität“ und „Performanz“, dass beide Begriffe sich von (rein) semantischen Zugängen zum Sprachgebrauch abgrenzen. Aber wenn „Performanz“ den Überschuss, das Aufführungsmoment des Sprachgebrauchs hervorhebt, dann knüpft sie an der Aktualisierung dieses Überschusses im konkreten Sprechen an; „Performanz“ ist vom Subjekt aus gedacht oder zumindest nicht ohne das Subjekt zu denken. An diesen beiden Punkten entlang lässt sich die andere Perspektive, die der Begriff der Performativität im Vergleich zur „Performanz“ eröffnet, abstecken: Performativität setzt zwar den Akt der Aktualisierung voraus, kann nicht ohne ihre eigene Ereignishaftigkeit gedacht werden, aber geht nicht darin auf. Das Performative taucht nur im Ereignis auf und jedes Ereignis kann nur einmalig sein10, aber dieses performative Ereignis, dieser performative Augenblick überschreitet sich selbst in die Vergangenheit und die Zukunft, insofern er ein Effekt vorgängiger und zukünftiger Beschwörungen der Konvention ist, die den einzelnen Fall einer Äußerung konstituieren und sich ihm zugleich entziehen. (Butler 2006: 108)

|| 8 Etwa, obwohl für beide Versionen die Bezeichnung „performativity“ verwendend, Miller (2007: 219): „Performativity in the sense of the way a dance, a musical composition, or a part in a play is performed has practically nothing to do with performativity in the sense of the ability a given enunciation can function as a performative speech act“. 9 Eine schöne Formulierung dieses seltsamen Verhältnisses der Begriffe bei Loxley (2007: 140; Hervorhebung im Original): „Their relation is instead best described as asymptotic: an ever-close proximity without a final, resolving convergence“. 10 „Es gibt nur einen Satz ‚auf einmal‘ [...], nur ein einziges aktuelles ‚Mal‘“ (Lyotard 1989: 227).

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Man muss nicht so weit gehen wie Butler11, um zu erkennen, dass das Performative in seinem ereignishaften Geschehen („es geschieht“) nicht auf einen Subjektbegriff zurückgreifen kann, der etwa die Möglichkeit intentionalen Handelns einschließt. Das performative Ereignis ist gleichermaßen Setzungsakt wie eingeschrieben in das Spannungsfeld aus Wiederholung und Differenz. Kein performatives Ereignis kommt aus dem Nichts und kein performatives Ereignis ist eindeutig (ohne Verschiebungen) wiederholbar. Insofern überschreitet es sich selbst (als Ereignis) in die Vergangenheit und in die Zukunft (als Setzungsakt).

2.3 Performativität: Vorgängigkeit und Selbstbezüglichkeit im Ereignis Damit hat das Performative eine Vorgängigkeit, es nimmt Bezug auf Vorgängiges, und gleichzeitig bezieht es sich nur auf sich selbst. Vorgängigkeit und Selbstbezüglichkeit ereignen sich im Vollzug der Sprache, im performativen Akt (Müller-Mal 2012: 125ff.). Die vom Begriff der Performativität beschriebene Spannung aus Ereignishaftigkeit und Wiederholung lässt sich erhellen, wenn man solche Ereignisse in der Sprache vom Zeichen aus denkt: Zeichen sind ja in gewisser Weise wiederholbar, re-zitierbar. Im Sprachgebrauch werden schriftliche oder lautliche Zeichen mit jeweils neuen Kontexten verknüpft. Die Zeichen werden als Zeichen wiederholt, aber in einen neuen Kontext gebracht – mit der Wiederholung des Zeichengebrauchs geht eine Verschiebung einher und eine Erzeugung: den Kontexten, in denen das Zeichen gebraucht wurde (Vorgängigkeit) wird ein neuer Kontext hinzugefügt (Selbstbezüglichkeit). Derrida (2001: 32) nennt diese verschiebende Wiederholbarkeit Iterabilität: Jedes Zeichen, sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben [...], kann zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte erzeugen. Das heißt nicht, dass das Zeichen außerhalb eines Kontextes gilt, sondern ganz im Gegenteil, dass es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt. Diese Zitathaftigkeit, diese Verdoppelung oder Doppelheit, diese Iterabilität des Zeichens ist kein Zufall und keine Anomalie, sondern genau das (Normale/Anormale), ohne das ein Zeichen nicht einmal mehr auf so genannt „normale“ Weise funktionieren könnte. Was wäre ein Zei-

|| 11 „the former [performance, Anm. S. MM.] presumes a subject, but the latter [performativity, Anm. S. MM.] contests the very notion of a subject“ (Butler 1994: 33).

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chen, das nicht zitiert werden könnte? Und dessen Ursprung nicht unterwegs verloren gehen könnte?

2.4 Performativität und Recht Soll nun das Verhältnis von Performativität und Recht in den Blick genommen werden, dann dürfte nach diesen Überlegungen deutlich geworden sein, dass es dabei weniger darum gehen kann, Inszenierungsaspekte des Gerichtstheaters oder Aufführungsaspekte der Gerichtsrede zu betrachten – beides interessante Momente der Rechtswirklichkeit, aber sie handeln nach den hier angestellten Überlegungen von der Performanz des Rechts. Performativität dagegen knüpft einerseits an die Wirklichkeit durch-formende Ereignisse an und etabliert andererseits Strukturen, die als iterativ verstanden werden können. Eine performativ orientierte Perspektive an das Recht anzulegen, kann deswegen nicht bedeuten, vollkommen neue Aspekte des Rechts aufzuspüren, weil so verstandene Performativität ein Spannungsverhältnis, eine Struktur beschreibt. Vielmehr kann eine solche Perspektive dazu dienen, Akzente in der rechtstheoretischen Betrachtung zu verschieben und Aspekte in den Vordergrund zu rücken, die anderen rechtstheoretischen Blickwinkeln entgehen. Und tatsächlich gibt es durchaus so einige Momente im Recht und seiner Praxis, die kaum hinreichend erforscht oder erklärt sind, die also mit produktivem Potential einer solchen Verschiebung des Blickes unterzogen werden könnten. Eines unter diesen Momenten, recht zentral für die Theorie vom Recht, ist die Erzeugung positiver Rechtsnormen in der Sprache. Während normativistische Theorien Recht als normatives System beschreiben und die Ableitung von Rechtsnormen (aus Rechtsnormen) in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rücken, konzentrieren sich rechtsrealistische Theorien auf die soziale Konstitution von Rechtsnormen.12 Beide Perspektiven lassen die jeweils andere Ebene (Sollen oder Sein) weitgehend außer Betracht. Der Begriff der Performativität kann hier dazu dienen, das Spannungsverhältnis von Sein und Sollen im Vorgang der Rechtserzeugung begrifflich zu fassen und zu konturieren.

|| 12 Beispielhaft für normativistische Theorien Kelsen (1934/2008) und für realistische Theorien Olivecrona (1962).

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2.5 Modell performativer Rechtserzeugung13 Positive Rechtsnormen werden immer im Wege sprachlicher (mündlicher oder schriftlicher)14 Äußerungen erzeugt – Urteile werden gesprochen und Gesetze verkündet. Jede einzelne Verkündung, jeder Urteilsspruch ließe sich auf seine Performanz hin untersuchen, indem man das Aktualisierungsmoment im Sprechen/Verkünden in den Blickpunkt rückte. Solche Erzeugungsmomente dagegen als performativ zu verstehen, bedeutet in einem ersten Schritt nur, den Blick darauf zu richten, dass in diesen Momenten, in diesen Ereignissen, sprachliche Zeichenketten mit Kontexten verknüpft werden. Bei einer Urteilsverkündung wird beispielsweise die sprachliche Zeichenkette „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil…“ mit einem Kontext verknüpft: einem Gerichtssaal, einer bestimmten Öffentlichkeit (Zuschauer), einem Termin, etc.. Einerseits lässt sich dieser Verknüpfung von sprachlicher Zeichenkette und Kontext auch sprachlicher Sinn zuschreiben15: dass nämlich in dem vorher verhandelten Fall, bei dem das im Tatbestand Beschriebene geschehen ist, ein bestimmtes (oder mehrere bestimmte) Gesetz(e) anzuwenden ist (sind) und sich daraus jene Rechtsfolge ergibt, die dann im Tenor benannt ist. Wenn dieser sprachlichen Äußerung nun zugeschrieben wird, eine konkrete Rechtsnorm zu erzeugen, nämlich dass in diesem bestimmten Fall ein bestimmtes Gesetz auf eine bestimmte Weise angewendet werden soll, also gilt, dann handelt es sich dabei andererseits um eine normative Sinnzuschreibung an die Urteilsverkündung. Diese normative Sinnzuschreibung schließt in ähnlicher Weise wie die „rein“ sprachliche an die Verknüpfung einer Zeichenkette mit dem beschriebenen Kontext der Verkündung an. Sie ist gleichwohl nicht identisch mit der Erzeugung von Rechtsnormativität selbst – und hier bedeutet, solche Rechtserzeugungsakte als performativ zu verstehen, in einem zweiten Schritt nun, die Momente ihrer „SelbstÜberschreitung in die Vergangenheit und in die Zukunft“ (Butler 2006: 108) in

|| 13 Eine eingehende Entwicklung, Zeichnung und Untersuchung dieses Modells findet sich wiederum in Müller-Mall (2012: 211ff.). 14 Trotz der produktiven Differenzen von Verfahren der Schriftlichkeit und solchen der Mündlichkeit möchte ich in diesem Rahmen keine Unterscheidung anlegen. Anders als im Bereich der Performanz-Untersuchungen ist diese Identifizierung für die Performativitätsüberlegungen deswegen möglich, weil mit Derrida von einer allgemein graphematischen Struktur der Rede ausgegangen werden kann – für mündlichen und schriftlichen Zeichengebrauch kann also im Rahmen einer Suche nach performativen Strukturen von einer strukturellen Ähnlichkeit ausgegangen werden (siehe Derrida 2001: 34). 15 Dieser „sprachliche Sinn“ entspricht Austins „lokutionärem“ Gehalt einer Äußerung. Vgl. zur Unterscheidung lokutionär/illokutionär Austin (1975: 91ff.).

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die Betrachtung miteinzubeziehen. Die Urteilsverkündung ist einerseits ein Ereignis, das als aktuelle Verknüpfung einer sprachlichen Zeichenkette mit einem Kontext nur ein einziges Mal geschehen kann, andererseits werden darin Zeichen gebraucht: nicht nur sprachliche, auch rechtsnormative Zeichen. § XY, der auf eine Gesetzesformulierung verweist und auf den im Urteil Bezug genommen wird, lässt sich auch als normatives Zeichen betrachten – auf das in früheren Urteilen bereits Bezug genommen wurde: Darin liegt die Vorgängigkeit der aktuellen Bezugnahme, sie zitiert die früheren Bezugnahmen mit. Und andererseits wird dieses Rechtszeichen mit dem aktuellen Fall, dem aktuellen Kontext verknüpft. Dabei handelt es sich um eine Setzung, die insofern nur an sich selbst anknüpfen kann, als der aktuelle Kontext möglicherweise vergleichbar, aber nicht identisch mit irgendeinem anderen Kontext ist – die Verknüpfung ist selbstbezüglich. Solche Akte wie die Verkündung eines Urteils als performativ zu verstehen, bedeutet also, sie als vorgängige und selbstbezügliche Ereignisse aufzufassen.

3 Rechtstheoretische Folgen Betrachtet man Rechtserzeugung in diesem Sinne als performativen Vorgang, so ergeben sich daraus durchaus weit reichende Folgen für die theoretische Betrachtung von Recht. Drei Aspekte, die in diesem Zusammenhang relevant werden, möchte ich im Folgenden skizzieren: die Rekursivität von Rechtsnormativität, das in jedem Rechtserzeugungsereignis enthaltene Moment von Rezeptivität und schließlich die Relationalität als strukturelle Eigenschaft des so gedachten Rechts.

3.1 Performativ erzeugtes Recht und seine rekursiv gedachte Rechtsnormativität Das Rechtserzeugungsereignis überschreitet sich selbst nicht nur in die Vergangenheit, sondern insofern auch in die Zukunft, als das selbstbezügliche Moment des performativen Aktes, die neue Verknüpfung, ihrerseits wiederum bezugnahmefähig wird: Auf sie kann in zukünftigen Rechtserzeugungsereignissen Bezug genommen werden, und diese künftigen Bezugnahmen können die normative Zuschreibung, dass § XY in diesem Fall gilt, bestätigen und dadurch erst zu einer (im Recht ursprünglich gedachten) Erzeugung von Rechtsnormativität machen. Nachträgliche iterative Bezugnahmen auf eine einmal performativ

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produzierte Rechtsnorm stellen letztlich die Normativität dieser Rechtsnorm her – sie wird also in einem performativen Ereignis in die Welt gebracht, erst spätere Bezugnahmen auf dieselbe ermöglichen aber, dass sie als in diesem ursprünglichen Ereignis erzeugt gedacht wird. Dies lässt sich vergleichsweise gut an Gesetzgebungsakten illustrieren: Es gibt Gesetze, die in einem ordentlichen Verfahren verabschiedet, ausgefertigt und verkündet werden, also nach formaler Rechtsbeschreibung „in Kraft treten“, die aber niemals angewendet werden, in der extremen Version weder von Gerichten, noch von Verwaltungen, die sich in ihrem Handeln, noch von Bürgern, die sich in ihren sozialen Praxen darauf beziehen. Das Gesetz über die Internetsperren für Seiten mit kinderpornografischen Inhalten („Zugangserschwerungsgesetz“) war16 so ein Beispiel. Im Falle eines solchen Gesetzes lässt sich kaum davon sprechen, dass es Rechtsnormativität erlangt hat. Rechtsnormen sind in ihrer Entstehung demnach von zukünftigen performativen Rechtserzeugungsereignissen abhängig, erst künftige Re-zitierungen einer ursprünglichen Verknüpfung von sprachlicher Äußerung und einem Kontext lassen daraus eine Rechtsnorm entstehen. Insofern lässt sich sagen, dass die Erzeugung von Rechtsnormen performativ zu denken auch bedeutet, sie rekursiv zu denken.17 Ein solches rekursives Verständnis von Rechtsnormativität allerdings ist einigermaßen folgenschwer für die Möglichkeit, das Verhältnis mehrerer Rechtsnormen zueinander, etwa im Rahmen eines Rechtssystems, zu denken. Denn es schließt sowohl die Möglichkeit, Normen aus anderen Normen abzuleiten, aus, als auch bestimmte Formen linearer Hierarchisierung: Das Prinzip des Vorrangs der Verfassung beispielsweise lässt sich zwar denken und auch seinerseits als rechtsnormativ herstellen, aber eben nur dadurch, dass in Rechtserzeugungsereignissen darauf Bezug genommen wird – ein solches Prinzip lässt sich nicht

|| 16 Es trat zwar 2010 in Kraft, wurde aber 2011 nach Nichtanwendung wieder aufgehoben. 17 Insofern so verstandene Rekursivität die Möglichkeit voraussetzt, dass Rechtsnormen andere Rechtsnormen in sich aufnehmen, insofern die Bezugnahme auf andere Rechtsnormen durch eine Rechtsnorm nicht nur verweisend, sondern konstitutiv ist für ihre Normativität, lässt sich eine nicht nur zufällige Verbindung zu linguistischen Ansätzen, Sprache als rekursiv zu beschreiben, erkennen: Während beispielsweise Chomsky über den Begriff der Rekursion die Möglichkeit der Sprache, aus einer endlichen Anzahl von Elementen „unendliche Grammatiken“ zu erzeugen (s. z. B. schon Chomsky 1956: 116; aber auch jüngere Debatten, z. B. Hauser et al. 2002), beschreibt, geht es allerdings in Bezug auf Rechtsnormativität vielmehr darum, die Vorstellung einer singulären Urheberschaft (ein Gesetzgeber schafft in einem Gesetzgebungsprozess eine Rechtsnorm) für Normativierungsprozesse zu kritisieren.

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(normativ wirksam) in ein Rechtssystem einbeschreiben, sondern nur (performativ) vollziehen und dadurch erstellen.

3.2 Normative Wahrnehmung – Rezeptivität im Recht Die Bezugnahmen in Rechtsakten auf andere, vorgängige Rechtsakte (Rechtserzeugungsereignisse), sind damit als konstitutiv für das Recht in seiner Rechtsnormativität zu verstehen. Ich möchte sie mit dem Begriff normativer Wahrnehmung beschreiben, der zum einen hervorhebt, dass die verschiebende Zitation, die Iteration von früheren Rechtserzeugungsereignissen mit einem rezeptiven oder quasi-rezeptiven Moment einhergeht: Man muss eine Rechtsnorm „sehen“, man muss sie „wahrnehmen“, um sie zitierend in einem Urteil etwa heranzuziehen. Weil in einem Gesetzestext, in einem Rechtsnormtext aber nicht das gesamte Rechtserzeugungsereignis samt seiner späteren Bezugnahmen in anderen Rechtserzeugungsereignissen sichtbar bzw. lesbar ist, kann es sich um kein „rein“ rezeptives Momentum handeln. – Der ursprünglichen Verknüpfung einer Zeichenkette mit einem Kontext, die das Moment der Erzeugung einer rezitierten Rechtsnorm darstellt, wird im aktuellen, diese Norm re-zitierenden Ereignis erneut normativer Sinn zugeschrieben: etwa, dass sie als Recht aufrufbar ist. Dieses ‚erneute‘ Sinnzuschreiben bezieht sich auf ursprüngliche normative Sinnzuschreibungen und stellt gleichzeitig eine neue normative Ausrichtung dar. Deswegen ist die Wahrnehmung einer Rechtsnorm in einem Rechtserzeugungsereignis selbst normativ – diesen Aspekt hebt der Begriff normativer Wahrnehmung zum anderen hervor. Die performative Struktur aus Vorgängigkeit und Selbstbezüglichkeit bildet sich also im Begriff der spezifischen Rezeption, der normativen Wahrnehmung ab. Die rechtstheoretische Bedeutung dieser Beobachtung liegt vor allem darin, dass sie den Blick auf die Möglichkeit, Recht als Ganzes, Recht als Ordnung oder als System zu denken, verschiebt: denn der rechtsintern häufig vorgenommene Weg, Recht über die Ebene des Sinns als mehr oder weniger einheitliches, teilweise widerspruchsfreies Normensystem zu verstehen, das hierarchisch geordnet werden kann, ist auf dem Boden dieser Überlegungen jedenfalls nicht ohne weiteres möglich. Deutlich macht aber insbesondere die Betrachtung der Bezugnahmen von Rechtserzeugungsereignissen auf andere Rechtserzeugungsereignisse, die als konstitutiv für die Herstellung von Rechtsnormativität verstanden werden, dass der innere Zusammenhang von Recht – unabhängig von seiner genaueren Beschreibung – nicht allein und nicht notwendig über die Ebene des Sinnes konstruiert werden kann oder muss, sondern von normativen Wahrnehmungen, von Rezeptionen, die sich ihrerseits nicht in

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Ableitungszusammenhängen denken lassen, beherrscht wird. Außerdem, weil kein Rechtserzeugungsereignis als diskret gedacht werden kann, insofern von zukünftigen normativen Wahrnehmungsakten abhängt, ob daraus Rechtsnormativität entsteht, legt das performative Rechtsdenken die Hypothese nahe, dass Recht andererseits nicht ohne einen Zusammenhang mehrerer normativer Wahrnehmungen gedacht werden kann.

3.3 Relationalität im Rezeptionsgeflecht Diese Überlegungen, die jene Bezugnahmen zwischen performativen Ereignissen der Rechtserzeugung als rechtskonstituierend betrachten, führen dazu, den Blick auf Recht nicht von einem System- oder Ordnungsbegriff aus zu nehmen, sondern es zunächst einmal als ein Rezeptionsgeflecht zu betrachten. Relationalität wird gleichsam zu einem zentralen Element des Rechtsbegriffs. Dadurch enthebt man sich zwar der Möglichkeit, strukturelle Formatierungen des Rechts wie etwa Hierarchien, die ja durchaus Ordnungs- und Koordinationsfunktionen haben können, vorauszusetzen.18 Auf der anderen Seite gewinnt man eine Perspektive auf Recht, die erlaubt, Widersprüche, die sich durch Fragmentierungen von Rechtsordnungen (dazu bspw. Fischer-Lescano / Teubner 2006) einerseits oder durch Hybridisierungen verschiedener Rechtsregimes (siehe z.B. Paulus et al. 2014) andererseits ergeben, zunächst zu untersuchen, ohne sie zwangsläufig normativ aufzuladen. Rechtsnormativität rekursiv zu verstehen und als durch normative Wahrnehmungsakte erzeugt zu denken, legt also nahe, Recht als relationales Gewebe zu verstehen.

4 Performativ erzeugtes Recht als Recht denken Performativ erzeugtes Recht ist demnach immer schon auf verschiedenen Ebenen verflochtenes Recht, ein Gewebe normativer Wahrnehmungen verschiedener Rechtszeichen und verschiedener (normativer wie sprachlicher) Sinnzuschreibungen zu diesen Rechtszeichen. Seine Verflechtungen lassen sich ihrerseits wiederum auf vielfältige Weise untersuchen – in Bezug auf einzelne

|| 18 Es ist allerdings auch nur die Möglichkeit der Voraussetzung, die verloren geht – Hierarchien können sich im Rahmen der performativen Erzeugung von Rechtsnormativität gleichwohl herausbilden, etwa durch verstärkte iterative Re-zitation bestimmter normativer Zusammenhänge, Prinzipien oder einzelner Normen.

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Sinnzuschreibungen, auf wiederkehrende Zitationsmuster und auch in Bezug auf wiederkehrende Sprechkonstellationen. Der Begriff der Performativität liefert eine Vorstellung von Recht als ein sich immer neu konstituierendes Rezeptionsgefüge, und damit den theoretischen Boden für solche rechtswissenschaftlichen Untersuchungen. Wenn Recht unter performativem Blickwinkel aber nun durch die Aspekte Rekursivität, Rezeptivität und Relationalität beschreibbar wird, was heißt das für die Möglichkeit, Recht als Recht zu denken? Anders formuliert: Wie unterscheidet sich dann Recht von anderen normativen Verfahren der Welterschließung und -veränderung? Wie unterscheidet sich Rechtsnormativität von sozialer oder etwa religiöser Normativität? Oder umgekehrt: Wie lässt sich Recht als Recht identifizieren? Aus der Perspektive der Performativität lassen sich jedenfalls zwei Strategien andeuten, um sich diesen Fragen zu nähern: Eine knüpft direkt an diesen Aspekten an (1), die andere ergibt sich aus einer Differenzvermutung (2). (1) Wenn im performativen Modell die Entstehung von Rechtsnormativität sowohl vom Rechtserzeugungsereignis, als auch von späteren Bezugnahmen auf dieses Rechtserzeugungsereignis abhängt, dann müssen zwei Versionen von normativen Sinnzuschreibungen in unterschiedlichen Ereignissen Voraussetzung für die Entstehung von Recht sein: jene im ursprünglichen Erzeugungsmomentum, die die Verknüpfung einer Zeichenkette mit einem Kontext mit der Zuschreibung von Rechtsnormativität belastet; und jene im späteren Ereignis, die unter Bezugnahme auf dieses ursprüngliche Ereignis die normative Zuschreibung zum selben re-zitiert und ihrerseits vollzieht. Danach hängt es also dem ersten Anschein nach von den die jeweiligen sprachlichen Äußerungen, die als rechtserzeugend verstanden werden, Vollziehenden ab, ob sie auf etwas als Recht Bezug nehmen. Da die rekursive Struktur aber unterschiedliche Ereignisse und unterschiedliche Vollziehende voraussetzt und sich gleichzeitig insofern in die Zukunft überschreitet, als die Rechtsnormativität des späteren Ereignisses ihrerseits von einer künftigen rechtnormativen Rezeption abhängt, lässt sich der Rechtsbegriff nicht von einer ins Mark gehenden Dynamik lösen: Rechtsnormativität hat die eigentümlich doppelte Voraussetzung von Regress und Progress. Ihre notwendige Folge besteht darin, dass die Möglichkeit, in eindeutiger, stabiler und empirisch nachprüfbarer Weise Recht und Nicht-Recht zu unterscheiden, ausgeschlossen sein muss. Umgekehrt kann für spezifische Ausschnitte des Rechtsgeflechtes die Qualifikation als Recht vom Inhalt der jeweiligen Zuschreibungen aus bestimmt werden.

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(2) Die Differenzvermutung als zweite (gewissermaßen externe) Strategie knüpft an der Grundannahme an, die eine performative Perspektive auf das Recht überhaupt eröffnet: daran nämlich, dass positive Rechtsnormen ausschließlich im Wege mündlicher oder schriftlicher, jedenfalls sprachlicher Äußerungen, in die Welt kommen. Dies gilt gerade für religiöse und soziale Normativität nicht zwangsläufig. Religiöse Normen können aus religiösen Praxen, soziale Normen aus sozialen Praxen entstehen, die ebenso gut sprachlich wie nichtsprachlich verfasst sein können. Diese Strategie erlaubt also nicht mehr (aber auch nicht weniger), als eine gewisse Indizwirkung performativer Erzeugungsereignisse für ihre rechtsnormschaffende Qualität auszumachen, vor allem aber nichtsprachlich erzeugte Normen zumindest von einem positiven Rechtsbegriff auszuschließen. Diese Strategie ist also eine eher schwache. Eine vom Begriff der Performativität ausgehende Perspektive auf das Recht einzunehmen bedeutet also zusammenfassend, die Rechtserzeugung in den Mittelpunkt der Rechtsbetrachtung zu stellen und Recht u. a. über die Begriffe der Rekursivität, der Rezeptivität und der Relationalität zu beschreiben. Dies kann rechtswissenschaftlich besonders für ein sich transnationalisierendes und hybridisierendes, für ein plural wachsendes und ein global verflochtenes Recht eine produktive theoretische Betrachtung eröffnen. Die Perspektive erlaubt außerdem (und zwingt dazu), den Begriff rechtlicher Normativität dynamisch zu denken.

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Vom Widerstreit der Lesarten zum Aufschub des Rechts Die performative Logik des juristischen Verfahrens Der performative turn hat die Geistes- und Sozialwissenschaften erfasst: er hat die Aufmerksamkeit nahezu aller Disziplinen auf die Ausdrucksdimension von Handlungen und Handlungsereignissen gelenkt, auf die praktische Dimension der Herstellung kultureller Bedeutungen und Erfahrungen. Allein die Jurisprudenz hat von der performativen Wende bisher kaum Kenntnis genommen. Nach wie vor kommt die traditionelle juristische Methodenlehre mit einem einfachen Bild von Recht aus: Der Richter findet das Recht im Gesetz. Die Gesetze wiederum stehen im Gesetzbuch. Der Richter kann sich also gewiss sein, dass er dort alles findet, was er für sein Urteil braucht. Er muss das Urteil nur noch aus dem Gesetzbuch ableiten. Das Medium des Gesetzbuches garantiert so im Wege der Erkenntnis die Richtigkeit der Entscheidung und damit gleichzeitig ihre Legitimität (Christensen / Lerch 2005: 55). Der Richter und das Gesetzbuch sind aber nicht die einzigen Elemente, die an der Herstellung einer legitimen Entscheidung beteiligt sind. Dazu läuft ein ganzes Verfahren, in dem von anderen Verfahrensbeteiligten Argumente vorgebracht werden. Diese anderen Beteiligten und das Verfahren als Ganzes bleiben indes meist außen vor. Das Verfahren ist in der Jurisprudenz nur ein dienendes Instrument. Die Argumentation der Beteiligten und der Verlauf des Verfahrens gelten als defizitäre und nachträgliche Verkörperungen der Gerechtigkeit, die von ihrer Anwendung vollkommen unberührt bleibt (Christensen / Lerch 2006: 41). Dabei wird übersehen, dass Recht als soziale Einrichtung aus Kommunikation besteht und dem Verfahren als Ausnutzung von Konfliktperspektiven für die Bildung des Rechts eine offensichtlich zentrale Rolle zukommt (Luhmann 1999: 92ff.) Man muss daher die herkömmliche Perspektive erweitern. Das Gesetzbuch ist nur der Einstieg in das streitige Verfahren, in welchem Schriftsätze gewechselt, Gutachten angefordert, Zeugen verhört und nach dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung entschieden wird. Die im Verfahren gesprochene Sprache wiederum ist nur der Vorgriff auf ein weiteres Medium: die vom Richter zu schreibende Urteilsbegründung. Da sich das Recht nicht nur eines einzigen Mediums bedient, kann es nicht allein vom Gesetzbuch her begriffen werden – sonst wäre alles Wichtige außer Acht gelassen.

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1 Die Metaphysik des Buches Die Vorstellung, Recht aus dem Gesetzestext herauslesen zu können, setzt eine Metaphysik des Buches voraus (Christensen / Lerch 2007a: 222f.). Wissen wird zentriert und beherrschbar durch seine Abgeschlossenheit im Buch. Dieses verschließt Zeichenketten zwischen zwei Einbanddeckeln. Damit wird das Wissen in seiner jeweiligen Konsistenz gesichert, „bewahrt“, so dass es möglich wird, Texte zu ganzen Bibliotheken zusammenzuführen. Außerdem bietet sich das Buch einem Zugriff an, der das Wissen unversehrt lässt. So kann der Jurist zum Gesetzbuch greifen und ihm Recht „entnehmen“. Er kann das Gesetz lesen und im Urteil anwenden. Stellt er das Gesetzbuch zurück in das Regal, so ist dem darin buchstäblich „aufgehobenen“ Recht nichts geschehen. Der Sinn bleibt in seiner selbstidentischen Gegenwart unangetastet, für einen erneuten Zugriff erhalten und bereit (Vismann 2000: 100ff.). Recht wird also nicht im kommunikativen Zusammenhang des Verfahrens erzeugt, sondern im Gesetzbuch gefunden. Der große Aufwand an diskursiven Ordnungsmaßnahmen lässt die Fragilität dieser Figur erahnen. Ständig wird der angeblich objektive Sinn zwischen Autor und Text hin und her geschoben: Autorität hat das Buch, weil der Autor sich in ihm offenbart hat; der Autor zählt, weil sein Gedanke im Buch beschlossen ist. Das vermag nur so lange zu tragen, wie das Moment des Lesens auf bloße Empfängnis reduziert werden kann, so wie es die ursprüngliche, sakrale Bedeutung von „Lesung“ und „Lektion“ will. Der Leser wird durch das Buch in seine Schranken gewiesen, er ist in der Trinität von Autor, Buch und Leser ein unsicheres und zu disziplinierendes Moment (Christensen / Lerch 2006: 41f.). Lesen kann man einen Text nur, wenn man schon begonnen hat, ihn zu verstehen. Der Leser braucht eine Verständnishypothese. In der juristischen Methodenlehre wird diese Hypothese mit dem medialen Paradigma des Buches aufgeladen. Das Buch bietet der Lektüre einen sicheren Hafen (Illich 1991: 124). Es wird zu einer metaphysischen Figur, deren Aufgabe darin besteht, das Gleiten der Schrift in definierten Grenzen ruhig zu stellen. Das Buch mit all seinen Enden aus Anmerkungen, Fußnoten und Schlussbemerkungen wird zur Sinntotalität gerundet (Wetzel 1991: XII). Diese wiederum soll dann dem Verstehen des Lesers Form und Maß geben. Die Hermeneutik hat diese Form des Buches zum ontologischen Strukturmoment des Verstehens gemacht: es wird nahegelegt, dass im Text eine objektive Sinneinheit vorhanden ist, die den Leser zu führen vermag. Dieser Sinn ist der für den Leser objektiv vorgegebene Bezugspunkt. Aus der Sicht der Leser mag sich der Sinn eines Textes wandeln (Gadamer 1990: 299). Aus der Sicht des

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Textes ist die jeweilige Lesart nur eine unter vielen, welche die Sinnfülle des Textes im Prinzip nie erschöpfen können. Deswegen lässt sich vom Standpunkt der Hermeneutik aus sagen, dass das Werk gerade im Wandel identisch bleibt. Die Hermeneutik kommt damit dem Anliegen der juristischen Methodenlehre stark entgegen. Mit ihrem autoritären Begriff von Tradition und ihrem Konzept von Interpretation als Teilhabe an der hermeneutischen Wahrheit wendet sie sich gegen einen drohenden Subjektivismus des Lesens (Christensen / Lerch 2006: 42). Wenn Gadamer „methodos“ mit „Weg des Nachgehens“ übersetzt und als Möglichkeit eines „Immer-Wieder-Nachgehen-Könnens“ bestimmt, wird eine Methode zur Strukturierung dieses Vorgangs sichtbar. Man muss den Text als Buch nehmen, welches eine klar abgegrenzte und vollkommene Einheit von Sinn darstellt. Dabei wird dem Leser eine „transzendente Sinnerwartung“ als Bucherwartung unterstellt, welche dann im hermeneutischen Zirkel mit der geschlossenen Sinntotalität des vorliegenden Buches zunehmend verschmilzt (Gadamer 1990a: 61f.). Der Spielraum möglicher Lektüren ist damit klar fixiert. Es gibt keinen Raum zwischen Leser und Text, vielmehr muss der Leser in der Sinntotalität des Textes verschwinden. Allein der Text spricht. Er führt in der Interpretation ein Selbstgespräch.

2 Die Medien des Rechts Der Mythos vom Gesetzbuch, in dem man nur nachschlagen muss, um das darin enthaltene Recht zu finden, hat auf das Denken der Juristen lange Zeit einen bestimmenden Einfluss ausgeübt (Christensen / Lerch 2007a: 224ff). Erst seit kurzem beginnt man, die Medien des Rechts genauer in den Blick zu nehmen. Dies liegt daran, dass sich die mediale Infrastruktur des Rechts grundlegend geändert hat: Ein Jurist sitzt heute nicht mehr vor Büchern, sondern vor dem Computer. Die Grenzen des Buches wurden schon sichtbar, als mit Telegraphie, Rundfunk, Film und Fernsehen andere Medien zum Buch in Konkurrenz traten (Schanze 2001: 263ff.), doch die Massenmedien konnten die Welt des Buches und seine stille Hermeneutik noch nicht gefährden. Erst mit den digitalen Medien hat der Text die Grenzen des Buches als Sinntotalität verlassen (Landow 1997: 57). Jetzt wird offensichtlich, was im Buch implizit war und marginalisiert werden konnte: die Struktur der Schrift als Hypertext. Es werden nun Probleme sichtbar, die bisher im Schatten der hermeneutischen Selbstverständlichkeiten lagen. Die Triangulierung des Verstehens in Text, Autor und Leser mit vorgeprägten Rollen verliert mit dem Übergang zum Hypertext ihren Halt im Buch: Der Autor wird anonym, der Leser übernimmt seine Funktion, und dem Text

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fehlen objektiv vorgegebene Grenzen (Lerch 2014: 7f.). Es gilt also, das Verstehen neu zu denken. Solange man nur in Büchern las, konnte man an die einzige Bedeutung des Textes als Sinntotalität glauben, denn der Leser muss seine eigene Auslegungskultur und den Wissensschatz, den er dem Text zuführt, nicht bemerken. Er kann alles, was er schafft, objektiv attribuieren und so glauben, dass allein der Text spricht. Der Hypertext aber macht die Vielzahl der Verknüpfungen von Zeichenkette und Bedeutung sichtbar (Christensen / Lerch 2007a: 244). Im alteuropäischen Rechtsdenken löst dies eine Krise aus. Wenn sich der Richter aus dem Streit der Parteien in den Text des Rechts zurückziehen will, findet er statt der Einheit des Rechts den Konflikt der Verknüpfungsmöglichkeiten. Es handelt sich dabei um nichts grundlegend Neues: Das Medium Computer macht nur sichtbar, dass das Recht schon immer ein Hypertext war und nie ein Buch im Sinne einer geschlossenen Totalität. Es war stets nur eine Kollektion stark modularisierter Segmente, eine Paragraphensammlung eben (Christensen / Lerch 2005: 120). In den Normtexten sind die einzelnen Gliederungsteile bis auf die Satzebene herunter immer für sich allein verständlich, da keine Kohäsion zu benachbarten Abschnitten besteht (Krüger 1992: 1497ff.). Ihre Produktion unterliegt permanenten Verschiebungen, Novellierungen, Ergänzungen und Tilgungen, ohne dass dem Gesetz als solchem etwas Einschneidendes geschieht. Das erfährt bereits der Jurastudent leidvoll jedes Mal, wenn die neue Lieferung zur Ergänzung seines Schönfelder eingetroffen ist und er sich der Mühe einer Reorganisation unterziehen muss. Gesetze, Verordnungen und Richtlinien sind letztlich nur Ansammlungen von Knoten im Gewebe der Rechtstexte, welche durch Paragraphen, Abschnittsziffern und Titel etikettiert und fallweise miteinander verknüpft werden (Christensen / Lerch 2005: 120f.). Doch das ist erst der Anfang. Die Oberfläche des rechtlichen Textwerks ist durchzogen von einem Geflecht von Querverweisen und Bezügen, wie etwa Fundstellen von Rechtssätzen, Zitierungsketten über Aktenzeichen, Fundstellen in der Literatur und bibliographischen Angaben von Einzelnormen. Wenn man „die Modularisierung in Knoten und deren Vernetzung“ als die wesentlichen Bestandteile von Hypertext ansieht (Krüger 2005), dann ist Recht zweifellos Hypertext par excellence. In den Hypertext des Rechts aber muss der Jurist eintauchen, wenn er den Text kompilieren will, der ihm als Entscheidung eines Rechtsfalls oder auch nur als eine qualifizierte Rechtsmeinung dazu abverlangt wird. Dabei gerät das Orientierungsproblem zu einem Problem der gebändigten Produktion von Text. Aufgrund der Bindungen und Verpflichtungen, denen der Jurist unterworfen

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ist, ist er für sein Prozessieren von Text im Raum des Hypertextes zwangsläufig Leser und Autor zugleich (Christensen / Lerch 2005: 117ff.). Er ist einerseits gehalten, seinen Text zu „finden“. Zugleich kann er aber nicht zu diesem finden, ohne ihn durch die Auswahl der Knoten und durch deren Verknüpfung gemäß den Anforderungen des Falls zu „erfinden“. Letztlich hat er genau jenen Text zu erstellen, auf dem seine Entscheidung von Recht beruhen soll. Er befindet sich in dem Dilemma, sich erst die Regel schaffen zu müssen, der er für seine Anordnung und Strukturierung von Text zu folgen hat (Christensen / Sokolowski 2002: 327ff.). Der Jurist ist für sein Navigieren im Hypertext des Rechts Steuermann und Kartograph zugleich, indem er Texteme aufhäuft und ihnen eine Ordnung einzieht. Damit er dem Kurs vom Normtext zum Fall folgen kann, muss er ihn selbst erst abstecken, indem er ihm in seinen Verweisen die Marken und Zeichen setzt. Aufgrund der Gesetzesbindung hat er für seinen Text von Recht auf der einen Seite die entsprechenden Knoten aufzusuchen. Soweit mag er zwar Rezipient sein; allein durch die Frage aber, welches die für eine Entscheidung des Falls einschlägigen sind, wird er zugleich Produzent. Die Antwort auf diese Frage, die sich im Text der Entscheidungsnorm jeweils niederschlagen soll, verlangt von ihm, jene Knoten in eine für den Fall bestimmte Konstellation zu bringen. Er hat für seine Navigation also vom Fall her ein System von Verweisen zu entwickeln, sie in einer den Fall betreffenden Weise zu verweben. Bei dieser Arbeit ist er aber auch schon wieder Rezipient, denn die Verpflichtung darauf, dem Fall auch gerecht zu werden, so, wie sie sich etwa im Recht auf rechtliches Gehör niederschlägt, zwingt den Juristen, sich auf die Fülle von Text einzulassen, mit der ihn die Beteiligten am Verfahren konfrontieren, auf all die Vorträge, Einlassungen und Schriftsätze, die vorgebracht werden und die ihrerseits die Vernetzung zum Text der Rechtsfrage beanspruchen (Christensen / Lerch 2005, 120ff.). Heute sieht man, dass der über das Gesetzbuch gebeugte Leser einen Schatten wirft. Genau in diesem Schatten liegen die für die Legitimität des Rechts entscheidenden Faktoren. Der Richter muss die Entscheidung nämlich nicht nur treffen – eine Entscheidung könnte ja auch anders getroffen werden. Er muss die Entscheidung vielmehr begründen (Lerch 2008: 19f.). Aus dem Leser wird damit der Autor eines Textes. Die Souveränität des Richters als Autor ist aber eingeschränkt. Er muss in seiner Begründung den Bezug zum Gesetzestext wahren und die im Verfahren vorgebrachten Argumente verarbeiten (Christensen / Kudlich 2005: 93f.). Diese Arbeit an Recht und mit Recht geschieht nicht allein in der Lektüre des Gesetzbuches, sondern im Vollzug des Verfahrens. Der Richter liest nicht

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nur im Gesetz, er leitet auch eine mündliche Verhandlung und schreibt am Ende eine Begründung. Dies alles verschwindet, wenn man das Recht ausschließlich unter dem medialen Paradigma des Buches begreift. Das Recht ist mehr als das Gesetzbuch – es ist eine Medienkonstellation. Das Problem der Legitimation des Rechts liegt gerade im Zusammenspiel der Medien, die als dynamischer Vermittlungszusammenhang zu begreifen sind, in dem sich nicht nur etwas abspielt, sondern auch bestimmte Weichen gestellt werden (Christensen / Lerch 2005: 93f.). Reduziert man diese Konstellation von Medien auf ein einziges Medium, so droht man wichtige Weichenstellungen zu übersehen. Der Legitimationszusammenhang zwischen dem Gesetz als Text und dem Recht als Entscheidung wird damit zerrissen. Die Weichenstellungen können nicht mehr überprüft werden.

3 Die Performanz von Recht Wenn man nur auf das Gesetzbuch sieht, besteht die Performanz des Rechts allein im Nachvollzug des Textes. Die Verwirklichung des Rechts ist aber keine bloße Lektüre, sondern ein praktisches Verfahren, dessen überraschende Wendungen sich der Prognose eines Lesers des Gesetzbuchs regelmäßig entziehen. Das Verfahren als Performanz des Rechts ist keine Ausführung des Gesetzes, sondern eine Inszenierung, in der sich immer wieder Neues ereignet (Christensen / Lerch 2006: 46f.). Seine Ausgangspunkte sind die Fallerzählung und die geltenden Normtexte. Das Verfahren organisiert einen Streit sowohl um die Fallerzählung als auch um die Lesarten des Normtextes. Die Normtexte gelten zwar, das ist unstreitig. Aber ihre Bedeutung für den Fall ist noch offen. Darum wird gestritten. Die Aufgabe des Verfahrens ist es nun, die Geltung des Normtextes in eine Entscheidung zu überführen. Dabei wird die Geltung des Normtextes eingetauscht gegen die argumentative Geltung von Gründen für die gewählte Lesart. Den Normtext in seiner Geltung annehmen, um ihm jene Bedeutung zu verleihen, kann also nicht heißen, letztere aus ihm herauszulesen. Vielmehr ist er als Legitimationsinstanz in Szene zu setzen (Christensen / Lerch 2006: 47). Mit dem Vorschlag, einen Normtext für das Verfahren zugrunde zu legen und ihn in einer bestimmten Weise zu lesen, wird dieser Normtext im Verfahren als Verkörperung von Recht sichtbar. Damit kann er mit anderen Lesarten besetzt werden; über die konkurrierenden Weisen, diesen Text zu verstehen, kann dann im Verfahren gestritten werden. Die dort vorgebrachten Argumente der Parteien beeinflussen ihrerseits das Ergebnis des Verfahrens, denn der kluge Richter

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lässt die Argumente der Parteien für seine Begründung arbeiten, so dass der Sinn von Recht nicht repetiert, sondern verschoben wird. Der Streit der Parteien wird also vom Recht nicht einfach entschieden, sondern dieser Streit zwingt das Recht in Metamorphosen (Luhmann 1999: 104f.; Werber 2002: 380f.). Das Verstehen des Rechts vollzieht sich als beständiger Übergang. Gerade beim Wechsel von einem Medium zum anderen entstehen aber Engstellen für den Sinn; dies thematisiert das medientheoretische Konzept der Transkription (Stanitzek 2002: 7ff.). Das lateinische transcribere steht für Abschreiben oder Umschreiben – und zwischen Abschrift und Umschrift ist der Spielraum des Ereignisses zu erkennen und damit das mögliche Moment der Transgression. Dieses Bedeutungspotential ist auch im Recht nützlich, denn zwischen dem Gesetzestext, der mündlichen Verhandlung und der Urteilsbegründung liegt eine Vielzahl von Transkriptionsprozessen, während derer Juristen fortlaufend von einem Medium ins andere umschreiben – selbst wenn sie das noch nicht reflektiert haben (Lerch 2014: 12). Gegenüber der linguistischen Gesprächsanalyse wird die Idee der Transkriptivität in der Medientheorie generalisiert: Transkriptionen sollen nicht einfache Umsetzungen in der Form sein, sondern produktiv den Text reformulieren (Stetter 1997: 26). Dabei ist aber die Transkription als die Inszenierung von Sinn nicht vollkommen autonom; vielmehr wird sie an dem Anspruch gemessen, gerade diesen Ausgangspunkt zu artikulieren. Vorderhand scheint es sich beim Transkribieren erst einmal um eine Angelegenheit zwischen Medien zu handeln, um einen Transfer von Medium zu Medium. Möglich ist dies dadurch, dass Medien vor allem andere Medien enthalten (Liebrand / Schneider 2002: 9). Dadurch verweist ein Medium aus sich heraus. Transkribieren vermag dann diesen Verweis aufzunehmen und zu vollziehen. Diese Prozesse haben den Charakter einer Transponierung oder einer Übersetzung (Wetzel 2002: 154ff.). Wenn man mit Davidson davon ausgeht, dass „Übersetzen“ bereits in der eigenen Sprache beginnt, wird deutlich, dass Transkribieren auch schon ein inframedialer Vorgang ist (Jäger 2002a, 123ff.). Transkribieren ist also eine Transformation, die den Ausdruck als Verkörperung von Sinn in Szene setzt und so auf diesen rückbezogen bleibt, ohne von ihm vollkommen festgelegt zu sein. Bedeutungserschließung ist daher auf transkriptive Verfahren angewiesen, die es erlauben, „Projektionen aus dem Modus der Unbestimmtheit beziehungsweise Unlesbarkeit in den der Lesbarkeit zu versetzen“ (Liebrand / Schneider 2002: 10). Dieser Vorgang wird durch die Reflexivität von Sprache ermöglicht. Durch die Annahme der Lesbarkeit wird etwas zum Zeichen gemacht und dadurch weiteren Lesarten ausgesetzt. Dies ist auch die Situation

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des juristischen Verfahrens, in dem der Normtext den widerstreitenden Lesarten der Parteien ausgeliefert ist. Zur Auswahl einer verbindlichen Lesart bedarf es der Arbeit des Verfahrens, die aber insofern dem Normtext rückverpflichtet bleibt, als sie beansprucht, ihn in Szene zu setzen (Christensen / Lerch 2006: 48). Das Transkribieren folgt dabei der medialen Logik einer Sinnerzeugung aus der Ausdruckswahrnehmung, die dadurch erst vollzogen wird. Dieser Vorgang des Transkribierens geht vom Präskript aus; dieses ist „das zugrundeliegende symbolische System selbst, das fokussiert und in ein Skript verwandelt wird“ (Jäger 2002b: 30). Den Status von Skripten erhalten Symbolsysteme nur dadurch, dass sie transkribiert werden, also aus Präskripten in semantisch auf neue Weise erschlossene Skripte verwandelt werden. Die Transkription überschreibt den Text in einen geäußerten Sinn oder Gehalt. Sie konstituiert ein Skript und macht es lesbar, versetzt dieses jedoch zugleich in einen Status, aus dem sich Angemessenheitskriterien für den Lektürevorschlag ableiten lassen, den das Transkript unterbreitet (Jäger 2002b: 33f.). Das Skript, welches jede Transkription erzeugt und durch das der Text als Verkörperung von Sinn vollzogen wird, geht in seiner Abhängigkeit von jener Transkription, der es seine Existenz verdankt, keineswegs auf. Vielmehr sind Skript und Transkript immer schon auf Postskripte hin geöffnet, welche diese Differenz auf transkriptive Angemessenheit hin beobachten. Damit sind die Rahmenbedingungen eines rekursiven Spiels gesetzt, innerhalb dessen das erzeugte Skript eine Art Eigenrecht erlangt (Stanitzek 2002: 10). Skripte sind in ihrer Behauptung als Lesart des Präskripts immer Postskripten geöffnet, die genau diese Behauptung thematisieren und konterkarieren, indem sie durch einen solchen Anspruch die Stelle des Skripts für sich einzunehmen gedenken. Das ist der Streit der Lesarten im Verfahren. Wenn der Normtext durch den Leser vom Status einer Zeichenkette in Bedeutung überführt wird, entsteht ein Skript. Die Argumentation um die Vertretbarkeit von Lesarten eröffnet dann den Raum von Postskripten. Der Streit der Lesarten etabliert dabei das Skript als Rechtsquelle, wenn sich beide Parteien auf denselben Normtext beziehen. Da aber jede Partei den Bezug der anderen bestreitet, ist der Inhalt der Quelle noch nicht definiert. Die Quelle gibt nicht den Ausschlag, weil sie ein Maß für die streitigen Lesarten enthielte, sondern allein, weil sie gleichermaßen in den Transkriptionen als Skript enthalten ist (Christensen / Lerch 2006: 50). Die „Tatsachen“ liegen nicht als solche vor, sie sprechen nicht, „sondern wir lassen sie sprechen“; dies geschieht im Rahmen einer Transkription, die dem Präskript den Status eines Skripts zuweist. Dabei ist für die Logik von Transkriptionsprozessen von konstitutiver Bedeutung, dass

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sie einen Prozess des rekursiven Bezugs eröffnen (Winkler 2004: 170), in dem Transkripte auf ihr Recht, ihre Korrektheit, auf andere Möglichkeiten hin zu befragen sind. Zwischen Trans- und Postskript erweist sich die Kontingenz des Skripts (Stanitzek 2002: 10).

4 Die Logik des Verfahrens Transkription stellt ein grundlegendes Verfahren des Lesbarmachens kultureller Semantik dar (Jäger 2002b: 35): Sinn ist nur in Transkripten zu haben und verdankt sich allein der Performanz von Verständigungsprozessen. Die richterliche Entscheidung kann daher nicht mehr als Performanz einer vorgeordneten Struktur ausgegeben werden: das wäre die alte Zwei-Welten-Lehre, wonach hinter den Wechselfällen des Verfahrens die ewige Struktur des Gesetzbuches regiert. Sie kann aber auch nicht einfach als Performance hingenommen werden, denn sonst liefert man sich mit diesem Begriff den Zwängen funktionierender Systeme aus (Winkler 2004: 222ff.). Jede Performance kann gut oder schlecht sein. Dies ist an ihren immanenten normativen Maßstäben zu überprüfen. Genau wie der Regisseur nicht einfach einen bunten Abend, sondern ein Stück inszeniert, muss der Richter nicht irgendein Verfahren inszenieren, sondern ein Verfahren, das zu einer legitimen Entscheidung führt (Christensen / Lerch 2006: 51). Wenn man davon ausgeht, dass im Verfahren Recht nicht angewendet, sondern erzeugt wird, scheint der Faden zwischen Volk und Gesetz, zwischen Rechtsstaat und Demokratie zu reißen. Diese Verbindung ist unter realistischer Einschätzung der tatsächlichen und sprachlichen Bedingungen neu zu knüpfen. Die Lösung dieses Problems verlangt einen Neuansatz, für den verschiedene Bezeichnungen vorgeschlagen werden: prozedurales Recht, mediales Recht oder reflexives Recht. Rechtsprechung wird danach nicht mehr als Rechtsanwendung begriffen, sondern als Rechtsproduktion (Calliess 1999: 136). Das Rechtssystem erscheint nicht mehr als Gesamtheit der Normen, sondern als Gesamtheit der Handlungen, die Normen erzeugen, das heißt als Kommunikationssystem (Teubner 1989; Luhmann 1993). Von dieser Voraussetzung aus kann man die Rechtsprechung als Rechtserzeugung in Zusammenarbeit mit dem Gesetzgeber und eben nicht mehr als bloße Rechtserkenntnis aus dem Gesetzestext begreifen. Dann stellt sich für den Rechtsstaatsgedanken ein neues Problem: das Normieren des Normierens (Calliess 1999: 149). Der Rechtsstaat greift zu kurz, wenn er die Anwendung des Rechts fordert, denn dieses wird vom Richter und dem Verfahren mit geschaffen. Weder das Gesetzbuch noch die

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Methodik kann das Recht vorgeben. Das Gesetz löst sich zunächst in die Vielfalt und mehr noch den Widerstreit der Lesarten auf. Jede der Parteien stört die andere auf. Erst im Prozess kann das Recht Bestimmtheit gewinnen (Christensen / Lerch 2005: 127). Zur Erfassung der performativen Logik des juristischen Verfahrens bieten sich die Kategorien von Störung und Transparenz an (Jäger 2004: 41ff.). Diese stellen zwei gegensätzliche Modi der Verständigung dar, die ihrerseits auf zwei entsprechende Modi der Sichtbarkeit verweisen: in der Störung zeigt sich das Medium selbst, während es in der Transparenz das Mediatisierte ist, welches wahrnehmbar wird (Krämer 2004: 25). Entscheidend ist nun, dass sich Verständigung in einem beständigen Wechselspiel von Störung und Transparenz vollzieht. Das Umschreiben des Präskripts, des Normtextes, stellt Sinn und damit Transparenz her. Mit der Wahrnehmung des Ausdrucks kann die Transparenz durch Problematisierung aufgestört werden. Diese Störung muss dann durch eine erneute Überführung in Transparenz beseitigt werden. Wenn das Postskript dann das entsprechende Skript ausdrücklich macht, indem es die erfolgten Transkriptionen zur Disposition stellt, kann man auch sagen, dass hier in einem beständigen Übergang von Transparenz in Störung und von Störung in Transparenz „Implizites explizit gemacht wird und umgekehrt“ (Krämer 2004: 25). Die Störung ist ambivalent, weil sie auch zur Entwicklung des Systems beiträgt. Störung und ihre transkriptive Bearbeitung ist ein zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion und gilt als „Produktivitäts-Prinzip sprachlicher Sinngenese“ (Jäger 2004: 41ff.). Der Konflikt gegenläufiger Lesarten ist geradezu das Movens des Verfahrens der Rechtserzeugung aus dem Normtext. Die auf den Normtext bezogenen Argumente der Parteien entfalten ein kompliziertes Spiel der Differenz- und Identitätsbildung. Man kann dies als Vorgang „der Irritation und Wiedereinpendelung des parasemischen Gleichgewichts“ begreifen (Jäger 2004: 48). Unter der Notwendigkeit von Entscheidung gewinnt dies seinen besonderen Charakter, der dann auch auf den Vollzug von Legitimierung verweist. Das Besondere besteht darin, dass die divergierenden Lesarten der Parteien jeweils nur einseitig als „Störung“ gesehen werden. Entsprechend sind die Postskripte in einem zwischen ihnen oszillierenden Prozess abzuarbeiten, indem sie entweder durch ihren Bestand in Transparenz gewendet oder aber durch Abstoßung ungeschehen gemacht werden. Die beiden in der Argumentation vor Gericht einschlägigen Praktiken für diese „Aufzehrung“ von Postskripten als Störung entweder durch Absorbierung oder Elimination sind die Integration und die Widerlegung von Argumenten. Mit ihnen wird Geltung hergestellt als eine Einkehr der Umschreibung von Normtext zu Recht zu sich selbst

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zurück, die aufgrund ihres argumentativen Erfolges als legitim beansprucht werden kann (Wohlrapp 1995: 280ff.). Die Logik des Verfahrens fordert, den Text von Recht durch den Widerstreit der Lesarten als dessen Transkription in Arbeit zu nehmen. Praktisch lässt sich der Gang dieser Arbeit am Text von Recht als semantischer Aushandlungsprozess entlang der Grundzüge der Argumentationssituation beschreiben. Die von den Parteien vorgetragenen Transkriptionen des Normtextes schließen sich gegenseitig aus. Dies macht den Streit aus. Die Stellungnahme einer Partei ist jeweils Postskript zur Stellungnahme der anderen. Keine der beiden Lesarten ist damit evident, denn ihre Transparenz wird von der gegnerischen Lesart gestört. Beide machen aber mit ihren widerstreitenden Lesarten deutlich, dass es um denselben Gesetzestext als Präskript geht (Christensen / Lerch 2006: 55f.). Wenn das Gericht entscheiden will, muss es den argumentativen Streit der Parteien nutzen. Am Ende des Verfahrens kann dann eine Lesart evident sein. Aber diese Evidenz ist keine, die an das Bewusstsein der beteiligten Personen gebunden ist, sondern eine Evidenz, die im Verfahren erst erzeugt wurde. Wenn alle gegnerischen Argumente integriert oder widerlegt sind, wird die verbleibende Lesart evident. Integrieren erfolgt, wenn Störung durch gelungene Absorbierung in Transparenz umgemünzt wird. Widerlegen gelingt, wenn das gegnerische Postskript durch Verdrängung getilgt wird, indem der von ihm behauptete Bezug zum Gesetzestext zerrissen wird. Alle Störung ist dann beseitigt und es bleibt nur noch die geltende Lesart in vollkommener Transparenz (Christensen / Lerch 2005: 129ff.). Juristisches Argumentieren erweist sich damit als das Abarbeiten von Argumenten im Rechtsstreit. Normativ ist zunächst nur der vom Gesetzgeber geschaffene Gesetzestext. Dieser bildet für die richterliche Entscheidung allerdings lediglich ein Präskript. Dieses Präskript wird von den streitenden Parteien unterschiedlich verstanden. Damit der Richter seine Entscheidung rechtfertigen kann, hat er die Normativität des Gesetzestextes zu übertragen. Dies erfolgt in der Begründung. Dabei kann er sich nicht auf die sprachliche Bedeutung verlassen, sondern muss alle im Verfahren vorgebrachten Argumente berücksichtigen. Die dort vorgelegten Umschriften des Gesetzestextes zu Recht muss er diskutieren und die argumentativ gültige Lesart des Gesetzes seiner Entscheidung zugrunde legen. Erst die in der Begründung verwertete Argumentation der Beteiligten transportiert die Normativität vom Gesetzgeber zum Richter (Christensen / Lerch 2005: 127). Will man zu einer realistischen Einschätzung der Steuerungskraft des Gesetzes und der Rolle der Gerichte gelangen, so muss sich die Jurisprudenz von der zu einfachen Vorstellung bloßer Rechtsanwendung lösen, das legalistische Rechtsverständnis verabschieden (Somek / Forgo 1996: 357ff.) und als medien-

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reflexives Rechtsverständnis reformulieren (Somek 1992: 475ff.). Die Sprache als solche ist überfordert, wenn man ihr aufbürdet, aus dem tatsächlichen Prozess der Erzeugung von Recht eine bloße Erkenntnis von Bedeutungsgegenständen zu machen. Sprache funktioniert allein als Vorgang der Verständigung. Daher kann man Normativität nicht aus ihr beziehen; man kann sie nur in der Sprache herstellen. Nicht die Sprache gibt dem Urteil Halt, sondern die Argumentation (Christensen / Lerch 2006: 58).

5 Der Aufschub des Rechts Im Recht gibt es eine Grundparadoxie, die darin besteht, dass wir an Normen gebunden sind, die wir selbst schaffen. Ein solches Paradox muss praktisch entfaltet werden. Dies geschieht, indem wir die Norm als Form gemeinsam voraussetzen, aber über ihren Inhalt streiten. Zwischen der Norm und ihrem Inhalt kann nicht die Erkenntnis, sondern nur die Praxis der Argumentation eine vorläufige Brücke schlagen. Genau wie Objektivität ist Normativität kein dem Handeln vorgegebener Maßstab, sondern eine perspektivische Form, welche die Kommunikationsteilnehmer sich gegenseitig unterstellen (Christensen / Lerch 2007b: 110). Wenn Juristen urteilen, ist die Abwesenheit eines Kriteriums ihr Gesetz. Deswegen urteilen sie nicht allein, sondern führen ein ganzes Verfahren durch und binden den Richter über eine komplexe Medienkonstellation an die vorgebrachten Argumente. Stilisiert man diesen komplexen Vorgang als Erkenntnis, werden alle relevanten Faktoren invisibilisiert (Christensen / Lerch 2007a: 258). Die traditionelle Methodenlehre begrenzt und verendlicht das, was ein Richter leisten muss, auf eine einzige Aufgabe: die korrekte Erkenntnis des Gesetzesinhalts. Das Skript liegt schon fest, er muss die Rolle nur ausfüllen. Der Bereich seiner Verantwortung ist zwar genau umrissen, bleibt aber endlich und überschaubar. Wenn das Recht aber nicht erkannt, sondern erst erzeugt werden muss, sind die Grenzen der Verantwortung unendlich weit entfernt (Derrida 2000: 41f.). Gerade in diesem scheinbaren Mangel liegt ein Gewinn: eine realistische Sicht auf die Komplexität des Verfahrens kann dem Richter seine Verantwortung nicht abnehmen, doch kann sie helfen, das erreichbare Maximum zu wissen. Die Entscheidung verschwindet nicht in diesem Wissen; aber ohne dieses Wissen ist es keine verantwortliche Entscheidung. Jede Umsetzung des geltenden Rechts ist unvermeidbar auch dessen Verschiebung, Anreicherung, Komplizierung. Erst in der Entscheidung von Recht hört die Verschiebung des Sinns vorläufig auf (Christensen / Lerch 2007a: 258f.).

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Dem Recht geht es also um Aufschub durch Supplemente. Nur so gerät es in Metamorphosen und bleibt lernfähig (Werber 2002: 381). Recht ist die Verzögerung und Erschwerung des Machtspruchs durch Verfahren, Argumentation und Begründung. Der Entzug des Rechts aus dem Gesetz in das Verfahren, von dort in das Urteil, seine Begründung und die daran anschließende Kritik kann begriffen werden als ein von den Regeln der Kunst geordneter Versuch, die Verdinglichung der Gerechtigkeit zu verhindern (Christensen / Lerch 2007: 259). Das Recht liegt nicht in einer Struktur hinter der Welt. Es ist weder im Gesetzestext anwesend, noch im Vortrag der Parteien oder der richterlichen Begründung. Das Recht kann man nicht „finden“, nicht einmal erkennen. Recht ist aus dem Streit der Parteien erst zu erzeugen. Es kann sich nur in den Wechselfällen des Verfahrens herausbilden. Die Performanz des Rechts rückt damit ins Zentrum der Jurisprudenz.

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Georgia Stefanopoulou

Linguistische Relativität im Recht?1 „Wer Deutsch spricht, spart mehr“ (Chen in Fiedler 2013), behauptet eine aktuelle Studie des Yale-Ökonomen Keith Chen (2011), der das ökonomische Verhalten der von der Finanzkrise betroffenen Länder auf der Grundlage sprachlicher Strukturen erklären will. Die Studie differenziert zwischen zwei Gruppen von Sprachen. Sie identifiziert zum einen die Gruppe sog. „zukunftsloser“ Sprachen2, in denen grammatikalisch nicht zwingend zwischen Gegenwart und Zukunft unterschieden werde und für die Ankündigung von zukünftigen Ereignissen auch das Präsens verwendet werden könne (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Eine „zukunftslose“ Sprache sei neben Chinesisch und den skandinavischen Sprachen auch das Deutsche (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Im Deutschen kann man sagen „Morgen werde ich ein Auto kaufen“ oder „Morgen werde ich sparen“, aber man kann auch die Gegenwartsform wie in „Morgen kaufe ich ein Auto“ oder „Morgen spare ich“ verwenden (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Diesen Sprachen gegenüber stehen für Chen solche Sprachen, in denen man über die Zukunft nur durch Verwendung des Futurs sprechen könne.3 Zu dieser zweiten Gruppe gehörten unter anderem das Griechische, Portugiesische und Spanische (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). In der Tat wären im Griechischen die Sätze „Morgen kaufe ich ein Auto“ oder „Morgen spare ich“ grammatikalisch falsch. Griechische Sprecher werden durch die grammatischen Strukturschemata ihrer Muttersprache gezwungen, deutlicher zwischen Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden, was nach Chen zu einem anderen Sparverhalten als jenem von deutschen Muttersprachlern führt (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Da der Nutzen des heutigen Sparens erst morgen zu genießen sei, verlange das Sparen eine gewisse Überwindung des Wunsches zum kurzfristigen Ertrag (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Ähnlich macht der Soziologe Armin Nassehi (2013: 22) auf den Zusammenhang zwischen Schulden und Zeit aufmerksam. Unsere Kultur weise eine Gegenwartsorientierung auf, die zu Schulden führe (2013: 22). Lust werde durch sofortige Verwirklichung der Wünsche und Bedürfnisse befriedigt, statt durch Langsicht und Aufschub (Nassehi 2013: 22). Die Gegenwartsorientierung der griechischen Gesellschaft wird, folgt man der Studie von Chen, wegen der grammatischen Distanzierung der Zukunft

|| 1 Wichtige Hinweise verdanke ich Jochen Bung. 2 „futureless languages“ (Chen 2011: 1) 3 „strong future-time reference languages“ (Chen 2011: 1)

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noch mehr verstärkt als die Konsumgewohnheiten „zukunftsloser“ Sprachgemeinschaften. Die Überwindung des kurzfristigen Ertrags falle, so Chen, den Griechen schwerer als den Deutschen, da ihnen die Zukunft durch die ausschließliche Verwendung von Futur entfernter erscheine.4 Dagegen sei den Deutschen, deren Muttersprache die Zukunftsbildung durch Präsens ermöglicht, die Zukunft näher und somit empfänden sie die langfristigen Ziele des Sparens als weniger weit entfernt.5 Also, so die provokante Schlussfolgerung: Sprächen die Griechen Deutsch, hätten sie weniger Schulden.6 Mögen uns solche Annahmen eher amüsant oder sogar ein bisschen bizarr vorkommen, sind sie doch durchaus ernst gemeint und der Grundgedanke, der dahinter steckt, ist nicht zu übersehen. Er lautet: Sprachmuster könnten auf die Denk- und Handlungsmuster ihrer Sprecher einwirken.7 In dieser Unterstellung kann man unschwer das Aufleben der berühmten, unter Linguisten umstrittenen Sapir-Whorf-Hypothese erkennen.8 Die nach dem Sprachwissenschaftler Edward Sapir und seinem Schüler Benjamin Lee Whorf benannte Hypothese besagt, dass das „Denken eine Angelegenheit verschiedener Muttersprachen [sei]“ (Whorf 1963: 39), eine These, die sich nicht völlig unvorbereitet ins Werk setzte.9 Schon im 18. Jahrhundert vertrat Wilhelm von Humboldt das Bestehen eines Verhältnisses zwischen Sprache und Geist und bezeichnete die Sprache als „das bildende Organ des Gedankens“ (Humboldt 2007: 45ff).10 Sapir und Whorf haben die alte, noch nicht ganz ausgereifte Behauptung Humboldts mit schärferer Akzentuierung11 vertreten. Sprache stellt nach ihnen kein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken dar, vielmehr prä-

|| 4 So Chen in Fiedler (2013); allgemein auch Chen (2011: 1). 5 So Chen in Fiedler (2013); allgemein auch Chen (2011: 1). 6 So jedenfalls Büttner (2012). 7 So Chen in Fiedler (2013). 8 Die zwischen 1940 und 1965 verbreitete Sapir-Whorf-Hypothese erlebt allgemein in den letzten Jahren einen neuen Aufschwung (Werlen 2002: 31ff.). In der Sprachwissenschaft ist heute die Rede von der sog. Neo-Whorfian-Theorie, siehe Zeitschrift für Semiotik, Bd. 35, Heft 1-2, 2013. Das Heft ist dem Aufleben der Sapir-Whorf-Hypothese gewidmet. Siehe auch die neueren Arbeiten zur Linguistischen Relativität von Pederson et al. (1998: 557ff.) und Gumperz / Levinson (1996). 9 Zur Vorgeschichte der Sapir-Whorf-Hypothese siehe Deutscher (2010: 150ff.). 10 Dazu auch Deutscher (2010: 155). 11 Nach Deutscher war Humboldt zurückhaltender als Whorf bei der Bestimmung des Abhängigkeitsgrades des Denkens von der Sprache. Anders als Whorf sei Humboldt davon ausgegangen, dass die Übertragung eines Gedankens in andere Sprachen möglich sei (Deutscher 2010: 155).

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ge sie unsere Gedanken und beeinflusse unsere Weltwahrnehmung. In seinem Werk Sprache, Denken, Wirklichkeit schreibt Whorf (1963: 12): Wir gliedern die Natur an Linien auf, die uns durch unsere Muttersprachen vorgegeben sind. Die Kategorien und Typen, die wir aus der phänomenalen Welt herausheben, finden wir nicht einfach in ihr – etwa weil sie jedem Beobachter in die Augen springen; ganz im Gegenteil präsentiert sich die Welt in einem kaleidoskopartigen Strom von Eindrücken, der durch unseren Geist organisiert werden muss – das aber heißt weitgehend: von dem linguistischen System in unserem Geist.

Es handelt sich um eine These, die unserer Intuition über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zuwiderläuft (Deutscher 2010: 148). Die natürliche Logik sagt uns, dass es einen allgemeinen Begriff des Baumes gibt, wie wir ihn in der Wirklichkeit wahrnehmen, der außerhalb der Sprache existiert und für jeden, unabhängig von seiner Muttersprache, derselbe ist (Mincke 1991: 451; vgl. Deutscher 2010: 148). Die Aufgabe der Sprache besteht lediglich darin, das universelle geistige Konzept des Baumes durch gesprochene oder geschriebene Zeichen weiterzugeben (Mincke 1997: 451). Wenn aber die Sprache „das bildende Organ des Gedankens“ ist und unser Wirklichkeitsbild erst formt, dann folgte aus der Tatsache der Strukturverschiedenheit der Sprachen, dass es gerade keine universellen Begriffe gibt, die in geistiger Unabhängigkeit von den Ausdrucksbesonderheiten unterschiedlicher Sprachen existieren (Mincke 1991: 451). Verschiedene Sprachen schaffen verschiedene Welten, verschiedene Weltansichten und Denkformen (Mincke 1991: 451). Diese Überzeugung nannten Sapir und Whorf, an Einsteins Relativitätstheorie angelehnt, das „linguistische Relativitätsprinzip“ (Whorf 1963: 12).12 Das Prinzip linguistischer Relativität glaubte Whorf in der Sprache des indianischen Stammes der Hopi, der im Nordosten von Arizona lebt, bestätigt zu finden (1963: 79ff., 92f., 100f., 102ff.; dazu Deutscher 2010: 162ff.). Die HopiSprache verfügt, so behauptete er, über keinen allgemeinen Begriff und keine spezifische grammatische Konstruktion für die Zeit (1963: 102). Eine begriffliche dreifache Unterteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sei nicht vorhanden (1963: 102, 104). Während sich nach unserer Auffassung die objektive Zeit linear und gleichmäßig in die Zukunft wie in die Vergangenheit erstrecke, was sich in unseren temporalen Verbformen manifestiere (1963: 95, 102, 104), stelle die Zeit für die Hopi-Sprecher keine solche Bewegung dar, son-

|| 12 Ähnlich Humboldt (2007: 53): „[…] so liegt in jeder Sprache eine eigentümliche Weltansicht“; zu Humboldts „sprachlicher Weltansicht“ Gipper (1972: 15ff.).

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dern ein bloßes „Später werden von allem, was je getan wurde“ (Whorf 1963: 92f.; dazu Robering 2013: 35ff.; 38ff.). Die indoeuropäische Zeit mache, so Whorf (1963: 96), uns unvorsichtiger und indifferenter gegenüber dem Unvorhergesehenen und den Gefahren im Leben. Unsere grammatischen Strukturen wären, so die Mutmaßung, für die kleine, isolierte und labile Hopi-Gemeinschaft verderbenbringend (Whorf 1963: 96). Die Vernachlässigung der Vorsicht sei aber weder die einzige noch die wichtigste Konsequenz der unterschiedlichen Sprachmuster, sondern die Unfähigkeit der Hopis, den Zeitbegriff der europäischen Sprachen zu verstehen (Whorf 1963: 89ff.). Hierin ist das Provozierende und Irritierende der linguistischen Relativität zu erkennen. Da durch jede Sprache eine andere Wirklichkeit entsteht, könnten zwei Völker mit verschiedenen Sprachen einander nie wirklich verstehen. Die Sprache stellt dann ein „Gefängnis des Denkens“ dar, das die Möglichkeiten des Sprechers limitiert, Bedeutungen und Ideen zu begreifen, die Sprecher anderer Sprachgemeinschaften zugrunde legen (Deutscher 2010: 167ff.; 170). Die Hopis würden z.B. unseren Ausdruck „Morgen ist auch noch ein Tag“ nicht verstehen (Whorf 1963: 90). Denn von ihnen werde die Wiederkehr des Tages wie die Wiederkehr derselben, etwas älteren, mit allen Einflüssen des Gestern versehenen Person empfunden und nicht als das Auftreten ‚eines anderen Tages’, einer ganz anderen Person. (Whorf 1963: 93)13

Eine geistige Annäherung der unterschiedlichen Sprachgemeinschaften kann, wenn das stimmt, auch nicht die Übersetzung ermöglichen.14 Denn Übersetzung eines Wortes bedeute Übertragung eines ganzen Weltbildes in die Sprache eines anderen Weltbildes (Mincke 1991: 452). Sollte ein solches Unternehmen nicht wohl das Menschenmögliche übersteigen? Und doch enthält diese Überlegung eine Unterstellung, die unserem Verständnis von Übersetzung als Verständigungsbrücke zwischen unterschiedlichen Sprachgemeinschaften und Kulturen widerspricht. Eine solche radikale Ablehnung der Übersetzungsmöglichkeit kommt uns überraschend vor, wenn wir an anscheinend gelungene Übersetzungen großer Werke der Weltliteratur denken. Ist es etwa sinnlos, Dostojewski nicht im Original zu lesen? Oder denken wir an völkerrechtliche Verträge und Abkommen, die im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zustande

|| 13 Dazu kritisch Deutscher (2010: 162ff.). 14 Zum Problem der Unübersetzbarkeit siehe Mincke (1991: 451ff.).

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kommen. Wie wäre internationale Zusammenarbeit überhaupt möglich, wenn wir uns gegenseitig nicht verstehen könnten? (so auch Mincke 1991: 448) Oder ist sie am Ende gar deswegen möglich, weil man nicht versteht, was die andere Partei wirklich will? Stellen wir unsere gegenläufigen Intuitionen jedoch noch einmal zurück und fragen unmittelbar auf das eigentliche Thema hin. Ist möglicherweise das Recht einer der Orte, wo die linguistische Relativität am stärksten in Erscheinung tritt? Stellt nicht etwa die juristische Fachsprache eine deutliche Bestätigung der Unübersetzbarkeitsvermutung und des Sapir-Whorfschen Vorbehalts in Bezug auf die gegenseitige Verständigungsfähigkeit der Menschen dar? Wie ist zum Beispiel das deutsche Wort „Erlaubnistatbestandsirrtum“ zu übersetzen? Ein Wort, das zu den Lieblingsbegriffen der deutschen Strafrechtsdogmatiker gehört und dies verständlicherweise, da es eine beachtliche kompositionelle Kreativität aufweist. Eine Wortbildung, die sogar der gleichfalls in kompositionellen Nominalisierungen geübte griechische Sprecher wegen ihrer auffälligen Länge scherzhaft als „Eisenbahnwort“ bezeichnen würde. Vielleicht irritiert der Erlaubnistatbestandsirrtum nicht so sehr im Rahmen einer Sprache, die gerade in ihrem juristischen Anwendungsfeld so kunstvolle Gebilde wie „Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“ hervorgebracht hat.15 Auf Sprecherinnen und Sprecher anderer Sprachen jedenfalls wirkt das Wort Erlaubnistatbestandsirrtum fast exotisch und führt in außerdeutschen Universitätssälen zum Kopfzerbrechen über die Auswahl des treffenden inländischen Begriffs zur Wiedergabe seiner Bedeutung. Man könnte im Sinne der linguistischen Relativisten auf die Idee kommen zu behaupten, dass der Erlaubnistatbestandsirrtum ein Produkt deutscher nationalsprachlicher Idiosynkrasie sei und anderen Sprachen unzugänglich bleibe.16 Der linguistische Feldforscher wäre wohl aber überrascht, wenn er erführe, dass der Erlaubnistatbestandsirrtum nicht nur bei den Deutschen, sondern auch ihren griechischen Kollegen sehr beliebt ist, nur eben nicht als kreative begriffliche Konstruktion, sondern als Umstandsbeschreibung: „Plani peri tis pragmatikes proüpotheseis enos logou arsis tou adikou“.17 Was das bedeutet?

|| 15 Das Gesetz ist auch bekannt unter der Abkürzung RkReÜAÜG. Es ist im Jahr 2000 in Mecklenburg-Vorpommern für die Regelung der ordnungsgemäßen Kennzeichnung von Rindern eingeführt worden. Es ist allerdings mittlerweile aufgrund neuer europäischer Richtlinien abgeschafft worden, vgl. Osnabrücker Zeitung vom 4.6.2013, abgerufen am 2.4.2016. 16 Ähnlich Mincke (1991: 446) bezüglich des Begriffs „Rechtsgeschäft“. 17 Für den Ausdruck eines Irrtums über die sachlichen Voraussetzungen des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes gibt es, wie im Deutschen auch, konkretere Bezeichnungen als den allge-

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Nichts anderes, als was der Erlaubnistatbestandsirrtum bedeutet, nämlich eine Fehlannahme über die sachlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes (jemand glaubt z.B. irrtümlich zu Notwehr, § 32 StGB, berechtigt zu sein). Um aber das auszudrücken, was der deutsche Dogmatiker mit einem Wort sagt, braucht sein griechischer Kollege zehn Wörter.18 Abgesehen aber von diesem zeitlichen Mehraufwand bei der Bezeichnung einer Rechtskonstellation können sich deutsche und griechische Dogmatiker problemlos austauschen über die Rechtsfolgen des Erlaubnistatbestandsirrtums, die lexikalischen und grammatischen Besonderheiten der Sprachen stellen keine Hindernisse dar. An dieser Stelle könnten allerdings die Anhänger der linguistischen Relativität zu Recht auf eine Besonderheit des deutsch-griechischen Falles aufmerksam machen. Was die griechische Übersetzung liefert, ist eine Erläuterung durch Beschreibung der Rechtskonstellation des Erlaubnistatbestandsirrtums.19 Eine solche ist allerdings möglich, weil die zwei Sprachen zu einem gemeinsamen symbolischen System Zugang haben (vgl. Mincke 1991: 463), nämlich zur Sprache der Dogmatik. Beide Rechtssysteme gehören zur Tradition des kontinentaleuropäischen Rechts. Neben dieser Gemeinsamkeit gibt es auch eine lange Tradition des wissenschaftlichen Austausches, die dazu geführt hat, dass die deutsche Strafrechtswissenschaft prägend auf das griechische Recht eingewirkt hat. Die spezifische Wirkung der sog. Rechtfertigungsgründe und ihre Unterscheidung von den sog. Entschuldigungsgründen gehören zu den Grundkenntnissen jedes griechischen Jurastudenten, wie jedes deutschen auch. Griechen und Deutsche können die gemeinsame Sprache der Dogmatik als MetaCode benutzen, um Hindernisse im allgemeinen Sprachgebrauch zu überwinden.20

|| meinen Begriff „Erlaubnistatbestandsirrtum“, z.B. „nomizomeni amina“ oder „nomizomeni katastasi anagkis“, die „Putativnotwehr“ und „Putativnotstand“ bedeuten. 18 Es findet sich freilich auch die kürzere Version „plani peri tis pragmatikes proüpotheseis tou epitreptou“ – sieben Wörter. 19 Zur Rolle der Beschreibung beim Übersetzen siehe Mincke (1991: 455f., 462ff.). 20 Die Wichtigkeit einer übergeordneten sprachlichen Ebene für die Übersetzung von Rechtsbegriffen zeigt Mincke am Beispiel der „ungerechtfertigten Bereicherung“ als Diskussionsgegenstand zwischen deutschen und französischen Juristen. Die Rolle der übergeordneten Ebene spiele hier das römische Recht. „Deutsche und Franzosen können das römische Recht als übergeordnete Ebene benutzen, auf der sie die Elemente finden, auf die sich ihre Institute zurückführen lassen“. (1991: 463) Zur Bedeutung des römischen Rechts für die strafrechtliche Zusammenarbeit in Europa, die wiederum eine Austauschmöglichkeit zwischen den Ländern voraussetzt, siehe Bock (2006: 7ff.).

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Wie ist aber ein gegenseitiges Verstehen möglich, wenn es an einem solchen Meta-Code fehlt? Bleiben wir beim Beispiel des Erlaubnistatbestandsirrtums und fragen uns, wie dieses dogmatische Konstrukt zu bezeichnen ist, wenn wir den Raum des kontinentalen Rechts verlassen und uns in den Sprachraum des Common Law begeben. Man könnte vermuten, dass erst mit diesem Übergang vom kontinentalen Recht zum Common Law die linguistische Relativität wirklich zum Ausdruck kommt. Die Unterschiede zwischen den nationalen Rechtssprachen des kontinentalen Rechtsraums nehmen sich gering aus angesichts der Eigenheiten der anglo-amerikanischen Rechtssprache. Letztlich hat auch Whorf die indoeuropäischen Sprachen nicht untereinander verglichen, sondern sie unter die sog. Gruppe des „Standard Average European“ zusammengefasst und der indianischen Hopi-Sprache gegenübergestellt.21 Der Zugriff auf den Begriff des Rechtfertigungsgrundes kann uns im Englischen nicht helfen, weil das englische Rechtssystem über einen solchen nicht verfügt. Unsere fundamentale Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung wird im Common Law nicht abgebildet (Watzek 1997: 1; Safferling 2008: 296). Es wird nur der allgemeine Begriff „defence“ verwendet, der jegliches Verteidigungsvorbringen umfasst, das den Angeklagten entlastet (Watzek 1997: 37; Safferling 2008: 294f.). Dieser Verzicht auf eine Klassifizierung der Entlastungsgründe erinnert an ein in der Sprachwissenschaft oft diskutiertes Thema, nämlich den Fall der Farbbezeichnungen in den verschiedenen Sprachen. Es gibt Sprachen, die nicht zwischen Grün und Blau differenzieren. Beide Farben werden als Tönungen ein und derselben Farbe wahrgenommen und mit einem einzigen Terminus bezeichnet, sagen wir „Blün“ (Deutscher 2010: 102; 247ff.; dazu auch Gipper 1972: 18ff.).22 Fragen wir also: Kann es vielleicht sein, dass auch die Engländer, wenn sie nicht zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung unterscheiden, etwa Blün sehen? Auf jeden Fall steht fest, dass für den ergebnisorientierten Common LawJuristen nur das zählt, was den Freispruch erbringen kann, egal aus welchem Grund (Eser 1992: 304; vgl. auch Watzek 1997: 171). Kategorien wie Rechtfertigung und Entschuldigung, wie auch Unrecht und Schuld als unterschiedliche Wertungsebenen erscheinen den Common Law-Juristen aus diesem praktisch

|| 21 Fast alle europäischen Sprachen weisen nach Whorf (1963: 78) große Strukturähnlichkeiten auf, so dass sie in die Gruppe des „Standard Durchschnitt-Europäischen“ zusammengefasst werden dürften. Wenn Whorf von „unserer Sprache“ als Vergleichsgröße zu der Hopi-Sprache spricht, bezieht er sich dann auf diesen Standard und nicht nur auf das Englische (1963: 79). 22 Siehe auch die neuere Untersuchung im Bereich von Davidoff et al. (1999: 203).

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orientierten Blickwinkel überflüssig (Eser 1992: 303).23 Der deutsche Dogmatiker weiß hingegen, dass eine Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung überhaupt nicht überflüssig ist, sondern eine bedeutende „sozialregulative Bewertungsfunktion“ besitzt (Eser 1992: 306ff.). Nach dem deutschen dreistufigen Deliktsaufbau ist jemand allein wegen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes nicht strafbar.24 Er muss auch rechtswidrig und schuldhaft handeln. Eine Handlung, die den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, ist erst rechtswidrig, wenn kein Rechtfertigungsgrund eingreift. Die Rechtfertigungsgründe stellen Erlaubnistatbestände dar, die das tatbestandsmäßige Verhalten ausnahmsweise gestatten und als rechtmäßig bewerten lassen, z.B. wird jemandem unter bestimmten Umständen gestattet, einen anderen Menschen zu töten.25 Schuldhaft handelt der Täter, wenn kein Entschuldigungsgrund eingreift. Liegt ein Entschuldigungsgrund vor, wird die rechtswidrige Tat wegen einer außergewöhnlichen Motivationslage jedoch nachsichtig behandelt.26 Ein Schuldvorwurf wird dann nicht erfolgen (z.B. überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, § 33 StGB). Der entscheidende Unterschied zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung ist in ihrer Bewertung durch die Rechtsordnung zu erblicken. Während die gerechtfertigte Tat von der Rechtsordnung anerkannt ist, wird die entschuldigte lediglich nachgesehen. Diese sozialethische Dimension der verschiedenen Entlastungsgründe geht verloren, wenn sie alle „in denselben Topf geworfen werden“, wie es im angloamerikanischen System der Fall ist (Eser 1992: 307). Unberücksichtigt bleibt im Common Law auch die praktische Folge der unterschiedlichen sozialethischen Bewertung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen. Im deutschen Recht gilt der Grundsatz: Notwehr ist nicht gegen eine gerechtfertigte Tat erlaubt, z.B. gegen Notwehr oder rechtfertigenden Notstand (Rengier 2014: §18 Rn. 28). Sie ist jedoch gegen eine lediglich entschuldigte Tat zulässig. Wenn aber das englische Recht keine Differenzierung macht, gerät es in Schwierigkeiten bei der Behandlung von Fällen wechselseitiger Angriffe (Eser 1992: 306). Sind beide Beteiligte hier straflos? Dürfen beide in einer endlosen Spirale das Notwehrrecht beanspruchen? (Eser 1992: 307) Ist dann auch ein Notwehr-Exzess (§ 33 StGB) zu dulden?

|| 23 In der deutschen Strafwissenschaft positioniert sich Pawlik (2012: 256ff.) gegen die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld; kritisch gegen die Wertungsebene der Schuld Hörnle (2013: 49ff., 57ff., 69ff.). 24 Siehe statt vieler Wessels et al. (2013: Rn. 115; Rn. 432ff.). 25 Siehe statt vieler Wessels et al. (2013: Rn. 115). 26 Siehe statt vieler Wessels et al. (2013: Rn. 432ff.).

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Bei solchen Problemstellungen wird das unterschiedliche Rechtsdenken der Common Law-Juristen und der deutschen Dogmatiker deutlich. Während Letztere diese Fragen in systematischer Generalisierung angehen, geben sich die Common Law-Juristen mit der bruchstückhaften pragmatischen Betonung des Einzelfalls zufrieden (Safferling 2008: 271).27 Aber warum ist das deutsche Rechtsdenken systematischer als das Englische? Liegt es vielleicht an der Sprache? Im Rahmen des Sprachenvergleichs wird oft in der Sprachwissenschaft vertreten, dass das Deutsche eine auffällige Vorliebe zum Nominalstil aufweist, das Englische dagegen einen Verbalstil begünstigt (dazu Hansen-Schirra et al. 2009: 109). Die komplexe Nominalphrasenstruktur scheint quantitativ ausgeprägter im Deutschen zu sein als im Englischen. Das Englische wird durch die häufigere Verwendung von Partizipial-Konstruktionen und spontanen Verbbildungen durch Desubstantivierung gekennzeichnet, wie „to father“ von dem Substantiv „father“, „to babysit“ von „babysitter“, „to party“ von „party“ (Brockhaus Enzyklopädie Online, Englische Sprache, Neuenglisch; vgl. auch Leisi 1969: 133ff.). Diese Eigenart der Sprachen wird häufig in wenig gelungenen Übersetzungen widergespiegelt, wobei der sog. Shining-through-Effekt entsteht, das heißt, dass in englischen Übersetzungen die nominale und komplexe Phrasenstruktur der deutschen Originale „durchscheint“ und umgekehrt in deutschen Übersetzungen die verbale und weniger komplexe Struktur der englischen Originale „durchdringt“ (Hansen-Schirra et al. 2009: 1). Die in den Zieltext importierten ausgangssprachlichen Strukturen führen oft zu Rezeptionsschwierigkeiten (Hansen-Schirra et al. 2009: 8). Auf der Grundlage der Beobachtung dieser unterschiedlichen Spracheigentümlichkeiten könnte man versucht sein, eine Hypothese zu formulieren. Das unterschiedliche Rechtsdenken von deutschsprachigen und englischsprachigen Juristen ist vielleicht auf die stilistischen Präferenzen der zwei Sprachen zurückzuführen. Die Herausbildung des Nominalstils und vor allem die Nominalisierungen in der deutschen Sprache ermöglichen die Vorstellung von der Dinghaftigkeit der Begriffsinhalte. Die Referenzobjekte werden dadurch zu Gegenständen des Denkens. Deren Dingfestmachen begünstigt wiederum die Annahme der festen Verortbarkeit eines Begriffs in einem System. Wenn man dieses kleine ethnolinguistische Gedankenstück zuspitzen wollte, könnte man sogar behaupten, dass in der Nominalisierungsneigung der deutschen Sprache

|| 27 Als Grund dafür wird die starke Laienorientierung des englischen Rechts genannt, durch die eine Überdogmatisierung vermieden werden sollte, so Wischmeyer (2006: 798) und Watzek (1997: 27ff., 351f.).

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der Ursprung der deutschen Dogmatik liegt. Im englischen Fall läuft es umgekehrt. Das Englische scheint zum verbalen Stil zu tendieren. Das Verb assoziiert man mit Handeln und Wechseln, Vollzug und Bewegung. Dadurch wird ein fallorientiertes pragmatisches Denken befördert, das nicht in systematischen Konstruktionen verankert werden kann. Was folgt aus all diesen Mutmaßungen, über deren Begründetheit oder Unbegründetheit ich mich gerne von linguistischer Seite belehren lasse, für die Ausgangsfrage und schließlich für die Frage der Performativität? Zeigt dieser hypothetische Gedankengang, dass Sapir und Whorf Recht hatten, als sie von der linguistischen Relativität schwärmten? Die Antwort ist Nein. Es gibt allenfalls eine relative linguistische Relativität im Recht, die sich sichtbar machen lässt, wenn man Recht nicht an Institutionen und Personen, mit anderen Worten nicht an die juristische Praxis gebundene Vollzugsform betrachtet, sondern im Wesentlichen abgelöst und unbewegt, als – wie man auch zu sagen pflegt – materielles Recht. Die Grammatiken dieses materiellen Rechts kann man, wie ich es hier angedeutet habe, versuchsweise mit sprachlichen Grammatiken in Zusammenhang bringen. Unterschiede, die sich aus einer solchen Betrachtung erschließen, beruhen aber immer auf der genannten Abstraktion und können nicht unabhängig von ihr verallgemeinert werden. Verlässt man aber die Hermetik des materiellen Rechts und holt man die Rechtsfragen in die Wirklichkeit zurück, sieht man schnell, wie sich überall dieselben Probleme stellen. Der Erlaubnistatbestandsirrtum betrifft eine Konstellation, die auf der ganzen Welt geregelt werden muss (siehe Mincke 1991: 456). Dass ein Mann, der bei Dämmerung im Stadtpark wegen einer Drogenkontrolle von einem Polizisten in Zivil unter Vorhalt der Waffe zum Stehenbleiben aufgefordert wird und den Polizisten für einen Räuber hält und sein Leben bedroht sieht, seinerseits eine Waffe zieht und den Polizisten erschießt28, kommt nicht nur in Deutschland vor, obwohl es sich nur in Deutschland um einen Erlaubnistatbestandsirrtum handelt. Der Zug zur Universalisierung resultiert aus der Performativität der Sprache, deren grundlegende Form die der Übersetzung von einer in eine andere Sprache ist. Der Vorgang der Übersetzung ist nicht als Transport eines kompakten Bedeutungsgehalts zu verstehen, sondern durch die Übersetzung stellt sich Bedeutung überhaupt erst ein. Die linguistische Relativitätstheorie setzt ein Transportmodell der Bedeutung voraus. Dann erst lässt sich der Vermutung Raum geben, manches könne nicht transportiert werden, z.B. weil die Gegenstände nicht in die Transporter passen. In der Praxis lösen sich diese Probleme

|| 28 Beispiel nach Uniacke, Permissible Killing, S. 37, zit. nach Safferling (2008: 395f.).

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einfach durch Übersetzung auf. Was an Unpassendem verbleibt, sind keine grundsätzlichen semantischen Differenzen, sondern stilistische Unterschiede, die vielleicht ästhetisch schmerzen, wie die ungebrochene Übertragung des Nominalstils in eine Sprache, die die Verbalphrase stärker akzentuiert. Es ergeben sich aber keine unauflösbaren Verständigungsprobleme. Das hätte auch Whorf feststellen müssen, wenn er nicht in seiner Wohnung in New York geblieben wäre, sondern sich zu den Hopis begeben und mit ihnen gesprochen hätte.29 Die Frage der linguistischen Relativität stellt sich nur für eine Sprachbetrachtung, die von der Performativität der Sprache abstrahiert. Die Frage der Unübersetzbarkeit, der eigentliche Witz und die Provokation der linguistischen Relativitätsvermutung, stellt sich nicht, weil übersetzt wird, und daher kommt es auch, „dass Einrichtungen unterschiedlicher Rechtsordnungen ähnlicher sind, als man zunächst vermuten könnte“ (Luhmann 1995: 573).

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|| 29 Whorf hat die Hopis in Arizona nie besucht. Die Hopi-Sprache hat er bei einem einzigen Hopi studiert, der in New-York lebte, so Deutscher (2010: 162).

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Gumperz, John / Stephen Levinson (1996): Rethinking Linguistic Relativity. Cambridge, MA: Cambridge UP. Hansen-Schirra, Silvia / Sandra Hansen / Sascha Wolfer / Lars Konieczny (2009): Fachkommunikation, Popularisierung, Übersetzung: Empirische Vergleiche am Beispiel der Nominalphrase im Englischen und Deutschen. In: Linguistik online 3/2009, 109–118. Hörnle, Tatjana (2013): Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf. Ein Plädoyer für Änderungen in der strafrechtlichen Verbrechenslehre. Baden-Baden: Nomos. Leisi, Ernst (1969): Das heutige Englisch. Heidelberg: Winter Verlag. Luhmann, Niklas (1995): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mincke, Wolfgang (1991): Die Problematik von Recht und Sprache in der Übersetzung von Rechtstexten. In: ARSP 77 (1991), 446–465. Nassehi, Armin (2013): Schulden als Zeitmaschine. In: aviso 2/2013, 20–23. Pawlik, Michael (2012): Das Unrecht des Bürgers. Tübingen: Mohr Siebeck. Pederson, Eric / Eve Danziger / David Wilkins / Stephen Levinson / Sotaro Kita / Gunther Senft (1998): Semantic Typology and Spatial Conceptualization. In: Language 74/3, 557–589. Rengier, Rudolf (2014): Strafrecht Allgemeiner Teil. 6. Auflage. München: C.H. Beck. Robering, Klaus (2013): Von Whorf zu Malotki – Eine Reise durch Hopi-Raum und Hopi-Zeit. In: Zeitschrift für Semiotik, Band 35/2013, 30–42. Safferling, Christoph (2008): Vorsatz und Schuld. Tübingen: Mohr Siebeck. Watzek, Jens (1997): Rechtfertigung und Entschuldigung im englischen Strafecht. Eine Strukturanalyse der allgemeinen Strafbarkeitsvoraussetzungen aus deutscher Perspektive. Freiburg i. Breisgau: Ed. iuscrim, Max-Planck-Inst. für Ausländisches und Internat. Strafrecht. Werlen, Iwar (2002): Sprachliche Relativität. Tübingen / Basel: UTB. Wessels, Johannes / Werner Beulke / Helmut Satzger (2013): Strafrecht AT. Die Straftat und ihr Aufbau. 43. Auflage. Heidelberg: C.F. Müller. Whorf, Benjamin Lee (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Wischmeyer, Thomas (2006): Strafrechtliche Sanktionen und ihre Reform in England und Wales. In: ZStW 118 (2006), 773–798. Von Humboldt, Wilhelm (2007): Schriften zur Sprache. Stuttgart: Reclam.

| Teil 3: Vertragstheorie und sprachliche Performativität

Jochen Bung

Sprachperformanz als Grundlage des Gesellschaftsvertrags Speech … without which, there had been amongst men, neither Common-wealth, nor Society, nor Contract, nor Peace, no more than amongst Lyons, Bears, and Wolves. (Hobbes 1651/1997: 20)

Das Zustandekommen eines Vertrags lässt sich als Vorgang des Gelingens von Sprechakten beschreiben. Das Zustandekommen einer Gesellschaft beruht auf dem Zustandekommen eines Vertrags. Wenn das stimmt, kommt eine Gesellschaft dadurch zustande, dass Sprechakte gelingen. Wie immer steht und fällt die Wahrheit der Schlussfolgerung mit der Wahrheit der Prämissen. Dass ein Vertrag durch das Gelingen von Sprechakten zustande kommt, scheint schwerlich bezweifelbar zu sein. Antrag oder Angebot und Annahme erklären sich, auch in konkludenter, sprachloser Form, dadurch, dass ihnen eine den Handlungssinn explizit machende Fassung gegeben werden kann. Ich zeige auf meine schwarzgefleckte Kuh, dann auf dich, dann auf das vom Wind zerstörte Dach meiner Hütte. Du verstehst, aber nur, weil du weißt, dass mein Zeigen den Sinn der Äußerung hat: „Hiermit verspreche ich Dir, meine schwarzgefleckte Kuh zu liefern, wenn Du mir versprichst, das Dach meiner Hütte zu reparieren.“ Es verwundert nicht, dass der Vertrag in der bahnbrechenden, die Theorie der Sprechakte begründenden Schrift von J. L. Austin zur Verdeutlichung des Begriffs der performativen Äußerung dient (Austin 1972: 30). Es sind zumal vertragliche Äußerungen, aus denen hervorgeht, dass man mit sprachlichen Äußerungen in der Regel nicht einfach nur etwas sagt, sondern damit zugleich auch etwas tut (vgl. Austin 1972: 30). Und zwar etwas tut, das folgenreich ist, nämlich die Konsequenz einer gegenseitigen Verpflichtung und Berechtigung hat. Diese gegenseitige Verpflichtung und Berechtigung ist das Recht des Vertrages. Dieses Recht existiert schon, bevor andere Instanzen autoritativen Zugriff auf die Aufgabe der Sicherung dieses Rechts im Konfliktfall haben. Aus der Performativität der Sprache geht das Recht des Vertrages hervor. Soweit die erste These, die im Folgenden präzisiert und verdeutlicht werden soll. Die Zweite ist der Gedanke, dass Gesellschaft etwas ist, das aus dem Zustandekommen eines Vertrages hervorgeht. Thomas Hobbes (1651/1984: 24) hat beide Aussagen im vierten Kapitel des Leviathan in einem Atemzug formuliert: Ohne sie [die Sprache oder Rede] hätte es unter den Menschen weder Staat noch Gesellschaft, Vertrag und Frieden gegeben – nicht mehr als unter Löwen, Bären und Wölfen.

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Es lohnt sich auch heute noch, über diese Behauptung nachzudenken: Ohne Sprache kein Vertrag, ohne Vertrag keine Gesellschaft, ohne Sprache keine Gesellschaft.

1 Gesellschaftsvertragstheorie zirkulär? In seinem Spätwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft hat Niklas Luhmann (1997: 26f.) die Annahme bezweifelt, Gesellschaft sei durch das Zustandekommen von Verträgen erklärbar: Wenn es nicht mehr einleuchtet, dass die Gesellschaft natural aus konkreten Menschen bestehe, denen Solidarität als ordinata concordia und speziell als ordinata caritas vorgeschrieben sei, kann als Ersatzkonzept eine Konsenstheorie einspringen. Das führt im 17. und 18. Jahrhundert zur Wiederbelebung und Radikalisierung der Lehre vom Sozialvertrag. Der Naturbegriff wird, zumindest bei Hobbes, auf Extrasoziales reduziert, bei anderen (Pufendorf zum Beispiel) auf eine Inklination zum Vertragsschluss. Diese Theorie musste jedoch bald aufgegeben werden. Juristisch war sie zirkulär gebaut, konnte also die unverbrüchliche und unkündbare Verbindlichkeit des Vertrages nicht erklären; und historisch konnte sie angesichts der rasch zunehmenden Geschichtskenntnisse nur noch als Fiktion ohne Erklärungswert behandelt werden.

Dieses Verdikt halte ich für falsch und zwar in beiden Hinsichten. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag ist eine Fiktion mit Erklärungswert. Sie interessiert sich nicht für konkrete naturale Menschen, sondern dafür, was unter bestimmten Minimalbedingungen konzeptualisierte natürliche Personen tun müssen, damit Machtverhältnisse unter ihnen als Regierungsformen legitimiert sind. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag interessiert nicht, wie Gesellschaft historisch zustande kommt, sondern wie sie im Lichte des Problems der Rechtfertigung von Macht zustande kommen kann. Diesen Punkt halte ich für so selbstverständlich und den Einwand Luhmanns insoweit für gegenstandslos, dass ich ihn hier nicht weiter verfolgen werde. Mehr Beachtung verdient der andere Punkt, die Theorie des Gesellschaftsvertrags sei zirkulär gebaut, da sie die unverbrüchliche und unkündbare Verbindlichkeit des Vertrages nicht erklären könne. An anderer Stelle formuliert Luhmann: Dass die vertragschließenden Individuen an den Vertrag gebunden seien, konnte nur aus dem Vertrag selbst erklärt werden. (Luhmann 1993: 581)

Ich möchte zeigen, dass auch dieser Einwand nicht zutrifft, weil die Theorie des Gesellschaftsvertrags gerade nicht positivistisch die Form des Vertrags aus ei-

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nem geltenden Vertragsrecht, sondern aus jenen eigentümlich protokontraktualen Verpflichtungsverhältnissen herleitet, die durch den Gebrauch der Sprache zustande kommen. Die Theorie ist, entgegen Luhmann, gerade nicht zirkulär, weil sie das Vertragsrecht aus einem außer- oder vorrechtlichen Gesichtspunkt heraus entwickelt. Anhand der für die Begründung der Gesellschaftsvertragstheorie maßgeblichen Schrift, Hobbesʼ Leviathan, will ich dies verdeutlichen.

2 Der Mensch als Tier, das spricht Die Untersuchung beginnt bekanntlich mit dem Menschen, bevor sie über den Begriff der artifiziellen Person bzw. jenen des Stellvertreters im 16. Kapitel zum Staat übergeht. Das stimmt alles, lässt aber schnell übersehen, dass das Werk in seinem ersten Teil eine komplette Sprachtheorie enthält, die alle wesentlichen Einsichten der Sprachphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts in erstaunlicher Weise vorwegnimmt, bis hin zu einer präzise und detailreich ausgearbeiteten Kritik an Formen sinnloser Rede1, die Scheingegenstände oder Scheinsachverhalte präsentieren und so der Verwirrung und Vernebelung des Denkens Vorschub leisten. Nichts in der Sprache hindert uns, von der wahren Liebe, vom ewigen Jetzt oder der Transsubstantiation zu sprechen (Hobbes 1651/1984: 26ff., 35f.). Aber wenn wir das tun, sagen wir nach Hobbes nichts Bedeutungsvolles. Das liegt daran, dass wir keine bestimmte Vorstellung davon haben, was sich erweisen müsste, wenn sich das Gesagte als Irrtum herausstellt. Dem Menschen allein kommt also unter den Lebewesen das „Privileg des Widersinns“ (Hobbes 1651/1984: 34) zu. Keineswegs ist es Klugheit, die Mensch und Tier unterscheidet: Es gibt Tiere, die einjährig mehr beobachten und das, was zu ihrem Wohl beiträgt, klüger verfolgen, als dies ein zehnjähriges Kind tun kann. (Hobbes 1651/1984: 22)

Die Fähigkeit zur Sprache und der Sprachgebrauch machen eigentlich den Menschen aus. Aber aus dem Gebrauch der Sprache, daran lässt Hobbes keinen Zweifel, geht viel Ungutes hervor. Die Produktion von Unsinn ist nur ein Beispiel. Sprache kann vor allem auch verwendet werden, um zu täuschen, zu betrügen und zu verletzen (Hobbes 1651/1984: 25). Allerdings ist dies dann ein Missbrauch der Sprache:

|| 1 „Absurd assertions“ (Hobbes 1651/1997: 28)

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Denn da die Natur die Lebewesen teils mit Zähnen, teils mit Hörnern und teils mit Händen bewaffnet hat, um einen Feind verletzen zu können, ist es nur ein Missbrauch der Sprache, wenn wir ihn mit der Zunge verletzen […]. (Hobbes 1651/1984: 26)

Wie uns Hobbes zeigt, geht aus dem Gebrauch der Sprache aber auch sehr viel Gutes hervor. Zunächst ermöglicht Sprache die Emanzipation des Geistes aus der Ungeschiedenheit von Empfindungen und Traum, mit denen unser aller Weltzugang beginnt. Nur Sprache ermöglicht jene spezifisch vernünftigen, weil intersubjektiv nachvollziehbaren, folgerichtigen Übergänge von einem Gedanken zum anderen (Hobbes 1651/1984: 19f.). Am Anfang sind nur Eindrücke, Empfindungen und lose Gedanken, sie können „mit Hilfe von Sprache und Methode auf eine solche Höhe gebracht werden […], dass man die Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheiden kann“ (Hobbes 1651/1984: 23). Genau genommen ist der Mensch also das Tier, das spricht oder jedenfalls über die grammatisch differenziertesten Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten verfügt. Hobbes unterscheidet zwei Hauptfunktionen der Sprache, eine monologische, die der Unterstützung des Gedächtnisses dient, sowie eine kommunikative, wonach Menschen, wenn sie dieselben Wörter gebrauchen, gegenseitig durch Verbindung und Ordnung der Wörter zu verstehen geben [können], was sie sich unter jeder Sache vorstellen oder was sie über sie denken, sowie, was sie wünschen, fürchten oder sonst für Gefühle haben (Hobbes 1651/1984: 25).

Diese kommunikative Funktion lässt sich noch einmal unterscheiden in Sprache als etwas, das Verstehen ermöglicht, und etwas, das Kooperation, Abstimmung von Interessen und Handlungen auf der Grundlage des Verstehens ermöglicht.

3 Verständigung als kooperativer Vorgang Sieht man genauer hin, ist bereits aber auch das Sprechen als solches ein auf Kooperation angelegter Vorgang, sofern der Sprecher oder die Sprecherin verstanden werden will. Sofern man nicht ein Selbstgespräch führen möchte, sollte man nicht irgendwie vor sich hin reden, sondern auf seinen Sprachgebrauch achten, insbesondere der Wahrheitsfähigkeit sprachlicher Gebilde Rechnung tragen. Nur Sprachliches kann nämlich wahr oder falsch sein (vgl. Hobbes 1651/1984: 27f.), weil sich Wahrheit aus der richtigen, Falschheit aus der unrichtigen Zusammensetzung der Worte ergibt. Daher wird derjenige, dem es um

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Wahrheit geht, „sich notwendigerweise daran erinnern, was jeder Name, der von ihm gebraucht wurde, bedeutet und ihn an die entsprechende Stelle setzen oder aber er wird sich in Wörtern verstrickt finden wie ein Vogel in Leimruten“ (Hobbes 1651/1984: 28). Ohne eine ausgearbeitete Theorie vorzulegen, erkennt Hobbes den intrinsischen Zusammenhang zwischen dem Wunsch, verstanden werden zu wollen und der Aufgabe, die Wahrheit zu sagen und seinen Sprachgebrauch daran auszurichten: Hat ein Mensch auf das Hören einer Rede hin die Gedanken, zu deren Bezeichnung die Wörter dieser Rede und ihrer Verbindung bestimmt und gebildet wurden, so sagt man, er habe verstanden, da Verstehen nichts anderes ist als eine durch Rede verursachte Vorstellung. Ist deshalb die Sprache dem Menschen eigentümlich […], so ist ihm auch Verstehen eigen. (Hobbes 1651/1984: 31)

Wahrheitsbezug und Verstehen sind freilich immer bedroht oder beeinträchtigt; nicht nur durch Formen sinnloser Rede, die eine Illusion des Verstehens erzeugen (Hobbes 1651/1984: 31), sondern auch durch idiosynkratische oder affektive Färbungen des Sinns, weswegen Hobbes mahnt, auf diese individuellen Bedeutungsbeiträge besonders zu achten (Hobbes 1651/1984: 31) oder der „eigentümlichen Bedeutung“ gar nicht erst zu viel Individuelles „beizumischen“ (Hobbes 1668/1970: 38). Eine von Unklarheiten und Zweideutigkeiten gereinigte Sprache ist für Hobbes, wie er sich emphatisch im fünften Kapitel ausdrückt, „das Licht des menschlichen Geistes“ (Hobbes 1651/1984: 37). Sich verständlich auszudrücken, ist keine Stil- oder Geschmacksfrage, sondern im Bereich des vernünftig begründbaren, weil von jedermann mit- oder nachzuvollziehenden, Erkennens und Handelns eine grundlegende Aufgabe. Zu dieser Aufgabe kann man sich nicht beliebig verhalten, wenn man vielleicht vom Bereich der Kunst absieht oder von jenem unverbindlich spielerischen Umgang mit der Sprache, den Hobbes durchaus als sozial bedeutsame, mithin legitime Verwendungsform anerkennt (Hobbes 1651/1984: 25). Ohne mich zu verstehen, können die anderen nichts mit mir anfangen, weil sie nicht wissen, was ich mit ihnen anfangen will. Ohne Verstehen keine Kooperation oder überhaupt irgendeine Interaktion. Der Zusammenhang ist, wie wir gesehen haben, noch enger, als es zunächst den Anschein haben mag. Nicht erst drücke ich mich verständlich aus und kooperiere dann mit anderen auf der Basis des gemeinsamen Sinns, sondern ich kooperiere bereits durch die Art und Weise, wie ich meinem Mitteilungsbedürfnis Ausdruck verleihe. Indem ich mich verständlich ausdrücke, kann ich nicht nur ein Angebot dieses oder jenes Inhalts machen, sondern bereits indem ich meine Rede an dich adressiere, fordere ich dich implizit auf, dich auf mich einzulassen. Invitatio ad interpretandum. Ich hoffe,

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du machst mir ein Interpretationsangebot, das ich annehmen kann, indem ich etwas sage oder tue.

4 Protokontraktuale performative Kraft Indem wir das basale und im Alltag völlig unproblematische und unthematische Phänomen des Verstehens als Vorgang von Angebot und Annahme rekonstruieren, lernen wir etwas über das Wesen der Sprache. Sofern sie nicht nur betrachtet, sondern gebraucht wird, entfaltet sie durch die Sprechenden eine dieselben gegenseitig bindende Kraft. Wer spricht, erhebt nicht nur einen Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit, sondern notwendig auch einen Anspruch auf Verständlichkeit. In den alltäglichen Routinen der Kommunikation fällt das nicht auf, erst wenn Zweideutigkeiten oder Missverständnisse auftreten, wird es deutlich, etwa wenn mir andere ein Recht zur Nachbesserung meiner ursprünglichen unvollkommenen Äußerung einräumen. Aus dem Vollzug der Sprache folgt protokontraktuale Bindung, Verpflichtung und Berechtigung. Sofern ich mich mitteile, gehe ich Verpflichtungen ein und berechtige andere, mich beim Wort zu nehmen. Mit intentionalem Vokabular kann man den Vorgang nicht zureichend analysieren. Man kommt dann nämlich in die Verlegenheit, die mögliche Täuschung über die wahren Absichten zum konstitutiven Moment der Bedeutung des Gesagten zu machen. Aber das übersieht, dass mit der Inanspruchnahme sprachlicher Formen nicht die Unterstellung einer solchen semantischen Dispositionsbefugnis einhergeht. Dass, wer den Sprecher beim Wort nimmt, enttäuscht werden kann, weil sich unaufrichtige Absichten im weiteren Verlauf der Interaktion erweisen, rechtfertigt gerade keine Reinterpretation des Geäußerten ex post. Wer über seine wahren Absichten getäuscht hat, dessen Äußerungen sind nicht rückblickend so umzudeuten, dass sie etwas anderes bedeutet haben, als ursprünglich vom Interpreten geglaubt. Die Möglichkeit, ein Versprechen nicht zu halten, setzt das Institut des Versprechens voraus. Das ist nichts anderes als die Grundidee der Theorie der Sprechakte. J. L. Austin schreibt: Nennen wir nicht […] ein Versprechen, dem die Absicht fehlt, ein »falsches« Versprechen? Indessen bedeutet diese Redeweise nicht, dass die Äußerung »Ich verspreche, dass …« in dem Sinne falsch wäre, dass er zwar behauptet, er verspräche, aber in Wahrheit nicht verspricht, oder dass er beschreibt, wie er verspricht, aber fehlerhaft – dass er also einen unzutreffenden Bericht liefert. Denn er verspricht doch; das Versprechen ist nicht einmal nichtig, wenngleich unehrlich. (Austin 1972: 33)

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Natürlich war Austin nicht der erste, der den institutionellen Charakter des Versprechens entdeckt hat. Kant etwa schreibt, „dass ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen anderen vorzugeben […]“ (Kant 1785/1961: 28f.). An anderer Stelle bemerkt Kant: [D]ie Allgemeinheit eines Gesetzes, dass jeder […] versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm was versprochen sei […]. (Kant 1785/1961: 55f.)

Um die protokontraktuale performative Kraft herauszuarbeiten, ist es sinnvoll, den Sprechakt des Versprechens als fundamental zu betrachten. Viele elementare sprachliche Äußerungen können als Versprechen rekonstruiert werden. Behauptungen etwa sind Versprechen, das Behauptete auf Verlangen zu begründen, also die Leistung zu erbringen, zu der man sich verpflichtet, wenn man mit anderen übereingekommen ist, herauszufinden, was wahr ist. Diese verpflichtende Kraft der Sprache ist nichts, was zu deiner oder meiner Disposition steht. Ein Versprechen gilt nur dann nicht, wenn der Zusammenhang erkennen lässt, dass der Sprecher gar nicht beabsichtigt, sein Versprechen einzulösen. So jedenfalls argumentiert Hobbes in einer Passage, die sich in der Übersetzung des lateinischen Textes findet, dass „[d]ie Ursache zu einem Verdacht […], welcher ein Versprechen ungültig zu machen imstande ist, […] mit dem Versprechen im Bezug stehen und ein Zeichen dafür sein [muss], dass man sein Wort nicht halten wolle“ (Hobbes 1668/1970: 124). Wenn es aber kein solches Zeichen gibt, gilt das Versprechen, egal was der Sprecher will oder beabsichtigt: Außerdem kann auf keine Weise ein Versprechen aufgehoben werden. Was nicht hindern konnte, etwas zu sagen, das darf auch seine Erfüllung nicht hindern. (Hobbes 1668/1970: 124)2

|| 2 Ich greife hier auf die Übersetzung des lateinischen Textes zurück, weil der englische Text und seine Übersetzung den Punkt, auf den es mir ankommt, nicht so klar herausstellen. Es heißt im englischen Text: „The cause of feare, which maketh such a Covenant invalid, must be alwayes something arising after the Covenant made; as some new fact, or other signe of the Will not to performe: else it cannot make the Covenant voyd. For that which could not hinder a man from promising, ought not to be admitted as a hindrance of performing.” (Hobbes 1651/1997: 76) In der deutschen Übersetzung: “Die Ursache der Furcht, die einen solchen Ver-

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Dieser Punkt ist für eine Vertragstheorie der Bedeutung elementar, denn es zeigt, dass die Aufrichtigkeit des Sprechers kein bedeutungskonstitutiver Faktor ist. Wer seinem Versprechen ein Zeichen hinzufügt, das den Nichtleistungswillen indiziert, gibt im eigentlichen Sinne gar kein Versprechen, es handelt sich entweder um einen Scherz oder Ironie oder sonst einen derivativen Modus. Wer aber über seinen Nichtleistungswillen täuschen möchte, muss sich einer Form des Versprechens bedienen, die keinen Verdacht erregt. In der Sprechakttheorie wurde zum Teil angenommen, dass es bestimmte Ausdrücke gibt, die kraft Konvention als Ausdruck dessen gelten, dass der Sprecher meint, was er sagt. So argumentiert Habermas (1988: 392) unter Rückgriff auf Austins bekannte Unterscheidung, dass illokutionäre Erfolge im Gegensatz zu perlokutionären Effekten durch Konventionen festgelegt seien. Auf eine philologisch genaue Rekonstruktion der Unterscheidung von illokutionären und perlokutionären Akten braucht es uns hier nicht anzukommen. Perlokutionäre Effekte können als solche betrachtet werden, die aus der strategischen Absicht der Sprecherin oder des Sprechers hervorgehen. Die Funktionsweise des Sprechakts wird durch die Teleologie dieser Absicht erläutert, nicht unter Rückgriff auf öffentliche, allgemein verfügbare Sprachverwendungsregeln. Es gibt keine Konvention, wonach die Äußerung von „es ist kalt“ einen anderen dazu bringt, das Fenster zu schließen. Aber ebenso wenig gibt es eine Konvention, wonach die Äußerung von „Ich verspreche, morgen zu kommen“ einen anderen dazu bringt, dem Sprecher zu glauben. Betrachten wir als Beispiel eine Person P, die für ihre extreme Unzuverlässigkeit bekannt und dafür berüchtigt ist, sich an keine Abmachungen zu halten. Wenn P „Ich verspreche, morgen zu kommen“ äußert, verstehe ich diese Äußerung nicht als

|| trag unwirksam macht, muss immer in einem Umstand liegen, der nach dem Vertragsschluss auftaucht, wie eine neue Tatsache oder ein anderes Anzeichen, dass der andere nicht erfüllen will. Andernfalls kann sie den Vertrag nicht unwirksam machen. Denn was jemanden nicht von der Abgabe eines Angebots abhalten konnte, darf nicht als Hinderungsgrund der Erfüllung Beachtung finden.“ (Hobbes 1651/1984: 105) Aus dem Kontext der Passage wird deutlich, dass es um Gültigkeit von Abmachungen im Naturzustand geht, „wo alle Menschen gleich sind und über die Berechtigung ihrer eigenen Befürchtungen richten“ (Hobbes 1651/1984: 105). Der Kern der Passage kann aber nicht sein, dass ich beliebig, je nach persönlicher Einschätzung über die Berechtigung meines Verdachts in Bezug auf die Zuverlässigkeit meiner Vertragspartner, die Verbindlichkeit eines Versprechens aufheben kann. Es wäre sonst das „andernfalls“, „else“ bzw. „aliquoi“ im lateinischen Text, witzlos. Es muss eine Bindung geben, die nicht einfach zur individuellen Disposition steht, erst dann ist es sinnvoll, ausnahmsweise, bei Vorliegen eindeutiger Anzeichen des Nichtleistungswillens des Vertragspartners, den Vertrag als ungültig anzusehen.

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Versprechen. Auch nicht als „falsches“ Versprechen, denn ich habe meine Interpretationstheorie P angepasst, wonach in der Sprache von P Äußerungen, die scheinbar die Form von Versprechen haben, irgendetwas anderes, aber jedenfalls keine Versprechen sind. Hobbes hat, wie wir gesehen haben, darauf aufmerksam gemacht, dass Anzeichen dafür, dass man sein Versprechen nicht halten will, das Versprechen aufheben können. Im Falle der Äußerung von P ist P selbst dieses Zeichen. Habermas‘ Argument zur Verdeutlichung der illokutionären, der öffentlichen Dimension der Sprechhandlung, sie bestehe in ihrer Selbstgenügsamkeit derart, „dass sich die kommunikative Absicht […] aus der manifesten Bedeutung des Gesagten [ergibt]“ (Habermas 1988: 389), ist daher zu anspruchsvoll. Weil sie sich jeder Lügner zunutze machen würde, kann es, wie Davidson (1990: 379) hervorgehoben hat, keine sprachlichen Konventionen der Aufrichtigkeit geben.

5 Bindung und Verbindung Daraus folgt keineswegs semantischer Intentionalismus oder die Reduktion der Bedeutung von Sprechakten auf strategische Handlungen. Ich halte Habermas‘ Begriff des kommunikativen Handelns, wonach „Akte der Verständigung, die die teleologisch strukturierten Handlungspläne verschiedener Teilnehmer verknüpfen […], nicht ihrerseits auf teleologisches Handeln reduziert werden können“ (Habermas 1988: 388), für richtig und versuche ihn hier gerade unter Rückgriff auf einen klassischen Text zu bekräftigen. Verdeckte Absichten ändern nichts an der institutionellen Existenz bestimmter Sprachhandlungsformen, aber sie verhindern, dass diese Formen mit Konventionen identisch sind. Selbst wenn es bestimmte grammatische Formen gäbe, die kraft Konvention als Ausdruck dessen gelten, dass es der Sprecher oder die Sprecherin ernst meint, wäre es nicht ohne Risiko, sich auf diesen Zusammenhang zu verlassen. Darauf hat Hobbes eindringlich aufmerksam gemacht. Staat, Gerichte und zwingende Gewalt muss es geben, weil man im Einzelfall nicht sicher sein kann, ob man es nicht doch mit einem Betrüger zu tun hat und dann möglicherweise als Erstleistender mit leeren Händen dasteht (Hobbes 1651/1984: 104f.). Am Ende ist die Bindungskraft der Worte doch nicht jederzeit zuverlässig genug und die Missbrauchsgefahr zu groß: Denn wer zuerst erfüllt, kann nicht sicher sein, dass der andere daraufhin erfüllen wird, da das Band der Worte viel zu schwach ist, um den Ehrgeiz, die Habgier, den Zorn und die anderen menschlichen Leidenschaften ohne die Furcht vor einer Zwangsgewalt zu zügeln. (Hobbes 1651/1984: 105)

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An einer späteren Stelle klingt Hobbes noch skeptischer. Es geht um die kritische Frage nach der Bindung der staatlichen Gewalt. Es gibt keine Bindung, sagt Hobbes, weil der Souverän gerade die Bindungswirkung der Verträge garantiert, mithin also selbst nicht gebunden werden kann. Hier wird das Problem absoluter Herrschaft deutlich, das Hobbes nicht befriedigend zu lösen vermag. In der Übersetzung der lateinischen Ausgabe heißt es, diejenigen, die glauben, der Souverän könne durch Verträge gebunden werden, irrten, „weil sie keinen Unterschied machen zwischen Verbinden, welches durch Worte, und Binden, welches durch Zaum und Zügel geschieht, und nicht bedenken, dass Worte an sich ohne Kraft sind“ (Hobbes 1668/1970: 158f.). Aus dieser Passage folgt gleichwohl nichts gegen die Annahme einer Bindungswirkung allein aufgrund der sprachlichen Verbindung. Hobbes‘ Argument besagt nur, dass die protokontraktuale Bindung nicht mit einer Zwangsbefugnis verbunden ist. Ohne die Annahme der internen Bindungskraft der Sprache kann Hobbes gar keine interessante Vertragstheorie der Gesellschaft entwickeln. Es träfe dann der Einwand Luhmanns zu, die Theorie sei zirkulär gebaut.

6 „Naturall Lawes“ Wenn man einen Gesellschaftsvertrag schließt, kann man nicht auf geltende Formen des Vertrags zurückgreifen, das Recht dieser Gesellschaft geht ja nicht dieser Gesellschaft voraus. Der Vorgang der Vergesellschaftung der Individuen kann nur auf der Grundlage eines vorpositiven Vertragsrechts konzipiert werden, das Hobbes aber nicht unmittelbar aus der Vernunft deduziert, sondern vermittelt durch die Bindungskraft der Sprache. Schaut man sich die Abfolge der von Hobbes formulierten natürlichen Gesetze („Naturall Lawes“) an, gibt es einen weiteren interessanten Umstand zu bemerken. Hobbes führt aus, dass alle natürlichen Gesetze letztlich auf die Regel zurückgehen, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt zu werden wünscht (Hobbes 1668/1970: 140). Auch wenn überwiegend der Eindruck einer losen Folge von Maximen entsteht, gibt es also einen Zusammenhang, einen gemeinsamen Grund, der in jener Gewissensprüfung besteht, der Kant später die Form des kategorischen Imperativs gibt. Zwischen den ersten drei natürlichen Gesetzen behauptet Hobbes jedoch darüber hinaus eine Folgerungsbeziehung. Aus dem Wunsch nach Frieden leitet sich nach Hobbes eine Form der Reziprozität ab3, die als Vertragsform

|| 3 „is derived“ (Hobbes 1651/1997: 72)

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gedeutet wird, aus welcher Deutung dann wiederum das pacta sunt servanda (als drittes natürliches Gesetz) folgt4. Bei den natürlichen Gesetzen befinden wir uns, wie schon ihr Name sagt, im Bereich des vorpositiven Rechts. Wie in vielen Fällen, und dadurch manche sterile Erörterung klug vermeidend, hält sich Hobbes gleich fern von bestimmten Alternativen, die wir durch spätere Diskussionen gelernt haben, gegeneinander auszuspielen. Er führt einen Begriff des Rechts im engeren Sinne ein (Hobbes 1668/1970: 142) und kann insoweit in der Tat als Vorläufer des Rechtspositivismus gelten. Aber nicht minder interessant ist Hobbes als Naturrechtler, und ohne Naturrecht wäre die Theorie des Gesellschaftsvertrags zirkulär. Was ist das nun aber für ein Naturrecht, das aus den natürlichen Gesetzen hervorgeht? Was ist das insbesondere für eine Folgerungsbeziehung zwischen den ersten drei natürlichen Gesetzen? Alle natürlichen Gesetze zielen nach Hobbes (1668/1970: 140) dahin „alle Menschen miteinander in Frieden leben zu lassen“. Sie basieren also auf dem Wunsch, dessen Ausdruck das erste natürliche Gesetz ist. Aus dem Wunsch nach Frieden folgt, dass ich nicht alles für mich haben wollen darf, ich muss meinen naturwüchsigen Expansionsdrang und meine naturgegebene Macht einhegen. Diese Selbstbegrenzung ist aber aus dem Gesichtspunkt der Selbsterhaltung nur vernünftig, wenn andere ebenfalls ihre natürliche Macht einschränken. Den Gedanken, dass nur die anderen sich einschränken sollen, nicht aber ich, kann ich nicht vernünftig denken, hier erinnert Hobbes an die Regel, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt zu werden wünscht (Hobbes 1668/1970: 119f., 140). Die Vollzugsform dieser protomoralischen Reziprozität wird bei Hobbes nun als Verzicht und Übertragung gedeutet, mithin im Sinne von Rechtsakten, die ihre Geltungskraft, wie aus Hobbes‘ Darstellung deutlich wird, von nirgendwo anders her beziehen können als der performativen Kraft jener Akte, mit denen man sie vollzieht. Bevor Staat, Regierung und Gerichte installiert sind, verpflichtet das Versprechen durch seine bloße Form. Im Vollzug der Reziprozität des Versprechens entsteht eine Übergangsgesellschaft der Freien und Gleichen (Günther 2008: 345), die sich durch ihre sprachlichen Akte wechselseitig als frei und gleich anerkennen. Wie bekannt ist, enthält dieser Gesellschaftsvertrag auch die Übertragung von Macht auf eine neue Autorität, die als Stellvertreterin der Gesellschaft fungiert und für dieselbe verbindlich nach innen und außen handeln kann. Dass in dem Umfang der Befugnisse dieser Stellvertreterin eine Entmündigung der Vertrete-

|| 4 „followeth“ (Hobbes 1651/1997: 79)

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nen liegt, ist ein hinreichend bekanntes Problem der Hobbesschen Konstruktion, aber keine zwingende Folge der Idee des Gesellschaftsvertrags.

7 Kraft der Worte und Bekräftigungsformeln Im Naturrecht des zweiten und dritten natürlichen Gesetzes liegt eine Anerkennungstheorie, die über eine Theorie der performativ-protokontraktualen Bindungskraft der Sprache vermittelt ist. Vielleicht wird diese Lesart des Leviathan verdeckt durch Passagen, in denen Hobbes schon im Vorgriff auf staatliche Garantien vertraglicher Bindung argumentiert und die von ihm selbst vorausgesetzte sprachliche Bindung herunterspielt, wenn er etwa von der zwingenden Gewalt spricht, „ohne welche die Versprechungen keine Kraft hätten“ (Hobbes 1668/1970: 131) oder bemerkt, dass „[i]n den Worten an sich […] nicht die Kraft liegt, die Menschen zur Erfüllung ihrer Abkommen zu bewegen“ (Hobbes 1668/1970: 127). Gleichwohl gilt, wie Hobbes zeigt, gerade für den Naturzustand, dass es unvernünftig und gegen die eigenen Interessen ist, Versprechen nicht zu halten, da man durch den eintretenden Reputationsverlust (vgl. Hobbes 1668/1970: 127f.) keine Vertragspartner mehr findet, „und deshalb kann einer, der es für vernünftig erklärt, seine Helfer zu täuschen, vernünftigerweise auf keine anderen Mittel zu seiner Sicherheit zurückgreifen als auf die, welche ihm seine eigene Einzelmacht bietet“ (Hobbes 1651/1984: 112). Dass sich diese Einzelmacht im Naturzustand jedoch jederzeit als unzureichend erweisen kann, ist schließlich der Grund, warum sich die Vereinzelten zu einer Gesellschaft zusammenschließen. „Deshalb“, folgert Hobbes (1651/1984: 112), kann jemand, der seinen Vertrag bricht und folglich seine Meinung zu erkennen gibt, er könne dies vernünftigerweise tun, in keine Gesellschaft aufgenommen werden, die sich zur Erhaltung des Friedens und zur Verteidigung zusammenschließt – außer auf Grund des Irrtums derer, die ihn aufnehmen. Und ist er aufgenommen, kann er sich nicht halten, ohne dass sie die Gefährlichkeit ihres Irrtums bemerken.

Pacta sunt servanda bedarf deswegen keiner Staatsmacht, um zu Geltung und Wirksamkeit zu kommen, sondern gilt und wirkt aus Vernunftgründen auch vor- bzw. außerstaatlich. Ein wichtiger Mechanismus ist die Furcht vor dem Reputationsverlust: als einer dazustehen, dem man nicht trauen kann. Er bringt, wie Hobbes zeigt, die Menschen dazu, zu schwören oder ihre Sprachhandlungen mit Eidesformeln anzureichern:

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Dieser Schwur oder Eid ist eine dem Versprechen hinzugefügte sprachliche Formel, durch die der Versprechende erklärt, er sage sich im Falle der Nichterfüllung von der Gnade Gottes los, oder er rufe ihn an, damit dieser an ihm Rache nehme. (Hobbes 1651/1984: 108; Hervorhebung im Original weggelassen)

Deswegen sagen wir „Ich will so oder so handeln, so wahr mir Gott helfe“ (Hobbes 1651/1984: 109 oben). Die Eidesformel fügt dem Versprechen, wie Hobbes zutreffend bemerkt, aber nichts hinzu, was es nicht schon selbst aus sich heraus an verpflichtender Kraft aufbietet. Sie verdeutlicht allerdings den psychologischen Mechanismus der Furcht vor dem Ehrverlust, der dazu führt, dass man in den weitaus meisten Fällen nicht befürchten muss, dass der andere sein Versprechen nicht hält und daher die Abkommen regelmäßig allein auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens5 gelten. Freilich, so sehr die natürlichen Gesetze jederzeit aus Gewissensgründen verpflichten, verpflichten sie nicht stets zu ihrer Anwendung im Einzelfall (Hobbes 1651/1984: 121). Das ändert aber nichts daran, dass auch unabhängig von zwingender Gewalt, Vertrauen in die Gültigkeit des Vereinbarten berechtigt ist. Was diesen normativen Mechanismus des Vertrauens vor jeder staatlichen Institution institutionalisiert, ist die Sprache. Ohne sie hätte es, um Hobbes‘ (1651/1984: 24) Bemerkung noch einmal in Erinnerung zu rufen, „unter den Menschen weder Staat noch Gesellschaft, Vertrag und Frieden gegeben – nicht mehr als unter Löwen, Bären und Wölfen“. Hobbes liefert eine detaillierte, fast an die Sprachgebrauchsstudien J. L. Austins erinnernde Analyse, wie bestimmte grammatische Formen, etwa Äußerungen im Präsens oder im Futur, Bindungswirkung entfalten oder eben noch nicht unmittelbar binden und das Versprechen gleichsam vertagen. In diesem Zusammenhang spricht Hobbes (1668/1970: 123) ausdrücklich von der „Kraft der Worte selbst“6. Auch wenn die Bindung der Worte7 sich manchmal als zu schwach erweist, bleibt der Mechanismus des Vertrauens auf diese Bindung angewiesen. Es ist auch richtig, wenn Hobbes (1651/1984: 101) darauf hinweist, die Bindung beruhe nicht auf der Natur der Worte an sich. Das war die zu anspruchsvolle Unterstellung in der modernen Theorie der Selbstgenügsamkeit illokutionärer Akte bzw. die Annahme der konventionellen Verknüpfung von Sprachgestalt und Verwendungssinn. Darüber, ob ein Vertrag zustande kommt und was er beinhaltet, entscheidet nicht nur, wie man es versteht, sondern auch, wie es gemeint ist, das heißt,

|| 5 „mutuall trust“ (Hobbes 1651/1997: 79) 6 „by the vertue of the words, though there were no other argument of my will“ (Hobbes 1651/1997: 75) 7 „the BONDS, by which men are bound, and obliged“ (Hobbes 1651/1997: 73)

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manchmal ergibt sich die Bedeutung auch jenseits sprachlicher Konventionen oder Routinen, aber das mindert nicht die Bindungskraft der dabei gebrauchten Worte.

8 Ausblick Ohne sprachliche Bindung keine vertragliche Bindung, ohne vertragliche Bindung keine gesellschaftliche Verbindung. Keineswegs wird hier, um das abschließend klar zu stellen, behauptet, eine Gesellschaft sei vollständig über sprachliche Verständigung integriert. Das ist undenkbar und liegt wohl auch Luhmanns eingangs geschilderter Skepsis gegenüber der Theorie des Gesellschaftsvertrags zugrunde. Aber man muss eine Theorie immer an dem messen, was sie zu erklären und zu begründen bestrebt ist. Die Theorie des Gesellschaftsvertrags wollte nicht das Forschungsfeld der Soziologie vorwegnehmen. Aber auch heute noch gibt uns das Modell des Zustandekommens der Gesellschaft über Vertrag und vorvertragliche Verständigung wichtige Hinweise auf die Grenzen, in denen Gesellschaft vernünftig legitimierbar ist, nämlich aufgrund einer selbstbestimmten Koordination der Einzelinteressen auf der Grundlage wechselseitiger und gleichberechtigender Anerkennung. Der Gedanke der Berechtigung und Verpflichtung durch sprachliche Verständigung enthält das nach wie vor modernste Modell einer Begründung elementarer Statuspositionen unabhängig vom Etatismus staatlicher Schutzpflichten und dem Konstruktivismus subjektiver Rechte. Sie lässt sehen, in welcher Weise fundamentale normative Eigenschaften wie Freiheit, Gleichheit und Würde horizontal aus dem wechselseitigen Vollzug einer symbolischen Form hervorgehen.

Literaturverzeichnis Austin, John L. (1972): Zur Theorie der Sprechakte. (How to Do Things with Words, 1962). Stuttgart: Reclam. Davidson, Donald (1990): Wahrheit und Interpretation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Günther, Klaus (2008): Liberale und diskurstheoretische Deutungen der Menschenrechte. In: Brugger, Winfried / Ulfrid Neumann / Stephan Kirste (Hg.): Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 338–359. Kant, Immanuel (1785/1961): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Stuttgart: Reclam. Habermas, Jürgen (1988): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hobbes, Thomas (1668/1970): Leviathan. Übersetzung des lateinischen Texts. Übersetzt v.

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Jacob P. Mayer. Stuttgart: Reclam. Hobbes, Thomas (1651/1984): Leviathan. Hg. v. Iring Fetscher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hobbes, Thomas (1651/1997): Leviathan. (Norton Critical Edition). Hg. v. Richard E. Flatman / David Johnston. New York / London: W. W. Norton. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1993): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Gerd Strohmeier

Vertragstheoretische Herrschaftslegitimation Mit spieltheoretischer Kreativität, aber ohne sprachliche Performativität1

1 Zur Relevanz von Sprache für Politik Politik ohne Sprache ist (einen weiten Politikbegriff vorausgesetzt) grundsätzlich ebenso wenig vorstellbar wie Sprache ohne Politik. Sprache bedarf in vielfältiger Weise der Politik – wie nicht zuletzt der „Zusammenhang zwischen Sprachpolitik und Sprachwandel“ (Bülow 2015) deutlich macht; und Politik bedarf in unterschiedlicher Form der Sprache – etwa um zu überzeugen, zu rechtfertigen oder zu kritisieren. Gerade mit Blick auf politische Entscheidungsprozesse zeigt sich die performative Kraft der Sprache – dass Sprache Tatsachen nicht nur beschreibt, sondern auch Tatsachen schafft (vgl. Wirth 2002: 10f.). Schließlich kann Sprache nicht nur „Bedingung für Machtausübung“, sondern auch „selbst eine Macht“ darstellen (Klein 2010: 7). Thomas Hobbes hat – wie Jochen Bung in diesem Band hervorhebt – die Bedeutung von Sprache für Politik erkannt und ihr in seinem wohl bekanntesten und einflussreichsten Werk Leviathan ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem er u.a. feststellt, dass ohne Sprache bzw. Rede „unter den Menschen Gemeinwesen, Gesellschaft, Vertrag, Frieden ebensowenig statt[fänden] wie unter Löwen, Bären und Wölfen“ (Hobbes 2000: 28). Damit macht er letztlich deutlich, dass – wie es Norbert Wiener (zit. in Patzelt 1989: 58f.) ausgedrückt hat – „(gelingende) Kommunikation […] der Kitt [ist], der eine Gesellschaft zusammenhält“, und zudem das Fundament bildet, um gesellschaftliche Bindungen, etwa in Form von Verträgen, einzugehen. Vor dem Hintergrund ist die Frage naheliegend, welche Bedeutung die Sprache im Allgemeinen bzw. deren Performativität im Speziellen für Hobbesʼ Vertragstheorie hat. Doch trotz der hohen Relevanz der Sprache für die Politik sowie der Tatsache, dass Hobbes diese zweifelsohne erkannt hat, wird an dieser Stelle die These vertreten, dass Hobbesʼ Vertragstheorie gänzlich ohne Sprache || 1 Vgl. zur Vertragstheorie und Legitimitätsfrage bereits: Strohmeier (2005: 50ff.).

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auskommt: So sehr aus der Sprache Verträge hervorgehen und Verträge der Sprache bedürfen, so wenig ist der Hobbesʼsche Gesellschaftsvertrag ein Resultat der Sprache bzw. in irgendeiner Form darauf angewiesen. Fragt man nach der Bedeutung (der Performativität) der Sprache für den Vertrag, wie er in den Werken der klassischen Vertragstheoretiker, allen voran natürlich Thomas Hobbes sowie John Locke und Jean-Jaques Rousseau, aber auch in den Werken der modernen Vertragstheoretiker, etwa John Rawls, Robert Nozick und James M. Buchanan, natürlich mit zum Teil höchst unterschiedlichen Ausprägungen, eine Rolle spielt, ist es erforderlich, sich mit dem grundlegenden Ziel der Vertragstheorie sowie dem Wesen des ihr zugrunde liegenden Gesellschaftsvertrages auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt steht dabei „das kontraktualistische Argument“ – „die philosophische Gestaltung und argumentative Verknüpfung der den Vertragsbegriff entfaltenden strukturellen Trias von Vertragsvoraussetzung, Vertragseinigung und Vertragsresultat“ (Kersting 1996: 49). Im Folgenden wird zunächst das kontraktualistische Argument im Allgemeinen sowie anschließend das kontraktualistische Argument von Thomas Hobbes im Speziellen untersucht und dabei die Relevanz (der Performativiät) der Sprache geprüft.

2 Vom Ziel der Vertragstheorie und Wesen des Gesellschaftsvertrages Herrschaft bedarf der Legitimation, sei es, um sie nach innen abzusichern, nach außen zu verteidigen oder auch vor sich selbst zu rechtfertigen. Dies trifft keineswegs nur auf Demokratien, sondern grundsätzlich auf alle Staatsformen zu. Dabei lässt sich zwischen der Legitimation der Herrschaft (der Regierenden) einerseits und der Legitimation der Herrschaftsform (der staatlichen Ordnung) andererseits unterscheiden. Die Legitimation der Regierenden innerhalb einer im Rahmen der Herrschaftsform festgelegten Ordnung hat natürlich keine Aussagekraft über die Legitimation der Herrschaftsform als solche. So sagt z.B. die Legitimation eines Monarchen – etwa aufgrund der konkreten Erbfolgeregelung innerhalb einer Monarchie – nichts über die Legitimation der Monarchie an sich aus. Eine Antwort auf die Frage nach der Legitimation der Monarchie als Staatsform hat Robert Filmer in seinem Werk Patriarchia oder Die natürliche Gewalt der Könige gegeben, das sich als „Flagschiff des Royalismus im 17. Jahrhundert“ (Goldie 1985: 313) bezeichnen lässt. Darin war Filmer (1906: 47) – wie er selbst

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schreibt – „bemüht, die natürliche Einsetzung der königlichen Gewalt zu zeigen, und sie von der Unterwerfung unter eine willkürliche Wahl des Volks frei zu machen“: Da „die königliche Gewalt durch Gesetz Gottes“ bestehe, gebe „es kein untergeordnetes Gesetz [positives Recht], das sie beschränken könnte“ (Filmer 1906: 48). Filmer argumentierte, dass Adam „die gesamte Welt und alles, was auf ihr war, von Gott als persönliches Geschenk erhalten hatte“ und der Monarch „als direkter Nachfahr Adams […] als der einzige und universale Eigentümer des Landes und aller darin befindlichen Gegenstände und Vermögensgüter angesehen werden musste“ bzw. „als Abkömmling Adams dessen väterliche Autorität geerbt hatte, die als der Ur- und Legitimationsgrund aller politischen Herrschaft angesehen werden musste“ (Brocker 1992: 152f.). Damit rechtfertigte Filmer die absoluten Herrschaftsansprüche des Monarchen „über eine biblisch-historische Genealogie seiner Abstammung von Adam und einer damit verbundenen direkten Legitimation seiner Macht durch den Willen Gottes“ (Brocker 1992: 103f.). Es war John Locke, der sich im Streit um die englische Thronfolge mit dem „‚legitimistischen‘ Ideologen der Stuarts“ (Sternberger 1962: 26), gewissermaßen als „legitimistischer Ideologe der Whigs“, unmittelbar auseinander- und Filmers patriarchalischer Herrschaftstheorie eine neuzeitliche Vertragstheorie entgegensetzte (vgl. Brocker 1992: 147). Zuvor brach allerdings ein anderer mit den „traditionellen legitimierenden und autoritätsverleihenden Instanzen Natur, Gott und Herkommen“ (Kersting 1996: 11f.): Thomas Hobbes – der damit zum Begründer bzw. „Erfinder der neuzeitlichen politischen Philosophie“ (Kersting 1996: 59) wurde, die „in ihren historischen und systematischen Anfängen eine Philosophie der Herrschaftslegitimation“ (Kersting 1996: 11) ist. Danach ergibt sich das zu Legitimierende – eine Herrschafts- bzw. Staatsform – grundsätzlich aus einem Vertrag, den Individuen in einem Ur- bzw. Naturzustand schließen, und es tritt an die Stelle traditioneller metaphysischer bzw. theologischer Legitimationsinstanzen das kontraktualistische Argument (vgl. Kersting 1996: 15). Dieses spannt den argumentativen Bogen von der Vertragsvoraussetzung (dem Ur- bzw. Naturzustand) über die Vertragseinigung zum Vertragsresultat, wobei der Vertragsvoraussetzung eine zentrale Bedeutung zukommt (vgl. Kersting 1996: 49f.). Schließlich wird mit der Beschaffenheit des Ur- bzw. Naturzustands festgelegt, warum sich Menschen überhaupt einigen sollen, unter welchen Rahmenbedingungen sie sich einigen und in gewisser Weise auch, worauf sie sich einigen: „In ihr ist in nuce immer schon das gesamte kontraktualistische Beweisprogramm enthalten“ (Kersting 1996: 50). Entscheidend ist dabei, dass es den Vertrag und den Ur- bzw. Naturzustand weder gegeben hat noch geben wird – und auch gar nicht geben kann. Der Na-

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turzustand der klassischen Vertragstheoretiker ist ein fiktiver Zustand, in dem sich Menschen ohne von Menschen geschaffenen Rahmenbedingungen, d.h. ohne positives Recht, bewegen. Er ist gewissermaßen ein Zustand, der die gesamte menschliche Entwicklungsgeschichte ausblendet und die Menschen hypothetisch in die „Stunde null“ versetzt, in der es keinerlei staatliche Ordnung gibt. Auch der Vertrag ist ein fiktiver Vertrag: Es handelt sich nicht um einen Vertrag, den Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt tatsächlich eingegangen sind oder eingehen werden, sondern um ein rechtfertigungstheoretisches Konstrukt. Schließlich beschreibt der Kontraktualismus kein faktisches Ereignis, sondern ein Gedankenexperiment, das das zu Legitimierende dadurch rechtfertigt, dass es überzeugende Argumente dafür liefert, dass Menschen sich exakt dafür entscheiden würden, wenn sie sich in einem Ur- bzw. Naturzustand befänden und sich bei ihrer Entscheidung von individuell eigennützigen und rationalen Erwägungen leiten ließen. Damit ist die Vertragstheorie keine vertragsempiristische, sondern eine vertragsaprioristische Theorie – und der Rechtfertigungsgrund nicht die faktische Zustimmung der Menschen, sondern das überzeugende Argument des Vertragstheoretikers (vgl. Kersting 1996: 20 ff.). Der vertragsaprioristische Charakter der Vertragstheorie ist letztlich eine conditio sine qua non für die Entfaltung des kontraktualistischen Arguments: Nur weil der Ur- bzw. Naturzustand ein fiktiver Zustand ist, dessen Bewohner idealisierte homo oeconomici sind, und der Vertrag ein rechtfertigungstheoretisches Konstrukt bildet, kann sich das kontraktualistische Argument entfalten. Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, der (Performativität der) Sprache eine zentrale Bedeutung für den Gesellschaftsvertrag zuzuschreiben. Da der Kontraktualismus kein faktisches Ereignis, sondern ein Gedankenexperiment beschreibt, die Vertragstheorie keine vertragsempiristische, sondern eine vertragsaprioristische Theorie bildet und der Rechtfertigungsgrund nicht aus der faktischen Zustimmung der Menschen, sondern dem überzeugenden Argument des Vertragstheoretikers besteht, kann Sprache keine zentrale Bedeutung im Rahmen des kontraktualistischen Arguments entfalten. Schließlich ist der Gesellschaftsvertrag gerade nicht das empirische Produkt eines gesellschaftlichen Kompromisses, dem ein gesellschaftlicher Diskurs vorangeht, in dem Sprache ihre Wirkung entfalten kann, sondern das hypothetische Ergebnis einer fiktiven individuellen Entscheidung, der ein individuell eigennütziger und rationaler Abwägungsprozess unterstellt wird. Mit anderen Worten: Der dem Gesellschaftsvertrag der Vertragstheorie zugrunde liegende Konsens ist kein „deliberativ gewonnene[r], im Diskurs ermittelte[r] Konsens“, sondern ein „theoretisch deduzierter strategischer Kosens“ (Kersting 1996: 54).

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Würde der Kontraktualismus ein faktisches Ereignis beschreiben, die Vertragstheorie eine vertragsempiristische Theorie bilden und der Rechtfertigungsgrund in der faktischen Zustimmung der Menschen im Ur- bzw. Naturzustand bestehen, wäre also der Gesellschaftsvertrag das empirische Produkt eines gesellschaftlichen Kompromisses, dem ein gesellschaftlicher Diskurs vorangeht, und würde es sich bei dem – dem Gesellschaftsvertrag der Vertragstheorie zugrunde liegenden – Konsens um einen „deliberativ gewonnenen, im Diskurs ermittelten Konsens“ (Kersting 1996: 54) handeln, dann müsste der Kommunikation und damit der Sprache eine entscheidende Bedeutung zukommen. In diesem Falle ließe sich aber das kontraktualistische Argument nicht mehr entfalten bzw. der Vertragsschluss und das daraus folgende Legitimationsobjekt nicht mehr präjudizieren. Aus dem normativ-philosophischen Legitimitätskonzept, nach dem Legitimität von objektiv feststellbaren Anforderungen (hier: der Zustimmungswürdigkeit unter der Bedingung des Ur- bzw. Naturzustands sowie der individuell eigennützigen und rationalen Entscheidung) abhängt, würde in gewisser Weise ein empirisch-soziologisches Legitimitätskonzept, bei dem Legitimität mit faktischer Zustimmung bzw. empirisch messbarer Akzeptanz gleichgesetzt wird (hier: der tatsächlichen Zustimmung nach eingehender Diskussion bzw. Deliberation; vgl. Höreth 1999: 76f.). Die Vertragstheorie basiert aber gerade nicht auf einem empirisch-soziologischen Legitimitätskonzept, das nach der faktischen Anerkennung fragt, sondern auf einem normativ-philosophischen Legitimitätskonzept, das – in den Worten von Jürgen Habermas (1976: 39) – auf die „Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung“ zielt. Dabei wird auch deutlich, dass nicht die direkt-demokratische Zustimmung legitimitätsstiftend wirkt – weder im Rahmen des Vertragsschlusses noch danach (zumal der Vertragsschluss keineswegs zwingend zu einer demokratischen Staatsform führt bzw. führen muss). Legitimitätsstiftend ist damit gerade nicht die politische Dimension, die Fritz Scharpf (2000: 103) hinsichtlich der Legitimitätserzeugung als Input-Dimension etikettiert und, rekurrierend auf Abraham Lincolns „Gettysburg Adress“, mit „government by the people“ umschrieben hat. Legitimitätsstiftend ist allein die Folge des Vertrages und damit die politische Dimension, die Scharpf mit Blick auf die Legitimitätserzeugung als Output-Dimension definiert und, ebenfalls bezugnehmend auf Abraham Lincolns „Gettysburg Adress“, als „government for the people“ bezeichnet hat (vgl. Scharpf 2000: 103). Damit ergibt sich die Legitimität einer Herrschaftsform dadurch, dass sie in der Lage ist, „effiziente und effektive Problemlösungen zu produzieren, die den Bedürfnissen, Wünschen und Zielen der Regierten entsprechen“ (Höreth 1999: 85) – und sich deshalb die Bewohner eines fiktiven Ur-

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bzw. Naturzustands vor dem Hintergrund individuell eigennütziger und rationaler Motive exakt dafür entscheiden müssten. Vor dem Hintergrund wird deutlich, dass die Sprache im Allgemeinen bzw. deren Performativität im Speziellen prinzipiell keine Bedeutung für die Vertragstheorie hat – nicht etwa, weil Sprache keine Bedeutung für Politik hätte, sondern weil die Vertragstheorie keine Politik ist. Sie ist vielmehr die theoretische Rechtfertigung für Politik, die nur dann gelingen kann, wenn sie sich innerhalb des theoretisch-legitimatorischen Designs bewegt und nicht auf empirische Prozesse wie gesellschaftliche Diskurse abstellt. Vor dem Hintergrund ließe sich sogar argumentieren, dass die Vertragstheorie der Kommunikation und damit der Sprache nicht nur nicht bedarf, sondern nur ohne sie funktioniert. Diese allgemeine Feststellung für die Vertragstheorie soll nun anhand der Vertragstheorie von Thomas Hobbes näher erläutert werden.

3 Das kontraktualistische Argument bei Thomas Hobbes 3.1 Der Hobbesʼsche Naturzustand Bei oberflächlicher Lektüre von Hobbesʼ Leviathan mag zeitweilig durchaus der Eindruck entstehen, dass es den darin beschriebenen Naturzustand tatsächlich einmal gegeben hat. Schließlich mutet dieser realer an als etwa der Urzustand in John RawlsʼTheorie der Gerechtigkeit, in der der Urzustand hergestellt wird, indem die Menschen in einen „Schleier des Nichtwissens“ gehüllt werden, wodurch sie nicht wissen, „wie sich die verschiedenen Möglichkeiten [Gerechtigkeitskonzepte] auf ihre Interessen auswirken würden“, und gezwungen sind, „Grundsätze allein unter allgemeinen Gesichtspunkten [zu] beurteilen“ (Rawls 1979: 159). Da niemand „seine Stellung in der Gesellschaft und seine natürlichen Gaben“ kennt, „kann niemand Grundsätze auf seinen Vorteil zuschneiden“ (Rawls 1979: 163) und infolgedessen der „Schleier des Nichtwissens“ – dessen grundlegende Idee sich bereits Kants Ethik entnehmen lässt – „die einstimmige Annahme einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung“ (Rawls 1979: 164) ermöglichen. Rawls weist explizit darauf hin, „dass man sich den Urzustand nicht als eine Volksversammlung aller Menschen vorstellen darf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt leben, und noch viel weniger als eine Versammlung aller, die jemals leben könnten“ (Rawls 1979: 162). Schließlich „wäre diese Vorstellung keine natürliche Anleitung für die Intuition mehr und hätte keinen

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klaren Sinn“ (Rawls 1979: 162). Zudem hebt Rawls hervor, dass die Menschen im Urzustand „keinen Anlass zu Verhandlungen im üblichen Sinne haben“ (Rawls 1979: 163). Damit macht Rawls unmissverständlich deutlich, dass sein Kontraktualismus ein Gedankenexperiment ist – bei dem ein Gerechtigkeitskonzept dadurch legitimiert wird, dass sich Menschen in einem fiktiven ursprünglichen Zustand in Folge einer individuell eigennützigen und rationalen Abwägung dafür entscheiden müssten – nicht dadurch, dass sie sich in einem realen ursprünglichen Zustand in Folge einer gemeinsamen Verhandlung – in der die (Performativität der) Sprache eine tragende Rolle spielen würde – gemeinschaftlich darauf einigen. Zwar liest sich der Hobbesʼsche Kontraktualismus weniger wie eine Versuchsanordnung und weist Hobbes auch nicht wie Rawls explizit darauf hin, dass der von ihm beschriebene Naturzustand sowie der darauf fußende Vertragsschluss keine reale Entsprechung haben, doch hat die Vertragstheorie bei Hobbes grundsätzlich denselben Charakter wie bei Rawls – den eines Gedankenexperiments. Der Hobbesʼsche Naturzustand ist – gerade im Vergleich zu späteren Naturbzw. Urzustandskonzeptionen – äußerst schlicht gehalten, gerade deshalb aber so überzeugend. Kersting (1996: 80) hat die Beschreibung des Naturzustands bei Hobbes zu Recht als „das voraussetzungsärmste Naturzustandsargument des gesamten neuzeitlichen Kontraktualismus“ bezeichnet. Schließlich sind die aufgeführten Rahmenbedingungen, wie etwa die Knappheit der Güter sowie der machtpolitischen Ressourcen oder die grundsätzliche natürliche Gleichheit der Menschen (Hobbes 2000: 112ff.; Kersting 1996: 65ff.), eher selbstverständlich existierende Rahmenbedingungen als theoretisch definierte Restriktionen. Mit anderen Worten: Hobbes idealisiert Wesensmerkmale der (menschlichen) Natur und ignoriert alles, was, wie etwa das Naturrecht, grundsätzlich gerechtfertigt werden müsste, aber ohne externe Legitimationsinstanzen – die ihrerseits selbstverständlich der Rechtfertigung bedürf(t)en – prinzipiell nicht gerechtfertigt werden kann. Im Mittelpunkt des Hobbesʼschen Naturzustandes steht der Mensch – ein Mensch, „der in der Retorte der Methode“ entstanden ist, „nie existiert hat und nie existieren wird“, aber „eine wahre Beschreibung der menschlichen Natur“ liefert (Kersting 1996: 63). Diese führt dazu, dass die Menschen im Hobbesʼschen Naturzustand das beachten müssen, was schon Niccolò Machiavelli (1977: 17) in seinem Werk Discorsi weisen Verfassungsgebern zu beherzigen empfohlen hat: „dass alle Menschen schlecht sind und dass sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben“ – was natürlich nicht bedeutet, dass alle Menschen tatsächlich schlecht sind, aber man besser davon ausgehen sollte, dass sie es sind, da niemandem wirklich zu trauen ist.

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Nach Hobbes (2000: 115) sind es vor allem Mitbewerbung (Streben nach Herrschaft und Gewinn), Ruhm (Streben nach Ansehen und Anerkennung), jedoch auch Verteidigung (Streben nach Sicherheit und Wohlfahrt), die dafür sorgen, „dass die Menschen miteinander uneins werden“. Wichtig erscheint, dass es im Naturzustand von Hobbes durchaus Menschen gibt, „welche mit mäßigem Besitz zufrieden sind, nur sich und das ihrige zu verteidigen, nicht aber ihre Macht dadurch zu vermehren suchten, dass sie andere selbst angreifen“, diese aber „nicht lange bestehen können, weil es Menschen gibt, die sich entweder aus Machtgefühl oder aus Ruhmsucht die ganze Erde gern untertan machen möchten“ (Hobbes 2000: 114). Letztere zwingen Erstere schließlich, sich zur Wehr zu setzen, was dazu führt, „dass einer dem andern zuvorkommt oder so lange fortfährt, durch List und Gewalt sich alle anderen zu unterwerfen, als noch andere da sind, vor denen er sich zu fürchten hat“ (Hobbes 2000: 114) – und dass dadurch der Naturzustand zwangsläufig das Bild eines Kriegszustandes annimmt: eines „Krieg[es] aller gegen alle“ (Hobbes 2000: 115). In der Folge ist der Naturzustand ein unsicherer, unbefriedigender und unerträglicher Zustand, der von ständiger Angst und fortwährendem Misstrauen geprägt ist (vgl. Kersting 1996: 65). Entscheidend ist, dass es in diesem Natur- bzw. Kriegszustand kein Recht (und damit auch kein Eigentum) gibt: „Bei dem Kriege aller gegen alle kann auch nichts ungerecht genannt werden. In einem solchen Zustande haben selbst die Namen gerecht und ungerecht keinen Platz“ (Hobbes 2000: 117). Zwar spricht Hobbes von einem natürlichen Recht und natürlichen Gesetzen. Diese haben aber nichts mit einem Naturrecht gemein, wie es beispielsweise John Locke in seinem Werk Über die Regierung als integralen Bestandteil des Naturzustands beschrieben hat. So bildet der Naturzustand bei Locke (1999: 4) einen „Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes“, nach welchem „niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben, seiner Gesundheit, seiner Freiheit oder seinem Besitz Schaden zufügen soll“ (Locke 1999: 6). Damit ist Lockes Naturzustand ein „Rechtszustand, der das natürliche Gesetz als Verfassung besitzt“ (Kersting 1996: 116). Hobbesʼ Naturzustand ist hingegen „kein Naturrechtszustand“ – und Hobbes selbst damit „der erste Rechtspositivist in der Geschichte der politischen Philosophie“ (Kersting 1996: 73). Zwar räumt Hobbes den Menschen im Naturzustand ein „Recht auf alles“ ein (Hobbes 2000: 119); doch, wenn jeder grundsätzlich ein „Recht auf alles“ hat, dann besitzt prinzipiell niemand mehr ein Recht auf irgendetwas – wodurch das „Recht auf alles“ nur deutlich macht, „dass es im Naturzustand keinerlei Rechte gibt“ (Kersting 1996: 74). Zwar spricht Hobbes (2000: 118ff.) von natürlichen Gesetzen; doch handelt es sich dabei nur um

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„hypothetische Imperative“ (Kersting 1996: 73) bzw. „induktiv gewonnene Verhaltensregeln“ (Kersting 1996: 76): „einige zum Frieden führende Grundsätze“, welche die Vernunft liefert (Hobbes 2000: 118), aber eben keine höhere Autorität einfordern. Die natürlichen Gesetze lassen sich nach Hobbes mit dem Grundsatz zusammenfassen, dass niemand „dasjenige unternehmen darf, was er als schädlich für sich selbst anerkennt“ (Hobbes 2000: 118), bzw. (positiv formuliert) „andern das zu tun, was wir wünschen, dass es uns von andern geschehe“ (Hobbes 2000: 151) – eine Handlungsmaxime, die gemeinhin als „goldene Regel“ bekannt ist und weit vor Hobbes und natürlich auch danach in vielfältigen Schattierungen zu finden ist (vgl. dazu ausführlich: Höffe 2008: 118). Ein Abweichen von den natürlichen Gesetzen führt im Hobbesʼschen Naturzustand nicht zu Sanktionen, hat aber möglicherweise negative Folgen; ein Befolgen der natürlichen Gesetze hat indessen positive Folgen – allerdings nur solange man sicher sein kann, dass auch die anderen Naturzustandsbewohner die natürlichen Gesetze befolgen (vgl. Kersting 1996: 77), weshalb Hobbes die Befolgung der natürlichen Gesetze ausschließlich unter dieser Voraussetzung empfiehlt. So müsse etwa – nach dem zweiten natürlichen Gesetz – „jeder von seinem Rechte auf alles – vorausgesetzt, dass andere dazu auch bereit sind – abgehen“ (Hobbes 2000: 119). Aber gerade daran scheitert das Befolgen und infolgedessen die Wirksamkeit der natürlichen Gesetze. Schließlich ist nach Hobbes (2000: 151) all das, „was die natürlichen Gesetze fordern […], wenn die Furcht vor einer Zwangsgewalt wegfällt, den natürlichen Leidenschaften, Zorn, Stolz und den Begierden aller Art, gänzlich zuwider“. Der Grund dieses Scheiterns – des Scheiterns der (zwanglosen) Kooperation gemäß der natürlichen Gesetze – lässt sich spieltheoretisch sehr gut mit dem Gefangenendilemma erklären (Kersting 1996: 69ff.).

3.2 Die spieltheoretische Modellierung des Hobbesʼschen kontraktualistischen Arguments Nach der Originalversion des Gefangenendilemmas werden zwei Personen (A und B), die zusammen eine schwere Straftat verübt haben, verhaftet und – getrennt – verhört. Aufgrund des Fehlens von Zeugen hängt eine Verurteilung der beiden Personen von deren Geständnissen ab. Folglich haben A und B jeweils zwei Handlungsoptionen: zu gestehen (G) oder nicht zu gestehen (N). Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Handlungsoptionen ergeben sich folgende Konstellationen (vgl. Berninghaus et al. 2010: 14):

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 



Gesteht weder A noch B, werden beide aufgrund einer kleinen Straftat (unerlaubter Waffenbesitz), die nachweisbar ist, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt (Konstellation N/N). Gestehen sowohl A als auch B, werden beide aufgrund mildernder Umstände zu acht Jahren Gefängnis verurteilt (Konstellation G/G). Gesteht A, aber B nicht, wird A wegen der Kronzeugenregelung freigesprochen und B zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt (Konstellation G/N). Gesteht B, aber A nicht, wird B wegen der Kronzeugenregelung freigesprochen und A zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt (Konstellation N/G; vgl. Tabelle 1).

Tab. 1: Originalversion des Gefangenendilemmas. Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Berninghaus et al. (2010: 14) (G = gestehen; N = nicht gestehen; links stehend: Entscheidung bzw. Gefängnisjahre A; rechts stehend: Entscheidung bzw. Gefängnisjahre B).

B

A

G/G (8/8)

G/N (0/10)

N/G (10/0)

N/N (1/1)

Die für A beste Konstellation ist G/N – zu gestehen, während B nicht gesteht. Die für A schlechteste Konstellation ist N/G – nicht zu gestehen, während B gesteht. Die für B beste Konstellation ist N/G – zu gestehen, während A nicht gesteht. Die für B schlechteste Konstellation ist G/N – nicht zu gestehen, während A gesteht. Das bedeutet, dass sowohl A als auch B die für sie persönlich schlechteste Konstellation definitiv vermeiden und die für sie persönlich beste Konstellation unter Umständen erreichen, wenn sie gestehen. Gestehen sie jedoch nicht, werden sie die für sie persönlich beste Konstellation definitiv vermeiden und die für sie persönlich schlechteste Konstellation unter Umständen erreichen. Eine klar definierte – aber letztlich nicht entscheidende – Rahmenbedingung des Gefangenendilemmas ist, dass A und B streng separiert sind, d.h. getrennt untergebracht und verhört werden, und infolgedessen nicht in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Folglich können sich A und B nicht im gemeinschaftlichen Diskurs, sondern nur auf der Grundlage individueller

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eigennütziger und rationaler Erwägungen für eine der beiden Handlungsoptionen entscheiden. Von weitaus größerer Bedeutung als die Tatsache, dass A und B nicht miteinander kommunizieren können, ist allerdings, dass sich A und B nicht aufeinander verlassen können: A weiß zum Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht wie sich B entscheiden wird oder entschieden hat – und umgekehrt (vgl. Weimann 2008: 42ff.). Vor diesem Hintergrund werden sowohl A als auch B, wenn sie sich individuell eigennützig und rational verhalten, gestehen: Wenn A gesteht, ist es für B auch besser zu gestehen, da B im Falle des Gestehens zu acht und im Falle des Nicht-Gestehens zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wird; wenn A nicht gesteht, ist es für B immer noch besser zu gestehen, da B im Falle des Gestehens freigesprochen und im Falle des Nicht-Gestehens zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wird. Dasselbe gilt für A: Wenn B gesteht, ist es für A auch besser zu gestehen, da A in diesem Falle nicht zu zehn, sondern zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wird; wenn B nicht gesteht, ist es für A immer noch besser zu gestehen, da A in diesem Falle nicht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, sondern freigesprochen wird. Da es also für A – unabhängig davon, wie sich B entscheidet – und für B – unabhängig davon, wie sich A entscheidet – immer besser ist zu gestehen (und sich damit G für A und B als dominante Strategie erweist), wird am Ende – sofern sich A und B individuell eigennützig und rational verhalten – die Konstellation G/G eintreten, die sich damit als (eindeutiges) NashGleichgewicht2 des Gefangenendilemmas erweist (vgl. Weimann 2008: 42). Dass das Gefangenendilemma ein wahres Dilemma ist, wird dadurch deutlich, dass die Konstellation G/G vor dem Hintergrund des individuell eigennützigen und rationalen Verhaltens von A und B unausweichlich scheint, aber nicht pareto-effizient3 (bzw. pareto-optimal) ist, nicht den „Gesamtnutzen“ maximiert (also die gemeinsame Zahl der Gefängnisjahre minimiert) und schließlich nicht die für beide Akteure (gemeinsam) beste Lösung bildet (vgl. Weimann 2008: 42f.). Die Konstellation G/G ist deshalb nicht pareto-effizient, da bei ihr A und B zu acht Jahren Gefängnis verurteilt werden, während sie bei der Konstellation N/N nur zu einem Jahr Gefängnis verurteilt werden (wodurch die Konstellation G/G durch die Konstellation N/N strikt pareto-dominiert wird

|| 2 Das nach John Nash benannte Gleichgewicht beschreibt eine Konstellation, bei der niemand durch alleiniges Abweichen von seiner Strategie eine für sich bessere Situation erreichen kann (vgl. Berninghaus et al. 2010: 24). 3 Das nach Vilfredo Pareto benannte Optimum beschreibt einen Zustand, in dem niemand besser gestellt werden kann, ohne dass zugleich ein anderer schlechter gestellt wird (vgl. Sieg 2005: 5).

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bzw. die Konstellation N/N gegenüber der Konstellation G/G eine strikte ParetoVerbesserung darstellt; vgl. Morasch / Bartholomae 2011: 268). Die Konstellation N/N ist pareto-effizient, maximiert den „Gesamtnutzen“ und bildet schließlich die für beide Akteure (gemeinsam) beste Lösung – ist aber, wenn sich A und B individuell eigennützig und rational verhalten, unerreichbar (vgl. Weimann 2008: 42ff.). Dabei zeigt sich u.a., dass sich individuelle Rationalität (die im Gefangenendilemma für A und B zur suboptimalen Konstellation G/G führt) nicht zwingend mit kollektiver Rationalität (die für A und B im Vergleich zur Konstellation G/G zur wesentlich besseren Konstellation N/N führen würde) deckt bzw. individuelle Rationalität nicht zwingend zu kollektiv rationalen Ergebnissen führt und das Streben nach individuellem Eigennutz keineswegs – wie etwa der wichtigste Glaubenssatz der „unsichtbaren Hand“ unterstellt – zwangsläufig dem allgemeinen Wohl („Gemeinwohl“) dient (vgl. Berninghaus et al. 2010: 15). Zur für beide Akteure (gemeinsam) besten Konstellation N/N kann es allerdings nicht kommen, da A und B – ob sie miteinander kommunizieren können oder nicht – sich nicht aufeinander verlassen können, zumal es ihnen nicht möglich ist, bindende Verträge abzuschließen (vgl. Weimann 2008: 43ff.). Selbst wenn A und B miteinander kommunizieren könnten und sich darauf einigen würden, nicht zu gestehen, würde sich an der Situation grundsätzlich nichts ändern – solange keine verbindlichen Absprachen bzw. Sanktionen gegen das Brechen getroffener Absprachen möglich sind (vgl. Sieg 2005: 5). Ohne eine verbindliche Absprache bzw. wirksame Sanktion gegen das Brechen der getroffenen Absprache, müssten A und B, wenn sie individuell eigennützig und rational handeln, gestehen – nicht zuletzt, weil sie wissen, dass auch der jeweils andere individuell eigennützig und rational handelt (dieses Verhalten also Common Knowledge ist) und vor dem Hintergrund gestehen wird (vgl. Weimann 2008: 44). Schließlich besteht ein sogenanntes Commitment-Problem, nach dem A und B nur dann eine verbindliche Absprache treffen können, wenn ein Dritter das Einhalten der Absprache effektiv kontrolliert bzw. das Brechen der getroffenen Absprache wirksam sanktioniert – wodurch das Treffen und Einhalten einer Absprache zwischen A und B zu einer individuell eigennützigen und rationalen Strategie würde. Ein Dritter, der die Rahmenbedingungen des Gefangenendilemmas entscheidend verändern, die Absprache zwischen A und B absichern und damit das Dilemma durchbrechen bzw. die Konstellation N/N ermöglichen könnte, wäre z.B. eine kriminelle Vereinigung, der A und B angehören, die ihren Mitgliedern eine Schweigepflicht gegenüber Vertretern des Rechtsstaats auferlegt und das Brechen dieser Schweigepflicht mit dem Tod bestraft. Unter dieser Voraussetzung würden die individuell eigennützig und rational agierenden A und B – auch ohne miteinander zu kom-

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munizieren – nicht gestehen, da sie im Falle des Nicht-Gestehens (im besten und höchst wahrscheinlichen Fall) zu einem Jahr oder (im schlechtesten, aber höchst unwahrscheinlichen Fall) zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden, im Falle des Gestehens jedoch ihr Leben verlieren (vgl. Weimann 2008: 44). Überträgt man die Struktur des Gefangenendilemmas auf Hobbesʼ Vertragstheorie, zeigt sich, dass dessen Beschreibung des Naturzustands und Darstellung der Notwendigkeit des Vertragsschlusses letztlich „spieltheoretische Musterargumentationen“ sind (Kersting 1996: 70) – und der Hobbesʼsche Naturzustand ein Naturzustandsdilemma ist. Dieses wird im Folgenden zur Veranschaulichung in vereinfachter Form mit nur zwei Naturzustandsbewohnern dargestellt.4 Beide Personen (A und B) haben im Hobbesʼschen Naturzustand jeweils zwei Handlungsoptionen: (zwanglos) zu kooperieren (K), d.h. gemäß der natürlichen Gesetze zu handeln, oder nicht zu kooperieren (N). Dabei ist von zwei Prämissen auszugehen: erstens, dass die (zwanglose) Kooperation ein Opfer fordert – das Recht, sich selbst zu beherrschen (vgl. Hobbes 2000: 155), und damit die Aufgabe von Freiheit; zweitens, dass die Naturzustandsbewohner grundsätzlich bereit sind, dieses Opfer für die Erlangung von Sicherheit zu erbringen – dass also die Erlangung von Sicherheit für die Naturzustandsbewohner grundsätzlich wichtiger ist als der Erhalt von Freiheit (vgl. Kersting 1996: 71). Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Handlungsoptionen ergeben sich folgende Konstellationen: 







Kooperiert weder A noch B, befolgt also niemand die natürlichen Gesetze, bedeutet dies für beide keine Erlangung von Sicherheit und keine Aufgabe von Freiheit (Konstellation N/N). Kooperieren sowohl A als auch B, befolgen also beide die natürlichen Gesetze, bedeutet dies für beide Erlangung von Sicherheit und Aufgabe von Freiheit (Konstellation K/K). Kooperiert A, aber B nicht, befolgt also nur A die natürlichen Gesetze, bedeutet dies keine Erlangung von Sicherheit trotz Aufgabe von Freiheit für A und Erlangung von Sicherheit ohne Aufgabe von Freiheit für B (Konstellation K/N). Kooperiert B, aber A nicht, befolgt also nur B die natürlichen Gesetze, bedeutet dies keine Erlangung von Sicherheit trotz Aufgabe von Freiheit für B und Erlangung von Sicherheit ohne Aufgabe von Freiheit für A (Konstellation N/K; vgl. Tabelle 2).

|| 4 Dabei würde sich die Situation in einem N-Personen-Dilemma sehr ähnlich darstellen (vgl. Weimann 1995: 48 sowie Fußnote 5).

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Tab. 2: Vereinfachtes Naturzustandsdilemma. Quelle: Eigene Darstellung (K = kooperieren; N = nicht kooperieren; links stehend: Entscheidung A; rechts stehend: Entscheidung B).

B K/K (für beide Sicherheit und Aufgabe von Freiheit)

K/N (für A keine Sicherheit trotz Aufgabe von Freiheit; für B Sicherheit ohne Aufgabe von Freiheit)

N/K (für B keine Sicherheit trotz Aufgabe von Freiheit; für A Sicherheit ohne Aufgabe von Freiheit)

N/N (für beide keine Sicherheit und keine Aufgabe von Freiheit)

A

Die für A beste Konstellation ist N/K – nicht zu kooperieren, während B kooperiert. Die für A schlechteste Konstellation ist K/N – zu kooperieren, während B nicht kooperiert. Die für B beste Konstellation ist K/N – nicht zu kooperieren, während A kooperiert. Die für B schlechteste Konstellation ist N/K – zu kooperieren, während A nicht kooperiert. Das bedeutet, dass sowohl A als auch B die für sie persönlich schlechteste Konstellation definitiv vermeiden und die für sie persönlich beste Konstellation unter Umständen erreichen, wenn sie nicht kooperieren. Kooperieren sie aber, werden sie die für sie persönlich beste Konstellation definitiv vermeiden und die für sie persönlich schlechteste Konstellation unter Umständen erreichen.5 Entscheidend ist, dass A und B – selbst wenn sie sich im gemeinschaftlichen Diskurs darauf einigen könnten zu kooperieren – sich nicht aufeinander verlassen können. Vor diesem Hintergrund werden sowohl A als auch B, wenn sie sich individuell eigennützig und rational verhalten, nicht kooperieren: || 5 In einem N-Personen-Naturzustandsdilemma würde sich die Situation folgendermaßen darstellen: Die für einen einzelnen Naturzustandsbewohner beste Konstellation ist nicht zu kooperieren, während alle anderen Naturzustandsbewohner kooperieren; die für einen einzelnen Naturzustandsbewohner schlechteste Konstellation ist zu kooperieren, während alle anderen Naturzustandsbewohner nicht kooperieren – was wiederum bedeutet, dass der einzelne Naturzustandsbewohner die für ihn persönlich schlechteste Konstellation definitiv vermeidet und die für ihn persönlich beste Konstellation unter Umständen erreicht, wenn er nicht kooperiert, sowie die für ihn persönlich beste Konstellation definitiv vermeidet und die für ihn persönlich schlechteste Konstellation unter Umständen erreicht, wenn er kooperiert.

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Wenn A nicht kooperiert, ist es für B auch besser nicht zu kooperieren, da B weder im Falle des Nicht-Kooperierens noch im Falle des Kooperierens Sicherheit erlangt, das Kooperieren aber im Gegensatz zum Nicht-Kooperieren zur Aufgabe von Freiheit führt; wenn A kooperiert, ist es für B immer noch besser nicht zu kooperieren, da B sowohl im Falle des Kooperierens als auch im Falle des Nicht-Kooperierens Sicherheit erlangt, das Kooperieren aber im Gegensatz zum Nicht-Kooperieren wieder zur Aufgabe von Freiheit führt. Dasselbe gilt für A: Wenn B nicht kooperiert, ist es für A auch besser nicht zu kooperieren, da die Erlangung von Sicherheit in keinem Fall möglich ist, das Kooperieren aber zur Aufgabe von Freiheit führt; wenn B kooperiert, ist es für A immer noch besser nicht zu kooperieren, da die Erlangung von Sicherheit in jedem Fall möglich ist, das Kooperieren aber wieder zur Aufgabe von Freiheit führt. Da es also für A – unabhängig davon, wie sich B entscheidet – und für B – unabhängig davon, wie sich A entscheidet – immer besser ist, nicht zu kooperieren (und sich damit N für A und B als dominante Strategie erweist), wird am Ende – sofern sich A und B individuell eigennützig und rational verhalten – die Konstellation N/N eintreten, die sich damit als (eindeutiges) Nash-Gleichgewicht des Naturzustandsdilemmas erweist. Dass das Naturzustandsdilemma wie das Gefangenendilemma ein wahres Dilemma ist, wird dadurch deutlich, dass die Konstellation N/N vor dem Hintergrund des individuell eigennützigen und rationalen Verhaltens von A und B unausweichlich scheint, aber nicht pareto-effizient ist, nicht den „Gesamtnutzen“ maximiert (also Sicherheit für alle Naturzustandsbewohner garantiert) und schließlich nicht die für beide Akteure (gemeinsam) beste Lösung bildet. Die Konstellation N/N ist deshalb nicht pareto-effizient, da sie für A und B zwar keine Aufgabe von Freiheit, aber auch keine Erlangung von Sicherheit bedeutet, während die Konstellation K/K für A und B zwar die Aufgabe von Freiheit, aber die Erlangung von Sicherheit bedeutet (wodurch – unter der Prämisse, dass die Erlangung von Sicherheit für die Naturzustandsbewohner wichtiger ist als der Erhalt von Freiheit – die Konstellation N/N durch die Konstellation K/K strikt pareto-dominiert wird). Die Konstellation K/K ist pareto-effizient, maximiert den „Gesamtnutzen“ und bildet schließlich die für beide Akteure (gemeinsam) beste Lösung – ist aber, wenn sich A und B individuell eigennützig und rational verhalten, unerreichbar, da A und B – selbst wenn sie sich im gemeinschaftlichen Diskurs darauf einigen könnten zu kooperieren – im Naturzustand keine verbindliche Absprache treffen bzw. wirksame Sanktion gegen das Brechen der getroffenen Absprache vereinbaren können. Schließlich bedarf es eines Dritten, der das Einhalten der Absprache effektiv kontrolliert bzw. das Brechen der getroffenen

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Absprache wirksam sanktioniert – mit anderen Worten: eines institutionellen Arrangements, „das die Kooperationsnormen in Geltung setzt und in Geltung hält“ (Kersting 1996: 72). Dieses institutionelle Arrangement hat in Hobbesʼ Vertragstheorie die Gestalt des Staates bzw. des Leviathan. Mit ihm gelingt es, die Absprache zwischen den Naturzustandsbewohnern abzusichern und damit das Naturzustandsdilemma zu durchbrechen bzw. die Konstellation K/K zu ermöglichen. Schließlich hat der Staat nach Hobbes (2000: 160f.) die Aufgabe, „das Nötige zu veranstalten, damit die Bürger im Inneren und von außen her in Sicherheit leben“. Das „Nötige“ fällt bei Hobbes durchaus umfangreich aus (vgl. Hobbes 2000: 160ff.). Schließlich gebe „[d]as Recht auf den Zweck […] auch das Recht auf die Mittel“ (Hobbes 2000: 160). Damit ist der Leviathan für Hobbes „der sterbliche Gott, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben“ (Hobbes 2000: 155). Die Garantie von Frieden und Schutz bringt die Naturzustandsbewohner nach Hobbes letztlich zum Vertragsschluss, bei dem jeder sein Recht, sich selbst zu beherrschen, an den Staat abtritt, unter der Bedingung, dass alle anderen ebenfalls ihr Recht, sich selbst zu beherrschen, an den Staat abtreten (vgl. Hobbes 2000: 155): „Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschließen konnten, sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft trifft, zu unterwerfen, lag in dem Verlangen, sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen; oder mit anderen Worten, aus dem elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle gerettet zu werden“ (Hobbes 2000: 151). Auf die Frage nach der konkreten Form des Staates gibt Hobbes eine relativ eindeutige Antwort. Für ihn gibt es prinzipiell „nur dreierlei Staatsverfassungen“ (Hobbes 2000: 167), die Monarchie, die Aristokratie und die Demokratie, die sich neben der Zahl der Herrschenden auch in der Art unterscheiden, „wie die Bürger bei der Erhaltung des Friedens und Schutzes am besten mitwirken können“ (Hobbes 2000: 186). Dabei lässt Hobbes keinen Zweifel daran, dass die Monarchie den Gründungs- und Daseinszweck des Staates am besten erfüllen kann. Die Argumente, die Hobbes für die Monarchie anführt (vgl. Hobbes 2000: 169ff.), etwa, dass ein Monarch nicht „mit sich selbst uneinig sein kann“ (Hobbes 2000: 170), überzeugen natürlich nicht, machen jedoch deutlich, dass es Hobbes keineswegs darum geht, demokratische Strukturen zu rechtfertigen, und er allein die Output-Dimension – die Leistungserbringung – des politischen Systems als Rechtfertigungsgrund staatlicher Herrschaft anerkennt. Damit hat die Demokratie in Hobbesʼ Überlegungen ebenso wenig einen Stellenwert wie der (demokratische) Diskurs.

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Anhand der Vertragstheorie von Thomas Hobbes lässt sich die generelle Feststellung, dass die Sprache im Allgemeinen bzw. deren Performativität im Speziellen prinzipiell keine Bedeutung für die Vertragstheorie hat, sehr gut nachvollziehen. Es zeigt sich, dass der Hobbesʼsche Kontraktualismus – ebenso wie der Rawlsʼsche – ein Gedankenexperiment ist. So wird bei Hobbes staatliche Herrschaft nicht dadurch gerechtfertigt, dass sich Menschen in einem realen ursprünglichen Zustand tatsächlich nach einer Verhandlung – in der die (Performativität der) Sprache eine tragende Rolle spielen würde – gemeinschaftlich darauf einigen, sondern dadurch, dass sich Menschen in einem fiktiven Naturzustand als individuell eigennützige und rationale Akteure dafür entscheiden müssten. Diese Feststellung lässt sich durch die spieltheoretische Modellierung des kontraktualistischen Arguments von Thomas Hobbes untermauern, die deutlich zeigt, dass die Hobbesʼschen Überlegungen „spieltheoretische Musterargumentationen“ sind (Kersting 1996: 70), bei denen es letztlich nicht entscheidend ist, ob die beteiligten Personen miteinander kommunizieren oder nicht, sondern, ob sich die beteiligten Personen aufeinander verlassen können oder nicht.

4 Fazit Politik bedarf – wie eingangs festgehalten – in vielfältiger Weise der Sprache. Die Vertragstheorie ist allerdings keine Politik, sondern die theoretische Rechtfertigung dafür. So kommt die Vertragstheorie, wie am Beispiel der Hobbesʼschen Vertragstheorie deutlich gemacht wurde, gänzlich ohne Sprache aus. Schließlich ist sie nichts anderes als ein Gedankenexperiment – spieltheoretische Deduktion mit dem Ziel einer normativ-philosophischen Legitimation. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Hobbes die Bedeutung von Sprache für Politik nicht erkannt hätte. Zu Recht stellt er im vierten Kapitel des ersten Teils seines Werks Leviathan („Von der Rede“) fest, dass ohne Sprache bzw. Rede „unter den Menschen Gemeinwesen, Gesellschaft, Vertrag, Frieden ebenso wenig statt[fänden] wie unter Löwen, Bären und Wölfen“ (Hobbes 2000: 28). Dabei handelt es sich allerdings um echte Verträge, wirkliche Gesellschaften und vor allem reale Menschen – nicht um deren idealisierte hypothetische Form, die viel später, ab dem dreizehnten Kapitel des ersten Teils des Leviathan („Von den Bedingungen der Menschen in Bezug auf das Glück ihres Erdenlebens“), in einem völlig neuen Kontext – nämlich dem des kontraktualistischen Arguments – diskutiert wird. Dort ist es gerade die Wolfsnatur des „natürlichen“ Menschen, die Tatsache, dass der Mensch im Naturzustand, ob aus Habgier oder Vorbeu-

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gung, wie es Hobbes im Widmungsschreiben seines Werkes Vom Bürger (1994: 59) formuliert hat, „ein Wolf für den Menschen“ ist, vor deren Hintergrund Hobbes sein kontraktualistisches Argument zur Entfaltung bringt – das im Übrigen nicht zuletzt durch die Sprache zu einem der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie der Neuzeit wurde (Kersting 1996: 4ff.).

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| Teil 4: Pragmatik und Semantiken des sprachlichen Handelns auf dem Feld des Rechts

Julia Muschalik

„Performance“ ohne Performative Über Kraft und Wirkung krimineller Drohungen

1 Performative – performativ – „Performance“ Kaum eine sprachwissenschaftliche oder sprachphilosophische Dichotomie hat sich außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes so stark verbreitet und gewandelt wie das von John L. Austin (1962) geprägte Gegensatzpaar performativkonstativ. Anfänglich in der Sprechakttheorie geprägt, um den grundlegenden Unterschied zwischen zwei Arten von Äußerungen zu konzeptualisieren, hinterfragte bereits Austin selbst innerhalb seiner Vorlesungsreihe einen streng gegensätzlichen Charakter dieser beiden Arten von Äußerungen. Die vielbeschworene klare Trennung zwischen solchen sprachlichen Ausdrücken, die sich primär durch verifizierbare Wahrheitsbedingungen auszeichnen, und solchen, deren primäre Funktion darin besteht Handlungen zu vollziehen, hielt bekanntermaßen in ihrer radikalsten Form Austins eigener argumentativer Entwicklung nicht Stand (vgl. u.a. Austin 1962: 110ff.).1 An ihre Stelle rückte in den späteren Vorlesungen aus der ‚How to do things with words‘-Reihe die Trichotomie aus Lokution, Illokution und Perlokution, eingeführt, um die verschiedenen Aspekte eines Sprechakts – Wortlaut, Sprecherintention und Wirkungspotential – zu beschreiben (vgl. Austin 1962: 123ff.). Trotzdem blieb der Begriff der Performativität zentral. An die Überlegungen Austins anschließend, entwickelte sich in konzentrischen Kreisen ein dichtes Feld an Theorien aus verschiedenen Anwendungsgebieten um den Begriff der Performativität, der performativen Kraft und anverwandter Konzepte wie dem der Performanz herum. Der Referenzrahmen wird dabei stetig weiter gefasst und der Begriff entwickelt sich von seinem Ursprung als „[...] terminus technicus der Sprechakttheorie zu einem umbrella term der Kulturwissenschaften [...]“ (Wirth 2002: 10).2 Auch in einer Rechtsphilosophie, die Recht vor allem als sprachliches Phänomen fasst, hat sich das

|| 1 Für eine ausführliche Diskussion s. u.a. Doerge (2011). 2 Einflussreiche Arbeiten stammen aus den Bereichen der Theaterwissenschaft (z.B. FischerLichte / Kolesch 1998), der Philologie (z.B. Hamscha 2013) und dem Forschungsbereich der Gendertheorie (z.B. Butler 1997).

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Konzept als äußert fruchtbar erwiesen.3 Dabei bildet die Überzeugung, dass Sprache eines der effektivsten Werkzeuge des Menschen ist, das gemeinsame Zentrum.4 Mit Sprache, so der Grundgedanke, können Dinge nicht nur beschrieben oder abgebildet, sondern auch getan, erschaffen, durchgeführt werden. Nahezu jede der Ausformungen unter dem gemeinsamen begrifflichen „Schirm“ bildete in der Folge allerdings andere Schwerpunkte aus. Um einen kohärenten Diskurs zu ermöglichen, wird der Ambiguität in der Verwendung dieses Begriffspaars oder seiner Teile daher mit einer vorangestellten Begriffsbestimmung begegnet. Der vorliegende Artikel bedient sich eines Performativitätsbegriffs, der an das frühe Stadium der Austinschen Sprechakttheorie angelehnt ist. Als performativ sind demzufolge jene Äußerungssituationen anzusehen, „[...] in denen etwas sagen etwas tun heißt; in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen“ (Austin 2002: 35, Hervorhebung im Original). Dabei sind die Begriffsgrenzen bedeutend weiter gefasst als beispielsweise in den Ausführungen Searles, der der Austinschen Auffassung, dass nahezu jede Sprachhandlung explizit oder implizit performativ sein könne, widersprach und der stattdessen den grammatischen und lexikalischen Sonderstatus bestimmter Äußerungsformen betonte.5 Die Unterteilung in explizite und implizite oder primitive Performative trug seiner Ansicht nach zur Verwässerung der Begrifflichkeiten insgesamt bei. Another distinction which didn’t work is that between explicit and implicit performatives, e.g., the distinction between „I promise to come“ (explicit) and „I intend to come“ (implicit). This distinction doesn’t work because in the sense in which the explicit performatives are performatives the implicit cases aren’t performatives at all. […] I believe the correct way to situate the notion of performatives within a general theory of speech acts is as follows: some illocutionary acts can be performed by uttering a sentence containing an expression that names the type of speech act […]. These utterances, and only these, are correctly described as performative utterances. On my usage, the only performatives are what Austin called „explicit performatives.“ Thus, though every utterance is indeed a performance, only a very restricted class are performatives. (Searle 1989: 536.)

|| 3 Vgl. dazu die Arbeiten von Müller-Mall (2012, 2013 und in diesem Band). 4 Sprache als Werkzeug zu einem Objekt zu stilisieren ist eine nicht unumstrittene Metapher. Eine umfangreiche Kritik übt beispielsweise Gadamer (1970), in dessen Vorstellung die Sprache dem Menschen nicht als Entität zur Verfügung steht, sondern untrennbar mit dem menschlichen Geist, dem Verständnis und der Erkenntnis verbunden ist. 5 Vgl. u.a. Doerge (2013) für einen Überblick über die Diskussion um „Ursprünglichkeit“ und die Abgrenzung der Begriffe Performativität und Illokution.

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Der Fokus dieser Studie liegt daher im Searlschen Sinne eher auf der „performance“ eines illokutionären Aktes. Dieser Akt wird von Sprechern scheinbar ohne Verwendung (expliziter) Performative vollzogen und seine performative Kraft wird nichtsdestotrotz – so die These – in ihrer Wirkung auch von Dritten erkannt. Dies scheint vor allem dann notwendig, wenn diese illokutionären Akte zum Gegenstand des Rechtsdiskurses werden. Es geht um (kriminelle) Drohungen.

2 Wann ist eine Äußerung eine ‚echte‘ Drohung? Der US-Amerikaner James Wooten betritt am 23. September 2010 eine Bank in Gordonsville, Tennessee, mit der Absicht, diese auszurauben. Wooten geht an einen Schalter, legt beide Hände sichtbar auf den Tresen und teilt dem Kassierer in einem, wie dieser es später nennt, entspannten Ton mit „I am going to rob you.“ Als diese Ankündigung keine Reaktion hervorruft fügt er hinzu „I have a gun.“ Der Kassierer händigt Wooten daraufhin Geld aus, dieser verlässt die Bank und wird kurze Zeit später gestellt. Wooten gesteht den Bankraub, sieht sich in dem nachfolgenden Verfahren aber mit einem weiteren Vorwurf konfrontiert: seine Äußerung „I have a gun“ wird vom Gericht als threat of death, als Todesdrohung, gewertet, ein Umstand, der zu einer nicht unerheblichen Erhöhung des Strafmaßes führt. Wooten geht in Revision und bekommt Recht, die Strafmaßerhöhung wird aufgehoben. Die Argumentation der Berufungsentscheidung widerspricht dem ursprünglichen Urteil basierend auf dem zentralen Argument, dass die vermeintliche Todesdrohung laut Aussage der Zielperson keine oder nicht die erwünschte Wirkung gehabt habe. Das Gericht führt aus, dass es sich bei der Aussage „I have a gun“ im Kontext eines Bankraubes zwar potentiell um eine Todesdrohung handeln könne, sieht dieses Potential aber im konkreten Fall nicht als ausgeschöpft an. Begründet wird dies dadurch, dass der von Wooten bedrohte Kassierer später zu Protokoll gibt, sich zu keiner Zeit durch den Angeklagten ernsthaft bedroht gefühlt zu haben.6 Um zu einer Entscheidung in Fällen wie diesen zu gelangen, musste das Gericht festlegen, ob die fragliche Äußerung eine Drohung ist, wenn auch eine indirekte. Damit einher geht eine Entscheidung darüber, was eine Äußerung zu einer Drohung macht. Im Fall Wooten lässt der Wortlaut zweifelsohne die Interpretation zu, dass der Angeklagte bei Nichtkooperation des Kassierers die besagte Pistole

|| 6 U.S. v. Wooten, 689 F.3d 570 (2012).

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auch einsetzt. Wörtlich mit dem Einsatz gedroht – das schlussfolgert auch das Gericht – hat Wooten damit aber nicht. Trotzdem wird der Aussage ein grundsätzliches Potential zugesprochen, einen Adressaten in einen Bedrohungszustand zu versetzen. Dies sei aber hier nicht der Fall gewesen. Ist eine Äußerung also allein durch ihre tatsächliche Wirkung auf den Adressaten eine Drohung? An dieser Frage scheiden sich die (Gerichts-)Geister.7 Unter einer Drohung versteht man oft den Ausdruck einer Absicht, einer Zielperson zukünftig Schaden zuzufügen, meist mit einem konkreten Ziel der Beeinflussung.8 Eine Drohung kann dabei sowohl verbal als auch non-verbal ausgedrückt werden und kann darüber hinaus, falls der angedrohte Schaden beispielsweise die Grundrechte der Zielperson betrifft, an eine bestimmte Gruppe von Zielpersonen gerichtet ist oder zum Ziel hat, Verhaltensweisen bei der Zielperson zu erzwingen, eine strafrechtlich verfolgbare Handlung darstellen. Damit gehören Drohungen zu einer Reihe von Straftaten, die durch Äußerungen allein begangen werden können. Zu dieser Gruppe von Äußerungen zählen unter anderem auch Meineid, Erpressung, Verschwörung, Beleidigung oder Verleumdung (vgl. Shuy 1993; Solan / Tiersma 2005, 2012). Dass eine Straftat durch Worte allein begangen wird, scheint auf den ersten Blick aber zumindest ungewöhnlich. Und tatsächlich sind entsprechende Aussagen häufig nur ein Bestandteil einer umfassenderen kriminellen Handlung, begleitet zum Beispiel von körperlicher Gewalt (vgl. Solan / Tiersma 2005: 199). Zudem werden drohende Äußerungen regelmäßig durch entsprechende Mimik, Gestik oder auch eine distinktive Intonation unterstützt. Der Zusammenhang zwischen der Wirkung einer Drohungsäußerung und einer „drohenden Intonation“ wird beispielsweise von Watt et al. (2011) untersucht. In einer ersten empirischen Studie || 7 Vgl. beispielsweise die unterschiedlichen Argumentationen in U.S. v. Aragon, 947 F.Supp. 426 (1996); U.S. v. Summers, 176 F.3d 1328 (1999) oder U.S. v. Jennings, 439 F.3d 604 (2006), wo jeweils ein ähnlicher Sachverhalt mit leicht abweichendem Wortlaut verhandelt wird. 8 Solch eine allgemeine Definition findet sich beispielsweise in Meyers Lexikon, wo eine Drohung beschrieben wird als „Handlungsweise, durch die man einem andern die Zufügung gewisser Nachteile in Aussicht stellt“ (Artikel „Drohung“, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 5, Sp. 207 bis 208 [http://www.woerterbuchnetz.de/Meyers?lemma=drohung [Abrufdatum: 12.06.2015]). Im Duden wird zusätzlich noch auf die damit verbundene Absicht hingewiesen, jemanden zu beeinflussen (drohen, http://www.duden.de/node/743904/– revisions/1387199/view).

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kommen sie allerdings zum dem Ergebnis, dass die Intonation alleine den drohenden Charakter einer Äußerung zwar verstärken, nicht aber alleine tragen kann. Die Ergebnisse dieser Studie deuten unter anderem darauf hin, dass die zentrale Wirkung durch den Wortlaut und den Gesamt-Kontext einer Äußerung erzeugt wird. Die folgende Analyse beschränkt sich jedoch auf rein verbale und potentiell kriminelle Drohungen. Um auf Austins Verständnis einer performativen Äußerung zurückzukommen, stehen also jene Äußerungen im Fokus, bei denen Sprecher vermeintlich drohen, indem sie etwas sagen. Drohungen werden, wie andere Sprechakte auch, häufig indirekt geäußert, das heißt der geäußerte Wortlaut macht die Handlungsabsicht nicht notwendigerweise explizit, wie auch im Fall des Bankräubers Wooten. Und bei potentiell strafbaren Sprechakten scheint es sogar naheliegend, dass Sprecher es den Adressaten überlassen, eine Drohung als solche zu erkennen, um im Falle einer Anklage eine glaubwürdige Abstreitbarkeit zu ermöglichen (vgl. Tiersma / Solan 1999: 204). Werden solche vermeintlichen Drohungen, wie im geschilderten Beispiel, Gegenstand eines Rechtsstreites, müssen Dritte eindeutig bestimmen, ob es sich bei einer Aussage tatsächlich um eine Drohung im rechtlich verfolgbaren Sinne handelt. Bereits Austin (2002: 138) bemerkte: „Ein Richter, der hört, welche Worte geäußert worden sind, muß entscheiden können, welche lokutionären und welche illokutionären Akte vollzogen worden sind [...].“ Das bedeutet in der Praxis nichts anderes als den fraglichen Aussagen das Potential zuzugestehen, eine entsprechende performative Kraft zu besitzen. Dabei gilt es häufig zu unterscheiden, ob Äußerungen lediglich unbedachter Ausdruck von Ärger oder Unmut sind, ohne konkrete Drohungsabsicht, ob es sich um rhetorische Figuren handelt, beispielsweise im politischen Diskurs und zwar auch solche, die möglicherweise verletzend oder vulgär sind, oder ob eine Aussage tatsächlich als Ausdruck einer Handlungsabsicht mit entsprechender Wirkung gelten kann. Auf den Aspekt der Wirkung auf den Adressaten wird in den einschlägigen amerikanischen Paragraphen explizit hingewiesen, ein Umstand der in der Berufungsentscheidung zum Fall Wooten besonders hervorgehoben wird. Um den Tatbestand der Drohung zu erfüllen, müsse eine Äußerung dergestalt sein, dass sie nicht nur eine Handlungsabsicht glaubhaft ausdrücke, sondern zusätzlich durch den Ausdruck dieser Handlungsabsicht den Adressaten in einen begründeten Bedrohungszustand versetzt. Wörtlich heißt es beispielsweise in der entsprechenden Passage des kalifornischen Strafgesetzes „[...]thereby causes that person reasonably to be in sustained fear [...]“9. Eine Formulierung

|| 9 West’s Ann.Cal.Penal Code § 422.

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die stark an Austins Konzept der Perlokution erinnert. Im Original heißt es dort „[w]e must distinguish the illocutionary from the perlocutionary act: for example we must distinguish ‚in saying I was warning him‘ from ‚by saying it I convinced him, or got him to stop‘“ (vgl. Austin 1962: 109, Hervorhebung JM). Doch ein Sprecher, so Austins Argumentation weiter, kann diese Wirkung nur teilweise kontrollieren. Demnach könne er zwar bewusst entscheiden, was er tut, indem er etwas sagt, es läge aber außerhalb seiner Kontrolle, welche Wirkung er erziele, dadurch dass er etwas sagt. In einer späteren Passage wird die Unbestimmbarkeit der Wirkung einer Aussage folgendermaßen beschrieben: „Wir nehmen immer eine kürzere oder längere Kette von »Wirkungen« oder »Folgen« mit herein, wobei einige davon »unbeabsichtigt« sein können.“ (Austin 2002: 124) Darum erscheint es auch nicht verwunderlich, dass Austin es zwar für möglich hielt – sogar für notwendig in entsprechenden Kontexten –, dass ein Richter Lokution und Illokution einer Äußerung rekonstruieren könne, „[...] nicht aber welche perlokutionären Akte vollendet sind.“ (Austin 2002: 138) Genau darin bestünde aber die Beurteilung der Wirkung einer Äußerung, auch im Fall Wooten. Gilt hier demzufolge, dass Wooten versuchte dem Kassierer zu drohen, indem er sagte „I have a gun“ aber bei diesem nicht die Wirkung des sich bedroht Fühlens erzielte und lag damit tatsächlich keine Drohung vor? Eine Drohung im strafrechtlich verfolgbaren Sinne definiert sich also einerseits durch den Ausdruck einer Handlungsabsicht und andererseits durch die Wirkung dieses Ausdrucks. Erst beides zusammengenommen verleiht der Äußerung ihre performative Kraft. Ein solcher Kraftbegriff orientiert sich an einer fast physikalischen Definition, frei nach Newton, wonach Kraft erst durch Wirkung sichtbar wird (vgl. u.a. Staffeldt 2007: 146). Liegt die performative Kraft einer Drohung somit zwischen Illokution und Perlokution? Und wie wird der Zusammenhang zwischen einer Äußerung und ihrer Wirkung auf den Adressaten, ergo ihrer Kraft, durch Dritte rekonstruiert? Die vorliegende Studie untersucht anhand von authentischen Fallbeispielen aus dem amerikanischen Rechtssystem wie Kraft und Wirkung krimineller Drohungen durch Dritte interpretiert und evaluiert werden. Zu diesem Zweck wurde ein Korpus aus Urteilsbegründungen gebildet. Aus diesem Korpus (CoJO, Corpus of Judicial Opinions) wurden, zusätzlich zu der enthaltenen Argumentation, auch Wortlaute von 301 Drohungsäußerungen extrahiert. Diese 301 Drohungsäußerungen und die dazugehörigen Urteilsbegründungen werden qualitativ analysiert und nach wiederkehrenden Problemfeldern klassifiziert. Durch den Fokus auf wiederkehrende Streitfragen wird ein Einblick darin gewonnen, welche Faktoren maßgeblichen Einfluss darauf haben, wann eine Drohung eine (rechtlich) echte Drohung ist. Hierbei geht es nicht darum Position zu andau-

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ernden Diskussionen innerhalb der Sprechakttheorie zu beziehen oder einen Beitrag zu einer ausführlichen Austin Exegese zu leisten, sondern darum, zu zeigen, inwieweit sich bestimmte theoretische Fragen in der Praxis des juristischen Alltags wiederfinden lassen. Und letztlich, welche Rückschlüsse diese auf die Bewertung der performativen Kraft eines Ausdrucks auch im täglichen Sprachgebrauch zulassen. Nach einer Erläuterung der verwendeten Daten und Methodologie in Abschnitt 3, folgt in Abschnitt 4 ein Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand zu verbalen Drohungen. Hierbei werden im Wesentlichen die Aspekte verbaler Drohungen besprochen, die sich in der nachfolgenden Analyse der Evaluation durch Dritte wiederfinden lassen. Abschnitt 5 widmet sich der Auswertung der Ergebnisse und es werden die zwei zentralen Problemfelder vorgestellt, die sich aus dieser Analyse von Kraft und Wirkung ergeben. Abschließend werden die Positionen in Abschnitt 6 zusammengefasst. Alle verwendeten Beispiele und wörtlichen Zitate stammen, soweit nicht anders angegeben, aus CoJO.

3 Daten und Methodologie: Drohungen vor Gericht Eine vieldiskutierte Frage in der pragmatischen Erforschung von Sprechakten ist die Relevanz authentischer Sprachdaten (vgl. z.B. Jucker 2009; Jautz 2013). Während die Mehrheit der vorliegenden Studien und vor allem die einflussreichen Arbeiten Austins und Searles sich dem Forschungsgegenstand aus einer introspektiven Perspektive näherten, fand innerhalb der Sprechaktforschung ab den 1980er Jahren eine Hinwendung zu empirischen Ansätzen und der Erforschung authentischer Sprachdaten statt.10 Die Methoden der Datenerhebung sind dabei unterschiedlich und werden auf Fragestellung und Untersuchungsgegenstand abgestimmt (vgl. z.B. Beebe / Cummings 1996). Als eine besondere Hürde in der Erforschung von Sprechakten und gerade auch in der Erforschung von Drohungen gilt oft der Mangel an formalen Bestimmungskriterien. Während Sprechakte, die mit konventionellen Formen assoziiert sind, wie zum Beispiel Entschuldigungen, über eben diese Formen (beispielsweise Entschuldigung, Sorry, Excuse me, Pardon und andere) in Korpora geschriebener und || 10 Vgl. hierzu vor allem die umfangreichen Arbeiten von Blum-Kulka, Kasper und Kollegen zur Erforschung interkultureller Kommunikation, bspw. Blum-Kulka / House / Kasper (1989).

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gesprochener Sprache gesucht werden können, macht der Mangel an formalen Bestimmungskriterien das Durchsuchen von großen Textsammlungen nach Drohungen, nur auf Basis von Oberflächenmerkmalen, nahezu unmöglich.1112 Als Alternative wird bei der Erforschung auch anderer Sprechakte, wie Aufforderungen oder Entschuldigungen, deshalb auf die Verwendung von Sprachdaten aus Rollenspielen oder so genannten discourse completion tasks zurückgegriffen. Hierbei werden Sprecher gebeten, sich in eine bestimmte Rolle oder Situation hineinzudenken und einen Dialogausschnitt zu vervollständigen oder einen Beitrag zu entwerfen. Vor- und Nachteile dieser Methoden sind vielfältig diskutiert worden (vgl. Jucker 2009). Für Drohungen erweisen sich diese Methoden nur als eingeschränkt einsetzbar. Damit fallen sowohl bereits vorhandene Sprachdaten aus Korpora, als auch experimentell erhobene Daten als Analysegrundlage weg. In ihrer 1984 veröffentlichten Studie zu Drohungen im Gerichtssaal bemerkt Harris diese problematische Datenlage und beklagt die wenigen Kontexte, in denen Drohungen vorhersehbar und kontrollierbar auftreten (Harris 1984: 249). Die richterlichen Urteilsbegründungen, die der vorliegenden Analyse zugrunde liegen, stellen als Datenquelle deshalb eine gute Alternative dar. Aus ihnen geht einerseits der Wortlaut der Drohungsäußerung hervor und andererseits enthalten sie in Form des Urteilsspruchs eine Art Charakterisierung der Äußerung und ihrer Wirkung. Diese Charakterisierung wird durch die beteiligten Parteien und den oder die Richter vorgenommen und die Urteilsbegründung als Datenquelle ähnelt somit fast einer Laborsituation, in der Versuchspersonen das Drohungspotential einer Äußerung bewerten sollen, mit dem Vorteil, dass eine Verzerrung der vorliegenden Daten wie beispielsweise durch das observer’s paradox ausgeschlossen werden kann.13 Diese Art von Daten gibt demzufolge sowohl einen Einblick in die diskursiven Strategien die Sprecher verwenden, um zu drohen, als auch in die Art und Weise wie diese durch die Zielperson/Zielpersonen und durch Dritte interpretiert und evaluiert werden. Aufgrund der schriftlichen Form der Daten müssen allerdings verschiedene bereits angesprochene Aspekte des mündlichen Diskurses wie Intonation oder Pausen vollständig aus der Analyse ausgeschlossen werden. Um das dieser Studie zugrundeliegende Korpus CoJO zusammenzustellen, wurde aus der juristischen Onlinedatenbank Westlaw mithilfe von Suchanfragen, Schlagwortsuchen und Fallzitaten (in Form von Hyperlinks) eine Gesamt-

|| 11 Diese Beobachtung beschränkt sich auf eine computergestützte, bzw. automatisierte Suche nach Oberflächenmerkmalen in großen Textsammlungen ohne Textsortenunterscheidung. 12 s. auch Abschnitt 3 für formale Eigenschaften von Drohungsäußerungen. 13 Wie unter anderem von Labov (1972: 290) beschrieben.

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anzahl von 266 Urteilsbegründungen extrahiert. Da es sich bei den berücksichtigten Begründungen fast ausschließlich um Berufungsentscheidungen handelt, werden in allen Fällen eine oder mehrere Drohungsäußerungen explizit unter dem Aspekt ihres Drohungspotentials, d.h. ihrer performativen Kraft diskutiert. Dabei bilden die Äußerungen entweder die alleinige Grundlage der Anklage, sind definierender Teilaspekt einer anderen Straftat oder beeinflussen das Strafmaß, wie im Fall Wooten.14 Die betreffenden Fälle wurden über einen Zeitraum von nahezu 100 Jahren verhandelt. Aus der Menge aller Urteilsbegründungen, die vollständige, d.h. verwertbare, wörtliche Zitate der betreffenden Drohungsäußerungen enthalten, wurde in einem zweiten Schritt das Subkorpus CoTQ (Corpus of Threat Quotes), bestehend aus insgesamt 212 Urteilsbegründungen gebildet. Die enthaltenen Zitate sind entweder Abschriften mündlicher Drohungen, basierend auf Aufnahmen oder Zeugenaussagen, oder Wiedergaben schriftlicher Drohungen. Da die Mehrheit der Urteilsbegründungen mehr als einen Anklagepunkt enthält, entstand insgesamt eine Sammlung aus 301 Drohungsäußerungen. Folgend werden die Basisinformationen zu den verwendeten Korpora zusammengefasst: CoJO

CoTQ

Anzahl der enthaltenen Fälle

266

212

Anzahl der vollständigen Zitate

-

301

Modus der Drohung

-

105 schriftlich 196 mündlich

Urteilsspruch

192 schuldig 51 nicht schuldig 23 andere

242 schuldig 42 nicht schuldig 17 andere

Zeitspanne

1918–2013

1918–2013

Für den vorliegenden Artikel wurden diese 301 Drohungsäußerungen und ihre Evaluation in Form der Urteilsbegründung entsprechend der Fragestellung untersucht. Um zu einer Klassifikation der Evaluation von Kraft und Wirkung einer Drohung durch Dritte zu gelangen, wurde das Korpus hinsichtlich der

|| 14 So beinhalten beispielsweise die meisten Stalking Fälle einen Aspekt der Bedrohung oder Nötigung.

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enthaltenen Argumentation der richterlichen Begründung, aber auch hinsichtlich der Verweisstruktur ausgewertet. Dabei wurden insbesondere solche Argumente und Verweise berücksichtigt, die vielfach gefunden wurden. Nach einer ersten inhaltlichen Sichtung der verhandelten Tatsachen wurden den einzelnen Urteilsbegründungen so genannte issue keywords zugeordnet, die abstrakt auf das oder die verhandelten Problemfelder verweisen. Diese issue keywords fassen miteinander verwandte Problematiken unter verallgemeinernden Termini zusammen. Sie wurden auf Basis der tatsächlich verwendeten Verweise (s. Abb. 2), bestimmter teilweise etablierter Schlagworte und deren Varianten (z.B. objective analysis, objective standard, objective test) und wiederkehrender Argumentationsweisen entwickelt. So wurde ein Schema aus insgesamt sechs issue keywords entwickelt, das kurz anhand einiger Beispiele illustriert werden soll. i.

True threat betrifft grundlegende Fragen der Ernsthaftigkeit einer Drohung in Bezug auf die Sprecherintention und wird zudem selbst in den Urteilen als Schlagwort so verwendet: The entire factual context surrounding the defendant’s statements, including the reaction of listeners, supports our conclusion that the defendant’s statements were true threats, and not a mere joke or hyperbole.15

ii. Objective analysis betrifft Fälle, in denen die betreffende Aussage auf ihr Potential hin gedeutet wird, indem sich Dritte als rational handelnde Individuen in die Bedrohungssituation hineinversetzen und entscheiden sollen, ob es unter Einbezug aller äußerlichen Umstände naheliegend ist, dem Drohenden eine Drohungsabsicht zu unterstellen und ob dieser wiederum hätte voraussehen können, dass seine Äußerungen einen solchen Effekt auf den Adressaten haben würden. Mit einigen Varianten des Terminus wird darauf auch verwiesen: […] whether a reasonable listener would understand the communication as an expression of intent […] to injure, permitting a conviction not because the defendant intended his words to constitute a threat to injure another but because he should have known others would see it that way.16

|| 15 State v. Krijger, 130 Conn.App. 470 (2011). 16 U.S. v. Jeffries, 692 F.3d 473 (2012).

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iii. First Amendment betrifft Fälle, bei denen geprüft werden musste, ob betreffende Aussagen durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt werden sollten und damit nicht strafrechtlich als Drohung verfolgbar sind: Independent review is particularly important in the threats context because it is a type of speech that is subject to categorical exclusion from First Amendment protection, similar to obscenity, fighting words, and incitement of imminent lawless action […].17

iv. Participant issue betrifft Fälle, in denen diskutiert wurde, wie sich die Personenkonstellation auf die Kraft und Wirkung einer Drohung auswirkt, beispielsweise wenn Drohungen nicht an die Zielperson direkt gerichtet werden, aber auch wenn sie gegenüber Personen mit Schweigepflicht ausgesprochen werden oder wenn sie die Zielperson aus anderen Gründen nicht erreichen (d.h. die Zielperson hört/liest die Drohung nicht): [...]statute prohibiting a threat to kill does not require certainty by the threatener that his threat has been received by the threatened person, and (2) evidence [...] was sufficient to sustain conviction for threatening to kill, and it was not necessary to establish that defendant saw victim or knew he was home.18

v.

Language issue betrifft Fälle, in denen ausdrücklich Bezug auf sprachliche Eigenschaften der Drohungsäußerung (z.B. Ambiguität) oder die Formulierung der entsprechenden Satzung (z.B. konkrete Bedeutung von „so... as to“) genommen wird: A threat that appears grammatically conditional is sufficiently unconditional under Penal Code section 422, where the circumstances show that compliance with the condition is practically impossible, thereby rendering the condition illusory.19

vi. Other wird denjenigen Fällen zugeordnet, die darüber hinaus noch andere Fragestellungen diskutieren. Darunter fallen verfahrensrechtliche Fragen, aber auch beispielsweise die Diskussionen non-verbaler Drohungen oder künstlerischer Freiheit.20

|| 17 In re Ernesto H., 125 Cal.App.4th 298 (2004). 18 People v. Teal, 61 Cal.App.4th 277 (1998). 19 People v. Muro, Not Reported in Cal.Rptr.3d (2006). 20 Diese Zuordnung dient im Wesentlichen einer systematischeren Erfassung derjenigen Probleme, auf die nicht näher eingegangen werden kann.

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Die mit diesen Schlagworten versehenen Problematiken stehen häufig in Relation zu einander und wurden nicht komplementär zugeteilt, sondern ergänzend. Die häufigsten dieser Verbindungen wiederum wurden noch einmal zusammengefasst und bei der Auswertung der Analyse von Kraft und Wirkung in den Urteilen als zentral klassifiziert, so wie in Abschnitt 4 besprochen. Um die Kriterien dieser Analyse jedoch zunächst sprachwissenschaftlich einzubetten und den Untersuchungsgegenstand hinreichend einordnen zu können, widmet sich der nachfolgende Abschnitt dem derzeitigen Forschungsstand zu verbalen Drohungen aus linguistischer Perspektive. Dabei werden insbesondere diejenigen Ansätze berücksichtigt, die eine weitere Verknüpfung mit den vorgestellten juristischen Problemfeldern in Abschnitt 5 ermöglichen.

4 Vor der Gerichtsbarkeit: Eigenschaften verbaler Drohungen Wie bereits erwähnt, handelt es sich nicht bei jeder Drohung um eine potentielle Straftat. Hierzu muss entweder der angedrohte Sachverhalt ein besonderer sein, die bedrohte Person zu einer bestimmten Gruppe von Personen gehören oder das Ziel der Drohung eine Beeinflussung des Verhaltens der Zielperson sein.21 Doch auch wenn, wie mehrfach durch verschiedene Autoren betont, kriminelle Drohungen möglicherweise als ein Randphänomen menschlichen Verhaltens angesehen werden können (vgl. u.a. Leech 1983: 105), ist das zugrundeliegende Verhaltensmuster scheinbar ein omnipräsentes und unterscheidet sich lediglich in den erwähnten Faktoren.

4.1 Die Funktion verbaler Drohungen Storey (1995: 74) nennt Drohungen auf Grund ihrer Omnipräsenz sogar „a way of life“. Das Verfolgen bestimmter kommunikativer Ziele durch das Aussprechen und Empfangen von Drohungen, sieht sie als bereits früh in den alltäglichen Sprachgebrauch integriert. Auch in anderen Studien werden Drohungen häufig über diese kommunikativen Ziele bestimmt und als eine Art gängige Verhandlungsstrategie oder Druckmittel analysiert, das von Sprechern in der Kommunikation eingesetzt wird, um den Adressaten zu manipulieren. Unter-

|| 21 In diesem Fall spricht man auch von Nötigung und Erpressung als Tatbestand.

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sucht wurden in dieser Hinsicht unter anderem der Gebrauch von Drohungen in Verhandlungen (Kent 1967; Sinaceur et al. 2011; Lee / Pinker 2010) oder Konfliktsituationen (Beller 2002; Fraser 1998; Limberg 2009), aber auch als strategisches Mittel zur Ausübung von Dominanz vor Gericht (Harris 1984) oder beim Militär (Bousfield 2008; Culpeper 1996), d.h. in Diskursen mit institutionell geregelter Rollenverteilung. Fraser (1998: 159) listet darüber hinaus eine Bandbreite verschiedener Gründe für das Äußern einer Drohung aus der Perspektive des Sprechers auf. Unter anderem nennt er Wut oder Boshaftigkeit, den Versuch der Einschüchterung, das Herausfordern von Autoritäten, eine Stärkung der eigenen Position ohne böse Absicht und auch eine humorvolle Verwendung von Drohungen als mögliche Motivation oder als kommunikatives Ziel des Sprechers. Bei dieser Studie handelt es sich ebenfalls um eine eher abstrakttheoretisch ausgerichtete Begriffsbestimmung und nicht um eine Auswertung authentischer Beispiele, was diese eher unsystematische Vermischung von Motivation und Zielen der Drohung erklärt. Die von Fraser aufgelisteten Mikroziele könnten daher möglicherweise ebenfalls unter dem Makroziel der Beeinflussung zusammengefasst werden.22 Nicoloff (1989) ordnet in seinem Aufsatz diesem Makroziel konkludierend noch ein weiteres Ziel vor. Er definiert das übergeordnete Ziel jeder Drohung als die Absicht des Sprechers den Adressaten zu verängstigen. Daraus leitet er wiederum eine Einordnung der Drohung als perlokutionären und nicht als illokutionären Akt ab, als Akt also, der sich primär durch die Wirkung auf den Adressaten definiert.

4.2 Die Form verbaler Drohungen Ebenso heterogen wie die verschiedenen kommunikativen Funktionen scheint auch die Form verbaler Drohungen zu sein. Sprachliche Äußerungen dieses Typs weisen große Varianz sowohl in ihrer syntaktischen als auch ihrer semantischen Form auf. Bedingt durch diese Heterogenität lassen sie sich nur schwer durch ihre sprachliche Form allein bestimmen (vgl. u.a. Limberg 2009). In der bisherigen Forschung werden dementsprechend auch keine nennbaren lexikalischen oder grammatischen Merkmale identifiziert, die konventionell als Ausdruck einer Drohung gelten oder die eine Drohungsäußerung in der Mehrheit der Fälle begleiten und damit den Status von Illokutionsindikatoren erreichen

|| 22 Zu Makro- und Mikrozielen von Drohungen vgl. Muschalik (in Vorbereitung) „Threatening in English: Form and Function“.

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(vgl. Limberg 2009).23 Dieser bereits erwähnte Mangel an formalen Bestimmungskriterien lässt sich auch dadurch erklären, dass es sich bei Sprechakten generell primär um funktionale Kategorien handelt, die nicht ausschließlich durch ihre Form bestimmt sind. Eine Ausnahme bilden dabei diejenigen Sprechakte, die konventionell durch den Gebrauch bestimmter sprachlicher Strukturen realisiert werden (vgl. Jucker 2009: 1617). Hier muss allerdings darüber hinaus auch noch einmal nachdrücklich auf den Mangel an empirischen Studien in der Erforschung von Drohungen hingewiesen werden. In ihrer 2010 veröffentlichten Dissertation bemängelt Gales (2010: 2) diesen Umstand und sieht darin einen der Gründe, weshalb „[…] there is still a complete lack of understanding of the discursive nature of threatening language and a lack of agreement, even, as to how speakers successfully threaten.“ Bei der Suche nach formalen Bestimmungskriterien kommt erschwerend hinzu, dass die Drohung als Performativ im zuvor erläuterten Searlschen Sinne, d.h. in einer Konstruktion mit dem performativen Verb welches die Sprechhandlung benennt – hier drohen – in der ersten Person Singular Präsens Indikativ Aktiv und optional mit dem Adverb hiermit (bzw. hereby) kombiniert, z.B. Ich drohe dir hiermit (oder in der folgenden Analyse englischsprachiger Drohungen I hereby threaten you) als ungebräuchlich gilt (vgl. Fraser 1998: 166, Limberg 2009). Franck Nicoloff geht in seinem 1989 veröffentlichten Aufsatz zum Status von Drohungen als Illokution sogar soweit zu behaupten, dass Drohungen nur implizit sein können, da es keine sprachliche Form gebe, die „unmistakably or unambiguously as constituting an utterance into a threat-to-p“ angesehen werden könne (Nicoloff 1989: 505). Auch Fraser (1998: 167) schlussfolgert, „[a] threat is never explicitly stated and must always be inferred.“ Bei beiden Untersuchungen handelt es sich, wie bereits erwähnt, jedoch um introspektive Studien ohne eine Analyse tatsächlich gesprochener oder geschriebener Drohungen. In einer weitreichenderen Untersuchung der sprachlichen Form der im CoTQ enthaltenen 301 Drohungsäußerungen können die angedeuteten Tendenzen zur Heterogenität in der sprachlichen Form von Drohungen allerdings bestätigt werden.24 Die sprachliche Form der Drohung allein muss daher als Verankerungspunkt der performativen Kraft und auch als Basis einer Klassifikation möglicher Drohungen ausgeschlossen werden.

|| 23 Als formales Merkmal von Drohungen wird wiederholt auf die Form des Konditionalsatzes hingewiesen, der die Konsequenzen der Drohung explizit macht (vgl. u.a. Fraser 1998: 167). Allerdings muss auch in diesem Zusammenhang auf das Fehlen empirischer Analysen hingewiesen werden. 24 Vgl. hierzu auch Muschalik (in Vorbereitung).

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4.3 Eine Drohung ist, was Sprecher sagen Ungeachtet dessen wird eine generische Beschreibung der Drohung von Sprechern oft als unproblematisch angesehen, denn in ihrer Wahrnehmung erscheint ihnen das Konzept laut Storey (1995: 74) „very simple, uncomplicated and uncontroversial“. Sogar eine Auflistung prototypischer Eigenschaften von Drohungen bereitet den meisten Sprechern scheinbar keine Schwierigkeiten und führt zu weitestgehend homogenen Ergebnissen (vgl. Gales 2010: 103ff.). Demgegenüber hält Storey (1995: 74) allerdings eine kontextunabhängige Definition von Drohungen für fast unmöglich. In der Literatur wurde immer wieder der Versuch unternommen, eine solche kontext-unabhängige Definition zu erstellen, die letztlich auch als eine Art Richtlinie zur Evaluation von fraglichen Äußerungen dienen könnte. Dabei werden im Regelfall verschiedene Bedingungen oder Kriterien aufgelistet, die in ihrer Gewichtung oder Ausprägung unterschieden werden und deren sprachliche Realisation meist als unbestimmt angesehen wird. Ein Modell auf welches dabei häufiger Bezug genommen wird, ist die von Fraser (1998) entworfene Definition auf Basis dreier Komponenten (vgl. auch Solan / Tiersma 2005, 2012; Gales 2010). Fraser (1998: 162) nimmt dabei Bezug auf Storey und hält ihrer Argumentation entgegen, dass die Problematik nicht darin bestünde, Drohungen kontext-unabhängig zu definieren, sondern die nahezu unlösbare Aufgabe darin läge, im konkreten Fall zu bestimmen, ob eine Äußerung als Drohung gelten könne oder nicht. Laut Fraser liegt eine Drohung dann vor, wenn ein Sprecher zum Ausdruck bringt, dass er i) die Absicht hat eine zukünftige Handlung zu vollziehen oder für den Vollzug dieser Handlung maßgeblich verantwortlich zu sein, ii) der Sprecher dies in dem Glauben tut, dass die genannte zukünftige Handlung zum Schaden des Adressaten ist und iii) der Sprecher dies mit der Absicht tut, den Adressaten durch Erkennen seiner Absicht i) in einen Bedrohungszustand zu versetzen (vgl. Fraser 1998: 160ff.). Fraser betont, dass das Äußern einer Drohung bei Erfüllung dieser Bedingungen als erfolgreich angesehen werden könne. Darüber hinaus stellt er verschiedene weitere Bedingungen auf, die in ihrer Art an Searles Gelingensbedingungen angelehnt sind. Nur wenn diese wiederum erfüllt sind, kann die Drohung laut Fraser auch als geglückt (felicitous) gelten. Dazu zählen die Überzeugung des Sprechers, dass er die Kontrolle über das angekündigte zukünftige Ereignis besitzt, dass mögliche daran gekoppelte Bedingungen durch den Adressaten erfüllbar sind sowie dass der Sprecher diese auch tatsächlich erfüllt wissen möchte (vgl. Fraser 1998: 163ff.). Fraser sieht den Vollzug einer Drohung damit klar als durch den Sprecher bestimmt an.

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Since performing an illocutionary act, an act of communication, depends only on the speaker expressing the requisite attitudes which define the act, and performance does not reference the addressee, a threat is successful independent of the addressee’s beliefs. (Fraser 1998: 162)

Die Wirkung auf den Adressaten wird lediglich in iii) angedeutet, aber als definitorisches Kriterium der ‚performance‘ rigoros ausgeschlossen.

4.4 Eine Drohung ist, was Adressaten hören Andere halten dieser sprecherzentrierten Perspektive eine wirkungszentrierte Definition der Drohung entgegen und thematisieren die zentrale Rolle des Adressaten bei der erfolgreichen Äußerung einer Drohung explizit. Storey erläutert hierzu, dass Drohungen notwendigerweise „two-way by nature“ seien und dass sich eine erfolgreiche Drohung gerade dadurch definiere, dass sie vom Adressaten als solche erkannt und damit ratifiziert würde (Storey 1995: 75). Dabei bleibt jedoch unklar, ob Storey unter Ratifizierung das Auftreten eines Effekts versteht, wie ihn auch Nicoloff als Makroziel einer jeden Drohung beschreibt – Verängstigung – oder ob es um das bloße Erkennen des Sprechaktes durch Verständnis geht. Zwischen Ratifizierung durch den Adressaten in Form von Erkennen des Sprechakts und dem Erzielen einer gewünschten Wirkung unterschied auch Austin. Ersteres legte er als maßgebliches Kriterium zum erfolgreichen Ausführen eines jeden Sprechaktes fest und nannte es securing of uptake. Unless a certain effect is achieved, the illocutionary act will not have been happily, successfully performed [...]. Generally the effect amounts to bringing about the understanding of the meaning and the force of the locution. So the performance of an illocutionary act involves the securing of uptake. (Austin 1962: 116)

Die Grenzen des Konzepts «uptake» wurden vielfach diskutiert.25 Für die nachfolgende Diskussion relevant sind nur eine Trennung von Erkennen der Drohung und Wirkung dieser und die Implikationen, die eine solche Trennung für die Evaluation einer Drohung durch Dritte hat. Dass das eine das andere nicht

|| 25 Der Grundsatz, dass der oder die Adressaten die Handlungsabsicht des Sprechers erkennen müssen, wurde in der Folge mehrfach mit dem Konzept der Sprecherbedeutung oder BedeutungNN nach Grice (1957) und einer oft als Intentions-basiert bezeichneten Sprechakttheorie in Verbindung gebracht (vgl. u.a. Searle 1975; Bach / Harnish 1979). Auf die verschiedenen weiterführenden Diskussionen rund um den Begriff des uptakes und die Konzepte der Konvention und Intention kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

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kausal nach sich zieht, lässt sich an dem bereits besprochenen Beispiel des Banküberfalls noch einmal verdeutlichen. Es ist anzunehmen, dass der Kassierer im beschriebenen Szenario erkannte, dass Wooten die Absicht hatte, ihn mit seinen Worten I have a gun zu bedrohen. Er verstand nicht nur die allgemeine Bedeutung der Worte, sondern auch die Absicht Wootens, eine Drohung zu äußern und uptake im Austin’schen Sinne war damit gesichert. Und doch erzielte Wootens Äußerung nicht die gewünschte Wirkung, die zum Beispiel als Verängstigung oder Einschüchterung beschrieben werden kann. In einer solchen Analyse scheitert die Drohung daher nicht am uptake, sondern allein am Ausbleiben des perlokutionären Effekts. Statt der Verständnissicherung im Sinne des uptakes den Wirkungsaspekt in den Vordergrund zu stellen, hat wiederum in einigen Fällen zu einer kompletten Re-analyse der Drohung als perlokutionärem Akt geführt, so wie in dem bereits erwähnten Aufsatz von Nicoloff (1989). Durch die Analyse einer Auswahl an fiktiven Beispielen leitet Nicoloff argumentativ her, dass eine Drohung auf der Seite des Sprechers vor allem darin bestünde, dem Adressaten Gefahr zu signalisieren und zwar solche die vom Sprecher selbst ausgeht.26 Diese Übersicht über einige in der Forschung diskutierte Merkmale von verbalen Drohungen ist sicherlich nicht erschöpfend. Es werden jedoch hinreichend die zentralen Problemfelder illustriert, die sich aus der unterschiedlichen Betrachtung der drei Bestandteile einer Drohungsäußerung ergeben: i. Der Sprecher, der eine bestimmte Handlungsabsicht besitzen muss. ii. Der oder die Adressaten, die eine Drohung als solche erkennen müssen (uptake) und auf die eine fragliche Äußerung eine bestimmte Wirkung haben muss (Perlokution). iii. Die Äußerung selbst, die in ihrer Form dergestalt sein muss, dass sie die Handlungsabsicht des Sprechers ausdrückt und darüber hinaus dem Adressaten ermöglicht, sie als solche zu erkennen und eine Wirkung bei selbigen hervorruft. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist sicherlich noch nicht abschließend geklärt, welche Gewichtung den einzelnen Aspekten einer Drohung als definitorisches Kriterium zukommt und welche Relationen genau zwischen den einzelnen Aspekten bestehen. Die oft große Unklarheit beginnt meist bereits bei

|| 26 Auf Nicoloffs Analyse kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Sein Modell einer perlokutionären Drohung enthält jedoch einige interessante Erklärungsansätze, gerade auch was die Form verbaler Drohungen angeht.

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der Bestimmung von Begriffsgrenzen und entsprechende Arbeiten sind daher häufig eher als Beitrag zu Terminologie- oder Theoriedisputen zu verstehen, als zu einer grundlegenden Erforschung der sprachlichen Handlung des Drohens. Eine solche Erforschung kann nur mit der systematischen Analyse tatsächlich verwendeter Drohungen beginnen. Dazu werden im nächsten Abschnitt die analysierten Urteilsbegründungen nach wiederkehrenden Problemfeldern klassifiziert und diese Probleme der Evaluation von Drohungsäußerungen vor Gericht werden mit den bereits angesprochenen Aspekten verbunden.

5 Eine Drohung ist, was Richter festlegen: Kraft und Wirkung von Drohungen vor Gericht Während Definitionen in der Drohungsforschung aus sprachwissenschaftlicher Perspektive sicherlich ein hilfreicher Ansatz sind, ist ihre Relevanz in der praktischen Rechtswissenschaft von weitaus größerer Bedeutung. Auch oder gerade im Strafrecht, zu dessen Grundsätzen die gesetzliche Bestimmtheit eines Verbrechens gehört, denn nach der Maxime nullum crimen sine lege gilt, kein Verbrechen ohne Gesetz. Diese Maxime stützt neben anderen Grundsätzen das Prinzip, dass eine Handlung nur dann strafbar sein kann, wenn sie durch das Gesetz als Straftat bestimmt ist. Dazu gehört meist eine Definition der Handlung, oftmals unter Einbeziehung notwendiger und hinreichender Bedingungen. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive ist die nähere Bestimmung der Drohung auch deshalb besonders relevant, weil sie nicht nur für sich genommen eine Straftat sein kann, sondern ihr Auftreten auch als notwendige oder hinreichende Bedingung in anderen Straftatbeständen gelten kann. Zusätzlich kann das Erkennen einer Drohung auch dann eine Rolle spielen, wenn es um Grundrechte wie Rede- oder Meinungsfreiheit geht (vgl. Yamanaka 1995: 37). Das Kommunizieren einer Drohung wird im U.S. amerikanischen Recht unter verschiedenen Aspekten – Medium oder Ziel der Drohung beispielsweise – durch mehrere staatliche und bundesweite Gesetze verschiedentlich pönalisiert. So ist das Bedrohen von Regierungsmitgliedern unter Strafe gestellt, ebenso wie das Bedrohen des Präsidenten oder das Versenden drohender Kommunikation per Post.27 Die zu Beginn dieses Artikels zitierte Passage aus dem kalifornischen Strafgesetz bietet eine allgemeinere Definition des Straftatbestandes, deren

|| 27 Vgl. bspw. 18 U.S.C.A. § 876, 18 U.S.C.A. § 871.

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Bestandteile als grundlegende Elemente der Strafhandlung angesehen werden können und die als ein Ausgangspunkt der Analyse dienten. Hier heißt es [a]ny person who willfully threatens to commit a crime which will result in death or great bodily injury to another person, with the specific intent that the statement, made verbally, in writing, or by means of an electronic communication device, is to be taken as a threat, even if there is no intent of actually carrying it out, which, on its face and under the circumstances in which it is made, is so unequivocal, unconditional, immediate, and specific as to convey to the person threatened, a gravity of purpose and an immediate prospect of execution of the threat, and thereby causes that person reasonably to be in sustained fear for his or her own safety or for his or her immediate family’s safety, shall be punished by imprisonment in the county jail not to exceed one year, or by imprisonment in the state prison. (West’s Ann.Cal.Penal Code § 422)

Eine kriminelle Drohung ist demnach nicht nur eine Aussage, die potentiell bedrohlich wirken kann, sondern ist dergestalt, dass sie einen Adressaten glauben lässt, es gäbe eine Handlungsabsicht, auch wenn diese auf Seiten des Sprechers gar nicht existiert. Es werden also im Wesentlichen dieselben drei Aspekte thematisiert, denen sich auch die sprachwissenschaftliche Forschung widmet: Absicht des Sprechers, Art und Modus der Drohungsäußerung selbst sowie Wirkung der Äußerung auf den Adressaten. Die Definition erscheint relativ klar und doch führt ihre Anwendung im konkreten Fall zu ähnlichen Problemen, wie den in der sprachwissenschaftlichen Analyse gezeigten. Diese Probleme lassen sich, wie in Abschnitt 3 beschrieben, unter grundlegende Oberbegriffe subsumieren. Unter Rückbezug auf die erläuterten sprachwissenschaftlichen Thesen und die in Abschnitt 3 vorgestellten issue keywords, werden in den nachfolgenden Abschnitten zwei eminente Problemfelder vorgestellt, die sich um die Beurteilung von Kraft und Wirkung einer Drohung bilden. Diese werden dann anhand von Fallbeispielen diskutiert.

5.1 Die intent Problematik: Muss eine Drohung beabsichtigt sein Eine Verteidigungsstrategie, die sich auf das Leugnen einer Drohungsabsicht beruft, baut auf den Grundsatz, dass eine Drohung etwas ist, was der Sprecher kontrolliert. Ganz im Sinne Frasers (1998) wäre die Argumentation dahinter, wie bereits in Abschnitt 4.2 erläutert, dass Drohungen illokutionäre Akte sind, die zwar eine intendierte Wirkung haben können, deren Kraft sich jedoch allein daraus speist, dass sie vom Sprecher auch als Drohung gemeint sind. Da solche

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Absichten gerade bei indirekten Drohungen nur schwer nachweisbar sind, wäre eine strikte Orientierung an einem Prinzip ‚Eine Drohungen ist, was Sprecher tun‘ aus rechtlicher Perspektive nur schwer umsetzbar. Jede Art der Einschätzung durch Dritte müsste sich auf die Selbsteinschätzung und -auskunft des Drohenden verlassen oder die Intention als in der Sprache nachweisbar operationalisieren. Dass beides nur schwerlich als verlässlicher Bezugspunkt angesehen werden kann, wurde bereits ausführlich diskutiert. Doch wie geht ein Gericht damit um, wenn Sprecher angeben, sie hätten nicht die Absicht gehabt zu drohen? Mehrheitlich wird diese Absicht als durch andere Indizien nachweisbar angesehen. Im Fall New York ex rel. Spitzer v. Cain werden die beiden Angeklagten beschuldigt, die Mitarbeiter einer Abtreibungsklinik mehrfach bedroht zu haben und damit gegen das so genannte FACE (Free Access to Clinic Entrances) Gesetz verstoßen zu haben. Das Gericht prüft nacheinander alle ihm vorliegenden Äußerungen auf ihr Drohungspotential und kommt zu dem Schluss, dass die meisten der Äußerungen tatsächlich Drohungen darstellen. Eines der tragenden Argumente ist die bereits erläuterte objektive Analyse der Drohungen. Die Absicht des Sprechers zu drohen, so argumentiert das Gericht, könne dadurch als nachgewiesen gelten, dass die Sprecher hätten vorhersehen können oder sogar müssen, dass ihre Aussagen unter den gegebenen Umständen als Drohungen aufgefasst werden würden. Hätten sie also nicht tatsächlich die Absicht gehabt zu drohen, hätten sie ihr Verhalten entsprechend angepasst. „It is reasonable to infer, then, that such a technique would be avoided unless one’s specific intent was to intimidate.“28 Die Sprecherabsicht wird also greifbar gemacht, indem unterstellt wird, der Sprecher sei in der Lage, die Wirkung auf den Adressaten zu antizipieren und seinen Beitrag entsprechend anzupassen. Auch diesem Argument liegt die Überzeugung zugrunde, die Wirkung und die Kraft einer Äußerung seien die zwei relationalen Seiten einer sprachlichen Handlung. Demgegenüber stellt das Gericht jedoch zwei Aussagen heraus, in denen – trotz entsprechender Wirkung auf den/die Adressaten – keine ausreichende Absicht ausgedrückt sei und die damit nicht die Kraft einer Drohung besäßen. Unter anderem die Äußerung „Someday someone will set off a bomb here“. Trotz der situativen Einbettung hält das Gericht diese Aussage für eine reine Meinungsbekundung der Abtreibungsgegner, ohne den Ausdruck einer konkreten Absicht den Adressaten zu drohen oder zu schaden. Damit fällt die Aussage unter das Recht auf freie Meinungsäußerung:

|| 28 New York ex rel. Spitzer v. Cain, 418 F.Supp.2d 457 (2006).

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[...] the references to a bomb, while certainly meant to intimidate and frighten the escorts, [...] lack the immediacy and unequivocal nature of a true threat. In context, they are a disturbing reference to the willingness of some anti-abortion advocates to use murder and violence to discourage abortions. Nonetheless, these remarks did not convey that the defendants or their conspirators had formed any concrete intention to bomb the Center.29

Eine Drohung ist demzufolge nicht einfach eine Aussage, deren Ziel es ist den Adressaten zu verängstigen. Eine Drohung gilt vielmehr als Ausdruck der konkreten Absicht eines Sprechers, einer Zielperson zukünftig Schaden zuzufügen und hat das Ziel diese Person in Angst zu versetzen, dadurch dass sie die Handlungsabsicht erkennt. Die Verwendung von Indefinitpronomen macht, so die Interpretation des Gerichts, aus der Aussage eher eine Art Prognose als einen ernsthaften Ausdruck eigener Handlungsabsichten. Diese Interpretation steht in Widerspruch zu einer Vielzahl von anderen Entscheidungen, in denen die Wirkung der Aussage auf den Adressaten stärker gewichtet wird als im Fall Spitzer v. Cain. Zweifelsohne wird hier die starke Subjektivität der Wirkungserfahrung eines Adressaten und auch einer dritten Person deutlich. Daher bildet die Untersuchung der Wirkung das zweite offensichtliche Problemfeld in der Beurteilung von Drohungen vor Gericht.

5.2 Die true threat Problematik: Muss eine Drohung wirken? Obwohl es in der Mehrzahl der Satzungen explizit aufgegriffen wird, wird die Frage, ob ein Adressat eine bestimmte Reaktion auf eine Drohung zeigen muss, immer wieder diskutiert. Einigkeit herrscht dabei meist nur in der Feststellung, dass eine Äußerung, um strafrechtlich verfolgbar zu sein, eine echte Drohung – true threat – sein muss. Die Bestimmung dieser Echtheit wird jedoch auf unterschiedliche Art hergeleitet. Eines der Grundsatzurteile, welches von fast 40% (81) aller Urteile im CoTQ diesbezüglich herangezogen wird, ist Watts vs. U.S.. Dieser Fall wurde bereits im Jahr 1969 verhandelt und ist immer noch wegweisend in seiner Argumentation.30 Während einer öffentlichen Kundgebung beteiligt sich der Student Robert Watts an einer Diskussionsrunde zu Polizeigewalt. Als es um den angeblich geringen Bildungsstand der vorherrschend sehr jungen Diskutanten geht, wendet der 18-jährige Watts ein, dass er sich durchaus weiterbilden wolle, aber stattdessen einen Bescheid für einen Musterungstermin erhalten habe. Watts

|| 29 New York ex rel. Spitzer v. Cain, 418 F.Supp.2d 457 (2006). 30 Watts v. U.S., 394 U.S. 705 (1969), für eine Diskussion s. a. Solan / Tiersma (2005).

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teilt dem Publikum mit, er wolle diesen aber nicht wahrnehmen und fügt hinzu „If they ever make me carry a rifle the first man I want to get in my sights is L.B.J.“. Watts wird daraufhin wegen der Bedrohung des Präsidenten Lindon B. Johnson festgenommen und zunächst schuldig gesprochen. Das Urteil wird in mehreren Instanzen geprüft und schlussendlich durch den Supreme Court revidiert. Die Revision wird dabei auf drei in einander verzahnte Argumente gestützt. Zum einen habe der Angeklagte niemals vorgehabt, die Drohung in die Tat umzusetzen. Dies ließe sich auch an ihrer konditionalen Form ablesen, da die beschriebenen Umstände rein hypothetisch und spekulativ seien. Darüber hinaus sei die Reaktion des Publikums ein guter Indikator dafür, dass es sich nicht um eine echte Drohungsäußerung gehandelt haben könne, da die Mehrheit der Anwesenden mit Gelächter auf Watts’ Ankündigung reagierte. Zuletzt wird im Berufungsentscheid des Supreme Court noch auf den Kontext der Äußerung hingewiesen, eine öffentliche politische Diskussionsrunde, in der überspitzte Darstellung üblich sei. We agree with petitioner that his only offense here was ‚a kind of very crude offensive method of stating a political opposition to the President‘. Taken in context, and regarding the expressly conditional nature of the statement and the reaction of the listeners, we do not see how it could be interpreted otherwise.31

Interessant ist hierbei vor allem der zweite Aspekt, die Reaktion des Publikums. Konzeptuell ist sie gleichzusetzen mit der Wirkung einer Drohung. Und auch in zahlreichen nachfolgenden Urteilen wird an der Reaktion, die auf eine Drohung folgt, ihr Charakter als echte Drohung festgemacht. Dass es sich dabei im Fall Watts nicht um die Reaktion der Zielperson selbst – Präsident Johnson – handelt, sondern um die Reaktion unbeteiligter Dritter, wird dabei häufig missachtet. Es scheint als beziehe sich das Urteil auf das Ausbleiben des perlokutionären Effekts, der, so könnte man das Urteil paraphrasieren, die beste Möglichkeit wäre, die Kraft dieser Äußerung als Drohung nachzuweisen. Der perlokutionäre Effekt seinerseits werde geschwächt durch die sprachliche Form des Konditionals und den Kontext der Äußerung. Es sei bekannt, dass politische Diskussionen hitzig geführt würden und daher nicht auf dieselbe Art verstanden werden, wie Äußerungen beispielsweise in einem Gespräch. Dieses Argument der kontextuellen Verankerung der Wirkung einer Drohung wird seinerseits ebenfalls mehrfach aufgegriffen. So heißt es beispielsweise in S. v. Jeffries,

|| 31 Watts v. U.S., 394 U.S. 705 (1969), für eine Diskussion s. a. Solan / Tiersma (2005).

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[a] reasonable listener understands that a gangster growling „I’d like to sew your mouth shut“ to a recalcitrant debtor carries a different connotation from the impression left when a candidate uses those same words during a political debate. And a reasonable listener knows that the words „I’ll tear your head off“ mean something different when uttered by a professional football player from when uttered by a serial killer.32

Diese Sichtweise des ‚im Kontext verstehen als‘ findet sich auch in der objective analysis wieder. Die Frage, ob sich eine dritte Person unter Einbezug des gesamten Kontexts in einer konkreten Situation potentiell bedroht gefühlt haben kann, ist nichts anderes, als die Umkehrung des Prinzips ‚Kraft wird durch Wirkung sichtbar‘. Entweder ist diese Wirkung bereits durch den Adressaten beschrieben oder durch Dritte bestätigt oder sie soll nachgewiesen werden, indem sich ein Außenstehender in die Situation hineinversetzt. Dass es sich bei dem Empfinden der Zielperson und dem Nachempfinden und Einschätzen der Wirkung durch unbeteiligte Dritte jedoch um stark subjektive Einschätzungen handelt, wird von den meisten Urteilssprüchen nicht thematisiert. In Abschnitt 4.4 wurde erläutert, dass auf der Seite des Adressaten zwischen zwei Prozessen zu unterscheiden ist. Zum einen der Ratifizierung durch den Adressaten, die im bloßen Erkennen des Sprechakts besteht, und andererseits dem Erzielen einer gewünschten Wirkung oder eines perlokutionären Effekts. Die einen scheinen davon überzeugt zu sein (vgl. u.a. Nicoloff 1989), dass die Kraft einer Drohung erst durch ihre Wirkung sichtbar werden kann, da diese Wirkung das eigentliche Ziel des Sprechaktes ist. Austins Verständnis von Ratifizierung scheint dagegen weniger auf eine Wirkung bezogen, als vielmehr auf das bloße Verstehen, d.h. Erkennen eines Sprechaktes, und auch darin kann die Kraft, die geglückte Illokution, seines Erachtens sichtbar werden. Austin erläuterte „[t]he illocutionary act ‚takes effect‘ in certain ways, as distinguished from producing consequences in the sense of bringing about states of affairs in the ‚normal‘ way, i.e. changes in the natural course of events.“ (Austin 1962: 117) Searle (1975: 47) griff dieses Verständnis von uptake auf und beschrieb es als „[...] not a belief or response, it consists simply in the hearer understanding the utterance of the speaker [...].“ Das Erkennen eines jeden Sprechaktes wird als elementarste Wirkung dieses Sprechaktes verstanden. Und als Grundvoraussetzung dafür, so legt es auch Austin mit seiner Diskussion möglicher Unglücksfälle fest, gilt zunächst einmal der Empfang einer Nachricht. Eine Drohung, die ihre Zielperson nicht erreicht, kann von dieser nicht verstanden werden, es findet kein uptake statt und auch jede weiterführende Wirkung wird verhindert,

|| 32 U.S. v. Jeffries, 692 F.3d 473 (2012).

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ungeachtet dessen, was der Sprecher mit der Äußerung beabsichtigte. Was also machen Gerichte mit Drohungen, die ihre Zielperson nicht erreichen? Der Angeklagte Delano Koski sah sich in vier Fällen mit dem Vorwurf des Versendens drohender Kommunikationen konfrontiert. In drei dieser vier Anklagepunkte sah das Gericht den Tatbestand als nachgewiesen an, in einem Fall wurde die Anklage jedoch fallengelassen. Die von Koski geschriebenen Drohbriefe enthielten dabei in allen vier Fällen im Wesentlichen den gleichen Wortlaut. Eine der Zielpersonen war jedoch mittlerweile in den Ruhestand gegangen, so dass sie der Brief, den Koski an die Dienstadresse geschickt hatte, niemals erreichte. Dieser Umstand führte zu dem einen Freispruch. Ohne einen Rezipienten könne keine Wirkung auf die Zielperson bestimmt werden: „[...] there was no evidence about a recipient’s reaction to the mailing, however, and our cases have consistently given significant [...] weight to that type of evidence.“33 Eine Sichtweise mit der das Gericht in der Minderheit zu sein scheint, denn in der Mehrheit der Fälle im CoTQ, in denen die Drohung die Zielperson nicht erreicht – oft weil sie zum Beispiel an eine dritte Person adressiert war –, bezieht sich das Gericht auf das reine Drohungspotential, also die Analyse der Äußerung unter dem Aspekt, ob sich eine rationale Zielperson unter Einbezug aller kontextueller Fakten von der Äußerung potentiell bedroht gefühlt haben könnte. Die Schwelle, ab der eine Äußerung als Drohung definiert werden kann, wird – um es in Austinscher Terminologie auszudrücken – nicht beim securing of uptake festgesetzt, sondern wird durch den potentiellen oder faktischen perlokutionären Effekt bestimmt. Beide Interpretationen betonen die Bedeutsamkeit der Wirkung für das Feststellen einer Drohung. Und während einige Richter dabei eine potentielle Wirkung im Blick haben, beziehen andere sich auf die tatsächlich nachweislich eingetretene Wirkung auf eine Zielperson. Gemeinsam haben diese beiden Sichtweisen das Verständnis, dass die performative Kraft einer Drohung zumindest nicht ausschließlich durch den (illokutionären) Akt eines Sprechers bestimmt ist.

6 Zusammenfassung Kam noch Fraser (1998: 162) zu dem Schluss, es sei „[...] indeed possible to get a context-independent definition of a threat, but virtually impossible [...] to determine with certainty when a threat has been made[...]“, muss das Fazit des

|| 33 U.S. v. Koski, 424 F.3d 812 (2005).

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vorliegenden Artikels noch pessimistischer ausfallen. Es scheint nahezu unmöglich eine kontext-unabhängige Definition des Sprechakts der Drohung aufzustellen, die – und das scheint der entscheidende Punkt – sich in der Anwendung auf authentische Sprachbeispiele als haltbar erweist. Drohungen scheinen zwar einerseits einem erkennbaren Muster zu folgen und scheinen aus einer Reihe von bestimmten Merkmalen zu bestehen, wie diese Merkmale jedoch gewichtet werden, kann nicht allgemeingültig formuliert werden. Und während die Forschung an vielen Stellen gezeigt hat, das Sprecher im alltäglichen Sprachgebrauch mit diesen Unsicherheiten relativ souverän umzugehen vermögen und ihnen eine ganze Reihe von Inferenzmechanismen zur Verfügung stehen, stellt die Beurteilung einer Äußerung auf ihren Drohungsgehalt hin Richter und Jurymitglieder vor eine schwere Aufgabe. Im vorliegenden Artikel wurde diese Problematik unter Einbezug sprachund rechtswissenschaftlicher Betrachtungen des Verhältnisses von Kraft und Wirkung von Drohungen diskutiert. Dabei wurden zunächst verschiedene Definitionen von Drohungen betrachtet und es wurde gezeigt, dass stets drei Aspekte einer Drohung identifizierbar sind, die durch die Forschung als unterschiedlich einflussreich beschrieben werden. Zum einen können Drohungen als primär durch den Sprecher bestimmt verstanden werden. In diesem Fall werden sie als illokutionäre Akte verstanden, deren Kraft sich maßgeblich aus der Intention des Sprechers speist. Für die Evaluation einer Drohungsäußerung vor Gericht erweist sich eine solche Sichtweise als problematisch, da eine Erkenntnis über Absichten, Gefühle oder das Gemüt des Sprechers immer nur über Indizien hergeleitet und nicht eindeutig belegt werden können. Es ist dementsprechend auch kein Wunder, dass Fraser der eindeutigen Feststellung einer Drohung so skeptisch gegenüberstand, denn es wäre jederzeit möglich eine entsprechende Absicht zu leugnen. Die Bestimmung einer Drohung durch das Verständnis des Adressaten steht einer solchen Sichtweise konträr gegenüber. Vor Gericht scheint dies die bevorzugte Methode zu sein und auch in der Sprachwissenschaft wurde immer wieder diskutiert, ob es sich bei einer Drohung nicht letztlich inhärent um eine Wirkung auf den Adressaten handele. Demnach hat derjenige Ausdruck die Kraft einer Drohung, der als Drohung verstanden wird und einer Zielperson das Gefühl gibt bedroht zu werden. Aus einer rechtspraktischen Perspektive scheint diese Methode eine verlässliche zu sein, weshalb ihre Popularität nicht verwunderlich ist. Gleichzeitig gerät jedoch auch diese Methode häufig an ihre Grenzen, dadurch dass oftmals unklar ist, ob die Pönalisierung einer Drohung sich auf die Wirkung oder auf die Absicht eines Sprechers diese Wirkung zu erzielen bezieht. In der Heterogenität der Urteile wird diese Unsicherheit ersichtlich, was

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in der Diskussion der Problemfelder gezeigt werden konnte. Am Ende bleibt offen, ob es ein objektivierbares Wirkungspotential einer Äußerung geben kann anhand derer sich die performative Kraft belegen lässt. Zusammengenommen, das hat die vorliegende Studie versucht zu zeigen, können sich die linguistische und die juristische Perspektive auf die Beurteilung der Kraft und Wirkung von Drohungen durchaus gegenseitig befruchten. Eine endgültige Festlegung, wie stark die unterschiedlichen Faktoren bei der Evaluation der performativen Kraft einer Äußerung gewichtet werden, ist dabei nicht zwingend nötig. Bereits ein größeres Verständnis davon, wie Sprecher drohen und welche Wirkung sie damit bei Zielpersonen erzeugen, könnte dazu beitragen, dass Einzelfälle systematischer beurteilt werden und damit die Evaluation transparenter und letztlich auch konsistenter machen. Gleichzeitig bliebe so die notwendige Flexibilität in der juristischen Beurteilung erhalten, denn letztlich handelt es sich natürlich häufig um Entscheidungen, bei denen die Drohung nur eine Nebenrolle spielt.

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Janine Luth

Rechtssemantik und Rechtspragmatik Konflikte zwischen nationalen und internationalen Gerichten aus rechtslinguistischer Perspektive am Beispiel des Falls Görgülü

1 Einleitung Sorgerechtliche Verfahren finden verhältnismäßig selten Eingang in die mediale Berichterstattung. Aufmerksam verfolgt werden in jüngerer Zeit jedoch diejenigen Fälle, bei denen ledige Väter im Mittelpunkt des Verfahrens stehen. Der Fall Görgülü, bei dem ein Vater über mehr als acht Jahre um das Sorge- und Umgangsrecht für seinen Sohn stritt, ist sowohl im Fach- als auch im Mediendiskurs auf erhebliche Resonanz gestoßen und hat aus verschiedenen Gründen rechtshistorische Bedeutung erlangt (vgl. die Arbeit von Klein 2010). Dieser Beitrag widmet sich dem Fall aus rechtslinguistischer Sicht. Es wird aufgezeigt, wie Sprachhandlungen vor Gericht mittels diskurslinguistischer Analysemethoden untersucht werden können. Der Forschungsbereich der Rechtslinguistik wird üblicherweise nicht als Disziplin mit einem starren Gegenstandsbereich verstanden (vgl. Christensen 1989, Jeand’Heur 1989). Die Arbeiten orientieren sich vielmehr an dem sprachwissenschaftlichen Ziel, den „reflektierten Sprachgebrauch des einzelnen Sprechers“ zu fördern (Christensen 1989: 14). In Abkehr von einer rechtspositivistischen Auffassung wird in der Strukturierenden Rechtslehre – die diesem Beitrag als methodischer und theoretischer Ausgangspunkt vorangestellt wird – davon ausgegangen, dass Recht nicht bereits in Gesetzestexten enthalten ist und somit vom Rechtsarbeiter, ein von Friedrich Müller geprägter Terminus, der Wille des Gesetzgebers ermittelt werden kann, sondern sich rechtliche Normen prozesshaft in Sprache formieren (vgl. Felder 2003: 30–33; vgl. zu diesem Vorgehen Müller 21994, Müller / Christensen 22007, Busse 1992a, Felder 2003, Li 2011, Vogel 2012; vgl. auch die Beiträge von MüllerMall und Lerch in diesem Band). Die genannten Arbeiten haben auch gemeinsam, dass sie von einem juristischen Textgeflecht ausgehen, mit dem der Rechtsarbeiter von einem Normtext zur Bedeutung in Form einer Rechtsnorm kommt (vgl. Christensen / Sokolowski 2006: 363). Dies impliziert sprachliches Handeln, das schon dann beginnt, wenn die außersprachlichen Ereignisse der Lebenswirklichkeit zu einem rechtlichen Sachverhalt zubereitet werden (vgl.

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Busse 1992a: 329).1 Dieser Umstand wird von Felder (2003: 205) als das Sachverhalt-Festsetzen (auf Basis der Sprechakttheorie nach Searle) gefasst. Die Formulierung steht im Unterschied zu der in juristischen Entscheidungsschriften gängigen Formulierung eines Sachverhalts, der sich lediglich ergibt, womit Objektivität suggeriert wird (vgl. Felder 2003: 297, 303). Somit müssen die sprachlichen Bedingungen juristischen Handelns näher betrachtet werden, wenn wir Erkenntnisse über die Ordnung der Rechtssprache erhalten möchten (vgl. Felder 2003: 37). Die Frage „Was ist Recht?“ lässt sich somit nicht mit einem Blick auf den Gesetzestext beantworten. Mit Müller (21994: 267) wird in dem hier vorgestellten rechtslinguistischen Ansatz unterschieden in den Normtext, also eine sprachliche Zeichenkette, und die Norm, eine mit Inhalt gefüllte Entscheidungsnorm, die am Ende eines Gerichtsverfahrens steht, in dem Sach- und Sprachdaten bereits zusammengebracht worden sind (vgl. auch Felder 2003: 32). Erst am Ende eines Entscheidungsprozesses steht also die Norm und erst diese hat Bedeutung, der Normtext hat zunächst lediglich Geltung (vgl. Müller / Christensen / Sokolowski 1997: 31f.). Nach dieser Entscheidungsnorm, somit nach einer Entscheidung der Autorität, sehnen sich die Kontrahenten. Für sie steht die „richtige“ Entscheidung nämlich schon vorher fest: „‘Ihr Rechtʼ steht für sie gar nicht mehr zur Debatte, sondern es soll ihnen in aller Form verbrieft werden.“ (Christensen / Sokolowski 2006: 361). Die Bedeutungsfestsetzung wiederum ist keineswegs willkürlich, sondern fußt auf der Grundlage der Normtexte. Es kann dabei davon ausgegangen werden, dass sich das primär an alltagssprachliche Konzepte gebundene Laienwissen so gut wie nie mit dem der juristischen Experten deckt (vgl. Vogel 2012: 332). Die ausdrucks- und inhaltsseitige fachliche Ausgestaltung ist aber vonnöten, da man sich davon erhofft, Vagheitspotenziale zumindest einzudämmen. Durch die starke Verdichtung, die für Außenstehende „unverständlich“ (Topos des unverständlichen Juristendeutsch) wirken kann und vielfach kritisiert wird (vgl. weiterführend Lerch 2008: 29), erreichen Fachexperten eine für sie zuverlässige Kommunikationsgrundlage. Rechtssprache bleibt dabei selbstverständlich dennoch eine natürliche Sprache, die durch Dogmatiktradition angereichert und partiell spezialisiert ist, zum Beispiel in den Bereichen der Syntax oder der Morphologie (Definition nach Müller 2009: 37; siehe zur Fachsprache in der Jurisprudenz auch Jeand’Heur 1998: 1292-1294). Argumentieren und Entscheiden sind die wesentlichen Sprachhandlungstypen, die dabei berücksichtigt werden müssen (vgl. zu

|| 1 Der Terminus der „(Fall-)Zubereitung“ geht auf Jeand’Heur (1998: 1292) zurück.

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den Sprachhandlungstypen Felder 2003). Hierzu existiert ein implizites Wissen unter juristischen Experten darüber, wann und ob eine Entscheidung bzw. eine Begründung akzeptabel ist (vgl. Christensen / Kudlich 2008: 210). Eine Begründung bewegt sich damit im von Normtext-, Präjudizien- sowie Kommentarwissen, sprachlichen Routineformeln, Dogmatik und Ausdrucksmustern gespannten Rahmen. Mit Neumann (1986: 7) ließe sich präzisieren, dass sich die Annehmbarkeit der Begründung auf die Annehmbarkeit der Entscheidung überträgt. Da Texte das Recht konstituieren, ist der Beitrag auf die diskurslinguistische, induktive und praxisbezogene Rechtstextarbeit im Sinne der Strukturierenden Rechtslehre ausgerichtet. Am Beispiel des Falls Görgülü werden semantische Kämpfe herausgearbeitet, mit denen die umstrittenen Positionen der Diskursakteure, hier der Richter, transparent gemacht werden können.2 Für rechtssemantische und rechtspragmatische Untersuchungen erscheinen derzeit vor allem die Verfahren von Interesse, die eine europäische Ausstrahlung aufweisen, da sich hierdurch Verschiebungen im gesamten Rechtsgefüge ergeben.

2 Ausgangshypothesen und Zielsetzung Prozessen der Erkenntnis und Kommunikation liegen sozial gefestigte Muster und Konventionen als Vermittlungsfaktoren zugrunde (Köller 2012: 13). Im institutionellen Fachsprachengebrauch wird ein Sprecher, der die (sprachlichen) Fachkonventionen nur unzureichend beherrscht und die institutionellen Besonderheiten nicht entsprechend bedenkt, an einer Auseinandersetzung nicht adäquat teilnehmen können (vgl. dazu Busse 1992a: 309; vgl. auch die Thesen des Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen3). Dies manifestiert sich zusätzlich darin, dass die Verfahrensbeteiligten hierarchischen Machtstrukturen unterworfen sind. Um rechtliche Entscheidungsprozesse nachzeichnen zu können, werden die den Fall konstituierenden Texte untersucht und von diesen ausgehend umstrittene Bezeichnungsbeziehungen und (handlungsleitende) Konzepte herausgearbeitet. Unter handlungsleitenden Konzepten werden nach Felder

|| 2 Dieser Beitrag stützt sich auf die Vorgehensweise und Ergebnisse meiner an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg unter der Betreuung von Prof. Dr. Ekkehard Felder abgeschlossenen Dissertation. Sie ist 2015 im Universitätsverlag Winter mit dem Titel „Semantische Kämpfe im Recht. Eine rechtslinguistische Analyse zu Konflikten zwischen dem EGMR und nationalen Gerichten“ erschienen (im Folgenden: Luth 2015). 3 Die Thesen des Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen können auf der Homepage unter www.sprache-und-wissen.de eingesehen werden.

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(2006: 18) „die Konzepte bzw. Begriffe der sprachlichen Inhaltsseite“ bezeichnet, die von den „Textproduzenten bei der Konstituierung und Vermittlung von Sachverhalten unbewusst“ verwendet werden oder bewusst auf eine Durchsetzung ausgerichtet sind. Daher erscheint es auch nicht sinnvoll, Semantik und Pragmatik zu weit voneinander abzugrenzen, denn – wie Busse (2012: 45) beschreibt – wird in der lexikalischen Semantik lediglich versucht, „ein Spektrum an Verwendungsmöglichkeiten von Wörtern“ abzubilden. Eine Untersuchung von fachsprachlicher „Kommunikation muss also die Gebrauchszusammenhänge analysieren, in denen die sprachlichen Zeichen regelhaft verwendet werden und damit vielfältige Bedeutungsmöglichkeiten annehmen können (Felder 2006: 32; vgl. auch Busse 1992b: 50). Dazu werden die folgenden Leitfragen gestellt: 1. 2. 3.

Welche handlungsleitenden Konzepte dominieren den Fall Görgülü und wie verhalten sie sich zueinander? Lassen sich die fachlichen Aushandlungsprozesse im Paradigma der semantischen Kämpfe beschreiben? Worin unterscheiden sich alltagssprachliche und fachsprachliche Konzepte im Fach- und Mediendiskurs?

Das Wissen der Experten findet seinen Ausdruck in den Entscheidungstexten, deren Untersuchung daher den Kern der vorliegenden Analyse bildet. Um die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können, müssen zudem die Normtexte betrachtet werden, denn mit diesen nehmen die Richter Bezug auf die strittigen Sachverhalte in der Welt (vgl. Jeand’Heur 1989: 9f.). Der Bezug von natürlicher Sprache auf Dinge und Sachverhalte in der Welt ist aber nicht bereits gegeben (vgl. Jeand’Heur 1989: 10f.), so dass der Sprecher, der Richter, in den Mittelpunkt rückt: Er [der juristische Funktionsträger] bedient sich des Normtextes bzw. der darin enthaltenen sprachlichen Eingangsdaten und referiert mit ihnen, unter Berücksichtigung der normativ relevanten Realdaten – auf Sachverhaltswirklichkeit. Die Referenz des Normtextes, dessen Regelungsgehalt, wie aber auch der davon betroffene Wirklichkeitsbereich werden vom Juristen dabei erst und stets neu konstituiert. (Jeand’Heur 1989: 11)

Durch die zentrale Rolle des Richters bei der Entscheidungsfindung wird auch klar, warum der Aspekt der Perspektivierung in Sprache für die Analyse Relevanz hat (vgl. Felder 2006, Köller 2004). Sollen kognitive Konzepte verfügbar gemacht werden, muss sich für eine sprachliche Form entschieden werden und somit Wissen „auch eine bestimmte perspektivische Akzentuierung gegeben

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werden“ (Köller 2004: 249; vgl. auch Felder 2006); ein Umstand, der in fachlichen Auseinandersetzungen zu semantischen Kämpfen führen kann.

3 Textkorpus und methodische Zugänge Das Fallbeispiel der Untersuchung bildet der Sorgerechtsstreit um Kazim Görgülüs Sohn. Dieser Streit wurde als Fall Görgülü berühmt. Görgülü begehrt als lediger Vater das Sorgerecht für seinen Sohn. Dieses Ziel, das Sorgerecht zu erlangen, bleibt über den langen Prozesszeitraum (2000–2008) bestehen (vgl. zur Sachverhaltsdarstellung die Gerichtsentscheidungen zu diesem Fall): Görgülü unterstützt seine (ehemalige) Freundin während ihrer Schwangerschaft sowohl persönlich als auch finanziell, obwohl die Beziehung bereits vonseiten der Frau beendet wurde. Der Kontakt zwischen den Elternteilen bricht jedoch vor der Geburt des Kindes ab. Görgülü erlangt von der Geburt seines Kindes erst verspätet Kenntnis, sodass die Mutter das Kind bereits direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat. Es wird daraufhin von einer Pflegefamilie angenommen, die sich auch um die Adoption bemüht. Die Pflegeeltern sind nach einer kurzen Zeit des Kontakts nicht mehr daran interessiert, Görgülü Zugang zu seinem Kind zu ermöglichen. Sie möchten, dass der Junge in ihrer Familie bleibt und dort aufwachsen kann. Die leibliche Mutter hingegen lässt ihre elterlichen Rechte und Pflichten ruhen. Im Oktober 1999 versucht Görgülü daraufhin erfolglos das Sorgerecht für das Kind zu erlangen. Im November lässt er seine Vaterschaft gerichtlich feststellen. Das Tauziehen zwischen den Familien beginnt: Auf der einen Seite stehen die Pflegeeltern und der Amtsvormund des Kindes, auf der anderen Seite Görgülü mit seiner neuen Lebensgefährtin, die er heiraten wird. Der Fall geht durch verschiedene Instanzen. Zunächst gelingt es Görgülü nicht, vor den nationalen Gerichten das Sorgerecht oder zumindest das Umgangsrecht zu erstreiten. Er scheitert vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit einer Verfassungsbeschwerde, die nicht zur Entscheidung angenommen wird. Schließlich wendet sich Görgülü mit einer Menschenrechtsbeschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser befindet am 26.02.2004, dass die deutschen Gerichte nicht hinreichend geprüft hätten, unter welchen Bedingungen ein Kontakt zwischen Görgülü und dem Kind erreicht werden könnte. Das Gericht stellt eine Verletzung von Art. 8 EMRK [Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens] fest. Die Bundesrepublik Deutschland als beklagter Staat ist nun gefordert, den Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu beseitigen. Der Fall nimmt eine entscheidende Wendung, da die nationalen Gerichte sich nun mit einem Urteil

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eines internationalen Gerichtshofs konfrontiert sehen, das zugunsten Görgülüs ausgefallen ist. Der Fall Görgülü hat also neben den Sorgerechtsfragen eine weitere Dimension, die in der Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR liegt.

3.1 Das Textkorpus Um die Konstitution des Falls Görgülü in der Fach- und Medienkommunikation erfassen zu können, wurde ein Textkorpus gebildet, das sich qualitativ untersuchen lässt. Dabei wurde folgende Untergliederung in Teilkorpora vorgenommen:  Fachdiskurs: Entscheidungstexte der Gerichte (2001–2007);  Fachdiskurs: Gutachten oder Stellungnahmen von Sachverständigen (2001–2006);  Juristische Binnenkommunikation: Aufsätze aus Fachzeitschriften (2004–2010);  Printmediendiskurs: überregionale & regionale Zeitungen/ Zeitschriften (2004–2011). In diesem Beitrag sollen die Ergebnisse aus der Analyse der Entscheidungstexte und des Printmediendiskurses präsentiert werden, sodass diese Teilkorpora detaillierter erläutert werden:

3.1.1 Die Entscheidungstexte Im Fall Görgülü ergehen sowohl Entscheidungen zum Sorgerecht als auch zum Umgangsrecht. Nicht alle der mehr als 80 Entscheidungen wurden in das Korpus aufgenommen und untersucht, da der Schwerpunkt der Studie auf den Begründungszusammenhängen liegt und somit vor allem die ausführlichen Entscheidungsgründe von Interesse sind (vgl. Luth 2015: 67): „Das Textkorpus wurde unter der Prämisse zusammengestellt, dass das Verfahren rechtslinguistisch untersucht werden kann, jedoch dabei keine oder nur aus der rechtslinguistischen Analyse abgeleitete Antworten auf rechtliche Fragen gegeben werden können.“ (ebd.) Auf dieser Grundlage wurden folgende Parameter für die Textauswahl herangezogen:  die Entscheidung wird intertextuell von den Gerichten aufgegriffen und verarbeitet;  die Entscheidung wird nicht vertagt;

Rechtssemantik und Rechtspragmatik | 135



die Entscheidungsaspekte tangieren primär nicht die verfahrensrechtlichen Vorschriften der Zivilprozessordnung.

Meist markieren die Entscheidungen auch eine Wende oder einen Einschnitt im Verfahren und werden sowohl in den Fachzeitschriften als auch in den Printmedienartikeln behandelt.4 Folgende Entscheidungstexte wurden auf Basis dieser Kriterien in das Korpus aufgenommen:  Amtsgericht (AG) Wittenberg, 5 F 31/01, 19.01.2001  AG Wittenberg, 5 F 21/2000, 09.03.2001  Oberlandesgericht (OLG) Naumburg, 14. Senat, 14 UF 52/01, 20.06.2001  Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Application no. 74969/01, 26.02.2004, final version 26.05.2004  EGMR, Deutsche Übersetzung (NJW 2004, 3397), 26.02.2004  AG Wittenberg, 5 F 463/02 UG, 19.03.2004  OLG Naumburg, 14. Senat, 14 WF 64/04, 30.06.3004  OLG Naumburg, 14. Senat, 14 UF 60/04, 09.07.2004  Bundesverfassungsgericht (BVerfG), 2. Senat, 2 BvR 1481/04, 14.10.2004  OLG Naumburg, 14. Senat, 14 WF 236/04, 08.12.2004  OLG Naumburg, 14. Senat, 14 WF 234/04, 20.12.2004  BVerfG, 1. Senat, 1 BvR 2790/04, 28.12.2004  BVerfG, 1. Senat, 1 BvR 1664/04, 05.04.2005  BVerfG, 1. Senat, 1 BvR 2790/04, 10.06.2005  OLG Naumburg, 8. Senat, 8 UF 84/05; 8 UF 195/05, 15.12.2006  BVerfG, 1. Senat, 1 BvR 125/07, 09.02.2007

|| 4 Die Textauswahl könnte dazu führen, dass Aspekte, die ausschließlich in den nicht untersuchten Entscheidungen angesprochen wurden, in der Interpretation fehlen und somit durch die Auswahl der Entscheidungen bereits eine eigene Perspektivierung vorgenommen wurde. Ein anderes Korpus zum Fall könnte abweichende Ergebnisse hervorbringen. Zu den untersuchten Entscheidungen sei angemerkt: Sofern der Zugriff auf die Entscheidungen durch die Internetseite des entsprechenden Gerichts gestattet war, wurden die offiziellen Versionen verwendet. Bei einigen Entscheidungen war dies nicht möglich. Teilweise waren sie aber in den online verfügbaren Datenbanken (Suche über beckRS) veröffentlicht. Einige Entscheidungen waren jedoch auch auf diesem Wege nicht auffindbar. Sie wurden dann über eine Kontaktaufnahme zu der Rechtsanwältin der Familie Görgülü zugänglich gemacht. Dieses Vorgehen birgt die Gefahr, dass Dokumente verfälscht worden sind, was sich aber durch die weitere Textarbeit hätte zeigen müssen. Ähnliches berichtet auch Klein in ihrer Dissertation (2010). Sie beruft sich auf die Internetseite der Familie Görgülü, auf der einige Entscheidungstexte veröffentlicht worden sind (Luth 2015: 67–70).

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 

BVerfG, 1. Senat, 1 BvR 217/07; 1 BvQ 2/07, 09.02.2007 Bundesgerichtshof (BGH), X II ZB 229/06, 26.09.2007

3.1.2 Printmedientexte Um neben dem Fachdiskurs auch stärker allgemeinsprachliche Sprechereinstellungen aufzeigen zu können, wurde ein Korpus aus Printmedientexten zusammengestellt. Die Texte wurden über die Online-Datenbanken LexisNexis, wiso, Faz.biblioNet sowie SZ LibraryNet anhand der Suchwörter „Görgülü“, „Bundesverfassungsgericht UND Sorgerecht“, „Europäischer Gerichtshof UND Sorgerecht“ und „OLG Naumburg UND Sorgerecht“ recherchiert (Beschreibung zum Aufbau des Korpus nach Luth 2015: 72f.). Die anhand dieser Suchwörter gefundenen Treffer wurden manuell sortiert, um thematisch unpassende Artikel auszuschließen. Mit diesem Korpus wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Somit ist es durchaus möglich, dass in der Zeit vom 01.01.2000 bis zum 31.12.2011 (Suchzeitraum) weitere Printmedienartikel zum Fall Görgülü erschienen sind, die mithilfe der ausgewählten Suchwörter nicht gefunden werden konnten. Die Mitteldeutsche Zeitung (MZ) wurde als regionale Zeitung ausgewählt, um auf mögliche Unterschiede zwischen der überregionalen und der regionalen Berichterstattung hinweisen zu können. Thematisch umfasst das Korpus zwei Säulen: von 2004 bis einschließlich 2008 steht der Fall Görgülü sowie die Diskussion um die Bindungswirkung der EGMR-Entscheidungen im Blickfeld. Im Postdiskurs (PD) werden beispielhaft einige ausgewählte Artikel aus der FAZ, der SZ, der taz, der MZ und der FR betrachtet, die nach Abschluss des Verfahrens auf den Sorgerechtsstreit Görgülü Bezug nehmen. Das Medienkorpus besteht aus den folgenden Texten:

Rechtssemantik und Rechtspragmatik | 137

Tab. 1: Übersicht der untersuchten Printmedientexte

Jahr

FAZ

SZ

MZ

taz

Welt

FR

2004

6

3

5

4

3

3

2005

7

3

16

1

1

2

2006

1

1

3

1

1

2

2007

1

2

4

1

1

1

2008

4

1

1

0

0

0

PD

19

10

29

7

6

8

2009

1

0

0

1

0

1

2010

2

3

0

0

0

0

2011

1

1

0

0

0

3

23

14

29

8

6

12

Gesamt

Zwei Artikel aus der Zeitschrift Der Spiegel haben zusätzlich Eingang in das Korpus gefunden. Zu den redaktionellen Textsorten, wie Meldungen und Kommentare, wurden Leserbriefe in das Korpus aufgenommen. Es wurden Leserbriefe aus der FAZ, der SZ, der MZ und aus der Zeitschrift Der Spiegel ausgewählt. Tab. 2: Übersicht der untersuchten Leserbriefe

Jahr

FAZ

SZ

MZ

Der Spiegel

2004

1

1

0

0

2005

0

1

6

0

2006

1

0

1

1

2007

0

1

1

0

Gesamt

2

3

8

1

3.2 Methodische Zugänge Nach Spitzmüller und Warnke (2008: 3f.) sind die Relevanz und die fachsystematische Einbettung der Diskurslinguistik vielfach dokumentiert, weshalb sich hier auf einige wesentliche Anmerkungen beschränkt werden soll. Innerhalb

138 | Janine Luth

der Linguistischen Diskursanalyse werden verschiedene Ansätze verfolgt, wobei die „Diskurslinguistik nach Foucault“ (Warnke 2007) einen Schwerpunkt bildet. Dabei können die Foucault’schen Theoreme jedoch nicht ohne Weiteres in eine Methode überführt werden (vgl. Spitzmüller / Warnke 2011: 77). Bei dieser Untersuchung steht das Textgeflecht im Mittelpunkt: Texte des Rechts, die man in verschiedene Textsorten gruppieren kann (Normtexte, Kommentartexte, Entscheidungstexte, Fachaufsätze etc.), bilden den Anker, um intertextuelle Beziehungen deutlich zu machen:5 Intertextualität lässt sich beschreiben als „die Gesamtheit aller Phänomene des expliziten oder impliziten Bezugs zwischen Texten […] – vom direkten Zitat bis zur kaum erkennbaren Anspielung“ (Spitzmüller / Warnke 2011: 188). Spitzmüller und Warnke führen fort, dass Intertextualitätsphänomene wiederum als primärer Zugang zum Verständnis von Transtextualität angesehen werden können: „Immer dort, wo Texte sich auf andere Texte beziehen – und jeder Text tut dies mehr oder weniger ausgeprägt – können wir transtextuelle Strukturen beschreiben“ (Spitzmüller / Warnke 2011: 188). Es lässt sich dann ermitteln, wie innerhalb eines Textes Verweise auf andere Texte vorgenommen werden (intertextuell) und wie sich dadurch ein transtextuelles Netz, ein Textgeflecht, ergibt (vgl. Luth 2015: 64). Für die Untersuchung der Printmedientexte ist zudem die pragma-semiotische Textarbeit nach Felder (2012) relevant, die die Ebenen der Lexik, der Syntagmen, der Äußerungseinheiten auf Satzebene, der Texte und der Bilder (wobei die Text-BildBeziehung in dieser Untersuchung eine untergeordnete Rolle spielt) fokussiert.6 Es wird stets darum gehen, an der Sprachoberfläche zu zeigen, wie Referenzobjekte konstituiert werden (vgl. Vogel 2009: 33). Dabei lassen sich die Konzepte und Ausdrucksmuster hermeneutisch herausarbeiten und anhand von Textbelegen plausibilisieren. Als Möglichkeit zum Nachvollzug von fachlichen Auseinandersetzungen zwischen Diskursakteuren hat sich das Paradigma der Semantischen Kämpfe bewährt (zum Terminus des semantischen Kampfs siehe Klein 1989, Hermanns 1994, Felder 2003, 2006; zu semantischen Kämpfen im Recht siehe Felder 2010; vgl. zu der Darstellung auch Luth 2015: 80f.). Die Untersuchung mittels semantischer Kämpfe bietet sich an, wenn die Perspektive der Diskursakteure, die ihre

|| 5 Mit Blick auf den diskursanalytischen Untersuchungsansatz ist es von grundsätzlicher Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass Diskurse im Sinne Foucaults allerdings primär keine Texte hervorbringen, sondern dort Aussagen geformt werden (Bubenhofer 2009: 35). 6 Insgesamt fällt in dem Medienkorpus auf, dass die hier untersuchten Publikationsorgane nur wenig Bildmaterial verwenden. Dies dürfte vor allem an der hohen Zahl an Meldungen liegen, die meist nicht bebildert sind.

Rechtssemantik und Rechtspragmatik | 139

Vorrangstellung in fachlichen Auseinandersetzungen betonen wollen, herausgearbeitet werden soll. Es müssen also die Diskursprotagonisten benannt werden, für die hier vorgenommene Untersuchung sind dies primär die Richter. Semantische Kämpfe lassen sich beschreiben als das „Nachzeichnen von Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungsversuchen bei einem umstrittenen Sachverhalt“ (Felder 2006: 15). Die Grundannahme ist, dass Herrschaft und Macht auch über Semantik ausgeübt werden und Akteure in einzelnen Wissensgebieten spezifische Perspektiven als interessensgeleitete und handlungsleitende Denkmuster durchsetzen möchten (Felder 2006: 13f.). Christensen / Kudlich (2008: 203) betonen, dass bei einer rechtlichen Auseinandersetzung semantische Kämpfe auf der Ebene der Bezeichnung (Zubereitung des Falls) und bei einem Streit um die Bedeutung (Ebene der Bedeutung) mit Bezug auf die Argumentation auftauchen können. Die semantischen Kämpfe sind eine Möglichkeit, Aushandlungsprozesse um Geltungsansprüche von Wirklichkeitsentwürfen unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten nachzuzeichnen, die bei der sprachlichen Oberfläche, also den Texten und Gesprächen, ansetzt (vgl. Felder 2009: 51). Die semantischen Kämpfe lassen sich auf drei Ebenen beobachten (Felder 2006: 17):  Semantische Kämpfe auf der Bezeichnungsebene (ein Sachverhalt, mehrere Ausdrücke);  Semantische Kämpfe auf der Bedeutungsebene (ein Ausdruck, mehrere Bedeutungszuschreibungen);  Semantische Kämpfe auf der Sachverhaltsebene (Sachverhalte, die erst im Hinblick auf Ausdrücke geformt und fixiert werden). Sollen fachliche Auseinandersetzungen transparent gemacht werden, kann das Paradigma der Semantischen Kämpfe verwendet werden, um auch Laien fachlichen Dissens zu verdeutlichen, der sich häufig unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzieht (vgl. Felder 2006: 13).

4 Semantische Kämpfe im Sorgerechtsfall Görgülü Für den Fachdiskurs ist zunächst das Leitkonzept des ›Kindeswohls‹ als einschlägig zu betrachten, was die Sichtung der Norm- und vor allem der Kommentartexte verdeutlicht hat. Die weitere juristische Fachliteratur bestätigt die hervorgehobene Stellung. Dies bedeutet, dass die Gerichte sich auf dieses Konzept

140 | Janine Luth

berufen müssen, da ihre Entscheidung ansonsten diskursiv nicht akzeptiert wird. Es wird als notwendig und angemessen bewertet, sich am ›Kindeswohl‹ zu orientieren und dieses auch über das Elternrecht aus Art. 6 GG zu stellen. Das Wohlergehen des Kindes ist der Maßstab, an dem sich die Richter zu orientieren haben. Die Priorisierung der Rechte des Kindes deckt sich mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung, denn gegen die Sicherung des Kindeswohls an erster Stelle wird kaum jemand Einwände hervorbringen. Sowohl aus der Experten- als auch der Laienperspektive kann das ›Kindeswohl‹ somit als ein deontisch unumstrittenes Leitkonzept angesehen werden. Entgegen der möglichen Annahme, dass Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe (wie das Kindeswohl) im besonderen Maße semantisch umkämpft sind, wird die folgende Überlegung von Müller (21994: 201) zu bedenken gegeben: Unvollständig ist bei Generalklauseln nur die Dichte des Normtexts. Als im Fall erst einmal erzeugte Rechtsnormen bieten sie keine besonderen Probleme. Die vom Normtext zumeist nur in gesteigert vager Formulierung gelieferten Sprachdaten stellen an den Rechtsarbeiter in allen Stadien des Konkretisierungsvorgangs höhere Anforderungen als bei ‚normalen‘ Vorschriften. Trotzdem ist die Entscheidung durchaus nicht ganz der freien richterlichen Rechtsschöpfung überlassen.

„So kann […] nicht konstatiert werden – wie anfangs eventuell vermutet –, dass bei Fällen, die mit Generalklauseln befasst sind, besonders häufig semantische Kämpfe auftreten.“ (Luth 2015: 82) Es muss nun auf die konkrete Rechtstextarbeit mit dem Kindeswohlbegriff geblickt werden (vgl. zu den Ergebnissen Luth 2015: 171-196). Konfliktlinien im Fall Görgülü lassen sich deutlich machen zwischen:  dem AG Wittenberg und dem OLG Naumburg  dem OLG Naumburg und dem EGMR  dem OLG Naumburg und dem BVerfG Ausdrucksseitig verwenden das AG Wittenberg und das OLG Naumburg eine (fast) identische Formulierung: Dem minderjährigen Kind, dem Kindesvater und den Pflegeeltern stehen nach Artikel 1, 2 und 6 Grundgesetz Rechte zu, die vorliegend zu berücksichtigen sind, auch wenn für sich genommen die Sorgerechtsregelung die Rechte der Pflegeeltern noch nicht einschränkt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes aus Artikel 1 I und 2 I GG tangiert sowohl das Recht des Vaters aus Artikel 6 II Satz 1 GG als auch das der Pflegefamilie nach Artikel 6 I und III GG. Die Gewährung der Elternrechte dient in erster Linie dem Schutz des Kindes und das Kindeswohl ist die oberste Richtschnur für jede diesbezügliche Entscheidung. (AG Wittenberg vom 09.03.2001: 5f.)

Rechtssemantik und Rechtspragmatik | 141

Die Entscheidung des Senats, dem Kindesvater als leiblichem Vater des Kindes Christofer nicht die alleinige elterliche Sorge zu übertragen, verletzt ihn auch nicht in seinem Elternrecht aus Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Denn die nach Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtliche Gewährung des Elternrechts hat in erster Linie den Zweck, dem Schutz des Kindes zu dienen. Damit ist das Kindeswohl grundsätzlich die oberste Richtschnur der im Bereich des Kindschaftsrechts zu treffenden Entscheidung der Gerichte (BVerfG, FamRZ 2000, 1489), von welcher Direktive sich der Senat bei seiner Entscheidung auch allein maßgeblich hat leiten lassen. (OLG Naumburg vom 20.06.2001: 14)

Die späteren Entscheidungen jedoch weichen stark voneinander ab und verursachen einen ersten Ausgangskonflikt: Während das AG Wittenberg sich für einen Wechsel oder zumindest einen Umgang zwischen Vater und Sohn ausspricht, ordnet das OLG Naumburg den Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie an. Das BVerfG nimmt eine Verfassungsbeschwerde des Vaters zunächst nicht an, sodass Görgülü eine Menschenrechtsbeschwerde einreicht und der EGMR sich mit dem Streitgegenstand befasst. Im Tenor der Entscheidung wird deutlich, dass sich auch die Richter des EGMR auf die Kindeswohlmaxime berufen: Bei der Entscheidung darüber, ob die Verweigerung des Sorge- und Umgangsrechts ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig‘ ist, prüft der Gerichtshof, ob die zur Rechtfertigung angeführten Gründe stichhaltig und ausreichend i. S. von Art. 8 II EMRK sind. Dabei ist das Kindeswohl von entscheidender Bedeutung (EGMR vom 26.2.2004, NJW 2004: 3397).

Da das OLG Naumburg der Aufforderung des EGMR, die Möglichkeit mindestens eines Umgangsrechts für den Vater erneut zu prüfen, nicht nachkommt, wird die zweite Verfassungsbeschwerde Görgülüs angenommen und es ergehen mehrere Entscheidungen des BVerfG, die sich anhand der Präjudizien ebenfalls auf das Kindeswohl berufen. Es ist also offensichtlich, dass die Relevanz des Kindeswohlkonzepts unter den Gerichten unumstritten ist. Die Gerichte im vorliegenden Fall kommen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Kindeswohlprüfung. Um dies transparent machen zu können und damit die unterschiedlichen Argumentationslinien aufzeigen zu können, werden (handlungsleitende) Subkonzepte zum Kindeswohlkonzept gebildet. Die handlungsleitenden Subkonzepte lassen sich anhand eigener Teilaspekte systematisieren und sind daher geeignet, die Bedeutungsfixierungsversuche der Gerichte zu verdeutlichen. Zwei Subkonzepte werden herangezogen: 

›Verwurzelung‹ mit den konkurrierenden Attribuierungen: dynamisch ‚sozial‘; gegeben ‚biologisch‘

142 | Janine Luth



›Verbindung zwischen dem Kind und seinem Umfeld‹ mit den konkurrierenden Attribuierungen: dynamisch / gegeben ‚emotional‘; gegeben ‚biologisch‘; dynamisch ‚sozial‘

In die Entscheidungen fließt meist nicht nur ein Subkonzeptattribut ein, sondern die Gerichte wägen zwischen den Teilbedeutungen ab und setzen dann in den Beurteilungsgründen den Aspekt dominant, der ihre Entscheidung leitet. Lediglich das OLG Naumburg, 14. Senat, lotet die Attribuierungen nicht offen aus, sondern erklärt das Attribut ‚biologische/leibliche Wurzeln‘ als irrelevant bei der Bewertung des Kindeswohls. Zunächst sei der Konflikt zwischen dem AG Wittenberg und dem OLG Naumburg skizziert: In der Argumentation des AG Wittenberg dominiert bei den Konzepten ›Verwurzelung‹ und ›Verbindung zwischen dem Kind und seinem Umfeld‹ der Teilaspekt ‚biologisch‘: Das Gericht hält die Erziehung und Betreuung des Kindes durch dessen leiblichen Vater für seinem Wohl am besten entsprechend [sic]. Der Kindesvater kann mit den besonderen Eigenheiten des Kindes, insbesondere soweit sie genetisch bedingt sind, auf Grund seiner eigenen Herkunft und der persönlichen Kenntnis der Kindesmutter, bei Konflikten besser umgehen. (AG Wittenberg vom 09.03.2001: 9)

Mit der für den Fachdiskurs formelhaften Wendung „dem Wohl am besten entsprechend“ soll nicht etwa ausgesagt werden, dass die Pflegeeltern ungeeignet wären, sondern es wird die besondere Eignung des leiblichen Vaters hervorgehoben. Somit wird der Teilaspekt der ‚biologischen Herkunft‘ in den Vordergrund gerückt. Dies bestätigt der weitere Verlauf der Entscheidung: „Die Persönlichkeit eines Kindes wird unstreitig ganz entscheidend auch durch die Kenntnis und Auseinandersetzung mit seinen Wurzeln geprägt.“ (AG Wittenberg vom 09.03.2001: 9, hier sind die Wurzeln mit dem leiblichen Vater gemeint). Das Konzept ›Verbindung zwischen dem Kind und seinem Umfeld‹ wird vom AG stärker ‚(emotional) biologisch‘ attribuiert und nicht auf eine ‚soziale‘ Dimension beschränkt, die aber durchaus als relevant klassifiziert wird: Die tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten zur Erziehungsübernahme sieht das Gericht hier auf Seiten der väterlichen Familie, auch bei Berücksichtigung der intensiven Bindung des Kindes zur Herkunftsfamilie, als vorhanden an. Eine innige Beziehung zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn konnte bisher nicht wachsen. Die emotionale Bindung eines Kindes an einem Elternteil hängt erfahrungsgemäß keineswegs immer von der Dauer des Zusammenlebens ab. (AG Wittenberg vom 09.03.2001: 9)

Das OLG Naumburg hingegen setzt andere Teilaspekte dominant. Das Gericht sieht 2001 die Betreuungsmöglichkeiten sowohl bei Görgülü als auch bei den

Rechtssemantik und Rechtspragmatik | 143

Pflegeeltern als gegeben an, sodass die grundsätzliche Eignung der Eltern für die Entscheidung keine Hinweise liefert, wie es vorher auch schon das AG Wittenberg angenommen hat. Der Anteil der biologischen/leiblichen Wurzeln für ein gelungenes Heranwachsen des Kindes wird dabei aber in den Hintergrund gerückt: Der Senat geht auch davon aus, dass der Kindesvater, wenngleich er selbst keine Schule besucht hat und auch keine abgeschlossene Berufsausbildung besitzt, unter Mithilfe seiner deutschen Ehefrau durchaus imstande wäre, das Kind Christofer, lebte es bei ihm, in jeder Beziehung, […], angemessen zu fördern. Doch ist andererseits im vorliegenden Fall mit Blick auf das Kindeswohl vorrangig die zwischenzeitlich zwischen dem Kind Christofer und seinen Pflegeeltern kontinuierlich über einen langen Zeitraum entstandene enge Eltern-Kind-Bindung zu berücksichtigen, und zwar in Hinblick darauf, dass eine Herausnahme des Kindes aus der Obhut der intakten, gleichermaßen zur Erziehung geeigneten und fähigen Pflegefamilie wegen einer Sorgerechtsübertragung auf den Kindesvater infolge der damit zwangsläufig einhergehenden Trennung des Kindes von seinen primären Bindungspersonen zu schwer wiegenden seelischen Problemen Christofers mit womöglich irreparablen Schäden für seine weitere Persönlichkeitsentwicklung führen könnte. Die Übertragung der elterlichen Sorge auf den Kindesvater kann daher nicht als dem Kindeswohl dienend angesehen werden. (OLG Naumburg vom 20.06.2001: 10)

Neben der Betonung der ‚sozialen‘ Verwurzelung werden auch Ressentiments gegenüber Görgülü („hat keine Schule besucht“) deutlich.7 Außerdem lässt sich an dem Zitat eine Sachverhaltsverknüpfung erkennen. So wird die (befürchtete) Trennung von den Pflegeeltern mit dem Konzept ›Schädigung des Kindes‹ verbunden. Diese Verknüpfung wird sich auch in den weiteren Beschlüssen des OLG Naumburg wiederholen. Die Sachverhaltsverknüpfung ist hier von Interesse, denn sie veranlasst das OLG, eine Sorgerechtsübertragung auf Görgülü auszuschließen, da sie dem Kindeswohl nicht dient. Im Anschluss wird die oben beschriebene Sachverhaltsverknüpfung nochmals deutlich: In Anbetracht dessen stelle die Herausnahme des Kindes Christofer aus seinem vertrauten Lebensumfeld mit der einhergehenden Trennung von seinen bisherigen hauptsächlichen Bindungspersonen eine massive Gefährdung des Kindeswohls dar und würde irreversible seelische Probleme für die weitere Persönlichkeitsentwicklung wie unsägliche seelische Not, psychische Verletzung, Ängste, Desorientierung und damit eine Traumatisierung bedeuten. (OLG Naumburg vom 20.06.2001: 11)

|| 7 Teilweise wurde in der späteren Diskussion auch über einen fremdenfeindlichen, ideologischen Hintergrund spekuliert, was hier nicht weiter vertieft werden kann.

144 | Janine Luth

Es handelt sich hierbei um ein wiederkehrendes Argumentationsmuster des OLG: Die Herausnahme des Kindes, die zu einer Trennung zwischen dem Kind und der Pflegefamilie führt, mündet in einer Gefährdung des Kindeswohls, womit eine Sorgerechtsübertragung ausgeschlossen werden kann. Das Konzept ›Verwurzelung‹ wird in den Entscheidungen des OLG Naumburg ausschließlich ‚sozial‘ attribuiert. Auch die Verfahrenspflegerin hat in ihrer Stellungnahme ausdrücklich hervorgehoben, dass die engen Bezugspersonen für Christofer die Pflegeeltern sowie sein Bruder seien. Weiter hat sie ebenfalls auf den Umstand hingewiesen, dass Christofer bereits seit seinem vierten Lebenstag in der Pflegefamilie lebe und dort emotionale Wurzeln entwickelt habe. (OLG Naumburg vom 20.06.2001: 12)

Die Konfliktlinien zwischen dem AG und dem OLG im Jahr 2001 sind damit deutlich geworden: Es handelt sich um einen Streit um die Sachfrage, wer künftig für das Kind sorgen soll. Die Positionen sind dabei verhärtet: Während das AG Wittenberg für eine Lösung im Sinne des Vaters entscheidet, beschließt die übergeordnete Instanz, das OLG Naumburg, einen Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie. Begründet werden diese Entscheidungen auf Grundlage derselben Normtexte und der im Fall virulenten Sachdaten. Der EGMR beurteilt die Menschenrechtsbeschwerde unter dem Normtext des Art. 8 EMRK: Um einem leiblichen Elternteil das Sorge- oder Umgangsrecht zu verweigern, muss dies in der demokratischen Gesellschaft „notwendig“ sein. Das OLG Naumburg hat die Frage, was dem ›Kindeswohl‹ entspricht, mit der ‚Aufrechterhaltung der bisherigen Familiensituation des Kindes‘ beantwortet. Ferner wird eine ›Schädigung des Kindes‹ in der Übertragung des Sorgerechts auf Görgülü sowie in der Trennung von den Pflegeeltern gesehen. Der EGMR bewertet dies gegensätzlich: Es dient aber dem Wohl des Kindes, seine Familienbindungen aufrecht zu erhalten, denn sie zu zerreißen bedeutet, ein Kind von seinen Wurzeln abzuschneiden, und dies kann nur unter sehr außergewöhnlichen Umständen gerechtfertigt sein. (EGMR vom 26.02.2004, zitiert nach NJW 2004: 3399)

Es ist eindeutig, dass der EGMR für diesen Fall den Teilaspekt ‚biologisch‘ dominant setzt, was allerdings nicht zwangsläufig bedeutet, dass dies für jeden anderen Fall gilt, der vom EGMR bereits entschieden worden ist oder zukünftig wird.8 Dabei reflektiert der EGMR auch darüber, ob die Trennung von den Pflegeeltern auch Beeinträchtigungen für das Kind mit sich bringen könnte: „Es

|| 8 Zur Frage, ob das EGMR insgesamt einen weiteren Familienbegriff vertritt, vgl. Luth 2015.

Rechtssemantik und Rechtspragmatik | 145

trifft zu, dass eine sofortige Trennung von Christofers Pflegefamilie negative Folgen für sein körperliches und seelisches Befinden hätte haben können.“ (EGMR vom 26.02.2004, zitiert nach NJW 2004: 3399) Jedoch wird diese Feststellung eingeschränkt: Weil aber der Bf. Christofers leiblicher Vater und unstreitig bereit und in der Lage ist, ihn zu betreuen, ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass das OLG Naumburg alle möglichen Wege zur Lösung des Problems geprüft hat. Insbesondere scheint das Gericht nicht geprüft zu haben, ob es möglich wäre, Christofer und Bf. unter Umständen zusammenzuführen, unter denen die Belastungen für Christofer geringer wären. (EGMR vom 26.02.2004, zitiert nach NJW 2004: 3399)

In der Entscheidung des OLG Naumburg vom 09.07.2004 bestätigen sich die bislang für dieses Gericht eruierten Konzepte und Sachverhaltsverknüpfungen. So wird die Trennung von den Pflegeeltern bzw. hier die Sorgerechtsübertragung erneut mit einer ›Kindeswohlgefährdung‹ verbunden: Ganz im Gegenteil entspricht eine Übertragung des Sorgerechts auf den Vater nach wie vor nicht nur nicht dem Kindeswohl, geschweige denn, wie geboten, in gesteigertem Maße, sondern liefe bestenfalls auf eine hochgradige Gefährdung, schlimmstenfalls auf eine unmittelbar zu gewärtigende Beeinträchtigung des bislang unversehrten Kindeswohls hinaus. (OLG Naumburg vom 09.07.2004: 5)

Die Entscheidung des EGMR hingegen, mit der sich das OLG Naumburg hätte auseinandersetzen sollen, wird weiterhin ignoriert und als unzutreffend zurückgewiesen: Dem Kindeswohl am besten dient demnach [nach Ansicht des EGMR, Anm. JL], bei Herbeiführung eines Ausgleichs zwischen den widerstreitenden Rechten und Interessen des Kindesvaters und der Adoptiv-Pflegeeltern, in nicht nachvollziehbarer Weise eine Entscheidung, bei der gewissermaßen à tout prix mittels Übertragung des Sorgerechts eine Zusammenführung des biologischen Vaters mit dem Kind herbeizuführen oder in die Wege zu leiten ist – mag auch, wie hier, abgesehen von äußerst spärlichen Umgangskontakten bislang überhaupt keine Beziehung zwischen beiden bestanden haben – […]. (OLG Naumburg vom 09.07.2004: 10)

Das ›Kindeswohl‹ für Görgülüs Sohn ist in den Augen des OLG ausschließlich an die bereits bestehenden sozialen Beziehungen geknüpft. Die ‚biologische‘ Teilbedeutung des Verwurzelungsbegriffs, die sowohl das AG als auch der EGMR stark gemacht hatten, wird erneut zurückgewiesen: Die seinerzeit getroffene Entscheidung des Senats, dem Kindesvater nicht das Sorgerecht zu übertragen, weil dafür nicht, wie in § 1672 I und § 1672 II BGB als zwingendes Erfordernis normiert, festzustellen war, dass dies dem Wohle des Kindes dienlich gewesen wäre,

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war mithin allein zum Schutze des vorrangigen Rechtes des Kindes auf tunlichst psychische Unversehrtheit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, um das in Art. 8 I EMRK verankerte Recht des Ast. auf Achtung seines – realiter bis dato im Wesentlichen auf die biologische Vaterschaft beschränkten – Familienlebens nach Art. 8 II EMRK einzuschränken, ohne dass es auf die innerstaatlich adoptivrechtlich untermauerte Rechtsposition der faktischen Eltern bzw. Pflegeeltern im Verhältnis zum biologischen Vater angekommen wäre. (OLG Naumburg vom 09.07.2004: 11)

Im Beschluss des OLG vom 09.07.2004 wird sehr deutlich, dass das Gericht von seiner bereits 2001 getroffenen Entscheidung unter keinen Umständen abrücken wird: Die Auffassung des Gerichtshofs beruht, bedingt durch die Eindimensionalität des Verfahrens, auf der einseitigen Anhörung und Berücksichtigung der Belange des Kindesvaters, dessen rein biologisch durch die Abstammung begründetes Recht auf Achtung seines – bislang, abgesehen von spärlichen Kontakten, nicht praktizierten – Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK […]. (OLG Naumburg vom 08.12.2004: 4)

Das OLG Naumburg schreibt sich somit zu, eine angemessene wie ausgewogene Entscheidung treffen zu können, während der EGMR lediglich an einer „schnellen Zusammenbringung“ von Görgülü und dem Kind interessiert sei, was als apodiktisch und apriorisch bezeichnet wird (OLG vom 09.07.2004: 9). Dies lässt sich als „Kampf um das Recht“ beschreiben (vgl. Christensen / Sokolowski 2006: 360f.), bei dem das OLG Naumburg die rechtlich zulässigen Bahnen verlassen zu haben scheint: In seiner Entscheidung vom 14.10.2004 hatte sich das BVerfG noch zurückhaltend mit Bezug auf das ›Kindeswohl‹ geäußert: Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass der vom Gerichtshof festgestellte Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 8 EMRK aus der Perspektive des Konventionsrechts andauert, weil der Beschwerdeführer weiterhin keinen Umgang mit seinem Sohn hat. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Wahl der Mittel, mit denen das Urteil innerstaatlich umgesetzt werden muss, frei ist, sofern diese Mittel mit den Schlussfolgerungen aus dem Urteil vereinbar sind. Nach Ansicht des Gerichtshofs bedeutet dies, dass dem Beschwerdeführer mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden müsse (EGMR, Urteil vom 26. Februar 2004, Ziffer 64). Diese Auffassung des Gerichtshofs hätte das Oberlandesgericht veranlassen müssen, sich der Frage zu widmen, ob und inwieweit ein persönlicher Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Kind gerade auch dessen Wohl entsprechen könnte und welche – gegebenenfalls durch ein neues Sachverständigengutachten – belegbaren Hindernisse die Berücksichtigung des Kindeswohls dem vom Gerichtshof für geboten erachteten und von Art. 6 Abs. 2 GG geschützten Umgang entgegenstellt. (BVerfG vom 14.10.2004: Rn. 66)

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Dieser – noch relativ milde Ton – verschärft sich im Laufe des Verfahrens, da das OLG in einem neuerlichen Beschluss die Entscheidung des BVerfG ebenfalls nicht zur Kenntnis nimmt. Ab diesem Punkt im Verfahren steht auch ein Willkürverdacht gegen den 14. Senat des OLG im Raum; eine Verurteilung der Richter hat es gleichwohl nie gegeben: Diese Vorgaben hat das Oberlandesgericht ersichtlich abermals nicht beachtet. Insbesondere hat es sich nicht ansatzweise mit der Frage auseinander gesetzt, wie der Beschwerdeführer eine Familienzusammenführung überhaupt erreichen kann, wenn ihm der Aufbau jeglicher Kontakte mit seinem Kind versagt bleibt. Auch hat es sich nicht hinreichend mit den Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte befasst, wonach es dem Kindeswohl entspreche, die familiären Bindungen aufrechtzuerhalten, da der Abbruch solcher Beziehungen die Trennung des Kindes von seinen Wurzeln bedeute, was nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen gerechtfertigt sei. (BVerfG vom 28.12.2004: Rn. 29)

Das BVerfG beruft sich hier auf das Kindeswohlkonzept des EGMR und des damit verbundenen ‚biologischen‘ Verwurzelungskonzepts. Eine ›Schädigung des Kindes‹ wird beim BVerfG gerade nicht im Umgang mit dem Vater gesehen, wovon das OLG Naumburg ausgeht: Dass hierdurch [durch die Umgangskontakte, Anm. JL] – wie das Oberlandesgericht meint – eine schwer wiegende Gefährdung des Kindeswohls drohte, ist nicht ersichtlich. Zwar soll nicht verkannt werden, dass gerade in Fällen der vorliegenden Art das Kind durch das Verhalten einerseits der Pflegeeltern und andererseits des leiblichen Elternteils in Konflikte geraten kann. Dem ist das Amtsgericht in seiner einstweiligen Anordnung allerdings insoweit entgegen getreten, als es den Beteiligten aufgegeben hat, sich jeglicher, insbesondere abwertender, Äußerungen in Anwesenheit des Kindes zu enthalten, die die Beziehung zum Beschwerdeführer, aber auch zu den Pflegeeltern belasten könnten. Gegen eine Kindeswohlgefährdung spricht zudem, dass das fünfjährige Kind, das von seinem vierten Lebenstag an bei den Pflegeeltern aufgewachsen ist, zu diesen eine stabile Bindung aufgebaut haben dürfte, die es ihm ermöglicht, auch Kontakt mit ihm nicht (so) vertrauten Personen aufzunehmen, ohne dadurch in seiner psychischen Verfassung gefährdet zu werden […]. (BVerfG vom 28.12.2004: Rn. 32)

Die Gerichte müssen durch die herausragende Stellung, die das Kindeswohlkonzept im Fachdiskurs inne hat, an der Textoberfläche deutlich machen, wie dieses Konzept in ihre Begründung und Entscheidung eingeflossen ist. Da das Kind aber nach den Angaben der Gutachterinnen und auch der Gerichte selbst seit mehreren Jahren unter den Verhältnissen leidet, wird teilweise der Eindruck einer von der Dogmatik vorgegebenen formelhaften Betonung erweckt, bei der das tatsächliche Kindeswohl in den Hintergrund gerät.

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Als Ergebnis der Analyse anhand der semantischen Kämpfe um den Kindeswohlbegriff lässt sich festhalten: Die argumentativen Verfahren unter Fokussierung des Leitkonzepts ›Kindeswohl‹ und den spezifizierenden Subkonzepten (die nicht alle gleichermaßen von den Gerichten einer Prüfung unterzogen werden) sind in der Textsorte Entscheidung bestimmend. Die Subkonzepte zeigen aber auch, dass nicht willkürliche Teilaspekte dominant gesetzt werden, sondern sich diese an den Kriterien der herrschenden Rechtsprechung (z. B. den Bindungen eines Kindes oder der Kindeswohlgefährdung) orientieren. Die Subkonzepte sind also keineswegs frei verhandelbar, sondern fügen sich in die Wissensmuster des Fachdiskurses ein.

5 Semantische Kämpfe im Printmediendiskurs Zu Beginn der Analyse stellt sich die Frage, wie der Fall Görgülü in den Medien konstituiert wurde. Anhand des journalistischen Textkorpus soll geprüft werden, ob sich Unterschiede zwischen juristischer und alltagsweltlicher Sachverhaltskonstitution als Voraussetzung für Deutungs- und Bewertungsfragen feststellen lassen (vgl. Felder 2003: 248). Nach der dem Korpus zugrunde liegenden Recherche wird der Fall zum ersten Mal 2004 – mit dem Urteil des EGMR vom 26.02.2004 – in der taz vom 27.02.2004 aufgegriffen. Verstärkten Eingang in den Mediendiskurs erlangt der Fall mit dem Urteil des BVerfG vom 14.10.2004, da dort die Fragen nach der Bindungswirkung von EGMR-Entscheidungen aufgeworfen werden. Erst mit der über den Fall des Sorgerechts hinausweisenden Entscheidung des BVerfG zur Souveränität der Grundrechte rückt der Fall Görgülü in den Blick einer größeren Öffentlichkeit. Der rechtliche Fall Görgülü unterscheidet sich somit von dem medial zubereiteten Fall Görgülü allein dadurch, dass für die Sorgerechtsfragen auch der Hergang vor 2004 relevant ist. Die Berichterstattung korrespondiert dabei mit den Entscheidungen des BVerfG, was dessen hervorgehobene Stellung in der öffentlichen Wahrnehmung unterstreicht. Die MZ erweist sich als geeignetes Vergleichsmedium zu den überregionalen Zeitungen FAZ und SZ, da hier in kürzeren Abständen, emotionaler und im engeren Austausch mit den Familien über den Fall Görgülü berichtet wird. Eine Kontaktaufnahme zu den Beteiligten selbst und das Einflechten einer Einschätzung der Beteiligten sind in der überregionalen Presse hingegen nur vereinzelt festzustellen. Es wird das Gespräch zu den rechtlichen Autoritäten, den Richtern des BVerfG und des EGMR, gesucht, das sich wiederum in der regionalen Presse kaum wiederfindet. Es liegt dabei auf der Hand, dass die Leser unter-

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schiedliche Anforderungen an ihre Zeitungen stellen und unterschiedliche Themenerwartungen hegen.

5.1 Der Fall Görgülü als mediales Ereignis Der Sorgerechtsfall als Ereignis wird anhand von wiederkehrenden Lexemen und Syntagmen konstituiert. Hierbei steht das handlungsleitende Konzept ›ein skandalöser Fall mit Seltenheitswert‹ im Vordergrund. Die zur Evokation dieses Konzepts verwendeten Syntagmen sind redundant und weisen bei den einzelnen Publikationsorganen kaum Besonderheiten auf. Die Beispiele sind meist mehrfach belegt: Tab. 3: Lexeme und Syntagmen zum Fall Görgülü

Lexemebene

Syntagmen

Dauerstreit (Beleg SZ, 24.02.2007)

im europaweit bekannten ‚Fall Görgülü‘ (SZ, 21.04.2005)

Streit (Beleg MZ, 18.12.2006)

im berühmt gewordenen ‚Fall Görgülü‘ (SZ, 24.02.2007)

in einem einzigartigen Streit (SZ, 21.04.2005)

der komplexe ‚Fall Görgülü‘ (SZ, 24.02.2007) im europaweit bekannt gewordenen Kampf eines Vaters um sein Kind (SZ, 24.02.2007) ein beispielloser, nicht enden wollender Justizskandal (SZ, 18.10.2008) seit Jahren andauernden Rechtsstreit eines türkischen Vaters um sein Kind (Die Welt, 30.12.2004) in einem seit über fünf Jahren andauernden Streit um das Sorgerecht für ein nichteheliches Kind (Die Welt, 21.04.2005) im jahrelangen Rechtsstreit um seinen Sohn (MZ, 23.03.2005) der wohl bekannteste und spektakulärste Streit um ein Kind in Deutschland (MZ, 24.02.2007) im gerichtlichen Dauerstreit (MZ, 24.02.2007) im jahrelangen Streit um seinen achtjährigen Sohn (MZ, 25.10.2007)

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Die Ereignis-Konstitution (vgl. hierzu Luth 2015: 239) wird anhand der in der Tabelle gezeigten Komposita und Nominalphrasen vorgenommen. Die dabei verwendeten Substantive Streit, Verfahren und Fall werden durch die Adjektive „beispiellos“, „einzigartig“, „spektakulär“ sowie „bundesweit“ und „europaweit“ attribuiert. Diese Nominalphrasen und Komposita finden sich meist am Textanfang und leiten den Artikel ein. Sie dienen dem Leser zur Orientierung, indem dieser den Fall möglichst rasch „wiedererkennt“ und dem Text in der Folge seine Aufmerksamkeit widmet. Im weiteren Verlauf steigert sich die Empörung über die Vorgänge in Naumburg vom Streit zum Justizskandal, was als Kompositum ebenfalls mehrfach belegt ist. Görgülü selbst bezeichnet in Interviews die gerichtlichen und vormundschaftlichen Ereignisse als „staatlichen Kindesraub“ und als „Zwangsadoption“ (Beleg MZ, „Staatlicher Kindesraub“, 15.07.2004). Das Kompositum Zwangsadoption, durch das die Leser an gewaltsame, erzwungene und vor allem unrechtmäßige Kindeswegnahmen in Gewaltherrschaften erinnert werden (›Verbrechen‹), ist zudem in einer FAZ-Reportage belegt: Im Haus aber ist seine neue Untergebene, die als treibende Kraft der Zwangsadoption geltende Leiterin des Wittenberger Jugendamts, und nimmt die suggestive Befragung selbst vor. (Beleg FAZ, Vater ohne Sohn, 15.04.2005)

Es lässt sich auch beobachten, dass der Fall mit biblischen und literarischen Vorbildern in Kontakt gebracht wird: „In diesem Fall wäre schon zu Beginn ein salomonischer Richter hilfreich gewesen“ (Beleg Der Spiegel, Kind im Kreidekreis, 23.12.2005). Das Urteil behandelt zudem auch einen scheinbar unlösbaren Streit um ein Kind, sodass sich der Vergleich besonders gut eignet. Dieser steht im Zusammenhang mit dem Syntagma in einem beispiellosen Verfahren. Es zeigt sich, dass nur zwei Vergleiche der Dimension des Görgülü-Verfahrens standhalten können: Der Vergleich mit der biblischen Geschichte des Richters Salomon und die Adaption des religiösen Stoffs durch das Theaterstück „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht. Es wurde bereits gezeigt, dass in Bezug auf das Fallereignis gehäuft von einem „beispiellosen Verfahren“ gesprochen wird. Da kein Verfahren der jüngeren Rechtsgeschichte mit diesem Fall vergleichbar zu sein scheint, orientieren sich die Autoren an religiösen und literarischdramatischen Vorbildern. Das „einzigartige“ Ereignis wird somit doch vergleichbar und vermittelbar: als Person, die Bericht erstatten möchte, benötigt man sprachliche Vergleichsmomente und Metaphern, um den Leser emotional anzusprechen und die fachliche Komplexität aufzulösen (vgl. Luth 2015: 258). Damit wird aber auch deutlich, dass die Redakteure sich nicht an fachlichen

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Wissensrahmen orientieren oder gar norm(text)geleitet vorgehen, sondern stärker eine lebensweltliche Konzeptualisierung anstreben (vgl. Vogel 2012: 318). Mit Blick auf das Kindeswohlkonzept lässt sich feststellen, dass die Autoren sich eng an die Entscheidungen bzw. die Pressemitteilungen der Gerichte anlehnen. Ausdrucks- und auch inhaltsseitig wird Kindeswohl/›Kindeswohl‹ fast ausschließlich in Zusammenhang mit den konkreten Entscheidungssprüchen der Gerichte verwendet. Es lässt sich in dieser Hinsicht auch keine einseitige Berichterstattung zugunsten des Vaters ausmachen. Es wird darüber spekuliert, was in diesem verworrenen Fall zulasten des Vaters und der Pflegeeltern ausgetragen wird, jedoch wird hier die Arbeit aller Gerichte grundsätzlich infrage gestellt: Die Menschenrechtsrichter in Straßburg verlangten dagegen, die ‚familiären Beziehungen‘ mit dem leiblichen Kind müßten aufrechterhalten werden können. (Beleg FAZ, Karlsruhe rügt Familienrichter, 30.12.2004) Die Naumburger Richter verweigerten dem in Sachsen lebenden Vater den Umgang, weil sie anderenfalls ‚das Kindeswohl gefährdet‘ sahen. (Beleg FAZ, Karlsruhe rügt Familienrichter, 30.12.2004) Dabei sei auch nach den Folgen einer dauerhaften Trennung des Kindes vom Vater zu fragen sowie danach, ob es Wege einer Zusammenführung gebe, die das Kindeswohl weniger belasten. Denkbar wäre es, so hieß es, dem Vater das Sorgerecht zu übertragen und gleichzeitig das Verbleiben des Kindes in der Pflegefamilie anzuordnen. (Beleg SZ, Karlsruhe stärkt Rechte nichtehelicher Väter, 21.04.2005) Nun hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass dem Elternrecht des türkischen Vaters und dem Wohl des Kindes nur durch eine ‚kontinuierliche Annäherung‘ genügt werden kann. (Beleg FAZ, BGH stärkt Recht des Vaters im Fall Görgülü, 25.10.2007) Der Senat vermag ‚nicht zu erkennen, dass der leibliche Vater zurzeit schon in der Lage ist, das Sorgerecht zum Wohle Christofers auszuüben‘. Eine Übernahme des Sorgerechts vom Amtsvormund (Jugendamt) auf den Vater ‚widerspräche dem Kindeswohl‘. Die Verwurzelung des Kindes bei den Pflegeeltern müsse bedacht werden. (Beleg MZ, Naumburg urteilt erneut gegen Görgülü, 18.12.2006)

Die subtile Perspektivierung, die durch die Gerichte und ihre Pressemitteilungen vorgegeben wird, lässt in den Meldungen sehr wenig Raum für konkurrierende Auswertungen. Zu starke Wertungen oder Parteinahme wären in diesen Textsorten unangemessen, weshalb das Ergebnis auch nicht überraschend erscheint. In Kommentaren und längeren Reportagen (wie im Spiegel) kann diese enge Rückbindung an die Pressemitteilungen zwar abweichen, konkrete Einstellungen zu den Fachkonzepten lassen sich jedoch nicht nachweisen. Für

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die Leserbriefe verhält sich dies anders. Sie sind für die Untersuchung besonders interessant, da hier allgemeinsprachliche Sprechereinstellungen der Laien zu Tage treten: Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen wir den Fall des Vaters Kazim Görgülü, dem sein Sohn Christopher gewaltsam vorenthalten wird. Schlimmer noch, dem Kind wird sein Vater, werden seine Wurzeln einfach aus dem Leben gestrichen. Es hat keine Chance sich dagegen zu wehren. Wer sind diese Menschen, die so etwas bestimmen wollen und was maßen sie sich an? Es wird ständig, auch vom Gesetzgeber, immer vom Kindeswohl gesprochen. Klar und deutlich ist aber auch formuliert, zum Kindeswohl gehören an allererster Stelle die Eltern und die Familie […] Zum Wohle von Christopher ist es sicherlich nicht, dass (sic) kann jetzt mittlerweile keiner mehr behaupten. Ich appelliere an die Menschen in dem Umfeld von Christopher, helfen sie (sic) mit, den Pflegeeltern den richtigen Weg zu empfehlen. (M. Heß, MZ vom 29.01.2005)

Die Leserin orientiert sich an einem Konzept, das sich als ›leibliche Familie‹ erfassen lässt, und verbindet den im Fachdiskurs umstrittenen Terminus Wurzeln mit dem leiblichen Vater: Sie betrachtet das ›Kindeswohl‹ ebenfalls als eine Art Leitkonzept, bezieht sich dabei auf ihre eigenen Vorannahmen („klar und deutlich ist aber auch formuliert, zum Kindeswohl gehören an aller erster Stelle die Eltern und die Familie“). Sie bewertet den Fall durch die Adjektive „gewaltsam“, „schlimm“ und „richtig“ und suggeriert damit, es gebe eine bereits vom Gesetz vorgegebene Entscheidung, die von den Richtern verkannt werde. Im Unterschied dazu kennzeichnet sich der Einwurf des Lesers Schrodt durch ein Konzept, das sich an der ›gelebten Familie‹ orientiert. Er unterstreicht seine Position mit der Verwendung der Koseformen „Mama“ und „Papa“ für die Pflegeeltern, wodurch die kindliche Perspektive eingenommen wird: Ich kann verstehen, dass man als Vater um sein Kind kämpft. Jedoch Herrn Görgülüs Ziel in allen Ehren: Es geht hier um einen kleinen Jungen, der glücklich ist, so wie sein Leben jetzt ist. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass es in den bisher veröffentlichten Artikeln und Leserbriefen immer nur um die Gefühle des Vaters geht. ER sollte sich doch einmal in die Lage seines Kindes versetzen: Gleich nach dessen Geburt gab es nur eine Mama und einen Papa für ihn, nämlich die, die es heute noch sind. Diese haben ihn mit dem Ziel der Adoption in ihre Familie aufgenommen und alle Liebe geschenkt. […] Diese Geschichte schreibt der Vater und auch er bestimmt das Ende mit. Lässt er sein Kind in seiner glücklichen Welt oder muss er unbedingt seine Vaterrolle spielen? Es wird gewiss eine Zeit geben, wo der Junge nach seiner Herkunft fragt und dann selber entscheiden darf und soll, ob ein Kontakt gewünscht ist. Der Vater sollte sich so lange gedulden, das Kind wird es ihm danken. (J. Schrodt, MZ vom 10.05.2005)

›Familie‹ wird also einmal mit dem Teilaspekt ‚leiblich‘ und einmal mit dem Teilaspekt ‚erlebt‘ zusammengebracht: Diese unterschiedliche Perspektivierung

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ist bereits im Streit zwischen den Gerichten aufgetreten. In den Entscheidungen der Gerichte wird mehrheitlich die Position vertreten, dass dem Vater zumindest ein Umgangsrecht gestattet werden müsste, lediglich das OLG weicht davon ab, sodass die Rechtslage mehr oder weniger eindeutig erscheint. Die Leser bewerten das Schicksal des Kindes dazu häufig gegenläufig, wie der folgende Brief verdeutlicht, dessen Schreiber zudem eine einseitige Parteinahme für Görgülü befürchtet: Wieder berichtet die MZ zum Fall einseitig und ausschließlich zugunsten des ‚leiblichen Vaters‘. Noch nie in den Berichten über den Streit um den fünfjährigen Jungen war von einem Recht des Kindes die Rede. […] Die Mutter hatte sich schon während der Schwangerschaft von Kazim Görgülü getrennt und das Kind zur Adoption freigegeben. Die Vaterschaft Görgülüs wurde erst nachträglich festgestellt. […] Was verlangt Görgülü von dem Fünfjährigen? […] Das Kind soll verstehen, dass Mama und Papa nicht mehr Mama und Papa sind, dass ein anderer Papa mit fremdem Namen kommt? […] Wer solche Forderungen stellt, handelt nicht aus Liebe zum Kind, sondern aus Eigenliebe und Rechthaberei. Geht es hier um formales Recht oder geht es um ein Kind, dessen kleine Persönlichkeit in Frage gestellt wird? […] Wer begeht hier eigentlich eine ,Menschenrechtsverletzung‘? Ist der Fünfjährige ein Mensch und hat er Rechte? Dann sollte man ihn fragen, wer sein Papa ist und bei wem er bleiben möchte. (Dr. W. Grossert, MZ vom 18.05.2005)

Das „formale Recht“, auf das sich Görgülü nach Meinung des Lesers beruft, wird als Feindbild erblickt und der ›Menschlichkeit‹ entgegen gesetzt. Dieser Leserbrief wird von einem anderen Leser beantwortet. In mehrfacher Hinsicht wird dabei deutlich, dass der darauf Bezug nehmende Leser ein anderes Verständnis an den Fall heranbringt.9 Der Leserbrief von Doktor Werner zeigt deutlich, wie durch Unkenntnis Gerüchte gestreut werden. Im Fall Görgülü geht es darum, dass der leibliche Vater ein Umgangsrecht bekommt, das heißt, dass er unter Aufsicht von einem Vertreter einer Familienorganisation mit seinem Kind Umgang haben darf, mit ihm spielt oder sich unterhält. Dieser Umgang wird dem leiblichen Vater durch die Willkür des Jugendamtes verwehrt. Und so bleibt es eine Tragödie für alle Beteiligten. (A. U. Nebert, MZ vom 21.06.2005)

Zunächst wird dem Leserbriefschreiber Grossert fachliches Wissen abgesprochen („durch Unkenntnis“). Außerdem wird der Inhalt des Leserbriefs als sachlich unzulänglich und inadäquat bewertet („Gerüchte gestreut werden“). Anschließend nimmt der Leser Nebert für sich selbst in Anspruch („im Fall Görgülü geht es darum“), den Fall angemessen zusammenfassen zu können.

|| 9 Dieser bezieht sich auf einen Brief von Dr. Werner und nicht von Dr. Grossert, hier scheint eine Namensverwechselung vorzuliegen.

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Die Leserbriefe spiegeln wider, dass die Leser sich – verständlicherweise – von ihren eigenen Empfindungen leiten lassen und den Fall nach ihrem eigenen Gerechtigkeitsgefühl bewerten und damit nicht auf der Basis von fachsemantischen Wissensrahmen.

5.2 Die Bindungswirkung von EGMR-Entscheidungen in der medialen Diskussion Ein zweites Subthema im Mediendiskurs stellt das „Hierarchieverhältnis zwischen BVerfG und EGMR“ dar. Die Entscheidung des BVerfG vom 14.10.2004 findet in der medialen Berichterstattung besondere Berücksichtigung. Obwohl sich die Zeitungen und Zeitschriften an den Pressemeldungen der Gerichte orientieren, wird gerade in den Kommentaren darum gerungen, in welche Richtung das BVerfG sein Verhältnis zum EGMR bewegen möchte und dazu die Entscheidungstexte nutzt. Verdeutlichen lässt sich dies an den Lexemen und Syntagmen, mit denen auf die Konzepte ›Behauptung der nationalen Souveränität und Kontrollmechanismus‹ und ›Kompetenzstreit‹ Bezug genommen wird. Die folgenden Lexeme und Syntagmen sind (Ausnahme: juristisches Röhren) mehrfach belegt: Tab. 4: Lexeme und Syntagmen zum Hierarchieverhältnis

Lexeme

Syntagmen

Machtkampf (SZ, Titel, 18.02.2005)

der Kampf der Gerichte (SZ, 18.02.2005)

Richter-Streit (SZ, Titel, 18.02.2005)

juristisches Röhren (SZ, 20.10.2004) das letzte Wort (FAZ, 23.10.2004)

Die erweiterte Nominalphrase „der Kampf der Gerichte“ wird in den untersuchten Printmedientexten mit dem Konzept ›Zuständigkeit und Machterhalt‹ verbunden. Dabei steht dieses Konzept in dem hier untersuchten Korpus häufig im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen EGMR und BVerfG, es kann aber auch für andere Konflikte, etwa zwischen OLG Naumburg und AG Wittenberg, stehen. Als Syntagma mit Schlüsselfunktion kann die Nominalphrase „das letzte Wort“ gelten. Sie taucht in der Entscheidung des BVerfG vom 14.10.2004 auf, ist in dem Diskurs zu der Kompetenzenverteilung zwischen den Gerichten aber

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schon länger virulent. Es wird mit der Phrase das vom BVerfG geprägte Konzept des ›Souveränitätsvorbehalts‹ verknüpft: Es geht hier um Grenzfälle. Die markanten Sätze aus Karlsruhe dürfen nicht als Aufforderung an staatliche Stellen mißverstanden werden, nun in jedem Fall zu prüfen, ob sie eine völkerrechtliche Regelung und deren Umsetzung für sinnvoll halten. Das Verfassungsgericht hat im Gegenteil deutlich gemacht, daß die deutschen Gerichte verpflichtet sind, die Menschenrechtskonvention zu beachten – was sie bisher oft genug ignoriert haben. (Beleg FAZ, Das letzte Wort, 23.10.2004)

In den Entscheidungen zum Fall Görgülü ist auf der Sachverhaltsebene umstritten, wie die Kompetenzen zwischen den Gerichten verteilt sind: Es stehen sich dabei die beiden Konzepte ›Behauptung des Machtanspruchs durch Abgrenzung‹ und ›Gemeinsamkeit durch Verhandlung‹ gegenüber. Diese sich gegenüberstehenden Konzepte lassen sich als semantischer Kampf auf der Bezeichnungs- und der Bedeutungsebene verdeutlichen. In den Printmedientexten zeichnet sich der Versuch ab, das Konzept ›Behauptung des Machtanspruchs durch Abgrenzung‹ in den Vordergrund zu spielen. Dies zeigen die in Tabelle 4 dargestellten Lexeme und Syntagmen wie „Juristisches Röhren“ oder „Machtkampf“. Es wird somit ein Konflikt zwischen den Gerichten konstituiert, der zwar harmlos sein kann, aber unterschwellig gärt. Ein solcher Disput wird von den beteiligten Richtern allerdings zurückgewiesen, was sich anhand von Belegen aus Interviews mit den Experten plausibilisieren lässt. So beschwört der ehemalige Verfassungsrichter und Vorsitzende des Ersten Senats am BVerfG, Hans-Jürgen Papier, in dem Interview „Straßburg ist kein oberstes Rechtsmittelgericht“ (FAZ) vom 9.12.2004 das Kooperationsverhältnis zwischen EGMR und BVerfG: FAZ: Ihr Gericht hat in Deutschland das letzte Wort. In Europa hat Straßburg das letzte Wort. Wie sieht es aus, wenn in einem bestimmten Fall beide Gerichte verschieden antworten? Wer hat dann das allerletzte Wort? Papier: Das Grundgesetz ist eine sehr völkerrechtsfreundliche Verfassung. Aber sie verzichtet nicht auf das letzte Wort als Ausdruck staatlicher Souveränität. Es geht darum, daß die besten Lösungen im Grundrechtsschutz entwickelt werden. Es geht also nicht um Machtfragen oder Rivalitäten, sondern um eine notwendige Feinabstimmung bei der Wahrnehmung der jeweiligen Aufgaben der Gerichtshöfe. FAZ: Geht es eher um Kooperation? Papier: Es geht auch – und vielleicht sogar in erster Linie – um eine Kooperation bei der Wahrnehmung gleichgerichteter Aufgaben des Schutzes von Grund- und Menschenrechten.

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Papier beruft sich zunächst auf den Ausspruch des Zweiten Senats aus der Entscheidung vom 14.10.2004: „[das BVerfG] verzichtet nicht auf das letzte Wort als Ausdruck staatlicher Souveränität“. Er stärkt somit den Anspruch des BVerfG einer nationalen Vorrangstellung, betont dabei aber das enge und in Abstimmung stehende Verhältnis zwischen den Gerichten und weist das Konzept ›Behauptung des Machtanspruchs durch Abgrenzung‹ zurück, es ginge nicht um „Machtfragen“ oder „Rivalitäten“, sondern um eine „notwendige Feinabstimmung“. Die Zusammenarbeit der Gerichte wird also zunächst betont, anschließend werden die Kompetenzen des EGMR allerdings auch wieder eingedämmt. Papier räumt dem EGMR zwar eine Form der Gleichberechtigung ein, teilt dann aber auch mit, wo in seinen Augen die Grenzen liegen: Papier: Eine andere Frage ist, ob der Menschenrechtsgerichtshof auch Familienrechtsstreitigkeiten nach der Art eines letztinstanzlichen Rechtsmittelgerichts zu beurteilen hat. Er kann und sollte sich meines Erachtens nicht in die Rolle eines obersten Rechtsmittelgerichtes in Familiensachen oder allgemeinen Zivilsachen begeben oder sich in dieser Weise instrumentalisieren lassen.

Auch Renate Jaeger, zum Zeitpunkt des Interviews Richterin am EGMR und zudem ehemalige Richterin am BVerfG, vermeidet im Gespräch mit der SZ (‚Deutschland nahm Urteile einfach nicht zur Kenntnis‘, 12.10.2010) die direkte Verwendung der Ausdrücke Konfrontation oder Kooperation, stattdessen bedient sie sich einer Metapher, die die Problematik weicher und wenig greifbar erscheinen lässt, obwohl der Interviewer versucht, mit einer suggestiven Frage das Konzept der Abgrenzung hervorzurufen: SZ: Fällt Ihnen für das Verhältnis der Gerichtshöfe in Karlsruhe und Straßburg eine passende Vokabel ein? Eher Konkurrenz als Kooperation, oder? Jaeger: Mein Bild ist ein von Alexander Calder entworfenes Mobile, an dem unterschiedlich große Gewichte an verschieden langen Armen hängen, was die Hebelwirkung stärkt oder schwächt. Das Ganze gerät aus der Balance, wenn man nur an einer Stelle etwas ändert. Es ist keine Hierarchie, keine Pyramide, wie man es von der nationalen Gerichtsstruktur kennt. Wenn sich irgendwo die Macht verschiebt, hat es Änderungen an anderer Stelle zur Folge.

In einem Interview mit der taz reagiert Jaeger (‚Straßburg muss mehr Rücksicht nehmen‘, 28.10.2004) ähnlich beschwichtigend: taz: Letzte Woche hat Karlsruhe erklärt, dass Urteile des Straßburger Gerichtshofs in Deutschland nicht generell zu befolgen, sondern nur zu ‚berücksichtigen‘ sind. Aus Straßburg kam sofort eine Replik: Natürlich seien die Straßburger Urteile verbindlich. Wann wird es zu einer offenen Fehde kommen?

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Jaeger: Es wird keinen Streit geben. Der Karlsruher Beschluss ist der Beginn eines guten Dialogs.

Der Interviewer versucht wiederum, das Konflikt- und Abgrenzungskonzept zu evozieren, was von Jaeger sehr klar zurückgewiesen wird: „Es wird keinen Streit geben.“ Sie verweist zur weiteren Ablehnung des Konfliktkonzepts auf „einen guten Dialog“, den der Beschluss des BVerfG darstellen würde: eine Phrase, die im Gegensatz zum „letzten Wort“ steht und mehr Offenheit anklingen lässt. Die Richterin sieht in der Entscheidung des BVerfG eine Stärkung des EGMR und kritisiert die Berichterstattung der Medien: taz: Ist die Karlsruher Entscheidung also vor allem als Signal an Straßburg zu verstehen? Jaeger: Nein, das hat die Presse etwas einseitig interpretiert. Das Bundesverfassungsgericht wollte dem Straßburger Gerichtshof auch zur Seite stehen und die nationalen Gerichte zur Beachtung der EGMR-Rechtsprechung anhalten.

Ähnlich wie auch das Syntagma das letzte Wort sowie die Lexeme Kooperation und Konfrontation ist auch der Ausdruck Dialog bzw. das Konzept ›Dialog‹ bereits fachlich geprägt. In einem Interview aus dem Jahr 2011 versucht auch die derzeitige Richterin am EGMR, Angelika Nussberger, sich von dem Eindruck eines Machtkampfs zu distanzieren (‚Wir treffen oft wunde Punkte der Gesellschaft‘, 24.05.2011). Sie verwendet dazu ebenfalls den Ausdruck Dialog: Nussberger: In dem Karlsruher Urteil steht aber auch, dass das Grundgesetz völkerrechtsfreundlich ausgelegt wird und das letzte Wort der nationalen Souveränität die Grundlage eines europäischen Rechtsdialogs sein muss. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist gerade ein Beispiel für einen Dialog, bei dem sich beide Seiten gut zugehört haben. Nussberger: Es gibt kein Oben und kein Unter in Europa. Man fragt immer danach, wer das letzte Wort hat, doch inzwischen gibt es viele ‚letzte Wörter‘ – bei den nationalen Verfassungsgerichten, beim Gerichtshof für Menschenrechte, beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Aus vielen letzten Wörtern wird auch ein Dialog.

Rhetorisch ist es auffällig, wie von Nussberger das Bild des letzten Wortes aufgenommen und weiterverarbeitet wird: „Aus vielen letzten Wörtern wird auch ein Dialog.“ Es lässt sich erkennen, dass sich hier nicht nur ein semantischer Kampf auf der Bezeichnungsebene vollzieht, sondern hinter den Bezeichnungsalternativen und expliziten Zurückweisungen zwei unterschiedliche Rechtsmodelle stehen: ›Kooperation durch Dialog‹ und ›Konfrontation durch nationalstaatliche Behauptung‹. In der Berichterstattung werden dann jedoch die kritischen Stimmen dominant gesetzt, sodass die von den Diskursakteuren eindämmenden Versuche anhand von Ausdrücken wie Feinabstimmung oder

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Rechtsgespräch ihre Wirkung verfehlen. Auch im weiteren Verlauf des Verfahrens sowie im Postdiskurs wird das Verhältnis zwischen EGMR und BVerfG thematisiert und auch hier wird die Frage nach einem ›Machtkampf‹ diskutiert. Konkurrierende Entscheidungen zwischen EGMR und BVerfG werden auch zukünftig ähnliche semantische Kämpfe hervorbringen, in denen die genannten Bezeichnungen und Konzepte umstritten sein dürften.

6 Fazit Der Rechtsstreit endet mit einem Wechsel des Kindes in Görgülüs Familie . Ohne Frage ist die Länge des Verfahrens und die damit verbundene Unsicherheit für das Kind im Sinne des Kindeswohls eine Katastrophe. Hier wurde nur ein Ausschnitt der Probleme angerissen, die den Verlauf des Verfahrens geprägt haben. Es sollte zunächst an dem als deontisch unumstritten gewerteten Leitkonzept ›Kindeswohl‹ die grundsätzliche Übereinstimmung der Gerichte gezeigt und daran anknüpfend anhand der handlungsleitenden Subkonzepte die verschiedenen Positionen herausgearbeitet werden, die zu dem Konflikt geführt haben (die weiteren Situationsfaktoren wie Willkürverdacht, Ideologie, einseitige Entscheidungen zugunsten der Pflegeeltern seitens des OLG können in der linguistischen Analyse nur bedingt berücksichtigt werden). Durch die Struktur von Leitkonzept – Subkonzept – Attribuierung/Teilaspekt können die Besonderheiten der fachlich vorgegebenen Dogmatik und der Begründungsmuster beschrieben werden, da das Kindeswohlkonzept als solches zu global ist:  ›Verwurzelung‹ mit den konkurrierenden Attribuierungen: dynamisch ‚sozial‘ / gegeben ‚biologisch‘  ›Verbindung zwischen dem Kind und seinem Umfeld‹ mit den konkurrierenden Attribuierungen: dynamisch ‚emotional‘ / gegeben ‚emotional‘ / gegeben ‚biologisch‘ / dynamisch ‚sozial‘ Es lassen sich implizit ausgetragene semantische Kämpfe zwischen den Diskursakteuren auf der Bedeutungsebene ausmachen: In Anlehnung an Felder / Stegmeier (2012: 332) werden implizite semantische Kämpfe in fachlichen Zusammenhängen wie folgt definiert: Implizite semantische Kämpfe vollziehen sich ohne oder sogar unter Vermeidung einer metasprachlichen Reflexion der umstrittenen Konzepte oder Termini. Sie sind vordergründig als ein Streit um die Sache in Fachdiskursen auch für den relativen Laien zu erkennen. Gleichermaßen sind implizite semantische Kämpfe aber auch ein Streit um Bedeutungserweiterungen oder neue Sachverhaltsfixierungen in Sprache.

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Zusätzlich wurde versucht, durch einen Vergleich mit den Texten des Mediendiskurses Unterschiede zwischen der fachsemantischen und der alltagssemantischen Zubereitung des Falls herauszuarbeiten. Dabei zeigt sich, dass das Fachkonzept ›Kindeswohl‹ auch für die relativen Laien von zentraler Bedeutung ist. Oberflächlich betrachtet orientieren sich damit sowohl Experten als auch Laien am deontisch unumstrittenen Leitkonzept des ›Kindeswohls‹. Die weitere Einschätzung erfolgt bei den Lesern aber überwiegend mittels einer emotionalen Bewertung, die eindeutige Lösungen präferiert, die – wie die Untersuchung des Fachdiskurses zeigt – es aber nicht geben kann. Die fachliche Reduktion zeigen eindrücklich die Leserbriefe, die häufig der Illusion einer bereits im Gesetz befindlichen Antwort auf die Fragen des Sorgerechtsstreits erliegen, was sich an Äußerungen wie beispielsweise „im Gesetz steht aber auch klar geschrieben“ zeigt. Gerade die komplexeren Rechtsfälle bestätigen aber, dass im Gesetz noch keine Antwort auf die Streitfrage zu finden ist, sondern diese durch die Richter erst hervorgebracht werden muss, woran deutlich wird, dass die Rechtsarbeiter durch ihr sprachliches Handeln Bedeutungen in der Rechts- und Entscheidungsnorm fixieren. Die bei einer Entscheidung hervorgebrachten Normen nehmen die Experten in einem nachfolgenden Fall sofort wieder in Arbeit (Christensen / Sokolowski 2006: 363). Somit ist eine Bedeutungsfestsetzung nie endgültig, sondern immer nur vorübergehend (vgl. Christensen / Sokolowski 2006: 363). Diese Annahme unterstreicht den Handlungsaspekt bei der juristischen Textarbeit einmal mehr.

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Karin Luttermann

Indeterminismus und Performanz in der Sprache am Beispiel der Bedeutung von lebenslanger Freiheitsstrafe A full description of how people communicate needs to take account of both what they literally say and what they mean in context. (Chapman 2011: 89)

1 Einführung Politische Kräfte in Deutschland zielen auf die Reform des Mord-Paragraphen (§ 211 StGB). Er soll sprachlich und inhaltlich überarbeitet werden. Bislang befassen sich damit Juristen (u. a. Strafrechtler, Justizminister, Deutscher Anwaltverein). Fragen des Sprachgebrauchs sind aber genuin Fragen der Linguistik, besonders der linguistischen Pragmatik. Auf dem Weg zu einem ‚guten Gesetz‘ gehört linguistisches Fachwissen in den juristischen Reformdiskurs einbezogen. Die Pragmatik hat sich als Reaktion auf Chomskys Kompetenz-PerformanzDichotomie entwickelt. Chomsky behandelt Sprache unabhängig von Sprachgebrauch, Sprachbenutzern und Sprachfunktionen als abstrakt-grammatisches Gebilde. Die Abstraktion steht in Affinität zum Bloomfieldʼschen Strukturalismus, der vor der generativen Transformationsgrammatik vorherrschte. Dass Sprache performativ ist und Sprachgebrauch für das Verständnis von Sprache eine wichtige Rolle spielt, ist ein Verdienst der Sprachphilosophie (z.B. Searle, Strawson, Grice). Die linguistische Pragmatik (griech. prāgma = Handlung) hat handlungstheoretische Konzepte (wie Implikatur, Sprechakt, Präsupposition) zum Handeln mit Sprache direkt von der Sprachphilosophie übernommen. Wittgenstein setzt die Bedeutung eines Wortes mit dem Gebrauch gleich, ohne den regelfolgenden usuellen Wortgebrauch mit den rezeptiven Verstehensleistungen in Zusammenhang zu bringen. Der vorliegende Beitrag knüpft an die Gebrauchstheorie der Bedeutung an, geht aber mit dem Empfängerhorizont darüber hinaus: auch institutionell-fachliche Bedingungen und kommunikative Voraussetzungen der Interaktanten konstituieren Bedeutung (Kap. 2). Konkret wird mit dem Rechtslinguistischen Verständlichkeitsmodell (RVM) mehrperspektivisch untersucht, wie Rechtsexperten und juristische Laien den Ausdruck lebenslange Freiheitsstrafe (§ 211 StGB) verwenden. Im Vergleich der Bedeutungsexplikationen werden kommunikative Problemlagen deutlich

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(Kap. 5). Die Angewandte Pragmatik kann sich hier in die Debatte um die Reformierung der Tötungsdelikte im Strafgesetzbuch einbringen (Kap. 6). Die spezifischen Anforderungen an die Gesetzessprache (Kap. 3) und die integrative Ausrichtung der Verständlichkeitsforschung (Kap. 4) setzen den Handlungsrahmen.

2 Zur Pragmatik 2.1 Ausprägungen der linguistischen Pragmatik Die linguistische Pragmatik hat sich seit der pragmatischen Wende im letzten Jahrhundert (Ende der 60er Jahre) zu einem beachtlichen Forschungsgebiet entwickelt. Im Wesentlichen lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: die amerikanische und europäische Pragmatik, die bei allen Unterschieden im Einzelnen auch als „the Anglo-American and continental European pragmatics“ (Allan / Jaszczolt 2012: 2) bezeichnet werden. Im Fokus der amerikanischen Ausrichtung stehen Bedeutungsaspekte, die nicht „nicht-semantisch“ (Cappelen 2007: 9; vgl. Levinson 1990: 15) sind, aber daran angrenzen. Die Grenzziehung zwischen Semantik und Pragmatik erfolgt durch die Annahme, dass „semantics is concerned with what is said, pragmatics with what is implicated“ (Szabó 2005: 3).1 Im Vergleich dazu ist die Pragmatik europäischer Ausprägung weiter ausgerichtet und weniger speziell. Sie erhebt Erklärungsansprüche für so verschiedene Aspekte wie Indexikalität, Höflichkeit, Gesprächsanalyse, interkulturelle und historische Pragmatik (Rolf 2013: 14). Ausschlaggebendes Definitionsmerkmal der linguistischen Pragmatik ist der Gebrauch der Sprache. In der Realität des Sprachgebrauchs ist die Sprache ein Teil des Handelns. Dabei wird die Sprache nicht vom Sprecher und Kontext isoliert. Vielmehr geht man davon aus, dass sprachsystematische Strukturen (z.B. Morphologie, Syntax) auf den Sprachgebrauch und das Sprachverstehen einwirken, also die Aspekte der Sprachstruktur mit den Eigenschaften des Kontextes interagieren (Levinson 1990: 8). Damit verschiebt sich die von Chomsky getroffene Unterscheidung zwischen Kompetenz (kontextunabhängiger Grammatik) und Performanz (kontextabhängiger Interpretation) zugunsten der Un-

|| 1 Korta / Perry (2011: 146) sagen: „Pragmatics concerns utterances and the intentions behind them, while semantics concerns expression types, their conventional meanings, and modes of composition“.

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terscheidung zwischen Satz-Bedeutung und Sprecher-Bedeutung, der „Gricean distinction between literal sentence meaning on the one hand and speakermeaning on the other hand“ (Borg 2010: 279). Nach dem Konzept von SatzBedeutung und Sprecher-Bedeutung kann das vom Sprecher Gemeinte mit dem von ihm Gesagten zusammenfallen, aber auch davon abweichen (vgl. Grice 1979: 6). Die „inferentielle Pragmatik“ (Rolf 2013) interessiert sich vor allem für Divergenzen zwischen dem Ausdruck (dem, was ein Sprecher gesagt hat) und dem Implizierten (dem, was er impliziert hat) und weniger für die Fälle, wo ein Sprecher genau meinte, was er sagte. Dabei wird angenommen, dass nicht das Gesagte die Implikatur trägt, sondern das Sagen des Gesagten (Wie-Ebene): „The implicature is not carried by what is said, but only by saying of what is said, or by ‘putting it that way’” (Grice 1989: 39). Der zugrundeliegende Äußerungsakt enthält die pragmatische Information. Das vom Sprecher mit einer Äußerung Gemeinte ist durch die Bedeutung der geäußerten sprachlichen Form nicht erschöpft. Für das Verständnis einer Äußerung ist nämlich mehr nötig als das Wissen über die Bedeutungen der geäußerten Wörter und über die grammatischen Beziehungen zwischen ihnen. Zu einer im Kontext geäußerten sprachlichen Form tritt die Inferenz etwa von Implikaturen und Präsuppositionen, damit die Kommunikation gelingt. Das Verstehen einer Äußerung hängt wesentlich am „Vollzug der Inferenzen, die das Gesagte mit dem, was gemeinsam angenommen wird oder schon gesagt worden ist, verbinden“ (Levinson 1990: 21). Die auf Grice zurückgehenden Implikaturen sind Exemplifikationen der Sprecher-Bedeutung (Rolf 2013: 24).

2.2 Sprachgebrauch und Bedeutungswissen Kommunikation ist weiter als Sprache und „beinhaltet Konzepte von Absicht und Handlung“ (Levinson 1990: 16). Wittgenstein bindet sprachliches Handeln an konkrete Lebenszusammenhänge und sucht die Wortbedeutung in den Handlungen der Sprecher. Sprachspiele sind eingepasst in soziale Kontexte, die bestimmte Handlungsmuster verlangen. So ist das „Sprechen der Sprache ein Teil […] einer Tätigkeit, oder einer Lebensform (Wittgenstein PU 1984 § 23). Im Sprachspiel werden die Funktionen sprachlicher Ausdrücke evident. Wittgenstein identifiziert die Wortbedeutung mit dem Gebrauch, indem er (PU 1984 § 43) sagt: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Er geht davon aus, dass die Bedeutung, d.h. der geregelte Gebrauch, allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft zugänglich ist. Wittgenstein sieht die Bedeutung eines Ausdrucks nicht in dem isolierten einmaligen, sondern konventio-

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nellen Gebrauch, also in der üblichen Verwendungsweise. Man muss sich die Situationen anschauen, in denen das Wort gewohnheitsmäßig verwendet wird. Dabei zielt Wittgenstein auf die Sprecher-Bedeutung, d.h. er thematisiert Verstehen allein aus der Sicht des Sprechers und blendet den Hörer aus. Verstehen hat danach auch keinen Handlungscharakter, sondern ereignet sich und zeigt sich nur in einer Handlung (Wittgenstein PG 1984: 46). Das greift für eine interaktionsbezogene Analyse von Kommunikation zu kurz. Der hier vertretene handlungstheoretische Ansatz bezieht Außersprachliches in die Bedeutungsanalyse ein. Bach (2005: 18) bringt das auf den Punkt: „The speakers’s act of uttering a sentence is what brings extralinguistic information into play.“ Zum externen Handlungskontext gehören u.a. Rolle und Status der Interaktanten, das enzyklopädische Wissen und der institutionell-fachliche Rahmen, die ebenfalls auf den kommunikativen Gehalt einer Äußerung einwirken. Unter dieser (über Wittgenstein hinausgehenden) interaktiven Prämisse sind Untersuchungen zum Sprachgebrauch und zur Verständlichkeit nicht nur auf die Sprecher-Bedeutung und rein theoretisch auszurichten, sondern auch auf die Hörer-Bedeutung. Die individuellen Verstehensleistungen der Adressaten sind empirisch ebenfalls zu ermitteln, ohne dass damit aber eine unmittelbare Nähe zu der Relevanztheorie von Sperber / Wilson (1986) verbunden ist, die alternativ zu einer auf die Sprecher-Bedeutung abhebenden Auffassung auf einen kognitiv gesteuerten Verarbeitungsaufwand beim Hörer im Inferenzprozess abstellen. Vielmehr wird im vorliegenden Beitrag angenommen, dass das individuelle Wissen der Interaktanten eine Entsprechung auf der Ebene der Gesellschaft hat und etwas über den gesellschaftlichen Wissenshaushalt aussagt. Das Verstehen einer Äußerung ist ein Interpretationsprozess mit dem Ziel, Bedeutung auszuhandeln. In der Aushandlung wird das Verhältnis zwischen Sagen, Meinen und Verstehen manifest.

3 Zur Gesetzeskommunikation 3.1 Eigenschaften der Gesetzessprache Aus linguistischer Sicht ist die Gesetzessprache eine fachliche Funktionssprache, die abhängt von der Intention der Sprecher und dem Handlungskontext, in dem sie vollzogen wird. Dabei greift sie auf die Gemeinsprache zurück. Trotzdem kann man beide Sprachen nicht gleichsetzen, sondern muss sie als „partiell eigenständige Sprachsysteme“ (Neumann 1992: 111) behandeln. Als solche

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folgen sie unterschiedlichen Regeln. Liest der Laie in einem Gesetzestext etwa das Verb leihen, verbindet er es zunächst mit aus dem Alltag bekannten Vorgängen: ein Auto vom Händler, eine Waage oder Milch vom Nachbarn leihen. Dagegen verengt das Recht die Leihe auf die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung der Sache (§ 598 BGB). Danach wird nur die Waage verliehen. Der Wagen wird vermietet, da der Gebrauch zu einer Mietzahlung verpflichtet (§ 535 Absatz 2 BGB). Bei der Milch handelt es sich um ein Darlehen, weil die Rückerstattung nicht in genau gleicher Art erfolgen kann (§ 607 Absatz 1 Satz 2 BGB). Im Kontext des Schuldrechts gelten also für das eine gemeinsprachliche Lexem drei verschiedene Bedeutungen, wodurch sich die Schuldverhältnisse Miete, Leihe und Sachdarlehen voneinander abgrenzen. Diese Abgrenzung vollziehen Rechtslaien nicht. Weitere Merkmale, die juristischen Laien den Zugang zur Gesetzessprache erschweren können, sind Nominalisierungen, Kompositabildungen, Derivationen2, Genitivattribute, lange Sätze, Agensanonymisierung3, obsolete Wörter (z.B. „verlustig“, „endigt“) und Intertextualität (vgl. Hansen-Schirra / Neumann 2004: 169–170). Die Fortentwicklung des Rechts führt zu komplexen intertextuellen Vernetzungen, die rechtssystematisch zwar sinnvoll sein mögen, die aber vielfach als bürgerfern empfunden werden, weil deren Inhalt den Rezipienten unbekannt ist – wie etwa: „Erfüllt der Dienstberechtigte die ihm in Ansehung des Lebens und der Gesundheit des Verpflichteten obliegenden Verpflichtungen nicht, so finden auf seine Verpflichtung zum Schadensersatz die für unerlaubte Handlungen geltenden Vorschriften der §§ 842 bis 846 entsprechende Anwendung“ (§ 618 Absatz 3 BGB). Was unerlaubte Handlungen in diesem Zusammenhang sind, wird nicht gesagt. Man muss es wissen, um zu ermessen, wovon die Rede ist. Konstruktionen, die direkt auf andere Paragraphen verweisen (Verweisungskette), geben dagegen juristischen Laien zumindest einen Anhaltspunkt bzw. eine Orientierungshilfe, inhaltliche Bezüge nachzuvollziehen und aufzuspüren. In der Textlinguistik sind Verweisungen ein sprachliches Mittel, um globale Kohärenz herzustellen. Dem Gesetzgeber dienen sie in erster Linie zur Gesetzesökonomie (Kap. 3.2). Eine zusätzliche Kommunikationshürde entsteht allerdings, wenn auf die strukturell-inhaltlichen Beziehungen zwischen den Normen nicht explizit verwiesen, sondern Strukturwissen implizit vorausgesetzt wird. Im Strafrecht, um den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung einzuführen und in Bezug zu nehmen (Kap. 1), wird Mord mit einer „lebenslangen || 2 Bildung neuer Wörter durch Anfügen von Vorsilben oder Endungen. 3 Sätze ohne Handlungsträger; vgl. Kap. 5.3.

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Freiheitsstrafe“ sanktioniert (§ 211 StGB). Die Ausgestaltung der Rechtsfolge erfolgt aber weit auseinandergerissen durch § 57a StGB im Allgemeinen Teil und noch dazu entgegen dem Alltagsverständnis. Solche impliziten Voraussetzungen, die über das an Lexeme gebundene Bedeutungswissen hinaus umfangreiches Wissen abrufen, fordern vor allem juristische Laien. Sie müssen ohne konkreten Hinweis vom Gesetzgeber selbst recherchieren und Verständnis herstellen (vgl. Gläser 2002: 91 mit Beispielen; Luttermann 2015: 289). Die Textarbeit birgt das „Risiko des ständigen Scheiterns“ (Braun 2004: 8). Die Gefahr liegt im Missverstehen: „Man glaubt zu verstehen, missversteht den Text aber unter Umständen vollkommen“ (Lerch 2004: 255) in Fällen, in denen die Textkohärenz nicht erkennbar ist. Vielmehr erwecken stillschweigende Verweisungen den Eindruck, dass die Rechtsnorm vollständig und abgeschlossen ist und verschleiern die Notwendigkeit, eine weitere Norm einzusehen. Die nicht offensichtlich zum Ausdruck gebrachten Bezüge im juristischen Wissensrahmen zu überblicken, sehen sich viele Bürger – auch beim Morddelikt (Kap. 5.4) – außerstande.

3.2 Anforderungen an die Gesetzessprache Die Eigenschaften sind als Ergebnis der Anforderungen an die Gesetzessprache entstanden. Im Kern soll die Sprache der Gesetzestexte präzise, effizient und verständlich sein. Den Textinhalt klar, deutlich und vollständig auszudrücken, ist das Gebot der Präzision. Die Folge ist, dass Gesetze sich durch eine abstrakte Sprache mit einem komplexen juristischen Bezugssystem auszeichnen und bildhafte Wendungen aussparen. Die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, die den Gesetzgeber zur Sprachökonomie verpflichten, bezeichnen das Gebot der Effizienz. Sprachlich läuft der Verdichtungsprozess vor allem auf Nominalisierungen hinaus. Gegenüber der Satzform geht dabei der illokutive Gehalt verloren, so dass Vagheit bei der Textrekonstruktion entsteht. Die Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe verlangt „eine bürgernahe Sprache, die auch den Nichtfachmann […] in einfachen, geläufigen und eingängigen Texten unterrichtet“ (Otto 1981: 50), was zu tun ist, wie er sich zu verhalten hat und welche Rechte er hat. Das ist das Gebot der Verständlichkeit. Die Textkriterien bedienen funktional verschiedene Interessen. Präzision meint die Erfordernisse des Sachverhalts, Effizienz steht für das Interesse der Autoren und Verständlichkeit für das der Adressaten, wobei vor allem das Adressaten-Interesse für Verständlichkeit noch unterrepräsentiert ist (Brandt 1991: 342). Die Anforderungen an den normativen Zuschnitt bilden den Maßstab für den Sprachgebrauch im dienstlichen Schriftverkehr (§ 34 Absatz 1

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Satz 1 GGO4) und für die rechtsförmliche Gestaltung von Gesetzentwürfen (§ 42 Absatz 4 GGO). Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) ist für die Rechtsförmlichkeitsprüfung zuständig (§ 46 Absatz 1 GGO). Es prüft auf der Grundlage der im Handbuch der Rechtsförmlichkeit (HdR) geltenden Empfehlungen für das Formulieren von Rechtsvorschriften. Gefordert werden möglichst für jedermann verständliche Normen (Kap. 3.3). Ein Gleichgewicht zwischen dem Verständlichkeits-, Ökonomie- und Exaktheitsgebot im gesetzlichen Entstehungsprozess zu finden, stellt Textproduzenten (Gesetzesredakteure) jedoch vor große Herausforderungen. Denn eine präzise Fachsprache wird kaum die Verständlichkeit der Gemeinsprache erreichen. Was die Effizienz angeht, besteht die Gefahr, dass die Präzision „leicht als Weitschweifigkeit“ und dass „bürgernahes Erläutern von Fachausdrücken rasch als teurer Luxus erscheinen“ (Otto 1981: 51). Zwar sind Präzision, Effizienz und Verständlichkeit „keine identen Postulate, sie sind aber deshalb nicht Gegensätze“ (Öhlinger 1986: 32). Das Bemühen um Verständlichkeit kann auch der Klarheit und Präzision nutzen. Im Hinblick auf Verständlichkeit und Präzision strebt Recht – jedenfalls seiner Idee und Funktion nach – größtmögliche Exaktheit und Rechtssicherheit an. Im Strafrecht hat das Postulat nach Berechenbarkeit seinen besonderen Ausdruck im Bestimmtheitsgebot (Artikel 103 Absatz 2 GG) und im Verbotsirrtum (§ 17 Satz 1 StGB) gefunden.5 Erkennt ein Täter die Rechtswidrigkeit der Tat nicht und ist dieser Irrtum unvermeidbar, kann ihm die Tat nicht persönlich vorgeworfen werden. Ihn trifft keine Schuld. Das Bundesverfassungsgericht hat schon im ersten Urteil zum Abtreibungsstrafrecht ausgeführt, dass das Gesetz klare Grenzlinien zwischen Recht und Unrecht ziehen soll, an denen sich der Bürger auch orientieren kann: „es soll sagen, was für den Einzelnen Recht und Unrecht ist“ (BVerfG, Urteil vom 25.2.1975 – 1 BvF 1 – 6/74, NJW 1975: 580). Auch für die Strafandrohung gilt das Gebot der Gesetzesbestimmtheit, d.h. „die für eine Zuwiderhandlung gegen eine Strafnorm drohende Sanktion muss für den Normadressaten vorhersehbar“ (BVerfG, Urteil vom 20.3.2002 – 2 BvR 794/95, NJW 2002: 1779) und aus dem Gesetz selbst zu erkennen sein. Rechtssicherheit gebietet, dass Normen mit Sanktionscharakter einerseits das Verhalten, das der Sanktion unterliegt, und andererseits die daraus abzuleitenden Rechtsfolgen für Rezipienten kalkulierbar festlegen. Es kommt insgesamt auf „das verstehende Erkennen […] der Rechtswidrigkeit der Tat“ (Fischer 2014: § 17 StGB, Rn. 2) an. Also darauf, dass „Tragweite und Anwendungsbereich der || 4 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien. 5 Für Zivilrechtsverhältnisse greift das Transparenzgebot (§ 307 Absatz 1 Satz 2 BGB).

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Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind“ (BVerfG, Urteil vom 20.3.2002 – 2 BvR 794/95, NJW 2002: 1779). Der Bürger soll der Staatsgewalt nicht sprach- und verständnislos gegenüberstehen. Untersuchungen zum Verständlichkeitsgrad von Strafgesetzen gibt es allerdings kaum.

3.3 Wer ist jedermann im Strafrecht? Der Gesetzestext bildet die kommunikative Grundlage für die Interaktion zwischen dem Gesetzgeber und den Adressaten. Der Gesetzgeber steht in der Pflicht, verständliche Gesetze zu formulieren. Das Handbuch der Rechtsförmlichkeit (Bundesministerium der Justiz 2008: 33, Rn. 54) sagt dazu: „Vorschriftentexte müssen sprachlich richtig und möglichst für jedermann verständlich gefasst sein (§ 42 Absatz 5 Satz 1 GGO).“ Das Indefinitpronomen jedermann vertritt im strafrechtlichen Handlungskontext einen heterogenen, uneingeschränkten Adressatenkreis (vgl. Luttermann 2010: 149). Das Strafgesetzbuch wendet sich nicht nur an die fachkundigen Rechtsanwender (wie Richter, Staats- und Rechtsanwälte), sondern an alle Bürger, deren Rechte von Strafnormen betroffen werden können bzw. die sich über die Rechtslage und die drohenden rechtlichen Folgen informieren wollen. Das Pronomen umfasst also Rechtsexperten und Rechtslaien gleichermaßen, ohne dass nach soziokulturellen, kognitiven und affektiv-emotionalen Faktoren wie Herkunft, Beruf, Einkommen, Bildungsniveau, Motivation, Vorwissen oder Geschlecht unterschieden wird. Der verständige Leser soll in der Lage sein, Strafrechtsnormen zu verstehen: „Gesetze, die an einen unbegrenzten Adressatenkreis (…) gerichtet sind, wie z.B. das Strafgesetzbuch, sollten von einer durchschnittlich verständigen Person inhaltlich erfasst werden können“ (Bundesministerium der Justiz 2008: 33, Rn. 55). Für den Gesetzgeber ergibt sich daraus die kommunikative Aufgabe, die Bedingungen für die adressatenspezifischen Verständigungsmöglichkeiten einer Strafnorm zu schaffen. Oder anders gesagt: Normen „müssen tauglich sein für das Sprachspiel, für das sie bestimmt sind. Sie müssen verständlich gemacht werden, für diejenigen, die sie verstehen müssen und verstehen wollen und die prinzipiell das Rüstzeug dafür haben, sie zu verstehen“ (Nussbaumer 2002: 40). Für Richter ist der Durchschnittsbürger der Maßstab. Diese Rechtsfigur meint allerdings eine Verständlichkeit, „die in Wahrheit schon einiges an Vorwissen und Erfahrung voraussetzt“ (Öhlinger 1986: 33) und die nicht danach fragt, ob der typische Bürger tatsächlich fähig ist, den Gesetzestext zu verstehen. Vielmehr rekurrieren Richter auf ihre Verstehensfertigkeiten und Sprachkompetenzen, wenn sie über Sprachgebrauch und Wortbedeutung entscheiden.

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Jüngere Rechtsprechung fordert, für die Auslegung auch das Internet (z.B. Blogs, Facebook) einzubeziehen, das Auskunft über das gesamte Spektrum des Sprachverständnisses gebe: „Denn Nachschlagewerke und Lehrbücher können zwar den allgemeinen Sprachgebrauch prägen, die dort verwendete Terminologie spiegelt ihn aber häufig nicht genau wider und gibt mithin keine sichere Auskunft über dessen aktuellen Stand“ (BGH, Beschluss vom 25.10.2006 – 1 StR 384/06, NJW 2007: 526). Damit gewinnen die Laienlinguistik und Bedeutungsempirie zum Sprachgebrauch im Recht an Gewicht. Diese Entwicklung liegt auf der Linie meines Verständlichkeitsmodells für die Rechtslinguistik (Kap. 5.1).

4 Verständlichkeitsforschung und integrative Ausrichtung Ausgehend von dem praktischen Kommunikationsproblem unverständlicher und missverständlicher Gesetzessprache hat die Wissenschaftstradition der Verständlichkeitsforschung mehrere Theorien und Modelle zur Identifikation und Überwindung von Verständlichkeitsbarrieren vorgelegt. Stützten sich frühere Ansätze noch vorrangig auf psycholinguistische und kognitionswissenschaftliche Forschungsmethoden, kristallisierte sich in der weiteren Entwicklung die Tendenz heraus, interdisziplinär zu arbeiten und Integrationsmodelle zu entwickeln. Die Verständlichkeitsforschung der Psychologie bildet die Vorstufe zum „genuinen Forschungsbereich der Linguistik“ (Heringer 1979: 255, 261). Seit der Untersuchung von Lively / Pressey (1923) sind besonders im angelsächsischen Raum viele Arbeiten erschienen, die Lesbarkeitsformeln aufgestellt haben (z.B. Reading-Ease-Formel von Flesch 1948). Die Formeln stützen sich auf formale, lexikalische oder syntaktische Prädikatoren, um den Schwierigkeitsgrad eines Textes zu ermitteln. Ihre Vertreter gehen davon aus, dass die Textverständlichkeit von textimmanenten Oberflächenmerkmalen wie Wort- und Satzlänge bzw. Buchstabenund Silbenzahl abhängt und sich objektiv messen lässt. Die Verständlichkeit deutscher Gesetzestexte haben etwa Bamberger / Vaneček (1984) sowie Brandt (1991) hinsichtlich Satzlänge und Satzstruktur untersucht. Kritisiert werden das quantitative Zählverfahren der Lesbarkeitsforschung und die bloße Konzentration auf formale Textmerkmale, ohne inhaltlich-semantische Faktoren einzubeziehen, merkmalspezifische Auswirkungen auf den Leser zu hinterfragen oder die beim Lesen ablaufenden kognitiven Aspekte zu berücksichtigen. Im Gegensatz dazu beachtet das psycholinguistisch ausgerichtete Hamburger Verständ-

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lichkeitsmodell den Rezipienten (Langer / Schulz von Thun / Tausch 1974). Er ist bewertende Instanz und schätzt die Verständlichkeit eines Textes in einem Beurteilungsfenster anhand von vier Dimensionen (Einfachheit, Gliederung, Kürze, Stimulanz) ein, die mit den Merkmalen der Lesbarkeitsforschung noch weitgehend übereinstimmen. Das gilt besonders für die Dimension der Einfachheit, wo vor allem die Wortlänge, Satzstruktur und der Wortschatz bedeutsam sind. Da die subjektive Beurteilung einziges Kriterium für die Bestimmung der Textverständlichkeit ist, wird die Aussagekraft der Ergebnisse bezweifelt. Das Grundproblem der Schätzurteile liegt in der Subjektivität und in der Annahme, dass die Ausgangstexte beliebig verbessert werden können. Der Umgestaltungsspielraum ist aber nicht grenzenlos. Die Alternativtexte sind teils „Verschlimmbesserungen“ (Heringer 1984: 62) und in Bezug auf ihre inhaltliche Äquivalenz zum Ausgangstext bei Rechtstexten teils auch fehlerhaft, da keine juristischen Experten den Optimierungsprozess prüfen. Groeben (1982) entwickelt aus lerntheoretischen, motivations- und sprachpsychologischen Modellen ein theoretisch-deduktives Modell, das mit den vier Parametern ästhetische Information, semantische Redundanz, kognitive Strukturierung und konzeptueller Konflikt dem empirisch-induktiven Hamburger Modell ähnelt. Es lässt zwar einen relativ großen Raum für eigene didaktische Entscheidungen, allerdings sind die den Dimensionen zugeordneten Merkmale unvollständig und unzureichend definiert und es bleiben textsortenspezifische Eigenschaften außen vor. Die von van Dijk / Kintsch (1983) vorgelegte Theorie des zyklischen Verstehens schafft die Basis der kognitionsorientierten Verständlichkeitsforschung. Dieser Ansatz konzipiert die Verarbeitung von Texten als strategischen Prozess, bei dem Text- und Weltwissen ineinander greifen. Durch die Berücksichtigung von propositionalen Strukturmerkmalen eines Textes sowie dem Vorwissen und der individuellen Verarbeitungskapazität der Rezipienten bildet die Theorie mentaler Modelle einen integrativen Rahmen für das Zusammenspiel von Textund Leserseite. Erweckt wird allerdings der Eindruck, dass Wortbedeutungen „fertig abrufbare kognitive Entitäten“ (Busse 1992: 110) darstellen, die bei Bedarf zu aktivieren sind, und Propositionen durch mehrere Formulierungen aus einem Text abgeleitet und wiedergegeben werden können. Ungeachtet aller Kritik an dem Modell ist für unsere Zwecke wichtig, dass nachfolgende integrative Verständlichkeitsmodelle die Gleichstellung von Textvariablen und Lesermerkmalen übernehmen (Kap. 5.2). So verbindet das soziolinguistische Verständlichkeitsmodell von Pfeiffer / Strouhal / Wodak (1987) kognitiv-soziopsychologische Voraussetzungen (z.B. Motivation, Alter, Geschlecht, Beruf, Stadtnähe) und textimmanente Kriterien

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(z.B. Textorganisation, Satzlänge, Frequenz von Fremdwörtern) miteinander. Bemängelt werden aber die subjektiven und oberflächlichen Testverfahren wie Lesegeschwindigkeit oder Lückentest, der bestenfalls die Redundanz eines Textes feststellt, jedoch keine Rückschlüsse von Behalten auf das Verstehen erlaubt (vgl. Heringer 1979: 265), und vor allem die Randständigkeit der juristischen Perspektive. Die institutionelle Norm wird nur erwähnt, aber nicht als theoretische Bezugsgröße zur Beurteilung der Verstehensleistungen der Probanden einbezogen (Luttermann 2002: 98). Diesen Mangel behebt das Rechtslinguistische Verständlichkeitsmodell mit der Methode der Mehrperspektivität (vgl. Luttermann 1996: 24–26).

5 Rechtslinguistisches Verständlichkeitsmodell und praktische Anwendung 5.1 Ziel In der Rechtsverständlichkeitsforschung bildet der Gesetzestext die rechtsverbindliche Grundlage des Kommunikationsprozesses. Er formuliert das, was verstanden werden soll. Ein Text kann nicht an sich verständlich sein, sondern nur für Rezipienten. Verständlichkeit ist also kein absoluter, sondern ein relativer und dynamischer Begriff. Für die Interaktion zwischen dem Gesetzgeber und den Adressaten gilt als Richtschnur das Verständlichkeitspostulat, das im Handbuch der Rechtsförmlichkeit verankert ist (Kap. 3.2 und 3.3). Rechtskommunikation ist Handeln und geht über das reine Sich-verständlich-Machen hinaus (Kap. 2.2). Der Adressat soll zunächst durch die Lektüre eine Art mentale Repräsentation erstellen und Bedeutung aushandeln, indem er die Textinformationen mit seinem Vorwissen verknüpft und durch Inferenzen ergänzt (Kap. 2.1). Letztlich soll er jedoch fähig sein, bestimmte Handlungen zu vollziehen. Dafür ist das semantische Verstehen eine wichtige Voraussetzung. Das Rechtslinguistische Verständlichkeitsmodell will den Sprachgebrauch in Gesetzestexten auf Verständlichkeit für Adressaten untersuchen. Hier geht es exemplarisch um den Mord-Paragraphen (Kap. 5.4). Das Modell zielt darauf, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem, was der Gesetzgeber sagt, und dem, was er meint, und dem, was Adressaten verstehen, aufzudecken. Das ungenaue Verstehen bzw. Missverstehen wird auch als Dissens bezeichnet (Creifelds 1999: 1439; vgl. Kap. 3.1) und entsteht, wenn der Textrezipient annimmt, die Bedeutung eines Ausdrucks zu kennen, den der Textproduzent aber

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nicht in der üblichen Bedeutung gebraucht. Das Verständlichkeitsmodell steht in der gebrauchstheoretischen Tradition, die das sprachliche Zeichen mit seiner Anwendung identifiziert (Kap. 2). Konstitutiv dafür ist der Gebrauchskontext, in dem sprachliche Äußerungen vollzogen werden und Bedeutung haben. Die Wortbedeutung wird hier aber weiter als Gegenstand von kommunikativen Aushandlungen aufgefasst (Kap. 2.2). Die Interpretation erfolgt auch im Rekurs auf Wissen, das „mit der minimalkontrastiven Bedeutung verbunden ist, aber über sie hinausgeht und alle mit dem Wort handlungspraktisch verbundenen Inhalte umfasst“ (Wichter 1995: 292). Experten und Laien sind heuristisch gleichermaßen wichtig. Den handlungsanalytischen Ansatz prägt die Einsicht, dass neben dem Expertenwissen auch die Eigenperspektive der Laien, für die Gesetze relevant sind, bei der Ausformulierung von Tatmerkmalen und Rechtsfolgen zu beachten ist. Im Strafrecht gilt das Gebot der Gesetzesbestimmtheit, das für eine Sanktion Erkennbarkeit verlangt (Kap. 3.2). Wenn feststeht, wie jeweils Rechtsexperten und Rechtslaien dasselbe Lexem verstehen und wo die Divergenzen von fach- und gemeinsprachlicher Bedeutung liegen, können Linguisten und Juristen gemeinsam Lösungen für eine sach- und adressatenangemessene Gesetzessprache finden (Kap. 6 und 7). Das Lot für die Optimierungsprozesse ist die pragmatische Angemessenheit, d.h. der Empfängerhorizont, der mehrperspektivisch zu ermitteln ist (Luttermann 2010: 150).

5.2 Methode Methodisch liegt der bedeutende Fortschritt des Rechtslinguistischen Verständlichkeitsmodells in der Berücksichtigung der Mehrperspektivität. Es setzt deskriptiv an und besteht aus verschiedenen Mustern. So umfasst das Modell die Expertenperspektive als Theoriemuster mit der Gesetzesgenese, Rechtsprechung und Kommentarliteratur, eine Laienperspektive als Empiriemuster6 sowie die Perspektive mehrerer Laien als Ergebnismuster. Darüber hinaus stellt das Vergleichsmuster das Experten- und Laienwissen im Hinblick auf die Schnittstellen und Unterschiede gegenüber und schafft so eine perspektivische Verknüpfung, die bei den herkömmlichen Verständlichkeitsmodellen fehlt (Kap. 4). Das Theoriemuster und das Vergleichsmuster bilden zur Beurteilung der Bedeutungsexplikationen der juristischen Laien einen Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Verständlichkeit festgestellt werden kann.

|| 6 Im Analyseteil wird das Rechtsverständnis jeweils aus der Perspektive eines Laien aus Platzgründen nicht thematisiert, sondern allgemein im Ergebnismuster (Kap. 5.4.2) thematisiert.

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In der Gegenüberstellung werden Problemlagen im Sprachgebrauch offensichtlich. Sie geben Aufschluss darüber und begrenzen zugleich, was an Bestimmbarkeit den Adressaten zugetraut und zugemutet werden kann. Auf dieser Basis lassen sich interdisziplinär gewogen Chancen und Grenzen für einen gemeinsamen Verständnishorizont ausloten. Neuere Ansätze in der Verständlichkeitsforschung knüpfen an das Rechtslinguistische Verständlichkeitsmodell an, indem sie als Vergleichskategorie einen übergeordneten Rahmen verwenden. Das Karlsruher Verständlichkeitsmodell setzt zur Bewertung der Qualität von Texten einen „kommunikationsorientiert-integrativen Bezugsrahmen“ (Göpferich 2001: 135). Danach hängt Textverständlichkeit auch von der „Korrektheit“ (Göpferich 2001: 128–129), d.h. dem richtigen Inhalt ab. Die Hamburger Sprachpsychologen und Groeben unterstellen dagegen in ihren Verständlichkeitskonzepten einfach, dass die optimierten Versionen inhaltlich korrekt sind (Kap. 4). Das Projekt „Sprache des Rechts“ (Berliner Arbeitsgruppe 2000) und das „Riester-Renten-Modell“ (Becker / Klein 2008) arbeiten ebenfalls mit einem juristischen Wissensrahmen. Darüber lässt sich rückschließen, wie viel und was verstanden wird, d.h. „ob die beim Rezipienten generierte mentale Repräsentation der Sachverhalte den vom Verfasser intendierten Sachverhalten entspricht“ (Dietrich / Kuhn 2000: 70) oder nicht. Die Rechtskommunikation braucht empirisch fundierte Analysen, die den Wissensstand und das Rezeptionsverhalten der Adressaten eruieren und mit der Expertenperspektive vergleichen, um zu erkennen, wo der Informationsfluss funktioniert und wo Kommunikationsprobleme auftreten (vgl. Engberg / Luttermann 2014: 90).

5.3 Sprachgebrauchsanalysen mit dem Modell Das Rechtslinguistische Verständlichkeitsmodell wurde schon praktisch angewandt auf die Produkthaftung (§§ 1 bis 4 ProdHaftG7), das Fundrecht (§§ 965– 984 BGB) und die folgenden Strafdelikte: Gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB), Nötigung (§ 240 StGB), Diebstahl (§ 242 StGB), Unterschlagung (§ 246 StGB), Raub (§ 249 StGB), Erpressung (§ 253 StGB) sowie Hehlerei (§ 259 StGB).8 Untersucht wurde jeweils mit den vier Mustern (Kap. 5.2), wie Juristen und Rechtslaien Lexeme verwenden, die nebeneinander in fachlichen und außerfachlichen Handlungskontexten vorkommen. Die mehrperspektivischen Sprachgebrauchsanalysen haben ergeben, dass es kaum Schnittmengen gibt

|| 7 Produkthaftungsgesetz. 8 Für weitere Untersuchungen mit dem RVM siehe Luttermann / Schäble (2016).

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zwischen dem Experten- und Laienwissen etwa für Diebstahl bei den Wörtern „fremd“, „beweglich“ und „Sache“ im Ausdruck „fremde bewegliche Sache“ oder für Nötigung bei den Wörtern „Gewalt“, „empfindlich“ und „Übel“ im Ausdruck „empfindliches Übel“. Die Normen drücken das institutionalisierte und vernetzte Fachwissen nur unzulänglich aus. Das Wort „Gewalt“ legt die Rechtsprechung immer wieder unterschiedlich weit aus.9 Das macht vor allem Laien zu schaffen, da sie den komplexen juristischen Wissensrahmen allenfalls begrenzt kennen. Der Jurist Großfeld (1997: 634) bezeichnet das „Auseinanderfallen von Juristensprache und Lebensgemäßheit“ als „eine Last“. Trifft die Aussage auch auf unseren Untersuchungsgegenstand zu (Kap. 5.1)? Unter linguistischen Aspekten zählen lange Sätze und Passivsätze üblicherweise zu den Sprachbereichen, die die Verständlichkeit eines Gesetzestextes beeinflussen (Kap. 3.1). Brandt (1991: 344) meint: „Gerade aber im Satzbau errichtet die Gesetzessprache Verständlichkeitshürden, die keineswegs notwendig sind und demzufolge abgebaut werden könnten, ja müßten.“ Wörtlich steht im Strafgesetzbuch (Besonderer Teil): Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Der Satz ist mit sieben Wörtern ein „Einfachsatz“ (Brandt 1991: 345), ein kurzer Hauptsatz und ohne Nebensatz. Danach bildet er keine Hürde. Die Passivkonstruktion hebt mit dem werden-Passiv im Präsens und dem Partizip II des transitiven Verbs bestrafen den Vorgang hervor. Der Blick ist auf die Handlung gerichtet. Die Handlung wird vom Betroffenen (Mörder) her gesehen. Der Mörder erhält eine Strafe. Mit ihm geschieht etwas (Kap. 6). Das Passiv kommt ohne Agensangabe aus, da angenommen wird, dass aus dem Handlungszusammenhang die Identität des Agens (Gesetzgeber) hinreichend deutlich hervorgeht. Damit rückt der Sprachgebrauch des Präpositionalobjekts mit lebenslanger Freiheitsstrafe ins Zentrum. Konkret stellen sich die Fragen: Wie rechtssicher und bestimmt ist für Mord (§ 211 StGB) das Lexem lebenslang im Ausdruck lebenslange Freiheitsstrafe? Wie verwendet das Strafrecht die Rechtsfolge, und was verstehen juristische Laien unter lebenslang? – Die Antwort steht in einem größeren Kontext: Zunächst wird der juristische Wissensrahmen mit dem Theoriemuster vermessen.

|| 9 Als „körperliche Kraftanwendung“ bis hin zu „psychischer Zwangswirkung“; vgl. Luttermann (2001: 162).

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5.4 Praktische Untersuchung des Ausdrucks lebenslange Freiheitsstrafe 5.4.1 Theoriemuster § 38 Absatz 1 StGB regelt, dass eine Freiheitsstrafe immer zeitig ist, außer das Gesetz sieht ausdrücklich eine lebenslange Freiheitsstrafe vor. Im Strafgesetzbuch ist die lebenslange Freiheitsstrafe als absolute Strafe bestimmt bei Mord und Totschlag in einem besonders schweren Fall (§ 212 Absatz 2 StGB) und optional neben der zeitigen Freiheitsstrafe als Höchststrafe zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch von Kindern mit Todesfolge (§ 176b StGB), Raub mit Todesfolge (§ 251 StGB) oder Brandstiftung mit Todesfolge (§ 306c StGB). Der ebenfalls früher im Strafgesetzbuch mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Völkermord wird jetzt in § 6 Absatz 1 VStGB sanktioniert. Nach geltendem Recht ist zwar theoretisch eine Vollstreckung zeitlebens (noch) möglich, tatsächlich wird die lebenslange Freiheitsstrafe aber nicht realisiert. Die Sanktion wird „nur angedroht und verhängt, in der Praxis aber nicht mehr vollstreckt“ (Meier 1989: 125). Faktisch ist sie durch die Einführung von § 57a StGB zeitig geworden und in ein Netz von Kontrollen eingebunden. § 57a StGB bestimmt die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung.10 Danach bedingt eine Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe: 15 Jahre Verbüßung der Strafe, Fehlen der besonderen Schwere der Schuld, günstige Entlassungsprognose und Zustimmung des Verurteilten. Die Aussetzungsvoraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. Ist das der Fall, greift der Strafzweck der Spezialprävention und ein Mörder muss nach 15 Jahren aus der Haft entlassen werden. Bei besonderer Schuldschwere kann zwar weiter vollstreckt werden, aber nicht dauerhaft. Über eine Aussetzung der Reststrafe entscheidet das Strafvollstreckungsgericht (§ 454 StPO). Die Einführung von § 57a StGB geht auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1977 zurück (BVerfG, Urteil vom 21.6.1977 – 1 BvL – 14/76, NJW 1977: 1529–1530). Zuvor war die Strafrestaussetzung ein Akt der Gnade (Artikel 60 Absatz 2 und 3 GG; § 452 StPO). Allerdings praktizierten die Bundesländer das Gnadenrecht unterschiedlich. Das Bundesverfassungsgericht äußerte dagegen Bedenken und forderte wegen der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, die Entlassungspraxis gesetzlich klar zu regeln.

|| 10 Die Vorschrift wurde im Dezember 1981 verabschiedet und trat am 1.5.1982 in Kraft.

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Die Vorschrift § 57a StGB garantiert für Lebenszeitgefangene eine gerichtliche Überprüfung der Voraussetzungen für die Strafaussetzung. Zum Rechtsfolgensystem gehöre die Chance, die Freiheit wiederzugewinnen. Die Aussicht darauf mache eine Haft erst erträglich. Eine absolute Vollstreckungsdauer oder eine faktisch entsprechende Anzahl von Jahren träfe dagegen den Kern der Menschenwürde (BVerfG, Urteil vom 21.6.1977 – 1 BvL – 14/76, NJW 1977: 1529). Die durch § 57a StGB vorgegebenen 15 Jahre behandeln Juristen als „ein willkürlich angesetztes Maß“ (Kett-Straub 2011: 161). Sie streiten darüber, ob und inwieweit mit der lebenslangen Freiheitsstrafe ein „Etikettenschwindel“ (Brause 1995: 794) betrieben wird. Denn die absolute Strafandrohung ist praktisch zeitig geworden bzw. „nun durch die Hintertür […] aufgehoben“ (BVerfG, Urteil vom 21.6.1977 – 1 BvL – 14/76, NJW 1977: 1529). Will man verurteilte Mörder ihr ganzes Leben hinter Schloss und Riegel weggesperrt sehen, stimme der Ausdruck nicht und trage seinen Namen zu Unrecht (Kett-Straub 2011: 79). Andererseits gibt es keinen einfachen „Entlassungsautomatismus“ (KettStraub 2011: 164). Wie lang lebenslang dauert, ist nicht pauschal bestimmbar, sondern hängt vom Einzelfall und von der Region ab. Im Landesdurchschnitt beträgt die Verbüßungsdauer für Lebenszeitinhaftierte mit 19 Jahren vier Jahre mehr als die zeitige Höchststrafe. In Bayern hatten Mörder im Jahr 2006 sogar im Schnitt 21,8 Jahre im Strafvollzug verbüßt (Rolinski 2006: 648). Kritiker bezeichnen lebenslang als „verkappte zeitige Freiheitsstrafe“ und schlagen die Formel „15 plus x“ (Kett-Straub 2011: 86) als Berechnungsgrundlage vor. Es handele sich um eine Sanktion mit völlig eigenem Charakter, bei der die Ungewissheit des Entlassungszeitpunktes selbst Strafe sei. Ihnen erscheint daher die Umbenennung in „ungewisse sehr lange Freiheitsstrafe“ (Kett-Straub 2011: 86) zutreffender. Der Gesetzgeber hat sich dazu noch nicht abschließend geäußert (Kap. 6). Damit bedeutet das Adjektiv lebenslang im Rechtssinn eine Mindeststrafe von 15 Jahren. Mit diesem Wissen rücken nun die befragten Probanden in den Blickpunkt.

5.4.2 Ergebnismuster Den Verständlichkeitstest zum Sprachgebrauch von lebenslanger Freiheitsstrafe machten insgesamt 100 Probanden über einen Zeitraum von siebzehn Jahren. Sie lassen sich in fünf Gruppen gliedern: Die erste Gruppe bilden 23 Studierende der Germanistik und Angewandten Kulturwissenschaften der Universität Münster, die an meinen Lehrveranstaltungen „Fachsprachen und Gemeinsprache“ (WS 1997/98) und „Recht und Kommunikation“ (WS 1997/98) teilgenommen

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haben. Die zweite Gruppe umfasst 26 Probanden, die ich im Juli 2005 in einem halbstandardisierten Interview befragt habe. Sie unterscheiden sich im Bildungsniveau und Alter (von 17 bis 83 Jahre) und in der Motivation. Zwei Probanden hatten bereits Erfahrung mit der Justiz (wegen einer Ordnungswidrigkeit und wegen Trunkenheit im Verkehr). Die dritte Gruppe besteht aus 16 Studentinnen im Hauptstudium, die mein Masterseminar „Öffentlich kommunizieren“ (WS 2012/13) an der Universität Eichstätt-Ingolstadt besucht haben. Die vierte Gruppe stammt aus verschiedenen Foren (Blogs) im Internet mit 16 Eintragungen, die ich am 18. Februar 2013 abgerufen habe.11 In der fünften Gruppe schließlich sind 19 Probanden, die sich in meinem Masterseminar „Werbekommunikation“ (SS 2014) in Eichstätt den Fragen stellten. Auf die Frage „Wie lang ist die lebenslange Freiheitsstrafe?“ antwortet die Mehrheit der ersten Gruppe, dass ein Mörder nicht bis zu seinem Lebensende, sondern in der Regel „15 Jahre“ inhaftiert bleibe (Luttermann 1999a: 242–243). Dahinter steht mehrfach allerdings ein Fragezeichen. Es gibt auch Zusätze wie „circa“ und „maximal“. Einige veranschlagen 20 bis 30 Jahre Freiheitsentzug („30 Jahre“, „25 Jahre“, „20 Jahre?“, „15–20 Jahre“). Andere spekulieren auf eine vorzeitige Entlassung aus der Haft wegen „guter Führung“, „auf Bewährung bei guter Führung“ oder „durch Begnadigung“. Ein Student schließt von der Rechtsfolge auf die „Resozialisierung“. Ein Straftäter hätte die berechtigte Chance, sich in das gesellschaftliche Leben wieder einzufügen. Kritisiert wird, dass „mehrmals lebenslänglich umgangssprachlich absurd“ sei (Luttermann 1999b: 337). Viele wissen aus Filmen und den Printmedien, dass der Gesetzgeber lebenslang nicht im Sinne von „das ganze Leben“ und „bis zum Tod“ verwendet. Die Frage danach, ob es Vorschriften im Strafgesetzbuch zur gesetzlich bestimmten Dauer für Lebenslanginhaftierte gibt, wird damit beantwortet, dass § 211 Absatz 1 StGB auf keine anderen Vorschriften im Gesetzbuch verweist. Der Normtext erscheint abgeschlossen. Die meisten Probanden aus der zweiten Gruppe mutmaßen „25 Jahre“ Gefängnisstrafe. Die Anderen spannen den Bogen von „15 Jahre“ Gefängnis über „16 bis 18 Jahre“, „30 Jahre?“, eine „Zweidrittel-Verbüßung“ und „eine begrenzte Zeit im Gefängnis“ bis zu einer Haft „für immer“. Wenige ergänzen, dass Mörder „bei guter Führung“ vorzeitig freikommen; um wie viele Jahre, wissen sie aber nicht genau. So sagen sie etwa: „Bei guter Führung vielleicht eher“ oder „nach guter Führung 20 bis 25 Jahre“. Mehrheitlich erkennen sie, dass das Lexem im strafrechtlichen Kontext nicht so, wie sie es im Alltag gewohnt sind,

|| 11 De.answers.yahoo.com/question/index?qid=20071121015914AAUb75Z.

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verwendet wird. Dem Gesetz können sie aber nicht eindeutig und sicher entnehmen, was genau gemeint ist. So antworten die Probanden auch auf die Frage nach möglichen Verknüpfungen zu anderen Normen innerhalb des Strafgesetzbuches: „Das Gesetz sagt nichts dazu“, „Der Gesetzgeber will sich nicht in die Karten schauen lassen“, „Die Gerichte wollen so entscheiden, wie sie es für richtig halten und sich nicht vom Gesetzgeber vorschreiben lassen, was sie bei Mord zu tun haben“, „Da ist nichts weiter fixiert, oder doch?“ und „Ich glaube, Mörder können begnadigt werden“. Die Probanden der dritten Gruppe verstehen mehrheitlich unter lebenslanger Freiheitsstrafe eine Dauer von „höchstens 25 Jahren“. Andere spekulieren „15 Jahre“, „15 bis 20 Jahre“, „30 Jahre“ oder „60 Jahre“. Letzteres begründet eine Studentin damit, dass das Leben eines Menschen circa 80 Jahre dauere. Die Länge habe also auf jeden Fall erhebliche Auswirkungen auf die persönliche Lebensplanung. Dass Täter resozialisiert werden können, äußern fünf Probanden. Selbst Lebenslängliche müssten langsam ihren Weg wieder in die Gesellschaft finden. Acht Studierende meinen, dass der Gesetzestext täuschend wirkt, weil das Adjektiv lebenslang nicht wörtlich gebraucht wird. Man höre das aus den Medien. Doch eigentlich sei es die Aufgabe des Gesetzgebers, hier genau zu sagen, welche Strafe er vorsieht. Man könne den Bürgern im Strafrecht nicht zumuten, im Dunkeln zu stochern und über die Rechtsfolgen nicht definitiv Bescheid zu wissen. Kohärenz zu anderen Strafnormen können die Studierenden nicht herstellen, da es keine expliziten Verweisungen gibt. So äußern sie: „Ich wüsste nicht, wo ich ansetzen sollte“, „Der Text ist da wenig informativ“ oder „Linguistisch gesehen müsste es eine Definition geben, die die Bedeutung der Haftzeit festlegt“. Für die vierte Gruppe ist das Wort lebenslang weithin synonym mit lebenslänglich. Lebenslang meine „lebenslänglich“ und stehe im Gesetz (ein Proband nennt § 38 Absatz 1 StGB), während lebenslänglich „umgangssprachlich sehr gebräuchlich“ sei. Die Probanden spekulieren über die Haftzeit. Diejenigen, die lebenslang wörtlich verstehen als „lebenslänglich sitzen“ und „Kommste nicht mehr raus“ sprechen vom „Ewigkeitsprinzip“, das von der Intention her auch für „Beamte auf Lebenszeit“ und die „Institution der Ehe“ gelte. Dagegen begreifen die meisten lebenslang als „mindestens 25 Jahre“ Freiheitsentzug. Andere veranschlagen eine „unbestimmte Zeit“, „18 bis 20 Jahre“, „15 bis 18 Jahre“ oder „13 Jahre“. Einige ergänzen „Strafrestaussetzung zur Bewährung“ (ein Proband zitiert § 57a StGB), „Begnadigung“, „Maßregelvollzug“ oder „anschließende Sicherheitsverwahrung“, was jedoch nicht bedeute, dass Tote weggeschlossen würden.

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Die fünfte Gruppe versteht den Ausdruck lebenslang ebenfalls in erster Linie nicht wörtlich und mutmaßt über die Bedeutung. Die Spanne reicht von „12 Jahre?“, „13 bis 30 Jahre“ und „13 bis maximal 50 Jahre“. Sie begründen das damit: „100 Jahre sind quatsch! Solange lebt ja kein Mensch“ oder „Dann wäre lebenslang ja doch ein Leben lang“. Manchen Studierenden ist bewusst, dass es für Straftäter die Resozialisierung gibt. Sie sei aber kein Spezialfall nur für Mörder, sondern gelte generell. Dazu müsse der Text deshalb auch nichts extra sagen. Drei Masterstudierende wissen, dass man zwischen einem Allgemeinen Teil und einem Besonderen Teil unterscheiden muss. Der Mord-Paragraph steht im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches, wo meistens ausdrückliche Verweisungen auf die Normen des Allgemeinen Teils gemacht werden, da sie für die nachfolgenden Bestimmungen gelten. Sie haben juristische Vorkenntnisse und können direkt zu § 57a StGB eine Verbindungslinie ziehen. Denjenigen, die juristisch nicht vorgebildet sind, gelingt das nicht. Sie verstehen § 211 StGB als eine in sich geschlossene Vorschrift. Das ist deutlich die Mehrheit. Dagegen legen zwei Studentinnen die wörtliche Bedeutung zugrunde („bis der Mörder stirbt“, „solange er lebt“).

5.4.3 Vergleichsmuster Die diachron und synchron angelegte Verständlichkeitsanalyse zur Rechtsfolge von § 211 Absatz 1 StGB ergibt: Auf der einen Seite wissen die meisten Probanden, dass lebenslange Freiheitsstrafe nicht das meint, was wörtlich gesagt wird. Zumeist grenzen sie den Ausdruck zeitlich ein. Offensichtlich haben sie vor allem durch verschiedene Medien (u.a. Spielfilme, Ratgebersendungen, Zeitungen) Kenntnis davon, dass das Strafrecht Mörder nicht für immer und ewig einsperrt, sondern lebenslängliche Bestrafung vergänglich ist. Damit bestätigen sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1977, wonach in der Bevölkerung die Meinung weit verbreitet ist, „die lebenslange Freiheitsstrafe sei eben doch nur dem Namen nach, nicht aber in der Wirklichkeit lebenslänglich“ (BVerfG, Urteil vom 21.6.1977 – 1 BvL – 14/76, NJW 1977: 1530). Der Gesetzgeber gewichtet letztlich die Wiedereingliederung des Verurteilten höher als die restlose Vollstreckung der vollen absoluten Strafe. Neun der 100 Probanden verweisen auf den Resozialisierungsgedanken, während 21 Probanden den Ausdruck tatsächlich gemeinsprachlich im Sinne von „ein Leben lang“ und „das ganze Leben andauernd“ interpretieren. Die Bedeutungsexplikation der Laien trifft jedoch nicht die gesetzliche Bedeutung.

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Danach muss ein Mörder unter Schuldgesichtspunkten mindestens 15 Jahre verbüßen; außer er wird begnadigt. Der Strafrest muss nach § 57a StGB zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn keine besonders schwere Tatschuld vorliegt, der Inhaftierte in die Entlassung einwilligt und die allgemeine Sicherheit garantiert ist. Die überwiegende Mehrzahl der Probanden weiß das so nicht. Vielmehr sind sie über den institutionellen Bedeutungsgehalt im Unklaren und können über den Haftzeitraum nur mutmaßen (79 Probanden). Sie verstehen unter der Rechtsfolge im Kern „25 Jahre“ Gefängnis. Allerdings schwanken sie zwischen Maximalforderung und Mindestvoraussetzung (Gruppe drei und vier). Elf setzen ein Fragezeichen dahinter. Andere wiederum beziffern die Inhaftierungsdauer auf 12 bis 60 Jahre, wobei häufig auch „30 Jahre“ genannt werden. Vom Gesetz her ist die Strafe aber absolut und nicht zeitig (Kap. 5.4.1 und 6); das ist ein erheblicher Bedeutungsunterschied. Nur wenige (7 Probanden) räumen eine vorzeitige Haftentlassung im „Gnadenwege“ ein oder assoziieren mit lebenslang die „Sicherungsverwahrung“. Diese Möglichkeiten bestehen aus juristischer Sicht. Das Rechtsfolgensystem ist dualistisch mit den Strafen (Geld- und Freiheitsstrafe, §§ 38, 40 StGB) und den Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61ff. StGB). Die Zweispurigkeit beruht auf der Annahme, dass der Schutzzweck des Strafrechts nicht mit dem Mittel der Strafe allein hinreichend erfüllt werden kann. Strafe ist an Schuld gebunden (§ 46 StGB). Die Maßregeln sind dagegen schuldunabhängig und haben den Zweck, den gefährlichen Täter zu bessern oder die Allgemeinheit vor ihm zu schützen. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, von der einige Probanden wissen, ist eine der sechs Maßregeln, die § 61 StGB aufzählt und § 66 StGB spezifiziert. Die Sicherungsverwahrung hat präventiven Charakter, setzt also Gefährlichkeit voraus. Die Korpusanalysen zeigen, dass die befragten Laien bei allen Unterschieden im Einzelnen nicht nur die Dauer der Haftstrafe nicht sicher kennen, sondern auch über die einschlägigen Rechtsgrundlagen nicht verfügen. Der größte Teil wähnt sich in Unsicherheit und schätzt einfach. Lediglich vier Probanden haben § 57a StGB, der die Aussetzung des Strafrestes regelt, ohne einen direkten Verweis präsent, weil sie juristisch vorgebildet sind. Ein Proband kennt § 38 StGB. Er ist in der Lage, § 211 StGB in der Gesamtheit der miteinander verknüpften Vorschriften zu interpretieren. Der MordParagraph ist also keineswegs abgeschlossen. Demzufolge versteht aber allein der Kenner den Wortsinn des Adjektivs lebenslang stillschweigend. Die fachsprachliche Bedeutung erschließt sich erst durch die Bezüge zu den Regeln des Allgemeinen Teils im Strafgesetzbuch. Unter solchen Bedingungen haben Rechtslaien kaum eine Chance, die für das Verständnis erforderliche Kohärenz

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herzustellen. Sie missverstehen die Norm. – Ist das im Sinne der Rechtssicherheit zumutbar oder sollte § 211 Absatz 1 StGB sprachlich optimiert werden?

6 Reformdiskurs und Formulierungsvorschläge Die absolute Strafdrohung steht aus unterschiedlichen juristischen Richtungen in der Kritik. In europäischer Dimension wird eine „Strafrahmen-Harmonisierung“ (Fischer 2014: vor § 38 Rn. 7) angestrebt. Der Bedeutungsgehalt der lebenslangen Freiheitsstrafe unterscheidet sich in den Unionsländern teils erheblich (Kett-Straub 2011: 69–72):12 So beträgt die Mindestverbüßungszeit zum Beispiel in Estland 30 Jahre, in Italien 26 Jahre, in Polen 25 Jahre und in Ungarn 20 Jahre. Dänemark liegt mit 12 Jahren noch darunter. In Litauen wird nur im Gnadenwege entlassen. Dagegen haben Länder wie Kroatien, Portugal oder Spanien die lebenslange Freiheitsstrafe abgeschafft und in ein zeitiges Strafmaß überführt. In Deutschland existiert noch die lebenslange Freiheitsstrafe. Allerdings gab es schon Bestrebungen, die juristische Bedeutung der absoluten Strafform zu modifizieren, d.h. die Mindestverbüßung auf 12 Jahre herunterzusetzen oder auf 20 Jahre zu erhöhen. Die Initiativen sind jedoch im Gesetzgebungsverfahren gescheitert. Auch der zuletzt aus Bayern vorgelegte Gesetzesantrag, die Mindestverbüßungszeit für lebenslang im Hinblick auf das „Rechtsbewusstsein der Bevölkerung“ und die „Abschreckungswirkung“ und „zum Schutz der Allgemeinheit“ insgesamt „auf zwanzig Jahre“ (BR-Drucks. 850/02 vom 13.11.2002, S. 1–2) anzuheben, war erfolglos. Nun gibt es einen neuen Vorstoß, den MordParagraphen zu reformieren. Das Land Schleswig-Holstein hat im Bundesrat einen Gesetzesantrag für einen Änderungsentwurf von § 211 StGB mit dem folgenden Wortlaut eingebracht: „Wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“ (BR-Drucks. 54/14 vom 12.02.2014, S. 4). Der Entwurf fasst die beiden bisherigen Absätze des Mord-Paragraphen zu einem Absatz zusammen. Das gesetzgeberische Motiv ist, die Norm von der „nationalsozialistische(n) Strafrechtsideologie“ (BR-Drucks. 54/14 vom 12.02.2014, S. 2)

|| 12 Die in Deutschland übliche Schuldschwereklausel zur Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung (§ 57a Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) kennt in der Form kein weiteres Mitgliedsland.

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redaktionell zu bereinigen. Die geltende Norm ist der Lehre vom Tätertyp verhaftet („Mörder ist, wer aus Mordlust […] einen Menschen tötet“).13 Nach der allgemeinen Auslegungspraxis begründet aber „nur die Tat als vorwerfbare Handlung – nicht eine bestimmte Struktur der Täterpersönlichkeit“ (BR-Drucks. 54/14 vom 12.02.2014, S. 1) die Strafbarkeit. Die Bundesrat-Initiative aus Schleswig-Holstein zielt darauf, den „Wandel vom Tat- zum Täterstrafrecht“ (BR-Drucks. 54/14 vom 12.02.2014, S. 2) sprachlich zu revidieren und knüpft für die Strafe an die Tathandlung – nicht an das Wesen des Täters – an. Indes stellt man die „dringend gebotene inhaltliche Reform der Tötungsdelikte“ zurück, „um eine rasche und einvernehmliche Umsetzung zu gewährleisten“ (BRDrucks. 54/14 vom 12.02.2014, S. 3). Für die Kommunikationsaufgabe des Strafrechts reichen aus linguistischer Sicht die bereits beabsichtigten Korrekturen nicht aus. Sie betreffen ausschließlich die Textkomposition und das Interrogativpronomen („wer“ anstelle von „der Mörder“) und lassen die Rechtsfolge außen vor. Nach den Ergebnissen der Korpusanalyse (Kap. 5.4) besteht hier aber ebenfalls Handlungsbedarf. Der Entwurf verwendet weiterhin das Präpositionalobjekt mit lebenslanger Freiheitsstrafe. Statt der Formulierungen im Gesetz „Der Mörder wird […]“ und „Mörder ist, wer […]“ und im Entwurf „Wer aus Mordlust […] tötet“ könnte der Gesetzgeber alternativ sagen: „Mord wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe sanktioniert“ oder „Die Rechtsfolge für Mord ist eine lebenslange Freiheitsstrafe“. Mord stellt auf die Tat als vorwerfbare Handlung ab, also auf „morden“ (jmdn. ermorden). Zudem wäre zu überlegen, anstelle von „töten“ das Verb „morden“ zu verwenden, um die Strafdelikte Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB) schon vom Wortlaut her zu unterscheiden. Dem Mörder droht nämlich eine lebenslange Freiheitsstrafe und dem Totschläger eine Strafe zwischen fünf und 15 Jahren, obwohl beide einen Menschen getötet haben. Jedenfalls ist ein direkter Verweis zu § 57a StGB wichtig, der die Kohärenz nicht verschleiert, sondern schwarz auf weiß sagt, wohin sich die Adressaten orientieren müssen. Also etwa: „Die Strafe kann unter den Bedingungen in § 57a frühestens nach 15 Jahren ausgesetzt werden“, „Die Mindestverbüßungszeit beträgt 15 Jahre (§ 57a)“, oder „§ 57a bestimmt die tatsächliche Haftdauer“. Der Wille des Gesetzgebers muss an der Textoberfläche zum Ausdruck kommen. Das ist aber weder im Gesetz noch im Entwurf der Fall.

|| 13 Der Wortlaut geht zurück auf das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4.9.1941.

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7 Ausblick Derzeit schwingt – wie die Bedeutungsexplikationen der Laien zeigen (Kap. 5.4.2) – im Wortlaut lebenslang ein großer Unsicherheitsfaktor über die Dauer der Strafe mit. Denkbar wäre deshalb auch eine Legaldefinition. So könnte der Gesetzgeber – jeweils mit Verweis auf §§ 38 Absatz 1 und 57a Absatz 1 StGB (vgl. BVerfG, Urteil vom 20.3.2002 – 2 BvR 794/95, NJW 2002: 1780; Jarass / Pieroth 2012: Artikel 103 Rn. 51) – erläuternd hinzufügen: „Lebenslang steht für eine Strafe von unbestimmter Dauer, deren Mindeststrafmaß 15 Jahre beträgt“, „Lebenslang im Sinne des Gesetzes ist eine Strafe auf unbestimmte Zeit. Mindestens müssen aber 15 Jahre Haft verbüßt worden sein“, oder „Lebenslang meint eine unbestimmte Freiheitsstrafe, die mindestens 15 Jahre dauert“. Ob die absolute Strafandrohung für Mord zur Disposition zu stellen ist, wie es der erste BMJVEntwurf, aus dem „Der Spiegel“ (Nr. 13 vom 26.3.2016, S. 33-34) zitiert, vorsieht, oder „die ‚Leitwährung‘ unseres Strafrechts“ (BayLT-Drucks. 17/7554 vom 15.07.2015) als absolut zwingendes Strafmaß bleiben muss, wofür der Bayerische Landtag votiert, ist eine Frage, die Juristen zu klären haben (vgl. Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte vom Juni 2015, S. 53–54). Die Aufgabe der Sprachwissenschaft ist, dem Sprachgebrauch in der Gesellschaft Ausdruck zu geben. Also dafür einzutreten, die Wissensgrenzen reflexiv und explizit in das Rechtssystem einzubeziehen. Es geht darum, adressatengerecht im Strafgesetz zu präzisieren, was lebenslang juristisch bedeutet und Intertextualität (Verweisungszusammenhänge) sichtbar zu machen. Die Reform soll noch in dieser Legislaturperiode erfolgen. Die Sprachwissenschaft sollte sich verstärkt in die juristische Reformdebatte einbringen. Sie kann Gesetzeskommunikation harmonisierend befördern, die den Empfängerhorizont von juristischen Experten und Laien berücksichtigt (Kap. 1 und 5). Das führt allgemein zu verständlicheren Gesetzen.

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| Teil 5: Das performative Potenzial von Textstil und Grammatik

Lars Bülow

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben Zur performativen Wirkung des Textsortenwissens

1 Einleitung und Problematisierung In den letzten Jahren hat sich die Forensische Linguistik – die sich als Disziplin der Angewandten Linguistik versteht – für Ansätze aus verschiedenen Bindestrich-Linguistiken geöffnet und dadurch Fortschritte erzielt.1 Der Forschungsbereich der Forensischen Linguistik erstreckt sich über alle Felder des Rechts, die sich mit sprachwissenschaftlichen Methoden und Fragestellungen untersuchen lassen (vgl. Fobbe 2011). Ziel der Forensischen Linguistik ist es u.a., etwas über die Identität von Autoren von inkriminierten Schreiben herauszufinden.2 Sie bedient sich dazu verschiedener Methoden. Eine dieser Methoden ist die Stilanalyse.3 Im Fokus der forensischen Autorenerkennung stehen diejenigen sprachlichen Strukturen der Texte, die Rückschlüsse auf die Identität eines Emittenten zulassen.4 Die Forensische Linguistik nutzt dazu den Umstand, „dass die meisten Sprecher einer Sprache ‚user‘ sind, die ihre Sprache zwar angemessen und weitgehend fehlerlos beherrschen, ihre Funktionsweise aber nicht reflektiert haben und das zu Grunde liegende System nicht kennen“ (Dern

|| 1 Die Autorenerkennung arbeitet mit benachbarten Disziplinen wie der Dialektologie, Soziolinguistik und Computerlinguistik zusammen. Der Autorenerkennung fehlen bisher insbesondere Hintergrundstatistiken über die Verteilung sprachlicher Verhaltensweisen (Dern 2009: 199). Es besteht ein „Mangel an nutzbaren, empirisch begründeten Forschungsarbeiten zu Individualstil oder Idiolekt […] sowie […] Mangel an statistischen Auswertungen durchschnittlichen Sprachverhaltens, die als Norm dienen könnten“ (Stein / Baldauf 2000: 378). Vgl. dazu auch Krieg-Holz / Hahn (in diesem Band). 2 Zu den Anfängen der Forensischen Linguistik in Deutschland vgl. Grewendorf (1992; 1990) und Spillner (1990). 3 Zu den Aufgabenstellungen gehören die Textanalyse und der Textvergleich (vgl. Schall 2008: 317). 4 Im Bereich der Autorenerkennung werden beim BKA „mit sehr wenigen Ausnahmen nur geschriebene Texte und nur Texte in der deutschen Sprache untersucht“ (Schall 2008: 316). Audiodaten werden von der Abteilung Sprechererkennung analysiert.

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2009: 32), womit Unbewusstes in der Sprache selbst handlungsanleitend wird, sprich, eine performative Wirkung entfalten kann. Der Begriff Performativität5 ist vom englischen Verb to perform abgeleitet und unterstreicht zum einen, dass mit Sprache Handlungsziele erreicht werden, und zum anderen, dass diese Ziele sprachstrukturell an Wissensbestände gekoppelt sind, die das Individuum in der Interaktion lernt. Sprachliche Wissensbestände können eine performative Wirkung entfalten, weil sie durch ständige Einübung, Synchronisierung und Wiederholung für bestimmte Kontexte konventionalisiert sind. Velten (2012: 253) schreibt: „The performative speech act can only succeed because it is citational, i.e. repeats known codes embedded in specific ritualised acts“. Ähnlich argumentiert Müller-Mall (in diesem Band): „Das performative Ereignis ist gleichermaßen Setzungsakt wie eingeschrieben in das Spannungsfeld aus Wiederholung und Differenz. Kein performatives Ereignis kommt aus dem Nichts“. Performative Ereignisse sind immer auch der Sprachsozialisation und dem Musterwissen geschuldet. Das Performative der Sprache hat immer etwas Vorgängiges. Dieser Beitrag untersucht die sprachlichen Wissensbestände, die möglicherweise strukturprägend und handlungsleitend für das Verfassen von Erpresserschreiben sind. Zu diesen Wissensbeständen gehört in erster Linie das Textsortenwissen, das wir im Laufe des Lebens durch den Umgang mit verschiedenen Texten erwerben. Dieses Wissen hilft uns, die Komplexität des Alltags zu reduzieren.6 Der performative Charakter von Sprache wird insbesondere durch die pragmatisch ausgerichtete Textlinguistik betont, deren Ergebnisse für die Autorenerkennung immer wichtiger werden. Gerade im kriminalistischen bzw. forensischen Kontext ist es wichtig festzuhalten, dass Sprache nicht nur Soundtrack unseres Handelns ist, Hintergrundgeräusch, welches unsere Handlungen begleitet, sondern dass wir allein mit Sprache handeln können, dass sprachliche Äußerungen die Welt um uns herum verändern können. (Dern 2009: 32)

|| 5 Für Performativitätskonzepte muss Folgendes beachtet werden: „Yet this dissemination has a dark side: today there is no integrative, consistent theory of performance/performativity, but instead a pluralistic field of eclectic and sometimes contradictory theoretical concepts“ (Velten 2012: 249). Auch Müller-Mall (in diesem Band) stellt fest, dass es sich bei Performativität um ein verschwommenes Konzept handelt. 6 Rezipienten hilft es, Texte besser einzuordnen und zu bewerten; Emittenten profitieren, wenn sie Texte produzieren und strukturieren müssen.

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Die traditionelle Textlinguistik versteht Textsorten als konventionelle Muster sprachlichen Handelns (Brinker 2002: 42). Autoren verfügen über implizites und explizites Textsortenwissen. Dazu gehören sowohl kontextuelle als auch sprachstrukturelle Wissensbestände, die miteinander interagieren (Brinker 2014: 140–146). Für die Textsorte Geschäftsbrief haben die meisten Personen mit einem mittleren und höheren Bildungsabschluss derartiges Wissen verinnerlicht, das bei der Textproduktion und -rezeption als komplexes Musterwissen aktiviert wird. Erfahrungen mit Erpresserschreiben haben dagegen die wenigsten Personen gesammelt, was die Forensische Linguistik bei ihren Analysen berücksichtigen muss. 7 Dern (2009) spricht in diesem Zusammenhang von einer Konventionalitätsproblematik: Zum Glück ist der Erpresserbrief naturgemäß weder ein Routineschreiben noch eine eingespielte Textsorte, bei der bestimmte Schreibkonventionen zu beachten wären. Ein solcher Brief muß im Prinzip nur so angelegt sein, daß der Sprechakt der Erpressung als solcher erkennbar wird […]. (Burkhardt 2000: 11; zitiert nach Dern 2009: 152)

Einige Forschungsarbeiten verweisen allerdings auf die formalen und funktionalen Überschneidungen von Geschäftsbriefen und Erpresserschreiben (Dern 2009: 151f.; Artmann 1996: 186f.). Die fehlende Erfahrung veranlasst die Erpresser scheinbar, auf bekanntes Wissen zurückzugreifen, wenn dieses unmittelbar nutzbar gemacht werden kann. Dieser Befund deutet darauf hin, dass die konventionalisierte Textsorte Geschäftsbrief in vielen Fällen einen performativen Einfluss auf Erpresserschreiben nimmt.8 Zur Ermittlung der Identität von Autoren muss der performative Einfluss bekannter Muster auf die Textproduktion berücksichtigt werden. Textsorten legen „wesentliche Anforderungen an ihre Gestaltung fest, denen sich die Sprecher und Schreiber nicht entziehen können“ (Eroms 2008: 20). „Dabei ist zu beachten, dass eine Orientierung an Konventionen individualtypische Verhaltensweisen überlagern kann.“ (Dern 2009: 34) Wolf (1989: 787) behauptet sogar: Wir müssen aber ‚Stil‘ als eine Auswahl aus sprachlichen Möglichkeiten sehen, die höchstens zu einem ganz geringen Teil von der Individualität des Autors, in viel stärkerem Maße aber von (sozialen) Normen der Textartenkonstitution und der jeweiligen Textfunktion bestimmt ist.

|| 7 Weitere Schwierigkeiten bei der Tatschreibenanalyse fasst Schall (2008: 319f.) zusammen. 8 Höflich (2002: 192) betont, dass der Brief trotz der Medienrevolution weiterhin einen hohen Stellenwert im Bewusstsein der Menschen hat: „Zumal jeder durch schulische Erfahrungen eine Phase der Briefsozialisation durchläuft, bestehen […] selbst bei denen, die keine Briefe (mehr) schreiben, recht klare Vorstellungen über das, was einen Brief ausmacht“.

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Individualsprachliche Verhaltensmuster sind somit oft in überindividuelle und kulturkreisabhängige textsortenspezifische Verhaltensmuster eingebettet. Wissen um Textsortenwissen wird so unabdingbar, um individuelle Muster vor der Folie konventionalisierter Muster hervortreten lassen zu können. Auch Erpresser sind also durch gewisse Rahmenbedingungen, die sich durch dominante Textmuster ergeben, im konkreten Ausdruck ihrer Textproduktion vorgeprägt. Diese Prägung wirkt sich performativ auf die konkrete Textproduktion aus. Das heißt einerseits, dass der performative Einfluss des gestaltprägenden Musters bei der Analyse berücksichtigt werden muss, um etwas über die Identität des Täters oder der Täterin in Erfahrung zu bringen. Andererseits ist Textsortenwissen selbst als ein Indiz zu verstehen: Die Routiniertheit, mit der jemand mit den sprachlichen Textbausteinen einer Textsorte umgeht, zeigt, wie stilsicher er ist, und verrät uns etwas über seine Erfahrungen in der Textproduktion und seinen Bildungsstand. (Fobbe 2011: 73)

Daraus lassen sich für den Kriminologen wichtige Hinweise für das Täterprofil ableiten. Das Tatschreiben ist ein Ausdruck der Fähigkeiten des Täters, Texte zu formulieren und zu strukturieren (Krieg-Holz in diesem Band). Weiterhin setzt die forensische Stilanalyse an der Tatsache an, dass der Sprachgebrauch der Kommunikationsteilnehmer zum einen variabel und zum anderen nicht vollständig arbiträr ist. Damit kann konkreter Sprachgebrauch z.T. auf außersprachliche Faktoren wie Alter, Bildung, räumliche Herkunft, Texterfahrung und innersprachliche Faktoren wie strukturelle Zusammenhänge und textsortenkonstituierende Parameter zurückgeführt werden. Um diese Faktoren aus der Sprachverwendung herauszuarbeiten, verwendet die Forensische Linguistik Erkenntnisse aus der Stilistik sowie der Sozio- und Varietätenlinguistik (vgl. Krieg-Holz in diesem Band; Schall 2008). Für die Autorenerkennung ist es wichtig, die sprachlichen Auffälligkeiten zu untersuchen, die individuell und untypisch für die Textsorte Erpresserschreiben sind. „Es sind die fakultativen, nicht musterhaft vorgegebenen und häufig redundanten Teilhandlungen einer Erpressung, die sprachliche Kreativität und damit auch Individualität entstehen lassen, eine ‚Handschrift‘ des Täters im Sinne des kriminalistischen Verständnisses des Begriffs konstituieren.“ (Dern 2009: 162; Hervorhebung im Original) Gerade in der sprachlichen Umsetzung der erpresserischen Handlung muss dem Autor viel Freiheit attestiert werden. Wie gezeigt wird, ist die Freiheit der Textgestaltung aber nur relativ, da Musterwissen, das stark an funktionale und situative Faktoren geknüpft ist, immer in die Textproduktion einfließt. Letztlich ist es wichtig, „das Erwartbare vom weniger Erwartbaren zu unterscheiden“ (Dern 2009: 161). Dort, wo für die

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Emittenten Wahlmöglichkeiten bzw. Handlungsoptionen bestehen, muss die Stilanalyse als Methode der Forensischen Linguistik ansetzen, um mögliche Erkenntnisse über die Identität der Autoren zu gewinnen. Dort machen sie sich gegebenenfalls durch ihren Sprachgebrauch erkennbar. Im Folgenden werden insbesondere die sprachstrukturellen Ähnlichkeiten zwischen Erpresserschreiben und Geschäftsbriefen genauer untersucht. Es geht darum herauszufinden, auf welche Muster aus der Textsorte Geschäftsbrief beim Verfassen von Tatschreiben zurückgegriffen wird. Kapitel 2 führt zunächst in die Konzepte Textsorte und Stil ein. Um sich der Textsorte Erpresserbrief zu nähern, werden in Abschnitt 2.1 zunächst die in der Forschungsliteratur zusammengetragenen Merkmale von Erpresserschreiben vorgestellt und diskutiert, bevor in 2.2 die typischen Merkmale von Geschäftsbriefen beschrieben werden. In Abschnitt 2.3 liegt der Schwerpunkt auf der performativen Kraft der Höflichkeit und wie dieser Aspekt für die Tatschreibenanalyse bisher berücksichtigt wurde. Anschließend wird in Kapitel 3 anhand eines Korpus von Erpresserschreiben des BKA aus den Jahren 2007 bis 2010 untersucht, welche sprachstrukturellen und textsortenkonstituierenden Merkmale von Geschäftsbriefen tatsächlich in Erpresserschreiben relevant sind. Unter 4 werden die Befunde im Kontext der Performativität des Textsortenwissens abschließend diskutiert. Kapitel 5 legt nochmal Wert auf die Herausarbeitung der performativen Muster. Sprachmusterwissen führt zur konkreten Umsetzung von Sprachhandlungen in Textform und schafft damit Tatsachen (Wirth 2002: 10f.).

2 Textsorten, Varietäten und Stil In der Textlinguistik ist es allgemeiner Konsens, dass Texte sprachliche Handlungen sind. Diese sind in Kommunikationssituationen eingebettet, die ebenfalls analysiert werden müssen, wenn man Textstrukturen adäquat verstehen will (vgl. Brinker 2014: 15–18; Krieg-Holz / Bülow 2016; Kienpointner 2005: 195). Insbesondere im Falle einer Erpressung ist es notwendig, die sozialen und situativen Voraussetzungen gut einzuschätzen, um die Sprachstruktur der Autoren entsprechend bewerten zu können. Das Zusammenspiel von situativen Faktoren und Textsorten spielt dabei eine große Rolle. Auf der Grundlage des sprechakttheoretisch begründeten Textbegriffs können Textsorten als konventionalisierte Muster für komplexe sprachliche Handlungen definiert werden. Aus diesem Zusammenhang von Text und Textsorte ergibt sich zwingend, dass Textanalyse immer zugleich auch Textsortenanalyse ist. (Brinker 2002: 42)

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Innerhalb einer Sprachgemeinschaft bilden sich sprachliche Muster heraus, um den kommunikativen Alltag sowie die Sprachproduktion und -verarbeitung zu erleichtern. Diese Textsortenmuster sind historisch entstanden. Sie besitzen eine performative Wirkung. Sandig (1997: 26) sieht in Textsorten ein „standardisiertes (konventionelles) Mittel zur Lösung in einer Gesellschaft auftretender Standardprobleme“. Gansel (2011: 120) geht noch einen Schritt weiter und bezieht den prozeduralen Charakter von Textsorten mit ein: „Als Routinen für die Gestaltung von Kommunikationen sind Textmuster einerseits konventionalisiert, andererseits immer prozedural offen für Veränderungen“. Der konkrete Text spiegelt letztlich eine Vielzahl von Selektionen wider. Einige dieser Selektionen sind unbewusster – weil konventionalisierter und kontextabhängiger – als andere. Je höher die Wahlfreiheit für den Emittenten ist, desto relevanter werden stilistische Fragestellungen. Insbesondere das Konzept der Pragmastilistik setzt bei der Beschreibung und Bewertung von Texten situative und textsortenspezifische Faktoren in Relation zu einander (Krieg-Holz / Bülow 2016).9 Die Textanalyse kommt nicht mehr an einer linguistischen Stilistik vorbei: Mit dem Wissen um die textkonstitutive Bedeutung von Stil und die stilkonstitutive Rolle des Textes kann man, wenn man Textlinguistik betreibt, von der Stilistik nicht mehr absehen. (Fix 2009: 14)

Die forensische Stilanalyse setzt an der Tatsache an, dass der Sprachgebrauch der Kommunikationsteilnehmer zum einen variabel und zum anderen nicht vollständig arbiträr ist. Krieg-Holz (in diesem Band) zeigt die konkrete Anwendung stilistischer Parameter bei der Tatschreibenanalyse. Um Faktoren wie Alter, Bildung, räumliche Herkunft, Texterfahrung aus der Sprachverwendung herauszuarbeiten, verwendet die Forensische Linguistik Erkenntnisse aus der Sozio- und Varietätenlinguistik (vgl. Labov 2002; McMenamin 2010). Durch deren Befunde kann der Sprachanalytiker abschätzen, wo Synchronisierungsprozesse (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 29–32) den Idiolekt so beeinflusst, dass für die Emittenten überhaupt Wahl- bzw. Variationsmöglichkeiten bestehen. Schmidt / Herrgen (2011: 29) verstehen unter Synchronisierungen „in der Einzelinteraktion begründete Modifizierung und zugleich Stabilisierung des individuellen sprachlichen Wissens“. Neben Synchronisierungen, die zu Divergenzen auf der Ebene von Dialekten, Fachsprachen oder Jugendsprachen führen, spie-

|| 9 Für einen Überblick über verschiedene Stilkonzepte in der Linguistik vgl. Krieg-Holz / Bülow (2016).

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len für die Textsortenlinguistik insbesondere Gleichrichtungstendenzen eine Rolle, die von einer übergeordneten Normierungsebene legitimiert sind. Insbesondere für die Textlinguistik müssen sogenannte Makrosynchronisierungen berücksichtigt werden. Diese sind auf das Konstrukt Standardsprache bezogen. Sie sind „Synchronisierungsakte, mit denen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich an einer gemeinsamen Norm ausrichten“ (Schmidt / Herrgen 2011: 32). Makrosynchronisierungen sind nach Schmidt / Herrgen (2011: 32f.) insbesondere an der neuhochdeutschen Schriftsprache ausgerichtet, die – durch das Bildungssystem getragen – von den meisten Mitgliedern der Gesellschaft beherrscht wird. Das kodifizierte Schriftsprachsystem ist zudem äußerst stabil, gewährleistet die höchste kommunikative Reichweite und verfügt über ein hohes Prestige. In Zusammenhang mit dem konventionalisierten Schriftsprachsystem muss auch von einem kodifizierten Textsortenwissen ausgegangen werden, das individualstilistische Merkmale als Stileffekte erst hervortreten lässt (vgl. Eroms 2008: 22). Zum Zwecke der Autorenerkennung ist es wichtig, die sprachlichen Auffälligkeiten zu untersuchen, die individuell und untypisch für die Textsorte Erpresserschreiben sind. Es sind die fakultativen, nicht musterhaft vorgegebenen und häufig redundanten Teilhandlungen einer Erpressung, die sprachliche Kreativität und damit auch Individualität entstehen lassen, eine ‚Handschrift‘ des Täters im Sinne des kriminalistischen Verständnisses des Begriffs konstituieren. (Dern 2009: 162; Hervorhebung im Original)

Genau an diesen Punkten muss die Stilanalyse als Methode der Forensischen Linguistik ansetzen, um mögliche Erkenntnisse über den Autor zu gewinnen. Denn wo die Erpresser/innen sprachliche Handlungsoptionen haben und entsprechende sprachliche Entscheidungen treffen, können sie sich durch ihren Sprachgebrauch ‚verraten‘. Style in written language reflects both a writer’s conscious response to the requirements of genre and context as well as the result of his or her unconscious and habituated choices of the grammatical elements acquired through the long-term experimental process of writing. Style is in part, then, the sum of the recurrent choices the writer makes in the process of writing. Recurrent refers to those choices that become subconscious habits of choice, that is, repeated selection of one form over other available forms. (McMenamin 2010: 488)

Entscheidend für diese Untersuchung ist die Tatsache, dass Textstrukturen nicht aus dem Nichts entstehen, sondern von Menschen gemachte Entitäten sind, deren Strukturen in dem Spannungsdreieck zwischen a) innersystemischen Zusammenhängen (Verhältnis der sprachlichen Subsysteme zueinander), b) Faktoren der kognitionspsychologischen Sprachverarbeitung und c) Faktoren

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des Strebens nach sozialem Erfolg selektiert werden (vgl. Bülow 2016). Das in der Sozialisation erworbene Sprachwissen wirkt sich auf die Produktion dieser Entitäten aus. Es bietet gleichzeitig Variations- und Strukturanknüpfungsmöglichkeiten. Textsorten wie Geschäftsbriefe verlangen auf der einen Seite stilistische Variation, sind auf der anderen Seite aber auch stark an Formulierungsmustern orientiert. Mit Dern (2009: 34f.) werden folgende Annahmen zu Grunde gelegt: –





Textsortenwissen nimmt Einfluss auf das sprachliche Verhalten der Autoren. Die Möglichkeit, Standardsituationen sprachlich angemessen zu lösen, lässt Rückschlüsse auf die Geübtheit der Autoren in der Textproduktion zu. Es gibt überindividuelle sprachliche Varianz, die von den Sprachbenutzern und Linguisten als Varietäten aufgefasst werden und als geographische, generationsspezifische oder sozial definierte Subsysteme einer Standardvarietät gelten. Die Autoren können teilweise zwischen diesen Subsystemen switchen. Varietäten ermöglichen eine grobe Zuordnung eines Emittenten mit Blick auf seine regionale Herkunft, sein Alter, seine Bildung oder seine Tätigkeit.10 Die Wahl von sprachlichen Ausdrucksmitteln kann in der Kombination typisch für spezifische Autoren sein. Alle Ebenen der Sprachbeschreibung bieten Wahlmöglichkeiten.11

Im Folgenden Abschnitt wird auf Grund der Konventionalitätsproblematik für Erpresserschreiben diskutiert, ob im engen Sinne überhaupt von einer Textsorte Erpresserbrief gesprochen werden kann. Dazu wird auch ein Überblick über die bisher ermittelten spezifischen Muster von Erpresserbriefen gegeben. Da zur Bestimmung dieser Muster insbesondere inhaltliche und funktional-situative Kriterien von Erpressungen herangezogen werden müssen, ist zunächst zu klären, was im Strafgesetzbuch (StGB) § 253 unter Erpressung verstanden wird: (1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu

|| 10„Die Tatsache, dass Sprache variabel ist und dass diese Variabilität nicht arbiträr, sondern regelhaft auf bestimmte außersprachliche Faktoren zurückführbar ist, ist zentraler Ansatzpunkt der Autorenerkennung.“ (Dern 2009: 40) 11 „Alle überhaupt feststellbaren Merkmale von und in Texten können (!) in einem konkreten Fall in einer spezifischen Konfiguration relevant und ‚ergiebig‘ im Sinne der Analyse der Autorschaft sein. Nur dies scheint gesichert – […].“ (Kniffka 1998: 289)

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Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. (3) Der Versuch ist strafbar. (4) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung einer Erpressung verbunden hat.12

Busch (2006: 55) fasst eine Erpressung aus Sicht der Forensischen Linguistik sprachstrukturell und funktional so zusammen: Damit steht ein erpresserisches Konditionalgefüge im Zentrum der Textsortencharakteristik, das schlichterweise aus zwei konditional verknüpften Themen besteht: Zahlung der Summe X; Sanktion im Falle der Nicht-Zahlung.

Solche Strukturen werden in Kapitel 3 deutlich aufgezeigt.

2.1 Textsorte Erpresserbrief Weil die klassischen Textsortendefinitionen (Brinker 2005: 144; Fix 2008: 10; Sandig 2006; 1986) immer auch auf die Konventionalität von Textsorten abzielen, ist es schwierig, überhaupt von einer Textsorte Erpresserbrief zu sprechen. Dennoch lassen sich spezifische Charakteristika oder Muster von Erpresserschreiben herausarbeiten, die der Phänomenologie einer Erpressung geschuldet sind. Eine typische Erpressung verläuft über die drei Phasen Kontaktaufnahme, Verhandlung und Übergabe (vgl. Dern 2009: 154). Aus dieser Phänomenologie ergeben sich verschiedene Handlungseinschränkungen für die Erpresser. Insbesondere die Wahl des Briefes als klassische Kommunikationsform ist pragmatischen Kriterien geschuldet, die mit dem Charakter der Straftat einer Erpressung zusammenhängen. Der Brief scheint am ehesten die Anonymität des Straftäters zu gewährleisten.13 Es wäre allerdings zu vereinfachend, sich den Erpresserbrief als ein singuläres Ereignis vorzustellen. Dern (2009: 155–159) unterscheidet zwischen Solitären und Briefserien: Erpresserbriefe treten nur zu

|| 12 http://dejure.org/gesetze/StGB/253.html (abgerufen am 15.03.2015) 13 Das Korpus enthält allerdings auch eine Reihe von Erpresser-E-Mails, die im Folgenden aber nicht berücksichtigt werden. Ehrhardt (persönliche Mitteilung vom 03.03.2015) vom BKA weist außerdem darauf hin, dass Straftaten zunehmend auch in der Online-Kommunikation angedroht und im Falle von Beleidigungen und Diffamierungen auch verübt werden.

200 | Lars Bülow

19 % als einzelne Schreiben (sogenannte „Solitäre“) auf (vgl. Dern 2009: 156). Davon enthält knapp die Hälfte zumindest die Ankündigung einer Folgekommunikation, die dann aus verschiedenen Gründen nicht stattfindet (Kontakt wurde abgebrochen; Kontakt wurde telefonisch weitergeführt usw.). Deutlich häufiger haben es die Opfer und Kriminalbeamten dagegen mit Briefserien zu tun. Diese dienen in der Regel der Steuerung der Geldübergabe. Die Textsorte Erpresserbrief wird zudem über die funktionale Dimension und die nachweisbaren Sprachhandlungen bestimmt. Konstitutiv für Erpresserschreiben sind die sprachlichen Teilhandlungen der Forderung, Drohung und Regelung der Übergabemodalitäten. Der Erpresserbrief muss in aller Regel etwas nennen, was erpresst wird und wo und unter welchen Umständen das Erpresste übergeben werden soll. Ein Drohbrief braucht diese inhaltlichen Komponenten dagegen nicht. Eine Drohung kann auch losgelöst von erpresserischen Forderungen ausgeübt werden. Die Übergänge vom Droh- zum Erpresserbrief sind aber fließend, zumal Erpresserschreiben in der Regel Drohungen enthalten. Bei einer Erpressung muss zudem die „Handlungs- und Kooperationsfähigkeit des Opfers gewährleistet bleiben“ (Dern 2009: 152). Folgende inhaltliche und funktionale Gesichtspunkte werden von Dern (2009: 152f.) und Brinker (2002: 47–53) für die Bestimmung der Textsorte Erpresserbrief herausgearbeitet: – – – – – – –

Aussprache einer Drohung Versicherung der Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit Zuschreibung der Verantwortung Ankündigung von negativen Handlungen für den Erpressten Klärung der Bedingungen der Übergabe Hinweis, dass die Polizei nicht eingeschaltet werden soll Selbststilisierung

Wie diese Sprachhandlungen sprachstrukturell umgesetzt werden, scheint hingegen wegen der fehlenden gesellschaftlichen und historisch gewachsenen Konventionen relativ frei zu sein: „[K]onstitutiv für Erpresserbriefe ist, dass sie keinen Konventionen folgen, dass der Autor in besonderem Maße auf sein sprachliches Vermögen angewiesen ist und eigene Problemlösungsstrategien entwickeln muss“ (Dern 2009: 159). Zu den Problemlösungsstrategien von Erpressern müsste es gehören, sich an bestehenden sprachstrukturellen Mustern zu orientieren, die ähnliche kommunikative Funktionen erfüllen. Diese Muster bietet beispielsweise die Textsorte Geschäftsbrief an. Dern (2009: 164) hat für ihr Korpus festgestellt, dass 84 % der Erpresserschreiben formale Elemente der Briefgestaltung aufweisen. Sie stellt fest, dass häufig eine Anlehnung an „alltägliche Gebrauchstexte offiziel-

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben | 201

len Charakters (Geschäftsbriefe, Behördenbriefe, Mahnschreiben)“ (Dern 2009: 160) erfolgt. Bei der Frage, ob es sich bei Erpresserbriefen um eine eigene Textsorte handelt, darf nicht vergessen werden, dass ein Erpresserbrief in der Regel als solcher von den Adressaten erkannt wird. Der prototypische Sprachteilnehmer weiß aus verschiedenen Medien und seinem Weltwissen, dass es eine kriminelle Sphäre gibt, in der es zu kriminellen Handlungen mit Hilfe solcher Schreiben kommt. Vermutlich würde jeder am Inhalt und an der Aufmachung einen Erpresserbrief erkennen, sobald er ihn in den Händen hat. Dern (2009: 161f.) zählt folgende überindividuellen Charakteristika für Erpresserbriefe auf: – – – – – – – – – –

Wahl der Briefform Einhaltung bestimmter Konventionen der Briefform, so z.B. Begrüßungsformeln Anlehnung an Textsorten des Alltags, so z.B. Geschäftsbriefe oder Mahnschreiben Mittel der graphischen Hervorhebung, wie Unterstreichungen, Majuskelschreibungen, Kursivdruck Dreiphasige Briefserie (Kontakt-, Verhandlungs- und Übergabephase) Intertextuelle Kohärenz durch anaphorische und kataphorische Verweise Umsetzung konstitutiver Teilhandlungen wie Drohung, Versicherung der Entschlossenheit, Klärung von Übergabebedingungen Verwendung von Konditionalgefügen (wenn – dann) Verwendung konzeptioneller Formeln, die aus diversen Medien bekannt sind (keine Polizei) Direktive Sprachverwendung in Form von Imperativen oder Ersatzformen des Imperativs, wie Indikativ Präsens oder Indikativ Futur

Von diesen überindividuellen textsortenkonstituierenden Charakteristika wird im Folgenden die Anlehnung vieler Erpresserbriefe an die Textsorte Geschäftsund Mahnbrief genauer untersucht. Dazu wird im nächsten Absatz kurz auf die textsortenkonstituierenden Merkmale dieser Briefformen eingegangen.

2.2 Geschäfts- und Mahnbrief Zur Bestimmung der Textsorte Geschäftsbrief müssen ebenfalls sprachstrukturelle und funktionale Kriterien berücksichtigt werden. Auch in Geschäftsbriefen geht es häufig darum, Kontakt aufzunehmen, Bitten und Forderungen auszudrücken, Versäumnisse anzumahnen und mit Konsequenzen zu drohen sowie

202 | Lars Bülow

die Anschlusskommunikation vorzubereiten. Für die Textsorte Geschäftsbrief sind die folgenden Sprachhandlungen relevant: – – – – –

Ansprechen/Grüßen Fordern Mahnen Warnen Drohen

Im Gegensatz zu den Erpresserschreiben ist eine breite Ratgeberliteratur für geschäftliche Briefe abrufbar. Die weiteren Ausführungen stützen sich besonders auf die Publikationen des Dudenverlags Geschäftskorrespondenz (2011) und Formen und DIN-Normen im Schriftverkehr (2011). Diese Ratgeber enthalten auch explizite Formulierungshinweise für die Sprachhandlungen Mahnen, Warnen, Drohen und Fordern. Einige dieser Sprachhandlungen sind beispielsweise obligatorisch bei einer geschäftlichen Abmahnung. Der DudenGeschäftskorrespondenz (2011: 103) unterbreitet folgende Formulierungsvorschläge: Textbaustein – Abmahnung

Sprachhandlung

Ich fordere Sie auf, Ihren Verpflichtungen aus dem bestehenden Vertrag nachzukommen.

Fordern

Wir weisen darauf hin, dass wir bei einem Verstoß dieser Art Ihren Arbeitsvertrag kündigen werden.

Warnen

Sollten Sie künftig erneut gegen diese Verpflichtung verstoßen, müssen Sie mit der Kündigung Ihres Arbeitsverhältnisses rechnen.

Drohen

Die oben angeführten Beispiele für die Sprachhandlungen Fordern, Warnen und Drohen sind zum Teil sprachstrukturell unterschiedlich umgesetzt. a) Die Forderung folgt relativ direkt aus dem performativen Verb in der 1. Ps. Sg. Präs. Ind. Akt. fordere. Die Form der Anredepronomina und deren Großschreibung zeugen davon, dass konventionalisierte Elemente der Höflichkeit gewahrt bleiben. b) Die Warnung wird zunächst über ein Verb in der 1. Ps. Pl. Präs. Ind. Akt. als Hinweis eingeführt, der untergeordnete Objektnebensatz lässt aber klar erkennen, dass ein Verstoß für den Adressaten Konsequenzen haben wird. Die Eindringlichkeit der Warnung ist durch den Gebrauch des Futur I kündigen werden verstärkt. Der Gebrauch des Futurs hat durchaus stilistisches Potential, hätte doch auch eine Präsensform genügt, um Zukünftigkeit aus-

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben | 203

zudrücken. Gansel (2010: 260) bezieht sich auf Welke (2005), wenn sie feststellt, „dass der bloße Ausdruck einer auf die Zukunft gerichteten Absichtserklärung (Ich komme morgen) von geringerer Stärke ist gegenüber der Artikulierung derselben Aussage unter Verwendung des Futurs (Ich werde morgen kommen)“. Begründet wird diese Verstärkung damit, dass Futur I „Zukunftsbedeutung mit Wahrheit“ zum Ausdruck bringe, was Präsensformen nicht so gut könnten. c) Die Drohung wird hier mit einem Verberstsatz eingeleitet, der mit einem Modalverb sollte im Konjunktiv beginnt. Die Verberststellung verdeutlicht wiederum die Dringlichkeit der Illokution. Der nachfolgende Teilsatz fängt ebenfalls mit einem Modalverb müssen an, dieses steht aber im Indikativ und drückt den möglichen Handlungszwang für den Emittenten aus. Diese Konstruktionen bzw. die Kombination aus Konjunktivform und Indikativform sind typisch für die Androhung von Konsequenzen bei Fehlverhalten. Die Konjunktivform dient oft der Beziehungsarbeit und der Gesichtswahrung des Adressaten. Sie lässt potentiell offen, ob ein Fehlverhalten in der Zukunft wahrscheinlich ist oder nicht und lässt dem Angesprochenen Handlungsspielraum. Die Warnung hat natürlich funktionelle Ähnlichkeiten mit der Drohung. Eine saubere Trennung zwischen diesen beiden Sprachhandlungen kann in der Regel nur über Kontextfaktoren gelingen, wenn die Intention des Emittenten rekonstruierbar ist. Ob eine Äußerung als Warnung oder als Drohung verstanden wird, hängt nicht nur von der Illokution, sondern auch von der Perlokution ab. Die oben angeführten Sprachhandlungen lassen sich mit einer leicht differenzierten Gewichtung auch bei Mahnungen, Rechnungen und Reklamationen nachweisen, wobei gewisse Formen der Höflichkeit immer gewahrt bleiben und durch indirekte Sprechakte ausgedrückt werden können. Das Modalverb sollen sowie das Tempus und die Höflichkeits- und Aufforderungspartikel bitte spielen eine große Rolle bei der Konstruktion von Dringlichkeit. Die Form bitte ist polyfunktional und kann auch als performatives Verb im Indikativ (Ich bitte dich, dies nicht zu tun) und Imperativ (Bitte unterlassen Sie das!) auftreten. Die Sprachhandlungen Fordern und Bitten sind wie Warnen und Drohen nicht immer einfach zu trennen. Textbaustein – Mahnung

Sprachhandlung

Falls Sie noch nicht überwiesen haben sollten, veranlassen Sie dies bitte.

Fordern

Sollte der Betrag nicht bis zum 20.05.2011 bei uns einge-

Warnen

204 | Lars Bülow

Textbaustein – Mahnung

Sprachhandlung

gangen sein, werden wir einen Mahnbescheid beantragen. Damit kommen weitere Kosten auf Sie zu. Sollte der Betrag nicht bis zum 20.05.2011 bei uns eingegangen sein, werden wir ein Inkassobüro beauftragen. Das bedeutet für Sie erhebliche Kosten.

Drohen

Textbaustein – Rechnung

Sprachhandlung

Bitte überweisen Sie den Rechnungsbetrag ohne Abzüge bis Fordern zum 13. Mai 2011. Das Gesetz schreibt vor, dass Sie diese Rechnung zwei Jahre Warnen lang aufbewahren müssen. Die Frist beginnt mit Beginn des nächsten Kalenderjahres.

Textbaustein – Reklamation

Sprachhandlung

Bitte tauschen Sie die beanstandeten Artikel bis zum 23. März 2012 gegen einwandfreie ein. Wir möchten hiermit vom Kaufvertrag zurücktreten, die gelieferte Ware nehmen Sie bitte zurück. Bitte teilen Sie uns bis zum 14.02.2011 mit, ob Sie unseren Vorschlag akzeptieren.

Fordern

Da wir in unserer Produktion auf das bestellte Material angewiesen sind, müssen wir auf eine Neulieferung spätestens bis zum 14.02.2011 bestehen.

Warnen

Auch wenn die Autoren prinzipiell andere Möglichkeiten gehabt hätten, ihre Schreiben zu formulieren, werden sie ihre Sätze und Texte sprachstrukturell so aufbauen, dass sie nach ihrem Empfinden den größtmöglichen kommunikativen Erfolg erzielen. Dabei hilft ihnen ihr Textsortenwissen. Außerdem sind konventionalisierte Gestaltungsnormen für die Textsorte Geschäfts- und Mahnbrief zu berücksichtigen. Diese gestalterischen Aspekte sind durch das Deutsche Institut für Normung e.V. (DIN) in der DIN-Norm 5008 kodifiziert. Die Einhaltung dieser Normung ist allerdings nicht rechtlich verbindlich. Dennoch ist die DIN 5008 Schreib- und Gestaltungsregeln für die Textverarbeitung „die wichtigste DIN-Norm für das Sekretariat“ (DudenGeschäftskorrespondenz 2011: 93). Die empirische Analyse der Gestaltungsnormen wird sich im Folgenden nur auf eine Auswahl von Strukturen konzentrieren, was der Tatsache geschuldet ist, dass Erpresserschreiben in aller Regel anonym sind und daher beispielswei-

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben | 205

se Angaben zum Verfasser fehlen. Außerdem sind Erpresser keine tatsächlichen Geschäftspartner, selbst wenn sie sich häufig als solche inszenieren. Sie verfügen daher über keine Handelsregisternummer. Die Strukturen, die hier untersucht werden, lassen Rückschlüsse auf die Geübtheit der Emittenten mit der Textsorte Geschäfts- und Mahnbrief zu. – – – – – – – – – –

Absätze Anschrift Anrede Betreff Datumsangabe Grußformeln Postskriptum (PS) Seitennummerierung Schlussformel Unterschrift

Für Geschäftsbriefe gilt beispielsweise, dass sie durch Absätze gegliedert werden sollten (Duden-Geschäftskorrespondenz 2011: 44). Weiterhin: „Sowohl die postalischen Vermerke als auch die Anschrift werden linksbündig gesetzt“ (Duden-Geschäftskorrespondenz 2011: 45f.), „Nach der Anrede steht ein Komma; das erste Wort des fortlaufenden Textes schreibt man klein, sofern es kein Substantiv ist“ (Duden-Geschäftskorrespondenz 2011: 47), „Das erste Wort der Betreffzeile wird großgeschrieben, ein Schlusspunkt wird nach dem Betreff nicht gesetzt“ (Duden-Geschäftskorrespondenz 2011: 62). Die oben aufgeführten Strukturen sind Konventionen, die von den meisten Emittenten während der sprachlichen Sozialisation – insbesondere in der Schule – als Textsortenwissen gelernt werden. Muster, an denen sich unerfahrene Schreiber orientieren können, sind leicht zugänglich und begegnen häufig im Leben. Insbesondere die funktionalen Kriterien auf der Ebene der Sprachhandlungen weisen einige Überschneidungen zu Erpresserschreiben auf, was darauf hindeuten könnte, dass auch die für Geschäftsbriefe sprachstrukturell typischen Muster für das Verfassen eines Erpresserbriefes eingesetzt werden. Kapitel 3 zeigt, wie Sprachhandlungen, die für Erpresserschreiben und Geschäftsbriefe gleichermaßen typisch sind, sprachstrukturell in Erpresserschreiben umgesetzt sind. Zudem wird überprüft, ob auch formale Kriterien der Geschäftsbriefkommunikation eingehalten werden. Weil die sprachstrukturelle Wahrung von Höflichkeit sowohl von Brinker (2002) als auch von Dern (2009) als ein Faktor dafür angegeben wird, dass Erpresserschreiben häufig eine große

206 | Lars Bülow

Ähnlichkeit mit Geschäftsbriefen haben, wird zunächst auf Höflichkeitskonventionen in Zusammenhang mit Erpresserschreiben eingegangen.

2.3 Zur Performativität der Höflichkeit Zum Wissen um Geschäftsbriefe gehört auch das Wissen um bestimmte Formen der Höflichkeit, die für Geschäftsbriefe konstitutiv und für Erpresserschreiben zumindest obligatorisch sind und eine sprachliche Zusatzhandlung darstellen. Höflichkeit ist einer der Aspekte, die insbesondere durch die Wahl der Briefform abgerufen werden und einen stark performativen Charakter besitzen. Der Duden-Geschäftskorrespondenz (2011: 10) urteilt: „Der Verständlichkeit von Briefen hat man lange Zeit nur wenig Beachtung geschenkt. Im Vordergrund stand die Höflichkeit: Entscheidend war, dass die Etikette gepflegt wurde und der Tonfall stimmte“. Höflichkeit gilt als konventionalisiertes, immer wieder eingeübtes und konstitutives Moment der Briefkommunikation in unserem Kulturkreis. Sprachlich wird Höflichkeit beispielsweise durch folgende Strukturmerkmale ausgedrückt: – – – – –

Grußformeln Personaldeixis Abschwächende Modalverben Konjunktiv als Mittel der Abschwächung Verharmlosende Euphemismen

Höflichkeit widerspricht zunächst der obligatorischen Teilhandlung der Drohung, ist aber ein probates Mittel, um zur Gesichtswahrung des Kommunikationsteilnehmers beizutragen. In der englischsprachigen Literatur wird der Begriff ‚Face‘ für Gesichtswahrung verwendet (vgl. Brown / Levinson 1987: 61; Goffman 1975). ‚Face‘ ist „the public self-image that every member wants to claim for himself“ (Brown / Levinson 1987: 61). Brown / Levinson (1987: 61) unterscheiden weiterhin zwischen „negative face“ und „positive face“. Ersteres ist „the basic claim to territories, personal preserves, rights to non-distraction – i.e. to freedom of action and freedom from imposition“. Letzteres ist „the positive consistent self-image or ‚personality‘ (crucially including the desire that this self-image be appreciated and approved of) claimed by interactants“. Das ‚Face‘-Konzept setzt voraus, dass sich Personen immer auch im Verhältnis zu anderen Personen wahrnehmen und ihr Handeln durch diese Perspektivierung mitbestimmt ist. „Im Streben nach einem gut funktionierenden sozialen Miteinander ist es für alle Individuen notwendig, daß sie bei ihren

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben | 207

Handlungen stets beachten, welchen Einfluß diese Handlungen jeweils auf das eigene Face und das Face anderer Interaktanten haben.“ (Simon 2003: 65) Diese Prämisse Simons scheint trotz des zunächst augenscheinlichen Widerspruchs, dass es um ein „gut funktionierende[s] soziale[s] Miteinander“ gehe, auch für Erpressungssituationen zu gelten. In der Forschungsliteratur finden sich jedenfalls Evidenzen dafür, dass auch Erpresser ‚Facemanagement‘ betreiben.14 Die Gründe dafür mögen Folgende sein: – – – – –

Gesichtswahrung des Opfers Moralische Aufwertung der Erpressungshandlung Selbstaufwertung des Erpressers als ‚Robin Hood‘ oder ‚edler Dunkelmann‘ Selbstdarstellung als seriöser Geschäftspartner Legitimierung der Erpressung als Geschäft

Brinker (2002: 48) bringt die möglichen Motive der Erpresser für Facemanagement auf den Punkt: „es handelt sich dabei […] um den Versuch einer Stilisierung der Beziehung, um das Unrechtmäßige und Unmoralische der Handlung zumindest der Form nach etwas in den Hintergrund treten zu lassen, zugleich aber auch den Verbindlichkeitsgrad der Forderung zu erhöhen“. Die reine Wahrung formaler Elemente von Höflichkeit in der Briefkommunikation ist einerseits sozialer Routine geschuldet, andererseits aber auch dem Umstand, dass der Erpresser darum weiß, dass das ‚Zitieren‘ normierter Elemente zur Konstruktion des Selbst- und Fremdbildes beiträgt. Da routinisierte Höflichkeit für die Briefkommunikation in mehrfacher Hinsicht einen stark performativen Charakter besitzt, wird in der folgenden Analyse auch ein Augenmerk auf die sprachstrukturelle Umsetzung von Höflichkeitsindikatoren in Erpresserschreiben gelegt.

3 Empirische Untersuchung Der empirischen Untersuchung seien folgende Prämissen voran gestellt: Erpresserbriefe sind zunächst kaum logisch an sprachstrukturelle Konventionen gebunden. Es ist im Grunde kontingent, wenn auch nicht beliebig, wie die Erpresser das Schreiben sprachstrukturell umsetzen. Dern (2009: 160) ist in folgendem Punkt zuzustimmen: „Eine erfolgreiche Erpressung bedarf im Grunde nur weni|| 14 „Die ritualisierte Höflichkeit der Briefkommunikation kollidiert mit Versuchen der Einschüchterung sowie einer Demonstration vermeintlicher Überlegenheit.“ (Dern 2009: 187)

208 | Lars Bülow

ger Worte“. Dabei ist allerdings immer zu berücksichtigen, dass bestimmte Sprachhandlungen konstitutiv sind. Im Grunde selektieren die Erpresser aus einer Menge von Strukturmöglichkeiten, die ihnen durch ihre spezifische Sprachsozialisation zugänglich geworden sind, diejenigen heraus, die ihnen am erfolgversprechendsten erscheinen, die kommunikativen Ziele zu erreichen. Zur Lösung kommunikativer Probleme orientieren sich die Emittenten an bekannten Mustern.

3.1 Korpus und Textauswahl Als Materialbasis der Untersuchung dient ein Textkorpus von insgesamt 109 authentischen Erpresserbriefen. Dieses Textkorpus ist eine pseudorandomisierte Stichprobe aus dem KISTE-Korpus des Bundeskriminalamtes der Jahre 2007 bis 2010. Aus datenrechtlichen Erwägungen sind die Erpresserschreiben anonymisiert. Genauere Ausführungen zum KISTE-Korpus finden sich in Schall (2008; 2007). Personen- und ortsbezogene Daten sind durch Platzhalter (OName = Ortsname) ersetzt. Die Texte liegen eingescannt und als Word-Dokumente vor. Das Korpus enthält sowohl Solitäre als auch Briefserien, Schnitzeljagden und EMailserien. Da die Schnitzeljagden allerdings eine andere Textfunktion erfüllen – sie dienen in der Regel der Koordinierung der Geldübergabe – werden diese Texte, wie auch die E-Mails, die anderen formalen Textsortenkriterien folgen, bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Für die vorliegende Untersuchung wurden 33 Solitäre und 20 Briefserien untersucht. Die 20 Briefserien umfassen insgesamt 76 Briefe, wovon die längste Briefserie 20 Briefe und die kürzesten Briefserien zwei Briefe umfassen. Da die Briefe der Briefserien aufeinander aufbauen und in der Regel über eine ähnliche Aufmachung verfügen und intertextuelle Verweise beinhalten, werden Solitäre und Briefserien zunächst getrennt voneinander als Teilkorpora ausgewertet. Als Solitäre werden alle Briefe betrachtet, denen keine Vorgänger- oder Nachfolgebriefe des Korpus zugeordnet werden können, selbst wenn Anschlusskommunikation in den Briefen angekündigt wird. Warum diese briefliche Anschlusskommunikation dann nicht stattgefunden hat, kann hier im Einzelfall nicht beantwortet werden, grundsätzlich ist es aber denkbar, dass der/die Täter schnell gefasst werden konnten, ein anderes Kommunikationsmedium gewählt wurde oder die Kommunikation aus diversen Gründen ganz abgebrochen ist. Aus dem Teilkorpus der 33 Solitäre ist außerdem ein weiteres Teilkorpus extrahiert worden, um die sprachstrukturelle Umsetzung der obligatorischen Handlung der Forderung genauer zu untersuchen. Dieses Teilkorpus enthält 17 Solitäre der Jahre 2007 und 2008. Briefserien sind des Weiteren im

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben | 209

Korpus des BKA dadurch gekennzeichnet, dass sie durch Kennziffern einem Ermittlungsvorgang zugeordnet werden können. Im Zweifelsfall konnte beispielsweise die wiederkehrende maschinelle Unterschrift (wie zwei ExScharfschützen), der wiederkehrende Adressat (Vorstandsvorsitzender) oder die wiederkehrende äußere Gesamtaufmachung als Indiz herangezogen werden.15

3.2 Solitäre Grundsätzlich muss Burkhardt (2000: 11; zitiert nach Dern 2009: 152) zugestimmt werden, dass Erpresserbriefe keine Routineschreiben sind. In allen untersuchten Texten sind zwar die Sprachhandlungen der Forderung und der Drohung nachweisbar, die Texte sind ansonsten aber sowohl inhaltlich als auch formal sehr heterogen aufgebaut. Die durchschnittliche Länge der Solitäre liegt bei ca. 361 Wörtern.16 Der längste Brief umfasst 6195 Wörter, wohingegen der kürzeste Brief nur 32 Wörter umfasst. Knapp 26 der 33 Solitäre sind maschinell geschrieben, zwei sind mit ausgeschnittenen Wörtern oder Buchstaben geklebt und fünf sind handschriftlich verfasst. Die insgesamt sieben nicht-maschinell verfassten Schreiben werden im Folgenden zu einer Gruppe zusammengefasst, da sie viele der hier untersuchten Merkmale teilen. Inhaltlich wird in 27 der Solitäre eindeutig Geld erpresst. In knapp 20 der Schreiben inszenieren sich die Verfasser als Gruppe oder Organisation. Lediglich zehn der Schreiben sind zunächst scheinbar von Einzelpersonen geschrieben. In drei Fällen wird nicht deutlich, ob sich der/die Täter als Einzelperson oder Gruppe inszenieren. Zunächst wird überprüft, ob und wie die formalen Gestaltungsmerkmale eines Geschäfts- oder Mahnbriefs in den Solitären des Korpus umgesetzt sind. Tabelle 1 zeigt, dass eine Mehrheit der Autoren ihr Erpresserschreiben in Absätze gliedert und den Brief adressiert.17 Die Gliederung in Absätze ist stark durch die maschinelle oder handschriftliche Verfasstheit der Schreiben bedingt (vgl.

|| 15 Diese Zuordnung wurde nicht weiter hinterfragt. 16 Der längste und der kürzeste Text sind aufgrund der relativ schmalen Materialbasis nicht in die Bemessung der Durchschnittslänge eingeflossen. Bei wenigen Daten machen sich Ausreißer nach oben und unten besonders bemerkbar und verzerren das Ergebnis. 17 Falls es zu den Erpresserschreiben Briefumschläge mit Adressangaben gibt, sind diese nicht oder nur teilweise im Korpus als Scan enthalten. Es sind nur die Adressangaben in die Untersuchung eingeflossen, die, wie für normale Geschäftsbriefe üblich, direkt auf der ersten Seite des Schreibens realisiert sind bzw. im Word-Dokument vom BKA transkribiert wurden.

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Tab. 2). Keines der sieben Schreiben, die nicht maschinell erstellt wurden, ist in Absätze unterteilt. Dahingegen sind lediglich drei der 26 maschinellen Erpresserbriefe nicht in Absätze gegliedert. Eine Anredeformel vor dem Text wird in knapp der Hälfte aller Schreiben realisiert. Auch hier lässt sich eine Tendenz erkennen, die mit der maschinellen bzw. nicht-maschinellen Verfasstheit der Erpresserbriefe zusammenhängt (vgl. Tab. 3). Nur eins der sieben untersuchten nicht-maschinellen Schreiben spricht das Opfer entsprechend der förmlichen Briefkonventionen an (Guten Abend Meine Heer). Erpresserbriefe ohne Anrede beginnen unvermittelt (Beispiele aus dem KISTE-Korpus): (1)

a) Das LKA DeuTschland suchT doch nach dem TerrorisTen […] b) LEGEN SIE 100.000 € AM TT.M.JJJ UM 24 UHR HINTER DER TELEFON-ZELLE […]

In der Mehrheit der maschinellen Schreiben wird der Erpresste angesprochen. Hier liegt das Verhältnis bei 62 % zu 38 % (n=26). Die Nennung des Datums, Seitennummerierung und ein Postskript bleiben in der Regel aus.18 Wenn ein Datum oder eine Seitennummer angegeben sind, handelt es sich im Korpus mit einer einzigen Ausnahme immer um maschinell geschriebene Erpresserbriefe. Auch das einzige Postskript steht nicht in einem handgeschriebenen oder geklebten Brief. Ebenso sind alle Betreffangaben in maschinell erstellten Schreiben gefunden worden. Tab. 1: Umsetzung formaler Gestaltungsmerkmale der geschäftlichen Briefkorrespondenz in Erpresserschreiben (Solitäre)

Absätze

Anschrift/Adressangabe

Datum

Betreff

Anrede

70 %

64 %

9%

27 %

52 %

Absenderangabe Unterschrift

Schlussformel

Postskript

Seitennummerierung tabellarische Aufzählungen

36 %

27 %

3%

18 %

27 %

|| 18 Postskript und Seitennummerierung sind für Geschäftsbriefe nicht obligatorisch. Insbesondere bei einseitigen Schreiben muss keine Seitennummerierung erfolgen. Von den Solitären sind 73 % nicht länger als eine Seite. Ca. 8 % dieser einseitigen Schreiben verfügen wiederum über eine Seitennummerierung. Wenn ein einseitiges Schreiben eine Seitennummerierung aufweist, könnte dies auf die Ankündigung von Folgekommunikation hindeuten.

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben | 211

Tab. 2: Gliederung der Solitäre in Absätze in Abhängigkeit vom Schriftmodus

(n=33)

maschinell

nicht-maschinell

Absätze

70 %

0%

keine Absätze

9%

21 %

Tab. 3: Realisierung der Anrede in Abhängigkeit vom Schriftmodus

(n=33)

maschinell

nicht-maschinell

Anrede

49 %

3%

keine Anrede

30 %

18 %

Auch was die sprachstrukturelle Umsetzung geschäftlicher Höflichkeit in den Solitären betrifft, lassen sich Tendenzen erkennen. Tabelle 4 zeigt zunächst die Umsetzung für das ganze Korpus der Solitäre. Tab. 4: Umsetzung von Aspekten der Höflichkeit in Erpresserschreiben (Solitäre)

Höfliche Personaldeixis

Höfliche oder respekterweisende Anrede-/Grußformel

Höfliche Schlussformel

Bitten

73 %

23 %

18 %

18%

Die Verwendung höflicher Personaldeixis, worunter hier die Verwendung des Siezens und Ihrzens sowie die Großschreibung dieser Anredepronomina verstanden wird, zeigt sich vermehrt in den maschinell geschriebenen Erpresserbriefen.19 Von den 26 maschinell verfassten Solitären weisen 21 respekterweisende Anredepronomina auf, in nur fünf Fällen ist keine höfliche Personaldeixis umgesetzt. Dahingegen sind von den sieben nicht-maschinellen Solitären vier ohne höfliche Personaldeixis geschrieben.20 || 19 Aus einigen Erpresserbriefen wird ersichtlich, dass sich Opfer und Täter kennen. Entsprechend wird dann nicht das höfliche Anredepronomen Sie verwendet, das Distanz signalisiert, sondern die Pronomen dich/Dich, dir/Dir und euch/Euch, die Nähe anzeigen. Beginnen diese Pronomen im Text mit einem Großbuchstaben, werden sie ebenfalls als Anredepronomina gewertet, die Höflichkeit signalisieren. 20 Eines der handschriftlichen Schreiben, das zugleich das kürzeste Erpresserschreiben des Korpus ist, weist keine Personalpronomina und damit auch keine höfliche Personaldeixis auf.

212 | Lars Bülow

Tab. 5: Umsetzung der höflichen Personaldeixis in Abhängigkeit vom Schriftmodus

maschinell (n = 26)

nicht-maschinell (n = 7)

höfliche Personaldeixis

81 %

höfliche Personaldeixis

43 %

keine höfliche Personaldeixis

19 %

keine höfliche Personaldeixis

57 %

Von den neun Solitären (maschinell und nicht-maschinell (n=33)), die ohne höfliche Personalpronomen oder höfliche Attribuierung erscheinen, sind acht auch ohne höfliche oder respekterweisende Anrede- /Grußformel21, neun ohne die Formulierung einer Bitte und wiederum neun ohne höfliche bzw. geschäftliche Abschiedsformel. Einige Schreiben beginnen direkt ohne Anrede- oder Grußformel (2a), andere sind sehr höflich und respektvoll eingeleitet (2b): (2) a) Dies ist eine Geldforderung. Wir fordern, b) Sehr geehrter Herr NName ich begrüße Sie. Die höfliche bzw. geschäftliche Abschiedsformel erscheint insgesamt bei sechs der Solitäre im Korpus. Von den acht insgesamt realisierten Abschiedsformeln wurden sechs geschäftlich (mit freundlichem Gruß; MfG) und/oder höflich (es grüßt Sie) verfasst. Ein Beispiel wäre: (3)

Hochachtungsvoll mVorname

Ansonsten ist die höfliche bzw. geschäftliche Abschiedsformel mit Blick auf das Teilkorpus der Solitäre meistens ganz weggelassen worden, was daran liegen mag, dass ein Erpresserbrief keine persönliche Unterschrift hat, die mit einer Formel eingeleitet werden muss. Eine persönliche Unterschrift wäre sicher kontraproduktiv für das Anliegen des Emittenten, anonym bleiben zu wollen. Über weitere Motive kann nur spekuliert werden. Einerseits kann eine hochgestochene Abschiedsformel wie hochachtungsvoll in Anbetracht der Erpressung auch sehr verhöhnend wirken, was dem ‚geschäftlichen Anliegen‘ der Erpressung und eventuell der Selbststilisierung im Sinne des Facemanagements entgegenstünde. Andererseits mag das Weglassen der Abschiedsformel auch die Eindringlichkeit der Forderung bzw. Erpressung erhöhen.

|| 21 Höfliche oder respekterweisende Anrede- /Grußformeln sind beispielsweise sehr geehrte(r) und liebe(r). Nicht dazu gezählt wird hallo oder ein direkter Einstieg ohne Anrede/Grußformel.

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben | 213

Interessanterweise werden in sechs der Erpresserschreiben Bitten mit dem performativen Verb bitten oder der Partikel bitte formuliert, was nicht unbedingt der Hierarchisierung von Täter- und Opferrolle entspricht. Auffällig ist aber, dass die Hauptforderung meistens deutlich formuliert ist, beim Erläutern des weiteren Vorgehens dann aber wie in (4a) eine Bitte erscheint oder die Bitte in einem anderen Kontext wie in (4c) steht, wo die Aufmerksamkeit erbeten wird, was in dem Fall auch nicht der Hauptforderung entspricht. (4) a) Ich fordere Sie auf – im Hinblick auf den Namen Ihres Unternehmens in der Öffentlichkeit – sich von diesem Callcenter zu trennen. […] Bitte überweisen Sie EURO 10.000 auf das Konto-Nr.: KtoNr b) 50-, 100- und 200-€-Scheinen, die Sie bitte wahllos zusammenstellen wollen! c) Erweisen sie uns die ehre - uns endlich vorstellen und um ihre geschätzte aufmerksamkeit bitten zu dürfen. Interessant ist außerdem, dass in nicht-maschinellen Schreiben keine Bitte zu finden ist. Damit erfolgt in immerhin 6 der 26 maschinell geschriebenen Solitäre eine Bitte.22 Anhand eines weiteren Teilkorpus, das 17 Solitäre der Jahre 2007 und 2008 enthält, wird untersucht, wie die obligatorische Sprachhandlung der Forderung sprachstrukturell umgesetzt ist. Auf den ersten Blick erscheint die sprachstrukturelle Umsetzung der Forderung sehr unterschiedlich. Auffällig ist allerdings der starke Zusammenhang zwischen der Forderung und der Nennung der Geldsumme. Lediglich in 23 % der in diesem Teilkorpus untersuchten Erpresserbriefe wird kein konkreter Betrag genannt. Davon beziehen sich drei Forderungen nicht auf Geld (5a bis c) und in einer Forderung wird einfach kein konkreter Betrag genannt (5d). Es wird allerdings deutlich, dass der Erpresste eine Vorstellung von der geforderten Geldsumme haben könnte: (5) a) es gibt nur eine forderung: truppenabzug aus afghanistan. b) müssen ihr aufpasen c) der silbergraue Jeep Kennzeichen den möcht ich als Anzahlung haben d) wir fordern Sie auf, für alle von der FName in die Pleite gewirtschafteten Fonds von Privatkunden die von Ihnen kassierte Verwaltungs- und Depotgebühren innerhalb von 14 Tagen an alle geschädigten zurück zu bezahlen.

|| 22 Teilweise sind in einigen Schreiben mehrere Forderungen gestellt. Sobald eine dieser Teilforderungen als Bitte erscheint, wurde der ganze Erpresserbrief in die Zählung aufgenommen.

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Bei (5b) handelt es sich im eigentlichen Sinne sogar nur um eine Warnung aus einem der kürzeren Schreiben. Die Forderung bleibt für eine mögliche Anschlusskommunikation und Erpressung offen. Dieser Brief – nur für sich betrachtet – könnte wohl auch nur als Drohbrief eingestuft werden. Aus dem weiteren Text wird aber deutlich, dass der Brief möglicherweise nicht allein steht (ist n damit sii wisssen oooder glaueben zyankali warrr sticwort in andere briff), wenn auch kein weiterer Brief aus dem Korpus zugewiesen werden kann, womit er hier zu den Solitären gezählt wird. Die vier Beispiele (5a bis d) machen deutlich, dass die Forderung in einem Erpresserbrief sprachstrukturell sehr unterschiedlich umgesetzt werden kann. In (5a) wird die Forderung durch das Substantiv forderung ausgedrückt. Die Sprachhandlung der Forderung wird durch den Doppelpunkt unterstützt. In (5c) wird die Forderung durch die Kombination aus dem Modalverb möcht und dem Infinitiv haben sowie dem Euphemismus Anzahlung realisiert. (5d) funktioniert über das performative Partikelverb auffordern und den Infinitiv mit zu zurück zu bezahlen. Die Dringlichkeit wird durch die gleichzeitige Fristsetzung innerhalb von 14 Tagen erhöht. Das Repertoire an sprachstrukturellen Umsetzungsmöglichkeiten lässt sich aber noch erweitern. Eine Strategie ist es, mit dem Verb fordern – insbesondere mit seiner performativen Entsprechung Ich fordere – und seinen verschiedenen Flexionsformen (geforderte) und Wortbildungen (anfordern) zu formulieren. (6) a) Wir werden heute eine Summe anfordern – die sehr moderat angelegt ist ! Unsere forderung beläuft sich auf : E 1. 200 000 b) Bis zum TT.Monat JJJJ haben Sie Zeit, die geforderte Summe in Höhe von Euro 12.000,00 zu beschaffen. c) Ich fordere Sie auf – im Hinblick auf den Namen Ihres Unternehmens in der Öffentlichkeit – sich von diesem Callcenter zu trennen. Bitte überweisen Sie EURO 10.000 auf das Konto-Nr.: KtoNr Die Beispiele (6a bis c) sind trotz des Auftretens des Stammes -ford- unterschiedlich zu bewerten. In (6a) wird die Forderung durch das Tempus Futur I unterstrichen. Es sei daran erinnert, dass Futur I verstärkend wirkt, weil mit ihm „Zukunftsbedeutung mit Wahrheit“ zum Ausdruck gebracht werden kann (Gansel 2010: 260). Außerdem wird die Aufforderung durch ein Ausrufezeichen bekräftigt, das für Aufforderungssätze prototypisch ist. Das Substantiv forderung erscheint wieder gemeinsam mit dem Doppelpunkt wie in (5a). In (6b) wird die Forderung mit einer Fristsetzung eingeleitet, auf die eine Infinitivkonstruktion zu beschaffen folgt, die klar macht, welche Summe gefordert wird. (6c) ist wie (5d) mit dem performativen Partikelverb fordere auf (1. Ps. Sg. Präs. Ind. Akt.) gebildet, von der die Infinitivkonstruktion zu trennen abhängt. Des Weiteren

Textsortenkonstituierende Parameter von Erpresserschreiben | 215

erwartet der Erpresser eine Zahlung. Diese Forderung wird mit der Partikel Bitte begonnen, dem ‚höflichen‘ Imperativ überweisen Sie fortgeführt.23 Die Abtönungspartikel bitte „mildert Aufforderungen ab, macht sie höflicher. In Imperativsätzen kann diese Partikel allein vor dem Verb stehen“ (Engel 1996: 233). Der ‚höfliche‘ Imperativ signalisiert förmliche Distanz und Professionalität (vgl. Simon 2003: 151). Weitere Möglichkeiten eine Forderung ohne ein Wort mit dem Stamm -fordzu benutzen, sind unter (7a bis f) aufgelistet: (7) a) Mein Vorschlag besteht daraus das ich für eine kleine Schweige Summe in Höhe von 1000€ nichts unternehmen werde. b) 250.000.-€uro oder FName brennt c) Gegen die Zahlung von 20.000 € sind wir bereit, die Angelegenheit zu "Vergessen“. d) Wir können Ihnen, Ihrer Frau und Ihrem Nachwuchs umfangreiche Sicherheiten für eine Gegenleistung von 300.000 Euro anbieten. e) WIR WOLLEN 50.000 E. ZAHLEN SIE IN GEBRAUCHT 500 EURO SCHEINEN UNGEKENNZEICHNET f) DAMIT DIES AUCH SO BLEIBT,UND DAMIT SIE DEN GRÖßTEN TEIL IHRES VERMÖGENS AUCH GENIEßEN KÖNNEN,IN SICHERHEIT,VOR ALLEM ABER,IN SICHERHEIT UND GESUNDHEIT,FÜR SICH,UND IHRE FAMILIE, MÜSSEN SIE BEREIT SEIN,AUF EINEN TEIL DIESES VERMÖGENS ZU VERZICHTEN,UND ABZUGEBEN,UND ZWAR AUF 460.000 EURO. Entscheidendes Moment für den Rezipienten, die Erpressung erkennen zu können, ist die Nennung einer Geldsumme, die verschiedentlich kombinierbar ist. In (7b) ist die Summe mit einer Drohung verbunden. Es ist, wie Dern (2009: 160) schreibt: „Eine erfolgreiche Erpressung bedarf im Grunde nur weniger Worte“. Die Formulierung in (7a) ist ein Euphemismus. Der Begriff Vorschlag lässt sich ohne Probleme durch den Begriff Forderung ersetzen. In (7c) wird die Forderung in ein konditionales Gefüge eingebettet, das so paraphrasiert werden kann: wenn Zahlung, dann keine Handlung (vgl. zu dieser Form auch Busch 2006: 55). In der Formulierung sind wir bereit, die Angelegenheit zu „Vergessen“ wird die Abhängigkeit des Opfers vom guten Willen des Täters zum Ausdruck gebracht. Zudem wird die Verantwortung auf das Erpressungsopfer verlagert. Eine weitere

|| 23 Hier wird der Auffassung von Simon (2003: 150) gefolgt, der Formen wie Kommen Sie! oder Nehmen Sie! zu den höflichen Imperativformen zählt. Formen wie Gehen wir! rechnet Simon zu den herablassenden Imperativformen.

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Möglichkeit die Forderung zu strukturieren, besteht darin, ein Modalverb wie wollen (7e) oder müssen (7f) in den Bedeutungsvarianten ‚Aufforderung‘ und ‚gezwungen sein / veranlasst sein‘ zu verwenden (vgl. Engel 1996: 466–470). Es sollte anhand der Beispiele deutlich gemacht werden, dass die Möglichkeiten, eine Forderung in Erpresserschreiben zu formulieren, vielfältig sind. Dennoch tauchen einerseits bestimmte Strukturmerkmale der höflichen Briefkommunikation, wie die Verwendung von höflichen Personalpronomen, die Abtönungspartikel bitte, Euphemismen oder höfliche Imperative wie überweisen Sie auf. Auch Strategien der Dringlichkeitssteigerung aus der geschäftlichen Briefpraxis, wie die Verwendung des Futur I, des Doppelpunkts oder wiederum der Einsatz höflicher Imperative sind in Erpresserschreiben nachzuweisen.

3.3 Briefserien Auch für die Briefserien kann Burkhards Einschätzung hinsichtlich des Routinecharakters grundsätzlich zugestimmt werden. Die Sprachhandlungen der Drohung oder der Forderung sind aber nicht immer gleich im ersten Schreiben ersichtlich, wie schon mit dem Beispiel (5b) angedeutet wurde. Die Forderung wird beispielsweise in einigen Fällen zunächst ohne explizite Drohung ausgesprochen. In Beispiel (8), das einem Erpresserbrief einer Briefserie entspricht, ist in dem entsprechenden Brief nichts über die Übergabemodalitäten ausgesagt. Lediglich die Forderung wird explizit angesprochen, die Drohung bleibt noch wage. (8)

WIR ERWARTEN EINE ZAHLUNG VON 75.000 EURO BIS ZUM TT.MONAT SIE ERHALTEN WEITERE INFORMATIONEN KURZFRISTIG SIE WOLLEN DOCH , dass Ihrer Tochter nichts passiert

In 90 % der 20 untersuchten Briefserien wird Geld erpresst. In den übrigen Fällen handelt es sich im weitesten Sinne um politische Forderungen oder Beziehungsangelegenheiten. Die einzelnen Briefe einer Briefserie können in der formalen Gestaltung in vielen Punkten voneinander abweichen. So kann beispielsweise im ersten Brief noch eine Gruppe über das Pronomen wir als Erpresser inszeniert sein, während im zweiten Brief eine Einzelperson mit dem Pronomen mein als Erpresser auftritt. Typischer ist allerdings, dass die Folgeschreiben dem ersten Schreiben sehr ähnlich sind und nur in wenigen der untersuchten Punkte abweichen. Von den 76 Briefen dieser 20 Briefserien sind ca. 20 % nicht maschinell geschrieben. Von diesen nicht maschinell erstellten Briefen sind zwölf handschriftlich verfasst, ein Brief ist geklebt und zwei Briefe sind

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mit einer Schablone gezeichnet. Insgesamt sind zwei Briefserien komplett händisch geschrieben. Eine Briefserie beginnt mit einem maschinellen Schreiben und wird dann einmal durch einen handschriftlichen Brief unterbrochen, auf die dann wieder ein maschineller Brief folgt. Insgesamt liegt hier die Umsetzung der Kriterien der formalen Briefgestaltung höher als bei den Solitären. Dies wird besonders bei der Angabe des Betreffs und der Angabe eines Absenders deutlich (vgl. Tab. 6). Ein Vergleich ist aber nur bedingt aussagekräftig, da die Grundgesamtheit unterschiedlich verteilt ist. Dass die Daten für die hier betrachteten Kriterien aber Parallelen in den Verhältnissen aufweisen, ist dennoch ein Indiz für die strukturelle Ähnlichkeit. In etwa gleichauf mit weniger als 5 % Abweichung liegen die Werte für die Kriterien Datum, Anrede, Schlussformel und Postskript. Bei den Solitären sind die Werte für die Seitennummerierung und die tabellarische Aufzählung höher ausgeprägt als in den Briefen der Briefserien. Es mag zunächst überraschend sein, dass bei den Solitären mehr Briefe eine Seitennummerierung aufweisen als bei den Briefserien. Mit Blick auf die durchschnittliche Seitenanzahl, die einem Briefereignis entspricht, ist aber eine Erklärung möglich. Das Verhältnis liegt bei 1,5 Seiten bei den Solitären zu 1,3 Seiten bei den Briefen der Briefserie. Dass die Seitenanzahl bei den Solitären etwas höher ist, könnte damit zusammenhängen, dass aufgrund der potentiell fehlenden Anschlusskommunikation mehr Informationen bzw. Sprachhandlungen in einem Schreiben untergebracht werden müssen. Zunächst wird wieder überprüft, ob und wie die formalen Gestaltungsmerkmale eines Geschäfts- oder Mahnbriefs in den Briefserien umgesetzt sind. Tabelle 6 zeigt, dass eine Mehrheit der Erpresser die Schreiben in Absätze gliedert und die Briefe adressiert. Tab. 6: Umsetzung formaler Gestaltungsmerkmale der geschäftlichen Briefkorrespondenz in Erpresserschreiben (Briefserie) (n=76)

Absätze

Anschrift/Adressangabe Datum

Betreff

Anrede

89 %

74 %

34 %

55 %

12 %

Absenderangabe Unterschrift

Schlussformel Postskript Seitennummerierung tabellarische Aufzählungen

66 %

26 %

5%

9%

13 %

Die Gliederung in Absätze ist hier weniger stark durch die maschinelle oder handschriftliche Verfasstheit der Schreiben bedingt (Tab. 7), wodurch auch der

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Anteil der Briefe mit Absätzen höher ist. Von den 20 % (n=76) der nicht maschinellen Schreiben sind hier immerhin 60 % (n=15) in Absätze gegliedert und nur 40 % (n=15) nicht. Ein deutlicher Anstieg ist bei dem Kriterium Absender/Unterschrift zu verzeichnen. Eine Erklärung könnte sein, dass sich in den untersuchten Briefserien 87 % (n=76) der Erpresser als Gruppe inszenieren (13 % als Einzelpersonen), wohingegen dies nur 60 % (n=33) der Erpresser in den Solitären tun (30 % als Einzelpersonen und 10 % sind nicht zuordenbar). Die zusätzliche ‚Anonymität‘ und ‚Mächtigkeit‘, die durch eine Gruppenidentität suggeriert wird, legt nahe, dass in den Briefserien, in denen häufiger Gruppen als Einzelerpresser auftreten, auch häufiger Absenderangaben verwendet werden. In den Briefen der Briefserien in denen Einzelpersonen als Erpresser erscheinen, ist dann vergleichsweise auch deutlich häufiger keine Absenderangabe realisiert (Tab. 8 und 9). Tab. 7: Gliederung der Schreiben der Briefserien in Absätze in Abhängigkeit vom Schriftmodus

(n=76)

maschinell

nicht-maschinell

Absätze

77 %

12 %

keine Absätze

3%

8%

Tab. 8: Abhängigkeit von Absenderangabe und der Inszenierung der Täter als Einzelperson oder Gruppe in den Briefserien

(n=76)

Einzelperson

Gruppe

Absenderangabe

4%

62 %

keine Absenderangabe

9%

25 %

Tab. 9: Umsetzung der Absenderangabe in Briefen mit inszenierten Einzelpersonen und Gruppen in den Briefserien

Einzelpersonen (n=10)

Gruppe (n=66)

Absenderangabe

30 %

Absenderangabe

71 %

keine Absenderangabe

70 %

keine Absenderangabe

29 %

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Interessanterweise sind die sprachstrukturellen Ausprägungen zur Umsetzung von Höflichkeit in den Solitären (n=33) und Briefserien (n=76) in den Punkten höfliche oder respekterweisende Anrede-/Grußformel, höfliche Schlussformel und die Formulierung von Forderungen als Bitte tendenziell sehr ähnlich ausgeprägt. Allein die höfliche Personaldeixis ist in den Briefserien deutlich präsenter als in den Solitären. Zum Aspekt der geschäftlichen Höflichkeit: Tab. 10: Umsetzung von Aspekten der Höflichkeit in Erpresserschreiben (Briefserie)

Höfliche Personaldeixis

Höfliche oder respekterweisende Anrede-/Grußformel

Höfliche Schlussformel

Forderung als Bitte

92 %

25 %

18 %

17 %

Die Nicht-Verwendung höflicher Personaldeixis scheint wiederum stärker mit der nicht-maschinellen Herstellung zu korrelieren. Von den 8 % (n=76) der Erpresserbriefe, die keine höfliche Personaldeixis verwenden, sind 67 % (n=6) nicht-maschinell geschrieben. Auch was die höfliche oder respekterweisende Anrede-/Grußformel und die höfliche Schlussformel betrifft, ist deutlich, dass von den 20 % (n=76) nicht-maschinellen Schreiben 93 % (n=15) keine höfliche oder respekterweisende Anrede-/Grußformel und 100 % (n=15) keine höfliche Schlussformel aufweisen. Von den 80 % (n=76) der maschinell verfassten Erpresserbriefe sind es 75 % (n=61), die über keine höfliche Schlussformel verfügen, und 70 % (n=61), denen eine höfliche oder respekterweisende Anrede/Grußformel fehlt.

4 Zusammenfassung der Ergebnisse Die in diesem Beitrag dargelegten Tendenzen ermöglichen es, einige Rückschlüsse in Hinblick auf die eingangs gestellten Fragen zu ziehen. In den ausgewerteten Tatschreiben zeigen sich, was die Formulierung der Sprachhandlungen Drohung und Forderung sowie Aspekte der sprachlichen Umsetzung von Höflichkeit betrifft, deutliche Ähnlichkeiten zu Geschäftsbriefen. Dabei sind einige typische Strukturmerkmale von Geschäftsbriefen in Erpresserschreiben stärker ausgeprägt als andere. Auffälligstes Merkmal der tradierten und eingeübten Briefkommunikation, das auch beim Schreiben von Erpresserbriefen beachtet wird, ist wohl, dass inhaltlich zusammenhängende Einheiten in den

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untersuchten Erpresserbriefen größtenteils in Absätze gegliedert sind. Diese Gliederung in Absätze hilft dem Rezipienten – funktional gesehen –, die Sinneinheiten entsprechend ihrer Gewichtung zu dekodieren. Berücksichtigt werden muss, dass insbesondere die kurzen Briefe weniger gegliedert sind. Kürze bedeutet in der Regel aber auch eine Fokussierung auf die Sprachhandlungen Drohen und Fordern. Die fakultativen Teilhandlungen der Selbstinszenierung oder Schuldzuschreibung unterbleiben dann eher. Die Mehrzahl der Briefe hat auch eine Adressangabe, die der Briefkommunikation entsprechend klassisch gegliedert ist und einer in der Sprachsozialisation trainierten Normierung folgt. Tendenziell haben aber diejenigen Briefe keine Adressangaben, die vermuten lassen, dass sich Opfer und Täter persönlich kennen. Dies sind in der Regel Schreiben, in denen sich der Erpresser als Einzelperson stilisiert. Artmann (1996: 23) nennt zumindest einen Grund dafür, warum im Gegensatz dazu Briefe an Institutionen meist über eine Adressangabe verfügen: „Ist der Brief an eine Firma oder ein Ministerium gerichtet, soll durch eine möglichst genaue Adressatenangabe die Zahl der möglichen Mitlesenden gering gehalten werden“. Die Kriterien der geschäftlichen Briefgestaltung Datum, Postskript24 und Seitennummerierung scheinen für Erpresserschreiben kaum eine Rolle zu spielen. Sie treten nur sporadisch auf. Für diese Kriterien müsste geprüft werden, ob sie in Verbindung mit anderen Elementen ein Muster ergeben, das auf die Geübtheit des Autors mit Texten schließen lässt. Dies konnte in diesem Beitrag aber nicht geleistet werden. Ein Zusammenhang lässt sich allerdings dahingehend erkennen, dass bei nicht maschinell geschriebenen Briefen noch weniger mit einem Datum, Postskript oder einer Seitennummerierung zu rechnen ist als bei maschinell hergestellten Briefen. Generell ist die Tendenz auszumachen, dass in den Erpresserbriefen mehr formale Kriterien der geschäftlichen Briefgestaltung umgesetzt sind, wenn sie maschinell geschrieben wurden. Der Schriftmodus (maschinell vs. nicht maschinell) scheint die Umsetzung gewisser Strukturmerkmale wie die Gliederung in Absätze, die Formulierung einer ‚Bitte‘ oder die Realisierung einer Begrüßungsformel eher zu ‚fordern‘ und hat damit auch eine performative Wirkung, die bei der Analyse dringend berücksichtigt werden muss. Auch sprachstrukturelle Aspekte der Erzeugung von Höflichkeit erscheinen tendenziell durch den Schriftmodus beeinflusst. Die untersuchten Kriterien zur Höflichkeit sind in den Schreiben dann wahrscheinlicher, wenn das Schreiben maschinell verfasst wurde. Ein für die untersuchten Erpresserschreiben || 24 Das Postskript erscheint vermutlich deswegen selten, weil bei Erpresserschreiben von einer strategischen Planung der Briefe ausgegangen werden muss (vgl. Artmann 1996: 28).

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ebenfalls äußerst bemerkenswertes Strukturmerkmal ist die höfliche Personaldeixis, die zwar für Geschäftsbriefe standardisiert ist, aber mit Blick auf die Täter-Opfer-Hierarchisierung hier nicht unbedingt zu erwarten wäre. Die TäterOpfer-Hierarchisierung wird eher durch die Form der Gruß- und der Schlussformel unterstrichen. Die respektvolle bzw. höfliche Anrede (Sehr geehrte/r Frau/Herr) unterbleibt sowohl in den Solitären als auch in den Briefserien in ca. dreiviertel der Fälle. Die höfliche und respektvolle Schlussformel (Mit freundlichen Grüßen) fehlt sogar noch häufiger (in ca. 82 % der Solitäre und Briefserien). Setzen die Erpresser keine höfliche Personaldeixis auf der Ebene der Anredepronomina um, ist dies ein starkes Indiz dafür, dass auch die höfliche Anrede und Schlussformel ausbleiben. Erstaunlicherweise erfolgt aber immerhin in ca. der Hälfte der Fälle der Erpresserschreiben eine Anrede des Opfers, auch wenn diese dann nur selten – den Gepflogenheiten der Geschäftsbriefkommunikation entsprechend – höflich ausfällt. Die Schlussformel (Mit freundlichen Grüßen, Grüße, tschüss) – unabhängig davon, ob höflich oder nicht – unterbleibt aber in ca. 75 % der Schreiben gänzlich25, obwohl die Absenderangabe in Form einer Signatur oder eines Decknamens in ca. 66 % der Briefserien und 36 % der Solitäre als Abschluss des Textes fungiert. Dass in Briefserien deutlich häufiger eine Signatur erscheint, mag neben der häufigeren Inszenierung als Gruppe26 auch damit zusammenhängen, dass die Anschlusskommunikation von den Tätern, die dann auch Ansprechpartner werden, schon antizipiert wird. „Authentische, vollständige Absenderangaben gibt es – natürlich – nicht. Ihr Fehlen kann somit als konstitutives Merkmal der Textsorte Erpresserbrief angesehen werden.“ (Artmann 1996: 21; Hervorhebung im Original) Da die Textfunktion der Gelderpressung als solche im Vordergrund steht, verwundert es nicht, dass relativ häufig – zumindest in Briefserien – ein Betreff formuliert wird, der entweder die Sprachhandlung der Forderung unterstützt, oder zur Warnung und zum Aufruf zur Eile eingesetzt wird. Die Betreffzeile und ihre sprachliche Struktur sind als solche äußerst typisch für Geschäftsbriefe, wenn auch häufiger andere Sprachhandlungen durch den Betreff hervorgehoben werden als Forderungen.

|| 25 Die Ergebnisse passen zu denen von Artmann (1996: 26). 26 Es wird weiterhin vermutet, dass sich Tätergruppen einen Decknamen oder eine Bezeichnung geben, um sich selbst als Organisation im Dunstkreis der organisierten Kriminalität mächtiger und gefährlicher erscheinen zu lassen. Dies unterstützt die Sprachhandlung der Drohung.

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Was mit der Analyse der sprachlichen Umsetzung der Forderungen ebenfalls deutlich geworden ist, sind die vielfältigen Möglichkeiten, wie diese Sprachhandlung in Erpresserschreiben strukturell umgesetzt wird. Dennoch sind Muster des Geschäftsbriefes wie die Abtönungspartikel bitte, Euphemismen oder höfliche Imperative wie überweisen Sie zu erkennen. Strategien der Dringlichkeitssteigerung aus der geschäftlichen Briefpraxis, die auch in Erpresserbriefen erscheinen, sind die Verwendung des Futur I, des Doppelpunkts oder wiederum der Einsatz höflicher Imperative. Die aufgezeigten Varianten gelten grundsätzlich auch für die Formulierung einer Forderung in einem Geschäftsbrief. Wo Wahlmöglichkeiten für den Emittenten bestehen, kann die linguistische Stilanalyse ansetzen, um bei der Ermittlung der Erpresser zu helfen (vgl. Krieg-Holz in diesem Band). Aspekte der Höflichkeit werden hingegen häufig durch routinisierte Strukturmomente erzeugt, die denen der geschäftlichen Briefkommunikation sehr ähnlich sind und bei deren Umsetzung und Bewertung auch deutlich weniger Spielräume bestehen. Die Umsetzung dieser Momente kann unter Umständen ein Indiz dafür sein, wie selbstsicher jemand mit den sprachlichen Mustern einer Textsorte umgeht. Dies kann etwas über seine Erfahrungen in der Textproduktion zeigen. Die Anschrift ist beispielsweise mit funktionalen Aspekten der Textsorte verbunden und garantiert, dass das Schreiben den richtigen Empfänger erreicht. Die formale Umsetzung, was Reihenfolge und Abkürzungen (z. Hd.) betrifft, ist sehr stark Konventionen geschuldet und zeigt, dass die Täter Textsortenwissen und damit auch Wissen über sprachlichen Stil haben.27 Die richtige Reihenfolge, die Verwendung der entsprechenden Abkürzung oder die passende Anrede besitzen vor der Folie der Stilanalyse einen Stilwert, der für die Textsorte normalerweise als unmarkiert gilt.28 Unmarkierte Merkmale für Erpresserschreiben scheinen auf Grund ihrer Häufigkeit und ihrer Nähe zur Textsorte des Geschäftsbriefes insbesondere die folgenden Merkmale zu sein: Gliederung in Absätze, maschinelle Verfasstheit, Umsetzung höflicher Anredepronomina und die Adressangabe.

|| 27 Zum Zusammenhang zwischen Textsortenwissen und Wissen über sprachlichen Stil vgl. Fix (2009: 14). 28 Für Eroms (2008: 22) geben alle „Ausdrücke, die in einem Text zu erwarten sind und seine kommunikative Funktion in natürlicher und erwartender Weise betreffen, […] Stilwerte ab“.

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5 Die performative Kraft des Textsortenwissens Welche sprachlichen Strukturmerkmale der Textsorte Geschäftsbrief entfalten für die Täter beim Verfassen eines Erpresserbriefes performatives Potential? An welche „die Wirklichkeit durch-formenden“ (Müller-Mall in diesem Band) performativen Ereignisse knüpfen die Autoren an? Welche Strukturen müssen als iteriert verstanden werden? Zuallererst ist zu nennen, dass die Briefschreiber wichtige Sinneinheiten durch Absätze gliedern. Diese Gliederung von Sinneinheiten ist aber nicht nur prototypisch für die Textsorte Geschäftsbrief und gehört wohl zum allgemeinsten Wissen über schriftliche Kommunikation, das in routinisierte Handlungsabläufe einfließt, selbst wenn es um das Verfassen eines Erpresserbriefes geht. Außerdem scheint die Kategorie Respekt auf der Ebene der Personalpronomina sehr stark der Textsorte Brief und dem damit einhergehenden Nähe-Distanz-Kontinuum (vgl. Koch / Oesterreicher 1985) geschuldet zu sein. Koch / Oesterreicher (1985: 21) betonen, dass dieses Kontinuum nicht linear sei, sondern „als mehrdimensionaler Raum zwischen zwei Polen“ gedacht werden müsse. Dieses Kontinuum trägt zu einem gewissen Grad auch dem Schriftmodus Rechnung. Der Schriftmodus ist Teil des Ausdrucks der Inszenierung von Nähe oder eben Distanz. Auch die Erpresser inszenieren ihre Sprachhandlungen in Richtung einer dieser Pole. Maschinelle Briefe drücken beispielsweise zunächst mehr Distanz aus als ein handschriftlicher Privatbrief. Handschriftliche Geschäftsbriefe sind insbesondere dann nur schwer zu denken, wenn sich die Kommunikationspartner nicht persönlich kennen. Die hier vorgestellten Daten zeigen, dass mit der maschinellen Umsetzung eines Erpresserbriefes auch andere Strukturmerkmale der geschäftlichen Briefkommunikation wahrscheinlicher werden. Eine geschäftliche und höfliche Anrede und Schlussformel ist beispielsweise in den Briefen am ehesten umgesetzt, in denen sich die Täter als Geschäftspartner inszenieren. In den meisten Briefen wird die Täter-Opfer-Hierarchisierung allerdings auch sprachlich durch die Verweigerung von Respekt bei der Gruß- und Abschieds/Schlussformel zum Ausdruck gebracht.

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Ulrike Krieg-Holz

Zur Anwendung stilistischer Parameter in der forensischen Textanalyse An der Schnittstelle zwischen Sprache und Recht ist ein Teilgebiet der Angewandten Linguistik angesiedelt, die Forensische Linguistik. Zu ihrem Forschungsfeld gehören alle Bereiche des Rechts und der Rechtsprechung, die mit Hilfe linguistischer Kategorien erfasst und untersucht werden können (vgl. Fobbe 2011). Juristisches Handeln zeigt sich in vielfältiger Weise als sprachliches Handeln, häufig werden auch sprachliche Handlungen zum Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen. Dies ist etwa bei Beleidigungen, Drohungen und Erpressungen der Fall. Gerade für diese zuletzt genannten Bereiche, die sich mit der Aufklärung von Verbrechen beschäftigen, die mit Hilfe von sprachlichen Handlungen verübt werden, kann – wie im Folgenden gezeigt werden soll – die linguistische Stilanalyse nutzbar gemacht werden. Dazu werden zunächst zum einen der sprachwissenschaftliche Stilbegriff sowie zentrale Kategorien und Methoden der stilistischen Analyse, zum anderen Methoden und Fragestellungen der Autorenerkennung vorgestellt. Im Anschluss daran werden anhand von Beispielen aus dem BKA-Korpus „Erpresserschreiben“ Besonderheiten der stilistischen Analyse von Tatschreiben aufgezeigt, um Möglichkeiten, Grenzen und zukünftige Perspektiven der Forensischen Stilanalyse diskutieren zu können.

1 Stil und stilistische Kategorien Im Vergleich zu literaturwissenschaftlichen Stilanalysen, in deren Mittelpunkt die stilistische Figuriertheit von Texten oder auch Autorenstile stehen, fokussiert der sprachwissenschaftliche Stilbegriff ganz allgemein die Spezifik der sprachlichen Ausgestaltung von Textstrukturen. Diese Spezifik der sprachlichen Formulierung resultiert dabei prinzipiell aus der Möglichkeit, innerhalb von im Sprachsystem angelegten Varianten auszuwählen. Der Stilistik als sprachwissenschaftlicher Teildisziplin kommt dabei die Aufgabe zu, Kriterien für eine stilistische Textanalyse bereitzustellen bzw. zu zeigen, wie sich stilistisch bedeutsame Textmerkmale isolieren und interpretieren lassen. Ganz grundsätzlich betrifft dies zum einen stilistische Einzelphänomene, beispielsweise auf der Ebene des Wortschatzes oder der Grammatik. Zum anderen geht es um komple-

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xere und umfassendere Strukturen wie spezielle Formulierungsmuster oder Handlungsstrategien. Sprachlicher Stil konstituiert sich in diesem Sinne aus verschiedenen intuitiven und mehr oder weniger bewussten Auswahlprozessen, weshalb es zunächst zur Aufgabe der Stilistik als sprachwissenschaftlicher Teildisziplin gehört, die im Optionsraum des sprachlichen Systems enthaltenen Elemente zu klassifizieren (vgl. Krieg-Holz / Bülow 2016). Im Zuge eines pragmastilistischen Zugangs ist darüber hinaus der Kontext der Selektion in die Textanalyse einzubeziehen, indem externe Verwendungsaspekte wie beispielsweise der Kommunikationsbereich, die Funktion und die Äußerungssituation berücksichtigt werden. Die zuletzt genannten Aspekte manifestieren sich vielfach in Gestalt bestimmter Textsorten und entsprechenden Erwartungen. Stilistische Selektionen prägen das kommunikative Handeln ganz entscheidend, denn Stil ist zum einen ein „Wie?“, eben die spezifische sprachliche Form. Zum anderen ist er ein „Was?“, weil durch die Art und Weise der Formulierung neben der Primärinformation eines Textes immer auch weitere Informationen gegeben werden (vgl. Fix et al. 2003: 27). Stil hat damit eine wichtige Funktion für die Kommunizierenden, da durch seine sprachlichen und formalen Eigenschaften intersubjektiv Sinn vermittelt und interpretiert werden kann (vgl. Sandig 2006, S. 7). Es geht dabei um Informationen, die sich auf die Beziehung zwischen dem Textproduzenten, den von ihm verwendeten Zeichen und dem Rezipienten der Zeichen beziehen (z.B. Nehmen sie den Köter weg! < Hund)1. Sprachlicher Stil bildet auch einen wesentlichen Teil der Selbstdarstellung des Textproduzenten, denn er gibt dadurch, wie er spricht oder schreibt, Informationen über das Selbstbild oder das Image, das er aufbauen möchte (z.B. In unserem Geschäft arbeiten fünf Stylisten. > Friseure). Darüber hinaus ist Stil eine Information über die zugrunde liegende Situation (z.B. Sehr geehrter … / Lieber …) und zugleich ein Mittel der Beziehungsgestaltung (z.B. Mit freundlichen Grüßen / Viele Grüße / Herzliche Grüße). Durch Stil kann außerdem sichtbar werden, welches Verhältnis der Textproduzent zur Sprache hat, indem er gehoben oder neutral, konventionell oder offen für Abweichungen formuliert. Prinzipiell kann dabei jedes sprachliche Mittel zum Stilelement werden, es sind aber auch schon potentielle Stilelemente im Sprachsystem angelegt. Als besonders ergiebig für die stilistische Variation gilt gemeinhin der Wortschatz, denn er ist ein relativ offenes sprachliches Teilsystem.

|| 1 Die verwendeten Größer-als- und Kleiner-als-Zeichen sollen an dieser Stelle dazu dienen, einen unterschiedlichen Bedeutungsumfang anzuzeigen.

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Besonders etabliert und bekannt ist in Zusammenhang mit der Wortschatzeinteilung die Unterscheidung sogenannter ‚Stilebenen‘, mit denen versucht wird, die Markierung lexikalischer Einheiten abzubilden, die aus den sozialen Charakteristika der Sprecher und aus bestimmten Kommunikationssituationen resultiert. Dabei wird in der Regel von drei stilistischen Hauptebenen ausgegangen: ‚neutral‘, ‚gehoben‘ und ‚abgesenkt‘. Die neutrale Stilebene umfasst unauffällige Ausdrücke, die keinem einschlägigen Verwendungsbereich unterliegen. Ausschlaggebend für die Qualifizierung ‚gehoben‘ ist eine Abweichung ‚nach oben‘, die positiv wertend als ‚vornehm‘, ‚gewählt‘ oder ‚elitär‘ bezeichnet werden kann. Auf lexikalischer Ebene geht es hier vor allem um bildungssprachliche und archaisierende Wörter und Wendungen (z.B. Erdkreis, einhertreten, manchenorts, nach Canossa gehen). Zur abgesenkten Stilebene gehören zum einen sog. ‚umgangssprachliche‘ Elemente (z.B. Kippe vs. Zigarettenstummel, eh vs. sowieso), die innerhalb von ungezwungenen Kommunikationssituationen typisch sind. Zum anderen gibt es eine Gruppe von Wörtern, denen Bezeichnungen wie „derb“ oder „vulgär“ entsprechen (z.B. scheißfreundlich, Arschkarte). Auch Phraseologismen können die abgesenkte Stilebene in verschiedenen Abstufungen anzeigen: z.B. sich keine grauen Haare wachsen lassen; keinen Bock auf etwas haben. Eine weitere Möglichkeit der Wortschatzbeschreibung besteht in der Bildung sog. „Synonymgruppen“ oder „Wortfelder“. Sie umfassen alle Wörter, die einen bestimmten begrifflichen oder sachlichen Bereich abdecken (z.B. Geld, Zahlungsmittel, Kohle, Schotter). Während die Einheit im Zentrum des Wortfeldes (im o.g. Beispiel: Geld) aufgrund ihrer hohen Frequenz und ihrer weitgehend uneingeschränkten Verwendbarkeit zu stilistischer Merkmallosigkeit tendiert, haben die Wörter an den Rändern eines Feldes ein höheres stilistisches Potential. So signalisiert beispielsweise das Wort Zahlungsmittel das fachliche bzw. berufliche Umgehen mit Geld und ist in diesem Sinne markiert. Nach der Art ihrer Markierung können die Gruppen von Wörtern mit höherem stilistischen Potential in chronologischer, kultureller oder sozialer Hinsicht sowie nach ihrem expressiven Gehalt beschrieben werden. Das heißt, es geht um neue (z.B. simsen) und veraltete Wörter und Wortformen (z.B. Kassettenrekorder, Omnibus). Es betrifft Fremdwörter, und zwar vor allem solche, zu denen ein heimisches Äquivalent existiert (z.B. Abteilung – Department, Gemeinschaft – Community). Zu den markierten Wortschatzelementen gehören zudem diejenigen, die eine areale Begrenzung aufweisen. Dabei können grundsätzlich staatliche Varianten (z.B. Fahrer – österreichisch: Lenker) von regionalen Dubletten (z.B. Fleischer, Schlachter, Metzger und Fleischhacker/Fleischhauer)‚ Regionalismen (z.B. schauen – gucken/kucken) und reinen Dialektismen (z.B. bair. tren-

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zen für weinen) unterschieden werden, wenngleich sie sich mitunter auch gegenseitig überlagern. Eine systematische Markierung weisen prinzipiell auch Fachwörter auf (z.B. Amblyopie, Inzision), obwohl diese in Abhängigkeit von ihrer Frequenz, ihrer Verwendung außerhalb der Fachsprache und ihrer Verständlichkeit durchaus heterogen zu bewerten sind2. Über ein erhöhtes stilistisches Potential verfügt theoretisch auch der expressive Wortschatz. Darunter werden Wörter subsumiert, die eine emotionale Wertung enthalten oder besonders anschaulich sind (z.B. latschen – gehen, Bulle – Polizist). Wie die Beispiele zeigen, kommt es hier oft zu Überschneidungen mit den vorhin genannten Stilebenen. Im Bereich der Grammatik können stilistisch bedeutsame Selektionen auf der Grundlage von Wahlmöglichkeiten innerhalb einzelner Kategorien erfolgen (z.B. Modus, Tempus) oder auf morphologischen Formvarianten basieren. Besonders vielfältige Möglichkeiten zur stilistischen Variation eröffnet die Wortstellung, die im Deutschen gegenüber anderen Sprachen deutlich weniger festgelegt ist (z.B. Linksversetzung, neutrale und markierte Mittelfeldbesetzung). Eine besondere Rolle kommt dabei auch der Verwendung bestimmter Verben insbesondere durch die Bildung von Verbalklammern zu. Stilistische Auswahlprozesse schlagen sich zudem in komplexen Strukturen und Mustern der Textherstellung nieder. Als Beispiel soll hier lediglich der Begriff ‚Nominalstil’ genannt werden, der an das gehäufte Auftreten von Substantivierungen gebunden ist. Verfahren der Wortbildung, der Transposition, insbesondere diejenigen der Konversion, der Suffixderivation (z.B. bedeuten Bedeutung) und der Zusammenbildung (z.B. ins Grab legen - Grablegung) lassen es zu, den gleichen Sachverhalt mit Elementen und Kombinationen unterschiedlicher Wortarten sprachlich darzustellen. Vor allem die von Verben und Adjektiven abgeleiteten Substantive ermöglichen es, Eigenschaften, Vorgänge, Tätigkeiten losgelöst von ihren Trägern wiederzugeben (vgl. Fleischer et al. 1993: 198), woraus sich eine spezifische stilistische Wirkung ergibt. Die Aussagen werden zu nominalen Gruppen (häufig komplexen Nominalphrasen) verdichtet, die den eigentlich verbalen Inhalt tragen, während die Prädikate tendenziell inhaltsarme Verben sind.

|| 2 Beispielsweise tendieren gerade bestimmte medizinische Begriffe wie Hepatitis, Diabetes usw. durch ihre zunehmende Frequenz außerhalb der Fachsprache zur Determinologisierung, so dass sie allenfalls noch sog. ‚Halbtermini‘ darstellen.

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2 Methoden und Fragestellungen der Autorenerkennung Werden Verbrechen in Form schriftsprachlicher Handlungen verübt, so lassen sich in Bezug auf die Autorenerkennung als Bestandteil der Strafverfolgung zwei grundlegende Untersuchungsmethoden unterscheiden: die Textanalyse und der Textvergleich. Während der Textvergleich3 auf der Untersuchung zweier oder mehrerer Texte aufbaut und sich prinzipiell mit der Frage beschäftigt, ob eine verdächtige Person als Autor eines Schreibens in Frage kommt4, geht es bei der Textanalyse um eine Täterprofilerstellung. Das heißt, die Textanalyse zielt nicht primär auf eine Identifizierung des Autors ab, sondern soll zu seiner Kategorisierung beitragen. Ausgehend von der Tatsache, dass der Sprachgebrauch der Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft differiert, und der Annahme, dass sich konkreter Sprachgebrauch zumindest teilweise auf außersprachliche Faktoren wie Alter, Bildung, regionale Herkunft usw. zurückführen lässt, können stilistische Merkmale (wie die oben genannten) insbesondere für die Textanalyse, jedoch auch für den Textvergleich nutzbar gemacht werden. Zentral für den Textvergleich sind Entscheidungen darüber, wann ein Bündel kookkurierender sprachlicher Merkmale als Beleg für eine (wahrscheinliche) Autorenidentität oder als eher distinktiv für einen Autor angesehen werden kann. Relevant ist in diesem Zusammenhang einerseits die Konstanz und Frequenz stilistischer Merkmale, andererseits aber auch ihre Erwartbarkeit im jeweiligen Kontext bzw. in der jeweiligen Textsorte. An dieser Stelle zeigt sich als grundlegendes Problem der Autorenerkennung (vgl. Dern 2009: 72), dass es derzeit nur wenige empirisch gewonnene Ergebnisse zum sprachlichen Verhalten erwachsener Sprecher gibt. Die eingeschränkten Möglichkeiten, auf Referenzmaterial zurückgreifen zu können, limitieren auch die Verfahren der forensischen Textanalyse, um die es hier im Folgenden gehen soll, ganz erheblich (vgl. a. den Aufbau entsprechender Ressourcen, wie sie Krieg-Holz / Hahn (in diesem Band) beschreiben). Gleichwohl kann hier an einzelnen Textausschnitten inkriminierter Schreiben die Nutzbarmachung stilistischer Kriterien aufgezeigt und diskutiert werden.

|| 3 Typisch für den Textvergleich ist die Suche nach Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen zu vergleichenden Texten (vgl. z.B. McMenamin 2001). 4 Wie Dern (2009:66) betont, vermag der linguistische Textvergleich niemals zweifelsfrei einen bestehenden Verdacht zu untermauern oder auszuräumen.

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Das übergeordnete Ziel der forensischen Textanalyse besteht in der Kategorisierung unbekannter Autoren. Dabei sind insbesondere die Autoreneinschätzung, die Bewertung der Autorenabsicht oder die Beurteilung der Textproduktionssituation relevant. Für die Kriminalistik geht es hier vor allem um die Beantwortung folgender Fragen (vgl. Schall 2007: 578): 1.

Ist der Autor Muttersprachler? (auf welche Muttersprache kann zurückgeschlossen werden?) 2. Aus welcher Region kommt der Autor? (dialektale Prägung) 3. Welchen Bildungsgrad hat der Autor? 4. Welcher Berufsgruppe gehört der Autor an? 5. Welche Erfahrung hat der Autor in der Textproduktion? 6. Wurde der Text von einem Autor oder mehreren Autoren verfasst? 7. Ist der Autor eine Frau oder ein Mann? 8. Wie ist die Ernsthaftigkeit eines Textes zu beurteilen? Hinweise für die Beantwortung dieser Fragen können neben stilistischen Merkmalen sprachliche Fehler geben, weshalb die Stilanalyse oft in Zusammenhang mit einer Fehleranalyse erfolgt. Mitunter greifen auch beide ineinander, weshalb die Grenzen zwischen Stil- und Fehleranalyse in einigen Dimensionen sprachlicher Beschreibung – wie etwa der Textkonstitution oder der Textsortenadäquatheit – äußerst unscharf sind. Als charakteristisch für Fehleranalysen gilt ein deviatorisches Vorgehen, das heißt, es geht um Abweichungen von Norm und Usus. Dabei betreffen Normverstöße natürlich vor allem die genuin stärker geregelten Bereiche der Grammatik und Orthographie. Das Feststellen von usuellen Abweichungen bezieht sich auf im Sprachgebrauch einer Kommunikationsgemeinschaft eher unübliche Formulierungen, Kombinationen oder das Abweichen von textsortentypischen Merkmalen. Das heißt, als Fehler können zum Beispiel auch Verstöße gegen die Situationsangemessenheit gewertet werden, wie umgangssprachliche Grußformeln in einem offiziellen Schreiben. An dieser Stelle zeigen sich insofern Überschneidungen mit der stilistischen Analyse, weil diese Stil nicht nur prinzipiell als ein Phänomen der Wahl auffasst, sondern auch das intendierte Abweichen von Normen als eine dieser Wahlmöglichkeiten vorsieht. In diesem Sinne weist Stil immer zwei Pole auf, einen normbezogenen und einen individuellen, denn der Stil eines Textes gehorcht einerseits Konventionen und Normen, andererseits ist erwartbar, dass er auch individuelle Komponenten hat, was bis zu einem gewissen Grade gerade die Durchbrechung von Nor-

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men verlangt.5 Eine Differenzierung zwischen Stilanalyse und Fehleranalyse kann deshalb trennscharf nur in solchen Fällen erfolgen, in denen eindeutig zwischen intendierter Abweichung und unbewussten, auf mangelnder Sprachoder Schreibkompetenz basierenden Fehlleistungen6 unterschieden werden kann. Sowohl Fehler- als auch Stilanalyse sollen in Bezug auf die forensische Autorenerkennung dazu dienen, diejenigen sprachlichen Merkmale eines Textes zu bestimmen, die Rückschlüsse über den Autor bzw. die Autoren ermöglichen. Es geht generell darum, besonders aussagekräftige sprachliche Merkmale, das heißt diejenigen mit Indikatorfunktion, zu isolieren. Nicht nur im Rahmen von Textvergleichen ist deshalb ein spezifischer stilistischer Zugang erforderlich, sondern auch bei der Textanalyse rückt der Aspekt des Individuellen stärker als in der Linguistik und der sprachwissenschaftlichen Stilistik üblich in den Vordergrund. Für den Bereich der forensischen Textanalyse gilt außerdem, dass einzelne sprachliche Merkmale nur selten aussagekräftig genug sein können, um auf einen Autor oder eine bestimmte Kategorie von Autoren zu schließen. Vielmehr geht es darum, einzelne Indikatoren ausfindig zu machen und diese zu aussagekräftigen Merkmalsbündeln (vgl. Selting / Hinnenkamp 1989: 5f.) zusammenzufassen. Dazu ist eine systematische Erhebung solcher Indikatoren (auch: ‚Befunde‘) auf allen Ebenen der sprachwissenschaftlichen Beschreibung notwendig. Als besonders wesentlich erscheinen in diesem Zusammenhang die folgenden: 



Orthografie und Interpunktion (z.B. alte oder neue Rechtschreibung; Verzicht auf Groß- oder Kleinschreibung; Häufung von Ausrufezeichen, Fragezeichen oder Semikolon; Verwendung von Gedanken- oder Schrägstrichen) Lexik (z.B. stilschichtige Markierungen; in chronologischer, regionaler, sozialer oder fachlicher Hinsicht markierter Wortschatz; expressive Ausdrücke; Auftreten und Variation von Phraseologismen)

|| 5 Eroms (2008) fasst diesen paradoxen Aspekt des Stilbegriffs mit dem Bild der Janusgesichtigkeit, das sich auf seinen Doppelcharakter bezieht. 6 Im Rahmen von Fehlerklassifikationen wird darüber hinaus grundsätzlich zwischen solchen Fehlern unterschieden, die im tatsächlichen Sprachvermögen einer Person begründet sind, und denen, die Flüchtigkeitserscheinungen in der Sprachverwendung darstellen (vgl. z.B. Cherubim 1980).

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Grammatik (z.B. Differenzierung der Tempora und Modi; morphologische Formvarianten; Komplexität der Sätze; Art der verwendeten Nebensätze) Textstruktur und äußere Form (z.B. Formen der Kohärenz- und Kohäsionserzeugung; Anrede- und Verabschiedungsformeln, Layout des Textes).

Anhand der linguistischen Beschreibungsebenen kann auch die Klassifikation bestimmter Fehlertypen erfolgen, wobei es sich anbietet, Normabweichungen immer auch im Verhältnis zu normgerechten Verwendungsweisen innerhalb derselben Ebene und Kategorie zu erfassen. Da die sprachlichen Merkmale eines Textes immer nur Indizien sein können, die zu relativen Aussagen führen, geht es hierbei jedoch nur um Tendenzen, aus denen graduelle Wahrscheinlichkeitsangaben abgeleitet werden.7

3 Stilmerkmale als Hinweise auf Täterkategorien Im Folgenden soll anhand von Beispielanalysen kleinerer Textausschnitte8 gezeigt werden, inwiefern stilistische Merkmale relevant für die Kategorisierung unbekannter Täter sein können. Dies erfolgt im Hinblick auf die oben genannten Fragen, deren Beantwortung jedoch nicht in jedem Fall vornehmlich von stilistischen Eigenschaften beeinflusst wird. Die Beantwortung der Frage „Ist der Autor Muttersprachler?“ ist beispielsweise weniger von Stilmerkmalen, als vielmehr von einer Fehleranalyse abhängig. Im Zuge derer können sprachliche Indizien dahingehend interpretiert werden, ob der Textproduzent eine Sprache als Muttersprache oder als Fremdsprache erlernt hat. Natürlich muss dabei generell auch die Möglichkeit einer Verstellung einbezogen werden, denn die Vortäuschung der Nichtmuttersprachlichkeit gehört zu den häufigsten Verstellungsstrategien (vgl. Dern 2009). Das Streben nach Verstellung erfordert vom Autor neben dem Wissen über die Regularitäten einer Sprache vor allem auch die Reflexion des eigenen sprachlichen Verhaltens, um dessen Charakteristika bei der Textproduktion || 7 In Dern (2009: 76) wird die im Bereich „Schrift/Sprache/Stimme“ des Bundeskriminalamts verwendete Rangskala zur Ergebnisdarstellung angegeben. 8 Bei den untersuchten Texten handelt es sich um einen Ausschnitt (Jahrgänge 2005-2010) des KISTE-Korpus (KISTE = Kriminaltechnisches Informationssystem Texte des Bundeskriminalamts).

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möglichst umfassend unterdrücken zu können. Gerade im Falle der Vortäuschung von Nichtmuttersprachlichkeit konkurriert die Verstellungsabsicht zudem mit dem Streben nach Verständlichkeit bzw. Eindeutigkeit. So ist es erwartbar, dass sich ein in linguistischer Hinsicht unkundiger Textproduzent bei einem Verstellungsversuch auf sprachliche Elemente beschränkt, die er leicht verändern kann, ohne dass sich ihre Fehlerhaftigkeit verständnisgefährdend auswirkt. Dies ist beispielsweise durch orthografische Abweichungen oder durch das Auslassen oder Abändern von Flexionsendungen, Artikeln usw. möglich. Dern (vgl. 2009: 81f.) empfiehlt für die Bewertung eines fraglichen Textes zunächst die Untersuchung der Umsetzung bestimmter Eigenschaften des Deutschen, die „für den Lerner von Deutsch als Fremdsprache vorhersehbare Hürden und damit Fehlerquellen darstellen“ (Dern 2009: 82). Dementsprechend ist von einer ziemlich guten Kenntnis des Deutschen auszugehen, wenn die Bestandteile zusammengesetzter Verben richtig platziert und der deutsche Satzbau korrekt umgesetzt wird. Auch idiomatische Aspekte wie der Umgang mit festen Wendungen und Wortverwendungsweisen sind in der Regel gute Indikatoren. Bedeutsam ist schließlich, ob korrekte Formen einer bestimmten Kategorie neben inkorrekten Formen derselben vorkommen und ob die Fehlerhäufigkeit im Textverlauf relativ konstant bleibt oder gegen Ende hin abnimmt. Das folgende Textbeispiel (Beispiel 1) weist etwa sehr auffällige Fehler auf der oberflächlich zugänglichen Ebene der Orthografie auf. Im Wesentlichen werden Buchstaben verdoppelt, verdreifacht, weggelassen oder ausgetauscht. Darüber hinaus fehlen Spatien oder wurden an falscher Position eingefügt. Mehrfach wird ein -h- als Längenzeichen eingeflochten, auf das Interpungieren durch Kommata und die Großschreibung wird durchgängig verzichtet. Beispiel 1: […] ich bin ainer von dennn leut te der hierrr imobjekt arbn xxx ich möcht e ihnen nur saegen dass meine kolegen etwas vorhaben die sind es auch die schohn mal gechrieben hahben […]

Damit sind erstens genau diejenigen sprachlichen Strukturen betroffen, die ein sprachlich ungeschulter Autor leicht manipulieren kann. Zweitens stellen diese Fehler keine Gefahr für die Verständlichkeit des Textes dar. Werden diese oberflächlichen Fehler getilgt und Interpunktionszeichen sowie Großschreibung ergänzt, ergibt sich folgende komplexe Satzkonstruktion: Ich möchte Ihnen nur sagen, dass meine Kollegen etwas vorhaben, die sind es auch, die schon mal geschrieben haben.

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Die Position der mehrteiligen Verben entspricht den differenzierten Stellungsregularitäten des Deutschen, mehrere Nebensätze werden richtig angeschlossen. Auch die Verwendung des umgangssprachlich reduzierten Ausdrucks schon mal (vs. schon einmal) spricht für eine Verstellung im Sinne einer vorgetäuschten Nichtmuttersprachlichkeit. Bei der Beantwortung der Frage „Aus welcher Region kommt der Autor?“ geht es um Indizien für die regionale, gegebenenfalls dialektale Prägung eines Autors. Regionale Markierungen betreffen im Deutschen die drei nationalsprachlichen Varietäten sowie die Unterschiede zwischen den einzelnen Dialektgruppen und regionalen Umgangssprachen. Reine Dialektwörter wie beispielsweise der mittelbairische Ausdruck Leich (‚Beerdigung‘) werden in schriftlichen Texten sehr selten verwendet, da sie gewöhnlich an das Medium der Mündlichkeit gebunden sind. Beispiel 2: Schauen sie hier: www. Name.de

In Bezug auf die Wortverwendung sind Regionalismen, die eine regionale Umgangssprache kennzeichnen (wie z.B. schauen), von erheblich größerer Bedeutung (s. Beispiel 2). Dazu gehören auch regionale Dubletten, also Wörter wie Rotkohl, Rotkraut, Blaukraut oder Traktor, Trecker, Bulldog, bei denen es kein überregionales, standardsprachlich verbindliches Wort gibt. Bei derartigen Varianten verwendet ein Sprecher häufig unbewusst diejenige, die seinem Heimatbereich entspricht. Auch Wörter mit relativ klarer regionaler Begrenzung (z.B. Sonnabend vs. Samstag) können deshalb Indikatoren für die Herkunft des Sprechers sein. Eine regionale Interpretation lassen mitunter auch bestimmte Vorlieben bei relativ neutralen, synonymischen Varianten von Funktionswörtern zu (z.B. daher oder deshalb). Neben solchen lexikalischen Befunden können vor allem aussprachebedingte orthografische Abweichungen Hinweise auf die regionale Zugehörigkeit eines Autors geben. So verweist die im Untersuchungskorpus auftretende geschriebene Variante Glatzköppe etwa auf eine regionale Prägung jenseits des oberdeutschen Sprachraumes, denn hier wurde -pp im Gegensatz zum Mitteldeutschen und Niederdeutschen verschoben (Appel / Apfel-Linie). Wann und in welchem Kontext die Sprache einer Person bestimmte feststellbare regionale Prägungen erhalten hat, kann in diesem Zusammenhang natürlich nicht herausgefunden werden. In der Regel kann sich auch nur eine sehr grobe Lokalisierung ergeben.

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Im Rahmen der Autorenerkennung geht es um das Offenlegen von individualstilistischen Merkmalen, die in engem Zusammenhang mit der jeweils vorhandenen Sprachkompetenz stehen. In Bezug auf die Frage „Welchen Bildungsgrad hat der Autor?“ kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass ein höherer Bildungsgrad positiv mit einer höheren Sprachkompetenz korreliert. Da mit einer höheren Sprachkompetenz im Allgemeinen ein umfangreicherer Wortschatz und eine bessere Kenntnis grammatischer Paradigmen verbunden sind, erhöhen sich prinzipiell die sprachlichen Auswahlmöglichkeiten und somit die stilistische Vielfalt. Dies kann sich u.a. an der Verwendung von (seltener gebrauchten) Fremdwörtern (z.B. diffizil), Konjunktivformen oder einem erhöhten Höflichkeitsniveau (bitten vs. fordern, Hochachtungsvoll vs. Mit freundlichen Grüßen) zeigen. Mit zunehmender Sprach- bzw. Stilkompetenz erhöhen sich jedoch auch die Möglichkeiten des Verstellens: Beispiel 3: rechtschreibfehler sind absicht und fingerabdrücke findet ihr keine

Auf eine derartige Verstellungsabsicht kann, wie das o.g. dritte Beispiel zeigt, metasprachlich Bezug genommen werden. Häufig geht es dabei um die Vortäuschung einer geringeren Bildung oder einer schwächeren sozialen Schicht. Dies lässt sich an der Textoberfläche relativ leicht durch die Senkung der Stilebene, also durch die Verwendung umgangssprachlicher, salopper, vulgär- und fäkalsprachiger Ausdrucksweisen bewirken (vgl. Beispiele 4 und 5). Beispiel 4: Hallo Sie kleiner Steuerbetrüger, wenn wir wollen haben Sie das Finanzamt im Nacken

Beispiel 5: Hallo Sie kleiner Steuerbetrüger, letzte Warnung. Wir möchten an unsere erste Nachricht erinnern. Wollen Sie uns vielleicht verarschen

Schwieriger scheint es demgegenüber, durchgängig einen gehobeneren Stil umzusetzen (z.B. mit dem Bestreben der Selbstaufwertung oder der Vortäuschung einer bestimmten Autorschaft). Hierbei kann das Kriterium der stilistischen Einheitlichkeit hilfreich für die Bewertung sein (s.u. „Welche Erfahrung hat der Autor in der Textproduktion?“).

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Sprachliche Hinweise auf die berufliche Tätigkeit („Welcher Berufsgruppe gehört der Autor an?“) können natürlich in engem Zusammenhang mit Hinweisen auf den Bildungsgrad und die Erfahrungen in der Textproduktion stehen. Im Bereich der Lexik geht es hier insbesondere um die Verwendung von Fachwörtern und Fachjargonismen, denn für beide sind eine auf Fachleute beschränkte Distribution und eine eingeschränkte Allgemeinverständlichkeit charakteristisch. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang allerdings die zunehmende Tendenz zur Verwissenschaftlichung vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (vgl. Kißenbeck 1997: 32), die durch die elektronischen Medien begünstigt wird und sich in den letzten Jahrzehnten erheblich auf die Standardsprache ausgewirkt hat. Sprachliche Indikatoren für bestimmte Typen beruflicher Tätigkeiten ergeben sich auch aus der Struktur und Komplexität der Sätze sowie aus bestimmten globaleren Stilmitteln wie dem Nominalstil. So könnten die folgenden Beispiele (6a und 7a) auf den ersten Blick eine Verwaltungstätigkeit nahe legen: Beispiel 6a: Bei Ihnen haben wir Verfehlungen in Bezug auf die Abrechnung festgestellt […] Im Rahmen einer Überprüfung

Beispiel 7a: Bei einer Verkehrsüberwachung wurde von Ihnen ein Verkehrsverstoß dokumentiert, der einen Führerscheinentzug und eine Geldstrafe zur Folge hat

Die Frage „Welche Erfahrung hat der Autor in der Textproduktion?“ zielt darauf ab, ob der Produzent eines inkriminierten oder fraglichen Scheibens einen schreibenden oder einen nicht-schreibenden Beruf ausübt oder ausgeübt hat (vgl. Dern 2009: 65), und lässt sich anhand des feststellbaren Grades an Professionalität, der – wiederum abgesehen von Täuschungsversuchen – bereits an der äußeren Form des Textes und dem Textaufbau deutlich wird, erkennen. Als zentrale Kriterien für die Bewertung der Textproduktionserfahrung eines Autors können darüber hinaus die Fähigkeit zur variablen sprachlichen Gestaltung, die sich in Relation zur Textsorte / zum Kommunikationsbereich als ‚Angemessenheit‘ niederschlägt, sowie die Einheitlichkeit des sprachlichen Stils angesehen werden. Wird etwa der mit behördlicher Terminologie gefüllte Nominalstil der o.g. Beispiele (6a und 7a) mit umgangssprachlichen oder auch emotional-wertenden Elementen kombiniert, kann dies darauf hinweisen, dass

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der Autor über die Fähigkeit zur adäquaten Umsetzung einer Textsorte nur teilweise oder gar nicht verfügt (vgl. Beispiel 6b und 7b). Beispiel 6b [Hervorhebung UKH]: Bei Ihnen haben wir Verfehlungen in Bezug auf die Abrechnung festgestellt […] Im Rahmen einer Überprüfung […] Es wurden ganz geschickt in bestimmten Zusammenhängen, Leistungen abgerechnet […] Wir wollen an Ihren betrügerischen Bereicherungen teilhaben.

Beispiel 7b [Hervorhebung UKH]: Bei einer Verkehrsüberwachung wurde von Ihnen ein Verkehrsverstoß dokumentiert der einen Führerscheinentzug und eine Geldstrafe zur Folge hat […] Wenn Sie wollen schwärzen wir das Bild, […] Sie können es uns ruhig glauben – Einige haben schon …

Gegen einen in professioneller Hinsicht erfahrenen Textproduzenten sprechen auch Wiederholungen von Wörtern und Wendungen in aufeinanderfolgenden Sätzen, denn sie verstoßen gegen das stilistische Variationsgebot. Hinzu kommen Abweichungen auf verschiedenen Sprachebenen (z.B. ungewöhnliche Wortstellung durch die Platzierung von bei Ihnen im Vorfeld oder Redundanzen wie betrügerische Bereicherungen; vgl. Beispiel 6b) und natürlich Fehler auf verschiedenen sprachlichen Ebenen (vgl. Beispiel 8). Beispiel 8 [Hervorhebung UKH]: Denken Sie auch daran, das die behördlichen Strafen weitaus höher sind wie das was Sie uns zur Verfügung stellen […] Mit uns ist besser wie gegen uns.

Auch der wiederholte Einsatz fehlerhafter Textbausteine innerhalb von Briefserien kann für wenig Erfahrung in der Textproduktion sprechen (vgl. Beispiel 9).

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Beispiel 9 [Hervorhebung UKH]: Hallo Sie kleiner Steuerbetrüger und Unterstützer der Scharzarbeit, letzt Warnung. […] Nehmen Sie den Betrag (nur gebrauchte Scheine a20,-- und 50,--€) und stecken Sie diese in eine Flasche mit großem wasserdichten Verschluß. Fahren Sie Sie am Donnerstag und am Freitag, jeweils um genau 17.00 Uhr folgende Strecke: Hallo Sie kleiner Steuerbetrüger und Unterstützer der Scharzarbeit, Nochmals letzt Warnung. […] Nehmen Sie den Betrag (nur gebrauchte Scheine a20,-- und 50,--€) und stecken Sie diese in eine Flasche mit großem wasserdichten Verschluß. Fahren Sie Sie sofort nach Erhalt dieses Briefes …

Im Rahmen der forensischen Textanalyse ist neben der Möglichkeit der Verstellung immer auch die Beteiligung mehrerer Personen an der Textproduktion, sog. multiple Autorenschaft, in Betracht zu ziehen. Hilfreich für die Beantwortung der Frage „Wurde der Text von einem Autor oder mehreren Autoren verfasst?“ kann zunächst ebenfalls eine Fehlertypologie sein. Hier geht es vor allem darum, ob bestimmte Fehlertypen durchgängig auftreten. Wird – wie etwa im o.g. Beispiel 8 – ausnahmslos wie anstelle von als verwendet? Darüber hinaus geht es um Unterschiede in der stilistischen Gestaltung. Diese können wiederum auf verschiedenen Ebenen der Sprachbeschreibung liegen: So betrifft die Verwendung bestimmter Konnektoren oder deren Fehlen die Ebene des Textes, genauer der Textverknüpfung. Unterschiede im Höflichkeitsniveau liegen im Bereich morphologischer Formen oder der Verwendung bestimmter Wendungen wie z.B. Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln. Im Bereich des Wortschatzes und des Wortgebrauchs kann das Auffinden individueller Vorlieben (z.B. beeindruckend vs. eindrucksvoll; schon vs. bereits; besonders vs. insbesondere, speziell, vor allem; danken vs. bedanken) sowie deren Kombination mit anderen Elementen aufschlussreich sein. Dabei muss natürlich prinzipiell die Möglichkeit des Vorhandenseins intraindividueller Varianten einbezogen werden (z.B. sowohl vergebens als auch vergeblich). Unterschiede können auch am Gebrauch von alter und neuer Rechtschreibung, an der Verwendung von Fremdwörtern und deren Schreibung deutlich werden oder an Besonderheiten der Wortstellung und des Satzbaus.

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Beispiel 10 [Hervorhebung UKH] Packen Sie zunächst das Geld in eine Plastik- oder feste Glasflasche mit einem großen Verschlusskopf (z.B. Obstsaftflasche) und verschließen Sie die Flasche. Dadurch wird gewährleistet, dass das Geld nicht nass wird … Nehmen Sie den Betrag (nur gebrauchte Scheine a20,-- und 50,--€) und stecken Sie diese in eine Flasche mit großem wasserdichten Verschluß. Fahren Sie Sie am Donnerstag und am Freitag, jeweils um genau 17.00 Uhr folgende Strecke:

Zeigen sich beispielsweise in Serien von Erpresserschreiben (vgl. Beispiel 10) wiederholt Unterschiede, die als regionale Markierungen oder als individuelle Vorlieben interpretiert werden können (z.B. in die Flasche packen vs. in die Flasche stecken), spricht dies für zwei oder mehrere Autoren. Diese Vermutung wird durch das gemeinsame Verkommen von alter und neuer Rechtschreibung gestützt (Verschlusskopf vs. Verschluß). Treten nur in einigen Briefen oder an einzelnen Stellen einer Erpressungsserie gehäuft ungewöhnliche Wortstellungen auf, kann dies ebenfalls ein Indikator für mehr als einen Autor sein, denn derartige Abweichungen gelten als schwer manipulierbar. So scheint auf der topologischen Ebene die im folgenden Beispiel zuerst genannte Passage (mit Verschiebung von dort und Ihnen innerhalb des Mittelfeldes) von demselben Textproduzenten zu stammen, der in einem späteren Schreiben wiederum das Adverb daher in markierter Position einsetzt: Beispiel 11 [Hervorhebung UKH]: Lassen Sie sich während dieser Zeit dort nicht sehen. […] Wir haben bereits in 2 Fällen anonym Anzeige erstattet und könnten uns vorstellen, daß zumindest ein Fall Ihnen bekannt ist. (vs. Lassen Sie sich dort während dieser Zeit nicht sehen. […] Wir haben bereits in 2 Fällen anonym Anzeige erstattet und könnten uns vorstellen, daß Ihnen zumindest ein Fall bekannt ist.) Wir möchten Ihnen auf diesem Wege daher ein Angebot unterbreiten. (vs. Wir möchten Ihnen daher auf diesem Wege ein Angebot unterbreiten.)

Sprachliche Indikatoren für die Beantwortung der Frage nach dem Geschlecht eines Autors („Ist der Autor eine Frau oder ein Mann?“) anzugeben, ist auf der Grundlage des heutigen sprachwissenschaftlichen und stilistischen Forschungsstandes nicht möglich. Gerade hier wird – wie auch im Hinblick auf andere Fragen der Autorenerkennung – die Notwendigkeit deutlich, das schriftsprachliche Verhalten erwachsener muttersprachlicher Sprecher unterschiedlicher sozialer Hintergründe breit zu erforschen. Dies würde in Bezug auf verschiedenste sprachliche Aspekte Prognosen über erwartbare Fähigkeiten

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erlauben, die für eine grundlegende Kategorisierung unbekannter Täter unerlässlich sind. Als Grundlage könnte ein korpusanalytischer Ansatz dienen, mittels dessen Indikatoren für die Kategorisierung unbekannter Täter aus den Bereichen ‚Allgemeinsprache‘, ‚Gruppensprache‘ und ‚Tätersprache‘ abgeleitet werden können (vgl. Krieg-Holz / Hahn in diesem Band). Die Einschätzung der Ernsthaftigkeit eines Textes („Wie ist die Ernsthaftigkeit eines Textes zu beurteilen?“) ist weniger an eine spezifische sprachliche Form, sondern vielmehr an inhaltliche Aspekte gebunden. Aus der Art der sprachlichen Formulierung kann in Fällen von Erpressung oder Bedrohung zwar geschlossen werden, ob ein Täter in der Lage ist, ein potentiell überzeugendes Drohpotential aufzubauen. Ob er seine Drohung umsetzt, ist aus solchen Schreiben alleine nicht erkennbar. Im Mittelpunkt kriminalistischen Interesses stehen deshalb weniger die aufgestellten Behauptungen, sondern vielmehr das Ausmaß vorhandener Schädigungen (z.B. Wurden in einem Lebensmittelmarkt tatsächlich vergiftete Milchprodukte gefunden? vgl. Dern 2009: 96f.).

4 Fazit Im Zuge der Textanalysen hat sich herausgestellt, dass der Bereich der Autorenerkennung einen spezifischen stilistischen Zugang erforderlich macht. Das hat zum einen damit zu tun, dass der Aspekt des Individuellen bisher weder in der Sprachwissenschaft noch in der sprachwissenschaftlichen Stilistik im Vordergrund stand. Ein weiterer Grund liegt darin, dass in die Analyse von Tatschreiben nicht nur solche sprachlichen Merkmale einfließen dürfen, die der Textproduzent reflektiert und intendiert aus den im System angelegten Varianten auswählt, sondern vor allem auch diejenigen, die er unbewusst verwendet. Um derartige Merkmale interpretieren zu können, sind korpuslinguistische Untersuchungen notwendig, die Informationen über das schriftsprachliche Verhalten erwachsener muttersprachlicher Sprecher unterschiedlicher sozialer Hintergründe geben können und somit u.a. Prognosen über erwartbare Kompetenzen in Bezug auf die Produktion von Schriftsprache erlauben, die für eine grundlegende Kategorisierung unbekannter Täter unbedingt notwendig sind.

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Literaturverzeichnis Chaski, Carole E. (2001): Empirical evaluations of language-based author identification techniques. In: International Journal of Speech Language and the Law 8, 1–65. Dern, Christa (2009): Autorenerkennung. Theorie und Praxis der linguistischen Tatschreibenanalyse. Stuttgart: Richard Boorberg. Eroms, Hans-Werner (2008): Stil und Stilistik. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Fix, Ulla / Hannelore Poethe / Gabriele Yos (2003): Textlinguistik und Stilistik für Einsteiger. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Frankfurt a. M.: Lang. Fleischer, Wolfgang / Georg Michel / Günter Starke (1993): Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. Frankfurt a.M.: Lang. Fobbe, Eilika (2011): Forensische Linguistik. Eine Einführung. Tübingen: Gunter Narr. Grant, Tim / Kevin Baker (2001): Identifying reliable, valid markers of authorship: a response to Chaski. In: International Journal of Speech Language and the Law 8, 66–79. Krieg-Holz, Ulrike / Lars Bülow (2016): Linguistische Stil- und Textanalyse. Eine Einführung. Tübingen: Gunter Narr. Kißenbeck, Anne (1997): Fachsprache und Regionalisierung. Frankfurt a.M.: Lang. McMenamin, Gerald R. (2001): Style markers in authorship studies. In: International Journal of Speech Language and the Law 8, 93–97. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin / New York: de Gruyter. Schall, Sabine (2007): Forensische Linguistik. In: Knapp, Karlfried et. al. (Hg.): Angewandte Linguistik. Ein Lehrbuch. Tübingen: A. Francke, 566–584. Selting, Margret / Volker Hinnenkamp (1989): Einleitung: Stil und Stilisierung in der interpretativen Soziolinguistik. In: Hinnenkamp, Volker / Margret Selting (Hg.): Stil und Stilisierung. Tübingen: Niemeyer, 1–23.

Ulrike Krieg-Holz, Udo Hahn

CodE Alltag: Ein deutsches E-Mail-Korpus für die Forensische Linguistik

1 Einleitung Als Teilgebiet der Forensischen Linguistik beschäftigt sich die Autorenerkennung mit der linguistischen Analyse anonymer oder hinsichtlich der Zuweisung der Autorenschaft unterbestimmter schriftsprachlicher Texte. In ihrem Zentrum stehen die Stil- und die Fehleranalyse. Sie dienen in der Rechtspraxis dazu, Informationen über den möglichen Autor zu gewinnen oder durch Textvergleiche herauszufinden, ob ein Text einer bestimmten Person bzw. Personengruppe zugeordnet werden kann. Dabei besteht das grundlegende Problem der Autorenerkennung derzeit darin, dass sie nur auf „sehr wenige empirisch gewonnene und zuverlässige Erkenntnisse über das sprachliche Verhalten erwachsener Sprecher als Referenzmaterial zugreifen kann, sodass der Linguist in starkem Maße auf Erfahrungswerte zurückgreifen muss“ (Dern 2009: 71f.). Um die Signifikanz sprachlicher Merkmale, insbesondere derjenigen, die die stilistische Variation in Texten betreffen, belegen zu können, ist es deshalb notwendig, das schriftsprachliche Verhalten erwachsener Sprecher unterschiedlicher sozialer Hintergründe breit zu erforschen. Denn erst dann können Prognosen über erwartbare Fähigkeiten in Bezug auf einzelne sprachliche Aspekte aufgestellt werden, die für eine grundlegende Kategorisierung unbekannter Täter unerlässlich sind (vgl. Krieg-Holz in diesem Band). Aus diesem Grund bauen die Autoren derzeit ein Corpus deutschsprachiger E-Mails auf, dessen Schwerpunkt auf der Erhebung von sprachlichen Äußerungen im Rahmen der Alltagskommunikation liegt (CodE Alltag; s.a. Krieg-Holz et al. 2016). Die in diesem Korpus auftretende sprachliche und stilistische Varianz soll im Sinne von Referenzdaten für die Autorenerkennung genutzt werden. Die großen deutschsprachigen Textkorpora (s. Kap. 2) erfassen in Form von Zeitungstexten, literarischen Texten usw. insbesondere eine Schriftlichkeit, wie sie von professionellen bzw. sehr routinierten Schreibern produziert wird. Über die schriftsprachliche Kompetenz anderer Schreibergruppen und ihre konkrete Realisierung im Alltag können sie nichts aussagen. Diesem Desiderat soll mit dem Aufbau eines Referenzkorpus Genüge getan werden, das alltagssprachliche Texte von Schreibern mit ganz unterschiedlichen sozialen Merkmalen (z. B.

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Alter, regionale Herkunft, Bildung) erfassen soll. Dazu wurde die Kommunikationsform E-Mail ausgewählt, weil in dieser sich zahlreiche Textsorten der Alltagskommunikation (private, berufliche usw.) vermischen. Somit bilden E-Mails innerhalb einer Kommunikationsform eine große Bandbreite der performativen Varianz ab. Diese zeigt sich gerade in Bezug auf die grundlegende Differenzierung zwischen formeller und informeller Sprache, weshalb die Beschreibung und Klassifizierung von stilistischen Parametern für die Forensische Linguistik hier ansetzen soll. Im Folgenden werden dazu in Kapitel 2 relevante deutschsprachige Korpora betrachtet und aus deren Mangel an Abdeckung sprachlicher Belege zur Alltagskommunikation der Status von überwiegend englischsprachigen E-Mail-Korpora betrachtet. Aus beiden Entwicklungslinien leiten wir die Notwendigkeit eines breit konzipierten deutschsprachigen E-Mail-Korpus ab, das wir im Rahmen einer Kooperation der Institute für Germanistik bzw. Germanistische Sprachwissenschaft der Universitäten Klagenfurt (ursprünglich: Leipzig) und Jena aufbauen. Auf der Basis des bisher erreichten Erhebungsstandes diskutieren wir in Kapitel 3 anhand einer Stichprobe diejenigen stilistischen Kategorien, die sich bisher als für die Autorenerkennung relevant erwiesen haben.

2 Stand der Forschung zu Korpora mit Bezug zur Alltagskommunikation 2.1 Deutschsprachige Textkorpora Mit der wachsenden Bedeutung der empirischen Fundierung linguistischer Analysen ist auch für die deutsche Sprache eine große Vielfalt von Korpora entstanden.1 Aus linguistischer Sicht stand dabei lange die Idee der Erfassung möglichst vielfältiger und großvolumiger Mengen von sprachlichen Rohdaten im Vordergrund,2 die auch dem Anspruch genügen sollten, den Sprachgebrauch weitgehend „repräsentativ“ abzubilden (exemplarisch gilt dies etwa für das DeReKo-Korpus3 (Kupietz & Lüngen 2014) sowie das DWDS-Kern- bzw. Zei-

|| 1 Eine aktuelle Übersicht enthält http://de.clarin.eu/joomla/de/sprachressourcen-unddienste/korpora (letzter Aufruf: 27.3.2016). 2 Die sprachlichen Rohdaten sind zum Teil bereits auch automatisch lemmatisiert und nach Wortarten annotiert (POS-Tagging). 3 http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora/ (letzter Aufruf: 27.3.2016).

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tungskorpus4 (Geyken 2007)). In diesen Korpora spielen nach wie vor Zeitungstexte die weithin dominierende Rolle, ergänzt durch überwiegend literarischbelletristische und sach- bzw. fachtextliche Publikationen sowie geringe Vorkommen von Gebrauchstexten (Kochrezepte, Montageanleitungen usw.). Trotz der angestrebten Vielfalt von Textsorten liegt der Schwerpunkt der in diesen Korpora gesammelten Texte eindeutig im Bereich der deutschen Hoch- bzw. Standardsprache. Vor allem aus dem Bereich der Computerlinguistik trat ergänzend der Impuls hinzu, diese elektronisch verfügbaren Rohdaten durch elaborierte linguistische Metadaten weiter anzureichern, vor allem durch syntaktische und semantische Strukturannotationen (exemplarisch seien hierfür TIGER (Brants et al. 2004) und Tüba-D/Z (Telljohann et al. 2004) für syntaktische Metadaten sowie SALSA (Burchardt et al. 2006) für semantische erwähnt). Im Rahmen dieser Aktivitäten verengte sich der Textsortenfokus jedoch ausschließlich auf Zeitungstexte. Der diesen Arbeiten inhärente Fokus auf standardsprachlichen Gebrauch der Schriftsprache spiegelt aber sicher nur einen Teil der gegenwärtigen Erscheinungsformen des Deutschen wider. Dem trägt eine aktuelle Tendenz in der Korpuslinguistik Rechnung, die sich mit diversen Ausprägungen geschriebener informeller Alltagssprache beschäftigt, wie sie sich in Mikroblog- und ChatTexten finden (Storrer 2013). Diese Aktivitäten, von eher monologischen hin zu dialogischen Diskursen zu gelangen, sind derzeit für das Deutsche am weitesten bei DeRiK gediehen (Beißwenger & Lemnitzer 2013), einem Korpus zur Erfassung computervermittelter Kommunikation (Blogs, Chats usw.) als Ergänzung des DWDS-Kernkorpus. In dieser Textkollektion werden jedoch explizit keine EMails berücksichtigt.5 Diese Lücke soll durch Aktivitäten geschlossen werden, die am Institut für Germanistik der Universität Leipzig Mitte 2014 begonnen wurden und nun an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt in Kooperation mit dem Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Friedrich Schiller-Universität Jena fortgesetzt werden. Ziel dieser Arbeiten ist der Aufbau eines umfassenden Corpus deutschsprachiger E-Mails (CodE Alltag), um die linguistische Analyse deut-

|| 4 http://www.dwds.de/ressourcen/korpora/ (letzter Aufruf: 27.3.2016). 5 Im angloamerikanischen Bereich sind allein das Australian National Corpus (https://www.ausnc.org.au/) und seit neuestem auch das American National Corpus (http://www.anc.org/data/masc/corpus/) bereits für Email-Texte geöffnet (Lampert 2009), um zeitgenössische Alternativen zu Briefen und Memoranden in Korpora abzubilden, nicht aber das British National Corpus (http://www.natcorp.ox.ac.uk/). In den deutschsprachigen Referenzkorpora (DeReKo und DWDS) sind derzeit keine E-Mails enthalten.

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scher Alltagssprache empirisch weiter zu diversifizieren. Im folgenden Abschnitt wird zunächst ein Überblick über E-Mail-Korpora und die besondere Problematik dieser Textsorte gegeben. Daran schließt sich die Beschreibung des momentanen Standes der Korpusarbeiten zu CodE Alltag (Erhebungsprinzipien, aktueller Entwicklungsstand) an.

2.2 E-Mail-Korpora E-Mail-Korpora sind Korpora, die ausschließlich bzw. überwiegend aus elektronischer Post (E-Mails) bestehen. E-Mails treten selten isoliert auf, vielmehr sind sie häufig Teil sog. Threads, also asynchron geführter, thematisch um ein „Subject“ (Betreff) zentrierter, konsekutiver Folgen von einzelnen Mails, die den Verlauf von inhaltlichen Austäuschen der Schreiber dokumentieren.6 Somit können solche Korpora dahingehend unterschieden werden, ob sie formal kohärent sind, weil sich Mails über ihre Thread-Struktur explizit aufeinander beziehen, oder inkohärent (ohne Kontextbezug innerhalb des E-Mail-Diskurses). Inhaltlich reichen sie von zum Teil hochgradig formalisierten professionellen Diskursen (Geschäfts- bzw. Verwaltungspost) bis hin zu gänzlich persönlichen Interaktionen – man darf also davon ausgehen (was empirisch noch zu zeigen ist), dass sie stilistisch hochgradig gemischt sind und damit in einem Genre eine große Bandbreite der performativen Varianz einer natürlichen Sprache abbilden. Ein wesentlicher Grund, warum es vergleichsweise wenige solcher E-MailKorpora gibt, ist der überwiegend persönliche Charakter von E-Mails. Rein rechtlich ist zudem ausschließlich der Sender (nicht der Empfänger) im Besitz des Urheberrechts an seiner E-Mail (im Falle beruflicher E-Mails ist dies üblicherweise der Arbeitgeber). Dieser IPR-Aspekt7 kompliziert sich im Übrigen weiter, wenn nicht vom aktuellen Sender stammende Textpassagen aus Vorgänger-Mails direkt zitiert werden (‚Quotes‘) oder gar als Anhänge in einer EMail auftauchen, die unter fremdem Urheberrecht stehen, das der Sender nicht besitzt (Lampert 2009) – beides gängige Routinen im Umgang mit dieser Textsorte. Wir lösen diese Problematik, indem wir bei Verdacht auf eine solche Urheberrechtskollision die in Frage stehende E-Mail nicht in unser Korpus überneh-

|| 6 Eine Ressourcenseite zur Email-Forschung findet sich unter https://sites.google.com/site/ emailresearchorg/ (letzter Aufruf: 27.3.2016). 7 Zum Recht am geistigen Eigentum (Intellectual Property Rights) vgl. https://www.wto.org/ english/ tratop_e/trips_e/intel1_e.htm (letzter Aufruf: 27.3.2016).

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men. Allgemein gilt, dass diese Rahmenbedingungen es für linguistische Analyseprojekte nötig machen, nicht nur juristisch sichere Zustimmungen von den Produzenten (Besitzern) der in Frage stehenden Texte zu erlangen, sondern EMails auch in anonymisierter Form zusammenzustellen, um sie nachfolgend analytisch bearbeiten zu können.8 Die weltweit bekannteste und vom Umfang bislang größte E-MailSammlung ist das Enron-Korpus (Klimt & Yang 2004).9 Es umfasst 619.446 ausschließlich englischsprachige E-Mails mit über 30.000 Threads von insgesamt 158 Nutzern und ein umfangreiches Ordnerverzeichnis; es ist im oben beschriebenen Sinne kohärent. Weder ist seine Genese noch seine Offenlegung einer linguistischen Initiative geschuldet, sondern Konsequenz von Entscheidungen der US-Justiz im Zusammenhang mit strafrechtlichen Vorwürfen der Insolvenzverschleppung gegen eine Reihe hochrangiger Mitarbeiter des Enron-Konzerns und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Anderson (Diesner et al. 2006). Ein zweites bedeutsames E-Mail-Korpus ist im Rahmen der für das Information Retrieval wegweisenden TREC-Software-Wettbewerbsserie entstanden.10 In TREC wurde zwischen 2005 und 2008 ein eigener Sub-Track organisiert, bei dem multimodale Unternehmensdaten (E-Mails, Webseiten, Spreadsheets, Word-Dokumente usw.) zu einem vorgegebenen Informationsproblem unter der Perspektive eines Corporate Memory durchsucht werden mussten. Dazu wurde das W3C-Korpus11 erstellt, das durch Web-Crawler auf Seiten des World Wide Web Consortiums (W3C)12 aus Mailinglisten, öffentlichen Webseiten und diversen Textseiten (aus unterschiedlichen Formaten wie .pdf, .doc, .ppt) insgesamt über 200.000 Dokumente extrahierte und für das E-Mail-Segment mehr als 50.000 Threads bereitstellte. Das entsprechende Korpus ist also zwar aus überaus heterogenen Daten zusammengesetzt, aber für den E-Mail-Teil im obigen Sinne kohärent. Diese Eigenschaft nutzt das British Columbia Conversation

|| 8 Diese restriktiven Bedingungen lockern sich, wenn große Kollektionen von E-Mails von Dritten in einem eigenen, öffentlich zugänglichen Archiv kompiliert werden und keine klar benennbare juristische Person als Besitzer oder Wahrer der Eigentumsrechte (IPRs) für diese Kompilation fungiert. Dies geschieht beispielsweise im Usenet Newsgroup-Archiv, das wir ebenfalls als Ressource für ein eigenes CodE Alltag-Segment nutzen (vgl. Krieg-Holz et al. 2016). 9 http://www.cs.cmu.edu/~enron/ (letzter Aufruf: 27.3.2016). 10 http://trec.nist.gov/ (letzter Aufruf: 27.3.2016). 11 http://research.microsoft.com/en-us/um/people/nickcr/w3c-summary.html (letzter Aufruf: 27.3.2016). 12 http://www.w3c.org (letzter Aufruf: 27.3.2016).

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Corpus (BC3)13 aus, das 40 Threads mit 3.222 Sätzen aus dem W3C-Korpus enthält und mit Metadatenannotationen zu Sprechakten (wie Vorschlag, Anfrage, verbindliche Zusage usw.) für die Zwecke der Textzusammenfassung von Threads (Ulrich et al. 2008) erweitert. Trotz seines sehr technischen Charakters bildet das W3C-Korpus die zweite große und häufig genutzte Korpussäule im Bereich E-Mails. Anders als die bislang vorgestellten E-Mail-Korpora enthält das Australian National Corpus ein einzelnes E-Mail-Segment, EMail Australia, das als Resultat eines landesweiten Aufrufs, E-Mails zu „spenden“, mittlerweile ungefähr 10.000 E-Mails umfasst (Lampert 2009). Dieses Spendenmodell war Vorbild für einen der beiden Akquisitionsansätze von CodE Alltag. Eine weitere Gruppe von im obigen Sinne inkohärenten E-Mail-Korpora wurde zusammengestellt, um als Trainingsbasis für Spam-Erkennungssoftware zu dienen (vgl. Orasan & Krishnamurthy 2002; Medlock 2006b; Webb et al. 2006).14 Hier wurde gezielt eine inhaltlich stark verzerrte Vorauswahl getroffen, um Spam- gegen Non-Spam-E-Mails abzugrenzen. Auch sprachlich nehmen diese E-Mails wegen fehlerbeladener Sprachverwendung oft eine Sonderstellung ein. In diesem Kontext sind ebenfalls die Organisatoren der TREC-Wettbewerbe initiativ geworden. Für TREC 2007 wurde ein 237.000 englischsprachige Dokumente umfassendes Korpus für eine Spam-Filtrierungsaufgabe mittels Web Crawlern aufgebaut (Cormack 2007). Bereits ein Jahr zuvor war für eine Spam/Non-Spam-Klassifikationsaufgabe ein aus ca. 99.000 englischsprachigen und 65.000 mandarinsprachigen Dokumenten bestehendes bilinguales E-MailKorpus generiert worden (Cormack 2006). Ein anderes bilinguales, aber wesentlich kleineres Korpus wurde für das TAT Autoren-Profiling-System entwickelt, das aus ca. 9.800 englischsprachigen und 8.000 arabisch-sprachigen E-Mails zusammengesetzt ist (Estival et al. 2007b). Alle diese E-Mail-Korpora erfassen primär nur die englische Sprache. Für das Deutsche liegen bislang zwei E-Mail-Korpora vor. Declerck und Klein (1997) bauten ein kleines Korpus aus 160 E-Mails zu Evaluationszwecken für das Terminvereinbarungssystem Cosma auf. Wesentlich größer ist dagegen das FLAGKorpus, das aus 120.000 Sätzen besteht, die aus der Internet Usenet Newsgroup extrahiert wurden (Becker et al. 2003). Das FLAG-Korpus ist – bedingt durch das

|| 13 https://www.cs.ubc.ca/cs-research/lci/research-groups/natural-language-processing/ bc3.html (letzter Aufruf: 27.3.2016). 14 Ein großes Portal, das Spam-E-Mails bereitstellt, ist Spamdex (http://www.spamdex. co.uk/); es erfasst derzeit mehr als 10 Mio. Spam-E-Mails (letzter Aufruf: 27.3. 2016).

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dahinterliegende Forschungsinteresse, die Fehlerannotation – stark auf fehlerbehafteten Sprachgebrauch ausgerichtet, wie er typisch für einen mündlichumgangssprachlich geprägten Sprachstil ist. Insofern hebt sich CodE Alltag von beiden Korpora durch das Fehlen eines engen Domänenbezugs (Cosma) und größere sprachliche und stilistische Varianz (FLAG) ab.

2.3 CodE Alltag: Entwurfsentscheidungen, Auswahlprozess und aktueller Status CodE Alltag besteht als Gesamtkorpus betrachtet aus zwei gänzlich verschiedenen Partitionen. Die eine (auch aufgrund ihrer Größenordnung als CodE AlltagXL bezeichnet) setzt sich aus knapp 1,5 Mio. E-Mails zusammen, die aus sieben inhaltlich unterschiedlichen Kategorien des deutschsprachigen Teils des Internet Usenet Newsgroup-Mail-Archivs15 extrahiert und minimal veredelt wurden (Beseitigung inhaltlicher Verrauschung durch Fakes und Spams, Tokenisierung und Lemmatisierung). Die andere (auch als CodE AlltagS+d bezeichnet) wurde auf der Grundlage des Spenden-Modells gewonnen und ist ausschließlich Gegenstand der folgenden Erörterungen. CodE AlltagS+d ist nicht nur wesentlich kleiner als CodE AlltagXL (es enthält derzeit, Stand März 2016, knapp 1.000 EMails), sondern es bietet ergänzend zu diesen E-Mails auch demographische Angaben zu den Schreibern der E-Mails. Diese Zusatzinformationen, die im Bereich der Analyse von E-Mail-Texten kaum erhoben werden,16 erachten wir als besonders wichtig für die stilistisch-forensische Analyse, eine unserer Schwerpunktanwendungen. Eine umfassende Beschreibung der quantitativen und qualitativen Parameter beider Segmente des CodE Alltag-Korpus enthält KriegHolz et al. (2016). Da eine statistisch repräsentative Auswahl von E-Mails allein schon am Problem der verlässlichen Definition der Grundgesamtheit und am Privatheitsprinzip aller E-Mails scheitern würde (man bekäme auch nach einer wohldefinierten Stichprobenauszeichnung sicher nicht von allen ausgewählten E-MailProduzenten ihre Zustimmung zur Aufnahme ihrer E-Mails in die Stichprobe), wird beim Aufbau des CodE Alltag-Korpus ein Ad-hoc-Sample angestrebt. Dazu hatten wir zunächst Studenten der Germanistik an der Universität Leipzig in

|| 15 https://archive.org/details/usenet-de (letzter Aufruf: 27.3. 2016). 16 Estival et al. (2007a) gehen vergleichbar vor, wenngleich ihr Fragebogen neben demographischen Grunddaten vor allem auf psychometrische Eigenschaften der Autoren abhebt, die in ein Modell des Autoren-Profiling eingehen.

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den Einführungsvorlesungen gebeten, jeweils eine ihrer E-Mails – ohne jegliche Veränderung der Original-E-Mail – für das Korpus zu spenden. Darüber hinaus wurden per Uni-Verteiler Leipzig alle Institute und Verwaltungseinheiten mit dem gleichen Anliegen angeschrieben. Um den Rahmen einer rein universitären Klientel zu sprengen, haben wir ferner darum geworben, im Bekanntenkreis der Studenten (Familien, Freunde, Vereine usw.) unser Anliegen bekannt zu machen und um Zusendung weiterer E-Mails aus diesem erweiterten Autorenkreis zu bitten. Die Auswahl dieser jeweils einen E-Mail geschieht nach freien Stücken durch den jeweiligen Spender (sicher unter Abwägung inhaltlicher und privater Überlegungen) ohne jegliche Einflussnahme der Korpus-Entwickler. Insbesondere wurden keinerlei formale oder inhaltliche Präferenzen formuliert, so dass es sich hier um ein im oben definierten Sinne primär inkohärentes EMail-Korpus handelt, das zwar Threads enthält (sie sind oft Teil der zugesandten E-Mail-Spende), die aber aufgespalten werden in thread-freie einzelne EMails und solche, die die Thread-Struktur bewahren. Da unser Analyse-Fokus auf die Untersuchung stilistischer Aspekte deutscher Alltagskommunikation ausgerichtet ist, entsteht aus dieser Voreinstellung keinerlei Nachteil für die spätere Analyse (vgl. zur Analyse von Thread-Strukturen von E-Mails etwa Sharaff & Nagwani (2016)). Die ausgewählte E-Mail wurde von den Spendern als Weiterleitungs-E-Mail an eine Sammeladresse gesendet und dort formattreu gespeichert. Nach dem Empfang jeder E-Mail wurde als Teil einer automatisierten Antwortprozedur ein Fragebogen an die jeweiligen Spender geschickt. Neben der Erhebung von demographischen Angaben der E-Mail-Spender (sie umfassen neben konventionellen Sozialdaten zum Alter, Geschlecht, Ausbildungs- und Berufshintergrund vor allem auch Angaben zur Häufigkeit der Nutzung von E-Mails im Alltagsleben und sprachlichen Kontextbedingungen der Autoren) enthält er im Besonderen eine juristisch eindeutige Zustimmung zur Weiterverwendung der zugeschickten E-Mail nach deren Anonymisierung. Diese nachgeschaltete, rechtlich notwendige Bitte führte bislang zu einem Verlust von ca. einem Drittel der zugesendeten Datensätze – sie werden konsequenterweise nicht in CodE Alltag aufgenommen. Die Anonymisierung bezieht sich – ähnlich wie bei klinischen Datensätzen (Medlock 2006a; Meystre et al. 2010) – auf alle Angaben, die eine Identifizierung der jeweiligen Person aus den Textangaben erlauben würde, und schließt natürlich auch die Blindung aller E-Mail-Adressen ein. Diese Maßnahme ist dem Aufbau von E-Mails geschuldet, die prinzipiell aus einem Verwaltungskopf (Header) und dem eigentlichen E-Mail-Text (Body) bestehen. Die in Leipzig begonnenen Arbeiten werden mittlerweile am Institut für Germanistik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt fortgesetzt. Hier wurden

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weitere Initiativen gestartet, um den Zulauf von E-Mails zu steigern, zum Beispiel die Auslage von Flyern und persönliche Ansprache von Passanten in öffentlichen Räumen oder Besuchern sozialer Ereignisse (Festivals, Sportveranstaltungen usw.), die Einbeziehung öffentlicher Schulen, etc. Da die Kampagne mit offenem Ende fortgesetzt wird, bitten wir natürlich auch die Leser dieses Beitrags eine ihrer E-Mails für CodE Alltag zu spenden.17 Ein ähnlicher Akquisitionsansatz liegt dem E-Mail-Segment des Australian National Corpus zugrunde (Lampert 2009). Dort wurde ein öffentlicher nationaler Aufruf (Email Australia) gestartet, der zur Abgabe von über 10.000 E-Mails entlang eines vordefinierten 8-Kategorienschemas (mit Kategorien wie Familie, Beschwerden, Liebe/Romantik usw.) führte. Die von den Sendern erbetene, selbst durchgeführte Anonymisierung individueller Daten zeigte jedoch große Defizite, weswegen wir diese Aufgabe nicht delegiert haben, sondern sie mit semi-automatischen Mitteln selbst lösen werden. Wie CodE Alltag ist Email Australia im oben beschriebenen Sinne inkohärent. Diese Inkohärenz ist gewollt, da das Ziel bei beiden Projekten nicht die inhaltliche oder strukturelle Analytik von E-Mail-Strömen, sondern die Betrachtung der einzelnen E-Mails innewohnenden sprachlichen Ausprägungen und Varianz ist. Insofern würde ein kohärentes Korpus sogar einzelne Sprechermuster über Gebühr bevorzugen und linguistische Ergebnisse somit in Richtung einzelner Individuen verzerren (aus diesem Grunde lassen wir auch mehrere E-Mails eines Produzenten nicht zu, sondern treffen, falls dies eintritt, eine Zufallsauswahl aus mehreren eingesendeten E-Mails). CodE Alltag besteht zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags (März 2016) aus insgesamt 300 zertifizierten (Einzel-Mails ohne Threads mit expliziter Zustimmung zur Weiterverwendung) und knapp 900 E-Mails mit Threads. Die Sammlung besteht dabei aus insgesamt 6.400 Sätzen, 73.000 ungefilterten Texttoken, 12.000 Types (verschiedene Texttoken) und ca 6.500 Lemmata (die linguistischen Grundformen von morphologisch variierenden Texttoken). Es wird eine Sammlung angestrebt, die zwischen 3.000 bis 5.000 E-Mails enthalten soll. Die Anonymisierung des Datensatzes beginnt Mitte 2016.

|| 17 Die Spendenadresse lautet: [email protected].

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3 Analysekategorien 3.1 Methodisches Vorgehen Zahlreiche Textsorten werden in der Kommunikationsform ‚E-Mail‘ realisiert. In inhaltlich-funktionaler Hinsicht reichen diese von professionellen Textsorten wie etwa Geschäfts- oder Verwaltungskorrespondenz bis hin zu persönlichen, ausschließlich privaten Interaktionen. Die stilistische Ausformung dieser Textsorten ist äußerst unterschiedlich, so dass sie innerhalb einer Kommunikationsform eine sehr große Bandbreite der performativen Varianz abbilden. (1)

Sehr geehrter Herr Professor Schmidt, können in ihren Seminaren im Modul Erster Spezieller Schwerpunkt / Spezielle Methoden Senioren zugelassen werden? Mit freundlichen Grüßen Julia Müller Institutssekretariat Philosophie

(2)

Hey ihr beiden, das ist aber schön, dass ihr kommt. Dann vermerk ich mir das gleich auf meiner Liste. Ja, ich finde die Einladung auch echt schön, sie ist so, wie ichs mag. Freunde hatten uns ne Internetseite verraten, wo es viele Ideen für Karten gibt und da haben wir dann bisserl rumgestöbert und uns hier und da Ideen zusammen geklaut. […] Oh, ich merk auch grad, die E-Mail ist länger geworden als gedacht, aber es gibt auch einfach echt viel zu erzählen. Also ich hab mich echt über deine Mail gefreut. Du schreibst immer so süß. Ganz liebe Grüße J&J

An den beiden ersten Textbeispielen ist zu erkennen, dass gerade in Bezug auf die grundlegende Differenzierung zwischen formeller und informeller Sprache nahezu das gesamte Spektrum an Formulierungsmöglichkeiten auftreten kann. Dies zeigt sich innerhalb des Korpus beispielsweise in Bezug auf die syntaktische Komplexität, die ein Kontinuum von vollständigen hypotaktischen Sätzen mit komplexer Phrasenstruktur über elliptische und fragmentarische Formen (z.B. Wieso mutig mit dem Auto zu fahren?) bis hin zu expressiven Ersatzformen wie die Wortwiederholung hüpf-hüpf-hüpf (an Stelle von Ich freue mich sehr. o.ä.) enthält. Ganz ähnlich gestaltet es sich im Falle von Begrüßungs- und Anredeformen. Hier reicht die Variationsbreite von formelhaften Wendungen, die

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einen Stilwert für formale Kommunikation abgeben (z.B. Sehr geehrte Frau Dr. Müller), über Formelhaftes, das informelle Sprache bzw. einen größeren Bekanntheits- oder Vertrautheitsgrad anzeigt (z.B. Liebe Julia), bis hin zu emotionalen oder abweichend-kreativen Ausdrucksweisen (z.B. Hallo mein Lieblingspfefferchen ; Hai!; Huhu). Im Falle der Lexik umfasst das Spektrum Fach- bzw. Verwaltungssprachliches ebenso wie Gruppensprachliches bzw. stilschichtig Abgesenktes (z.B. Tusse). Die Beschreibung und Klassifizierung von stilistischen Parametern zur automatischen Untersuchung von E-Mails soll deshalb an der Dichotomie ‚formell - informell‘ ansetzen. Dazu wurde eine Stichprobe von 100 E-Mails betrachtet, wobei es zunächst darum geht, durch Introspektion ein Inventar von stilistischen Kategorien aufzustellen. Ausgangspunkt dafür war eine grobe Textsortendifferenzierung innerhalb der Kommunikationsform, die sich an externen Textmerkmalen wie der Situation, der Intention usw. orientiert (vgl. Textbeispiele (1) und (2)). Wird nun der Versuch unternommen, einen Satz von Kategorien aufzustellen, der für die automatische Erfassung von formeller vs. informeller Ausdrucksweisen geeignet ist, so scheint es grundsätzlich sinnvoll, zwischen lexikalischen, grammatischen und sog. „medialen“18 Aspekten zu unterscheiden, obwohl sich diese natürlich an ihren Grenzen vielfältig überlagern können.

3.2 Lexikalische Kategorien Die lexikalische Ausfüllung von Texten gilt generell als besonders stilprägend. Gerade in Hinblick auf lexikalische Indikatoren kann dabei der innerhalb der strukturalistischen Stilistik etablierte Begriff der (virtuellen) stilistischen Neutralität (vgl. Eroms 2008) nutzbar gemacht werden, denn er erlaubt, unmarkierte Formen von potentiell markierten zu unterscheiden. Als potentiell markierte Elemente gelten in diesem Zusammenhang Lexeme, die aus diachronischer Perspektive oder aufgrund ihres regionalen, fachsprachlichen, fremdsprachigen, expressiven, sozialen und/oder stilschichtig abgesenkten bzw. erhöhten

|| 18 Der Begriff der Medialität scheint insofern passend, als er einerseits auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit abhebt und sich damit diejenigen Besonderheiten eines informellen Stils erfassen lassen, die aus einer Orientierung an Mündlichkeit resultieren. Andererseits umfasst er zugleich diejenigen Spezifika, die sich aus den medialen Gegebenheiten der elektronischen Vermittlung ergeben.

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Charakters nicht in allen Verwendungsbereichen des Deutschen uneingeschränkt vorkommen können (vgl. Krieg-Holz in diesem Band). Als erste Kategorie, die als Indikator für informelle Sprache angesehen werden kann, ist die expressive Lexik zu nennen. Hierzu zählen Wörter und Phraseologismen, die aufgrund ihrer besonderen Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit nicht als stilneutral eingestuft werden können (z.B. Krokodilstränen, mickrig, krümeln). Zum Bereich der expressiven Lexik gehören auch Lexeme, die eine emotionale Wertung enthalten (z.B. andrehen, dreist, lächerlich), sowie emotionsausdrückende und emotionsbezeichnende Wörter, wie z.B. verzweifeln, traurig oder streicheln. In vielen Fällen verbindet sich mit dem Aspekt der emotionalen Bewertung eine Markierung in Bezug auf die Stilebene. So enthält beispielsweise das Wort andrehen nicht nur die Bedeutungskomponente ‚abwertend‘, sondern gehört auch zur abgesenkten Stilebene. Insofern kommt es zu Überschneidungen mit Elementen einer weiteren Kategorie, dem Bereich der Wörter mit systematischer sozialer Begrenzung und der stilschichtigen Markierung. Markierungen in Bezug auf Stilebenen und soziale Gruppen beziehen sich per se auf konventionell festgelegte Verwendungssphären von Ausdrücken. Insofern ist hier eine relativ klare Abgrenzung von Wörtern möglich, die für formale Kommunikationsanlässe nahezu ausgeschlossen scheinen. Das betrifft zum einen umgangssprachliche Elemente19 (z.B. verhauene (Bachelorarbeit), frustriert, Scheiß, saugut), die typisch für ungezwungene Kommunikationssituationen sind; zum anderen Wörter, die auf Varietäten wie Jugendsprache oder Kiezdeutsch verweisen (z.B. voll cool, voll (gefreut), krasser (Scheiß), Checker, Tussen). Indizien für informelle Sprache sind auch umgangssprachliche Phraseologismen wie beispielsweise über die Runden kommen; in Wohlgefallen auflösen; unter den Nägeln brennen und solche, die für soziale Gruppen typisch sind (z.B. Wie geht’s Alter? Lass was machen!?). Dabei wird an Beispielen wie depri drauf sein oder nicht so der burner deutlich, dass auch hier keine scharfe Abgrenzung vorgenommen werden kann. Eine Kategorie, die im untersuchten Material nur in Verbindung mit informellem Sprachgebrauch auftritt, stellen auch okkasionelle Bildungen wie z.B. Restostern, Ausruhtag oder Stochertaktik dar, insbesondere solche, die umgangssprachliche oder expressive Konstituenten enthalten (z.B. Mongolei-

|| 19 Das Spektrum der stilschichtig markierten Elemente innerhalb informeller Sprache reicht von umgangssprachlichen Ausdrücken bis hin zu derben und vulgären; letztere sind jedoch innerhalb der untersuchten Stichprobe äußerst selten.

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Corona, Lieblingsjulia) oder einen starken Neuheitseffekt bewirken (z.B. Pomodoro-Wecker, Finsternisattacken). Auch Diminutive zeigen vielfach Informelles an, oft in Verbindung mit einer emotionalen Bewertung: z.B. Professorchen, Vätchen, Kippchen. Auszunehmen sind etablierte, verkleinernde Abkürzungen von Vornamen (z.B. Franzi), die mitunter auch im Rahmen formeller Kommunikation auftreten. Als Indikator für formelle Formulierungsweisen können innerhalb der Lexik Elemente dienen, die eine fachsprachliche Markierung enthalten. In der untersuchten Stichprobe trifft dies vor allem auf verwaltungs- bzw. universitätstypische Wörter wie z.B. Akkulturationsmodell, Studierende, Endredaktion, Bearbeitungsreihenfolge, finalisieren, Signatur, Prüfungsleistungen zu, hinzu kommen verschiedene feste Wendungen: z.B. soweit dies möglich ist; nach Rücksprache mit; zur Unterschrift auslegen; Vielen Dank im Voraus!.

3.3 Grammatische Kategorien Die Verwendung diverser fachsprachlich geprägter Wendungen steht in engem Zusammenhang mit grammatischen Phänomenen, die zur Ausbildung eines Nominalstils beitragen können. Hierzu gehören insbesondere Funktionsverbgefüge, die als Indiz für formelle Situationen angesehen werden können: z.B. die Möglichkeit erhalten; zur Verfügung stehen; die Gelegenheit bieten. Darüber hinaus kennzeichnen auch komplexe, durch Präpositionalphrasen o.ä. erweiterte Nominalphrasen Formelles: z.B. Einsatzmöglichkeiten von interaktiven WhiteBoards im Fremdsprachenunterricht oder Mittel für die Durchführung eines Lehrangebots. Charakteristisch für den Nominalstil formeller Texte scheint auch die Verwendung von deverbalen (partizipialen) Attributformen, wie z.B.: betroffene Studierende; anstehende Beiträge. Signifikant ist in Bezug auf grammatische Kategorien bei formeller Sprachverwendung außerdem das deutlich häufigere Auftreten von Präteritumformen und bestimmten Konjunktivformen (z.B. hätte sollen). Kennzeichnend für informelle Texte ist demgegenüber eine spontansprachliche Syntax. So verdeutlichen Beispiele wie Zwecks Unfällen und so? Oder andere Vorschläge? Gut? eine Orientierung an Mündlichkeit, die strukturell bis hin zu sehr fragmentarischen Formen führt. Als weitere grammatische Kategorie, die Abweichendes von den kanonisierten Normen der Schriftsprache erfasst, ist schließlich die Interpunktion zu nennen. Hier geht es um das zum Teil mehrfach wiederholte Setzen von Interpunktionszeichen, die prinzipiell verstärkend wirken sollen, um vielfach auch zusätzliche Bedeutungen – in Form von Emoti-

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onalem oder Paraverbalem – zu kodieren: z.B. Du?!?! Wie geht’s Alter???? Gehst du zum Campusfest?!?.

3.4 Mediale Kategorien Obwohl bereits die o.g. syntaktisch reduzierten Formen eine Anlehnung an Mündlichkeit anzeigen und sich das verstärkte Interpungieren auch mehr oder minder stark aus den Gegebenheiten des elektronisch vermittelten Mediums ergibt, sollen als im engeren Sinne mediale Kategorien die Folgenden aufgefasst werden, die allesamt Indikatoren für Informelles sind. Hierzu gehören zunächst Abweichungen von der Orthographie wie die Wiederholung von Buchstaben (z.B. liebe grüßeeee, nicht soo, Hiiiiiiiiii!; Waaaaaaaaas?; Ahhh; Uuuuh; Oh Stefeffi; Conniiihy) oder auch Großschreibungen (z.B. RIESIG!, SOFORT, ABER, OHNE; JEDE), die jeweils zur Akzentuierung oder Hervorhebung dienen sollen. Ebenso gehören dazu Emoticons (z.B. , :P, :D; :-[ ; XD) und für bestimmte Kommunikationsformen (z.B. SMS, Chat) typische Abkürzungen (z.B. WE, LG, vllt, Diss, hdl). Als Kennzeichen informeller Kommunikation sind auch die folgenden Phänomene zu bewerten, die sich alle am mündlichen Sprachgebrauch orientieren. Es geht im Einzelnen um die Verschriftlichung der sog. Apokope, dem Wegfall des Sprachlautes am Ende (z.B. (ich) hab; (ich) schau; Meld (dich …!); geb (dir)), und von Synkopen, d.h. dem Wegfall von Sprachlauten in der Mitte, wie etwa bei drauf oder grade. Besonders häufig begegnen auch lautliche Verschmelzungen mit dem Nachbarwort, sog. klitisierte Formen wie habs, gehts, wirs, ichs. Nicht zuletzt gehört zu Merkmalen informeller Texte auch regional oder überregional Umgangssprachliches, das in der Standardsprache normalerweise keine Schriftlichkeit besitzt, wie z.B. ne, nem, nen, Mittach essen, bissel, (du) olle (Kuh). An die Inszenierung von Mündlichkeit sind schließlich auch Gesprächspartikeln bzw. Signale der Redegliederung wie beispielsweise ähm, ach ja, naja, uff, nein ernsthaft, tadah gebunden.20

|| 20 Zu vergleichbaren empirischen Beobachtungen im Rahmen der E-Mail-Sprache, s.a. Rehm (2002).

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3.5 Operationalisierung und empirische Fundierung Die in den vorangegangenen Abschnitten beschriebene Formen- und Stilvarianz werden wir am Referenzsystem der standardsprachlichen Schriftlichkeit ausmessen und Abweichungen davon als entsprechende gradierbare stilistische Markierungen beschreiben. Dies betrifft alle linguistischen Beschreibungsebenen, insbesondere die Orthographie, die Morphologie (etwa in Form von Kongruenzparametern) und die Syntax (etwa über unterschiedliche Ausprägungen von vollständiger Grammatikalität, Para-Grammatikalität und latenter Ungrammatikalität). Hierzu werden „standardsprachliche“ Quellen als Referenzstandard herangezogen: 



für lexikalische Untersuchungen etwa das GermaNet (Lemnitzer & Kunze 2002) als umfassendes deutschsprachiges elektronisches Lexikon,21 für einfache komparative quantitative Erhebungen beispielsweise Verteilungen von Text- oder Satzlängen, aber mehr noch für Verteilungen von POS-Sequenz-Mustern und syntaktische Komplexitätsberechnungen gängige standardsprachliche Korpora wie DeReKo (Kupietz & Lüngen 2014) bzw. DWDS (Geyken 2007).

Unsere eigenen aktuellen Arbeiten zur lexikalischen Konnotation bzw. lexikalisch-semantischen „Ladung“ von epistemischer Modalität (Hahn & Engelmann 2014) und emotionaler Sprache (Buechel et al. 2016a; 2016b) werden wir weiter vorantreiben, um Unterscheidungen wie „expressiv – nicht expressiv“ oder „negativ – positiv“ aus der Sphäre subjektiver Expertenurteile zu lösen und im Kontext empirischer Sprecherbefragungen intersubjektiv zu validieren.

4 Fazit E-Mail-Korpora, so unsere grundlegende Annahme, enthalten in einem Genre eine große Bandbreite sprachlicher und stilistischer Varianz und sind damit ein besonders geeigneter Gegenstand linguistischer Forschung, da dieses breite Äußerungsspektrum in einer Textsorte sonst kaum auftritt. Diesem Forschungsinteresse steht die geringe Zahl von E-Mail-Korpora entgegen, die es in nen-

|| 21 http://www.sfs.uni-tuebingen.de/GermaNet/ (letzter Aufruf: 27.3.2016).

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nenswertem Umfang faktisch nur für die englische Sprache gibt (Enron, W3C/BC3, TREC, Email Australia). Je nach Forschungsfrage lohnt die Unterscheidung in kohärente E-MailKollektionen, die den Verlauf von interaktiven Diskursen etwa über Threads und Quoting abbilden, und inkohärente, die aus der Menge von E-Mails stichprobenartig ohne diskursiven Kontext selektiert werden. Bei kohärenten E-MailSammlungen tritt ein veritables Rechteproblem auf, da zitierte oder via Threads eingebundene Fremdtextpassagen den Persönlichkeitsrechten des ursprünglichen Verfassers unterliegen. Bei der Auswahl der Texte, auch bei inkohärenten, also singulären E-Mails, sind generell rechtliche Aspekte des Persönlichkeitsschutzes und des IPR zu beachten. Am problemlosesten ist hierbei stets eine explizit eingeholte Erlaubnis zur Weiternutzung, wie sie für die hier vorgestellte Version von CodE Alltag realisiert wurde. Die Nutzung von E-Mails aus entsprechenden öffentlich zugänglichen Archiven (wie Usenet) ist wegen der fehlenden Instanz eines Rechtehalters möglich, jedoch durch zusätzliche Schutzmechanismen (etwa Anonymisierung) weiter abzusichern. Aufbauend auf diesen Überlegungen haben wir die Grundzüge des deutschsprachigen E-Mail-Korpus CodE Alltag beschrieben. Es ist ein inkohärentes Adhoc-Sample, das semi-automatisch anonymisiert werden wird. Die derzeitige Größe beläuft sich auf knapp über 900 (bzw. 300 zertifizierte) E-Mails. Die Erhebungsarbeiten an diesem Korpus laufen seit Mitte 2014 und werden mit offenem Ende fortgesetzt. Es ist geplant, CodE Alltag nach Abschluss der Arbeiten in andere deutschsprachige Korpora einzubinden und damit öffentlich zugänglich zu machen. Wir sehen E-Mail-Korpora aufgrund ihrer hohen stilistischen Varianz als besonders geeignet an, Fragestellungen der Forensischen Linguistik zu untersuchen. Es ist geplant, die in Kapitel 3 beschriebenen stilistischen Kategorien als Basis für die Analyse von inkriminierten Dokumenten (etwa Erpresserschreiben) zu verwenden. Im Vorlauf zu diesem Analyseschritt werden zunächst die Ausprägungen der E-Mail-Dokumente in CodE Alltag entlang dieser Kategorien und deren Zuordnung zu unterschiedlichen stilistischen Klassen und Ebenen (etwa durch Clustering im dadurch aufgespannten multidimensionalen Merkmalsraum) untersucht. Die Kollektion inkriminierter Schreiben (etwa aus dem KISTE-Korpus (Dern 2009: 73)) soll dann kontrastiv zu diesen stilistischen Annotationen auf möglichst systematische Gemeinsamkeiten und Abweichungen untersucht und im Raum der markierten stilistischen Kategorien eingebettet werden. Aus daraus ableitbaren Distinktionen könnten Hinweise auf indivi-

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duelle Autorencharakteristika abgeleitet werden, die für eine anschließende kriminologische Einordnung informativ sein könnten.

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Igor Trost

Agensanonymisierung, Modus- und Aspektdisambiguierung in der Gesetzessprache Am Beispiel der Straßenverkehrsordnung (StVO)

1 Die Pragmatik der Straßenverkehrsordnung Die Straßenverkehrsordnung gehört zu den Gesetzen, die das Zusammenleben der Menschen in bestimmten Bereichen regeln. Die Straßenverkehrsordnung wird von Janiszewski (2002: XXIIIf.) als „Grundgesetz des Straßenverkehrs“ bezeichnet; sie regele „das Verhalten im Straßenverkehr“ und gewährleiste „die Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs“ (Janiszewski 2002: XXIIIf.). Janiszewski betrachtet die StVO als „Unfallverhütungsvorschrift“, deren genaue Kenntnis „für jeden Verkehrsteilnehmer, insbes. für den Kraftfahrer von großer Bedeutung“ sei (Janiszewski 2002: XXIV). Ein Gesetzeswerk, das diesen Ansprüchen gerecht werden will, muss den rechtsteilnehmenden Bürgern und Bürgerinnen Handlungsanweisungen in Form von Geboten, Unterlassungsanweisungen in Gestalt von Verboten und Angebote von Entfaltungsspielräumen in Form von Gewährungen kommunizieren (vgl. dazu auch Bartholomeyczik 1951: 22). Darin bestehen auch die Aufgabe und die Zielsetzung der Straßenverkehrsordnung. Ein Gebot vermittelt beispielsweise § 17 Abs. 4 Satz 1 StVO: (1) Haltende Fahrzeuge sind außerhalb geschlossener Ortschaften mit eigener Lichtquelle zu beleuchten. Ein Verbot formuliert § 32 Abs. 1 Satz 1 StVO: (2) Es ist verboten, die Straße zu beschmutzen oder zu benetzen oder Gegenstände auf Straßen zu bringen oder dort liegen zu lassen, wenn dadurch der Verkehr gefährdet oder erschwert werden kann. Eine wenn auch bedingte Gewährung ist Gegenstand des § 31 Abs. 1 StVO: (3) Sport und Spiel auf der Fahrbahn, den Seitenstreifen und auf Radwegen sind nicht erlaubt. Satz 1 gilt nicht, soweit dies durch ein die zugelassene Sportart oder Spielart kennzeichnendes Zusatzzeichen angezeigt ist.

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Das Gebot des § 17 Abs. 4 Satz 1 StVO, also Beleg (1), geht von dem abstrakten Tatbestand aus, dass ein Fahrzeug außerhalb geschlossener Ortschaften hält. Unter diesen von jedem konkreten Lebenssachverhalt abstrahierenden Tatbestand lässt sich aber jeder konkrete Lebenssachverhalt subsumieren (vgl. Bartholomeyczik 1951: 22), der die Bedingung erfüllt, dass ein ganz bestimmtes Fahrzeug an einer bestimmten Stelle außerhalb bestimmter geschlossener Ortschaften hält. Dieser abstrakte Tatbestand wird mit der ebenso abstrakten, auf jeden konkreten Fall anzuwendenden Rechtsfolge verbunden, dass jedes in dieser Situation befindliche Fahrzeug mit eigener Lichtquelle beleuchtet werden muss. Der die Rechtsfolge des Verbots auslösende Tatbestand des § 32 Abs. 1 Satz 1 StVO, Beleg (2), ist die Verkehrsgefährdung oder -erschwerung durch die Beschmutzung oder Benetzung der Straße oder durch das Verbringen von Gegenständen auf Straßen. Die Rechtsfolge der Erlaubnis von Sport und Spielen auf der Fahrbahn, den Seitenstreifen und auf Radwegen des § 31 Abs. 1 StVO, Beleg (3), tritt nur dann ein, wenn bei Straßen die Zulassung von Sport und Spielen auf der Fahrbahn, den Seitenstreifen und auf Radwegen durch ein Zusatzzeichen mit der zugelassenen Sportart oder Spielart angezeigt wird. Die Straßenverkehrsordnung kennt aber auch Ermächtigungen an die Verwaltung zur selbständigen, nicht allgemeingültigen, sondern einzelfallgebundenen Regelung bestimmter Sachverhalte wie etwa § 45 Abs. 6 Satz 1 StVO: (4) Vor dem Beginn von Arbeiten, die sich auf den Straßenverkehr auswirken, müssen die Unternehmer – die Bauunternehmer unter Vorlage eines Verkehrszeichenplans – von der zuständigen Behörde Anordnungen nach Absatz 1 bis 3 darüber einholen, wie ihre Arbeitsstellen abzusperren und zu kennzeichnen sind, ob und wie der Verkehr, auch bei teilweiser Straßensperrung, zu beschränken, zu leiten und zu regeln ist, ferner ob und wie sie gesperrte Straßen und Umleitungen zu kennzeichnen haben. (Kursivierungen IT) Die von Gesetzen, so auch von der Straßenverkehrsordnung, vermittelten Handlungsanweisungen in Form von Geboten, Unterlassungsanweisungen in Gestalt von Verboten und Angebote von Entfaltungsspielräumen in Form von Gewährungen werden durch ihre Versprachlichung in den Gesetzen nach deren rechtsverbindlichem Inkrafttreten rechtswirksam. Die daran anschließende, bis zu einer eventuellen Novellierung oder Aufhebung eines Gesetzes fortwirkende Koinzidenz von Versprachlichung und Rechtswirksamkeit begründet eine Per-

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formativität sui generis der Gesetze, die nicht an den von Austin (1962/1979: 83) postulierten Gebrauch performativer Verben gebunden ist.

2 Die sein-Modalpassiva 2.1 Agenseliminierung und coverte Modalität durch sein-Modalpassiva Die bereits zitierten Gesetzesvorschriften aus der Straßenverkehrsordnung zeigen, dass der Gebrauch der monoprädikativen, also nur prädikativ verwendbaren sein-Modalpassiva wie sind … zu beleuchten in dem Gebot des § 17 Abs. 4 Satz 1 StVO: (1) Haltende Fahrzeuge sind außerhalb geschlossener Ortschaften mit eigener Lichtquelle zu beleuchten. (Kursivierungen IT) einen sprachökonomischen Zweck erfüllt, nämlich auf die explizite Nennung des Handelnden, also des Agens, dort verzichten zu können, wo sie verzichtbar und/oder redundant ist. Bei modalpassivischen Konstruktionen wie dem seinModalpassiv, das in Gesetzestexten, so auch in der Straßenverkehrsordnung mit 86 Belegen, aber auch in anderen Textsorten der Rechtssprache, so in Urteilen, sehr häufig auftritt, wird neben der Agensdefokussierung und der damit verbundenen Agenseliminierung zusätzlich die Modalität nur covert, also verdeckt ausgedrückt. Mit dem sein-Modalpassiv lassen sich dabei fünf Modalitäten mit ihren sechs Negationen bei nicht-epistemischen Redehintergründen covert versprachlichen, die erst durch Passivparaphrasen oder durch Aktivretransformationen overt, also durchsichtig werden (Trost 2012: 88): Positiv

Negiert

Muss-Modalität

Muss-nicht-Modalität Brauch-nicht-Modalität

Soll-Modalität

Soll-nicht-Modalität

Kann-Modalität

Kann-nicht-Modalität

Sich-lassen-Modalität

Sich-nicht-lassen-Modalität

Darf-Modalität

Darf-nicht-Modalität

So steht der Rezipient bei dem sein-Modalpassiv ist … zu fahren in § 2 Abs. 2 StVO

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(5) Es ist möglichst weit rechts zu fahren, nicht nur bei Gegenverkehr, beim Überholtwerden, an Kuppen, in Kurven oder bei Unübersichtlichkeit. (Kursivierungen IT) vor der Frage, ob er sich zur Rekonstruktion der beleggerechten Modalitätsart für die muss-modale unpersönliche Passivparaphrase (5‘) Es muss möglichst weit rechts gefahren werden… entscheiden soll oder für die soll-modale unpersönliche Passivparaphrase (5‘‘) Es soll möglichst weit rechts gefahren werden … . Bei der Entscheidung für die muss-modale Variante kann er sich auf sein Rezipientenvorwissen berufen, dass es sich bei § 2 Abs. 2 StVO um ein gesetzliches Gebot handelt. Der Verstoß gegen eine Soll-Empfehlung wäre demgegenüber im Ernstfall juristisch nicht zu ahnden. Ein Gesetz kann jedoch nicht nur auf das Vorwissen der Rezipienten bauen, dass eine Regelung ein Gebot und keine Empfehlung darstellt, sondern es muss zu seiner Durchsetzbarkeit eindeutige Verstehensbedingungen schaffen. Diese stellt die Straßenverkehrsordnung durch die alle Gebote und Verbote subsumierende Überschrift I. Allgemeine Verkehrsregeln her: In Verkehrsregeln ist im Unterschied zu Verkehrsempfehlungen nur Platz für Gebote und Verbote. Und Gebote verlangen die MussModalität. Jedenfalls ist die Verwendung des sein-Modalpassivs in der Gesetzessprache durch die Modalitätsambiguität risikobehaftet und bedarf deshalb einer im Streitfall durch den Kontext garantierten eindeutigen Disambiguierung. In dem § 45 Abs. 3 Satz 2 StVO lässt sich die Modalität nicht eindeutig mittels Paraphrasen disambiguieren: (6) Die Straßenbaubehörden legen – vorbehaltlich anderer Anordnungen der Straßenverkehrsbehörden – die Art der Anbringung und der Ausgestaltung, wie Übergröße, Beleuchtung fest; ob Leitpfosten anzubringen sind, bestimmen sie allein. (Unterstreichung und Kursivierungen IT) Hier ist sowohl eine Muss-Modalität als auch eine Soll-Modalität in der Passivparaphrase möglich. Eine Paraphrasierung in der Muss-Modalität betont die unbedingte Notwendigkeit einer etwaigen Anordnung, Leitpfosten anzubringen, zu folgen: (6‘) (…) ob Leitpfosten angebracht werden müssen, bestimmen sie [d.h. die Straßenbaubehörden] allein. Eine Paraphrasierung in der Soll-Modalität macht deutlich, dass nicht der Verordnungsgeber, sondern die Straßenbaubehörde allein darüber bestimmt, ob

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Leitpfosten angebracht werden. Denn durch sollen wird hier wie durch müssen ein Zwang ausgedrückt, der aber einer Subjektsgröße als Verpflichtung durch „eine andere (menschliche) Größe“ auferlegt wird, wie Kątny (in Engel et al. 1999: 674) ausführt. Die Soll-Modalität appelliert an die Einsicht des Adressaten, dass die unbedingte Notwendigkeit unter gewissen Umständen in der Zukunft relativiert und damit abgeschwächt werden kann. So lässt es die Soll-Modalität in § 45 Abs. 3 Satz 2 StVO offen, ob die Straßenbaubehörde überhaupt bestimmt, dass Leitpfosten angebracht werden: (6‘‘) (…) ob Leitpfosten angebracht werden sollen, bestimmen sie [d.h. die Straßenbaubehörden] allein. Deshalb liegt hier eine Modalitätsambiguität innerhalb der semantischen Notwendigkeitsrelationen vor. § 45 Abs. 3 Satz 2 StVO gehört zum Abschnitt III der Straßenverkehrsordnung mit der Überschrift Durchführungs-, Bußgeld- und Schlussvorschriften. Eine Disambiguierungsleistung dieser Überschrift ist nicht erkennbar.

2.2 Allgemeingültigkeits- und Überzeitlichkeitsanspruch bei den sein-Modalpassiva Die Rezipienten machen sich in ihrer Wahrnehmung von Gesetzen deren Allgemeingültigkeits- und Überzeitlichkeitsanspruch zu Eigen. Deshalb werden die von Aktionsart und Aspekt bestimmten satzinternen zeitlichen Relationen von diesem Allgemeingültigkeits- und Überzeitlichkeitsanspruch in der Rezeption überlagert. Zunächst einige Worte zur Begrifflichkeit: Die Aktionsart wird isoliert von den Verbalinhalten gesteuert und damit nicht vom Kontext und der Kommunikationssituation. In Anlehnung an Riecke (2000: 32) kann man drei Aktionsartobergruppen unterscheiden, nämlich die durative, die perdurative und die nichtdurative Aktionsartobergruppe. Durativ sind Verben, „deren Verbalinhalt“ – so Riecke (2000: 32) – „keinerlei Hinweis auf eine Begrenzung der Verbalhandlung gibt“ (Riecke 1996: 68; 2000: 32), z.B. schreiben, lesen, singen, spielen. Man kann deshalb auch durativ gleichsetzen mit zeitlich nicht begrenzt andauernd. Perdurativ sind Verben, „die eine in der Zeit begrenzt andauernde Handlung ausdrücken“ (Riecke 1996: 68), z.B. eine gewisse Zeit irgendwo verbringen, verweilen; eine gewisse Zeit sich irgendwo aufhalten. Nichtdurativ sind Verben, „deren Verbalinhalt eine auf einen Punkt begrenzte Verbalhandlung ausdrückt“, z.B. finden, sterben (Riecke 2000: 32). Auf der aspektuellen Ebene werden hier der durativen, der perdurativen und der nichtdurativen Aktionsart die von der Aktionsart gesteuerten Primäras-

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pekte primärimperfektiv bzw. primärperfektiv zugeordnet (vgl. Trost 2012: 28). Primärimperfektiv kann man mit ursprünglich nicht abgeschlossen, primärperfektiv mit ursprünglich abgeschlossen paraphrasieren. Die durative Aktionsart wird wegen ihrer zeitlichen Nichtbegrenztheit als primärimperfektiv klassifiziert, also als ursprünglich nicht abgeschlossen. Die perdurative Aktionsart und die nichtdurative Aktionsart sind wegen ihrer zeitlichen Begrenztheit aspektuell primärperfektiv, also ursprünglich abgeschlossen. Der Sekundäraspekt ist im Gegensatz zum Primäraspekt nicht aktionsartgesteuert. Der Sekundäraspekt ist im Deutschen mangels Morphologisierung ausschließlich kontext- und/oder situationsgesteuert. In den folgenden Ausführungen wird außerdem zwischen Tätigkeitsverben und Handlungsverben unterschieden. Die Tätigkeitsverben unterscheiden sich von den Handlungsverben dadurch, dass sie kein durch ein direktes Objekt verkörpertes Resultat oder durch ein direktes oder indirektes Objekt repräsentiertes personelles oder materielles Handlungsziel anstreben oder die intransitive Variante eines transitiven Handlungsverbs darstellen. Der Satz (7)

Peter trägt den Koffer.

mit dem transitiven durativ-primärimperfektiven Tätigkeitsverb tragen weist mit dem affizierten Akkusativobjekt den Koffer kein durch ein Objekt verkörpertes Resultat auf. Anders das transitive durativ-primärimperfektive Handlungsverb malen in Satz (8)

Petra malt ein Bild.

mit dem zu effizierenden Objekt ein Bild. Das Verb malt in Satz (9)

Petra malt.

stellt als intransitive Variante zu dem transitiven Handlungsverb etw. malen dagegen ein intransitives durativ-primärimperfektives Tätigkeitsverb dar. Ein durch ein indirektes Objekt verkörpertes personelles Handlungsziel zeigt der Satz (10)

Der Bürgermeister dankt dem Lebensretter.

mit dem durativ-primärimperfektiven Handlungsverb jmdm. danken. Diese Unterscheidung zwischen Tätigkeitsverben und Handlungsverben ist aspektuell relevant. Die Tätigkeitsverben sind immer durativ-primärimperfektiv, die Handlungsverben können sowohl durativ-primärimperfektiv sein wie in Beispiel (8) Petra malt ein Bild als auch primärperfektiv wie das unten noch näher zu besprechende perdurativ-primärperfektive Handlungsverb etw. genehmigen. Weitere Beispiele für durativ-primärimperfektive Tätigkeitsverben sind schwimmen, turnen, boxen, fahren intr., jagen intr., bauen intr., für durativprimärimperfektive Handlungsverben etw. fahren, etw. bauen, etw. jagen, sowie

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für nichtdurativ-primärperfektive Handlungsverben jdn. töten, erschlagen. Der Allgemeingültigkeits- und Überzeitlichkeitsanspruch in der Gesetzesund Verordnungssprache führt nun bei den Tätigkeitsverben wie der intransitiven Variante von fahren zur Neuinterpretation der primärimperfektiven, eine ganze Aktionsartobergruppe prägenden Durativität. Die Daueraussage der primärimperfektiven Durativität gibt keinerlei Hinweis auf eine zeitliche Begrenzung der Tätigkeit.1 Statt der Durativität im engeren Sinne, nämlich der Durativität der kursiven Subklasse der durativen Aktionsartobergruppe, die von Verben wie schreiben oder lesen, aber auch fahren repräsentiert wird, tritt die Iterativität in den Vordergrund. Die Iterativität ist ebenfalls eine Subklasse der durativen Aktionsart. Dies lässt sich durch den Einsatz des Adverbs immer2 nachweisen, der weder den Inhalt der Gesetzesvorschrift ändert noch beeinträchtigt, sondern lediglich entsprechend der Rezipientenwahrnehmung paraphrasiert, so in § 2 Abs. 2 StVO: (5‘‘‘) Es ist immer möglichst weit rechts zu fahren, nicht nur bei Gegenverkehr, beim Überholtwerden, an Kuppen, in Kurven oder bei Unübersichtlichkeit. Der Belegaspekt des intransitiven Tätigkeitsverbs fahren bleibt unter diesen Bedingungen primärimperfektiv, an die Stelle der kursiven Aktionsartsubklasse der durativen Aktionsartobergruppe tritt deren Aktionsartsubklasse iterativ. Es liegt also ein Aktionsartsubklassenwechsel durch den Allgemeingültigkeitsund Überzeitlichkeitsanspruch der StVO hin zur Iterativität vor.

3 Das Gerundiv Zu den in der Rechtssprache häufig anzutreffenden modalpassivischen Konstruktionen zählt auch das Gerundiv als monoattributive Variante des monoprädikativen sein-Modalpassivs. Einen Beleg für das Gerundiv enthält der § 47 Abs. 2 Nr. 4 StVO. Dieser Gerundiv-Beleg lautet: (11) der zu genehmigende Verkehr. (Kursivierungen IT) Das Gerundiv zu genehmigende steht in der Soll-Modalität und stellt eine Formenbildung des transitiven Handlungsverbs genehmigen dar. Wer mit der Ver-

|| 1 Vgl. dazu Riecke (2000: 32). 2 Zur Unterscheidung der Homonymie des Adverbs immer und der Partikel immer s. Helbig (1990: 163).

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wendung der Soll-Modalität die Einsicht in die Notwendigkeit der Handlung fordert, hat die ganze und damit die abgeschlossene Handlung im Blickpunkt. Damit ist der Belegaspekt bereits als primärperfektiv oder sekundär perfektiviert vorherbestimmt. Dem kommt der Gerundivbeleg „der zu genehmigende Verkehr“ entgegen; denn das Handlungsverb etw. genehmigen ist bereits primärperfektiv, weil es der Aktionsart nach perdurativ ist. Perdurativ sind Verben, deren Verbalinhalt „sich eine gewisse Zeit ausdehnt, dann aber zu Ende“ geht (Riecke 2000: 32). Das transitive Handlungsverb genehmigen ist ein dreiaktiges Verb, es setzt das Ersuchen einer beantragenden Person voraus und umfasst in seinem Zeitrahmen die tatsächliche und rechtliche Prüfung des Ersuchens und dessen Erlaubnis als Ergebnis dieser Prüfung. Der Zeitrahmen von Prüfung und Erteilung der Erlaubnis ist also in sich begrenzt. Daraus lässt sich die Annahme der perdurativen Aktionsart und des primärperfektiven Aspekts von genehmigen ableiten. Das Verb genehmigen kann in der 1. Pers. in direkter Rede auch performativ gebraucht werden: „Hiermit genehmige ich / genehmigen wir den Antrag“. Ein solch performativer Gebrauch liegt hier aber nicht vor. Das Gerundiv zu genehmigende überträgt nämlich die für eine verbale Performativität unabdingbare Handlungsaussage des aktivischen Verbs in eine modalpassivische Vorgangsaussage, die von der Soll-Passivparaphrase des Gerundivs wiedergegeben wird: (11) § 47 Abs. 2 Nr. 4 StVO: Zuständig sind für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen: (...) 4. nach § 46 Abs. 1 Nr. 5 die Straßenverkehrsbehörde, in deren Bezirk der zu genehmigende Verkehr beginnt oder die Straßenverkehrsbehörde, in deren Bezirk der Antragsteller seinen Wohnort, seinen Sitz oder eine Zweigniederlassung hat; (Unterstreichungen und Kursivierungen IT) (11‘) Soll-modale Passivparaphrase: (…) die Straßenverkehrsbehörde, in deren Bezirk der Verkehr, der genehmigt werden soll, beginnt oder die Straßenverkehrsbehörde, in deren Bezirk der Antragsteller seinen Wohnort, seinen Sitz oder eine Zweigniederlassung hat. Der § 47 Abs. 2 Nr. 4 StVO ist außerhalb der Auflistung der Gebote in Abschnitt I platziert und zwar in Abschnitt III der Straßenverkehrsordnung mit der Überschrift Durchführungs-, Bußgeld- und Schlussvorschriften. Der § 47 Abs. 2 Nr. 4 StVO stellt eine Gewährungsnorm dar.

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Die Soll-Passivparaphrase bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Vorschrift des § 47 Abs. 2 Nr. 4 StVO auf Genehmigungen abhebt, deren Erteilung noch nicht erfolgt ist, sondern in jedem einschlägigen Einzelfall erst noch erfolgen soll. Das Gerundiv zu genehmigende verweist also auf die Nachzeitigkeit und Zukunft im Verhältnis zu jeder wann auch immer erfolgenden Antragstellung. Der Zeitrahmen der Bedeutung des aktivischen Verbs bleibt grundsätzlich auch in der modalpassivischen Vorgangsaussage erhalten, so dass auch das Gerundiv wie das finite Verb perdurativ und primärperfektiv ist. Allerdings erhebt sich die Frage, ob die Einzelfallprofilierung dieser Zuständigkeitsregelung in § 47 Abs. 2 Nr. 4 StVO, Beleg (11), von den Rezipienten als solche wahrgenommen wird oder nicht vielmehr die Generalisierung der Allgemeingültigkeit und der Überzeitlichkeit der gesetzlichen Regelung die Oberhand behält. Bei einer Anbindung an diese beiden nicht nur satzexternen, sondern auch textexternen Parameter, die aber in die Wahrnehmung der textinternen und satzinternen Organisation durch den Rezipienten zurückwirken, müsste man auch bei diesen Zuständigkeitsregelungen von einer die Rezeption bestimmenden sekundären Imperfektivierung durch iterierende Usualisierung ausgehen. Die Soll-Modalität dokumentiert einerseits den von der Vorschrift unterstellten Appell der beantragenden Person an die zuständige Straßenverkehrsbehörde, den Antrag zu genehmigen, andererseits garantiert sie aber auch die Genehmigungshoheit der Genehmigungsbehörde. Die Muss-Modalität würde diese Genehmigungshoheit ausschließen und durch einen Genehmigungszwang ersetzen. Die Muss-Modalität könnte aber im Regelungszusammenhang des § 47 Abs. 2 StVO nur durch die muss-modale Passivparaphrase oder die muss-modale Aktivretransformation zum Ausdruck gebracht werden, nicht jedoch durch das Gerundiv, das in anderen Regelungszusammenhängen, nämlich den Geboten, die Muss-Modalität sehr nachdrücklich den Adressaten, nämlich den Verkehrsteilnehmern, übermitteln kann. Dass die Straßenverkehrsordnung von der Genehmigungshoheit der Straßenverkehrsbehörde ausgeht, verdeutlicht sie in § 47 Abs. 2 StVO, in welchem sie von der Zuständigkeit „für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen“ spricht. Damit wird das nachfolgende Gerundiv zu genehmigende auf die Soll-Modalität festgelegt. Beim Abgleich mit den möglichen Paraphrasen des Gerundivs zeigt sich auch hier die Tendenz zur Formulierungsökonomie, die allerdings zu einer Steigerung der Anforderungen an die Sprachkompetenz der Rezipienten und deren Interpretationsfähigkeit bei der Konfrontation mit ohnehin durch ihr hohes Abstraktionsniveau komplizierten Rechtstexten beiträgt. Trotz ihres hö-

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heren und deshalb weniger ökonomischen Konstruktionsaufwands könnte die soll-modale Aktivretransformation des § 47 Abs. 2 Nr. 4 StVO eine gewisse Erleichterung der Rezeption erbringen: (11‘) Aktivretransformation des § 47 Abs. 2 Nr. 4 StVO: (…) die Straßenverkehrsbehörde, in deren Bezirk der Verkehr beginnt, den diese Behörde genehmigen soll, oder die Straßenverkehrsbehörde, in deren Bezirk der Antragsteller seinen Wohnort, seinen Sitz oder eine Zweigniederlassung hat. Die Straßenverkehrsbehörde, die zu Beginn der Ziff. 4 des § 47 Abs. 2 StVO als Agens benannt wird, träte in der soll-modalen Aktivretransformation als Handlungsträger und nicht wie im verdeckt soll-modalen Gerundiv und in der sollmodalen Passivparaphrase als Vorgangsverursacher in Erscheinung. Die aktivische Formulierung dieser Regelung würde die Genehmigungshoheit der Behörde in keiner Weise schmälern, aber den Rezipienten deutlich vermitteln, dass die Behörde als Handlungsträger für ihr Handeln auch Verantwortung trägt, während diese durch die verdeckt soll-modale gerundivische Vorgangsaussage verdunkelt wird. Bei der Verwendung des verdeckt soll-modalen Gerundivs, aber auch der soll-modalen Passivparaphrase wird der Eindruck bei den Bürgern und Bürgerinnen verstärkt, dass die Straßenverkehrsbehörde eine hoheitliche Institution darstellt. Die gleichzeitig auch vorhandene Dienstleistungsfunktion dagegen wird verdeckt, obwohl diese bei § 47 StVO als einer Gewährungsnorm im Vordergrund stehen sollte.

4 Zusammenfassung Mit diesem Beitrag soll auf die funktionelle Komplexität und die bisweilen interpretationsbedürftige Außenwirkung der in Gesetzestexten häufig vorkommenden modalpassivischen Konstruktionen aufmerksam gemacht werden. Bei Gesetzen wie der Straßenverkehrsordnung, als deren Adressat man die rechtsteilnehmende Allgemeinheit benennen muss, müssen besonders hohe Anforderungen an die allen Bevölkerungskreisen zugängliche Verstehbarkeit gestellt werden. Die Gesetzessprache bildet nur eine Subklasse der Rechtssprache. Andere Subklassen der Rechtssprache stellen die Sprache der Verwaltung im weitesten Sinne, die Sprache der Rechtsprechung und die Wissenschaftssprache der Rechtswissenschaft dar. Auch die Sprache der Verwaltung sowie die Sprache der Rechtsprechung müssen den jeweiligen Adressaten vermittelbar sein. Allerdings lassen sich in diesen beiden Bereichen fachsprachliche Passagen

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nicht vermeiden, die allerdings auch dem Gebot der Verstehbarkeit unterworfen werden sollten. Der Wissenschaftssprache der Rechtswissenschaft muss die gleiche fachsprachliche Eigenständigkeit zugebilligt werden wie den Wissenschaftssprachen anderer Disziplinen. Wenn man den Bereich der juristischen Wissenschaftssprache von den Bereichen des „sprachlich verfassten Rechts“ streng unterscheidet, kann man den Einwand des Germanisten Stickel (2001: 229), dass „die Juristen die Zunft“ seien, „die nur ein eingeschränktes Recht auf eine Fachsprache hat“, zugunsten der fachsprachlichen Eigenständigkeit auch der Rechtswissenschaft als solcher zurückstellen.

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Autorenverzeichnis Dr. Lars Bülow ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Passau. Außerdem ist er Postdoc im SFB Projekt „Deutsch in Österreich: Variation – Kontakt – Perzeption“ im Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die Sprachwandeltheorieforschung, die Sozio- und Varietätenlinguistik, die Angewandten Linguistik sowie die Text- und Stillinguistik. Er war zudem Visiting Scholar/Fellow an den Universitäten Cambridge (UK) und Groningen (NL). Prof. Dr. Jochen Bung lehrt Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der Allgemeinen Rechtsphilosophie die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen des Strafrechts. Prof. Dr. Udo Hahn hat den Lehrstuhl für Computerlinguistik am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena inne. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die automatische inhaltliche Analyse von Texten (für Anwendungen wie Informationsextraktion, Text Mining, Textzusammenfassung und multilinguales Information Retrieval) sowie semantische Technologien, vor allem die Entwicklung und automatische Bearbeitung von formal fundierten Ontologien. Anwendungsdomänen sind hierbei insbesondere die klinische Medizin, Biologie und andere Naturwissenschaften. Methodisch unterliegen seine Forschungsbeiträge dem Paradigma der datengetriebenen Computerlinguistik, die Verfahren des maschinellen Lernens unter massiver Nutzung großer linguistischer Ressourcen (annotierte Korpora, Lexika usw.) zur Textanalytik verwendet. Prof. Dr. Rüdiger Harnisch lehrt Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Passau. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Systemlinguistik (mit Schwerpunkt Morphologie), der Variationslinguistik (Dialektologie und Typologie) sowie der Zeichen- und Sprachwandeltheorie. Prof. Dr. Ulrike Krieg-Holz lehrt Germanistische Sprachwissenschaft an der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der theoretischen und empirischen Stil- und Variationsforschung, der Pragmatik, Lexikologie und Wortbildung sowie in verschiedenen Anwendungsfeldern der Sprachwissenschaft (z.B. Unternehmens- und Medienkommunikation). Dr. Kent D. Lerch ist Lehrbeauftragter am Fachbereich Rechtswissenschaft der JohannWolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind das deutsche und europäische Privatrecht und die Grundlagen des Rechts: Rechtsgeschichte, Rechtstheorie und Rechtsvergleichung. Sein besonderes Interesse gilt der Sprache des Rechts, dem Prozess der Rationalisierung des Rechts in der Moderne und den Herausforderungen von Digitalisierung und Globalisierung an die juristische Methodik. Er ist Mitglied des Beirats des Redaktionsstabs Rechtssprache im Bundesministerium der Justiz.

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Dr. Janine Luth ist seit 2012 Geschäftsführerin des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften (EZS), eine Forschungskooperation zwischen der Universität Heidelberg und dem Institut für Deutsche Sprache Mannheim. Sie ist zudem als wissenschaftliche Koordinatorin für den Bereich Sprachwissenschaft innerhalb der Neuphilologischen Fakultät Heidelberg tätig und lehrt regelmäßig am Germanistischen Seminar Heidelberg sowie an der Beijing Foreign Studies University (BFSU) in China. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Rechtslinguistik, der Diskurslinguistik und der Mehrsprachigkeitsforschung. Prof. Dr. Karin Luttermann lehrt Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität EichstättIngolstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Grammatik, Orthographie, Semantik, Pragmatik und Diskursanalyse vor allem Textlinguistik, Fachsprachen, Sprachreflexion, Werbesprache und Rechtslinguistik. Sie wurde mit einer Arbeit über ein "Gesprächsanalytisches Integrationsmodell am Beispiel der Strafgerichtsbarkeit" (1996) promoviert und hat sich mit einer Untersuchung über "Sprachgebrauch und Verständlichkeit. Rechtskommunikation im deutschen und interkulturellen Kontext" (2009) habilitiert. Prof. Dr. Sabine Müller-Mall hat eine Professur für Rechts- und Verfassungstheorie an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden inne. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Rechtsphilosophie, der Verfassungstheorie und des Verfassungsrechts. Insbesondere untersucht sie das juridische Urteilen, die Transnationalisierung von Recht und Verfassung sowie das Verhältnis von Recht und Sprache. Julia Muschalik ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Englische Sprachwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo sie derzeit in einem Projekt für interdisziplinäre Lehre zum domänenspezifischen Gebrauch des Englischen beschäftigt ist. Ihre Forschungsinteressen umfassen neben Englisch als Fachsprache – insbesondere im Spannungsfeld Sprache und Recht – vor allem Pragmatik und Diskursanalyse. In ihrem Promotionsprojekt beschäftigte sie sich mit Form und Funktion sprachlicher Drohungen. Georgia Stefanopoulou war von 2011 bis 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Passau. Sie ist Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Forschungsinteresse gilt insbesondere den allgemeinen Zurechnungslehren des Strafrechts. Prof. Dr. Gerd Strohmeier ist Politikwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber für Europäische Regierungssysteme im Vergleich an der TU Chemnitz. Zudem ist er in verschiedenen Formen als Politikberater tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen in jüngster Vergangenheit insbesondere Fragen des Wahlrechts, zu denen er wiederholt im Deutschen Bundestag und Sächsischen Landtag als Sachverständiger gehört wurde. Strohmeier war mehrfach Visiting Scholar/Fellow an den Universitäten Cambridge und Durham.

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PD Dr. Igor Trost lehrt Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der deutschen Sprachgeschichte und der Semantik insbesondere die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache und deren Interdependenz mit der Pragmatik sowie die Varietätenlinguistik von der Dialektologie bis hin zur Sondersprachforschung (Politische Sprache, Mediensprache, Rechtssprache, Werbesprache). Prof. Dr. Rainer Wernsmann lehrt Öffentliches Recht an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen das deutsche und europäische Finanz- und Steuerrecht sowie Verfassungsrecht.

Index Abstreitbarkeit 105 Agensdefokussierung 267 Agenseliminierung 267 Aktualisierungsmoment 27 Anredeformen 210, 254 Anschlusskommunikation 208 Aufforderungssatz 214–215 Auslegungspraxis 38, 171, 184 Äußerungssituation 228 Austin, John L. 5–7, 22, 68, 101–103 Autorenerkennung 191, 197–199, 231, 237, 245–246 Bedeutungsfestsetzung 130 Bedeutungsfixierungsversuche 141 Bedeutungspotential 41 Begrüßungsformeln 201, 240, 254 Beleidigung 104, 227 Bindungswirkung 72, 154 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 133, 154, 169 Butler, Judith 24–28 Chomsky, Noam 6–7, 29, 163 Commitment-Problem 90 Common Law 55–57 Computerlinguistik 191, 247 Davidson, Donald 41, 71 Denkmuster 50, 139 Derrida, Jacques 7–8, 25, 46 différance 8 Differenz 24–25 Differenzvermutung 32–33 Diskursakteure 138–139 Diskurslinguistik 137–139 Dogmatik 53–56, 130 Drohung, indirekte 103–106, 203 Drohungspotential 108, 124 Entscheidungstexte 134 Entschuldigungsgrund 54–56 Ereignishaftigkeit 24–25 Erlaubnistatbestandsirrtum 53–55

Erpresserschreiben 241 Erpressung 104, 198–200, 242 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 133, 141, 148 expressive Lexik 256 Fachdiskurs 139 Fachsprache, -wörter, -jargon 53, 131–133, 182, 196, 230, 238, 257, 274 Fehleranalyse 232–234 Folgekommunikation 200 Forensische Linguistik 191–197, 227, 245– 246 Forensischen Textanalyse 231–233 Formulierungsmuster 228 Gadamer, Hans-Georg 36 Gefangenendilemma 87–95 Gegenwartsorientierung 49 Gelingensbedingung 6, 115 gender-studies 8 Gerechtigkeit 35 Gerichtsrede 26 Gerundiv 271–274 Gesellschaftsvertrag 64–65, 82–83 Gesetzesformulierung 28 Gesetzessprache 166–170, 268 Gesetzestext 4, 45–46, 166–170, 267 Gesichtswahrung 206 Görgülü 133–134 Handlungsabsicht 105–106 handlungsleitende Konzepte 131 Handlungsmuster 50, 165 Handlungsstrategie 228 Hermeneutik 36–37 hermeneutischer Zirkel 37 Herrschaft 72, 80–81 Hobbes, Thomas 63–77, 79–97 Höflichkeit 206–207 Humboldt, Wilhelm von 50 Hybridisierung 31 Hypertext 37–39

282 | Index

Idiolekt 196 Illokution 70–71, 112–114, 203 Imperativ 214–216 Implikation 116 Implikatur 165 Indexikalität 164 Individualstil 237–238 inferentielle Pragmatik 165 Inferenz 125, 164–165 Inszenierung 8, 23, 40–41, 216–218 Intentionalismus, semantischer 71 Intertextualität 137–138, 167 Iterabilität 7, 25 Iterativität 271 juristische Praxis 58–59, 107 Kant, Immanuel 69 Kommunikationsbereich 228 kommunikatives Handeln 71, 228 kontextuelle Verankerung 122–124 Kontingenz 43, 207 Kontraktualismus 81–85 Konventionalität 199 konventionelle Muster 131, 193–194 Konventionen 70–71, 113, 131, 193 Kooperation 66–68, 91–93, 155–156 Korpora 106–109, 134–137, 208, 246–251 korpusanalytischer Ansatz 242 kulturwissenschaftliche Wende 8 Laien, juristische 130, 166–168 lebenslänglich 179–182 Legitimation 39–40, 80–84 Legitimität 13, 39, 83 Leitkonzept 139–140 Lesart des Rechts 40–43 Leviathan 64–66, 84–87 linguistische Relativität 51–54 Locke, John 86 Lokution 105–106 Machiavelli, Niccolò 85 Mediendiskurs 148 Medienkonstellation 9, 40 Mehrperspektivität 174–176 Merkmalsbündel 231–234

Methodenlehre 35–37 Modalpassiv 267–269 Modalverb 203 Mündlichkeit 27, 257–258 Musterwissen 194 Naturrecht 72–74, 85–87 Naturzustand (Ur-Zustand) 74, 84–87 Nominalisierungen 57–58, 168 Nominalstil 57–58, 230, 238–239, 257 normativistische Theorien 26 Normtext 40–43, 129–132 Normverstöße 232 Partizipial-Konstruktionen 57 Performanz 6–8, 22–25, 40, 63 performative Äußerung 5, 63 performative Kraft 10, 68–69, 79, 106–107, 223 performative Logik 44 performative Rechtserzeugung 9–10, 27–30 performative turn 3, 35 performative Varianz 248 performative Verben 114, 267 performative Wende 35 performativen Verb 202–3 performatives Ereignis 24–25, 192 Performativität 4–8, 22–26, 58–59, 84, 101– 103, 192 Performativitätstheorie 5 Perlokution 70, 106, 116–117 perlokutionäre Effekte 70, 122–124 Personaldeixis 211–212, 219 Politik 79–80 Pönalisierung 125 Postskript 42–45, 210 pragma-semiotische Textarbeit 138 Pragmastilistik 196 Pragmastilistilistik 228 Präskript 42–45 Präsupposition 165 Printmediendiskurs 148 protokontraktuale Bindung 68–72 Ratifizierung 116–117 Rawls, John 84 Rechtsanwendung 43–46

Index | 283

Rechtsarbeiter 129 Rechtsauslegungsakte 10 Rechtsdenken 38, 57 Rechtsdiskurs 103 Rechtsfolge 176–183, 266 Rechtsförmlichkeit 169 Rechtskommunikation 173–175 Rechtslinguistik 129–130 Rechtslinguistisches Verständlichkeitsmodell 173–176 Rechtsnormativität 28–33 Rechtsnormen, positive 27 Rechtspositivismus 26, 73, 86 Rechtspragmatik 129–131 Rechtsproduktion 43–44 Rechtsquelle 42–43 rechtsrealistische Theorien 26 Rechtssemantik 129–131 Rechtsstreit 105, 133 Rechtswirklichkeit 26 Rechtswirksamkeit 266 rekursiv 28–30 Rekursivität 28–30 Relationalität 28–31 Relevanztheorie 166 Rezeptionsgeflecht 31 Rezeptivität 30–31 Rousseau, Jean-Jaques 80 Routine 196, 222, 248 Sapir-Whorf-Hypothese 50–52 Schriftsprache 197, 241–42, 245 Searle, John 7, 102 Selbstbezüglichkeit 25–26 Selbstdarstellung 207, 228 Selektion 196–198, 228–230 Semantik 43, 164 semantische Kämpfe 137–139 Sinnerzeugung 42 Sinnzuschreibung 27–28 Soziolinguistik 172, 196 Spieltheorie 87–95 Sprachgemeinschaft 52–53, 165, 196–197 Sprachhandlungen 74, 102, 129, 202–204 Sprachökonomie 168–170, 267 Sprachphilosophie 5–7, 22–23, 65, 163 Sprachspiele 6, 165–166

Sprechakt 203 Sprechakte 63, 107–108, 250 Sprechakttheorie 3–6, 70–71, 101–103 Sprecherabsicht 120 Sprecherintention 101 Stilanalyse 194–198, 227–234 Stilebenen 229–230, 256 Stilelement 228 Stilistik 195–199, 227–228, 245–246, 259– 261 Stilwert 222, 255 Strafrecht 53–54, 104–106, 169–171 Straßenverkehrsordnung 265–267 Synchronisierung 196–197 syntaktische Komplexität 254–255 Täterprofile 194, 231–232 Täuschung 68, 234–239 Textarbeit 138, 168 Textgeflecht 138 Textlinguistik 167, 192–197 Textproduktion 38–39, 169, 193–195, 234– 241 Textsorte 238 Textsorten 137–138, 195–206, 246–248 Textsortenmerkmale 201–206, 231–233 Textsortenwissen 192–194 Textvergleich 231–234, 245 Transkription 41–43 Transkriptivität 41 Transtextualität 138 Triangulierung des Verstehens 37 Übersetzung 41, 52–54 uptake 116–118 Urteilsbegründung 41, 107–110 Usualisierung 273 Vagheitspotenzial 130 Varietätenlinguistik 195–197 verbale Drohung 112–114 Verbalstil 57–58 Verfahrensbeteiligte 35, 131 Vergesellschaftung der Individuen 72–74 Verständlichkeit 67–68, 168–170, 234–238 Verständlichkeitsmodell 171–175 Verständnishypothese 36

284 | Index

Verstehensbedingungen 268 Vertragstheorie 64–65, 79–84 Vorgängigkeit 25–26 Weltbild 52 Whorf, Benjamin Lee 50–53

Widerstreit der Lesarten 41–46 Wirkungspotential 101 Wissensrahmen 150–154, 175–176 Wittgenstein, Ludwig 6, 165–166 Wortlaut 103–106, 183–185