Pädiatrie [5. Aufl.] 978-3-662-57294-8, 978-3-662-57295-5

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Pädiatrie [5. Aufl.]
 978-3-662-57294-8, 978-3-662-57295-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XX
Front Matter ....Pages 1-1
Humangenetik (G. Gillessen-Kaesbach, Y. Hellenbroich)....Pages 3-22
Front Matter ....Pages 23-23
Grundlagen der Ernährung (B. Koletzko)....Pages 25-39
Metabolische Erkrankungen (G. F. Hoffmann)....Pages 41-73
Front Matter ....Pages 75-75
Neonatologie (C. P. Speer)....Pages 77-133
Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin (J.-H. Schiffmann)....Pages 135-155
Front Matter ....Pages 157-157
Entwicklung, Entwicklungsstörungen und Risikofaktoren (R. Michaelis)....Pages 159-167
Epilepsie (H. Todt)....Pages 169-177
Nervensystem (E. Boltshauser, A. M. Kaindl, O. Ipsiroglu, I. Krägeloh-Mann, K. Rostásy, M. Schöning et al.)....Pages 179-220
Neuromuskuläre Erkrankungen (A. M. Kaindl, U. Schara, M. Schülke-Gerstenfeld)....Pages 221-235
Front Matter ....Pages 237-237
Immunologie (H. von Bernuth, J. Roesler)....Pages 239-252
Allergologie (R. Urbanek, K. Nemat)....Pages 253-263
Rheumatologie (H.-I. Huppertz)....Pages 265-278
Front Matter ....Pages 279-279
Das fiebernde Kind (H.-I. Huppertz)....Pages 281-285
Virusinfektionen (V. Schuster, H. W. Kreth)....Pages 287-325
Bakterielle Infektionen (D. Nadal, C. Berger)....Pages 327-369
Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin (R. Bialek, G. Dostal)....Pages 371-399
Impfungen (U. Heininger)....Pages 401-410
Front Matter ....Pages 411-411
Pneumologie interdisziplinär (M. Kopp, C. Vogelberg, M. Dübbers, E. Paditz)....Pages 413-443
Zystische Fibrose (H. Hebestreit, A. Hebestreit)....Pages 445-450
Front Matter ....Pages 451-451
Herz und Gefäße (M. Khalil)....Pages 453-483
Hypertonie (D. Haffner, M. Khalil)....Pages 485-491
Front Matter ....Pages 493-493
Gastroenterologie interdisziplinär (C. Hünseler, M. Dübbers)....Pages 495-538
Front Matter ....Pages 539-539
Hämatologie (M. Lauten, M. Erlacher, R. Knöfler)....Pages 541-570
Onkologie (G. Henze, T. Klingebiel, S. Rutkowski, P.-G. Schlegel)....Pages 571-604
Front Matter ....Pages 605-605
Niere und Harnwege interdisziplinär (D. Haffner, C. Petersen)....Pages 607-642
Front Matter ....Pages 643-643
Endokrinologie interdisziplinär (J. Wölfle, P.-M. Holterhus, P. G. Oppelt, L. Wünsch, J. O. Semler, E. Schönau et al.)....Pages 645-701
Front Matter ....Pages 703-703
Orthopädie (F. Thielemann)....Pages 705-728
Ophthalmologie (F. Grehn, W. E. Lieb, H. Steffen)....Pages 729-758
Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie (R. Lang-Roth, M. Dübbers)....Pages 759-776
Dermatologie (M. Meurer, R. Aschoff, M. Gahr)....Pages 777-798
Zahnmedizin (G. Krastl, A. Stellzig-Eisenhauer)....Pages 799-810
Front Matter ....Pages 811-811
Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik (V. Mall, G. Hahn, R. von Kries, O. Fricke)....Pages 813-844
Front Matter ....Pages 845-845
Palliativmedizin und Schmerztherapie (B. Zernikow)....Pages 847-856
Back Matter ....Pages 857-879

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Christian P. Speer · Manfred Gahr Jörg Dötsch Hrsg.

Pädiatrie 5. Auflage

Pädiatrie

Christian P. Speer Manfred Gahr Jörg Dötsch (Hrsg.)

Pädiatrie 5., vollständig überarbeitete Auflage Mit 543 Abbildungen und 276 Tabellen

123

Herausgeber Christian P. Speer Universitätsklinikum Würzburg, Kinderklinik, Würzburg, Deutschland [email protected] Manfred Gahr Dresden, Deutschland [email protected] Jörg Dötsch Universitätsklinikum Köln, Kinder- und Jugendklinik Köln, Deutschland [email protected]

ISBN 978-3-662-57294-8 ISBN 978-3-662-57295-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; d ­ etaillierte bibliogra­fische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2001, 2005, 2009, 2013, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be­rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Ver­öffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische ­Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlaggestaltung: deblik Berlin Fotonachweis Umschlag: © iStock.com/Rawpixel (Symbolbild mit Fotomodellen) Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Vorwort zur 5. Auflage Liebe Leserinnen und Leser, mit großer Freude präsentieren wir Ihnen das als „Speer/ Gahr“ bekannte Lehrbuch „Pädiatrie“ in 5. Auflage mit einem erweiterten Herausgeberteam. Herr Prof. Dötsch hat diese Auflage als Ko-Herausgeber wesentlich mitgestaltet, sodass jetzt vom „Speer/Gahr/Dötsch“ die Rede sein muss. Seit vielen Jahren bietet Ihnen dieses Werk die Möglichkeit, sich prägnant, aber umfassend über die aktuelle Kinder- und Jugendmedizin und ihre Randgebiete zu informieren. Wir haben daher in der nun vorliegenden Ausgabe ­besonderen Wert darauf gelegt, dass nicht ein Nachschlagewerk, sondern ein in angemessenem Zeitrahmen erfassbares Werk für Fort- und Weiterbildung entsteht. Insbesondere beinhaltet die Neuauflage ein neues Konzept im Hinblick auf die Abstimmung der Pädiatrie mit ihren v. a. operativen Partnerdisziplinen. So sind die Kapitel Gastroenterologie, Endokrinologie, Niere und Harnwege sowie Atemwegserkrankungen interdisziplinär von pädiatrischen und kinderchirurgischen Kollegen verfasst, um Ihnen ein einheitliches Versorgungskonzept präsentieren zu können. Auch pädiatrische Gebiete, die sich zwischen verschiedenen Fachdisziplinen bewegen, wie die Hypertensiologie, sind nun erstmals gemeinsam kinderkardiologisch und kindernephrologisch konzipiert. Flankiert werden die neuen Maßnahmen, wie Sie es ­kennen, von einer Vielzahl didaktischer Hervorhebungen im Text, die das Lesen und auch die Übersicht über die verschiedenen Kapitel vereinfachen. Diese 5. Auflage haben neben vielen langjährigen Autoren eine Reihe neuer Kollegen mit großem Engagement maßgeblich mitgestaltet, und wir möchten allen – auch den ausgeschiedenen Autoren, die zum Erfolg dieses vor nahezu 20 Jahren ins Leben gerufenen Projekts beigetragen haben – von Herzen danken. Besonders danken möchten wir auch den verantwortlichen Mitarbeitern des Springer Verlags, die diese Neuauflage möglich gemacht und viel Energie in die Gestaltung des Buches investiert haben: Frau Dr. Christine Lerche, Senior Editor, Frau Kerstin Barton, Projektmanagerin und Kollegin Sirka Nitschmann, Copy Editorin.

Wir hoffen sehr, Sie mit diesem neu konzipierten, durch Kürzungen prägnanter geformten Pädiatrie-Lehrbuch in Ihrer persönlichen Fort- und Weiterbildung umfassend unterstützen zu können. Ihre

Christian P. Speer Manfred Gahr Jörg Dötsch

Würzburg, Dresden, Köln

Vorwort zur 1. Auflage Als wir von Frau Repnow, Programmleiterin des Springer-Verlages, das Angebot erhielten, ein umfangreiches Lehrbuch der Pädiatrie herauszugeben, haben wir nicht lange gezögert. Da waren eine Reihe inhaltlicher Argumente, die diese Entscheidung leicht gemacht haben: das bestechende didaktische Konzept des geplanten Buches, die hochqualifizierte Ausstattung mit einem neuen Layout, die große Zahl der farbigen Abbildungen und das überzeugende Preis-/Leistungsverhältnis. Allerdings gab es auch ein gewichtiges persönliches Motiv; wir- die beiden Herausgeber- blicken auf eine langjährige, gemeinsame, klinische und wissenschaftliche Zusammenarbeit in Göttingen und eine langjährige Freundschaft zurück. Mit diesem Buch können wir einen bereits seit langem bestehenden Wunsch realisieren, nämlich ein Lehrbuch der Pädiatrie mitzugestalten, das zum Lesen anregt und vielleicht sogar herausfordert. Es soll nicht nur ein Gewinn für den interessierten Medizinstudenten, den Arzt im Praktikum und pädiatrischen Assistenzarzt darstellen, sondern auch Kollegen anderer Fachbereiche, die beruflich oder privat mit Kindern zu tun haben, einen profunden Einblick in die Kinderheilkunde geben. Wir haben bei der Auswahl der Themen versucht, der zunehmenden Spezialisierung innerhalb der Pädiatrie Rechnung zu tragen, ohne die immense Breite dieses Fachgebiets einzuengen. Im Gegenteil, wir haben einige Bereiche der Kinderheilkunde wie z. B. die Entwicklungsneurologie und den Umgang mit sterbenden Kindern in den Themenkatalog mitaufgenommen und darüber hinaus auch den interdisziplinären Bereichen wie der pädiatrischen Ophthalmologie, Urologie u.a. angemessenen Raum gelassen. Der Leser möge darüber urteilen, ob wir bereits in dieser Auflage unser Ziel erreicht haben; für konstruktive Kritik bedanken wir uns bereits an dieser Stelle. Wir sind den Autoren des Buches – alle ausgewiesene Spezialisten in ihrem Fachgebiet – ausgesprochen dankbar, daß sie sich mit so großer Motivation für dieses Projekt engagiert haben, und dastrotzeines strengen Zeitplans. Nur so war es möglich, das Intervall zwischen Manuskriptabgabe und Erscheinen des Buches so kurz wie möglich zu halten, ein Faktum, das eine große Aktualität des Buches gewährleistet. Dieses Projekt ist von Anfang an von Frau Andrea Feldwieser, Chefsekretärin der Abteilung Neonatologie der Universitäts-Kinderklinik Tübingen mit getragen worden. Für die äußerst engagierte, hocheffektive und kreative Hilfe sind wir ihr zu größtem Dank verpflichtet.

Ebenso möchten wir den verantwortlichen Damen des Springer-Verlags, Frau Repnow und Frau Blasig, für die harmonische und stimulierende Zusammenarbeit danken, ohne die ein solch aufwendiges Werk nicht hätte entstehen können; Frau Uhing danken wir für die ideenreiche Gestaltung des Buches. Christian P. Speer Manfred Gahr

Würzburg, Dresden, September 2000

VII

Inhaltsverzeichnis I Humangenetik 1 Humangenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 G. Gillessen-Kaesbach, Y. Hellenbroich

1.1 Klinische Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.2 Chromosomale Aberrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Störungen der Geschlechtschromosomen (gonosomale Chromosomenstörungen) . . . . . . . . . . . . 8 1.4 Mikrodeletionssyndrome („contiguous gene syndromes“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.5 Weitere Mikrodeletionssyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.6 Monogene Fehlbildungs-Retardierungs-Syndrome mit geklärter molekularer Ätiologie . . . . . . . . . 17 1.7 Humangenetische Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.8 Next generation sequencing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

II

Ernährung und metabolische Erkrankungen

2

Grundlagen der Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Koletzko

2.1 Muttermilchernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.2 Säuglingsmilchnahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.3 Alimentäre Allergieprävention im Säuglingsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.4 Prophylaxe mit Vitamin K und D sowie Fluorid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.5 Beikost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.6 Therapie von Nahrungsmittelallergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.7 Ernährung bei Durchfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.8 Spucken, Blähungen, Dreimonatskoliken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.9 Untergewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.10 Übergewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.11 Ernährung ehemaliger Frühgeborener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

3

Metabolische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 G.F. Hoffmann

3.1 Neugeborenenscreening . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.2 Spezialdiagnostik angeborener Stoffwechselerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.3 Hyperammonämie und Harnstoffzyklusdefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3.4 Laktatazidose und Mitochondriopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.5 Hypoglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.6 Störungen des Galaktosestoffwechsels (Galaktosämien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.7 Störungen des Fruktosestoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.8 Glykogenosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.9 Aminoazidopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.10 Aminosäurentransportstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.11 Organoazidopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.12 Peroxisomale Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.13 Cholesterolbiosynthesedefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.14 CDG-Syndrome („congenital disorders of glycosylation“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.15 Lysosomale Speicherkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.16 Lipidstoffwechselstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

VIII

Inhaltsverzeichnis

III

Neonatologie, pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin

4 Neonatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 C.P. Speer

4.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.2 Postnatale Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.3 Untersuchung des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.4 Reanimation Früh- und Neugeborener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.5 Perinatale Schäden und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.6 Das Frühgeborene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.7 Lungenerkrankungen des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.8 Bluterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.9 Nekrotisierende Enterokolitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.10 Fetale und neonatale Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.11 Neugeborenenkrämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.12 Metabolische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

5

Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 H. Schiffmann

5.1 Kardiopulmonale Reanimation im K ­ indesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.2 Intubation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.3 Analgosedierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.4 Beatmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.5 Respiratorisches Versagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.6 Sepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.7 Akutes Nierenversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.8 Polytrauma und Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.9 Ertrinkungsunfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5.10 Der plötzliche Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome, SIDS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

IV Neurologie 6

Entwicklung, Entwicklungs­störungen und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 R. Michaelis [†]

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Entwicklungspädiatrie und Entwicklungsneurologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Die normale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Risikofaktoren für die kindliche E ­ ntwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Frühe Lernstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Entwicklungspädiatrische Beurteilung d ­ er Schulfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

7 Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 H. Todt

7.1 Zerebrale Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 7.2 Fieberkrämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 7.3 Neugeborenenkrämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 7.4 Nichtepileptische Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

8 Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 E. Boltshauser, A.M. Kaindl, O.S. Ipsiroglu, I. Krägeloh-Mann, K. Rostasy, M. Schöning, S. Stöckler-Ipsiroglu, J. Krauss, T. Schweitzer

8.1 Neurologische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 8.2 Entwicklungsstörungen des Zentralnervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 8.3 Hydrozephalus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8.4 Kraniosynostosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 8.5 Lagerungsasymmetrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 8.6 Gedeckte spinale Fehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

IX Inhaltsverzeichnis

8.7 Zerebralparesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 8.8 Neuro- und heredodegenerative E ­ rkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 8.9 Globale Entwicklungsverzögerung und Intelligenzminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 8.10 Vaskuläre Malformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 8.11 Ischämische zerebrale Insulte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 8.12 Sinus- und Hirnvenenthrombosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 8.13 Kopfschmerzen und Migräne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 8.14 Traumatische Schädigungen des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 8.15 Entzündliche Erkrankungen des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 8.16 Neurologische Mitbeteiligung bei systemischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 8.17 Neurologische Manifestationen bei Intoxikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

9

Neuromuskuläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 A.M. Kaindl, U.Schara, M. Schülke-Gerstenfeld

9.1 Spinale Muskelatrophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 9.2 Polyradikuloneuritis Guillain-Barré . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 9.3 Hereditäre Neuropathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 9.4 Myasthenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 9.5 Myotonie, periodische Paralyse und Paramyotonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 9.6 Myotone Dystrophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 9.7 Muskeldystrophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 9.8 Kongenitale Strukturmyopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 9.9 Mitochondriopathien und ­Atmungs­kettendefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

V Immunsystem 10 Immunologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 H. v. Bernuth, J. Roesler

10.1 Phagozytendefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 10.2 Störungen der humoralen Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 10.3 T-Lymphozytendefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 10.4 Komplementdefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 10.5 Weitere angeborene Immundefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 10.6 Sekundäre Immundefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 10.7 Praktische Hinweise bei Immundefekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

11 Allergologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 R. Urbanek, K. Nemat

11.1 Allergie, Hyperreagibilität, Atopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 11.2 Allergene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 11.3 Immunglobulin E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 11.4 Zellen und Mediatoren allergischer R ­ eaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 11.5 Vererbung und Vorhersage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 11.6 Klinische Manifestationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 11.7 Allergiediagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 11.8 Grundsätze der Allergietherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 11.9 Primäre Allergieprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 11.10 Verzögert auftretende allergische R ­ eaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

12 Rheumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 H.-I. Huppertz

12.1 12.2 12.3 12.4 12.5

Juvenile idiopathische Arthritis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 HLA-B27-assoziierte juvenile S ­ pondylarthritiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Infektassoziierte Arthritiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Systemischer Lupus erythematodes (SLE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Juvenile Dermatomyositis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

X

Inhaltsverzeichnis

12.6 Sklerodermie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 12.7 Mischkollagenose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 12.8 Vaskulitissyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 12.9 Weitere rheumatische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

VI Infektiologie 13

Das fiebernde Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 H.-I. Huppertz

13.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 13.2 Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 13.3 Besondere Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 13.4 Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 13.5 Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 13.6 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 13.7 Chronisches rezidivierendes Fieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

14 Virusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 V. Schuster, H.W. Kreth

14.1 Herpes-simplex-Virus-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 14.2 Varizella-Zoster-Virus-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 14.3 Epstein-Barr-Virus-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 14.4 Zytomegalievirusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 14.5 Herpesvirus-Typ-6-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 14.6 Herpesvirus-Typ-7-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 14.7 Herpesvirus-Typ-8-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 14.8 Hepatitis A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 14.9 Hepatitis B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 14.10 Hepatitis C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 14.11 Hepatitis D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 14.12 Hepatitis E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 14.13 Infektionen mit weiteren hepatotropen ­Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 14.14 Parvovirus-B19-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 14.15 Gastrointestinale Virusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 14.16 Adenovirusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 14.17 Rhinovirusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 14.18 Respiratory-Syncytial-Virus-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 14.19 Infektionen durch humane P ­ apillomaviren (HPV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 14.20 Masern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 14.21 Röteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 14.22 Mumps, Parotitis epidemica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 14.23 Slow-Virus-Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 14.24 Tollwut (Rabies, Lyssa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 14.25 Poliomyelitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 14.26 Enterovirusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 14.27 Parechovireninfektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 14.28 Hantavirusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 14.29 Frühsommermeningoenzephalitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 14.30 HIV-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 14.31 Influenza (Grippe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 14.32 Parainfluenzavirusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 14.33 Weitere atemwegsassoziierte Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

XI Inhaltsverzeichnis

15

Bakterielle Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 D. Nadal, C. Berger

15.1 Systemische Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 15.2 Oberer Respirationstrakt und Hals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 15.3 Unterer Respirationstrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 15.4 Bakterielle Infektionen des U ­ rogenitaltrakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 15.5 Haut- und Weichteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 15.6 Knochen und Gelenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 15.7 Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

16

Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 R. Bialek, G. Dostal

16.1 Intestinale Protozoeninfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 16.2 Intestinale Nematodeninfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 16.3 Taeniasis und Hymenolepiasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 16.4 Echinokokkose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 16.5 Kutane Larva migrans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 16.6 Toxokariasis (Larva migrans visceralis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 16.7 Toxoplasmose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 16.8 Trichinellose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 16.9 Malaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 16.10 Schistosomiasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 16.11 Leishmaniasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 16.12 Filariasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 16.13 Epizoonosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 16.14 Mykosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 16.15 Reisemedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

17 Impfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 U. Heininger

17.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 17.2 Allgemein empfohlene Impfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 17.3 Indikationsimpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 17.4 Reiseimpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

VII Pneumologie 18

Pneumologie interdisziplinär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 M. Kopp, C. Vogelberg, M. Dübbers, E. Paditz

18.1 Anatomische und physiologische entwicklungsabhängige Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 18.2 Angeborene Fehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 18.3 Angeborene Lungenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 18.4 Akute und chronische Entzündung der oberen Luftwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 18.5 Akute und chronische Entzündung der Trachea und des Bronchialsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 18.6 Akute und chronische Entzündung der Lunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 18.7 Bronchiolitis obliterans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 18.8 Bronchiektasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 18.9 Interstitielle Lungenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 18.10 Systemkrankheiten mit Beteiligung der Lunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 18.11 Aspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 18.12 Thoraxtrauma und Erkrankungen der Pleura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 18.13 Tumoren der Lunge und der Pleura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 18.14 Schlafmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

XII

Inhaltsverzeichnis

19

Zystische Fibrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 H. Hebestreit, A. Hebestreit

19.1 Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 19.2 Manifestationen der zystischen Fibrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 19.3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 19.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 19.5 Zentrumsversorgung bei zystischer F ­ ibrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

VIII Herz-Kreislauf-System 20

Herz und Gefäße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 M. Khalil

20.1 Angeborene Herzfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 20.2 Primär azyanotische Herzfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 20.3 Zyanotische Herzfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 20.4 Entzündliche Herzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 20.5 Kardiomyopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 20.6 Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480

21 Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 D. Haffner, M. Khalil

IX Gastroenterologie 22

Gastroenterologie interdisziplinär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 C. Hünseler, M. Dübbers

22.1 Mund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 22.2 Ösophagus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 22.3 Zwerchfell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 22.4 Bauchwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 22.5 Magen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 22.6 Akutes Abdomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 22.7 Gastrointestinale Blutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 22.8 Chronisches Bauchschmerzsyndrom, funktionelle gastrointestinale Störungen . . . . . . . . . . . . . . . 506 22.9 Akute Gastroenteritis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 22.10 Dünndarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 22.11 Chronisch-entzündliche ­Darmerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 22.12 Dickdarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 22.13 Leber und Gallenwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 22.14 Pankreas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 22.15 Peritoneum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538

X

Hämatologie – Onkologie

23 Hämatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 M. Lauten, M. Erlacher, R. Knöfler

23.1 Physiologie der Hämatopoese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 23.2 Hämatologische ­Untersuchungstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 23.3 Panzytopenien durch Bildungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 23.4 Erkrankungen der roten Zellreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 23.5 Störungen der Granulopoese und Granulozytenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 23.6 Erkrankungen des Monozyten-­Makrophagen-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 23.7 Die Milz und ihre Rolle bei h ­ ämatologischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 23.8 Therapie mit Blutkomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 23.9 Hämostaseologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561

XIII Inhaltsverzeichnis

24 Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 G. Henze, T. Klingebiel, S. Rutkowski, P.G. Schlegel

24.1 Leukämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 24.2 Maligne Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 24.3 Solide Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 24.4 Hirntumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 24.5 Stammzelltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598

XI 25

Niere und Harnwege Niere und Harnwege interdisziplinär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 D. Haffner, C. Petersen

25.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 25.2 Äußeres Genitale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 25.3 Nieren- und Harnwegsfehlbildungen (CAKUT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 25.4 Blasenentleerungsstörungen, Enuresis und funktionelle Harninkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 25.5 Harnwegsinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 25.6 Polyzystische Nierenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 25.7 Glomerulopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 25.8 Tubulopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 25.9 Tubulointerstitielle Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 25.10 Nierenvenenthrombose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 25.11 Akutes Nierenversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 25.12 Chronische Niereninsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 25.13 Dialyse und Transplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641

XII Endokrinologie 26

Endokrinologie interdisziplinär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 J. Wölfle, P.M. Holterhus, P.G. Oppelt, L. Wünsch, O. Semler, E. Schönau, C. Petersen

26.1 Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 26.2 Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 26.3 Hypothalamus-Hypophysen-Achse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 26.4 Schilddrüse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 26.5 Nebenschilddrüse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 26.6 Nebenniere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 26.7 Gonaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 26.8 Störungen bzw. Varianten der G ­ eschlechtsentwicklung (DSD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 26.9 Endokrine Neoplasiesyndrome und a ­ utoimmune polyglanduläre Endokrinopathien . . . . . . . . . . . 677 26.10 Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 26.11 Störungen des Kalzium-Phosphat-­Stoffwechsels, Rachitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 26.12 Fehlbildungen der Genitalorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 26.13 Zyklusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700

XIII Interdisziplinäre Pädiatrie 27 Orthopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 F. Thielemann

27.1 Obere Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 27.2 Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 27.3 Hüfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 27.4 Knie und Unterschenkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 27.5 Fuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 27.6 Achsen-, Längen- und Torsionsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721

XIV

Inhaltsverzeichnis

27.7 Angeborene Systemerkrankungen des Skeletts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 27.8 Angeborene Fehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 27.9 Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725

28 Ophthalmologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 F. Grehn, W.E. Lieb, H. Steffen

28.1 Anatomie des Auges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 28.2 Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 28.3 Erkrankungen der Orbita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 28.4 Erkrankung der Lider und ableitenden Tränenwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 28.5 Erkrankungen der Bindehaut und Hornhaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 28.6 Erkrankungen der Linse und des Glaskörpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 28.7 Glaukom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 28.8 Uveitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742 28.9 Erkrankungen der Netzhaut und Aderhaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 28.10 Erkrankungen des Sehnervs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 28.11 Strabismus und Motilitätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 28.12 Ophthalmologische Veränderungen bei Systemerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750 28.13 Neuroophthalmologische Erkrankungen im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750

29

Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 R. Lang-Roth, M. Dübbers

29.1 Ohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 29.2 Nase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 29.3 Nasopharynx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 29.4 Mundhöhle, Oropharynx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 29.5 Erkrankungen der Kopfspeicheldrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 29.6 Larynx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 29.7 Hals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 29.8 Kindlicher Spracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773

30 Dermatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 M. Meurer, R. Aschoff, M. Gahr

30.1 Effloreszenzenlehre und Untersuchung der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 30.2 Hautveränderungen bei Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 30.3 Genodermatosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780 30.4 Dermatomykosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 30.5 Hauterkrankungen durch Parasiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 30.6 Allergische Krankheiten und Ekzem­erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 30.7 Autoimmunkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 30.8 Blasenbildende Autoimmun­erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 30.9 Granulomatöse Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 30.10 Erythematosquamöse und papulöse Hauterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 30.11 Akne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 30.12 Benigne Tumoren und Nävi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 30.13 Störungen der Melaninpigmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795 30.14 Sonstige Hauterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796

31 Zahnmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 G. Krastl, A. Stellzig-Eisenhauer

31.1 31.2 31.3 31.4 31.5 31.6 31.7

Zahnentwicklung und Zahndurchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 Kariösbedingte Zahnschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 Säurebedingte Zahnschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Traumatischbedingte Zahnschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 Störungen der Zahnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 Erkrankungen des Zahnhalteapparats: Gingivitis und Parodontitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804 Kieferorthopädische Frühbehandlung im Säuglingsalter und Milchgebiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805

XV Inhaltsverzeichnis

XIV Epidemiologie – Sozial­pädiatrie – Psychosomatik 32

Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 V. Mall, G. Hahn, R. v. Kries, O. Fricke

32.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814 32.2 Sozialpädiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 32.3 Kindesmisshandlung und ­Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 32.4 Psychosomatische und psychische S ­ törungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825

XV 33

Palliativmedizin und Schmerztherapie Palliativmedizin und ­Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 B. Zernikow

33.1 Was ist pädiatrische Palliativmedizin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848 33.2 Ethische Aspekte der pädiatrischen P ­ alliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848 33.3 Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 851 33.4 Symptomkontrolle in der L­ ebensendphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858

Über die Herausgeber Christian P. Speer, FRCPE Prof. Dr. Christian P. Speer, FRCPE wurde 1952 in Kassel geboren und studierte in Göttingen Humanmedizin. Nach der Promotion begann er seine Facharztausbildung an der UniversitätsKinderklinik Göttingen, die durch einen knapp zweijährigen Forschungsaufenthalt am National Jewish Hospital and Research Center in Denver, USA unterbrochen wurde. 1986 wurde er zum klinischen Oberarzt ernannt und habilitierte sich im gleichen Jahr. Kurze Zeit später erhielt er eine Professur für Kinderheilkunde. 1994 wurde er zum ärztlichen Direktor der ­Abteilung Neonatologie der Universitäts-Kinderklinik Tübingen berufen und 1996 zum Fellow of the Royal College of Physicians, Edinburgh, gewählt. 1999 übernahm er den Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Universität Würzburg. Für seine wissenschaftliche Schwerpunkte im Bereich der Surfactant-Forschung sowie präund postnataler Entzündungsmechanismen erhielt er eine Reihe von internationalen Auszeichnungen u. a. die „Honorary Membership“ der „American Pediatric Society“ und der „­Russian Association of Perinatal Medicine“; von der „Perinatal Society of Australia and New Zealand“ wurde er zum „Geoffrey Thorburn Visiting Professor“ ernannt. Er war Präsident der „European Association of Perinatal Medicine“ und ist seit 15 Jahren „Editor-in-Chief“ der internationalen Fachzeitschrift „Neonatology“. Er ist ein gefragter Referent auf zahlreichen Kon­ gressen und Symposien weltweit.

Manfred Gahr Prof. Dr. med. Manfred Gahr, 1944 in Swinemünde auf Usedom geboren, studierte in Tübingen, München und Hamburg Medizin. Nach der Promotion war er als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen ­tätig. Anschließend erhielt er an den Universitätskliniken Hamburg und Göttingen seine Facharztausbildung. In Göttingen habilitierte er sich 1977 und wurde gleichzeitig zum Oberarzt ernannt. Von 1994 bis 2012 leitete er die Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden und war dort seit 2007 auch Vorsitzender des Kinder-Frauen-Zentrums. Berufspolitisch engagierte er sich als Generalsektretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen ­Tätigkeit waren die pädiatrische Immunologie und pädiatrische Rheumatologie. Zurzeit bekleidet er eine Seniorprofessur an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden.

Jörg Dötsch Prof. Dr. med. Jörg Dötsch,1965 in Darmstadt geboren, studierte in Mainz und Dublin Medizin. Weiterbildung zum Kinder- und Jugendarzt in Gießen und Erlangen. Seit 2000 Oberarzt. Seit 2010 Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln. Klinische Schwerpunkte in pädiatrischer Nephrologie, pädiatrischer Endokrinologie und Diabetologie sowie Neonatologie. Wissenschaftliche Schwerpunkte im Themengebiet „Perinatale Einflüsse auf die Gesundheit im weiteren Leben“. Derzeit Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen und des Zentrums für Frauen-, Kinder- und Jugendgesundheit an der Uniklinik Köln. Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.

XVII

Autorenverzeichnis Roland Aschoff, Dr. med. Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Klinik und Poliklinik für Dermatologie Dresden [email protected]

Gabriele Gillessen-Kaesbach, Prof. Dr. med.

Christoph Berger, Prof. Dr. med.

Franz Grehn, Prof. (em.) Dr. med.

Universität Zürich Kinderspital Zürich Zürich Schweiz [email protected]

Universitätsklinikum Würzburg Augenklinik und Poliklinik Würzburg [email protected]

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Institut für Humangenetik Lübeck [email protected]

Dieter Haffner, Prof. Dr. med. Ralf Bialek, Prof. Dr. med. LADR GmbH Medizinisches Versorgungszentrum Dr. Kramer & Kollegen Geesthacht [email protected]

Medizinische Hochschule Hannover Zentrum für Kinderheilkunde u. Jugendmedizin Hannover [email protected]

Gabriele Hahn, Dr. med. Eugen Boltshauser, Prof. (em.) Dr. med. Universität Zürich Kinderspital Zürich Zürich

Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Institut für Radiologische Diagnostik – Kinderradiologie Dresden [email protected]

Gabriele Dostal, Dr. med.

Alexandra Hebestreit, Dr. med.

Klinik Höhenried gGmbH Psychosomatische Abteilung Bernried [email protected]

Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik Würzburg [email protected]

Martin Dübbers, Dr. med.

Helge Hebestreit, Dr. med.

Universitätsklinikum Köln Schwerpunkt Kinderchirurgie Köln [email protected]

Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik Würzburg [email protected]

Miriam Erlacher, Dr. med.

Ulrich Heininger, Prof. Dr. med.

Universitätsklinikum Freiburg Pädiatrische Hämatologie/Onkologie Freiburg [email protected]

Univ.-Kinderspital beider Basel (UKBB) Basel Schweiz [email protected]

Oliver Fricke, Prof. Dr. med.

Günter Henze, Prof. Dr. med. Dr. h.c.

Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Witten/Herdecke am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke Herdecke [email protected]

Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Berlin [email protected]

Georg F. Hoffmann, Prof. Dr. med. Prof. h.c. mult. Manfred Gahr, Prof. Dr. Dresden [email protected]

Universitätsklinikum Heidelberg Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Angelika-Lautenschläger-Klinik Heidelberg [email protected]

XVIII

Autorenverzeichnis

Yorck Hellenbroich, PD Dr. med.

Matthias Kopp, Prof. Dr. med.

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Institut für Humangenetik Lübeck [email protected]

Universitätsaklinikum Schleswig Holstein Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lübeck [email protected]

Paul-Martin Holterhus, Prof. Dr. med.

Ingeborg Krägeloh-Mann, Prof. Dr. med.

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel/ Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie Klinik für Kinder- und Jugendmedizin I Kiel

Universitätsklinikum Tübingen Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen [email protected]

Gabriel Krastl, Prof. Dr. med. Christoph Hünseler, PD Dr. med. Universitätsklinikum Köln Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Köln [email protected]

Universitätsklinikum Würzburg Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie Würzburg [email protected]

Jürgen Krauß, Dr. med. Hans-Iko Huppertz, Prof. Dr. med. Klinikum Bremen Mitte gGmbH Professor-Hess-Kinderklinik Bremen [email protected]

Universitätsklinikum Würzburg Neurochirurgische Klinik und Poliklinik Würzburg [email protected]

Hans Wolfgang Kreth, Prof. Dr. med. Osman Ipsiroglu, Prof. Dr. med. University of British Columbia British Columbia Children’s Hospital Vancouver Kanada [email protected]

Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik Würzburg [email protected]

Ruth Lang-Roth, PD Dr. med.

Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Berlin [email protected]

Universitätsklinikum Köln Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde Kopf- und Halschirurgie Phoniatrie und Pädaudiologie Köln [email protected]

Markus Khalil, Prof. Dr. med.

Melchior Lauten, Prof. Dr. med.

Universitätsklinikum Gießen Abt. Kinderkardiologie und angeborene Herzfehler Gießen [email protected]

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lübeck [email protected]

Thomas Klingebiel, Prof. Dr. med.

Wolfgang E. Lieb, Prof. Dr. med.

Universitätsklinikum Frankfurt Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Frankfurt [email protected]

St. Vincentius-Kliniken gAG Karlsruhe Augenklinik Karlsruhe [email protected]

Ralf Knöfler, Prof. Dr. med.

Volker Mall, Prof. Dr. med.

Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Dresden [email protected]

Technische Universität München kbo-Kinderzentrum München [email protected]

Berthold Koletzko, Prof. Dr. med.

Michael Meurer, Prof. Dr. med.

Klinikum der Universität München Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital München [email protected]

Dresden [email protected]

Angela M. Kaindl, Prof. Dr. med.

XIX Autorenverzeichnis

David Nadal, Prof. (em) Dr. med.

Eckhard Schönau, Prof. Dr. med.

Universität Zürich Kinderspital Zürich Zürich Schweiz [email protected]

Universitätsklinikum Köln Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Köln [email protected]

Markus Schülke-Gerstenfeld, Prof. Dr. med. Katja Nemat, Dr. med. Kinderzentrum Dresden-Friedrichstadt Dresden [email protected]

Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Berlin [email protected]

Patricia G. Oppelt, PD Dr. med.

Martin Schöning, Prof. Dr. med.

Universitätsklinik Erlangen Frauenklinik Erlangen [email protected]

Universitätsklinikum Tübingen Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen

Volker Schuster, Prof. Dr. med. Ekkehart Paditz, Prof. Dr. med. Dresden [email protected]

Universitätsklinikum Leipzig Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche Leipzig [email protected]

Claus Petersen, Prof. Dr. med. Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Kinderchirurgie Hannover [email protected]

Tilmann Schweitzer, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Würzburg Neurochirurgische Klinik und Poliklinik Würzburg [email protected]

Joachim Roesler, PD Dr. med. Hannover [email protected]

Kevin Rostásy, Prof. Dr. med. Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln Zentrum für Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie Datteln [email protected]

Stefan Rutkowski, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Klinik und Poliklinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Hamburg [email protected]

Ulrike Schara, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Essen Kinderklinik I – Neuropädiatrie Essen [email protected]

Jörg Oliver Semler, PD Dr. med. Universitätsklinikum Köln Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Köln [email protected]

Christian P. Speer, Prof. Dr. med., FRCPE Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik Würzburg [email protected]

Heimo Steffen, Prof. Dr. med. Département de Neurosciences Cliniques – Ophthalmologie Genève Schweiz [email protected]

Angelika Stellzig-Eisenhauer, Prof. Dr. med. dent.

Jan-Holger Schiffmann, Prof. Dr. med.

Universitätsklinikum Würzburg Poliklinik für Kieferorthopädie Würzburg [email protected]

Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Nürnberg

Sylvia Stöckler-Ipsiroglu, Prof. Dr. med.

Paul-Gerhardt Schlegel, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik Würzburg [email protected]

University of British Columbia British Columbia Children’s Hospital Vancouver Kanada [email protected]

XX

Autorenverzeichnis

Falk Thielemann, Dr. med. Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Universitäts Centrum für Orthopädie & Unfallchirurgie Dresden [email protected]

Horst Todt, Prof. (em) Dr. med. Dresden [email protected]

Radvan Urbanek, Prof. (em) Dr. med. Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinder-und Jugendmedizin Freiburg [email protected]

Christian Vogelberg, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Dresden [email protected]

Horst von Bernuth, Prof. Dr. med. Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Berlin [email protected]

Rüdiger von Kries, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin München [email protected]

Joachim Wölfle, Prof. Dr. med. Universität Bonn Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Bonn [email protected]

Lutz Wünsch, Prof. Dr. med. Universtitätsklinikum Schleswig-Holstein Klinik für Kinderchirurgie Lübeck [email protected]

Boris Zernikow, Prof. Dr. med. Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln [email protected]

1

Humangenetik Inhaltsverzeichnis Kapitel 1

Humangenetik – 3 G. Gillessen-Kaesbach, Y. Hellenbroich

I

3

Humangenetik G. Gillessen-Kaesbach, Y. Hellenbroich

1.1

Klinische Genetik  – 5

1.2

Chromosomale Aberrationen  – 5

1.2.1 Trisomie 21 (Down-Syndrom)  – 5 1.2.2 Weitere autosomale Aberrationen  – 8

1.3

Störungen der Geschlechtschromosomen (gonosomale ­Chromosomenstörungen)  – 8

1.3.1 Ullrich-Turner-Syndrom (UTS; 45,X)  – 9 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5

Triple-X-Syndrom (Trisomie X; 47,XXX)  – 10 Klinefelter-Syndrom (47, XXY)  – 10 Klinefelter-Varianten (48, XXXY, 49, XXXXY)  – 10 47,XYY  – 10

1.4

Mikrodeletionssyndrome („contiguous gene syndromes“)  – 10

1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.8

Prader-Willi-Syndrom  – 11 Angelman-Syndrom  – 12 Williams-Beuren-Syndrom  – 13 DiGeorge-Syndrom-Deletion 22q11  – 13 Smith-Magenis-Syndrom  – 14 Wolf-Hirschhorn-Syndrom  – 14 Rubinstein-Taybi-Syndrom  – 14 Wiedemann-Beckwith-Syndrom  – 14

1.5

Weitere Mikrodeletionssyndrome  – 15

1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6

Mikrodeletionssyndrom 1q21.1  – 15 Mikrodeletionssyndrom 9q34  – 15 Mikrodeletionssyndrom 15q13.3  – 16 Mikrodeletionssyndrom 16p11.2  – 16 Mikrodeletionssyndrom 17q21.31  – 16 Mikrodeletionssyndrom 22q13.3 (Phelan-McDermid-Syndrom)  – 17

1.6

Monogene Fehlbildungs-Retardierungs-Syndrome mit geklärter molekularer Ätiologie  – 17

1.6.1 Cornelia-de-Lange-Syndrom (CdLS)  – 17 1.6.2 Noonan-Syndrom, kardiofaziokutanes Syndrom, Costello-Syndrom  – 18

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_1

1

1.7

Humangenetische Beratung  – 20

1.8

Next generation sequencing  – 21

1.8.1 1.8.2 1.8.3 1.8.4 1.8.5

Whole genome sequencing  – 21 Exom-Sequenzierung  – 21 Diagnostische Anwendung des NGS  – 22 NGS in der pränatalen Diagnostik  – 22 Fazit und Ausblick  – 22



Literatur  – 22

5 Humangenetik

1.1

Klinische Genetik

Das Manifestationsalter genetisch bedingter Erkrankungen liegt im Kindesalter. Zirka 30–35% aller verstorbenen Säuglinge haben genetische Erkrankungen oder Fehlbildungen. Etwa 70% der Patienten mit Intelligenzminderung haben eine ist eine genetische Ursache. Daraus wird ersichtlich, welche Bedeutung genetisch bedingte Krankheitsbilder in der Pädiatrie haben. In der Zwischenzeit wurde die aufwändige Sanger-Sequenzierung durch das „next generation sequencing“ (NGS) ersetzt. Die auf dieser Basis durchgeführten Gen-Panel-Untersuchungen erlauben insbesondere bei heterogenen Krankheitsbildern eine kostengünstige und zeitsparende Möglichkeit, die Mutation in den ursächlichen Genen zu diagnostizieren. Bei nicht bekannter Diagnose ist es mittlerweile in vielen Fällen möglich, auf Exom- oder sogar Genombasis die zugrundliegende genetische Veränderung zu diagnostizieren. Dies hat dazu geführt, dass sich die Aufgabe des klinischen Genetikers geändert hat. Während es für eine Sanger-Sequenzierung notwendig war, eine exakte klinische Diagnose zu stellen, beginnt die Arbeit des klinischen Genetikers immer mehr erst nach der molekularen Klärung die Bedeutung des Befundes im Rahmen der genetischen Beratung zu vermitteln. Die genetische Beratung bei Kindern mit einer genetisch bedingten Erkrankung erfordert eine Familienanamnese mit Aufzeichnung eines Stammbaums über 3 Generationen, das Hinzuziehen von Krankenunterlagen betroffener Familienangehöriger, eine genaue Schwangerschafts- und Geburtsanamnese sowie eine exakte Dokumentation von möglichen Dysmorphiezeichen und Fehlbildungen. Sehr hilfreich ist eine fotographische Dokumentation. Diese sollte auch bei der Mitbeurteilung von Feten mit Fehlbildungen und perinatalen Todesfällen erfolgen genauso wie eine postmortale Röntgenaufnahme (sog. Babygramm) und das Asservieren von sterilem Material (Haut, Achillessehne) für eine Fibroblastenkultur. Dier Labordiagnostik erfolgt je nach Fragestellung durch eine zytogenetische oder molekulargenetische Untersuchung. 1.2

Chromosomale Aberrationen

jjGrundlagen Bei etwa 0,5% der Neugeborenen findet sich eine Chromosomen­ störung. Chromosomenaberrationen stellen eine wesentliche genetische Ursache für Spontanaborte dar. Im ersten Trimenon sind etwa 50% der Aborte auf Fehlgeburten zurückzuführen, im zweiten Trimenon liegt die Häufigkeit bei etwa 25%. Es überwiegen die auto­ somalen Trisomien (v. a. der Chromosomen 16, 21, 22 und 15) mit etwa 50–60%. Numerische Aberrationen  Der häufigste Mechanismus, der zu

e­ iner numerischen Chromosomenstörung führt, ist eine Fehlverteilung („Non-Disjunction“) in der Meiose I und II. Seltener (5%) erfolgt die Fehlverteilung durch ein postzygotisches, mitotisches „NonDisjunction“. Von klinischer Bedeutung sind v. a. die Triso­mien 13, 18 und 21, die meisten anderen Trisomien sind letal. Mit dem Leben vereinbar sind Mosaiktrisomien der Chromosomen 8 und 16.

Strukturelle Aberrationen  Strukturelle Chromosomenaberrationen entstehen durch Brüche an einem oder mehreren Chromosomen. Unterschieden wird zwischen balancierten und unbalancierten Chromosomenstörungen. Bei balancierten Chromosomenstörungen liegt in der Regel kein Zugewinn oder Verlust von genetischem Material vor. Träger von balancierten Chromosomenstörungen sind meistens klinisch gesund. Nur in Fällen, in denen durch den Bruch-

punkt ein dominantes Gen zerstört, kann es zu phänotypischen Auswirkungen kommen. Strukturelle Chromosomenstörungen treten meist spontan auf, können aber auch als Folge ionisierender Strahlen, viraler Infektionen oder Chemikalien entstehen. Einige genetisch bedingte Krankheitsbilder (z. B. Fanconi-Syndrom, NijmegenBreakage-Syndrom) gehen ebenfalls mit einer erhöhten Brüchigkeit einher. Weitere strukturelle Aberrationen sind: Deletionen, Duplikationen, Inversionen, Isochromosomen und Ringchromosomen. jjKlinik Einige chromosomal bedingte Krankheitsbilder weisen einen klinisch erkennbaren Phänotyp auf. In vielen Fällen ist die Zuordnung zu einer definierten Chromosomenstörung jedoch schwierig oder nicht möglich. An eine Chromosomenstörung sollte gedacht, wenn eine Kombination von 2 der folgenden Kriterien vorliegt: Entwicklungsrückstand  Dieser umfasst prä- und postnatale

Wachstumsstörungen, verzögerte statomotorische und geistige Entwicklung, insbesondere Sprachentwicklungsstörung.

Faziale Dysmorphien  Dysmorphien der Fazies wie Synophrys,

auffällige Lidachse, pathologischer Augenabstand und andere sind häufig Ausdruck einer Chromosomenstörung. Viele chromosomal bedingte Krankheitsbilder sind allein aufgrund der fazialen Dysmorphien zu erkennen (Wolf-Hirschhorn-Syndrom, KatzenschreiSyndrom etc.).

Kleinere und größere Fehlbildungen  Viele Chromosomenstö-

rungen gehen mit Organfehlbildungen einher. Auch auf Fehlbildungen des Skeletts sollte geachtet werden: 1.2.1

Trisomie 21 (Down-Syndrom)

jjEpidemiologie Die Trisomie 21 tritt mit einer Häufigkeit von 1 zu 700 Neugeborene dar und ist damit nicht nur die häufigste Chromosomenstörung, sondern auch die häufigste Ursache von Intelligenzminderung beim Menschen. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei etwa 50 Jahren und ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Etwa 15% der Kinder mit Trisomie 21 versterben im ersten Lebensjahr an den Folgen schwerer Herzfehler oder gastrointestinaler Fehlbildungen. jjKlinik Kraniofaziale Dysmorphien  Diagnostisch hinweisend sind eine

Brachyzephalie, ein hypoplastisches Mittelgesicht mit flachem ­Nasenrücken, von innen nach außen ansteigende Lidachsen, Epikanthus, kleiner und ein meist aufgrund der muskulären Hypotonie offen gehaltener Mund mit sichtbarer Zunge. Spezifisch sind auch die Brushfield-Flecken in der Iris. Die Ohren sind meist klein und tief angesetzt. Der Hals ist kurz und breit.

Weitere klinische Zeichen  Es liegen eine ausgeprägte Muskel­ hypotonie sowie eine Hypermobilität der Gelenke vor. Bei vielen Kindern finden sich Nabel- und Leistenbrüche sowie eine Rektusdiastase. Die Patienten weisen eine Brachydaktylie sowie einen weiten Abstand zwischen 1. und 2. Zehe („Sandalenfurche“) auf. Häufig findet sich eine beidseitige Vierfingerfurche an den Händen. Während die Geburtsmaße meist im unteren Normbereich liegen, entwickelt sich bei allen Patienten ein postnataler Kleinwuchs mit einer Erwachsenengröße zwischen 140 und 160 cm. Sowohl die motori-

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G. Gillessen-Kaesbach und Y. Hellenbroich

sche wie auch die sprachliche Entwicklung sind retardiert (IQ zwischen 20 und 50). Fehlbildungen  Etwa 45% der Patienten haben einen Herzfehler, am häufigsten einen AV-Kanal (atrioventrikulärer Septumdefekt), seltener finden sich isolierte Ventrikelseptumdefekte (VSD), iso­ lierte Vorhofseptumdefekte (ASD) oder ein offener Ductus Botalli. Gastrointestinale Fehlbildungen haben eine Häufigkeit von 12%, wobei besonders auf eine Duodenalatresie und einen Morbus Hirschsprung zu achten ist. Medizinische Probleme

Bei Neugeborenen kann ein transitorisches myeloproliferatives ­Syndrom auftreten. Bei ca. 1% der Patienten kann eine meist lymphatische Leukämie (ALL) auftreten, aber auch andere Leukämieformen werden beschrieben. Es besteht eine erhöhte Infektneigung. Das Risiko für eine Hypothyreose ist erhöht. Bei Erwachsenen besteht außerdem ein hohes Risiko einen Morbus Alzheimer zu ent­ wickeln. Ursächlich wird die vermehrte Bildung von Amyloid-Precursor-Protein beschrieben (APP), dessen Gen auf dem Chromosom 21 lokalisiert ist. jjDiagnose Die Diagnose einer Trisomie 21 erfolgt fast immer als Blickdiagnose beim Neugeborenen aufgrund einer Kombination insbesondere ­fazialer Dysmorphien und Fehlbildungen. >> Die klinische Verdachtsdiagnose sollte durch eine zytogene­ tische Untersuchung bewiesen oder ausgeschlossen werden. Für die genetische Beratung ist es unverzichtbar, zu wissen, ob eine freie Trisomie 21 oder eine Translokationstrisomie 21 vorliegt.

Zytogenetik  Eine freie Trisomie liegt bei ca. 95% der Patienten mit Down-Syndrom vor, wobei das überzählige Chromosom 21 meist maternalen Ursprungs ist. Bei ca. 2% findet sich eine Translokation zwischen 2 akrozentrischen Chromosomen (Robertson-Transloka­ tion) bevorzugt zwischen den Chromosomen 14 und 21. Bei fami­ ..Abb. 1.1  Mögliche Segregation bei ­balancierter Translokation vom zentrischen Fusionstyp zwischen Chromosom 14 und 21

liären Robertson-Translokationen besteht ein Risiko von etwa 10% für eine Trisomie 21, wenn die Mutter die Translokation trägt, von etwa 4%, wenn der Vater die Translokation trägt. Ein sehr hohes ­Risiko besteht für Nachkommen von Trägern einer Transloka­ tion 21/21 (. Abb. 1.1). Bei etwa 2% der Patienten liegt ein neben einer trisomen Zelllinie eine normale Zelllinie vor (Mosaiktrisomie 21; . Abb. 1.2). Der Phänotyp ist hier im Wesentlichen von der Verteilung der Zelllinien im Gehirn abhängig. In seltenen Fällen g­ elingt es mit Hilfe konventioneller zytogenetischer Techniken nicht, die klinische Diagnose einer Trisomie 21 zu beweisen. In ­solchen Fällen müssen zusätzlich molekularzytogenetische Unter­su­chungen  (FISH) oder ein vergleichender Genom-Array (Array-CGH; . Abb. 1.12) durchgeführt werden. jjTherapie Allgemeine Förderung und Fürsorge  Für die Entwicklung eines

Kindes mit Down-Syndrom sind 4 Faktoren von besonderer Be­ deutung: 44 Ein Kind mit Trisomie 21 bedarf derselben Fürsorge und ­elterlichen Liebe wie jedes andere Kind. 44 Spezifische diagnostische Untersuchungen zur Erkennung von Fehlbildungen oder Krankheiten sind frühzeitig und ­kontinuierlich erforderlich. 44 Die Fürsorge muss auch das geistige und soziale Wohlbefinden berücksichtigen. 44 Neben den Eltern sollte ein interdisziplinäres Team in die Betreuung und Förderung einbezogen werden und ein Kontakt zur Selbsthilfegruppe empfohlen werden. Für die Koordination der Vorsorgemaßnahmen eignet sich ein sozialpädiatrisches Zentrum. jjVorsorgeuntersuchungen

Neugeborene  Hier muss auf folgende Anomalien und Erkran-

kungen geachtet werden: 44 Spezifische Anomalien im Gastrointestinaltrakt, die bei ca. 12% der Neugeborenen vorkommen: ösophageale Fistel, Duodenalatresie und -stenose, Pancreas anulare, aganglionäres Megakolon und Anus imperforatus.

7 Humangenetik

..Abb. 1.2  Zytogenetische Aberrationstypen und Bedeutung der Fami­ lien­beratung bei Trisomie 21. Wiederholungsrisiko entspricht dem Risiko für das Wiederauftreten der gleichen oder einer anderen Chromosomenaberra-

tion. (Nach Boué u. Gallano, Mikkelsen u Stene, Stene et al.; zit. nach StengelRutkowski)

44 Kongenitale Herzerkrankungen (in 30–50% der Fälle) be­ dürfen schon in den ersten Tagen einer echokardiographische Diagnostik und ggf. ein operativen Korrektur. 44 Augenfehlbildungen und Augenerkrankungen: 3% der ­Kinder mit Down-Syndrom haben eine konnatale Katarakt, ca. 50% einen Strabismus, 75% Refraktionsfehler und 20% ­blockierte Tränenwege.

Kleinkindes- bis Jugendalter

Säuglingsalter

44 Krankengymnastik, 44 Sicherung des metabolischen und endokrinologischen ­Screenings. 44 Sicherung der aktiven Impfmaßnahmen, die analog zu gesunden Kindern durchgeführt werden sollten. 44 Überwachung des sozialen Milieus und falls erforderlich, ­Einleitung von sozialen Hilfestellungen (Anbindung an ein ­sozialpädiatrisches Zentrum oder Frühförderstelle).

44 Kardiologische Verlaufskontrollen bei Vorliegen eines Herz­ fehlers, 44 Anbindung an eine pädiatrische gastroenterologische Ambulanz bei Vorliegen von Fehlbildungen des Gastrointestinaltrakts, 44 regelmäßige Kontrolle der Hörfunktion und der Sehfähigkeit, 44 Untersuchungen zur Schilddrüsenfunktion, 44 orthopädische Untersuchungen im Hinblick auf eine atlantoaxiale Instabilität, die zur Kompression der Medulla oblongata in Höhe von C1–C2 führen kann, 44 Ernährungsberatung zur Vermeidung von Übergewicht. Pubertät  Die Pubertät verläuft bei Jungen und Mädchen oft verzögert (Hypogonadismus). Die Spermatogenese ist reduziert. Männer mit Trisomie 21 sind in der Regel nicht zeugungsfähig, wohingegen Frauen mit Trisomie 21 schwanger werden können. Für deren Kinder besteht ein erhöhtes Risiko, ebenfalls eine Trisomie 21 zu haben.

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a

b

c

..Abb. 1.3a–c  Edwards-Syndrom (Trisomie 18). a Hypotrophes Neugeborenes mit Dolichozephalie, kleinem Mund, Mikrognathie und kleinen tiefsit-

zenden Ohren. b Beugekontrakturen mit typischer Überlagerung der Finger. c Dorsalflexion der Großzehe und weiter Abstand zwischen 1. und 2. Zehe

..Tab. 1.1  Symptome bei einigen Autosomenaberrationen Partielle Monosomie 4p-Syndrom (Wolf-Hirschhorn-Syndrom)

Partielle Monosomie 5p-Syndrom („Cri-du-chat“-Syndrom)

Trisomie 13 (Pätau-Syndrom)

Trisomie 18 (Edwards-Syndrom; . Abb. 1.3)

Häufigkeit

1:5.000

1:3.000

Kopf

Mikrozephalie mit fliehender Stirn, Holoprosenzephalie, Aplasie des Corpus callosum

Mikrozephalie mit prominentem Hinterhaupt

Mikrozephalie, typisches Gesichtsprofil, wie griechischer Helm

Mikrozephalie, als Säugling rundliche Gesichtsform, später längsoval

Augen

Mikrophthalmus; Kolobome

Hypertelorismus

Hypertelorismus

Hypertelorismus

Untere Gesichts­ partie

Lippenkiefergaumenspalte; plumpe Nase

Kleiner Mund

Lippenkiefergaumenspalte; schnabelförmige Nase

Finger

Flexionskontraktur der ­Finger; „Wiegenkufen-Füße“; postaxiale Polydaktylie

Flexionskontraktur der Finger, „Wiegenkufen-Füße“; Klumpfuß; prominente Ferse

Schlanke Finger

Fehlbildungen

Herz- und Nierenfehl­ bildungen

Herz-, Nieren- und ZNSFehlbildungen

Vitium cordis

Letalität

80–90% im 1. Jahr

90% im 1. Jahr

80% im 1. Jahr

Erwachsenenalter  Fast alle Vorsorgeuntersuchungen, die für das Kindes- und Jugendalter empfohlen sind, sollten auch beim erwachsenen Patienten weiter fortgeführt werden. Zusätzlich ist häufig eine psychologische oder psychiatrische Therapie notwendig.

1.2.2

Weitere autosomale Aberrationen

Weitere autosomale Aberrationen und ihre phänotypischen Besonderheiten sind in . Abb. 1.3 und in . Tab. 1.1 dargestellt.

1:10–50.000

1.3

Kurze Finger

10% im 1. Jahr; hohe Letalität im 3. und 4. Lebensjahrzehnt

Störungen der Geschlechtschromosomen (gonosomale Chromosomenstörungen)

Die Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen führt in der Regel im Vergleich zu den autosomalen Chromosomenstörungen zu ­einem milderen Phänotyp insbesondere im Hinblick auf die geistige Entwicklung.

9 Humangenetik

1.3.1

Ullrich-Turner-Syndrom (UTS; 45,X)

jjGrundlagen und Epidemiologie Das Krankheitsbild wurde 1929 von Ullrich und 1938 von Turner beschrieben. Die zytogenetische Ursache (Monosomie X) wurde erst 1959 durch Charles Ford geklärt. Die Inzidenz beträgt 1 auf 1800–2500 neugeborene Mädchen. Erwähnenswert ist, dass eine Monosomie X sehr häufig Ursache von Aborten ist. Bei etwa 20% der Fehlgeburten, die eine chromosomale Ursache aufweisen, zeigt sich eine Monosomie X. jjGenetik, Pathogenese Zytogenetisch findet sich als Ursache des UTS eine Monosomie X (45,X). Die Monosomie X ist die einzige komplette Monosomie, die mit dem Leben vereinbar ist. Die Monosomie X entsteht in der Regel postzygotisch, was auch die häufigen Mosaikbefunde erklärt. Pathogenetisch findet sich ein defektes fetales Lymphgefäßsystem. Etwa 90% der Feten mit Monosomie X weisen massive ­hydropische Veränderungen und begleitende Fehlbildungen auf, die zu einem Abort im 1. und 2. Trimenon führen.

..Abb. 1.4  Lymphangiektatisches Ödem am Handrücken als Leitsymp­ tom des Turner-Syndroms beim Neugeborenen

jjKlinisch Zeichen Fetus  Im Ultraschall zeigen sich eine intrauterine Wachstumsverzögerung sowie eine deutlich erhöhte Nackentransparenz im Sinne eines zystischen Hygroms oder auch ein generalisierter Hydrops. Im weiteren Verlauf werden Herzfehler oder Nierenfehlbildungen auffällig. Neugeborene  Geburtsgewicht und Länge sind meist unter­ durchschnittlich. Beim Neugeborenen sind lymphangiektatische Ödeme an Hand- und Fußrücken nahezu pathognomonisch (. Abb. 1.4). Bei einigen Neugeboren findet sich ein Pterygium­ colli (Flügelfell)  als Ausdruck eines obliterierten zystischen Hygroms, sowie ein t­iefer Nackenhaaransatz häufig mit inversem  Haaransatz. Die fazia­len Dysmorphien (. Abb. 1.5) (Epi­ kanthus, Ptosis, weiter A ­ ugenabstand) können in diesem Alter noch sehr diskret sein. Der Thorax hat häufig eine Schildform (Schildthorax) mit weit auseinander stehenden Mamillen. Es zeigt sich eine Brachydaktylie mit hypoplastischen Nägeln. Ein Teil der Mädchen hat einen angeborenen Herzfehler (bikuspide Aortenklappe, Aortenisthmusstenose, valvuläre Aortenstenose, Mitral­ klappenprolaps). Säuglings- und Kleinkindalter  Selten können Trinkprobleme

a­ uftreten, die sich meist spontan bessern. Mittelohrentzündungen sollten rechtzeitig behandelt werden, um eine Schallleitungsschwerhörigkeit zu vermeiden. Die Wachstumsgeschwindigkeit vermindert sich, gegen Ende des Kleinkindalters liegt das Längenmaß meist unterhalb der 3. Perzentile.

Schulalter und Erwachsenenalter  Kleinwuchs und das Ausbleiben der Pubertät sind häufig Anlass, die Mädchen in einer Wachstumssprechstunde vorzustellen. Die Endgröße bei nicht behandelten Mädchen liegt zwischen 140 und 150 cm. Bei einer radiologischen Untersuchung der linken Hand findet sich in der Regel ein verkürztes Metakarpale IV (positives Metakarpalzeichen). Es liegt eine Gonadendysgenesie vor, die Ovarien sind bindegewebig verändert (Streak-Gonaden). Endokrinologisch zeigt sich ein hypergonadotroper Hypogonadismus. Wegen des erhöhten Risikos einer Dila­ tation der Aorta ascendens und einer Aortendissektion sollten regelmäßige Vorstellungen beim Kardiologen erfolgen. Außerdem sollte die Hörfähigkeit überprüft werden.

..Abb. 1.5  15-jähriges Mädchen mit Pterygium colli und Kleinwuchs (­Karyotyp 45,X)

jjDiagnose Die klinische Diagnosestellung erfolgt häufig erst im Schulalter aufgrund des proportionierten Kleinwuchses und der ausbleibenden Pubertät. Zytogenetische Diagnostik  Bei etwa der Hälfte der Patientinnen mit klinischen Zeichen eines UTS zeigt sich eine Monosomie X (45,X). Bei etwa 25% liegt ein gonosomales Mosaik vor (45,X/46,XX). Bei Mosaikbefunden zeigt sich häufig ein milderer Phänotyp mit spontaner Pubertät. Wichtig ist auch der Nachweis eines Mosaiks mit einer männlichen Zelllinie (45,X/46,XY), die häufig nur durch molekularzytogenetische Untersuchungen dargestellt werden können. In diesen Fällen besteht ein Risiko für Gonadoblastome. Auch strukturelle Aberrationen wie eine Deletion Xp, ein Ringchromosom X oder Isochromosom X [i(Xq)] können für ein Ullrich-Turner-Syndrom verantwortlich sein. Die phänotypischen Auffällig­ keiten werden durch einen Verlust von Genen, die auf dem kurzen Arm lokalisiert sind, verursacht. Es ist bekannt, dass der Kleinwuchs durch eine Haploinsuffizienz des SHOX-Gens entsteht.

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Endokrinologische Diagnostik  Erniedrigte Basalwerte für die Gonadotropine sowie ein LH/RH-Test geben Auskunft über einen hypergonadotropen Hypogonadismus. Fehlbildungsdiagnostik  Nach Diagnosestellung eines UTS müssen gezielte Untersuchungen zum Ausschluss eines Herzfehlers sowie von Fehlbildungen der Nieren und ableitenden Harnwege (Hufeisenniere, einseitige Nierenagenesie, Nierendoppelanlage etc.) durchgeführt werden.

jjTherapie Wachstumshormontherapie  Mehrere Multicenterstudien haben

gezeigt, dass die Therapie mit Wachstumshormon das Längen­ wachstum und die Endgröße positiv beeinflusst können. Wesentliche Nachteile, außer den hohen Kosten, hat die Hormontherapie aber nicht.

Steroidhormonsubstitution  Die Substitution mit Sexualsteroiden

(Östrogen, Sequenztherapie mit Östrogen und Gestagen) zur Ein­ leitung der Pubertät sollte erst jenseitseines Knochenalter von 12½–13 Jahren erfolgen. Unter der Hormontherapie bilden sich die sekundären Geschlechtsmerkmale und periodische Blutungen aus und der Körperbau nimmt weibliche Formen an. Die Hormontherapie wird durch endokrinologisch erfahrene Kinderärzte gesteuert. Durch ständig begleitende Gespräche müssen das Selbstbewusstsein stabilisiert, alle Fragen der Sexualität, auch die der Kinderlosigkeit besprochen und der Übergang der Betreuung zu gynäkologisch oder endokrinologisch erfahrenen Ärzten sichergestellt werden. 1.3.2

Triple-X-Syndrom (Trisomie X; 47,XXX)

j jEpidemiologie Bei etwa 1 auf 1000 neugeborenen Mädchen findet sich eine Trisomie X (47, XXX). Fast immer stammt das zusätzliche Chromosom von der Mutter als Folge einer Fehlverteilung (Non-Disjunction). Phänotyp

Der überwiegende Anteil von Mädchen und Frauen ist phänotypisch unauffällig. Viele Frauen mit einem überzähligen X-Chromosom werden nicht diagnostiziert. Allerdings gibt es auch Patientinnen, die einen Hochwuchs, Teilleistungsschwächen besonders im sprachlichen Bereich sowie ein vermindertes Selbstbewusstsein aufweisen. Es ist nicht bekannt, durch welche Faktoren der Phänotyp beeinflusst wird. Der Befund eines Triple-X-Syndroms im Rahmen der Pränataldiagnostik bedarf einer genetischen Beratung. 1.3.3

Klinefelter-Syndrom (47, XXY)

j jEpidemiologie Das Klinefelter-Syndrom ist mit einer Inzidenz von 1–2 auf 1000 die häufigste gonosomale Chromosomenstörung. Männliche Infertilität ist in ca. 10% auf ein Klinefelter-Syndrom zurückzuführen. Das überzählige X-Chromosom stammt zur Hälfte vom Vater, zur Hälfte von der Mutter. j jPhänotyp Die Diagnosestellung erfolgt meistens erst aufgrund einer unvollständigen und spät auftretenden Pubertät, einer Gynäkomastie, ­eines Hochwuchses und eines kleinem Hodenvolumens. Selten zeigen sich eine Entwicklungsverzögerung sowie Konzentrations- und

Verhaltensprobleme. Da viele Männer aber phänotypisch unauffällig sein können, erfolgt die Diagnosestellung häufig erst im Erwach­ senenalter bei der Abklärung einer Infertilität. Im Spermiogramm findet sich eine Azoospermie oder eine Oligospermie mit meist unbeweglichen Spermien. Bei der endokrinologischen Untersuchung zeigt sich ein hypergonadotroper Hypergonadismus. Bei erwachsenen Männern besteht ein erhöhtes Risiko für Varikose, Diabetes mellitus und trophischen Hautveränderungen. Männer mit Kline­ felter-Syndrom haben ein im Vergleich zu normalen Männern ein ca. 20-fach erhöhtes Risiko für Brustkrebs. jjTherapie Es sollte eine Substitutionstherapie mit Testosteron etwa im Alter von 12–14 Jahren begonnen werden (250 mg/Monat). Eine Testo­ sterontherapie sollte auch dann erfolgen, wenn die Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wurde, u. a. wegen des erhöhten Osteo­ poroserisikos. Es bestehen reproduktionsmedizinische Möglichkeiten (ICSI, Tesis) eigene Nachkommen zu haben. 1.3.4

Klinefelter-Varianten (48, XXXY, 49, XXXXY)

Mit jedem zusätzlichen X-Chrosomom nehmen die geistige Be­ hinderung, die fazialen Dysmorphien und Genitalfehlbildungen deutlich zu. Häufig findet sich eine radioulnare Synostose als Leitsymptom. 1.3.5

47,XYY

Bei etwa 1 auf 1000 männliche Neugeborene findet sich ein 47,XYYKaryotyp. Männer mit diesem Chromosomensatz sind häufig überdurchschnittlich groß, die Fertilität kann leicht eingeschränkt sein. Charakteristische phänotypische Auffälligkeiten zeigen sich in der Regel nicht 1.4

Mikrodeletionssyndrome („contiguous gene syndromes“)

jjGrundlagen >> Unter einem Mikrodeletionssyndrom versteht man ein ­Fehlbildungs-Retardierungs-Syndrom, das auf einer kleinen, durch konventionelle Methoden der Zytogenetik, nicht ­erkennbaren Deletion (submikroskopische Deletion) oder ­Duplikation von mehreren Genen beruht.

Durch die Einführung der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) konnte nachgewiesen werden, dass eine wachsende Zahl ­syndromaler Krankheitsbilder auf Mikrodeletionen oder -duplika­ tionen beruht. Mikrodeletionen treten meist sporadisch auf, nur selten aufgrund einer chromosomalen Umstrukturierung. Die klinische Beschreibung erfolgte meistens vor der ursächlichen Klärung. . Tab. 1.2 gibt einen Überblick über die klassischen Mikrodeletionssyndrome. jjDiagnose Die Nachweisgrenze der konventionellen Zytogenetik liegt bei etwa 5 Mb. Mit Hilfe der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) können Deletionen bis ca. 0,1 Mb entdeckt werden. Bei der FISH wird die einzelsträngige DNA mit komplementärer DNA (DNA-Sonden), die mit einem Fluoreszenzfarbstoff versehen sind, hybridisiert. Für

11 Humangenetik

..Tab. 1.2  Chromosomale Mikrodeletionssyndrome. Die ursächlich beteiligten Gene sind überwiegend noch unbekannt 1p36

Retardierungssyndrom mit Leitsymptom große ­vordere Fontanelle

2q37

Kurze Daumenendglieder plus Hypotonie

3q25

Blepharophimose-Ptose-Epicanthus-inversus-Syndrom und Retardierung

4p16.3

Wolf-Hirschhorn-Syndrom, Pitt-Rogers-Danks-Syndrom

5p15

Cri-du-chat-Syndrom

7q11.23

Williams-Beuren-Syndrom

8q24.1

Langer-Giedion-Syndrom

10p13–14

DiGeorge-Syndrom 2

11p13

WAGR-Syndrom

11p13

Aniridie

11p11–12

EXT2/FPP-Syndrom (DEFECT-11-Syndrom)

13q14

Retinoblastom und Entwicklungsverzögerung

15q11.2

Prader-Willi-Syndrom

15q11.2

Angelman-Syndrom

16p13.3

α-Thalassämie und Retardierung

16p13–3

Rubinstein-Taybi-Syndrom

17p13.3

Miller-Dieker-Syndrom

17p11.2

Smith-Magenis-Syndrom

17q11.2

Neurofibromatose Typ 1 und Entwicklungsverzögerung

20p12–13

Alagille-Syndrom

22q11.2

DiGeorge-/velokardiofaziales Syndrom (CATCH 22)

Xp22.3

Kallmann-Syndrom, X-chromosomal

Xp22.3

Steroidsulfatasemangel

Xq28

Myotubuläre Myotonie und Hypogonadismus

die Diagnostik von Mikrodeletionssyndromen werden lokusspezi­ fische Sonden verwendet. Wenn die DNA-Sonde bindet, erkennt man ein Fluoreszenzsignal; bei einer Deletion fehlt dieses Signal. Für viele Mikrodeletionssyndrome liegt ein erkennbarer Phänotyp vor. In diesen Fällen kann der Einsatz einer lokusspezifischen Sonde die Diagnose ausschließen oder beweisen. Wir wissen aber heute, dass das phänotypische Spektrum sehr groß sein kann, was eine eindeu­ tige diagnostische Zuordnung erschwert. In diesen Fällen helfen neue Methoden, wie die vergleichende genomische Hybridisierung (CGH), die auf der DNA-Chip-Technologie beruht, auch weniger charakteristische Phänotypen ätiologisch zu klären. 1.4.1

unter­schiedliche elternspezifische Prägung aufweisen und dem genomischen Imprinting unterliegen. jjEpidemiologie Die Inzidenz des Prader-Willi-Syndroms liegt bei 1 auf 10.000. jjPhänotyp Das klinische Bild kann in 4 Phasen unterteilt werden: 44 Fetale und neonatale Phase. Kinder mit PWS haben meist ein niedriges Geburtsgewicht und werden aus Beckenendlage entbunden. Leitsymptom ist eine ausgeprägte muskuläre Hypo­tonie (. Abb. 1.6), die sich auch schon pränatal durch ­reduzierte Kindsbewegungen bemerkbar macht. Zusätzlich ­bestehen im Neugeborenen- und frühen Säuglingsalter ausgeprägte Fütterungsprobleme, die häufig eine Sondenernährung notwendig machen. Das Trinkverhalten bessert sich meist ­gegen Ende des ersten Lebensjahres. Bei Jungen bestehen ein Hodenhochstand sowie ein Skrotalhypoplasie, während sich bei Mädchen hypoplastische kleine Labien finden. 44 Kleinkindphase. Zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr ändert sich das Essverhalten. Es entwickelt sich ein unstillbares Hungergefühl, das zu einer beginnenden Adipositas führt. Zusätzlich zeigen sich eine statomotorische und geistige Entwicklungsverzögerung. Fazial zeigen sich eine schmale Stirn mit bitempo­ ralen Einziehungen und mandelförmige Augen. Auffällig ist ein zäher Speichel der die Entstehung von Karies b ­ egünstigt. 44 Kindes- und Jugendalter. Häufig findet sich jetzt Adipositas per magna auf (. Abb. 1.7). Zusätzlich bestehen ein Kleinwuchs sowie eine Akromikrie (kleine Hände und Füße). Die Pubertätsentwicklung ist aufgrund eines hypogonadotropen Hypogonadismus verzögert und unvollständig. Verhaltensprobleme wie Stimmungsschwankungen, aggressive Tendenzen und Hautkratzen („skin picking“) sind häufig. Die Intelligenzentwicklung kann von niedrig normal bis geistig behindert reichen. 44 Erwachsenenalter. Unbehandelte Patienten sind kleinwüchsig (145–160 cm), haben eine Adipositas per magna sowie kleine Hände und Füße. Der unstillbare Appetit macht das Zusammenleben schwierig. Mangelndes Selbstwertgefühl und Verhaltensprobleme bis hin zur Psychose kennzeichnen diese Phase. Nur sehr wenige Patienten haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, meistens erfolgte eine Tätigkeit in einer betreuten Werkstatt. Zunehmend sind sich in Deutschland betreute Wohngruppen für Erwachsene mit PWS entstanden.

Prader-Willi-Syndrom

Das Prader-Willi-Syndrom (PWS) illustriert zusammen mit dem Angelman-Syndrom (. Abschn. 1.4.2) – obwohl phänotypisch ganz unterschiedlich – beispielhaft die Bedeutung der genomischen ­Prägung (Imprinting) beim Menschen. Gemeinsame Ursache ist der funktionelle Verlust von Genen der Region 15q11-q13, die eine

..Abb. 1.6  Generalisierte Muskelhypotonie bei 2 Wochen altem Säugling als Leitsymptom des Prader-Willi-Syndroms

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1.4.2

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Angelman-Syndrom

jjEpidemiologie Das Angelman-Syndrom (AS) weist eine Inzidenz von ca. 1 auf 15.000 Neugeborene auf. Wie beim PWS ist ursächlich ein funktioneller Verlust von Genen der chromosomalen Region 15q11-q13 vorhanden.

..Abb. 1.7  6 ½-jähriges Mädchen mit Prader-Willi-Syndrom (Deletio 15q11-13): Kleinwuchs (-2,77 SDS), Adipositas (BMI 24,76 kg/m2 >97. Perzentile), Intelligenzminderung

j jTherapie Bis heute gibt es keine ätiologische Therapie, die das mangelnde ­Sättigungsgefühl beeinflussen kann. Eine konsequente Durchführung einer Diät ist lebenslänglich notwendig. Internationale Studien konnten zeigen, dass durch diese Behandlung nicht nur die End­ größe verbessert wird, sondern dass aufgrund der anabolen Wirkung auch eine Umwandlung von Fett- in Muskelgewebe erfolgt, was bei vielen Patienten eine Verbesserung der Körperproportionen bewirkt. Seit einigen Jahren werden die Kosten für eine Therapie mit Wachstumshormon übernommen. Insgesamt sind in allen Phasen symptomatische Fördermaßnahmen wie z. B. Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie notwendig. j jGenetik Bei etwa 70% der Patienten mit PWS findet sich eine ca. 4 Mb interstitielle Deletion am paternalen Chromosom 15 (15q11-q13), die überwiegend de novo ensteht. Ca. 25% der Patienten haben eine ­ aternale uniparentale Disomie 15; dies bedeutet, dass beide m ­Chromosomen 15 von der Mutter vererbt werden. In diesem Fall sind zwar 2 Kopien der PWS-Gene vorhanden, aber beide Gene sind stumm, sodass ein vollständiger Funktionsverlust dieser Gene resultiert. Bei wenigen Patienten die weder eine Deletion 15q11-q13 noch eine UPDmat aufweisen, zeigen beide Chromosomen 15 jedoch eine mütterliche Prägung (Imprintingfehler). Als Folge hiervon sind die PWS-Gene auf dem väterlichen Chromosom stumm. Es ergibt sich somit ein Effekt ähnlich wie bei einer uniparentalen Disomie. Man spricht auch von einer funktionellen Disomie. Bei einem Teil der Patienten mit Imprintingfehler findet sich eine Mikrodeletion (IC-Mutation).

jjKlinik Im Neugeborenenalter ist die Diagnosestellung meist schwierig. Niedriges Geburtsgewicht und eine nur mäßig ausgeprägte Hypo­ tonie sowie eine Mikrozephalie sind eher unspezifische Marker. Bei der neurologischen Untersuchung zeigt sich häufig eine Rumpf­ hypotonie auf. EEG-Veränderungen im Sinne von großamplitudigen „slow waves“ und frontal betonten „spikes“ und „sharp waves“ sind auch in diesem Alter schon vorhanden. Der häufigste Zeitpunkt der Diagnosestellung ist das späte Kleinkindalter. Eine deutlich verzögerte statomotorische und geistige Entwicklung, Ataxie, Krampfanfälle und besonders die ausbleibende Sprachentwicklung im ­Zusammenhang mit den typischen Veränderungen im EEG machen ein AS wahrscheinlich. Nicht alle Patienten lernen laufen. Auch ­aufgrund der schweren Ataxie ist meist ein Rollstuhl notwendig. Die Patienten zeigen unmotiviertes Lachen, was den Erstbeschreiber, den englischen Pädiater Harry Angelman im Zusammenhang mit der Ataxie von einem „happy puppet syndrome“ sprechen ließ. Belastend für die Familie sind die Schlafprobleme. Die fazialen Merkmale beim AS sind nicht spezifisch, bei Erwachsenen zeigt sich ein zunehmend längliches Gesicht mit Progenie (prominentes Kinn). Die Patienten weisen im Gegensatz zum PWS fast immer eine schwere geistige Intelligenzminderung auf. jjGenetik Wie beim PWS findet sich bei der Mehrzahl (70%) der Patienten eine Deletion 15q11-q13, in diesem Fall aber eine maternale Dele­ tion 15. Eine paternale uniparentale Disomie 15 liegt nur bei 1–2% der Patienten mit AS vor, Imprintingfehler treten mit einer Häufigkeit von etwa 5% auf. Ungefähr 20% der Patienten mit AS haben weder eine Deletion noch eine uniparentale Disomie noch einen Imprintingfehler, sondern eine Mutation im in dem für AS ursächlichen UBE3A-Gen, das in Gehirnzellen dem Imprinting unterliegt. Bei etwa 20% der Patienten mit den klinischen Zeichen eines AS lässt sich die molekulare Ätiologie nicht klären. Hier ist aber auch zu ­bedenken, dass möglicherweise andere Krankheitsbilder vorliegen, die ein ähnliches klinisches Bild aufweisen. jjDiagnostik Heute wird die Diagnostik für das PWS und AS mit Hilfe einer ­methylierungsspezifischen-PCR oder einer spezifischen MLPA („multiplex ligation dependent probe amplification“) durchgeführt. Mit diesen Testverfahren ist es möglich, ein PWS sicher auszuschließen oder zu beweisen, bei AS werden nur die Patienten, die eine Punktmutation im UBE3A-Gen aufweisen nicht erfasst. Bei auffäl­ ligem Methylierungstest sollte dann durch weitere Untersuchungen die molekulare Ätiologie geklärt werden, die Voraussetzung für die genetische Beratung und die Angabe des Wiederholungsrisikos ist. Bei nachgewiesenem Imprintingdefekt muss nach einer IC-Deletion geschaut werden, da in diesen Fällen von einem erhöhten Wiederholungsrisiko (50%) auszugehen ist.

13 Humangenetik

jjTherapie Behandlung der Schlafstörungen mit Melatonin, antikonvulsive Therapie der Krampfanfälle, bei ausgeprägter Hyperaktivität kann eine Ritalintherapie erfolgreich sein. 1.4.3

Williams-Beuren-Syndrom

jjEpidemiologie Die Häufigkeit beträgt ca. 1 auf 20.000/50.000 Neugeborene. Die Erstbeschreibung erfolgte 1961 durch Williams und 1962 durch den Göttinger Kinderkardiologen Beuren. jjPhänotyp Im Neugeborenenalter zeigen sich ein reduziertes Geburtsgewicht, eine intermittierende Hyperkalzämie und Ernährungsstörungen. Schon im jungen Alter fallen charakteristische Gesichtsdysmor­ phien (hypoplastisches Mittelgesicht mit kurzer, breiter Nasen­ spitze  und antevertierten Narinen, periorbitale Schwellungen, ­Strabismus, füllige Lippen, kleine weit auseinander stehende Zähne und etwas „hängende“ Wangen) auf, die eine Blickdiagnose erlauben (. Abb. 1.8). Bei vielen Kindern fehlt eine besondere Struktur der Iris auf (Iris stellata; . Abb. 1.8b). Supravalvuläre Aortenstenose sowie eine periphere Pulmonastenose sind häufige Herzfehler. Es besteht eine generalisierte Bindegewebsschwäche, die sich in Hernien, überstreckbaren Gelenken und weicher Haut äußert. Es bestehen ein Kleinwuchs sowie eine Mikrozephalie. Patienten mit WilliamsBeuren-Syndrom fallen besonders durch Ihren Verhaltensphänotyp auf. Sie sind freundlich zugewandt, extrovertiert, aber distanzlos, verfügen über eine ausdrucksstarke Sprache, allerdings ist das Gesprochene oft inhaltslos und inadäquat (Partytalker) bei IQ-Werten zwischen 40 und 80. jjGenetik Beim WBS besteht eine etwa 1,5 Mb große Mikrodeletion 7q11.23, die mit Hilfe einer lokusspezifischen FISH-Sonde bei ca. 95% der Patienten nachgewiesen werden kann. Die Deletion erfolgt meistens de novo. In dieser Region konnten bisher mehr als 20 Gene identifiziert werden, darunter das Elastin-Gen (ELN) und Lim-Kinase1Gen (LMK1). Mutationen im ELN-Gen können auch zu einer isolierten supravalvulären Aortenstenose führen. LMK1 scheint eine Bedeutung für das räumliche Sehen zu haben. jjTherapie Behandlung der Hyperkalzämie, ggf. operative Therapie des Herzfehlers. Symptomatische Maßnahmen. 1.4.4

DiGeorge-Syndrom-Deletion 22q11

jjSynonyme Velokardiofaziales-Syndrom, Shprintzen-Syndrom, konotrunkalesSyndrom, asymmetrisches Schreigesicht. jjEpidemiologie Die im Jahr 1992 beschriebene Mikrodeletion 22q11 hat eine Inzidenz von ca. 1 auf 4000 Neugeborene und stellt damit eines der ­häufigsten Mikrodeletionssyndrome dar. Die ätiologische Klärung hat dazu geholfen, unterschiedliche Krankheitsbilder zusammen­ zufassen. Das 1965 beschriebene DiGeorge-Syndrom, gekennzeichnet durch einen Hypoparathyreodismus, konotrunkale Herzfehler und Thymushypoplasie mit hoher Letalitätsrate, steht den milderen

a

b ..Abb. 1.8 Williams-Beuren-Syndrom. a bei 1½-jährigem Mädchen; b Iris stellata: typische radspeichenartige Musterung der Iris bei Patient mit Williams-Beuren-Syndrom

Phänotypen wie dem Shprintzen-Syndrom (velokardiofaziales Syndrom) mit Gaumenspalte, Herzfehler und charakteristischer Fazies gegenüber. jjPhänotyp Häufig bestehen neonatale Fütterungsprobleme, Muskelhypotonie sowie Hypokalzämie. Mehr als ⅔ der Patienten weisen einen meist konotrunkalen Herzfehler (Fallot-Tetralogie, unterbrochener Aortenbogen, Ventrikelseptumdefekt) auf. Besonders beim ShprintzenSyndrom finden sich Gaumenspalten (mediane und submuköse) und eine velopharyngeale Insuffizienz, die zu einer näselnden Sprache führt. Fazial zeigen sich kleine Lidspalten, ein rechteckiger ­prominenter Nasenrücken sowie kleine Ohren. Häufig besteht ein geringer Kleinwuchs. Lernbehinderung und auch schwere Intelligenzminderung werden beobachtet. Psychiatrische Erkrankungen wie eine Schizophrenie und bipolare Störungen scheinen mit einer Mikrodeletion 22q11 assoziiert zu sein. Es besteht eine erhebliche intrafamiliäre phänotypische Variabilität besteht. jjGenetik Der Nachweis einer meist de-novo 1,5–3 Mb großen Deletion erfolgt mit lokusspezifischen Sonden (TUPLE1, N25) der chromosomalen Region 22q11. In der Region liegen ca. 25–30 Gene. Eine gute Genotyp-Phänotyp-Korrelation zwischen Deletionsgröße und Phänotyp existiert nicht. Eine molekularzytogenetische Untersuchung der Eltern sollte immer erfolgen.

1

14

1

G. Gillessen-Kaesbach und Y. Hellenbroich

j jTherapie Symptomatisch, ggf. operative Korrektur des Herzfehlers. 1.4.5

Smith-Magenis-Syndrom

j jEpidemiologie Das von Ann Smith und Ellen Magenis 1982 beschriebene Krankheitsbild hat eine Inzidenz von ca. 1 auf 25.000 und ist durch einen besonderen Verhaltensphänotyp charakterisiert. j jPhänotyp Faziale Auffälligkeiten wie eine Mittelgesichtshypoplasie, eine Pro-

gnathie und tiefsitzende Ohren sind beim Neugeboren noch diskret und werden erst beim Erwachsenen deutlicher, sind aber dia­ gnostisch nicht beweisend. Der besondere Verhaltensphänotyp ist durch schwere Schlafstörungen, charakterisiert. Eine Onychotillomanie (Ausreißen von Finger- und Zehennägeln) scheint sehr charakteristisch zu sein. Typisch scheinen auch Tics, wie „self-hugging“ (sich selbst umarmen) und Händeklatschen. Auch aggressive Verhaltensweisen und Hyperaktivität treten auf. Die Patienten haben ein unterdurchschnittliches Längenmaß und eine Intelligenzminderung mit IQ-Werten zwischen 40 und 50. jjGenetik Ursächlich ist eine Deletion 17p11.2, die molekularzytogenetisch mit DNA-Sonden, die das RAI1-Gen enthalten, erkannt wird. Die Deletion entsteht in der Regel de novo. Bei etwa 10% der Patienten finden sich Mutationen im RAI1-Gen. j jTherapie Die Therapie ist symptomatisch. Bei Schlafstörungen sollte eine Therapie mit Melatonin erwogen werden. 1.4.6

Wolf-Hirschhorn-Syndrom

j jEpidemiologie Das von Wolf und Hirschhorn 1965 beschriebene Krankheitsbild zeigt eine Häufigkeit von 1 auf 50.000 Neugeborene. Spezifische ­faziale Dysmorphien lassen häufig eine Blickdiagnose zu. j jPhänotyp Prä- und postnatale Wachstumsverzögerung, Gedeihstörungen und eine Muskelhypotonie kennzeichnen die ersten Lebensmonate. Fazial sind charakteristisch: hohe Stirn mit prominenter Glabella, Hypertelorismus mit nach lateral abfallenden Lidachsen, kurzes Philtrum, nach unten gezogene Mundwinkel sowie einfach ge­ muschelte Ohren, die häufig Anhängsel oder Pits aufweisen. Begleitende Fehlbildungen, insbesondere Herzfehler, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind häufig. Krampfanfälle treten bei der Mehrheit der Patienten auf. Häufigkeit und Intensität der Anfälle nehmen mit dem Alter ab. Meist schwere Intelligenzminderung, mildere Verläufe sind beschrieben. j jGenetik Ursächlich ist eine Deletion (meist de novo) der Region 4p16.3, die in 60–70% der Fälle auch schon bei der konventionellen Chromo­ somenanalyse erkennbar ist. Molekularzytogenetisch kann die ­Deletion bei 95% der Patienten erkannt werden. Keine gute Phänotyp-Genotyp-Korrelation möglich. Wichtig ist, dass ca. 10% der ­Patienten komplexe chromosomale Aberrationen aufweisen, die

eine zytogenetische und molekularzytogenetische Untersuchung, einschließlich einer CGH-Arrayanalyse bei Patient und Eltern notwendig machen. jjTherapie Die Therapie ist symptomatisch. 1.4.7

Rubinstein-Taybi-Syndrom

jjEpidemiologie Das 1963 von Rubinstein und Taybi beschriebene Syndrom tritt mit einer Häufigkeit von 1 auf ca. 10.000 Neugeborene auf und weist eine charakteristische Fazies sowie breite Daumen und Großzehen auf. jjPhänotyp Im Neugeborenenalter fallen oft respiratorische Probleme, Füt­ terungsschwierigkeiten, geringe Gewichtszunahme und Infek­ tionen auf. Eine besondere diagnostische Bedeutung hat die Fazies, die durch folgende Dysmorphien gekennzeichnet ist: nach außen unten abfallende Lidachsen und eine gebogene Nase mit hypoplastischen Nasenflügeln mit verlängerter Kolumella. Bei Neugeborenen und jungen Säuglingen zeigt sich eine deutlich behaarte Stirn. ­Charakteristisch sind auch die verbreiterten Daumen und Zehenendglieder, die auch nach außen abweichen können. Es besteht eine unterschiedlich schwere mentale Retardierung. Erwachsene sind kleinwüchsig (140–155 cm). Es besteht ein leicht erhöhtes Risiko für maligne Erkrankungen wie Leukämien oder Hirntumoren. Strabismus Katarakte, Nystagmus und Glaukom sind häufige pathologische Augenbefunde. jjGenetik Bei etwa 10% der Patienten lässt sich mit Hilfe von lokusspezifischen FISH-Sonden (CREBP-Gen) eine Mikrodeletion  16p13.3, die in der Regel de novo auftritt, nachweisen. Punktmutationen im CREBPGen sind bei 40–60% der Patienten nachweisbar. Nur wenige Pa­ tienten (ca. 3%) haben Mutationen in einem zweiten für das Rubinstein-Taybi-Syndrom verantwortlichen Gen (EP300-Gen). jjTherapie Die Therapie ist symptomatisch. 1.4.8

Wiedemann-Beckwith-Syndrom

jjEpidemiologie Die Häufigkeit des 1969 unabhängig von Wiedemann und Beckwith beschriebene Krankheitsbild liegt bei etwa1 auf 15.000 Neugeborene auf. jjPhänotyp Die Neugeborenen sind makrosom und sind durch Hypoglykämien gefährdet. Das postnatale Wachstum verläuft entlang der 90. Perzentile. Zusätzlich haben viele Kinder ein asymmetrisches Wachstum einer Körperhälfte (Hemihyperplasie). Eine Makroglossie muss in manchen Fällen operativ korrigiert werden. Schon pränatal kann eine große Nabelhernie mit Darm- und Leberanteilen im Bruchsack auffallen. Es zeigen sich grobe Gesichtszüge mit breiter eingesun­ kener Nasenwurzel, Naevus flammeus im Stirnbereich und Kerben der Ohrläppchen (. Abb. 1.9). Mit zunehmendem Alter norma­lisiert sich das Gesicht. Es besteht ein erhöhtes Risiko (ca. 7%) für Tumoren, insbesondere Wilmstumoren, aber auch andere Tumoren wie

15 Humangenetik

kreises, multiple angeborene Fehlbildungen oder Patienten mit multiplen dysmorphologischen Merkmalen dar. Die Detektions­rate einer klinisch relevanten Deletion oder Duplikation liegt in der Größen­ ordnung von 10–15%. Mit Hilfe dieser Technik ist es gelungen, eine Vielzahl neuer Mikrodeletionssyndrome zu identifizieren, die allerdings nicht immer einen eindeutig klinisch erkennbaren Phänotyp aufweisen. Außerdem können mit Hilfe dieser Technik, insbesondere beim Einsatz hochauflösender Arrays, genetische Veränderungen ­detektiert werden, deren klinische Relevanz zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar ist. In diesen Fällen ist häufig eine ­anschließende Testung der Eltern hilfreich. Neben Deletionen ­kommen die analogen Duplikationen vermutlich ähnlich häufig vor. Die klinische Ausprägung ist bei Duplikationen allerdings meist ­milder. Nicht selten werden ins­ besondere kleinere Deletionen oder Duplikationen auch bei einem Elternteil oder in geringer Frequenz auch in Kontrollpopulationen gefunden, sodass dann von einer v­ erminderten Penetranz ausgegangen werden muss. Im Folgenden werden einige häufige neu identifizierte Mikrodeletionssyndrome vorgestellt. ..Abb. 1.9  Wiedemann-Beckwith-Syndrom: muskuläre Makroglossie, Mittelgesichtshypoplasie, Naevus flammeus der Glabellaregion, Weichteilfalten unter den Augen

Hepatoblastom, Phäochromozytom, Rhabdomysarkom wurden ­beobachtet. jjGenetik Die Genetik des auf dem Chromosom 11 (11p15) lokalisierten Krankheitsbilds ist sehr komplex, die kritische Region unterliegt dem Imprinting. Eine Duplikation 11p15 liegt bei nur bei ca. 1% der Patienten vor. Etwa 20% der Patienten haben eine paternale uni­ parentale Disomie 11p15. Die häufigste molekulare Ursache sind Imprintingdefekte der LIT1/KCNQ1QT-Gene (60%) sowie Imprintingdefekte in den Genen H19 und IGF2 (15%). Bei 4% der Patienten zeigt sich eine Mutation in einem weiteren Gen der Region 11p15, dem CDKN1C-Gen. Patienten, mit einem Imprintingdefekt im LIT1-Gen haben ein Tumorrisiko von 1–5%, wohingegen, bei Pa­ tienten mit Imprintingdefekten im H19-Gen ein Tumorrisiko von 35–45% besteht. Etwa 25–30% der Patienten mit einer paternalen uniparentalen Disomie 11p15 entwickeln einen Tumor, bei Patienten mit unauffälliger Methylierung liegt das Risiko für maligne ­Erkrankungen bei 10–15%. Die molekulargenetische Diagnostik hat also nicht nur das Ziel, die klinische Diagnose zu bestätigen, sondern hilft auch bei der Einschätzung des Tumorrisikos. 1.5

Weitere Mikrodeletionssyndrome

Die vergleichende Genomhybridisierung („comparative genomic hybridisation“; CGH) stellt eine neue Technik zum Nachweis kleinster struktureller Chromosomenveränderungen dar, die mit den ­konventionellen Methoden der Zytogenetik nicht erkannt werden können. Bei dieser Methode werden mit unterschiedlichen Fluoreszenzfarbstoffen markierte DNA-Proben eines Patienten und einer Kontrolle gegen tausende auf einem Trägermaterial immobilisierte DNA-Fragmente (z. B. Oligonukleotide oder BAC-Klone) aus unserem Erbgut hybridisiert. Durch Vergleich der Fluoreszenzintensität der Patienten- und Kontrollproben können mit diesem Verfahren je nach Auflösungsvermögen des eingesetzten Arrays Deletionen und Duplikationen von weniger als 100 Kilobasen erkannt werden. Indikationen für diese Untersuchung stellen eine mentale Retardierung, tiefgreifende Entwicklungsstörungen des Autismus-Formen-

1.5.1

Mikrodeletionssyndrom 1q21.1

jjEpidemiologie Die Prävalenz dieses Mikrodeletionssyndroms wird auf ca. 0,2% ­aller Patienten mit einer mentalen Retardierung und/oder angeborenen Fehlbildungen geschätzt. In größeren Studien wurden über 100 Patienten mit diesem Syndrom identifiziert. jjKlinik Patienten mit einer 1q21.1-Mikrodeletion können ein weites Spek­ trum an klinischen Auffälligkeiten aufweisen. Hierzu zählen vari­able milde Dysmorphiezeichen (prominente Stirn, tiefsitzende Augen, Epikanthus), eine Entwicklungsverzögerung, eine Mikrozephalie, ein Kleinwuchs, variable Augenauffälligkeiten (z. B. Strabismus, Kolobome, Mikrophthalmie), angeborene Herzfehler, seltener auch eine Gelenkhypermobilität, Krampfanfälle oder Gehirnfehlbildungen. Dieses Mikrodeletionssyndrom ist in der Regel fazial nicht als Blickdiagnose zu stellen. jjGenetik Eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation wurde für diese rekurrente ­distale 1,35 Mb große 1q21.1-Deletion bislang nicht beschrieben. Nicht selten ist einer der gesunden Eltern ebenfalls Träger dieser Deletion. In unmittelbarer chromosomaler Nachbarschaft liegt die Mikrodeletionsregion für das TAR-Syndrom („thrombocytopenia absent radius“). Beide Regionen können manchmal gemeinsam ­deletiert sein. jjTherapie Die Therapie ist symptomatisch. Ophthalmologische und kardio­ logische Vorsorgeuntersuchungen. 1.5.2

Mikrodeletionssyndrom 9q34

jjEpidemiologie Bisher wurden ca. 50 Patienten mit einem Mikrodeletionssyndrom 9q34 beschrieben. jjKlinik Die fazialen Dysmorphien (Synophrys, Mittelgesichtshypoplasie, kurze Nase, mit antevertierten Nasenflügeln, betonte Unterlippe)

1

16

G. Gillessen-Kaesbach und Y. Hellenbroich

1

..Abb. 1.10  18 Monate alter Junge mit submikroskopischer Deletion 9q34: Synophrys, Mittelgesichtshypoplasie, kurze, breite Nasenspitze

..Abb. 1.11  Patient mit Mikrodeletionssyndrom 17q21.31: Mikro­zephalie, tiefliegende Augen, breite, klobige Nase

erlauben eine Blickdiagnose (. Abb. 1.10). Zusätzlich zeigen sich u. a. eine muskuläre Hypotonie, Herzfehler, Krampfanfälle, Kleinwuchs und Verhaltensauffälligkeiten. Immer besteht eine mentale Retardierung.

jjKlinik Im Vordergrund steht meist eine sprachbetonte Entwicklungs­ verzögerung. Die phänotypische Ausprägung kann allerdings sehr variabel sein. Die Intelligenz kann bei Trägern dieser Mikrodeletion vom Normalbereich bis zu einer leichten geistigen Behinderung reichen. Viele Patienten haben autistische Verhaltensweisen, einige neigen zu Übergewicht. Spezifische faziale Dysmorphiezeichen, die die Diagnose erleichtern würde, liegen bei den Patienten nicht vor.

j jGenetik Ursächlich ist eine Haploinsuffizienz des EHMT1-Gens vorhanden. Einige Patienten ohne nachweisbare Deletion haben eine Mutation in diesem Gen. j jTherapie Symptomatische Maßnahmen, wegen der Neigung zu Übergewicht kontrollierte Nahrungsaufnahme. 1.5.3

Mikrodeletionssyndrom 15q13.3

jjGenetik Die meisten Patienten haben eine ca. 550 kb große De-novo-Dele­ tion. Es sind aber auch Fälle von Vererbung eines Elternteils auf ein Kind beschrieben. Ebenfalls nicht selten ist die reziproke Mikroduplikation dieser Region. Die klinische Signifikanz der Mikro­ duplikation 16p11.2 ist bislang umstritten, da diese deutlich häufiger als die Deletion auch in der Normalbevölkerung gefunden wird.

j jEpidemiologie Die Prävalenz dieser Mikrodeletion wird auf ca. 1:5000 in der all­ gemeinen Bevölkerung und auf ca. 0,3% bei Patienten mit einer mentalen Retardierung und 1–2% bei Patienten mit einer Epilepsie geschätzt.

jjTherapie Die Therapie ist symptomatisch.

j jKlinik Neben einer mentalen Retardierung werden eine Epilepsie, Hyperaktivität, Autismus und Herzfehler bei den Patienten beschrieben. Die phänotypische Ausprägung kann sehr variabel sein.

jjEpidemiologie Die Prävalenz wird auf ca. 1:16.000 in der Bevölkerung geschätzt.

j jGenetik In 25% der Fälle tritt diese Mikrodeletion de novo auf, in 75% wird sie von einem Elternteil vererbt, der häufig lediglich eine milde klinische Ausprägung aufweisen oder sogar asymptomatisch sein kann. j jTherapie Die Therapie ist symptomatisch. 1.5.4

Mikrodeletionssyndrom 16p11.2

j jEpidemiologie Die Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung wird auf mindestens 1:5000 und unter mental retardierten Patienten auf ca. 0,5% geschätzt.

1.5.5

Mikrodeletionssyndrom 17q21.31

jjKlinik Die Patienten haben eine schwere muskuläre Hypotonie verbunden mit einer deutlichen motorischen Entwicklungsverzögerung. Laufen ist meistens erst nach dem 3. Lebensjahr möglich. Die fazialen Dysmorphien (hypotones Gesicht mit Ptosis, große, tief angesetzte Ohren, rechteckige, kolbenförmige Nase und ein langes Kinn) sind bei allen Patienten vorhanden, nicht immer aber so spezifisch, dass sie eine Blickdiagnose ermöglichen (. Abb. 1.11). Weitere Symptome können eine Epilepsie, renale und urologische Auffälligkeiten und ein Kryptorchismus sein. Interessant ist, dass bei vielen bisher beschriebenen Patienten mit dieser Deletion differenzialdiagnostisch an ein Angelman-Syndrom (7 Abschn. 1.4.2) gedacht wurde. Im ­Alter scheint das Gesicht länger und spezifischer zu werden. jjGenetik Die Deletion kann mittels der CGH-Arrayanalyse (. Abb. 1.12) oder bei spezifischem Verdacht mittels FISH nachgewiesen werden. Die

17 Humangenetik

..Abb. 1.12  Array-CGH mit Hybridisierung auf einem 105-K-Chip der Agilent (Kontrolle: gepoolte DNA von 10 männlichen Probanden mit normalem

Karyotyp), Scanning, Analyse mit der Software CGH Analytics (Fa. Agilent). Etwa 0,5 Mb große Deletion in der Region 17q21.31

Deletion tritt in aller Regel de novo auf. In der Deletionsregion ­befindet sich bei 20% der Europäer ein Inversionspolymorphismus, der fast immer bei einem der Eltern vorhanden ist.

jjGenetik Es handelt sich um terminale oder interstitielle Deletionen der ­Region 22q13.3, die entweder de novo oder im Rahmen einer familiären balancierten Translokation oder Inversion auftreten können. Der Umfang des deletierten Bereichs ist variabel, er kann von ca. 100 kb bis zu bereits zytogenetisch sichtbaren Deletionen von 10 Mb reichen. Die kritische Region umfasst das Gen SHANK3, ­welches bei allen publizierten Fällen deletiert ist.

jjTherapie Die Therapie ist symptomatisch. 1.5.6

Mikrodeletionssyndrom 22q13.3 (Phelan-McDermid-Syndrom)

jjEpidemiologie Zuverlässige Daten zur Prävalenz liegen nicht vor. In einer großen Studie wurde diese Mikrodeletion mit einer Häufigkeit von ca. 0,3% bei Kindern mit einer geistigen Behinderung festgestellt. jjKlinik Die Patienten haben neonatal eine deutliche muskuläre Hypotonie und später eine moderate bis schwere mentale Retardierung mit fehlender oder stark beeinträchtigter Sprachentwicklung. Das ­Größenwachstum ist in der Regel normal oder akzeleriert. Die ­Hände sind typischerweise groß und fleischig, die Zehennägel häufig dysplastisch. Die klinische Ausprägung ist abhängig von der Größe der Deletion.

jjTherapie Die Therapie ist symptomatisch. Es sollten hohe Umgebungstem­ peraturen gemieden werden, da bei einigen Kindern eine Neigung zur Überhitzung aufgrund einer reduzierten Schweißbildung beschrieben wurden. 1.6

Monogene FehlbildungsRetardierungs-Syndrome mit geklärter molekularer Ätiologie

1.6.1

Cornelia-de-Lange-Syndrom (CdLS)

jjEpidemiologie Das erstmalig von der niederländischen Kinderärztin Cornelia de Lange und nach ihr beschriebene Syndrom tritt mit einer Häufigkeit von 1–10 auf 100.000 Neugeborene auf.

1

18

G. Gillessen-Kaesbach und Y. Hellenbroich

klären. Einige der Gene dieses Signalwegs sind als Onkogene schon lange bekannt.

1

Noonan-Syndrom jjEpidemiologie Das 1963 von Jaqueline Noonan und Ehmke beschriebene Krankheitsbild tritt mit einer Häufigkeit von ca. 1 auf 2000 Neugeborene auf. jjKlinik Pränatal hinweisend sind eine erhöhte Nackentransparenz, ein ­Hydrops sowie ein Polyhydramnion. Die Fazies mit Ptosis, Hypertelorismus und tiefsitzenden Ohren in Kombination mit einem Herzfehler, meist einer Pulmonalklappenstenose oder Kardiomyo­ pathie, lassen eine Blickdiagnose zu. Zusätzlich finden sich ­häufig ein breiter Nacken mit inversem Haaransatz, ein Pectus excavatum sowie ophthalmologische und renale Probleme. Normale geistige Entwicklung bis hin zu schwerer Intelligenzminderung sind möglich.

..Abb. 1.13  8 Tage altes Mädchen mit Cornelia-de-Lange-Syndrom mit ausgeprägtem Reduktionsdefekt (Monodaktylie)

j jPhänotyp Charakteristische faziale Dysmorphien sind: Synophrys, lange, ­gebogene Augenwimpern, kleine Nase mit kurzer Nasenspitze und antevertierten Narinen, betontes, verstrichenes Philtrum, schmales Lippenrot, kleine weit auseinanderstehende Zähne sowie eine meist deutliche Mikrozephalie. Bei vielen Kindern zeigen sich Reduktionsfehlbildungen der oberen Extremität, die von einem hypoplastischen Daumen bis zur Monodaktylie reichen können (. Abb. 1.13). Es bestehen ein prä- und postnataler Kleinwuchs. Außerdem fast immer ein gastrointestinaler Reflux, der unbehandelt zu einer schweren Ess- und Verhaltensproblematik führt. Meistens liegt eine schwere Intelligenzminderung vor. Zusätzlich können unterschiedliche Organfehlbildungen und Krampfanfälle auftreten. j jGenetik Bei etwa 50% der Patienten zeigen sich heterozygote Mutationen im NIPBL-Gen (5p13.1). Weitere ursächliche Gene sind SMC1A (Xp11.22-p11.21), SMC3, RAD21 und HDAC8. Insgesamt kann die Diagnose nur in gut der Hälfte der Fälle bewiesen werden. Bei Patienten mit milderem Phänotyp sollte an ein Mosaik gedacht ­werden. Außerdem gibt es Berichte über betroffene Geschwister, hier ist von einem Keimbahnmosaik auszugehen. j jTherapie Hier ist besonders auf die Therapie des gastrointestinalen Refluxes (häufig Fundoplikatio notwendig) hinzuweisen, ansonsten ist die Therapie symptomatisch. 1.6.2

Noonan-Syndrom, kardiofaziokutanes Syndrom, Costello-Syndrom

In den letzten Jahren haben molekulargenetischen Untersuchungen im RAS-Signalweg wesentlich dazu beigetragen, die Klassifikation von Krankheitsbildern des Noonan-Syndrom-Spektrums –NoonanSyndrom, kardiofaziokutanes-Syndrom und Costello-Syndrom – zu

jjGenetik Ursächlich für das Noonan-Syndrom wurden zunächst Mutationen im PTPN11-Gen (12q24.1), das für das SHP-2-Protein kodiert, nachgewiesen. Diese Mutation findet sich bei etwa der Hälfte der Patienten mit Noonan-Syndrom, die in der Regel auch eine normale Entwicklung aufweisen. Auch Patienten mit LEOPARD-Syndrom (Akronym für: „Lentigines, ECG-abnormalities, ocular hypertelorism, pulmonary stenosis, abnormalities of the genitalia, retardation of growth retardation“) finden sich ebenfalls Mutationen im PTPN11-Gen, die aber in bestimmten Regionen (Exon 7 und 12) des Gens liegen. Mutationen im SOS1-Gen (2p21-p22) sind in ca. 10–20% für das Noonan-Syndrom verantwortlich. Seltener (5%) findet man Mutationen im KRAS-Gen (12p12.1). In einigen dieser Fälle zeigt sich ein schwererer Phänotyp, der eher dem kardiofaziokutanen Syndrom zuzurechnen ist. Patienten mit Noonan-Phänotyp und hypertropher Kardiomyopathie und normaler Intelligenz ­weisen mit einer Häufigkeit von 3% Mutationen im RAF1-Gen (3p25) auf. Es gibt aber auch Patienten mit der klinischen Diagnose Noonan-Syndrom, bei denen keine molekulargenetische Auffälligkeit zu finden ist, was auf das Vorhandensein anderer Gene schließen lässt. Das Krankheitsbild wird autosomal-dominant vererbt, fami­ liäre Fälle sind häufiger. jjTherapie Ggf. Korrektur des Herzfehlers, ansonsten symptomatische Therapie. Bei einigen Patienten mit Mutation im PTPN11-Gen besteht ein erhöhtes Risiko für Leukämien.

Kardiofaziokutanes Syndrom (CFC-Syndrom) jjEpidemiologie Die Häufigkeit des 1979 erstmalig von Blumberg beschriebenen Krankheitsbilds ist nicht bekannt. Weltweit gibt es wohl 200–300 Patienten. In der Literatur wurde immer wieder diskutiert, ob das CFC-Syndrom sich vom Noonan-Syndrom unterscheidet oder ob es sich lediglich um eine unterschiedliche Ausprägung ein und des­ selben Krankheitsbilds handelt. Hier konnte durch die molekulargenetischen Untersuchungsergebnisse eine Klärung herbeigeführt werden. jjPhänotyp Wie beim Noonan-Syndrom findet sich häufig ein Polyhydramnion. Ausgeprägte Fütterungsprobleme sind häufig. Die Fazies, die etwas grob wirkt mit der hohen Stirn mit bitemporalen Einziehungen,

19 Humangenetik

­ aben eine Mutation im KRAS-Gen (12p12.1). Die Mutation tritt h meist de novo auf, das Krankheitsbild wird autosomal-dominant vererbt. jjTherapie Symptomatische Therapie.

Costello-Syndrom jjEpidemiologie Die Häufigkeit des 1971 von Costello beschriebenen Krankheitsbilds ist nicht bekannt.

..Abb. 1.14  18 Monate altes Mädchen mit CFC-Syndrom (KRAS-Mutation)

­ ypertelorismus, Ptosis und tief ansetzenden, nach hinten rotierten H Ohren, macht eine Blickdiagnose möglich (. Abb. 1.14). Die muskelhypotonen Patienten haben eine relative Makrozephalie und ­einen Kleinwuchs. Typische Herzfehler sind Pulmonalstenose, Vorhofseptumdefekt und hypertrophe Kardiomyopathie. Auch Herzrhythmusstörungen können auftreten. Die kutanen Auffälligkeiten (Hyperkeratose und Ekzeme) sind nur bei einem Teil der Patienten vorhanden. Das langsame wachsende spärliche Haar, das häufig ­lockig ist, hat eine zusätzlich diagnostische Bedeutung. Es besteht eine unterschiedlich ausgeprägte Intelligenzminderung. Etwa die Hälfte der Patienten entwickelt ein Anfallsleiden. jjGenetik Für das CFC-Syndrom wurden unterschiedlichen Gene des RASSignalwegs identifiziert. Am häufigsten (75–80%) zeigen sich Mutationen im BRAF-Gen (7q34), gefolgt von Mutationen (10–15%) im MEK1- (15q21) und MEK2-Gen (7q32). Etwa 5% der Patienten

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jjPhänotyp Pränatal fallen ein Polyhydramnion, postnatal ein Hydrops, hohes Geburtsgewicht und später Kleinwuchs auf. Die Gesichtsauffällig­ keiten (relative Makrozephalie, Hypertelorismus, großer Mund mit vollen Lippen) werden mit zunehmendem Alter immer spezifischer und grober (. Abb. 1.15). Ab dem späten Kindesalter können sich charakteristische Papillome (perioral und perianal; . Abb. 1.15b) ­zeigen. Die Haut ist häufig dunkel pigmentiert. Charakteristisch sind auch die tiefen Hautfurchen an den Händen und Füßen (. Abb. 1.15c). Typische Herzfehler sind Pulmonalstenose und hypertrophe Kardiomyopathie. Auch Arrhythmien sind bekannt. Es besteht eine schwere mentale Retardierung. Patienten mit Costello-Syndrom ­haben ein erhöhtes Tumorrisiko (Rhabdomyosarkome, Neuroblas­ tome, Blasenkarzinome). jjGenetik Bei fast 90% der Patienten findet sich dieselbe Missense-Mutation im HRAS-Gen (11p15.5). Nur einige wenige Patienten zeigen eine andere Mutation, in diesen Fällen unterscheidet sich der Phänotyp allerdings auch vom klassischen Costello-Syndrom. Die Mutationen sind alle neu entstanden. Aufgrund der schweren Retardierung erfolgt keine Fortpflanzung. jjTherapie Schwere Fütterungsprobleme bedürfen häufig einer PEG-Sonde. Wichtig ist die Tumorvorsorge auch schon im jungen Kindes­ alter.  Kardiologische Kontrollen sind insbesondere bei einer ­Kardiomyopathie notwendig. Ansonsten symptomatische Maß­ nahmen.

c

..Abb. 1.15 Costello-Syndrom. a 10-jähriges Mädchen mit Costello-Syndrom (HRAS-Mutation), b charakteristische perinasale und periorale Papillome; c typische tiefe Hautfurchen

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G. Gillessen-Kaesbach und Y. Hellenbroich

..Abb. 1.16  4-jähriger Junge mit Mowat-Wilson-Syndrom. a Frontalaufnahme, b nach vorne gebogenes Ohrläppchen

a

Mowat-Wilson-Syndrom j jEpidemiologie Die Inzidenz des 1998 von Mowat et al. beschriebenen Krankheitsbilds ist bisher nicht klar. Zunächst wurde es als neue syndromale Form des Morbus Hirschsprung bezeichnet. Seit der Identifikation des zu Grunde liegenden Gens (ZFHX1B) weiß man, dass eine Hirschsprung-Erkrankung kein obligates klinisches Zeichen ist. j jPhänotyp Faziale Dysmorphien wie Hypertelorismus, medial wie verdoppelt wirkende Augenbrauen, ein pointiertes Kinn sowie nach vorne gebogene Ohrläppchen erlauben oft eine Blickdiagnose (. Abb. 1.16). Postnatal häufig Mikrozephalie und Krampfanfälle. Selten struk­ turelle Augenfehlbildungen wie eine Mikrophthalmie. Ein Morbus Hirschsprung, eine Agenesie des Corpus callosum und Hypospadien haben zusammen mit den fazialen Auffälligkeiten eine hohe dia­ gnostische Bedeutung. Die mentale Retardierung ist in der Regel schwer. j jGenetik In dem für Mowat-Wilson-Syndrom ursächlichen Gen (ZFHX1B), das auf 2q22 lokalisiert ist, wurden sowohl Deletionen wie Punktmutationen identifiziert. Missense-Mutationen scheinen selten zu sein. Ein Morbus Hirschsprung liegt nur bei gut 40% der Patienten mit gesicherter Diagnose vor. Geschwisterbeobachtungen lassen auf Keimbahnmosaike schließen, die aber sehr selten zu sein scheinen. 1.7

Humangenetische Beratung

>> Bei dem raschen Erkenntniszuwachs auf dem Gebiet der ­medizinischen Genetik ist es sinnvoll, wenn der Kinderarzt die Probleme der humangenetischen Beratung in die Hände von Fachärzten für Humangenetik legt.

Grundprinzip einer genetischen Beratung ist das Recht des Patienten auf umfassende Aufklärung und Selbstbestimmung. Die genetische Beratung ist ein Kommunikationsprozess, der dem Ratsuchenden helfen soll, genetische Zusammenhänge in Bezug auf Krankheiten zu verstehen, Entscheidungsalternativen zu bedenken und so informierte, eigenständige und tragfähige Entscheidungen zu treffen, insbesondere bezüglich der Inanspruchnahme einer genetischen Untersuchung. Die Inanspruchnahme einer genetischen Beratung

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ist freiwillig! Die Gesprächsführung sollte ergebnisoffen und nondirektiv erfolgen. Dies bedeutet insbesondere, dass die Entscheidung hinsichtlich der Familienplanung oder der Inanspruchnahme prä­ nataler Diagnostik ausschließlich beim Ratsuchenden liegt. Zu einer genetischen Beratung gehört üblicherweise zunächst die Klärung der persönlichen Fragestellung des Ratsuchenden, das Erheben der Anamnese und Aufzeichnen eines Familienstammbaums, die Einsicht in Vorbefunde und ggf. eine klinische Unter­ suchung des Ratsuchenden oder anderer Familienmitglieder. Auf Grundlage der so erhobenen Verdachtsdiagnose kann sich eine ­genetische Laboruntersuchung anschließen, die im Idealfall zu einer möglichst genauen Diagnose führt. Eine genetische Beratung kann daher häufig mehrere Gespräche im zeitlichen Abstand umfassen. Dem Ratsuchenden sollten anschließend ausführliche Informa­ tionen zu der diagnostizierten Erkrankung gegeben werden, dabei sind insbesondere genetische Risiken für Familienangehörige und mögliche Nachkommen zu thematisieren. Die Berechnung eines genetischen Risikos stellt dabei einen zentralen Bestandteil einer ­genetischen Beratung dar. Sie sollte die Möglichkeit einer verminderten Penetranz oder eines Keimzellmosaikes berücksichtigen. Bei multifaktoriellen Erkrankungen ist in der Regel auf empirische Risikoziffern zurückzugreifen. Der Inhalt der genetischen Beratung wird für den Ratsuchenden in einem in verständlicher Sprache verfassten Brief zusammengefasst. Neben den nüchternen medizinisch-genetischen Sachverhalten spielen auch psychologische Aspekte bei einer genetischen Beratung eine wichtige Rolle, da nicht selten die Diagnose einer genetisch ­bedingten Erkrankung zu Schuldgefühlen und Ängsten bei den ­Patienten führt. Ein häufiger Anlass für eine humangenetische Beratung sind Kinder mit Fehlbildungen oder Störungen der psychomotorischen Entwicklung. Dabei ist eine Diagnosestellung insbesondere für die Einschätzung des Wiederholungsrisikos für weitere Kinder der Eltern von großer Bedeutung. Bei schwerwiegenden ­Erkrankungen müssten dann auch die Möglichkeiten und Grenzen einer pränatalen Diagnostik thematisiert werden. Der besondere Fall Die Eltern eines 5-jährigen Kindes mit Mukoviszidose haben sich beim Kinderarzt und Humangenetiker umfassend über die Erkrankung und deren Vererbung informiert. Trotzdem wünschten sie in der nach­ folgenden Schwangerschaft eine pränatale Diagnostik. Bereits in der 13. Schwangerschaftswoche erfuhren sie, dass ihr 2. Kind wieder die homozygote Mutation ΔF 508 trägt. Die Fragen, die die Eltern aufwer-

21 Humangenetik

fen, berühren jeden Arzt, der sich mit pränataler Diagnostik beschäftigt. „Können Sie entscheiden, ob das Kind mit Mukoviszidose leben möchte oder nicht? Wie messen Sie den Sinn des Lebens? Glauben Sie nicht, dass das Erkennen eigener Grenzen auch Chancen für ein intensiveres Leben bietet?“ Die Lebenserwartung von Mukoviszidosepatienten steigt jedes Jahr um fast 1 Jahr. Die Dynamik der Therapieverbesserung auf mehreren Gebieten bis hin zu ersten Versuchen der Gentherapie haben zur F­ olge, dass über die Lebenserwartung eines heute geborenen Kindes ­keine Aussage gemacht werden kann und darf.

Ähnliches gilt auch für humangenetische Beratungen von Schwangeren, bei denen z. B. sonographisch Auffälligkeiten beim Feten nachgewiesen wurden oder ein Altersrisiko besteht. Dabei kommt es insbesondere bei Erwägung eines Schwangerschaftsabbruchs nicht selten zu erheblichen psychischen und ethischen Konflikten der Ratsuchenden. Die persönliche Weltanschauung der Patientin einschließlich der religiösen Wertvorstellungen muss respektiert werden. Inanspruchnahme einer vorgeburtlichen Diagnostik präjudiziert bei einem pathologischen Befund in keinem Fall zwangsläufig einen Schwangerschaftsabbruch. Der besondere Fall Im Alter von 1½ Jahren wird bei dem Jungen mit Fehlbildungs-Retardierungs-Syndrom eine partielle Trisomie 13 diagnostiziert. Ursache der chromosomalen Aberration ist eine Inversion 13, die die Mutter und weitere Familienangehörige haben. In der 4. Schwangerschaft wird bei der pränatalen Diagnostik ein normaler männlicher Karyotyp nachgewiesen. Nach dem Tod des kranken Kindes gehen die Eltern eine weitere Schwangerschaft ein, die nach der pränatalen Diagnostik wieder eine partielle Trisomie 13 ergibt, aber von der Mutter ausge­ tragen wird. Die Eltern verlieren das Kind im Alter von 15 Monaten. Die letzte Schwangerschaft wird ohne pränatale Diagnostik ausgetragen. Das gesund geborene Kind hat die Inversion wie die Mutter. Die Eltern waren über die Prognose der chromosomalen Aberration ­informiert, haben sich mit der Alternative Austragen oder Abruptio ­intensiv auseinandergesetzt. Sie demonstrieren zugleich das Recht des Behinderten auf körperliche Unversehrtheit.

1.8

Next generation sequencing

Grundlage einer humangenetischen Beratung ist eine exakte Dia­ gnose. In den letzten 30 Jahren ist es gelungen, zahlreiche Krankheitsgene zu identifizieren. Lange Zeit war eine Karyotypisierung die einzige Möglichkeit, eine ätiologische Klärung herbeizuführen. Molekularzytogenetische Methoden (FISH, Array-CGH) haben dann für eine Vielzahl von Fragestellungen eine ursächliche Klärung ermöglicht. Homozygotie-Mapping und Kopplungsanalysen stellen klassische aber aufwändige Verfahren dar, die es erlauben, neue Krankheitsgene zu identifizieren. Mitte der der 1970er Jahre wurde es durch die Sequenzierungsmethode nach Sanger (Sanger, PNAS) möglich, Gensequenzen und schließlich krankheitsverursachende Mutationen in den kodierenden Bereichen (Exons) von Genen zu identifizieren. Die DNA-Sequenzierung von Genen stellte bis vor kurzem den Goldstandard in der humangenetischen Diagnostik dar. Allerdings sind diese Analysen in der Abhängigkeit von der Größe des Gens (Zahl der Exons) sehr kosten- und zeitintensiv. Ein weiterer Nachteil ergibt sich bei der Diagnostik von Krankheiten für die ­mehrere Gene (z. B. Hörstörungen, Epilepsien, Bindegewebserkrankungen etc.) ursächlich bekannt sind.

kkDNA-Sequenzierung Seit ungefähr 10 Jahren wird an der Verbesserung der DNA-Sequenziermethoden gearbeitet. Kaum jemand hätte erwartet, dass die ­Etablierung des „next generation sequencing“ (NGS), auch als „massively parallel sequencing“ (MPS) bezeichnet, so schnell Einzug in die Praxis genommen hätte. Diese Hochdurchsatzsequenzierung ­beinhaltet viele verschiedene Sequenziermethoden. Während die Sanger-Sequenzierung sehr zeitaufwändig ist, ermöglicht das NGS, ein komplettes Genom innerhalb einer Woche zu sequenzieren. Dies wird durch paralleles Sequenzieren von Millionen von unterschied­ lichen DNA-Fragmenten erreicht. Jeder Bereich des Genoms wird mehrfach parallel sequenziert. Dann erfolgt eine Fixierung eines Fragments an einer Oberfläche wie z. B. an kleinen Kügelchen („­beads“) oder einer Glasoberfläche. Nach Abschluss der Sequenzierung werden Millionen von Reads mit einem Referenzgenom ver­ glichen und bioinformatisch ausgewertet. In der Zwischenzeit stehen für das NGS zahlreiche unterschiedliche Technologieplattformen zur Verfügung, die zugrundliegenden Techniken und die notwendigen Chemikalien unterscheiden sich dabei erheblich. Die am häufigsten benutzten Plattformen werden von den Firmen Roche, Illumina und Applied Biosystems/Life Technology angeboten. Diese Systeme unterscheiden sich durch die Durchsatzmenge der Basen und die Länge der sequenzierten Fragmente und werden dementsprechend für verschiedene Fragestellungen genutzt. 1.8.1

Whole genome sequencing

Die Sequenzierung des gesamten Genoms („whole genome sequencing“, WGS) ist möglich. Einige bekannten Persönlichkeiten (Craig Venter, James Watson etc.) haben mittlerweile ihr gesamtes Genom sequenzieren lassen. Allerdings eignet sich diese Methode derzeit nicht, um in der Praxis routinemäßig eingesetzt zu werden, da die Vielzahl der gefundenen Sequenzvarianten ein erhebliches Problem bei der Interpretation der Daten mit sich zieht. In der Forschung konnte dieser Ansatz jedoch schon in vielen Fällen genutzt werden, um das krankheitsverursachende Gen zu identifizieren. 1.8.2

Exom-Sequenzierung

Für die diagnostische Anwendung des NGS ist die Sequenzierung der kodierenden Bereiche („exom-sequencing“) geeignet. Durchschnittlich werden hiermit etwa 25.000 „single nucleotide variants“ (SNV) entdeckt. Mehr als 95% dieser Varaianten entsprechen bekannten Polymorphismen. Beim sog. „target enrichment“ wird die Anreicherung und Vervielfältigung der DNA-Probe des Patienten auf diejenigen Gene eingegrenzt, die aufgrund der klinischen Verdachtsdiagnose in Frage kommen. Die Arbeitsgruppe von Ngo et al. konnte mit Hilfe der Exomsequenzierung erstmalig 2010 erfolgreich das Gen für das autosomal rezessiv vererbte Miller-Syndrom identifizieren. Für diese Untersuchung reichten zwei betroffene Mitglieder  einer Familie. Durch NGS konnte die Anzahl der Kandidaten­gene auf 9 reduziert werden. Durch anschließende Sanger-Sequenzierung konnte dann das DHODH-Gen als ursächliches Gen für das MillerSyndrom identifiziert werden. In der Zwischenzeit ist es auch möglich, mit dieser Methode nach gemeinsamen Haplotypen zu ­suchen, was die Anzahl der Kandidatengene nochmals reduziert. Durch eine weitere Verbesserung der Methoden ist es sogar möglich gewesen, mit Hilfe von nur einem sporadischen Fall durch NGS das krankheitsrelevante Gen für das Sensenbrenner-Syndrom zu identifizieren.

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G. Gillessen-Kaesbach und Y. Hellenbroich

Ein besonders vielsprechender Ansatz wurde von Vissers et al. im Jahr 2011 beschrieben. Unter der Annahme, dass viele Erkrankungen, die mit einem Intelligenzdefizit einhergehen, sporadisch auf­ treten, wurde die Hypothese aufgestellt, dass es sich in diesen Fällen um De-novo-Mutationen handeln könnte. In dieser Studie wurde eine Exom-Sequenzierung bei einem Betroffenen und seinen Eltern (Trios) durchgeführt. In 7 von 10 Fällen konnte auf diese Weise die krankheitsverursachende Mutation gefunden werden. Allerdings ist es bei diesem Ansatz (Trio-Strategie) notwendig, pro Patient 3 Exome zu sequenzieren. Seit der Einführung des NGS werden wöchentlich neue Krankheitsgene für autosomal-rezessiv vererbte, aber auch für sehr seltene autosomal-dominante Krankheitsbilder identifiziert (Kabuki-Syndrom, Schinzel-Giedion-Syndrom, Nicolaides-Baraitser-Syndrom und viele andere). 1.8.3

Diagnostische Anwendung des NGS

Für die ursächliche Klärung von heterogenen Krankheitsbildern werden zunehmend Diagnostik-Panels auf Basis des NGS genutzt, die eine Untersuchung von zahlreichen Genen gleichzeitig ermög­ lichen. Diese Strategie ist insbesondere für heterogene Krankheitsbilder empfehlenswert, bei denen zahlreiche unterschiedliche Gene für ein Krankheitsbild verantwortlich sind. Zu diesen Krankheits­ bildern gehören z. B. die Netzhauterkrankungen (Retinitis pigmentosa), die zu einer frühen Blindheit führen. Aber auch für die Dia­ gnostik von erblichen Hörstörungen, Epilepsie, Mikrozephalien, Bindegewebserkrankungen und vielen anderen Fragestellungen stehen mittlerweile entsprechende „Panels“ zur Verfügung. 1.8.4

NGS in der pränatalen Diagnostik

Auch in der pränatalen Diagnostik hat das NGS Einzug gehalten. So gibt es mittlerweile einen Test, durch den es möglich ist, durch Untersuchung der fetalen DNA im mütterlichen Blut die Diagnose einer Trisomie 21 zu stellen. Hier ist zu erwarten, dass es in absehbarer Zeit auch realistisch sein wird, andere häufige Chromosomenstörungen wie die Trisomien 13 und 18 auf diese Weise zu erkennen. Grundsätzlich ist es denkbar, auch ein komplettes fetales Genom zu untersuchen. Hier erfolgte bereits eine erste Publikation. Allerdings ergeben sich doch erhebliche ethische Probleme, was den Umgang mit den gefundenen Daten angeht. Sowohl nicht interpretierbare Ergebnisse als auch Befunde, die ein relevantes Krankheits- oder Krebsrisiko darstellen, sind möglich. Hier sind die Ethikkommis­ sionen gefragt, hohe ethische Standards zu etablieren. Unbedingt ist auf die Einhaltung des Gendiagnostikgesetzes zu achten, insbesondere auch auf das Recht auf Nichtwissen. 1.8.5

Fazit und Ausblick

Das NGS hat unerwartet schnell Einzug in die humangenetische Diagnostik genommen. Mit Hilfe dieser Methode ist es möglich, die Sequenzierung von Genen kosteneffizient und schnell durchzu­ führen. Es ist zu erwarten, dass die Methoden und insbesondere die bioinformatische Verarbeitung der Daten weiterhin kontinuierlich verbessert werden und in naher Zukunft die Diagnostik in der gesamten Medizin bestimmen. Durch die Exomsequenzierung wird es ermöglicht, viel häufiger als früher eine exakte Diagnose zu stellen, die dann auch Ausgangspunkt für mögliche Therapieansätze sein

kann. Auf der Basis einer exakten Diagnose kann dann auch eine bessere genetische Beratung erfolgen. Durch die Identifikation ­neuer Phänotypen wird in Zukunft auch eine genauere Genotyp-Phänotyp-Korrelation möglich sein. >> Es wird von essenzieller Bedeutung sein, wie man mit Zufallsbefunden umgeht, die nicht im Zusammenhang mit der Fragestellung stehen.

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23

Ernährung und metabolische Erkrankungen Inhaltsverzeichnis Kapitel 2

Grundlagen der Ernährung B. Koletzko

Kapitel 3

Metabolische Erkrankungen G.F. Hoffmann

– 25

– 41

II

25

Grundlagen der Ernährung B. Koletzko

2.1

Muttermilchernährung  – 26

2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5

Grundlagen  – 26 Vorteile des Stillens  – 28 Mögliche Nachteile der Muttermilchernährung  – 28 Mütterliche Stillhindernisse  – 29 Stillförderung, Praxis des Stillens  – 30

2.2

Säuglingsmilchnahrungen  – 30

2.2.1 Verschiedene Formen künstlicher ­Säuglingsmilchnahrungen  – 30 2.2.2 Selbst hergestellte Flaschennahrung  – 31 2.2.3 Praxis der Flaschenfütterung  – 31

2.3

Alimentäre Allergieprävention im Säuglingsalter  – 31

2.4

Prophylaxe mit Vitamin K und D sowie Fluorid  – 32

2.4.1 Vitamin K  – 32 2.4.2 Vitamin D, Fluorid  – 32

2.5

Beikost  – 32

2.5.1 Zufütterung im 1. Lebensjahr  – 32 2.5.2 Übergang zur Familienkost  – 33 2.5.3 Flüssigkeitszufuhr  – 34

2.6

Therapie von Nahrungsmittelallergien  – 35

2.7

Ernährung bei Durchfall  – 35

2.8

Spucken, Blähungen, Dreimonatskoliken  – 36

2.8.1 Aufstoßen, Spucken  – 36 2.8.2 Blähungen  – 36 2.8.3 Säuglingskoliken  – 37

2.9

Untergewicht  – 37

2.10 Übergewicht  – 38 2.11 Ernährung ehemaliger Frühgeborener  – 39

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_2

2

2

26

B. Koletzko

2.1

Muttermilchernährung

2.1.1

Grundlagen

Stillen bietet mehr als nur die Zufuhr von Kalorien. Die Sterblichkeit flaschenernährter Säuglinge war in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts 7-fach höher als bei gestillten Kindern, v. a. durch den Schutz vor dem Auftreten gastrointestinaler Infektionen. Offenbar können die zahlreichen Abwehrfaktoren der Frauenmilch die noch unreife körpereigene Immunfunktion junger Säuglinge sehr effektiv ausgleichen. Noch heute schützt Voll- und Teilstillen auch in den Industrieländern wirksam vor Durchfall- und Atemwegserkrankungen, wiewohl die Mortalität unter hygienischen Bedingungen nicht mehr beeinflusst wird. Das Stillen hat zudem eindrucksvolle Langzeitwirkungen. Früher gestillte Kinder haben noch in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter ein signifikant geringeres Auftreten von Diabetes mellitus Typ I und Morbus Crohn. Eindrucksvoll sind jüngere Studienergebnisse, die Nahrungszufuhr und Wachstum in der frühen Kindheit mit dem Krankheitsrisiko im ­hohen Lebensalter in Verbindung bringen. So führt Stillen in den ersten Lebensmonaten zu einem um etwa 20% geringeren Risiko für Adipositas im Kindes- und Jugendalter sowie einer Risiko­ minderung für die damit assoziierten Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2. Eine ähnliche protektive Wirkung lässt sich bei

Säuglings­flaschennahrungen durch eine Absenkung des Eiweiß­ gehalts auf ein der Muttermilch angenähertes Niveau erzielen. Ganz offensichtlich wird die Gesundheit des Individuums langfristig durch die Qualität der Säuglingsernährung beeinflusst (metabolische Programmierung). Muttermilch ist im 1. Lebensjahr die ideale Nahrung für den gesunden Säugling. Das Stillen liefert nicht nur eine weitgehend bedarfsgerechte Nährstoffzufuhr (. Tab. 2.1), ­sondern bewirkt durch eine Vielzahl miteinander interagierender immunologischer Faktoren auch einen ausgeprägten Infektionsschutz. Selbst noch nach dem Ende der Stillperiode haben früher gestillte Kinder ein geringeres Risiko für verschiedene Erkrankungen. Darüber hinaus fördert das Stillen die Mutter-Kind-Bindung, den emotionalen Kontakt und vermittelt Sicherheit und Geborgenheit (7 Kap. 4.13). Physiologie der Milchbildung  Die Brustdrüse bildet die Milch in den Alveolarepithelien und sezerniert sie in die sekretorischen Alveoli der 18–20 Segmente jeder Brust. Die Alveoli werden durch kleine Milchgänge drainiert, welche in große Milchgänge mit jeweils einer eigenen Öffnung in der Brustwarze führen. Wachstum und Differenzierung der Brustdrüse sowie die Milchbildung werden endo­krin kontrolliert. Der Abfall der Östrogenspiegel im mütterlichen Blut nach der Geburt und die mit der Wehentätigkeit einsetzende Prolaktinsekre-

..Tab. 2.1  Referenzwerte für die Zufuhr an Energie und wichtigen Nährstoffen für gesunde Kinder in Abhängigkeit vom Lebensalter (Zufuhr pro kg Körpergewicht und Tag [/kg KG/Tag] oder pro Tag [/Tag]; mod. nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Aus ­Koletzko B (Hrsg) (2017) Nutritional needs of infants, children and adolescents (Koletzko 2017). Beachte: Der Bedarf beim individuellen Kind und v. a. unter Krankheitsbedingungen kann u. U. erheblich von diesen Richtwerten abweichen! 0– In verschiedenen Studien war der infektionsprotektive Effekt des Stillens über die Dauer der Stillperiode hinaus nachweisbar.

Auch das körpereigene Immunsystem des Säuglings wird durch das Stillen beeinflusst. So zeigten sonographische Untersuchungen, dass gestillte Kinder ein größeres Volumen des für die T-Zellentwicklung wichtigen Thymusorgans haben bei nicht gestillten Säuglinge gleichen Alters. Langzeitwirkungen des Stillens  Langzeitwirkungen des Stillens

auf viele Jahre später auftretende Gesundheitsrisiken wurden in zahlreichen Studien beobachtet. So wurde ein signifikant geringeres Risiko früher gestillter Kinder für im jugendlichen Alter auftretenden Diabetes mellitus Typ 1 und den Morbus Crohn berichtet. Epidemiologische Untersuchungen in Deutschland zeigten, dass die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht (Körpermassenindex >90. Perzentile) und Adipositas (Körpermassenindex >97. Perzen­ tile) im Schulalter bei früher gestillten Säuglingen, nach Adjustierung für konfundierende Faktoren, um etwa 10-20% geringer ist als bei früher nicht gestillten Kindern. Dabei zeigte sich eine deutliche Dosis-Wirkungs-Beziehung: die Wahrscheinlichkeit für Über­ gewicht und Adipositas im Schulalter umso geringer, je länger die Kinder früher gestillt worden waren. Zusammengenommen bieten diese Ergebnisse wichtige Argumente für eine konsequente Stillförderung durch Ärzte und Angehörige anderer Gesundheitsberufe.

>> Empfohlen wird ein Vollstillen möglichst über 4–6 Monate.

2.1.3

Mögliche Nachteile der Muttermilchernährung

Potenzielle nachteilige Aspekte des Stillens für das ­Neugeborene 55Stärkere postpartale Gewichtsabnahme: Cave: dystrophe Neugeborene, Frühgeborene, Neugeborene diabetischer Mütter! 55Verstärkter und verlängerter Neugeborenenikterus: Bilirubin im Mittel um etwa 1 mg/dl höher (meist ohne Bedeutung) 55Übertragung mütterlicher Infektionen: z. B. Zytomegalie, ­Virushepatitis, HIV, Tbc

29 Grundlagen der Ernährung

55Risiko marginaler Nährstoffversorgung des Kindes: je nach mütterlicher Versorgung z. B. Vitamin K, D, B12, Jod 55Belastung mit von der Mutter aufgenommenen Fremd­ stoffen: Nikotin, Medikamente, Alkohol, allergen wirksame Proteine aus der mütterlichen Nahrung (z. B. intakte Kuhmilchproteine) 55 Belastung mit Umweltschadstoffen: V. a. lipophile Schadstoffe aus dem mütterlichen Fettgewebe (z. B. PCB, DDT, Dioxine)

Postpartale Gewichtsabnahme  Der sog. Milcheinschuss, also der

deutliche Anstieg der Milchsekretion, tritt meist erst 3–5 Tage nach der Geburt ein, bei Erstgebärenden im Mittel einen Tag später als bei Frauen, die bereits früher gestillt haben. Deshalb ist die getrunkene Milchmenge bei ausschließlich gestillten Kindern in den ersten Lebenstagen niedriger als bei Flaschenfütterung nach kindlichem Bedarf, entsprechend ist die kindliche Gewichtsabnahme nach der Geburt bei ausschließlichem Stillen im Mittel größer. Für Reifge­ borene mit niedrigem Geburtsgewicht, Frühgeborene und Neuge­ borene diabetischer Mütter mit einem hohen Hypoglykämierisiko kann deshalb eine frühzeitige Zufütterung mit einer altersgerecht zusammengesetzten Säuglingsmilchnahrung, ggf. auch mit einer Kohlenhydratlösung sinnvoll sein. Neugeborenenikterus  Gestillte Kinder haben eine etwas stärkere

Ausprägung des physiologischen Neugeborenenikterus mit einer im Mittel um etwa 1 mg/dl höheren Bilirubinkonzentration im Blut. V. a. nimmt der sichtbare Ikterus einen deutlich längeren Verlauf und ist vielfach noch am Ende des ersten Monats zu bemerken (sog. Muttermilchikterus). Eine Stillpause ist aber nur in sehr seltenen Fällen bei Anstieg der Bilirubinwerte in die Nähe der Austauschgrenze indiziert. Wichtig ist es, bei Kindern mit protrahiertem Ikterus eine Bestimmung des direkten Bilirubins vorzunehmen, das bei dem harmlosen Muttermilchikterus normal ist, aber bei den differenzialdiagnostisch abzugrenzenden cholestatischen Lebererkrankungen erhöht gefunden wird. >> Bei protrahiertem Ikterus (Icterus prolongatus, >14 Tage) ­immer direktes Bilirubin bestimmen.

Übertragung mütterlicher Infektionen  Das Stillen kann verschie­ dene mütterliche Infektionen durch Viren und Bakterien, wie z. B. Zytomegalie, Hepatitis, HIV, Tuberkulose übertragen, sofern sie nicht schon vor oder während der Geburt von der Mutter auf das Kind weitergegeben wurden. Unreife Frühgeborene etwa vor der 30. Gestationswoche sind besonders anfällig für die häufige Zyto­ megalieinfektion, sodass hier im Falle einer Muttermilchfütterung mit möglicher Kontamination konsequent eine Pasteurisierung der Milch empfohlen wird. Nährstoffversorgung  Einige Nährstoffe in der Muttermilch sind

in Abhängigkeit von der mütterlichen Nährstoffversorgung in der Milch nur in für das Kind unzureichender Menge enthalten und müssen auf anderem Wege supplementiert werden. Die Vitamine K und D werden allen Säuglingen als Supplement gegeben, um einem Mangel vorzubeugen. In Deutschland ist ein Jodmangel häufig, weshalb für alle Frauen eine Supplementierung mit täglich 100 µg Jodid für die Dauer der Schwangerschaft und der Stillzeit empfohlen wird (durch Tabletten; zusätzlich jodiertes Speisesalz, jodierte Backwaren und andere Lebensmittel mit Jodsalz). Frauen, die sich über Jahre streng pflanzlich ohne Zufuhr von Fleischwaren, Milch und Eiern

ernähren (sog. vegane Ernährung, z. B. auch streng makrobiotische Ernährungsweise), erleiden ohne Nahrungsergänzung zwangsläufig eine Vitamin-B12-Verarmung. Die Kinder vegan ernährter Frauen erhalten während der Schwangerschaft und der Stillzeit von ihren Müttern nur geringe Mengen an Vitamin B12 und entwickeln ohne eine andere Zufuhr in der Regel im Laufe des 1. Lebensjahres einen klinisch manifesten Vitamin-B12-Mangel mit Anämie und neurologischer Schädigung, die auch nach einer Supplementierung dauerhafte Schäden hinterlassen kann. Belastung mit Fremdstoffen  Von der Mutter aufgenommene Substanzen können in die Milch übergehen, so z. B. Alkohol, Nikotin, Drogen, allergene Eiweiße aus der mütterlichen Nahrung und ­Medikamente. >> Bei einer notwendigen medikamentösen Therapie der stillenden Mutter ist eine sorgfältige Einzelfallprüfung erforderlich.

Je nach dem Ausmaß des Übergangs einzelner Medikamente in die Milch und ihrer Toxizität ist ggf. eine vorübergehende Stillpause oder sogar ein Abstillen erforderlich. In den allermeisten Fällen kann jedoch eine für das gestillte Kind unbedenkliche medikamentöse Therapie der Mutter gewählt werden. Belastung mit Umweltschadstoffen  Persistente fettlösliche Schadstoffe wie die Pestizide DDT und dessen Stoffwechselpro­

dukte, Hexachlorbenzol (HCB), Lindan (HCH) oder die aus industriellen Prozessen stammenden polychlorierten Biphenyle (PCB), Dibenzodioxine und -furane werden regelmäßig in der Milch gefunden. Diese in der Nahrungskette angereicherten fettlöslichen Schadstoffe werden vom Menschen in vergleichsweise hohen Mengen mit der Nahrung aufgenommen und im Fettgewebe gespeichert. Die Milchkonzentrationen lipophiler Schadstoffe liegt nicht selten über den gesetzlich festgelegten, aus Gründen des vorbeugenden Gesundheitschutzes niedrig angesetzten Grenzwerten für Lebensmittel, aber die mittleren Muttermilchkonzentrationen der meisten Schadstoffe sind seit den 1970er-Jahren um etwa die Hälfte gefallen. Zu bedenken ist allerdings der ausgeprägte Effekt einer vermehrten L­ ipolyse durch Reduktionsdiäten. Während der Stillzeit kommt es physio­logischerweise bereits zu einem Abbau von Fettgewebe. Mit dieser Lipolyse werden auch im Fettgewebe akkumulierte fettlös­ liche Substanzen freigesetzt und gehen in die fettreiche Muttermilch über. >> Bei starker mütterlicher Gewichtsabnahme steigen die Milchkonzentrationen lipophiler Schadstoffe deutlich an. Deshalb wird von aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme während der Stillzeit abgeraten.

2.1.4

Mütterliche Stillhindernisse

Stillhemmnisse auf mütterlicher Seite können auszehrende oder psychotische Erkrankungen sein. Eine unzureichende Milchbildung aus organischer Ursache ist anscheinend extrem selten, meist ist eine zum Abstillen führende geringe Milchbildung durch un­ zureichende Anleitung und Unterstützung, Unsicherheit oder eine Ablehnung des Stillens durch die Frau oder ihren Partner bedingt. Anomalien der Brustwarzen wie Flach- und Hohlwarzen oder Wundsein der Brustwarzen und Rhagaden lassen sich oft überwinden durch ein Abpumpen der Milch oder durch die Anwendung von Stillhütchen aus Silikon, die beim Anlegen des Kindes über die Brustwarze gelegt werden.

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B. Koletzko

Bei einem Milchstau, der oft einzelne Segmente der Brustdrüse betrifft, kann ein häufigeres Anlegen des Kindes oder ein Abpumpen der Milch den Milchabfluss fördern. Bei einer bakteriellen Mastitis mit schmerzhafter Rötung, lokaler Überwärmung und oftmals ­Fieber muss das Stillen ggf. bis zum Einsetzen der Wirkung der anti­ biotischen Therapie unterbrochen werden. Bei der Wahl des ein­ gesetzten Antibiotikums ist auf eine Vereinbarkeit mit dem Stillen zu achten. 2.1.5

Stillförderung, Praxis des Stillens

Die mütterliche bzw. elterliche Motivation und Bereitschaft zum ­Stillen sollte vor und nach der Geburt konsequent gefördert werden. Bei gutem Befinden von Mutter und Kind kann innerhalb der ersten 30 min nach der Geburt Gelegenheit zum ersten Anlegen gegeben werden. Die ersten Mahlzeiten des Neugeborenen mit Anlegen an der Brust können für die Eltern beglückende Momente des Kennenlernens ihres Kindes und der Zuwendung sein, für die eine ruhige und geborgene Atmosphäre geschaffen werden sollte. In den folgenden Tagen soll das Kind zur Förderung der Milchbildung häufig und nach Bedarf angelegt werden. >> Günstig ist initial ein etwa 4- bis 6-stündliches Anlegen von jeweils 5–10 min Dauer an beiden Brüsten.

Ein längeres Anlegen in den ersten Tagen kann ein Wundwerden der Brustwarzen fördern. Mit dem Milcheinschuss wird etwa 6- bis 8- (bis 10-) mal in 24 Stunden angelegt. Empfohlene Maßnahmen zur Stillförderung 55Fundierte Information beider Eltern über das Stillen und ­Motivationsförderung bereits in der Schwangerschaft und erneut im Wochenbett, entsprechende Schulung von Mit­ arbeiter/innen der geburtshilflichen Klinik 55Praktische Anleitung, Hilfe und Ermutigung der Mutter beim Anlegen und Stillen 55Frühes Anlegen des Neugeborenen zum Stillen innerhalb der 1. Stunde nach Geburt, sofern mütterlicher und kind­ licher Zustand dies erlauben 55Möglichkeit zum Stillen nach Bedarf zu jeder Tageszeit, ­bevorzugt durch gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind („rooming in“) 55Unbegründete Restriktionen z. B. hinsichtlich der mütter­ lichen Ernährung vermeiden

Stillprobe  Das früher vielfach routinemäßig eingesetzte Wiegen vor und nach jedem Stillen (Stillprobe) soll nur bei besonderer Indikation und nicht generell bei allen Neugeborenen angewandt werden, da dies oft zu erheblicher mütterlicher Verunsicherung führt. Bei gesunden Kindern ist in den ersten Lebenstagen ein tägliches Wiegen zur Zustandsbeurteilung und zur Entscheidung über ein ggf. angemessenes Zufüttern völlig ausreichend. Zufütterung von Flüssigkeit  Eine Zufütterung von Flüssigkeit zum Stillen in den ersten Lebenstagen ist nicht routinemäßig notwendig, sondern soll nur bei begründeter Indikation erfolgen, insbesondere wenn Dehydratationszuständen und Hypoglykämien vorzubeugen ist. Ein zu restriktives Flüssigkeitsangebot kann das Neugeborene aber auch derart schwächen, dass der Stillerfolg gefährdet wird.

Praktisch kann man gesunden reifen Neugeborenen bei geringer Muttermilchzufuhr am 1.–3. Lebenstag und bis zum Eintreten des Milcheinschusses etwa 2-mal täglich nach dem Anlegen 30–50 ml einer 10%igen Glukoselösung (oder einer Dextrinmaltoselösung) anbietet, ohne dass Nachteile für den Stillerfolg zu befürchten sind. Wenn am 4.–5. Lebenstag die kindliche Gewichtsabnahme anhält, der Gewichtsverlust seit der Geburt 5% übersteigt und kein mütterlicher Milcheinschuss erfolgt ist, kann dem Neugeborenen nach dem Anlegen 3- bis 4-mal/Tag 50 ml einer gegebenenfalls antigenreduzierten Säuglingsnahrung (HA-Nahrung) angeboten werden. 2.2

Säuglingsmilchnahrungen

Die handelsüblichen Säuglingsmilchnahrungen sind von hoher Qualität und erlauben es, nicht oder nicht ausschließlich gestillte Säuglinge sicher und gut zu ernähren. 2.2.1

Verschiedene Formen künstlicher ­Säuglingsmilchnahrungen

Säuglingsanfangsnahrungen  Sie eignen sich für die Fütterung von Geburt an und können in den ersten Lebensmonaten als allei­ nige Nahrung die kindlichen Ernährungserfordernisse decken. Für die Neugeborenenernährung und für die Zufütterung zum Stillen sind Nahrungen mit Laktose als einzigem Kohlenhydrat empfehlenswert („Pre-Nahrungen“), mit denen wie beim Stillen eine Fütterung nach Bedarf möglich ist. Säuglingsnahrungen mit weiteren Kohlenhydraten („1-Nahrungen“) werden bevorzugt erst bei älteren Säuglingen eingesetzt. Einteilung der Säuglingsnahrungen 55Säuglingsnahrungen auf Kuhmilchbasis –– Säuglingsanfangsnahrungen auf Kuhmilchbasis (Säuglingsmilchnahrungen) –– „Pre-Nahrungen“ mit Laktose als einzigem Kohlen­ hydrat (früher als adaptierte Nahrungen bezeichnet, von Seiten der Pädiatrie für die Neugeborenenernährung und die Zufütterung zum Stillen empfohlen) –– „1-Nahrungen“ mit weiteren Kohlenhydraten neben Laktose (früher als teiladaptierte Nahrungen bezeichnet, von Seiten der Pädiatrie nicht für die Neugebo­ renenernährung und die Zufütterung zum Stillen empfohlen) –– Folgenahrungen auf Kuhmilchbasis (Folgemilchen, erst ab Einführung der Beikost) 55Antigenreduzierte Milchnahrungen („hypoallergene“ oder „H.A.-Nahrungen“) –– H.A.-Säuglingsanfangsnahrungen –– „Pre-Nahrungen“ mit Laktose als einzigem Kohlen­ hydrat –– „1-Nahrungen“ mit weiteren Kohlenhydraten neben Laktose –– H.A.-Folgenahrungen (erst ab 5. Lebensmonat)

Im 1. Lebenshalbjahr sollten keine Nahrungen verwendet werden, in denen Fruktose oder Saccharose (Haushaltszucker, „Kristallzucker“) vorkommt, da hierdurch bei Säuglingen mit hereditärer Fruktos­e­ intoleranz (7 Kap. 3.7) eine frühe Krankheitsmanifestation mit schwerer kindlicher Schädigung hervorgerufen werden kann.

31 Grundlagen der Ernährung

Folgenahrungen  Folgenahrungen werden erst ab der Beikost­ fütterung (frühestens ab dem 5. Lebensmonat) eingesetzt. Der

wesentliche Vorteil der Folgenahrungen ist eine für ältere Säuglinge optimalere Nährstoffversorgung mit dem Altersbedarf entsprechendem, höheren Eisengehalt als in Säuglingsanfangsnahrungen.

Eiweißbestandteile  „Säuglingsanfangsnahrungen“ und „Folgenahrungen“ können aus Kuhmilch- oder Sojaeiweiß hergestellt

­ erden. Die bevorzugt eingesetzten Nahrungen auf der Basis ausw schließlich von Kuhmilcheiweiß werden als „Säuglingsmilchnahrung“ (von Geburt an) oder als „Folgemilch“ (ab dem 5. Monat) bezeichnet. Sojanahrungen werden nur bei besonderer Indikation verwendet. Sojanahrungen sind laktosefrei. Indikationen zur Verwendung einer Sojanahrung sind z. B. eine nachgewiesene Laktoseunverträglichkeit oder die elterliche Ablehnung einer Kuhmilchnahrung aufgrund streng vegetarischer Orientierung. >> Säuglingsanfangsnahrungen können von Geburt an gegeben werden, wobei für Neugeborene und junge Säuglinge sowie für die Zufütterung zum Stillen sog. „Pre-Nahrungen“ bevorzugt werden. Folgenahrungen („2-Nahrung“) setzt man erst ab der Beikostfütterung ein.

2.2.2

Selbst hergestellte Flaschennahrung

Früher war die häusliche Selbstherstellung von Flaschennahrungen aus pasteurisierter Kuhmilch unter Zugabe von Wasser, Kohlenhy­ draten und Pflanzenöl weit verbreitet. Dieses Vorgehen kann heute sowohl aus hygienischen als auch aus ernährungsphysiologischen Gründen keinesfalls mehr empfohlen werden. Die Fütterung un­ veränderter Kuhmilch oder anderer unveränderter Tiermilch (z. B. Esels-, Ziegen- oder Stutenmilch) im 1. Lebenshalbjahr führt aufgrund der im Vergleich zu Muttermilch völlig verschiedenen Zusammensetzung (. Tab. 2.2) zu einer nicht dem kindlichen Bedarf entsprechenden Substratzufuhr mit großen Risiken und ist kontraindiziert. Die Modifikation in Form von selbst hergestellten Säuglings­ nahrungen kann eine angemessene Deckung des kindlichen Bedarfs an vielen Nährstoffen, wie z. B. Vitaminen, Spurenelementen und essenziellen Fettsäuren, nicht sicher gewährleisten und sollte nur ausnahmsweise in ökonomischen Notsituationen zur Anwendung kommen. Auch vor der Verwendung von roher Kuhmilch in der Säuglingsernährung, die gelegentlich aus alternativen Überzeu­ gungen eingesetzt wird, muss dringend gewarnt werden. Rohmilch birgt für den physiologisch abwehrschwachen Säugling besonders große bakteriologische Risiken, wie eine Übertragung der im frühen Kindesalter lebensbedrohlichen Infektion mit toxinbildenden entero­hämorrhagischen E. coli (EHEC). Zudem hat Rohmilch eine besonders starke Allergenität, welche in verarbeiteten Milchprodukten durch Hitzebehandlung reduziert wird. Die aus alternativen Überzeugungen eingesetzten milchfreien Nahrungen auf der Grundlage von Mandelmus, Obst oder Vollkorngetreide sind als Säuglingsnahrungen unphysiologisch und ebenfalls völlig ungeeignet. Diese Nahrungen decken den Nährstoffbedarf eines Säuglings oft nicht, es wurden mit ihnen ernste kindliche Schädigungen wie z. B. ausgeprägte Gedeihstörungen und Mineralisationsstörungen des Skeletts berichtet. >> Alternativen zu den handelsüblichen Flaschennahrungen sind unphysiologisch und gefährlich.

2.2.3

Praxis der Flaschenfütterung

Milchmenge  Für flaschenernährte, gesunde, reifgeborene Säug-

linge sind in der Regel im Neugeborenenalter zunächst 6, ab dem 2. Lebensmonat 5 Flaschenmahlzeiten pro Tag angemessen. Die getrunkene Milchmenge liegt bei großer interindividueller Spann­ breite in den ersten Lebenstagen bei etwa 70–80 g. Ab dem Ende der 1. Woche sollte die tägliche Trinkmenge bei etwa 1⁄5–1⁄6 des Körpergewichts liegen, um bei einem Energiegehalt der Milchnahrung von etwa 60–70 kcal/100 ml den kindlichen Bedarf zu decken.

Flasche und Sauger  Bei der Wahl der Flasche und des Saugers sollten auch hygienische Aspekte berücksichtigt werden. Im Ver-

gleich zu Kunststoffflaschen können Trinkflaschen aus Glas leichter und sicherer gereinigt werden und bieten deshalb insbesondere für junge Säuglinge eine höhere Sicherheit. Trinksauger aus Silikon haben im Gegensatz zu Gummisaugern eine glatte Oberfläche, an der sich Milchreste und Erreger kaum festsetzen können. Nach dem Trinken verbleibende Milchreste bieten pathogenen Erregern einen ausgezeichneten Nährboden. Flaschen und Sauger werden deshalb nach der Verwendung sofort mit Wasser ausgespült, sodass keine Milchreste antrocknen. Nach sorgfältiger Reinigung werden die für junge Säuglinge bestimmten Flaschen und Sauger trocken aufbewahrt. Die zur Desinfektion angebotenen sog. Sterilisierbäder werden nicht empfohlen. In Kliniken sollen wegen des erhöhten Risikos der Übertragung nosokomialer Infektionen nur hitzesterilisierte Sauger und Glasflaschen Verwendung finden. Zubereitete Flaschennahrung wird unverzüglich gefüttert, Reste müssen unbedingt verworfen werden, um eine Keimvermehrung und Infektionsrisiken vorzubeugen. Das Saugerloch sollte nicht zu groß sein, um nicht einem Verschlucken der Nahrung und einer Überfütterung Vorschub zu leisten. Bei kopfüber umgedrehter Flasche sollte die Nahrung langsam mit etwa 1 Tropfen pro Sekunde herauslaufen. Die Flaschennahrung soll etwa Körpertemperatur entsprechen und muss vor der Fütterung geprüft werden. !! Cave Beim Erhitzen von Säuglingsnahrung mit Mikrowellengeräten können Fehleinschätzungen der im Kern erreichten Temperatur und schwere Verbrennungen der kindlichen Mundschleimhaut auftreten.

2.3

Alimentäre Allergieprävention im Säuglingsalter

Pathogenetische Grundlagen  Allergische Reaktionen gegen Nahrungsmittelbestandteile treten mit besonders großer Häufigkeit im Säuglings- und Kleinkindesalter auf. Eine Sensibilisierung gegen mit der Nahrung zugeführte Fremdeiweiße ist im frühen Säuglings­ alter besonders leicht möglich, da postnatal noch eine erhöhte Durchlässigkeit der intestinalen Schleimhaut für intakte Eiweißmoleküle gegeben ist, welche hierdurch vermehrt dem mukosa­ assoziierten lymphatischen Gewebe präsentiert werden und eine Sensibilisierung hervorrufen können. Familiäre Belastung  Bei einer familiären Belastung mit aller­ gischen Erkrankungen wie Heuschnupfen, allergischem Asthma oder Neurodermitis bei Eltern oder Geschwistern ist das statistische

Risiko für das Neugeborene, ebenfalls eine Allergie zu entwickeln, erhöht. Besonders für diese Kinder mit familiärer Allergiebelastung

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32

B. Koletzko

werden im Säuglingsalter Maßnahmen zur alimentären Allergie­ prävention empfohlen.

2

Prävention durch Stillen  Ausschließlich über 4–6 Monate gestillte

Kinder, denen keine kuhmilcheiweißhaltige Nahrung zugefüttert wurde, zeigten in einigen, aber nicht in allen Studien eine geringere Häufigkeit einer Kuhmilcheiweißallergie mit unterschiedlichen Manifestationen als Kinder, die im frühen Säuglingsalter Säuglingsmilchnahrungen auf Kuhmilchbasis oder Sojanahrungen erhielten. Einen vollständigen Schutz vor allergischen Reaktionen kann aber auch das Stillen nicht bieten. Bei stark sensibilisierten Säuglingen kann auch unter ausschließlichem Stillen eine Nahrungsmittelallergie auftreten, hier kommt es besonders häufig zu einer allergischen Kolitis mit Blutbeimengungen des Stuhls.

Antigenreduzierte Säuglingsnahrung  Für nicht oder nicht voll

gestillte Säuglinge mit familiärer Allergiebelastung kann die Verwendung einer antigenreduzierten Säuglingsnahrungen auf der ­Basis eines Eiweißhydrolysats (sog. hypoallergene oder HA-Nahrungen) das Risiko einer Allergiemanifestation vermindern. Günstig beeinflusst wird v. a. die Häufigkeit ekzematöser Hautveränderungen. Im Gegensatz zu den HA-Nahrungen haben Sojanahrungen keine Risikominderung für allergische Symptome gezeigt. Auf der Grundlage dieser Befunde wird für nicht oder nicht voll gestillte Säuglinge mit fami­ liärer Allergiebelastung (atopische Erkrankungen bei Eltern und/ oder Geschwistern) für das 1. Lebenshalbjahr als F ­ laschennahrung ausschließlich eine HA-Säuglingsnahrung empfohlen (Bührer et al. 2014, Koletzko, Bauer et al. 2016) (7 Abschn. 2.2.1).

Diätetische Produkte  Für die Behandlung von Nahrungsmittel­

allergien und Malabsorptionssyndromen werden für Säuglinge ­diätetische Produkte auf der Basis von hochgradig hydrolysiertem ­Eiweiß oder von Aminosäuremischungen angeboten. Diese Produkte entsprechen in ihren Zusammensetzungen nicht den Emp­ fehlungen für die Zusammensetzung von Nahrungen für gesunde Säuglinge und sollten deshalb nicht für die Allergieprävention bei klinisch gesunden Säuglingen eingesetzt werden. Die empfohlenen Maßnahmen zur alimentären Allergieprävention bei Säuglingen mit positiver Familienanamnese zeigt die Übersicht. Maßnahmen zur alimentären Prävention früher allergischer Manifestationen 55Volles Stillen über 4–6 Monate 55Vermeidung der Zufütterung von Nahrungen, die intaktes Fremdprotein enthalten (Säuglingsnahrungen mit Kuhmilchoder Sojaeiweiß, Zubereitungen aus Schaf-, Ziegen-, Eselsoder Stutenmilch, Mandelmus u. a.) 55Nicht oder nicht voll gestillte Säuglinge sollten während der ersten 6 Lebensmonate ausschließlich antigenreduzierte Säuglingsnahrungen erhalten (HA-Nahrung). 55Beikostprodukte nicht vor dem 5. Monat einführen.

2.4

Prophylaxe mit Vitamin K und D sowie Fluorid

2.4.1

Vitamin K

Aufgrund begrenzter Vitamin-K-Speicher des Neugeborenen und geringer Gehalte in der Muttermilch besteht besonders für gestillte

Säuglinge in den ersten Lebensmonaten das Risiko des Auftretens eines späten Vitamin-K-Mangels mit schwerwiegenden Blutungen, wie z. B. Hirnblutungen. Dieses ernste Risiko kann durch eine Vita­ min-K-Supplementierung verhütet werden. >> Alle Säuglinge erhalten deshalb 3-mal jeweils 2 mg Vitamin K oral zu den Vorsorgeuntersuchungen U1 (1. Lebenstag), U2 (3.–10. Lebenstag) und U3 (4.–6. Lebenswoche).

2.4.2

Vitamin D, Fluorid

Vitamin D  Säuglinge und Kleinkinder haben wegen ihres raschen Wachstums und der hohen Kalziumdeposition im wachsenden ­Skelettsystem einen großen Bedarf an Vitamin D. Bei der in Mitteleuropa eher niedrigen UV-Lichtexposition und dadurch begrenzten Vitamin-D-Synthese in der Haut und nur mäßigem Gehalt in der Muttermilch wird eine orale Vitamin-D-Prophylaxe für alle Säug­ linge empfohlen, um einer Vitamin-D-Mangel-Rachitis vorzu­ beugen. >> Alle Säuglinge erhalten täglich 400 I.E. Vitamin D p.o. in Tablettenform.

Diese orale Vitamin-D-Prophylaxe wird bis zum 2. vom Kind erlebten Frühsommer gegeben, wenn bei der dann stärkeren UV-Lichtexposition die körpereigene Vitamin-D-Synthese zunimmt. Die Dauer der Vitamin-D-Gabe beträgt also je nach dem Zeitpunkt des Geburtsdatums im Frühjahr bzw. Herbst 1–1 ½ Jahre. Fluorid  Zur Kariesprophylaxe wird gemeinsam mit dem VitaminD-Präparat 0,25 mg Fluorid pro Tag gegeben (Präparate: D-Fluo­ retten 500, Fluor-Vigantoletten 500, Zymafluor D 500). Die Fluoridsupplementierung kann eine Verminderung sowohl der Anzahl als auch des Ausmaßes kariöser Läsionen erzielen. Nach dem Ende der Vitamin-D-Prophylaxe wird die Fluoridsupplementierung durch die tägliche Gabe einer Tablette mit 0,25 mg Fluorid bis zum Ende des 2. Lebensjahres fortgesetzt. Ab dem 3. Lebensjahr wird die Fluoridsupplementierung durch die Verwendung von jodiertem und fluoridiertem Speisesalz als Regelsalz fortgesetzt.

2.5

Beikost

2.5.1

Zufütterung im 1. Lebensjahr

Grundlagen  Ab dem Beginn des 5. Lebensmonats kann die reine Milchfütterung durch die Einführung von Beikost ergänzt werden, sie soll spätestens mit Beginn des 7. Monats beginnen. Mit der Beikost wird gut bioverfügbares Eisen (z. B. aus Fleisch oder aus mit Eisen angereicherten Getreidebreien) bereitgestellt, um die Erschöpfung der kindlichen Eisenspeicher gegen Ende des 1. Lebenshalbjahres auszugleichen. Weiterhin wird mit der Beikost auch die Zufuhr von Zink, Ballaststoffen und anderen Nährstoffen gefördert, und dem Kind wird eine Erweiterung der geschmacklichen Erfahrungen ermöglicht. Praxis der Beikostfütterung  Die schrittweise Umstellung auf Mahlzeiten mit breiiger und später fester Konsistenz ist ein nicht immer ganz einfacher Lernprozess, der sich über einige Zeit hin­ ziehen kann. Man beginnt zweckmäßigerweise mit dem täglichen Angebot nur einiger weniger Löffel eines einfachen Breies (z. B. Karottenbrei, Reisbrei). Wenn das Kind die Löffelfütterung akzeptiert

33 Grundlagen der Ernährung

2.5.2

Menge an Muttermilch/ Säuglingsnahrung (%)

100 Gemüse-Kartoffel-Fleisch-Brei + Milch-Getreide-Brei 50 Muttermilch oder Säuglingsnahrung

+ Getreide-Obst-Brei Übergang zur Familienkost

0

0

1

2

3

4

5 6 7 8 9 Zeit (Lebensmonate)

10 11 12

täglich Vitamin D & Fluorid ..Abb. 2.2  Schematische Darstellung der Ernährung im 1. Lebensjahr. (Mod. nach Prell u. Koletzko 2016)

und gelernt hat, gibt man bevorzugt einen Gemüse-Kartoffel-Brei mit Fleisch oder einen mit Eisen angereicherten Reisbrei. Die Brei-

menge kann dann zügig auf etwa 200–250 g gesteigert werden, sodass die Breimahlzeit eine Milchmahlzeit ersetzen kann (. Abb. 2.2). Mit einem Zeitintervall von etwa 1 Monat kann eine weitere Milchmahlzeit durch einen weiteren Brei ersetzt werden, sodass zu diesem Zeitpunkt ein mit Trinkmilch oder Säuglingsmilchnahrung zube­ reiteter Getreidebrei und ein Gemüse-Kartoffel-Brei mit Fleisch gegeben werden. >> Die Beikostfütterung mit der Flasche („Guten-Abend-Brei“, „Trinkmahlzeit“) fördert die Überfütterung und ist zu ver­ meiden.

Glutenhaltige Getreide (Weizen, Roggen, Gerste, Hafer; z. B. viele handelsübliche Vollkorn- bzw. Vielkornbreie oder Haferbreie) werden bevorzugt in kleinen Mengen im Alter zwischen 4 und 11 Monaten eingeführt. Eine spätere Einführung von Gluten führt nicht zu einem reduzierten Risiko für eine Zöliakiemanifestation im Kindesalter. Als erster Brei eignet sich besonders ein Brei mit püriertem Fleisch, Kartoffeln und Gemüse, mit dem gut bioverfügbares Eisen und Zink zugeführt wird. Jeweils etwa einen Monat später kann der 2. Brei (z. B. Getreise-Milch-Brei) und der 3. Brei (z. B. ObstGetreide-Brei) eingeführt werden. Neben den selbst im Haushalt zubereiteten Breien, die eine ­große Vielfalt an Geschmackserfahrungen ermöglichen, kann auch Fertigbreikost (Gläschenkost und Fertigbreie) eingesetzt werden. Neben dem gegenüber einer Selbstzubereitung geringeren Zeit- und Arbeitsaufwand bei der Zubereitung sind v. a. eine ausgewogene und altersgerechte Nährstoffzusammensetzung, Keimfreiheit und ein strenge Kontrolle der Schadstoff- und Pestizidfreiheit wichtige Vorteile. >> Bis zum Ende des 1. Lebensjahres soll mindestens 1 Milchmahlzeit pro Tag gegeben werden.

Diese kann durch Muttermilch oder eine Säuglingsmilchnahrung beigetragen werden. Das Trinken handelsüblicher Trinkmilch („Vollmilch“) im ersten Lebensjahr wird nicht empfohlen, da ­Trinkmilch einen niedrigen Eisengehalt hat, darüber hinaus auch die E ­ isenresorption aus anderen Lebensmitteln hemmt. Trinkmilch  hat auch einen sehr hohen Eiweißgehalt (3-facher Eiweiß­ gehalt als ­Muttermilch) der mit einem vermehrten Risiko für eine überhöhte Gewichtszunahme und späteres Übergewicht verbunden ist.

Übergang zur Familienkost

Ab dem Ende des 1. Lebensjahres trägt die in der Familie übliche Kost einen zunehmenden Anteil an der Ernährung im Kleinkindund Schulkinderalter, langfristig bedeutsame Ernährungsgewohnheiten werden eingeübt und gefestigt. >> Eine unter gesundheitspräventiven Aspekten sinnvolle Auswahl von Speisen und Getränken soll schon ab dem frühen Kindesalter vermittelt werden.

Der Übergang zur Kleinkinder- bzw. Familienkost beginnt ab dem Ende des 1. Lebensjahres. Das Kind beginnt, zunehmend vom Tisch der Eltern zu essen und auch feste Nahrung zu verzehren. Mit dem eigenen Gebrauch der Hände und den zahlreicher werdenden Zähnen werden gegen Ende des 1. Lebensjahres feste Nahrungs­ bestandteile (z. B. Brotrinde) verzehrt. Die reine Milchmahlzeit am Morgen wird durch ein Brot mit Aufstrich oder Zerealien mit Milch oder Joghurt ersetzt, und auch bei den anderen Mahlzeiten wächst das Kind an den Familientisch heran. Besonders gewarnt werden muss vor dem Gebrauch einer mit gezuckertem Tee oder Fruchtsaft oder kohlenhydrathaltigem Brei gefüllten Nuckelflasche im Säuglings- und Kleinkindalter. Die langzeitige Zuckerexposition der Zähne durch dauerndes Nuckeln, z. B. auch zum Einschlafen, kann zu verheerenden Zahnschäden mit Zerstörung v. a. der Frontzähne führen (Nuckelflaschen-Karies). Ernährung bei Klein- und Schulkindern  Klein- und Schulkinder sollten eine abwechslungsreiche Mischkost zu sich nehmen. Erwünscht ist ein reichlicher Verzehr von Gemüse, Obst, Vollkornprodukten und fettreduzierten Milchprodukten (z. B. Trinkmilch mit 1,5% Fett), ein regelmäßiger Verzehr von Seefisch, pflanzlichen Ölen und in mäßigem Ausmaß auch von Fleisch als wichtiger Quelle von gut bioverfügbarem Eisen und Zink. Die Nährstoffzufuhr muss den sich altersabhängig verändernden Bedarf decken, der insbesondere während Phasen des raschen Wachstums (Pubertät!) stark ansteigen kann. Auch nimmt mit der Pubertät bei Mädchen der Eisenbedarf durch die menstruationsbedingten Eisenverluste stark zu, sodass besonders bei starken Monatsblutungen ein regelmäßiger Fleisch- bzw. Fischverzehr zur Vorbeugung eines Eisenmangels sehr nützlich ist. Begrenzte Zufuhr gesättigter Fette  Zur Prävention hoher Se-

rumcholesterinwerte und einer frühen Entwicklung von atherosklerotischen Gefäßläsionen ist eine eher sparsame Zufuhr von gesättigten Fetten (tierische Fette) ratsam. Praktisch wird dies durch bevorzugte Verwendung fettreduzierter Milchprodukte und fettarmer Fleischwaren erreicht. Eine reichliche Zufuhr der Vitamine Fol­ säure  und B12 tragen zur Senkung mäßig erhöhter Homocystein­ spiegel bei, die mit einem vermehrten Risiko für Thrombosen und atherosklerotisch bedingte Erkrankungen assoziiert sind. Die Wirkung der Vitamine Folsäure und B12 beruht auf einer Förderung der Aktivität des Enzyms Methylentetrahydrofolatreduktase, welches Homocystein zu Methionin remethyliert.

Zucker und zuckerhaltige Speisen  Zucker und zuckerhaltige Speisen sollten insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Karies­ prävention nur in Maßen verzehrt werden. Alle Zucker einschließlich Milchzucker, aber in besonders ausgeprägtem Maße Saccharose, fördern nach Metabolisierung durch kariogene Bakterien die Entkalkung des Zahnschmelzes. Kleinkinder haben oft eine ausge­ sprochene Präferenz für süße Speisen, die man nicht unterdrücken kann und sollte. Für die kariogene Wirkung sind die Bedingungen

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34

B. Koletzko

per- und Lungenoberfläche. Junge Säuglinge haben zudem nur eine eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit der Nieren. Entsprechend entwickeln Säuglinge und Kleinkinder bei Flüssigkeitsmangel z. B. durch unzureichendes Angebot, vermehrten Flüssigkeitsverlust durch hohes Fieber mit Tachypnoe oder durch Diarrhö sehr viel rascher eine kritische und ggf. bedrohliche Dehydratation als Schulkinder oder Erwachsene. Eine zu niedrige Flüssigkeitszufuhr kann die Leistungsfähigkeit des Kindes beeinträchtigen und erhöht das Risiko für die Bildung von Nierensteinen.

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..Abb. 2.3  Körperliche Bewegung und alimentäre Kalziumaufnahme im Kindes- und Jugendalter beeinflussen die im jungen Erwachsenenalter erreichte maximale Knochendichte, welche das Ausmaß der mit zunehmen­ dem Alter auftretenden Knochenentkalkung und damit mittelbar auch das Frakturrisiko im höheren Lebensalter moduliert

der Zuckerzufuhr von großer Bedeutung. Ein häufiger Konsum zuckerhaltiger Zwischenmahlzeiten mit langer Exposition des Mundraums ist besonders ungünstig, da hierbei meist eine stärkere ­zuckerinduzierte Säureexposition des Zahnschmelzes erfolgt. So werden bei langzeitigem Nuckeln von gezuckerten Getränken z. B. regelmäßig zum Einschlafen katastrophale Zahnschädigungen beobachtet (Nuckelflaschen-Karies). Dagegen ist eine Zuckerzufuhr mit den Hauptmahlzeiten, bei denen durch das stärkere Kauen der protektiv wirksame Speichelfluss vermehrt in Gang kommt und den Zahnschmelz schützt, weniger zahnschädigend. Süßigkeiten sollten deshalb besser als Nachtisch als zwischendurch verzehrt werden. Stark protektiv wirkt auch (zuckerfreier) Kaugummi, der ebenfalls den Speichelfluss fördert. Milch- und Milchprodukte  Eine reichliche Zufuhr von Milch und

Milchprodukten gerade in der Kindheit und der Adoleszenz liefert gut bioverfügbare Kalziumsalze und unterstützt wesentlich die Knochenmineralisation. Verschiedene Studien zeigten, dass die Kal­ ziumaufnahme im Kindes- und Jugendalter einen direkten Einfluss auf die maximale Knochendichte im jungen Erwachsenenalter hat („peak bone mass“). Nachdem die Knochendichte und das Frakturrisiko im höheren Lebensalter mit der im jungen Erwachsenenalter erreichten maximalen Knochendichte zusammenhängt, wird einem reichlichen Milchverzehr im jugendlichen Alter eine langfristig ­präventive Wirkung auf die Gesundheit im Alter zugeschrieben (. Abb. 2.3). Auch in dieser Hinsicht werden fettreduzierte Milchprodukte (z. B. Milch mit 1,5% Fett, Hartkäse mit niedrigem Fett­ gehalt) bevorzugt, die eine höhere Kalziumresorption aufweisen. k kNormale Kost Mit dem Übergang zur Kleinkind- und Schulkindkost wird ein reichlicher Verzehr von Gemüse, Obst, Vollkornprodukten und fettreduzierten Milchprodukten, ein regelmäßiger Verzehr von Seefisch, pflanzlichen Ölen und in mäßigem Ausmaß auch von Fleischwaren sowie eine begrenzte Zufuhr von Fett und insbesondere von gesättigten Fetten empfohlen. Mit dem Ziel der Kariesprävention ist eine häufige Zuckerexposition der Zähne zu vermeiden. 2.5.3

Flüssigkeitszufuhr

Grundlagen  Säuglinge und Kinder haben im Vergleich zu Er-

wachsenen einen höheren Wassergehalt des Körpers und einen sehr deutlich höheren Wasserumsatz pro kg Körpergewicht und Tag, nicht zuletzt durch die stärkere Perspiration bei relativ größerer Kör-

Flüssigkeitsbedarf  In den ersten 4–6 Lebensmonaten wird der Flüssigkeitsbedarf eines gesunden Säuglings durch Muttermilch oder eine modernen Standards entsprechend zusammengesetzte Säuglingsmilchnahrung ausreichend gedeckt. Eine Zufütterung weiterer Flüssigkeit (bevorzugt Wasser oder ungezuckerte Säuglingstees) ist in der Regel erst ab der Fütterung des dritten Breis notwendig, oder bei Erkrankungen (Fieber, Durchfall) sowie ggf. in den ersten Lebenstagen bei noch geringer Stillmenge. Häufig notwendig ist eine Zufütterung mit Wasser oder Tee dagegen bei der eigentlich obsoleten Säuglingsernährung mit selbst hergestellten Kuhmilchzubereitungen, da durch die hier oft hohe Protein- und Salzzufuhr eine große osmolare Belastung der Niere mit erhöhtem Wasserverlust auftreten kann. Mit der schrittweisen Umstellung auf feste Nahrung wird eine bewusste Zufuhr von Getränken wichtig. Die empfohlenen mittleren Trinkmengen zusätzlich zu einer ausgewogenen gemischten Kost zeigt die . Tab. 2.3. Kinder entwickeln erst spät ein ausgeprägtes Durstgefühl und sollten deshalb konsequent zu regelmäßigem ­Trinken zu den Mahlzeiten und zwischendurch erzogen werden. ­Besonders empfehlenswerte Getränke sind Trinkwasser und Mineralwasser, ungesüßte Früchte- oder Kräutertees oder auch stark verdünnte Fruchtsäfte (z. B. 1 Teil Saft mit 3 Teilen Wasser). Qualität des Trinkwassers  Für die Zubereitung von Säuglingsmilchnahrungen ist die Qualität des Trinkwassers nach den in Deutschland geltenden Richtlinien nicht immer ausreichend. Leitungswasser mit einem Nitratgehalt von mehr als 50 mg/l, wie es besonders in Gebieten mit intensiver landwirtschaftlicher Nutzung und dementsprechend hohem Düngereinsatz vorkommt, soll nicht für die Zubereitung von Säuglingsnahrung verwendet werden, da bei hoher Nitratzufuhr das Risiko der Entwicklung einer kindlichen Methämoglobinämie besteht. Auskunft über den Nitratgehalt des Leitungswassers erteilt das örtliche Wasserwerk. Bei einem hohen Nitratgehalt ist auf abgepacktes Wasser auszuweichen, das ausdrück-

..Tab. 2.3  Empfohlene mittlere Trinkmengen für gesunde Kinder (zusätzlich zu einer ausgewogenen festen Kost) Alter

Getränke

0–> Ein Nutzen der häufig für stillende Frauen ausgesprochenen, z. T. sehr restriktiven Diätempfehlungen mit einem Verzicht auf blähende Speisen ist nicht belegt.

37 Grundlagen der Ernährung

2.8.3

Säuglingskoliken

jjÄtiologie, Pathophysiologie Ursachen und Pathophysiologie der infantilen Koliken sind um­ stritten. Offensichtlich sind infantile Koliken nicht ein monokausal erklärbares Krankheitsbild, sondern repräsentieren eine hetero­ gene Gruppe unterschiedlicher Störungen. Bei der ganz überwiegenden Mehrzahl der betroffenen Säuglinge scheint ein exzessives Schreien als Variante der normalen Verhaltensreaktion auf physiologische Afferenzen vorzuliegen, das durch veränderte elterliche Reaktionen auf das Schreien beeinflussbar ist. Elterliche Verunsicherung, Überbesorgnis und Angst sowie Überforderung und Stress können die Problematik aggravieren. Bei einigen Kindern scheint ein irritabler Darm bzw. eine viszerale Hyperalgesie Beschwerden zu verursachen. Für den behandelnden Kinderarzt praktisch wichtig ist die differenzialdiagnostisch zu bedenkende Möglichkeit einer Nahrungsmittelunverträglichkeit oder einer gastroösophagealen Refluxkrankheit mit Ösophagitis. jjKlinik Infantile Koliken werden häufig mit Blähungen und der Säug­ lingsernährung in Verbindung gebracht. Die betroffenen Säuglinge zeigen bevorzugt nachmittags, abends und nachts paroxysmale ­Phasen mit Unruhe und Schreien, oft mit Anziehen der Beine, sie scheinen sich unwohl zu fühlen oder Schmerzen zu haben. Eltern und Ärzte interpretieren diese Symptome oft als Ausdruck von Bauchschmerzen, obwohl eine ursächliche Zuordnung der Beschwerden zum Darmtrakt durch objektive Befunde in der Regel nicht gelingt. Allerdings wird von manchen Eltern angegeben, dass eine Erleichterung durch die Entleerung von Stuhl und Darm­ gasen zu beobachten ist. Meist wird eine Besserung der Symptome durch Tragen, Schaukeln und elterliche Zuwendung erreicht. Die Beschwerden zeigen ein Häufigkeitsmaximum im 2. Lebensmonat und nehmen danach allmählich ab, meist sind sie nach dem 3. Monat abgeklungen. jjTherapie Die mit Abstand am häufigsten wirksame Therapie der infantilen Kolik ist die eingehende und beruhigende Beratung der Eltern, welche deren Besorgnis und Belastung ernst nimmt, aber die harmlose und meist in einigen Wochen vorübergehende Natur der Beschwerden erklärt. Den Eltern sollte geraten werden, ihr Kind nicht lange schreien zu lassen, es bei Beschwerden so weit als möglich umher zu tragen, zu wiegen und mit ihm zu spielen, einen Beruhigungsschnuller zu verwenden und dem Kind unabhängig von festen Regimen häufig nach Bedarf Nahrung und ggf. Kräutertee (z. B. Kümmeltee) anzubieten. Bei dem überwiegenden Teil der betroffenen Kinder mit exzessivem Schreien als Normvariante wird durch ein solches Vorgehen schon innerhalb einer Woche eine sehr deut­ liche Besserung erzielt. Bei einem Teil der Kinder mit infantiler Kolik liegt eine allergische Reaktion gegen Nahrungsmittel, meist gegen Kuhmilcheiweiß vor. Unter flaschenernährten Kindern mit infantiler Kolik zeigen etwa 12–15% eine reproduzierbare, deutliche Besserung nach Umstellung auf eine Nahrung mit extensivem Eiweißhydrolysat. Für diese Kinder empfiehlt sich eine kuhmilchfreie Ernährung über etwa 3 Monate mit anschließender Reexposition unter ärztlicher Über­ wachung. Vor der Einführung einer längerfristigen Ernährung mit einem kostspieligen Hydrolysat sollte die Indikation jedoch durch mindestens eine Belastung mit erneuter Symptomprovokation ge­ sichert sein. Im Gegensatz zu Eiweißhydrolysatnahrungen haben Sojanahrungen keinen nachgewiesenen Nutzen in der Prävention

oder der Therapie von infantilen Koliken und sollten deshalb für diese Patienten auch nicht empfohlen werden. 2.9

Untergewicht

Kindliches Untergewicht tritt primär durch eine mangelnde Nahrungszufuhr oder in Industrieländern häufiger sekundär als Folge einer chronischen Erkrankung mit ungenügender Zufuhr, Mal­ absorption und/oder erhöhtem Energieverbrauch auf. Die Ent­ wicklung von Untergewicht gefährdet die kindliche Gesundheit und Entwicklung und erfordert eine frühzeitige gezielte Diagnostik und Therapie. jjDefinition Kindliches Untergewicht ist ein im Verhältnis zur Körperlänge vermindertes Körpergewicht (> Längensollgewicht (%) = Körpergewicht × 100/Gewichts­ median für die Körperlänge

Ein Längensollgewicht zwischen 90 und 110% gilt als normal, niedrigere Werten entsprechen einem Untergewicht bzw. einer Mal­ nutrition. Bei länger bestehender, schwerer Malnutrition entwickelt sich sekundär auch ein Minderwuchs. jjAusgeprägtes Untergewicht Die schwersten Formen der Protein-Energie-Malnutrition können sich in den beiden klassischen Syndromen des Marasmus (vor­ wiegender Energiemangel) und des Kwashiorkor (vorwiegender Eiweißmangel) manifestieren, die Extreme eines kontinuierlichen und breiten Spektrums an Symptomen und Befunden bei Mangel­ ernährung darstellen. Diese schweren Formen der Unterernährung sind regelmäßig durch Imbalancen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts sowie begleitende Infektionen kompliziert und haben ein erhebliches Mortalitätsrisiko. Ausgeprägtes Untergewicht im Sinne einer Malnutrition im ­Kindesalter gefährdet die körperliche Entwicklung (Längenwachstum, bei Säuglingen z. T. Kopfumfang, Pubertätsentwicklung), die mentale Entwicklung und induziert einen sekundären Immun­ defekt mit gehäuften Infektionen. Bei mangelernährten Patienten wird die Wundheilung gestört und postoperative Komplikationen treten vermehrt auf, der Verlauf chronischer Erkrankungen wird nachteilig beeinträchtigt. So ist beispielsweise Untergewicht bei Mukoviszi­dosepatienten mit einer deutlich kürzeren Lebensdauer und Kinder und Jugendlichen mit einer Lebertransplantation mit

2

38

B. Koletzko

signifikant niedrigeren Überlebenschancen nach der Transplanta­ tion assoziiert.

2

j jDifferenzialdiagnose Die Differenzialdiagnose der einem Untergewicht zugrunde liegenden Ursachen umfasst die gesamte Breite der klinischen Pädiatrie und ist Voraussetzung für eine effektive Therapie. Als mögliche Ursachen kommen einzeln oder in Kombination in Frage: 44 eine verminderte Nahrungszufuhr, 44 erhöhte Nährstoffverluste, 44 ein erhöhter Energieverbrauch. Hinweisend auf eine Unterernährung ist ein überproportionaler ­Abfall der Gewichtskurve mit weitgehend normalem oder lang­ samer  zurückbleibendem Perzentilenverlauf für die Länge und den Kopf­umfang. Dagegen spricht eine weitgehend proportionale Retardierung von Gewicht, Länge und Kopfumfang für eine konstitutionelle, genetische oder eine frühzeitig eingetretene exogene Schädigung (z. B. kongenitale Infektion) bzw. auch für eine endo­ krine Ursache. j jTherapie Wenn bei einem Kind mit Untergewicht eine niedrige Nahrungs­ aufnahme vorliegt und sich keine Hinweise auf erhöhte Verluste ergeben, wird meist ein Therapieversuch mit erhöhter oraler Nahrungszufuhr durchgeführt, ggf. auch mit einer Sondenernährung, um eine Inappetenz als Regulator der Nahrungsaufnahme zu um­ gehen. Im 1. Lebensjahr kann die Säuglingsnahrung energetisch, z. B. durch Zugabe von Maltodextrin (Glukosepolymere) und Öl ange­ reichert werden. Günstiger sind energiedichte (1 kcal/ml) Therapienahrungen für Säuglinge, die eine bedarfsgerechte, bilanzierte Nährstoffzufuhr ermöglichen. Auch bei Kleinkindern und Grundschülern werden für die enterale Ernährungstherapie neben der Gabe energie­ reicher Speisen und Zwischenmahlzeiten besondere pädiatrische Trink- und Sondennahrungen eingesetzt, die dem altersentspre­ chenden Nährstoffbedarf angepasst sind. Führt die erhöhte Energiezufuhr zum Gedeihen des Kindes, erhärtet dies den Verdacht einer Kausalbeziehung zwischen niedriger Zufuhr und Mangelernährung. Ist aber ein schlechtes Ansprechen auf die er­höhte Nahrungszufuhr zu beobachten, so müssen andere Ursachen wie erhöhte Nährstoffverluste in Stuhl und Urin oder eine ineffi­ziente Verwertung resorbierter Nahrungsbestandteile erwogen w ­ erden. Untergewicht und Gedeihstörung erfordern eine diagnostische Abklärung der zugrunde liegenden Ursachen (Zufuhr, Resorption, Verbrauch) und eine dem individuellen Bedarf angepasste Substratzufuhr. 2.10

Übergewicht

j jGrundlagen Übergewicht ist die häufigste Ernährungsstörung bei Kindern und Jugendlichen in den Industrieländern. Die Häufigkeit von Übergewicht (Körpermassenindex >90. Perzentile) und Adipositas (Körpermassenindex >97. Perzentile) hat in den letzten wenigen Jahrzehnten sehr stark zugenommen. >> Übergewicht bei Kindern hat ohne wirksame Therapie ein ­hohes Risiko für eine lebenslange Persistenz.

Wegen der ausgeprägten gesundheitlichen und psychosozialen Folgen sowie der erheblichen Kosten für das Gesundheitswesen ist eine konsequente Prävention und Therapie erforderlich.

Aktuelle Studien zeigen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland bereits einen Anteil von etwa 15% übergewichtiger und mehr als 6% adipöser Kinder. Die Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter; besonders häufig sind Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien und aus Familien mit Migrationshintergrund betroffen. Übergewicht im Kindesalter ist mit einem hohen Risiko der Persistenz im Erwachsenenalter verbunden und führt langfristig zu erhöhtem Krankheitsrisiko, z. B. für Erkrankungen des Bewegungsapparats, Diabetes mellitus Typ II, arterielle Hypertonie, Dyslipidämie, koronare Herzerkrankungen, Gicht und psychosoziale Störungen. jjDefinition Der im Erwachsenenalter bevorzugt als Maß eingesetzte Körpermassenindex (Body-Mass-Index, BMI Gewicht in kg dividiert durch das Quadrat der Körperlänge in Metern) hat auch im Kindesalter eine recht gute Korrelation mit der Körperfettmasse. Referenzwerte und obere Grenzwerte für den BMI sind von Alter und Geschlecht abhängig, sodass alters- und geschlechtsnormierte Referenzwerte herangezogen werden müssen. jjÄtiologie Monogenetische und endokrine Erkrankungen sind nur für einen sehr kleinen Anteil des Übergewichts im Kindesalter verantwortlich, müssen aber sorgfältig ausgeschlossen werden. Zu den endokrinen Ursachen zählen insbesondere Cushing-Syndrom, Hypothyreose, primärer Hyperinsulinismus und Pseudoparathyreodismus. Erworbene hypothalamische Störungen infektiöser, traumatischer, maligner und vaskulärer Ursache sind seltene Auslöser der kindlichen Adipositas. Bei dem bei wenigen Kindern beobachteten Fehlen des Hormons Leptin oder einer Leptinresistenz führt die fehlende Leptinwirkung vom frühen Kindesalter zu massiver Adipositas, ­Hyperphagie und Hyperinsulinismus, die mit Leptinsubstitution behandelt werden kann. Die meisten adipösen Kinder und Jugendliche haben jedoch keine Leptindefekte, sondern im Gegenteil proportional zur Körperfettmasse erhöhte Plasmaleptinkonzentrationen. Praktisch weisen Kinder mit normaler körperlicher oder geis­ tiger Entwicklung, ohne Wachstumsstörungen und ohne Hinweise auf Unterzuckerung, in der Regel eine primär alimentäre Adipositas auf. Auch hier ist jedoch die genetische Veranlagung von wichtiger Bedeutung für das Adipositasrisiko. So zeigen Untersuchungen adop­tierter Kinder eine weitaus engere Korrelation des kindlichen Übergewichts mit den biologischen als mit den Adoptiveltern. Eine Reihe von Risikogenen wurde identifiziert, wobei Mutationen des FTO-Gens („fat mass and obesity-associated gene“) die größte Effektstärke zeigen. Auch unter Berücksichtigung der unterschied­ lichen genetischen Disposition unterschiedlicher Individuen resultiert Übergewicht aber letztlich aus einer unausgewogenen Ener­ giebilanz, bei der die Energiezufuhr den Energieverbrauch überschreitet. Hauptziele der Prävention und Therapie des kindlichen Übergewichts sind deshalb die Förderung körperlicher Aktivität und Begrenzung der Energiezufuhr. jjTherapie Therapieziel bei mäßig übergewichtigen Kindern kann die Stabilisierung des Körpergewichts sein, da mit dem Längenwachstum das relative Körpergewicht abnehmen kann. Für sehr stark übergewichtige Kinder ist allerdings eine Gewichtsabnahme notwendig. Eine Vielzahl von Interventionsmethoden wie spezielle Diäten, Sportprogramme und verhaltens- und psychotherapeutische Interventionen steht zur Verfügung. Viele Sportprogramme und psycho-

39 Grundlagen der Ernährung

..Tab. 2.5  Beispiele für die Reduktion des Fettverzehrs durch ­Austausch fettreicher gegen fettarme Lebensmittel Anstatt

Besser

Vollmilch

Fit-Milch (1,5% Fett)

Saure Sahne, Mayonnaise

Fettarmer Joghurt (1,5% Fett)

Wurstbrot

Dicke Brotscheiben

Nussnougatcreme

Honig, Marmelade

Leberwurst, Salami

Putenschinken, Corned Beef

Bratwurst

Bockwurst

Frittierte Pommes

Backofenpommes

Nudeln mit Sahne

Spaghetti mit Tomaten

Schokolade

Gummibärchen

Eiscreme

Fruchteis

therapeutische Interventionen sind aber oft nur mit hohem Personaleinsatz realisierbar. Restriktive Diäten mit strenger Kalorienrestriktion können in der ambulanten Therapie meist nicht langfristig durchgehalten werden. Leichter praktikabel ist eine konsequente Fett- und Zuckerreduktion mit einem hohen Anteil von Faserstoffen und komplexen, langsam resorbierbaren Kohlenhydraten in der Ernährung, wodurch die gesamte Energiezufuhr und allmählich die Fettdeposition günstig beeinflusst werden kann. Praktische Hin­weise zum Austausch fettreicher gegen fettarme Lebensmittel bei Kindern zeigt . Tab. 2.5. Für die große Zahl übergewichtiger Kinder sind verhaltenstherapeutisch orientierte Strategien mit prak­tischer Festigung der erwünschten Lebens- und Ernährungsweise, starker Motivation und familiärer und sozialer Unterstützung sinnvoll. 2.11

Ernährung ehemaliger Frühgeborener

Bei Frühgeborenen muss die Nahrungszufuhr die vorzeitig unterbrochene, physiologische Nährstoffversorgung durch die Plazenta soweit als möglich ausgleichen. Das fetale Wachstum im letzten Trimenon der Schwangerschaft ist durch eine besonders rasche fetale Gewichtszunahme und eine sehr hohe Deposition vieler Substrate (z. B. Protein, Kalzium, langkettige Polyenfettsäuren) in wachsenden Geweben gekennzeichnet. Die auch für Frühgeborene unbedingt empfehlenswerte Ernährung mit Muttermilch kann allein den hohen Nährstoffbedarf nicht ausreichend decken. Abgepumpte Muttermilch sollte etwa bis zum errechneten Termin der Reifgeburt oder einem Gewicht von etwa 3,5 kg durch einen sog. Muttermilchverstärker mit zusätzlichem Protein sowie gut bioverfügbaren Kalzium- und Phosphatsalzen ­angereichert werden. Bei unzureichender Gewichtszunahme ist die bevorzugte Fütterung abgepumpter Nachmilch (die letzte Hälfte bis ⅔ der abgepumpten Milch) nützlich, welche einen deutlich höheren Fett- und damit Kaloriengehalt als die Vormilch hat. Wenn das ehemalige Frühgeborene an der Brust gestillt wird, ist bis zum errechneten Termin zumindest die Supplementierung von Phosphat empfehlenswert (9 mg Phosphat zu jeweils 100 ml Muttermilch in Form gut löslicher Salze wie z. B. Natriumglyzerophosphat). Flaschenernährte Frühgeborene sollten mindestens bis zum errechneten Termin der Reifgeburt oder einem Gewicht von etwa 3,5 kg eine besondere Frühgeborenennahrung mit hoher Energie-

dichte (70–80 kcal/100 ml), hohem Gehalt an Protein, Kalzium und Phosphat sowie langkettigen Polyenfettsäuren (LC-PUFA) erhalten. Da ehemalige Frühgeborene ein besonders hohes Risiko für eine Eisen- und Zinkdepletion aufweisen, wird eine Einführung von fleischhaltiger Beikost bereits mit dem 5. Monat nach der Geburt ohne Korrektur für das Gestationsalter angestrebt, sofern das Kind von seiner motorischen Entwicklung reif für die Löffelfütterung ist. Für Frühgeborene erscheint industriell hergestellte Breikost wegen ihrer ausgewogenen Nährstoffzusammensetzung und der strengen Schadstoffüberwachung besonders vorteilhaft. Kernaussagen 55Aufgrund des raschen Wachstums haben besonders Säug­ linge und Kleinkinder einen sehr hohen Nährstoffbedarf pro kg Körpergewicht, der mit geringen körpereigenen Reserven kontrastiert. Entsprechend beeinflusst die Qualität der kindlichen Ernährung unmittelbar Wachstum und Differenzierung der Gewebe und moduliert kurz- und langfristig physiologische Funktionen. 55Gesunde Säuglinge sollten in den ersten Lebenswochen nach Möglichkeit gestillt werden. Säuglinge, die nicht oder nicht voll gestillt werden können, erhalten eine Säuglingsmilchnahrung mit einer an die Muttermilch angenäherten Zusammensetzung. 55Von einer Säuglingsernährung mit unveränderten Tier­ milchen (Kuhmilch, Esel- oder Stutenmilch), selbst hergestellten Kuhmilchverdünnungen oder sog. „alternativen“ Säuglingsnahrungen (z. B. Zubereitungen aus Mandelmus und Obst) wird wegen ernster Risiken dringend abgeraten. 55Alle gesunden Säuglinge erhalten zur Blutungsprophylaxe Vitamin K (3-mal 2 mg p.o. bei den Vorsorgeuntersuchungen U1, U2 und U3), sowie zur Rachitisprävention täglich 1 Ta­ blette mit 400 I.E. Vitamin D und 0,25 mg Fluorid. 55Um den Bedarf an Eisen und anderen Nährstoffen zu decken, wird ab dem 5. Lebensmonat Beikost eingeführt (GemüseFleisch-Breie oder Getreide-Obst-Breie). 55 Bis zur Geburt muss geklärt werden, ob eine familiäre Allergiebelastung besteht, bei der eine konsequente alimentäre Allergieprävention durchgeführt werden sollte. Bei diesen Kindern empfiehlt man ein Vollstillen möglichst über 4–6 Monate. Bei Flaschenfütterung werden Kuhmilch- oder Soja­ nahrungen vermieden und stattdessen nur antigenreduzierte Säuglingsnahrungen auf der Basis von Eiweißhydrolysaten (sog. HA-Nahrungen) gegeben. 55Eine häufige und protrahierte Zuckerexposition der Zähne (z. B. Nuckelflasche mit zuckerhaltigen Getränken) begünstigt die Kariesentstehung und ist zu vermeiden. 55Im Kleinkind- und Schulalter ist ein reichlicher Verzehr von Gemüse, Obst, Vollkornprodukten und fettreduzierten Milchprodukten, ein regelmäßiger Verzehr von Seefisch, pflanz­ lichen Ölen und in mäßigem Ausmaß auch Fleischwaren ­sowie eine begrenzte Zufuhr von Fett und insbesondere von gesättigten Fetten erwünscht. 55Unter- und Übergewicht haben ernste Auswirkungen auf die kindliche Gesundheit und erfordern eine frühzeitige ­Intervention.

2

41

Metabolische Erkrankungen G.F. Hoffmann

3.1

Neugeborenenscreening  – 43

3.2

Spezialdiagnostik angeborener Stoffwechselerkrankungen  – 43

3.3

Hyperammonämie und Harnstoffzyklusdefekte  – 44

3.4

Laktatazidose und Mitochondriopathien  – 46

3.5

Hypoglykämie  – 48

3.5.1

Kongenitaler Hyperinsulinismus  – 49

3.5.2

Defekt des Glukosetransports  – 50

3.6

Störungen des Galaktosestoffwechsels (Galaktosämien)  – 50

3.6.1 Galaktokinasemangel  – 51 3.6.2 Galaktose-1-Phosphat-Uridyltransferasemangel („klassische Galaktosämie“)  – 51

3.7

Störungen des Fruktosestoffwechsels  – 52

3.7.1 3.7.2

Benigne Fruktosurie  – 52 Hereditäre Fruktoseintoleranz  – 52

3.8

Glykogenosen  – 52

3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.8.4 3.8.5

Glykogenosen Typ I (Morbus v. Gierke)  – 53 Glykogenose Typ II (Morbus Pompe)  – 54 Glykogenosen Typ III (Morbus Cori)  – 54 Glykogenose Typ V (Morbus McArdle)  – 55 Glykogenosen Typ IX  – 55

3.9

Aminoazidopathien  – 56

3.9.1 3.9.2 3.9.3 3.9.4

Phenylketonurie und ­Hyperphenylalaninämien  – 57 Tyrosinämie Typ I  – 59 Ahornsirupkrankheit  – 59 Homozystinurie und ­Hyperhomozysteinämien  – 59

3.10

Aminosäurentransportstörungen  – 61

3.10.1 Zystinurie  – 61

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_3

3

3.11

Organoazidopathien  – 61

3.11.1 Propionazidurie  – 62 3.11.2 Methylmalonazidurien  – 62 3.11.3 Defekte des Biotinstoffwechsels (­Biotinidasemangel und Holokarboxylase­ synthetasemangel)  – 63 3.11.4 Glutarazidurie Typ I  – 64 3.11.5 Defekte der Fettsäurenoxidation und Ketogenese  – 64

3.12

Peroxisomale Erkrankungen  – 66

3.12.1 Störungen der Peroxisomenbildung und peroxisomalen β-Oxidation  – 66 3.12.2 Peroxisomale Einzelenzymdefekte  – 67

3.13

Cholesterolbiosynthesedefekte  – 68

3.13.1 Smith-Lemli-Opitz-Syndrom  – 68

3.14

CDG-Syndrome („congenital disorders of glycosylation“)  – 68

3.15

Lysosomale Speicherkrankheiten  – 69

3.15.1 3.15.2 3.15.3 3.15.4 3.15.5

Mukopolysaccharidosen  – 70 Oligosaccharidosen  – 70 Mukolipidosen  – 71 Lipidspeicherkrankheiten  – 71 Lysosomale Transportdefekte  – 71

3.16

Lipidstoffwechselstörungen  – 72

3.16.1 Hyperlipoproteinämien  – 72 3.16.2 Hypolipoproteinämien  – 73

3

43 Metabolische Erkrankungen

3.1

Neugeborenenscreening

Bei vielen genetisch bedingten Stoffwechselkrankheiten oder hormo­ nellen Erkrankungen bestehen bei möglichst kurz nach der Geburt eingeleiteter Therapie sehr gute Aussichten, schwere Krankheits­ manifestationen zu verhindern. In den 1960er Jahren wurde durch die Initiative des Pädiaters Horst Bickel in der Bundesrepublik Deutschland und des klinischen Genetikers Alwin Knapp in der ehe­ maligen DDR das Neugeborenenscreening auf angeborene Stoff­ wechselstörungen und Endokrinopathien für alle Neugeborenen eingeführt. Es ist inzwischen die erfolgreichste Sekundärprävention gesundheitlicher Beeinträchtigungen überhaupt. >> Ziel des Neugeborenenscreenings ist die frühzeitige und ­vollständige Diagnosestellung wichtiger behandelbarer ­Erkrankungen bei präsymptomatischen Neugeborenen.

Inzwischen wurden in Deutschland ca. 38 Mio. Neugeborene unter­ sucht und mehr als 15.000 Patienten rechtzeitig diagnostiziert und erfolgreich behandelt. Am Beginn eines derartigen Programms muss die Frage stehen, nach welchen Erkrankungen bei allen Neugeborenen gefahndet wer­ den soll. Für diese Festlegung hat die WHO 1968 Kriterien definiert: 44 ausreichende Schwere und Häufigkeit der Erkrankung in der untersuchten Population, 44 symptomfreies Intervall nach der Geburt, in dem die Diagnose anhand klinischer Symptome nicht möglich ist, 44 nachgewiesener Nutzen einer präsymptomatisch eingeleiteten Therapie für das betroffene Kind, 44 einfache, an großen Probenzahlen (möglichst Trockenblut­ proben) mit geringen Kosten durchführbare Nachweismethode mit hoher Sensitivität und Spezifität. Der Umfang sowie die Durchführung des Neugeborenenscreenings wurden 2005 durch den „Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen“ in den Kinderrichtlinien festgelegt und im März 2011 aktualisiert. Für alle Neugeborenen wurde die Untersu­ chung auf 12 Stoffwechselerkrankungen sowie 2 Endokrinopathien empfohlen (. Tab. 3.1). Eine wesentliche Erweiterung erfuhr das Neugeborenenscreen­ ing durch Einführung der ESI-Tandemmassenspektrometrie (kurz Tandem-MS). Erkannt werden damit Störungen 44 des Aminosäurenstoffwechsels (Aminoazidopathien), 44 des Abbaus organischer Säuren (Organoazidopathien), 44 der Fettsäurenoxidation (Fettsäurenoxidations- und Carnitin­ stoffwechseldefekte). Im Jahr 2016 wurde die Mukoviszidose (zystische Fibrose, CF) als 15. Zielkrankheit eingeführt. Mit dem Screening und Diagnose von CF-Patienten kurz nach der Geburt können effektive Therapie­ maßnahmen chronische Veränderungen hinauszögern oder ganz verhindern. Praxis des Neugeborenenscreenings  Von jedem Neugeborenen

soll im Alter von 36 bis 72 Lebensstunden aus der Ferse Blut auf eine

Spezialfilterpapier (Guthrie-Karte) aufgetropft werden (. Abb. 3.1).

Diese Blutprobe wird getrocknet und täglich zur Untersuchung mit der Post an das Screeninglabor versandt. Die Screeninglaboratorien sind verantwortlich für die sofortige Bearbeitung der Proben und die zeitgerechte Weitergabe des Befunds an die Einsender. Der Einsender ist verantwortlich für die sach­ gerechte Durchführung der Probenentnahme, den Proben­versand, die vollständige Dokumentation einschließlich des Befundrücklaufs

..Tab. 3.1  Zielkrankheiten des Neugeborenenscreenings Zielkrankheit

Prävalenz

Hyperphenylalaninämien - Klassische Phenylketonurie - Hyperphenylalaninämie

1: 5300 1:10.300 1:11.600

Mittelkettiger-Acyl-CoA-Dehydrogenase (MCAD)Mangel

1:10.200

Weitere Tandem-MS-Erkrankungen (Ahornsirup­ erkrankung, Glutarazidurie Typ I, Isovalerianazidurie und sonstige Fettsäurenoxidationsdefekte)

1:28.800

Klassische Galaktosämie

1:69.500

Biotinidasemangel

1:22.900

Kongenitale Hypothyreose

1:3500

Adrenogenitales Syndrom, 21-Hydroxylasemangel

1:13.700

Kumulativ

Ca. 1:1340

Prävalenzen nach der Statistik der Deutschen Gesellschaft für ­Neugeborenenscreening 2004–2012 (n=6.112.987 Neugeborene, DGNS http://www.screening-dgns.de/screeningregister-2i.htm)

und die Einleitung der erforderlichen Maßnahmen bei patholo­ gischem Screeningergebnis (Information der Eltern, Organisation von Wiederholungsuntersuchungen und/oder Veranlassung einer Behandlung). 3.2

Spezialdiagnostik angeborener Stoffwechselerkrankungen

Entscheidend für eine erfolgreiche Diagnostik von Stoffwechseler­ krankungen sind die vom behandelnden Arzt zu treffende Auswahl der Patienten und eine gute Kommunikation mit dem Stoffwechsel­ speziallaboratorium, um die richtige Kombination biochemischer und genetischer Untersuchungen zu veranlassen. Indikation zur weiterführenden Diagnostik  In Zeiten begrenzter

finanzieller Ressourcen und Kapazitäten sowie ständig steigender Vielfalt und Komplexität diagnostischer Verfahren sollten mehr denn je nur Patienten untersucht werden, bei denen die Synopsis (familien)anamnestischer und klinischer Befunde, ergänzt um eine laborchemische und radiologische Basisdiagnostik eine angeborene Stoffwechselerkrankung möglich erscheinen lassen. So sollte bei iso­ liert vorhandener unspezifischer Symptomatik, wie Entwicklungs­ verzögerung, Epilepsie oder gehäuften Infekten, auf komplexe und teure Spezialuntersuchungen verzichtet werden. Ungewöhnlich schwere Krankheitsverläufe, z. B. bei inter­ kurrente Infekten, v. a. zusätzliche neurologische Symptome wie Wesensveränderung, Ataxie, extrapyramidale Bewegungsstörungen, Krampfanfälle oder Koma, müssen Anlass für eine Basisdiagnostik auf angeborene Stoffwechselstörungen sein (Ammoniak, Blutgas­ analyse, Blutzucker, Laktat und Ketonkörper im Urin). Einen beson­ deren Hinweis verdient die einfache Stixbestimmung der Ketone im Urin. Insbesondere bei Neugeborenen ist eine Ketonurie ein ­entscheidender Hinweis auf eine Stoffwechselerkrankung. Es kann nicht genug betont werden, dass die Bestimmung aller Laborpara­

44

G.F. Hoffmann

3

b

a

meter bei der Erstversorgung erfolgen soll. Für Spezialuntersuchun­ gen sollten gleichzeitig weitere Urin- und Serumproben asserviert werden. 3.3

Hyperammonämie und Harnstoffzyklusdefekte

j jDefinition und Einteilung Harnstoffzyklusdefekte sind genetisch bedingte Stoffwechselstörun­ gen der Stickstoffentgiftung, die mit dem Leitsymptom Hyperam­ monämie einhergehen. Insgesamt sind 6 Enzymdefekte des Harn­ stoffzyklus bekannt (. Abb. 3.2):

..Abb. 3.1  Fersenblutabnahme bei einem Neugeborenen für das Neu­ geborenenscreening. Kapilläres Blut wird seitlich aus der Ferse entnommen (a) und direkt auf die Filterpapierkarte (Guthrie-Karte, b) getropft. (Mit freundl. Genehmigung von Schleicher & Schüll)

44 N-Azetylglutamatsynthetase (NAGS)-Mangel, 44 Carbamylphosphatsynthetase (CPS)-Mangel, 44 Ornithintranskarbamylase (OTC)-Mangel, 44 Argininosuccinatsynthetasemangel (Zitrullinämie), 44 Argininosuccinatlyasemangel (Argininbernsteinsäurekrankheit), 44 Arginasemangel (Hyperargininämie). Der Harnstoffzyklus wird ferner durch genetische Defekte des Membrantransports von Aminosäuren gestört oder der mitochon­

drialen Carboanhydrase VA verursacht. Es resultieren wiederum Hyperammonämien. Folgende autosomal-rezessive vererbte Mem­ brandefekte sind bekannt: 44 Hyperammonämie-Hyperornithinämie-Homozitrullinurie (HHH)-Syndrom, 44 lysinurische Proteinintoleranz (LPI), 44 Citrinmangel.

jjEpidemiologie Harnstoffzyklusdefekte sind seltene Erkrankungen mit einer kumu­ lativen Häufigkeit von ca. 1:40.000. Der OTC-Mangel ist mit ca. 1:56.000 Kindern der häufigste Defekt. jjKlinik Die initialen Symptome Nahrungsverweigerung, Lethargie, Apathie, Atmungsstörungen und zerebrale Krampfanfälle werden oft schon im Neugeborenenalter manifest und lassen im Einzelfall zunächst an häufigere Erkrankungsursachen, wie Infektionen, Herzfehler oder intrakranielle Blutungen infolge von Geburtsverletzungen oder Vita­ min K-Mangel denken. Es entwickelt sich das klinische Bild einer systemischen Intoxikation mit schweren Enzephalopathie bis zum Koma oder Multiorganversagen. Gerinnungsstörungen können zu zerebralen Blutungen erheblichen Ausmaßes führen. Ältere Kinder und Erwachsene zeigen eine fluktuierende und häufig progrediente neurologische oder psychiatrische Symptomatik (Zephalgien, Epilepsie, Ataxie, Verwirrtheitszustände, mentaler Abbau). !! Cave ..Abb. 3.2 Harnstoffzyklus. 1: Carbamylphosphatsynthase (CPS), 2: Ornithintranskarbamylase (OTC), 3: Argininsukzinatsynthase (AS), 4: Argininosukzinatlyase (ASL), 5: Arginase, 6: N-Azetylglutamatsynthase (N-AGS)

Aufgrund der hohen Neurotoxizität des Ammoniaks ziehen schon 2(–3) Tage eines hyperammonämischen Komas schwere irreversible Gehirnschäden nach sich!

45 Metabolische Erkrankungen

Erstmanifestationen bis zum tödlichen Koma infolge von Harn­

stoffzyklusdefekten können bis ins Erwachsenenalter auftreten. Die häufigste Störung des Harnstoffzyklus, der OTC-Mangel, wird nicht autosomal-rezessiv, sondern X-chromosomal vererbt. Entsprechend sind Jungen zumeist schwerer betroffen. Hemizygote Mädchen und Frauen zeigen in Abhängigkeit von der genetischen Heterogenität passagere Hyperammonämien und nur gelegentlich schwere Stoff­ wechselentgleisungen. Im Vordergrund stehen bei ihnen progre­ diente neurologische und psychiatrische Symptome. >> Bei der Abklärung jeder akuten unklaren neurologischen Symp­tomatik muss auch eine Ammoniakbestimmung durchgeführt werden. Nur dann haben Patienten mit Harnstoff­ zyklusdefekten eine Chance auf einen günstigen Krankheitsverlauf.

Hyperammonämie  Die Hyperammonämie ist der einzig wegwei­ sende Parameter für Harnstoffzyklusdefekte. Eine eindeutig ab­ klärungsbedürftige Hyperammonämie liegt beim Neugeborenen ab Ammoniakkonzentrationen von 150 µmol/l (260 µg/dl), jenseits des Neugeborenenalters ab 100 µmol/l (175 µg/dl) vor. Erhöhten Ammoniakwerten muss sofort nachgegangen werden, da die Erkrankungen einen dramatischen Verlauf nehmen können, und die Zeitspanne vom Erkrankungsbeginn bis zu irreversiblen Schäden oder Hirntod kurz ist.

jjDifferenzialdiagnose In die Differenzialdiagnose der Hyperammonämie müssen zahlrei­ che, insbesondere andere metabolische Erkrankungen einbezogen werden. Entscheidend ist die rasche quantitative Bestimmung der Aminosäuren im Plasma und Urin, der Acylcarnitine sowie der orga­nischen Säuren und der Orotsäure im Urin. Differenzialdiagnose der Hyperammonämie 55Harnstoffzyklusdefekte 55Störungen des Transports von Harnstoffzyklusmetaboliten (HHH: Hyperammonämie-Hyperornithinämie-Homozitrullinurie-Syndrom), lysinurische Proteinintoleranz (LPI), Citrinmangel 55Defekt der mitochondrialen Carboanhydrase VA 55Hyperinsulinismus-Hyperammonämie-Syndrom, Hypo­ prolinämie, Glutaminsynthasemangel 55Organoazidopathien (z. B. Propionazidämie, Methylmalonazidurie) 55Genetische Lebererkrankungen (z. B. konnatale Hepati­ ditiden, Tyrosinämie Typ I, Atmungskettendefekte, Gallensäurensynthesedefekte, klassische Galaktosämie, α1-Anti­ trypsinmangel) 55Passagere Hyperammonämie des Frühgeborenen (­persis­tierender Ductus venosus Arantii; NH3 meist > Wichtig ist für jeden Patienten mit einem Harnstoffzyklus­ defekt ein Notfallausweis bzw. ein Notfallmedaillon mit den wichtigsten Telefonnummern sowie Angaben über die ersten unverzüglich durchzuführenden Maßnahmen!

jjVerlauf, Prognose Patienten mit Harnstoffzyklusdefekten und neonataler Symptomatik haben eine ernste Prognose. In der ersten Krise versterben 30–50%. Auch nach erfolgreicher Therapie der initialen Stoffwechselkrise

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entstehen über die Jahre fast regelhaft schwere Entwicklungsstörun­ gen infolge rezidivierender Hyperammonämien, in denen weitere 10% bis zum 6. Lebensjahr versterben. Eine realistische therapeu­ tische Alternative mit guter Langzeitprognose ist die Lebertransplantation. Ein in der Neonatalperiode durchgemachtes hyperammonä­ misches Koma führt fast immer zu schweren neurologischen Folgeschäden. Ebenfalls beeinträchtigen milde chronische Hyperammon­ ämien die psychomotorische Entwicklung. Der Schweregrad des neurologischen Krankheitsbilds von Patienten mit intermittierenden oder chronischen Krankheitsverläufen, insbesondere hemizygoter Mädchen und Frauen mit OTC-Mangel, hängt von der klinischen Symptomatik zum Zeitpunkt der Diagnosestellung und Beginn und Konsequenz der spezifischen Therapie ab. Verlaufsuntersuchungen konnten belegen, dass neurologische Folgeschäden und Retardierung unter konsequenter Therapie nicht fortschreiten. 3.4

Laktatazidose und Mitochondriopathien

j jGrundlagen Erhöhte Laktatkonzentrationen, bzw. Laktatazidosen, sind ein ent­ scheidender Hinweis auf unterschiedliche angeborene Stoffwechsel­ erkrankungen und müssen differenzialdiagnostisch verfolgt werden. Laktaterhöhungen sind das primäre Leitsymptom erblicher Störungen der oxidativen Phosphorylierung, die einen Mangel an energie­

reichen Phosphaten in Form von ATP bedingen. Die Häufigkeit von Mitochondriopathien wird auf etwa 1:3000 bis zu 1:10.000 geschätzt, wobei man davon ausgeht, dass 50% der betroffenen Kinder in den ersten 5 Lebensjahren symptomatisch werden. jjSynonyme Folgende Begriffe werden synomym verwendet: 44 Atmungskettendefekte, 44 erbliche Laktatazidosen, 44 Mitochondriopathien, 44 mitochondriale Erkrankungen, 44 mitochondriale Zytopathien, 44 mitochondriale (Enzephalo)myopathien, 44 OXPHOS-Erkrankungen. jjDefinition Mitochondriopathien verursachen vielgestaltige Multisystemerkrankungen. Sie sind durch große klinische Variabilität ihrer Sym­ ptome wie auch biochemische Heterogenität gekennzeichnet. Ein wichtiger Hinweis auf Mitochondriopathien sind Kombinationen (progredienter) Symptome unterschiedlicher Organe (. Tab. 3.2). Oft steht eine neuromuskuläre Symptomatik, bei Kindern insbeson­ dere Anfälle, bei Erwachsenen Muskelschwäche, im Vordergrund. Krankheitsspektren und -symptome haben sich seit 2010 noch we­ sentlich erweitert, da jetzt zusätzlich zu den früher schon diagnosti­ zierenden Defekten der mitochondrialen DNA mehrere 100 nukle­

..Tab. 3.2  Chamäleon Mitochondriopathien Symptome, Primärdiagnosen

Wegweisende Zusatzsymptome (zusätzlich zu Laktaterhöhungen)

Diagnose

Autismus

Anfälle

Deletionen und Duplikationen der mtDNA

Diabetes mellitus Typ 2

Dystrophie; Taubheit

MELAS

Epilepsie

Abrupter infektassoziierter Beginn; nächtliche Anfälle; generalisierte EEG-Veränderungen

Deletionen der mtDNA

Erblindung

Optikusatrophie; Dystonie

Lebersche Optikusatrophie

Ertaubung

Jugendliche und junge Erwachsene

MELAS

Herzinsuffizienz

Hypertrophe Kardiomyopathie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Deletionen der mtDNA

Leberversagen

Fehlender Virusnachweis, zerebrale Anfälle

Deletionen der mtDNA, mitochondriale DNA-Deple­ tionssyndrome

Leukämie

Maternal vererbte Thrombozytopenie

Deletionen der mtDNA

Leukodystrophie

Muskelhypotonie

Deletionen der mtDNA

Migräne

Diabetes; Schlaganfälle; Taubheit

MELAS

Multiple Sklerose

Anfälle

Mutationen der mtDNA

(Chronische) Pankreatitis

Schlaganfälle

MELAS

Reflux im Säuglingsalter

Karnitinmangel; Dystrophie

GA II, LCHAD, MELAS

Renale tubuläre Azidose

Muskelhypotonie

Defekte der Komplexe I und IV, Depletion der mtDNA

Schizophrenie

Anfälle

MELAS

Sprachentwicklungsverzögerung

Muskelhypotonie

MELAS

Zerebralparese

Verschlechterung bei interkurrenten Infekten

MELAS

mtDNA mitochondriale DNA; MELAS mitochondriale Enzephalopathie, Laktatazidose, Schlaganfälle; GA II Glutarazidurie Typ II; LCHAD 3-HydroxyazylCoA-Dehydrogenasemangel

47 Metabolische Erkrankungen

äre kodierte Defekte als mitochondriale Krankheiten aufgedeckt werden konnten. jjPathogenese, Pathologie Entscheidend für die Pathogenese der Mitochondriopathien ist der intrazelluläre Energiemangel. Am stärksten betroffen sind beson­ ders energieabhängige Gewebe: Gehirn, Retina, Muskel, Herz, Endokrinium, Leber, Niere. 44 Infolge des Energiemangels akkumulieren im ZNS freie Radikale, welche die oxidative Belastung sowie andere, aus Energie­ mangel entstehende zelluläre Fehlfunktionen, wie Störungen des Membranpotenzials, vermehren. Es resultieren spongi­ forme Degenerationen, Verluste an Neuronen, Gliosen und Demyelinisierung. Sowohl generalisierte als auch umschrie­ bene Lokalisationen werden beobachtet. Besonders häufig sind Basalganglien, Hirnstamm und Kleinhirn betroffen. 44 In der Muskulatur finden sich neben den pathognomonischen, aber nicht obligaten „ragged red fibers“, Faseratrophie und -dys­ proportion sowie feintropfige Fettspeicherung. jjGenetik Mitochondriopathien liegen alle vorstellbaren Vererbungsmodi zu Grunde: Spontanmutationen, autosomal-rezessive, dominante, X-ge­ bundene oder maternale Vererbungen. Die meisten Erkrankungen werden durch nukleär kodierte Defekte verursacht und folgen den klassischen Mendel-Regeln. Einigen Mitochondriopathien liegen primäre Defekte der mitochondrialen DNA zugrunde, mit folgenden Charakteristika: 44 Mitochondriale DNA wird ausschließlich maternal, unab­ hängig vom Geschlecht auf alle Kinder vererbt. 44 Mitochondriale DNA hat eine sehr hohe Mutationsrate, sowohl für Punktmutationen als auch für Deletionen/Insertionen. 44 Während Zellteilungen werden defekte Mitochondrien in ­Abhängigkeit von vorliegenden Mutationen über bislang noch unbekannte Mechanismen entweder zufällig auf die Tochter­ zellen verteilt, oder positiv oder auch negativ selektioniert. Der Anteil defekter Mitochondrien innerhalb und zwischen ein­ zelnen Geweben kann sowohl zu- als auch abnehmen und wechselnde Symptomkonstellationen und Krankheitsver­ läufe verursachen.

44 In der Oogenese werden nur wenige bis einzelne Kopien mito­ chondrialer DNA an die Folgegeneration weitergegeben. ­Sowohl Genotyp als auch Phänotyp können daher innerhalb einer Familie sehr unterschiedlich sein (Bottleneck-Theorie). >> In der genetischen Beratung von Familien mit maternaler ­Vererbung muss besprochen werden, dass in der Nachkommenschaft bis zu 100% der Kinder betroffen sein können.

Klinisch wichtig ist, dass die Mütter häufig keine oder nur eine ­mini­male Symptomatik wie Schwerhörigkeit, Kleinwuchs oder Hor­ monstörungen aufweisen können. In vielen Fällen sind maternal ver­erbte Defekte erst in den Keimbahnen oder in den frühen Ent­ wicklungsstadien entstanden, mit erheblich geringeren Wiederho­ lungsrisiken. jjKlinik Neonatalzeit  Während der Neonatalzeit dominieren folgende

Symptomkombinationen: 44 Hypotrophie, ketoazidotisches Koma, Apnoen, zerebrale An­ fälle, Muskelhypotonie, Lebervergrößerung, Tubulopathie, 44 rasch progrediente, konzentrische hypertrophe Kardiomyo­ pathie und muskuläre Hypotonie,

44 konzentrische hypertrophe Kardiomyopathie und Neutropenie (Barth-Syndrom) mit X-chromosomaler Vererbung (Xq28), 44 schwere Leberfunktionsstörung sowie renale Tubulopathie. Säuglinge und Kleinkinder  Unter den v. a. in dieser Altersgruppe

sehr vielfältigen Organmanifestationen können die im Folgenden dargestellten charakteristischen Symptomkombinationen abge­ grenzt werden. Im Einzelfall muss bei den Patienten gezielt nach einer Beteiligung weiterer Organsysteme gesucht werden. Mischfor­ men sind häufig. 44 Rasch progrediente Enzephalomyopathie mit schwerer Hypo­to­ nie, zerebellärer Ataxie, Pyramidenbahnzeichen, häufig assoziert mit einer hypertrophen Kardiomyopathie und Tubulo­pathie. 44 Subakut nekrotisierende Enzephalomyopathie (Morbus Leigh): klinisch progredienter Verlauf in mehreren Schüben mit psy­ chomotorischer Retardierung und Hirnstammdys­funktion; neuroradiologisch und -pathologisch finden sich symmetrische Nekro­sen in Stammhirn, Thalamus, Nucleus subthalamicus, ­Basalganglien, Hintersträngen und Zerebellum, Kortex und Hip­ pocampus bleiben ausgespart, unterschied­liche Verer­bungen. 44 Rezidivierende Rhabdomyolysen mit Myoglobinurie und ­muskulärer Hypertonie. 44 Sideroblastische Anämie mit Neutropenie, Thrombopenie und exokriner Pankreasinsuffizienz (Pearson-Syndrom), mt-DNA Erkrankung. 44 Gedeihstörung infolge einer Darmzottenatrophie. 44 Proximale Tubulopathie (De-Toni-Debré-Fanconi-Syndrom) oder interstitielle Nephritis mit Niereninsuffizienz und rezidi­ vierenden Durchfällen, fleckige Pigmentierungen nach Licht­ exposition sowie Enzephalomyopathie. 44 Zwergwuchs mit hypertropher Kardiomyopathie, Innenohr­ schwerhörigkeit und Retinitis pigmentosa. 44 Diabetes mellitus und Diabetes insipidus mit Optikusatrophie und Taubheit (Wolfram-Syndrom), autosomal-rezessiv. 44 Progressive sklerosierende Poliodystrophie (Anfälle und ­Degeneration der grauen Substanz) und Leberversagen, cave Valproinsäure (Morbus Alpers). Kinder und Erwachsene  Im Vordergrund stehen meist neuromus­

kuläre Symptome. Sie können bei bis dato völlig unauffälligen Perso­ nen in jedem Lebensalter oligosymptomatisch beginnen (. Tab. 3.2): 44 (progrediente) Muskelschwäche, evtl. mit externer Ophthal­ moplegie, 44 progrediente externe Ophthalmoplegie bis zum Kearns-SayreSyndrom (Trias: progrediente externe Ophthalmoplegie, ­Retinadegeneration plus mindestens eines der folgenden Symp­ tome: kompletter AV-Block, Eiweißerhöhung im Liquor oder zerebelläre Ataxie), mt-DNA Erkrankung, 44 progrediente Enzephalomyopathien mit jeweils charakteris­ tischen Zusatzsymptomen: 55MERRF: Myoklonus, Epilepsie, „ragged red fibers“, Muskel­ schwäche, Ataxie, Hörverlust, mt-DNA Erkrankung, 55MELAS: mitochondriale Enzephalopathie, Laktatazidose, Schlaganfälle (auch hier finden sich „ragged red fibers“), mt-DNA Erkrankung, 55NARP: neurogene Myopathie, Ataxie, Retinitis pigmentosa und fakultativ sensible Polyneuropathie, Anfälle, Demenz, mt-DNA Erkrankung, 55MNGIE: myoneurogastrointestinale Enzephalopathie (inter­ mittierende Diarrhö und Pseudoobstruktionen, Enzephalo­ pathie, Myopathie und periphere Neuropathie), autosomal rezessiv,

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44 Leber-kongenitale Optikusatrophie: Beginn 12–30 Jahre; schnelle Erblindung; evtl. Herzrhythmusstörungen, mt-DNA Erkrankung.

Energieträger sorgfältig abgewogen werden. Bei Defekten der Pyru­ vatdehydrogenase kann die Stoffwechselsituation durch die Zufuhr größerer Mengen an Glukose krisenhaft verschlechtert werden.

jjDiagnose Leitsymptom der Mitochondriopathien ist die Laktaterhöhung. Sie ist je nach Organbefall in unterschiedlichen Kompartimenten nach­ zuweisen. Bei generalisierter Symptomatik bzw. Leberbeteiligung im Blut, bei Nierenbeteiligung im Urin und bei ausschließlich neuro­ logischer Symptomatik evtl. nur im Liquor und ZNS. Die meisten im klinischen Alltag gefundenen Laktaterhöhungen sind allerdings Folge falscher Abnahmetechnik (u. a. Stauen) oder durch HerzKreislauf-Insuffizienz (z. B. bei Sepsis) bedingt.

Vitamine und Kofaktoren  Bei einigen Mitochondriopathien wur­

!! Cave Durch normale Laktatkonzentrationen im Blut werden Mitochondriopathien nicht ausgeschlossen.

Grenzwertige Laktaterhöhungen, bzw. der klinische Verdacht auf einen Defekt der oxidativen Phosphorylierung erfordern ggf. wie­ derholte prä- und postprandiale Bestimmungen von Laktat, Pyruvat, 3-Hydroxybutyrat, Azetoacetat und Alanin, eine Glukosebelastung mit 1–2 g/kgKG. Nach Glukosebelastung steigt Laktat beim Stoff­ wechselgesunden um höchstens 20%. Besonders aussagekräftig ist ein „paradoxer“ postprandialer Ketonkörperanstieg (normal: Ab­ fall). Bei pathologischen Basiswerten erübrigen sich Belastungsteste. Hilfreich sind ferner wiederholte Bestimmungen des Laktat/Krea­ tinin-Quotienten im Urin und insbesondere bei neurologischer Symptomatik Bestimmungen von Laktat, Pyruvat und Alanin im Liquor und spektroskopisch von Laktat im Gehirn. Vor allem bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kann der Nachweis klassischer Punktmutationen bzw. Deletionen der mitochondrialen DNA (häufiger nukleäre Defekte) gelingen. Entscheidende diagnostische Bausteine liefern Muskelhistologie, Histochemie und ggf. Elektronenmikroskopie mit dem Nachweis von „ragged red fibers“ oder abnorm strukturierter Mitochondrien. Die biochemische Aufarbeitung einer frischen Muskelbiopsie stellt den Goldstandard zum Nachweis einer Mitochondriopathie dar, ist aber nur in einigen Speziallaboratorien möglich. Neue gene­ tische Verfahren zur parallelen Untersuchung hunderter Gene bzw. des Exoms sollten gleichzeitig initiiert werden. j jTherapie Erfolgreiche rationale Therapieansätze sind nur für die Q10-Supple­ mentierung bei spezifischem Q10-Mangel, Thiamin-Supplemen­ tierung und eine ketogene Diät bei einigen Patienten mit Defekten im PDH-Komplex sowie für die Argininsupplementierung beim MELAS-Syndrom nachgewiesen. Für alle anderen Mitochondrio­ pathien sind kausale Therapien nicht gesichert. Die symptomatische Behandlung beinhaltet neben unterstützenden Maßnahmen die Vermeidung von Medikamenten, welche die Atmungskette hemmen (u. a. Valproinsäure, Tetrazykline, Aminoglykoside, Chlorampheni­ col, Metformin, Propofol). Überwachung  Regelmäßig müssen diejenigen Organsysteme

kontrolliert werden, welche im Verlauf von Mitochondriopathien häufig betroffen werden: Skelettmuskel, Herz (Reizleitung!), ZNS, Auge, Gehör, Niere und Leber. Vermeidung kataboler Stoffwechselsituationen  Entscheidend

ist eine ausreichende Zufuhr von Energie (Glukose, Fett), Flüssigkeit und Elektrolyten. Oft ist eine Sonden-PEG-Ernährung sehr hilf­ reich. Je nach Lokalisation des Defekts müssen die zuführenden

den durch die Gabe von speziellen Vitaminen und Kofaktoren indi­ viduelle Verbesserungen berichtet. Bei Erstmanifestation einer schweren Laktatazidose können folgende Substanzen versuchsweise kombiniert eingesetzt werden: 44 L-Carnitin (50 mg/kgKG/Tag), 44 Biotin (2-mal 10 mg/Tag), 44 Riboflavin (3–20 mg/kgKG/Tag, bis zu 400 mg/Tag), 44 Thiamin (25–100 mg/kgKG/Tag, bis zu 300 mg/Tag), 44 Koenzym Q10 (5–15 mg/kgKG/Tag). Therapie der akuten ketoazidotischen Krise  Akute ketoazidoti­ sche Krisen erfordern den Einsatz z. T. großer Mengen an Natriumbikarbonat. Diäten und weitere Maßnahmen  Bei vielen Patienten mit Mito­

chondriopathien werden Therapieversuche v. a. mit unterschied­ lichen Vitaminen begonnen. Nur bei Defekten der Pyruvatdehydro­ genase und des Komplex I der Atmungskette ist eine ketogene Diät evtl. plus Succinat sinnvoll, da diese Substrate via Komplex II ver­ stoffwechselt werden. Bei Patienten mit Komplex-III-Defekten kann die Einnahme von Vitamin K3 plus Vitamin C hilfreich sein. Die Therapieeffekte sind im Einzelfall nicht vorhersehbar, sodass ein Versuch in Abwägung der Schwere der Krankheitsbilder und bei meist dringend vorgetragenem Wunsch der Familie oft gerechtfer­ tigt ist, aber zeitlich limitiert bzw. kritisch evaluiert werden muss. jjVerlauf, Prognose Erschwert werden eine zusammenfassende Beurteilung von Krank­ heitsverläufen sowie von Therapiestudien bei Patienten mit Mito­ chondriopathien durch die relative Seltenheit der individuellen Krankheitsbilder und die große Variabilität und Fluktuation ein­ zelner Krankheitsverläufe. Speziell im Kindesalter sind individuelle Vorhersagen nicht möglich. Die Symptomatik ist häufig rasch pro­ gredient. Jederzeit kann es aber zu Phasen der Stabilität und auch zu einer Verbesserung der klinischen und biochemischen Befunde kommen. Diese Erfahrungen müssen in die Beratung einzelner ­Patienten bzw. ihrer Familien, in die Therapieplanung und auch in die Beurteilung ihrer Erfolge bzw. Misserfolge immer wieder einge­ bracht werden. 3.5

Hypoglykämie

jjGrundlagen Hypoglykämien sind im Kindesalter häufig. Sie resultieren aus einem Missverhältnis zwischen Angebot und Verbrauch an Glukose. jjPathogenese Ursächlich sind Enzymdefekte und Regulationsstörungen der Gly­ kogenolyse (Glykogenosen), der endogenen Glukoseproduktion (Glukoneogenesedefekte) und der Ketonkörperbildung (Fettsäu­ renoxidationsdefekte und Ketonkörperbildung) sowie endokrino­ logische Störungen. Hypoglykämien gefährden v. a. das Gehirn, welches seine Energie unter physiologischen Bedingungen aus­ schließlich aus Glukose bezieht. In Mangel- und Fastenperioden kann das Gehirn teilweise auf alternative Substrate zurückgreifen, insbesondere Ketonkörper.

49 Metabolische Erkrankungen

..Tab. 3.3  Klinische Symptome der Hypoglykämie Neugeborene, junge Säuglinge

Ältere Säuglinge, Kinder

- Trinkschwäche - Zittrigkeit - Blässe - Tachypnoe - Hypotonie - Hyperexzitabilität - Apnoeanfälle - Zyanose, Hypothermie - Krampfanfall - Koma

- Blässe - Schwitzen - Apathie - Übelkeit, Erbrechen - Hunger, Bauchschmerzen - Kopfschmerzen - Ungewöhnliches Verhalten - Bewusstseins-, Sehstörung - Krampfanfall - Koma

!! Cave Das kindliche Gehirn ist durch Hypoglykämien besonders ­gefährdet. Rezidivierende Hypoglykämien führen zu irrever­ siblen Schädigungen!

jjKlinik Blutglukosekonzentration und klinische Symptomatik korrelieren nicht zuverlässig. Die Schwere der Hypoglykämiesymptome hängt u. a. von der Geschwindigkeit des Blutzuckerabfalls und der Mög­ lichkeit ab, alternative Substrate (z. B. Ketonkörper, Laktat) ener­ getisch zu nutzen. Auch ohne das Vorliegen einer angeborenen ­Stoffwechselstörung sind Frühgeborene, hypotrophe Neugeborene infolge prä­nataler Mangelernährung, Neugeborene von Müttern mit Diabetes mellitus und Neugeborene mit erhöhtem Glukose­ verbrauch infolge von Hypoxie oder Infektionen besonders ge­ fährdet. Bei Neugebo­renen und jungen Säuglingen überwiegen in der Regel uncharakteristische vegetative Symptome, während bei älteren Kindern neurologische Symptome im Vordergrund stehen (. Tab. 3.3). jjDiagnose Altersabhängige Abstufungen der Hypoglykämie wurden inzwi­ schen verlassen. In jedem Alter liegt ab einer Plasmaglukosekonzen­ tration von 10 mg/kgKG/min). Bei Patien­ ten mit Mutationen im Glutamatdehydrogenasegen liegt häufig eine moderate Hyperammonämie (100–200 µmol/l) vor. In der Differen­ zialdiagnose müssen der transiente Formen des Hyperinsulinismus bei Neugeborenen (diabetische Fetopathie, Asphyxie, Sepsis, Rhesus­ inkompatibilität, SGA usw.), die Hypophysen- oder Nebennieren­ insuffizienz und das Beckwith-Wiedemann-Syndrom abgegrenzt werden. Vor einer operativen Therapie sollte das Vorliegen einer fokalen Form z. B. durch PET-Untersuchungen oder eine selektive Pan­ kreasvenenkatheterisierung mit gleichzeitigen Insulin- und Glukose­ bestimmungen ausgeschlossen werden. jjTherapie >> Eine effektive und frühzeitige Therapie ist gerade bei den neonatalen Formen entscheidend, um bleibende zerebrale Schäden zu vermeiden.

Akuttherapie  Zunächst muss der Blutzucker durch i.v.-Zufuhr

von Glukose (bis zu 25 mg/kgKG/min) über einen zentralen Zu­ gang  stabilisiert werden. Initial kann eine Erhöhung des Blut­ zuckers durch Glukagongaben (1 mg/kgKG/Tag kontinuierlich i.v.) oder alternativ durch Somatostatin (1–5 µg/kgKG/h i.v.) erreicht werden.

liegen in Einzelfällen Berichte über erfolgreiche Therapien mit dem Kalziumkanalblocker Nifedipin (0,5–2 mg/kgKG/Tag) vor. Operative Therapie  Bei Versagen der konservativen Therapiever­ suche ist eine 90–95%ige Pankreasresektion zu erwägen. Durch die Operation lassen sich Hypoglykämien häufig, jedoch nicht immer beseitigen. Fokale Areale können selektiv reseziert werden. Nur ­wenige Patienten entwickeln direkt postoperativ einen insulin­ pflichtigen Diabetes mellitus, später steigt die Zahl der Diabetes­ manifestationen bei den operierten Patienten kontinuierlich an. Die iatrogene exogene Pankreasinsuffizienz ist selten symptomatisch und lässt sich gut behandeln. Die Gesamtprognose hängt v. a. von Häufigkeit und Schwere­ grad der Hypoglykämien in den ersten Lebensjahren ab.

3.5.2

Defekt des Glukosetransports

Die Passage von Glukose durch die Blut-Hirn-Schranke und in ­ strozyten, Neurone und Gliazellen erfolgt mittels erleichterter A ­Diffusion und wird durch ein Glukosetransportprotein (GLUT 1) vermittelt. Ein Defekt dieses Transportes wird als Glukosetrans­ porter(GLUT1)-Defekt oder nach dem erst Erstbeschreiber De-VivoDisease bezeichnet. Die klinischen Merkmale des GLUT1-Defekts sind zerebrale Anfälle, Entwicklungsretardierung, komplexe Bewegungsstörungen (Hypotonie, Ataxie, Dystonie). Hinweisend ist ein ungeklärt nied­ riger Liquorzucker bei Nüchternlumbalpunktion (> Wegen des oftmals foudroyanten Verlaufs der Krankheit ­müssen Neugeborene bei dem geringsten Verdacht auf eine „klassische Galaktosämie“ sofort laktosefrei (milchzuckerfrei) ernährt werden, d. h. das Stillen muss bis zum Vorliegen der Laborbefunde unterbrochen werden.

Laktosefreie Säuglingsnahrungen sind auf Sojabasis aufgebaut. Bei Bestätigung der Diagnose muss die exogene Galaktoseaufnahme ­lebenslang möglichst gering gehalten werden, d. h. diese Patienten müssen laktosefrei und galaktosearm ernährt werden. Eine voll­ ständig galaktosefreie Ernährung ist durch den Gehalt an freier und gebundener Galaktose in fast allen Lebensmitteln in der Praxis nicht durchführbar und aufgrund einer hohen endogenen Galaktosepro­ duktion nicht angemessen. Die endogene Galaktoseproduktion im intermediären Stoffwechsel bewegt sich beim gesunden Erwachse­ nen wie bei Patienten mit Galaktose-1-Phosphat-Uridyltransferase­ mangel im Bereich von 1–2 g/Tag. Sie kann derzeit therapeutisch nicht beeinflusst werden. Durch den Verzicht auf Milch und Milch­ produkte ist der Kalziumgehalt der Nahrung gering. Weibliche Pa­ tienten leiden oft an einer ovariellen Insuffizienz und müssen mit galaktosefreien hormonellen Sequenzpräparaten substituiert wer­ den, um die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale und das Auftreten von Abbruchblutungen zu erzielen. Die Infertilität wird hierdurch nicht korrigiert.

jjVerlauf, Prognose Eine frühzeitig begonnene galaktosearme Ernährung führt zu einer Reversibilität bereits aufgetretener Katarakte. Trotz adäquater Be­ handlung werden bei vielen Patienten mit Galaktose-1-PhosphatUridyltransferasemangel ab dem Schulalter Sprachentwicklungs­ störungen, eine milde mentale Retardierung, weitere neurologische Spätkomplikationen (Intentionstremor, Ataxie) sowie bei ca. 80% der weiblichen Patienten ein hypergonadotroper Hypogonadismus mit überwiegend fibrotischen Ovarien, stark verzögerter ­Pubertätsentwicklung und deutlicher Einschränkung der Fertilität offensichtlich.

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Akute Symptome nach Fruktosezufuhr können gastrointes­tinale Beschwerden und Hypoglykämien mit Übelkeit, Erbrechen, Blässe, Schwitzen, Zittern, Lethargie und Krampfanfällen sein (. Tab. 3.3). Bei fortgesetzter Fruktosezufuhr kommt es zur Gedeihstörung, progredienter Leberfunktionsstörung (Hepatosplenomegalie, Ikterus, schweren Gerinnungsstörungen, Ödemen und Aszites) und immer auch zum renal-tubulären Schaden (De-Toni-Debré-Fanconi-Syn­ drom). Nach Elimination der Fruktose aus der Nahrung tritt in der Regel eine schnelle Erholung ein. Verantwortlich für Hypoglykämien, Leber- und tubulären Nierenschäden ist die Akkumulation von Fruk­ tose-1-Phosphat. Einige Säuglinge entwickeln wegen fruktoseinduzierter gas­ trointestinaler Beschwerden schon sehr früh eine Aversion gegen fruktosehaltige Speisen, was einen Selbstschutz darstellt, aber die frühzeitige Erkennung verhindern kann.

3

..Abb. 3.5 Fruktoseabbau. 1: Fruktokinase, 2: Fruktose-1-Phosphat-Aldolase, 3: Fruktose-1,6-Diphosphatase

3.7

Störungen des Fruktosestoffwechsels

Fruktose ist Bestandteil des Kochzuckers (Saccharose, FruktoseGlukose-Disaccharid) und ist in großen Mengen in Obst und diver­ sen Gemüsesorten enthalten. Daneben werden Fruktose, Saccharose oder Sorbit (das v. a. über Fruktose abgebaut wird) häufig Lebens­ mitteln zugesetzt. Im Fruktosestoffwechsel sind 3 autosomal-rezes­ siv vererbte Defekte bekannt, und zwar Aktivitätsverluste folgender Enzyme (. Abb. 3.5): 44 Fruktokinase, 44 Fruktose-1-Phosphat-Aldolase („hereditäre Fruktose­ intoleranz“), 44 Fruktose-1,6-Diphosphatase.

3.7.1

Benigne Fruktosurie

Die benigne Fruktosurie infolge eines Mangels der Fruktokinase ist meist eine Zufallsdiagnose. Ein Teil der zugeführten Fruktose wird im Urin ausgeschieden und kann über eine Reduktionsprobe (Clini­ test) nachgewiesen werden. Die Häufigkeit beträgt ca. 1:50.000. Es handelt sich um eine harmlose, nicht behandlungsbedürftige ­Störung. 3.7.2

Hereditäre Fruktoseintoleranz

j jGrundlagen Bei der hereditären Fruktoseintoleranz besteht ein Aktivitätsver­ lust  der Fruktose-1-Phosphat-Aldolase B. Die Inzidenz wird auf 1:20.000 geschätzt. Ein Metabolitenscreeningtest in der Neugebo­ renenperiode ist nicht möglich. jjKlinik Betroffene Kinder entwickeln Symptome erst mit Aufnahme fruk­ tosehaltiger (saccharosehaltiger) Nahrungsmittel. Dieses geschieht in der Regel im Säuglingsalter bei Übergang auf Beikost (Säfte, Früchte, Gemüse) oder bei Zufütterung einer saccharosehaltigen Folgenahrung. Je jünger ein Kind und je größer die aufgenommene Fruktosemenge ist, desto schwerer sind die klinischen Symptome.

jjDiagnose Bei Verdacht auf hereditäre Fruktoseintoleranz muss sofort vollstän­ dig fruktosefrei ernährt werden. Ein rascher Rückgang der Symp­tome innerhalb von Tagen ist dabei eine erste Bestätigung der Verdachts­ diagnose. Zunächst sollte der Mutationsnachweis im Aldolase-BGen zur Diagnosesicherung angestrebt werden. In diagnostisch ­unklaren Fällen kann nach Normalisierung der Leberfunktion die Diagnose durch Aktivitätsmessung der Fruktose-1,6-Diphosphatal­ dolase in einer funktionell normalen Leber oder in einem Dünn­ darmbiopsat gesichert werden. Eine intravenöse Fruktosebelastung ist obsolet. Eine orale Fruktosebelastung ist nicht evaluiert, unan­ genehm für den Patienten und kann erhebliche Nebenwirkungen haben. jjTherapie Die Behandlung besteht in der Elimination sämtlicher Fruktose aus der Nahrung. Dieses betrifft alle Nahrungsmittel, welche natür­ licherweise Fruktose, Saccharose oder Sorbit enthalten oder denen diese Substanzen zugesetzt wurden. !! Cave Bei Patienten mit hereditärer Fruktoseintoleranz muss bei der Verabreichung von Medikamenten, insbesondere bei Säften, genau auf die Inhaltsstoffe geachtet werden!

jjVerlauf, Prognose Bei einigen Kindern bleibt trotz fruktose- und sorbitfreier Ernäh­ rung über Monate und Jahre eine Hepatomegalie bestehen. Mit zu­ nehmendem Alter erhöht sich die Toleranz gegenüber Fruktose leicht, sodass Kinder täglich bis zu 0,5–1 g und Erwachsene bis zu 2,5 g Fruktose tolerieren. Die Prognose ist unter kontrollierter Diät gut. 3.8

Glykogenosen

jjDefinition Glykogen wird v. a. in Leber und Muskulatur aus Glukose-6-Phos­ phat synthetisiert und als wichtigster initialer Energieträger gespei­ chert. Bei den Glykogenosen handelt es sich um Speicherkrank­ heiten charakterisiert durch einen abnormen Gehalt an normal oder pathologisch strukturiertem Glykogen mit Funktionsstörungen in Leber und/oder Muskeln sowie eine gestörte Glukosehomöostase. Die Einteilung der Glykogenosen erfolgt in chronologischer Reihen­ folge ihrer Erstbeschreibung mit römischen Ziffern und Kleinbuch­ staben (. Tab. 3.4).

53 Metabolische Erkrankungen

..Tab. 3.4 Klassifikation der Glykogenosen Typ

Enzymdefekt

Speicherorgan

Hypoglykämie

Symptome

Ia

Glukose-6-Phosphatase

Leber, Niere

+++

Hepatomegalie, Hyperlaktatämie, Hypertriglyzeridämie, Hyperurikämie, Nephromegalie, Nephropathie, Kleinwuchs, Blutungsneigung

I b

Glukose-6- Phosphattranslokase

Leber

+++

Wie Ia, zusätzlich Neutropenie, Infektneigung, Morbus-Crohn-ähnliche Darmerkrankung

II

Lysosomale alphaGlukosidase

Generalisiert

Nein

Infantile Form: Kardiomegalie, Hepatomegalie, progressive Muskel­ hypotonie Juvenile/adulte Form: Myopathie

III

Amylo-1,6-Glukosidase

Leber, Muskel, Erythrozyten

+

Hepatomegalie, Myopathie

IV

Brancher-Enzym

Leber

Nein

Leberzirrhose, Hepatosplenomegalie, Myopathie

V

Phosphorylase

Muskel

Nein

Muskelkrämpfe nach Belastung, rasche Ermüdbarkeit, Myoglobinurie

VI

Phosphorylase

Leber

+

Hepatomegalie

VII

Phosphofruktokinase

Muskel, ­Erythrozyten

Nein

Wie V, hämolytische Anämie

IX

Phosphorylasekinase

Leber, Muskel, Erythrozyten

+

Hepatomegalie, Myopathie, Kleinwuchs

0a

Glykogensynthetase

Leber, keine Speicherung

+++

Gedeihstörung

0b

Glykogensynthetase

Muskel

Nein

(Kardio)myopathie

jjEpidemiologie Die Inzidenz aller Glykogenosen wird in Europa auf ca. 1:25.000 geschätzt. Sie schwankt im Einzelfall je nach Typ und ethnischer Zusammensetzung der Bevölkerung beträchtlich. Die Glykogenosen Typ Ia II, III und IX kommen am häufigsten vor. jjGenetik Mit Ausnahme der häufigsten Unterform der Glykogenose Typ IX (Phosphorylase-b-Kinasemangel), die X-chromosomal vererbt wird, liegt allen Glykogenosen ein autosomal-rezessiver Erbgang zu­ grunde. Mittlerweile konnten bei allen beteiligten Enzymsysteme bzw. Transportproteine die entsprechenden Gene lokalisiert und zugrunde liegende Mutationen identifiziert werden. jjKlinik Klinisch lassen sich 3 Manifestationsformen unterscheiden: 44 überwiegend hepatische Beteiligung (Typ I, IV, VI, IX, 0), 44 vorwiegend muskuläre Beteiligung (Typ II, V, VII) 44 gemischte Symptomatik (Typ III). jjDiagnose Infolge der fortschreitenden Entwicklung der diagnostischen Metho­ den (Enzymbestimmungen in Erythrozyten, Leukozyten, Fibroblas­ ten und v. a. Molekulargenetik) ist in der Regel die quantitative Bestimmung und die histologische Beurteilung des Glykogens in Leber und/oder Muskel nicht mehr erforderlich. Belastungstests mit Glu­ kose, Galaktose oder Glukagon spielen ebenfalls nur noch eine unter­ geordnete Rolle. Die pränatale Diagnostik unter Zuhilfenahme von Chorionvilli- oder Amnionzellen ist für alle Glykogenosen möglich. jjTherapie Diätetische Maßnahmen sind die Eckpfeiler der Therapie und

­haben wesentlich zur Verbesserung der Stoffwechselkontrolle ge­

führt, insbesondere bei Patienten mit Glykogenose Typ I. Lebertransplantationen wurden bei einer Reihe von Patienten mit Glyko­ genosen I und IV aufgrund von Leberadenomen und -karzinomen bzw. Leberzirrhose durchgeführt. Ansätze einer Enzymersatzthe­ rapie sind bei Glykogenose II erfolgversprechend. 3.8.1

Glykogenosen Typ I (Morbus v. Gierke)

jjPathogenese Ursache der Glykogenosen Typ I sind Defekte der Glukose-6-Phosphatase. Dieses membrangebundene Enzymsystem, welches aus­ schließlich in der Leber vorkommt, besteht aus 6 Untereinheiten. Es katalysiert die Umwandlung von Glukose-6-Phosphat in Glukose, die gemeinsame Endreaktion von Glykogenolyse und Glukoneo­ genese. Bei der Glykogenose Typ I ist daher jegliche Freisetzung von Glukose aus der Leber blockiert und auch keine Glukosebereitstel­ lung aus Fruktose, Galaktose oder Glyzerin möglich. Patienten sind zur Aufrechterhaltung einer Normoglykämie vollständig von der oralen Aufnahme von Glukose oder Glukosepolymeren (Malto­ dextrin, Stärke) abhängig. Durch die gestörte hepatische Glukose­ produktion kommt es zur Anhäufung von Glukose-6-Phosphat und anderen Glykolyseintermediaten, die vermehrt in Laktat (Laktat­ azidose) umgewandelt werden und die Glykogen- und Triglyzerid­ synthese (Hypertriglyzeridämie) sowie den oxidativen Pentoseweg (Hyperurikämie) stimulieren. jjKlinik Auffällig werden betroffene Kinder zumeist im Alter von 3–6 Mo­ naten mit hypoglykämischen Krampfanfällen, einer ausgepräg­ ten Hepatomegalie (ohne Splenomegalie), weitausladendem Abdo­ men, Wachstumsrückstand und einem puppenähnlichen Aussehen (. Abb. 3.6). Häufig besteht eine ausgeprägte Blutungsneigung

3

54

G.F. Hoffmann

jjVerlauf, Prognose Bei frühzeitiger und konsequenter Therapie ist die geistige Ent­ wicklung normal. Trotz adäquater Stoffwechselkontrolle kann es bei einem Teil der Betroffenen mittelfristig zu Komplikationen kom­ men, meistens in der 2. oder 3. Lebensdekade in Form von Leber­ adenomen, Osteoporose und Beeinträchtigung der Nierenfunktion bis zur Niereninsuffizienz. Patienten mit Glykogenose Typ Ib entwi­ ckeln häufig eine dem Morbus Crohn ähnliche Darmerkrankung. Berichte über eine maligne Entartung der Leberadenome unter­ streichen die Notwendigkeit regelmäßiger Kontrollen.

3

3.8.2

..Abb. 3.6  6-monatiger Knabe mit zerebralen Krampfanfällen bei Glykogenose Typ Ia: Hepatomegalie

mit Nasenbluten und multiplen Hämatomen. Bei der Ultraschall­ untersuchung fällt zusätzlich eine beidseitige Nephromegalie auf. Kinder mit den selteneren Glykogenosen Typ Ib leiden zusätzlich an rezi­ divierenden schweren akuten oder chronischen Infek­ tionen   und Entzündungen infolge einer Neutropenie (> Die Zufuhr von nicht oder nicht ausreichend abbaubaren und daher toxischen Aminosäuren wird auf ein Minimum ­reduziert, ohne dass eine katabole Stoffwechsellage oder eine Mangelernährung auftreten.

Prinzipien der Diätbehandlung  Die Ernährungsbehandlung von

Aminoazidopathien basiert auf folgenden Prinzipien: 44 Verzicht auf eiweißreiche Nahrungsmittel und begrenzte Auf­ nahme eiweißarmer Nahrungsmittel, 44 Zufuhr einer mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen angereicherten semisynthetischen Mischung inkl. der nicht im Abbau gestörten Aminosäuren, 44 ausreichende Deckung des Energiebedarfs durch eiweißarme Spezialnahrungsmittel sowie reine Fette und Kohlenhydrate, 44 häufige Kontrollen der Spiegel der betroffenen Amino­ säure(n).

Die Kunst der Diätbehandlung besteht darin, unter Berücksich­ tigung der 3 erstgenannten Komponenten eine abwechslungsreiche und schmackhafte Kost zusammenzustellen, die den Nahrungs­ bedarf deckt. Eine entscheidende Rolle spielt die richtige Auswahl der Nahrungsmittel. Fleisch, Geflügel, Fisch, Wurst, Milch, Milch­ produkte, Getreide und Getreideprodukte, Hülsenfrüchte, Nüsse und Kakao enthalten viel Eiweiß und sind deshalb ungeeignet. Obst und viele Gemüsearten enthalten relativ wenig Eiweiß und sind die wesentliche Quelle natürlichen Proteins. Zu den aus dem normalen Warenangebot entnehmbaren Nahrungsmitteln kommen spezielle eiweißarme Produkte, z. B. Spezialmehl, Brot, Gebäck und Teig­ waren, die aus Stärke hergestellt werden (. Abb. 3.8). Überwachung unter Diätbehandlung  Unter der Dauerbehand­ lung mit der Spezialdiät sind neben regelmäßiger Gedeihkontrolle (Gewicht, Größe, Kopfumfang, Entwicklung) u. a. folgende Labor-

..Abb. 3.8  Diätvorschlag eines Tages für ein 6-jähriges Kind mit Phenyl­ ketonurie mit einer Phenylalanintoleranz von 250 mg. Zur Deckung des Flüssigkeits- und Energiebedarfs und zur Einnahme des Eiweißersatzpräparats sind zusätzlich ca. 800–1000 ml kohlenhydrathaltige Getränke erforderlich

kontrollen erforderlich: quantitative Bestimmung aller Aminosäu­ ren im Plasma (speziell der eingeschränkten sowie der essenziellen Aminosäuren), Blutbild, Kalzium, Phosphat, Magnesium, Eisen, Transaminasen, alkalische Phosphatase, Gesamteiweiß, Albumin und Präalbumin. Notfallmaßnahmen  Eiweißexzesse oder interkurrente Erkran­

kungen (Infekte, Impfungen, Unfälle, Operationen, etc.) mit vermin­ derter Nahrungszufuhr und Abbau des körpereigenen Ei­weißes für die Glukoneogenese führen zu einem raschen Anstieg ­toxischer ­Metabolite. Bei Erkrankungen mit akuter Toxizität können Patienten innerhalb kürzester Zeit schwerste zerebrale Schädi­gungen erleiden oder versterben, z. B. bei der Ahornsiruperkrankung.

>> Entscheidend sind konsequent und zuverlässig durchge­ führte Notfallmaßnahmen schon im Frühstadium von Ent­ gleisungen.

Eckpfeiler der Notfallbehandlung sind 44 die Vermeidung bzw. rasche Umkehrung einer katabolen ­Stoffwechsellage durch ausreichende Zufuhr von Flüssigkeit, Elektrolyten und Energie (Glukose, Fette) und 44 die konsequente Fortführung der spezifischen oralen Medika­ tion (z. B. Vitamine, Kofaktoren). Da Entgleisungen meist zu Hause beginnen, müssen betroffene Fa­ milien ausführlich geschult werden, um adäquat reagieren zu kön­ nen. Die Patienten sollten einen Notfallausweis bzw. -medaillon mit den wichtigsten Erstinformationen und Telefonnummern sowie Angaben über die ersten unverzüglich durchzuführenden Maßnah­

57 Metabolische Erkrankungen

men bei sich tragen. Bei Operationen müssen besondere Vorsichts­ maßnahmen getroffen werden. Die spezifische Notfalltherapie muss lebenslang beachtet werden. Für Erkrankungen, bei denen die Schädigungen auf einer kumulativen chronischen Toxizität beruhen, wie z. B. bei der Phenyl­ ketonurie, gelten die gleichen Prinzipien zur Pathophysiologie von Metabolitenerhöhungen; die Notfallmaßnahmen beschränken sich jedoch auf ambulante orale Anpassungen der Therapie.

die Phenylessigsäure, die einen „mäuseartigen“ Körpergeruch verur­ sacht. Da diese Stoffwechselwege weniger effektiv arbeiten als die Phenylalaninhydroxylase, bleiben die Spiegel von Phenyl­alanin hoch (Normbereich für Säuglinge im Plasma 1200 µmol/l) –– Milde PKU (Plasmaphenylalanina 600 µmol/l–1200 µmol/l) –– Milde Hyperphenylalaninämie (Plasmaphenylalanina 180 µmol/l–600 µmol/l) –– Genetische Defekte der Tetrahydrobiopterinbildung (BH4-Kofaktor) 55Sekundäre Phenylalaninerhöhungen –– Tyrosinämien –– Frühgeburtlichkeit –– Leber- oder Nierenversagen –– Einnahme von Trimethoprim –– Zytostatikatherapie a unter

altersentsprechender Ernährung

j jTherapie Die Phenylalaninspiegel sollten bei Patienten mit behandlungs­ bedürftigen Hyperphenylalaninämien in den ersten 10 Lebens­jahren zwischen 0,7 und 4 mg/dl liegen, zwischen dem 10. und 16. Lebens­ jahr zwischen 0,7 und 15 mg/dl, danach zwischen 0,7 und 20 mg/dl. In Einzelfällen können bei älteren Patienten psychopathologische (selten neurologische) Alterationen eine strikte diätetische Behand­ lung erforderlich machen. Neurologisch vorgeschädigte ­Patienten (etwa nach verspäteter Diagnosestellung) profitieren im späteren ­Lebensalter oft noch deutlich von einer Ernährungsbehandlung. jjVerlauf, Prognose Eine konsequente Ernährungsbehandlung mit Phenylalaninspiegeln im Zielbereich ermöglicht eine weitgehend normale psychomoto­ rische und intellektuelle Entwicklung.

..Tab. 3.5  Risiko einer Embryofetopathie durch erhöhte ­Phenylalaninspiegel einer werdenden Mutter mit Phenylketonurie (maternale PKU) Mütterlicher Phenylalanin­ spiegel >1200 μmol

Normal­ bevölkerung

Geistige Behinderung in %

92

5,0

Mikrozephalie in %

73

4,8

Intrauterine Dystrophie in % (Geburtsgewicht > Die kindlichen Schäden bei mütterlicher Phenylketonurie können nur durch das Einhalten einer sehr strengen Diät schon vor der Empfängnis und über die gesamte Schwangerschaft hindurch vermieden werden, d. h. es müssen geplante Schwangerschaften angestrebt werden.

Defekte der Tetrahydrobiopterinbildung Tetrahydrobiopterin wird nicht nur für die Funktion der Phenyl­ alaninhydroxylase sondern auch für die zweier weiterer Enzymsys­ teme in der Biosynthese der Neurotransmitter Dopamin und Sero­ tonin benötigt (Tyrosin- bzw. Tryptophanhydroxylase). Die schwere klinische Symptomatik (infantiles Parkinson-Syndrom, Dystonien, Dyskinesien, Myoklonien, therapieresistente Epilepsie ab dem ­frühen Säuglingsalter) wird weniger durch die oft nur mäßig stark erhöhten Phenylalaninspiegel, sondern durch den Neurotrans­ mittermangel im ZNS hervorgerufen. Defekte der Tetrahydrobiopterinbildung liegen in Deutschland ca. 2%, in einzelnen Regionen der Türkei und Arabien in bis zu 30% den genetischen bedingten Hyperphenylalaninämien zugrunde.

59 Metabolische Erkrankungen

jjTherapie Die Therapie von Defekten der Tetrahydrobiopterinbildung erfor­ dert neben einer Supplementation mit synthetischem Tetrahydro­ biopterin oder einer phenylalaninarmen Diät die Gabe von L-Dopa zusammen mit einem Dekarboxylasehemmstoff (Carbidopa) in Kombination mit 5-Hydroxytryptophan zur Supplementierung der Dopamin- und Serotoninsynthese. Die Therapie muss lebenslang eingehalten und über Bestimmungen von Phenylalanin sowie der Neurotransmittermetabolite Homovanillinsäure und 5-Hydroxy­ indolessigsäure im Liquor gesteuert werden. Bei frühzeitigem The­ rapiebeginn ist eine gute Entwicklung zu erreichen. 3.9.2

Tyrosinämie Typ I

jjGrundlagen Die Tyrosinämie Typ I wird durch einen autosomal-rezessiv ver­ erbten Defekt der Fumarylazetoazetase verursacht, welche am Ende des Abbauwegs von Phenylalanin und Tyrosin die Spaltung von ­Fumarylazetoacetat in Fumarat und Azetoazetat katalysiert (. Abb. 3.9). Es entstehen die hochreaktiven und toxischen Meta­ bolite Fumarylacetoacetat, Maleylazetoazetat, Sukzinylacetoazetat und Sukzinylazeton, welche intrazellulär mit Makromolekülen und Glutathion reagieren sowie die Porphobilinogensynthese hemmen. Die Prävalenz der Tyrosinämie Typ I liegt bei etwa 1:120.000. jjKlinik Die toxischen Metabolite führen zu einem Leberversagen in der Säuglingszeit oder zu einer protrahierteren Hepatopathie mit zir­ rhotischem Umbau und zu Hepatomen. Häufig entstehen schon im Kindesalter hepatozelluläre Karzinome. Nierenfunktionsstörungen manifestieren sich in einer hypophosphatämischen Rachitis und können bis zum Nierenversagen fortschreiten. Eine erhebliche Mor­ bidität und Mortalität resultiert aus einer peripheren Neuropathie sowie neurologischen Krisen, entsprechend einer akuten Porphyrie infolge der Hemmung der Porphobilinogensynthese. jjDiagnose Der Nachweis von Sukzinylazeton in der Analytik der organischen Säuren beweist das Vorliegen einer Tyrosinämie Typ I. Spezifisch sind ferner Erhöhungen von 5-Aminolävulinsäure im Urin infolge der gehemmten Porphobilinogensynthese. Erhöht finden sich auch die Aminosäuren Tyrosin, Methionin, in geringerem Ausmaße ­Phenylalanin sowie zahlreiche, über alternative Stoffwechselwege entstandene Metabolite. α-Fetoprotein ist zum Teil exorbitant er­ höht. Die letztgenannten Veränderungen können auch bei anderen infektiösen oder genetischen Lebererkrankungen vorkommen. Die Mutationen sollten diagnostisch nachgewiesen oder der Enzym­ defekt in Lymphozyten oder Fibroblasten bestätigt werden. jjTherapie Während früher die Leber- bzw. kombinierte Leber-Nieren-Trans­ plantation die einzige Erfolg versprechende Therapieoption war, wurde Anfang der 1990er-Jahre mit 2-(2-Nitro-4-Trifluoro­methyl­ benzoyl)-1,3-Zyklohexadion (NTBC) ein potenter Hemmstoff der 4-Hydroxyphenylpyruvatdioxygenase oberhalb der bei Tyrosinämie Typ I defekten Fumarylazetoazetase als neues Therapieprinzip ent­ wickelt (. Abb. 3.9). Unter der Behandlung mit NTBC steigen bei Patienten mit Tyrosinämie Typ I die Tyrosinspiegel noch weiter an, die Bildung der hochreaktiven und toxischen Metabolite Fumaryl­ azetoazetat, Maleylazetoazetat, Sukzinylazetoazetat und Sukzinyl­ azeton wird aber blockiert. Leber- und Nierenfunktion normalisie­

ren sich langsam, ebenso die Porphobilinogensynthese. Erforderlich bleibt eine phenylalanin- und tyrosinarme Diät. Die Prognose hat sich unter dieser Behandlung entscheidend gebessert. 3.9.3

Ahornsirupkrankheit

jjGrundlagen Bei der Ahornsirupkrankheit ist der mitochondriale Abbau von ­Leuzin, Isoleuzin und Valin auf der Stufe der gemeinsamen Oxi­ dierung der durch reversible Transaminierung entstandenen α-Ketosäuren gestört. Die Prävalenz liegt bei etwa 1:150.000. jjKlinik Die Erkrankung verursacht eine progrediente Enzephalopathie, zu­ nächst eine Ataxie, dann Anfälle, Somnolenz, Hirnödem und Koma. Erste Symptome, Lethargie und Trinkschwäche, treten zwischen dem 3. und 5. Lebenstag auf. Die Kinder verschlechtern sich sehr rasch. Oft fällt der typische Geruch von Ahornsirup bzw. Maggi auf. Kinder mit milderen Verlaufsformen infolge einer Restaktivität des Enzyms fallen später durch Entwicklungsverzögerung, neurologi­ sche Störungen und rezidivierende ketoazidotische Entgleisungen (Differenzialdiagnose: ketonämisches Erbrechen) auf. jjDiagnose Die Erkrankung ist seit 2005 als Zielkrankheit in das erweiterte Neu­ geborenenscreening integriert. Die Analyse der Aminosäuren im Plasma zeigt eine massive Erhöhung von Valin, Isoleuzin und Leuzin (deren Metabolit α-Ketoisokapronsäure ist besonders toxisch) sowie von L-Alloisoleuzin. Bei der Analyse der organischen Säuren im Urin finden sich neben den α-Ketosäuren auch die α-Hydroxysäuren erhöht. jjTherapie Akute schwere Entgleisungen sind nach Beginn des Neugeborenen­ screenings auf diese Erkraknung selten geworden und erfordern zumeist eine intensivmedizinische Notfalltherapie mit Infusion von Glukose und Insulin, ggf. Dialyse. Die Langzeitbehandlung besteht aus einer eiweißarmen Ernährung mit Supplementierung eines Aminosäurengemisches ohne Leuzin, Isoleuzin und Valin. Die The­ rapiekontrolle erfolgt über die Leuzinkonzentration im Plasma. We­ nige Patienten sprechen auf eine hochdosierte Gabe des Kofaktors Thiamin (5 mg/kgKG/Tag) an. >> Die Prognose der Ahornsirupkrankheit ist nur bei rascher ­Diagnose (vor dem 5. Lebenstag) und konsequenter Therapie befriedigend.

3.9.4

Homozystinurie und ­Hyperhomozysteinämien

Der Homozysteinstoffwechsel umfasst 3 vitaminabhängige meta­ bolische Sequenzen (. Abb. 3.10): 44 Remethylierung zu Methionin, 44 Transmethylierung von Methionin zu Homozystein, 44 Transsulfurierung zu Zystein. Da Homozystein sehr toxisch ist, wird es im Stoffwechsel rasch in Methionin zurückgeführt oder zu Zystein abgebaut. Alternativ kann Methionin mittels der hepatischen Betain-Homozystein-Methyl­ transferase (als CH3-Donor fungiert Betain) erneuert werden.

3

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G.F. Hoffmann

jjKlinik Exzessive Homozysteinerhöhungen induzieren zusätzlich zu schwe­ ren vorzeitigen Gefäßerkrankungen (Infarkte, Thrombosen, Embo­ lien im Kindes- und Jugendlichenalter) auch Konformationsände­ rungen am Kollagen und anderen Strukturproteinen. Unbehandelt entwickelt sich bei den bei Geburt unauffälligen Patienten eine cha­ rakteristische Multisystemerkrankung: 44 ZNS: Psychomotorische Retardierung (ca. 80%), Anfälle, ­psychiatrische Symptome, 44 Augen: Ectopia lentis (≥90% zwischen dem 3. und 10. Le­ bensjahr) mit dem Frühsymptom einer rasch progredienten Myopie, Katarakte, Glaukom, Retinadegeneration, 44 Skelett: marfanoider Habitus (Hochwuchs, Kyphoskoliose, Beinfehlstellungen, Pes cavus), bikonkave Wirbelkörper, ­Osteoporose (gelegentlich mit pathologischen Frakturen), 44 arterielle Thromboembolien: Hirninfarkte, Herzinfarkte, ­periphere arterielle Embolien (häufigste Todesursache), 44 Beinvenenthrombosen.

3

..Abb. 3.10  Homozysteinstoffwechsel. Aus Methionin formt die Methionin-Adenosyltransferase (MAT) S-Adenosylmethionin, den wichtigsten ­Methylgruppendonator im Zellstoffwechsel (Synthese von Cholin, Kreatin, Adrenalin, DNA-Methylierung etc.). Die Remethylierung von Homozystein zu Methionin erfolgt v. a. durch die methylkobalamin(Me-Cbl = Vitamin B12)abhängige Methioninsynthase (MS). 5-Methyltetrahydrofolat wird mittels 5,10-Methylen-Tetrahydofolatreduktase (MTHFR) regeneriert. Alternativ kann Methionin aus Homozystein mittels hepatischer Betain-Homozystein-Methyl­ transferase erneuert werden. Der Abbau von Homozystein erfolgt mittels der vitamin-B6-abhängigen Zystathionin-β-Synthase (CBS) über Zystathionin, welches mittels ebenfalls vitamin-B6-abhängiger Zystathionase (CTH) in ­Homoserin und Zystein gespalten wird

Genetische Defekte aller im Homozysteinstoffwechsel beteilig­ ten Enzymsysteme können, ebenso wie nutritive Vitaminmangelzu­ stände oder genetische Defekte in Aufnahme, Transport oder intra­ zellulärer Umsetzung der Kofaktoren den Stoffwechsel stören und zu einer Anhäufung von Homozystein führen. Daneben resultiert ein erhöhter Homozysteinspiegel aus einer gesteigerten Aktivität von Makrophagen, z. B. bei Infektionen. j jPathogenese Erhöhte Homozysteinspiegel beschleunigen die Progredienz der ­Arteriosklerose und erhöhen das Risiko thromboembolischer Komplikationen. Das Risiko steigt mit dem Plasmaspiegel von Homo­ zystein, ohne dass ein Schwellenwert nachweisbar wäre. Homozystein wurde ferner als Risikofaktor für die Entstehung von Neuralrohr­ defekten identifiziert.

Homozystinurie Die klassische Homozystinurie wird durch einen Defekt der Zys­ta­ thionin-β-Synthetase verursacht. Dieser führt zu einer schweren Homozysteinämie, einer Homozystinurie sowie einer vermehrten Remethylierung von Homozystein zu Methionin (. Abb. 3.10). In einigen Ländern ist eine Methioninbestimmung zur Identi­ fizierung von betroffenen Neugeborenen ins Neugeborenen­screen­ ing integriert (Großbritannien, Irland, Japan, Qatar, USA). Sie leidet allerdings unter einem hohen Anteil falsch-negativer Befunde, ­sodass die Inzidenz nicht bekannt ist und mindestens 1:100.000 ­beträgt.

jjDiagnose Diagnostisch sind Plasmahomozysteinwerte zwischen 100 und 400 µmol/l (normal > Fest etabliert ist inzwischen die perikonzeptionelle Folsäuresupplementation bei allen Frauen mit 0,4 mg/Tag zur Prä­ vention von Neuralrohrdefekten bzw. 4 mg/Tag als Wieder­ holungsprophylaxe.

3.10

Aminosäurentransportstörungen

Bei den Störungen des Aminosäurentransports werden partielle ­Defekte mit vermehrter renaler Ausscheidung einzelner oder meh­ rerer Aminosäuren (z. B. Zystinurie) von generalisierten Transport­ störungen unterschieden. Generalisierte Hyperaminoazidurien sind meist sekundäre ­Folge multisystemischer Stoffwechselerkrankungen, die zu tubulären Funktionsstörungen im Sinne eines De-Toni-Debré-Fanconi-Syn­ droms führen. Ursächlich sind dabei ein gestörter Energiestoffwech­ sel der Tubuluszellen oder tubuläre Ablagerung toxischer Substanzen. Neben einer generalisierten Hyperaminoazidurie ist das De-ToniDebré-Fanconi-Syndrom gekennzeichnet durch Glukosurie, renalen Bikarbonatverlust und Hyperphosphaturie. Es entwickeln sich Poly­ dipsie, Polyurie, Dehydratation, Hypokaliämie, metabolische Azi­ dose und Vitamin-D-resistente Rachitis. Die Therapie besteht in der Entfernung pathologischer Metabolite (z. B. Galaktosämie) bzw. in einer Substitutionstherapie (z. B. Zystinose). Stoffwechselerkrankungen als Ursache eines De-ToniDebré-Fanconi-Syndroms 55Zystinose 55Hereditäre Fruktoseintoleranz 55Tyrosinämie Typ I 55Glykogenose Typ I 55Fanconi-Bickel-Syndrom 55Lowe-Syndrom 55Mitochondriopathien 55Morbus Wilson

3.10.1 Zystinurie Die Zystinurie beruht auf einer autosomal-rezessiv vererbten Trans­ portstörung von Zystin und den dibasischen Aminosäuren Orni­thin, Lysin und Arginin an den Nierentubuli und am Dünndarmepithel. Die Aminosäurekonzentrationen im Blut sind unverändert. jjDiagnose Die Diagnose wird durch das charakteristische Aminosäurenmuster im Urin gestellt. Krankheitswert besitzt die Störung, wenn das schlecht lösliche Zystin auskristallisiert und in den Harnwegen Steine bildet (Urolithiasis, Nephrolithiasis). jjTherapie Die Therapie besteht bei großen Steinen in einer operativen Entfer­ nung oder Lithotripsie. Bei kleineren Steinen kann eine Auflösung mit D-Penicillamin und Alkalisierung des Urins unter verstärkter Diurese versucht werden. Zur Steinprophylaxe empfiehlt sich eine konstant hohe Flüssigkeitszufuhr (auch nachts!), eine konsequente Alkalizufuhr (bei alkalischem pH-Wert ist die Löslichkeit von Zystin erhöht) sowie sulfhydrylgruppenhaltige Medikamente wie D-Peni­ cillamin oder Mercaptopropionylglyzin, die mit Zystin ein besser lösliches Disulfid bilden.

3.11

Organoazidopathien

jjGrundlagen Organoazidopathien sind genetisch bedingte, autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselstörungen, die sich weder hinsichtlich ihrer Ätiologie noch ihrer Pathogenese grundsätzlich von den Amino­ azidopathien unterscheiden. Nachdem Aminosäuren in den späten 1940er-Jahren durch die Ninhydrinreaktion gut zu detektieren ­waren, ermöglichten in den 1970er und 1980er-Jahren gaschromato­ graphisch-massenspektrometrische Methoden die Entdeckung ­einer Vielzahl weiterer Defekte, die entsprechend den nachzuwei­ senden Analyten, den organischen Säuren, als Organoazidopathien bezeichnet werden. jjEpidemiologie Die Häufigkeit der Organoazidopathien liegt in ihrer Gesamtheit bei ca. 1:6.000 Kindern. jjPathogenese Durch verschiedene Enzym- und Koenzymdefekte ist zumeist der Abbau von Aminosäuren oder Fettsäuren gestört. Vor dem Block liegende und für jede Krankheit charakteristische Metabolite und/ oder deren Folgeprodukte stauen sich an und stören empfindlich die Körperhomöostase. Häufig akkumulieren CoA-Derivate und hem­ men mehrere zentrale mitochondriale Stoffwechselfunk­tionen: 44 Hemmung des Harnstoffzyklus → Hyperammonämie, 44 Hemmung der Glukoneogenese → Hypoglykämie und Laktat­ azidose, 44 Hemmung der Atmungskette → Laktatazidose, Ketose und ­gelegentlich Hyperurikämie, 44 Hemmung der Funktion des Nierentubulus → sekundärer ­Karnitinmangel. jjKlinik Bei vielen Organoazidopathien erfolgen die Schädigungen mit vie­ len  Parallelen zu Mitochondriopathien aber auch zu exogenen In­ toxikationen v. a. in energieabhängigen Geweben: Gehirn, Retina, Muskel, Herz, Leber, Niere. Viele Organoazidopathien entwicklen zusätzlich zu langsam progredienten Hirnfunktions- und Ent­ wicklungsstörungen akute Stoffwechselentgleisungen. Letztere können durch Infektionen, Fieber, Impfungen, Verletzungen, Narkosen, Operationen und auch durch längere Nahrungskarenz oder Eiweiß­exzesse ausgelöst werden. Die Patienten können in kurzer Zeit schwerste zerebrale Schädigungen erleiden oder versterben. Konzeptionell können 3 Manifestationsformen unterschieden ­werden. Akute neonatale Stoffwechselkrise  Das primär gesund erschei­

nende Neugeborene entwickelt wenige Tage nach Nahrungsauf­ nahme eine ausgeprägte Symptomatik mit Trinkschwäche, rezi­ divierendem Erbrechen, muskulärer Hypotonie, Myoklonien, ­Somnolenz und Koma infolge einer schweren metabolischen Enze­ phalopathie. Klinisch-chemisch findet sich oft eine metabolische Azidose, Laktat­azidose, Hypoglykämie, Hyperammonämie und/ oder Ketonurie. Spätere oder intermittierende Manifestationsform  Die Patien­

ten werden zumeist ab dem Kleinkindesalter auffällig durch häufiges Erbrechen, Entwicklungs- und Gedeihstörung, aber auch durch ­rezidivierende, schwere ketoazidotische Krisen bis hin zum Koma. Fast regelhaft resultiert eine progrediente psychomotorische Retar­ dierung, häufig eine symptomatische Epilepsie.

3

62

3

G.F. Hoffmann

Neurodegenerativer Krankheitsverlauf  Diese besondere Gruppe

ggf. mit einer hochdosierten Zufuhr von Energie (Glukose, Fett), Flüssigkeit und Elektrolyten über eine Magensonde oder parenteral versorgt werden. Relevante laborchemische Parameter sind v. a. Blutzucker, Blutgasanalyse, Elektrolyte, Gerinnung, Laktat, Transa­ minasen und Ammoniak. Die spezifische Behandlung und Notfall­ maßnahmen sind nicht auf das Kindesalter beschränkt und müssen lebenslang angewandt werden.

j jDiagnose Da organische Säuren renal effizient ausgeschieden werden, steht deren Analytik im Urin mittels Gaschromatographie-Massenspek­ trometrie an erster Stelle der Diagnostik. Das Metabolitenmuster erlaubt in den meisten Fällen eine sichere Diagnosestellung, die durch enzymatische und molekularbiologische Untersuchungen präzisiert werden sollte. Im erweiterten Neugeborenenscreening (7 Abschn. 3.1) können 80% der Patienten früh erfasst werden, so­ dass jetzt zunehmend Kinder betreut werden, die nicht von vorn­ herein eine schwere Stoffwechselentgleisung mit potenziellen Folge­ schäden durchleben mussten.

3.11.1 Propionazidurie

von Organoazidurien manifestiert sich ausschließlich mit charak­ teristischen und progredient verlaufenden neurologischen Sympto­ men wie Ataxie, Myoklonus, extrapyramidalen Störungen, Epilepsie, rezidivierenden „metabolischen“ Hirninsulten oder Makrozephalie. Akute Stoffwechselkrisen sind selten. Zumeist fehlen richtungwei­ sende laborchemische Befunde wie Hypoglykämie, Laktatazidose oder metabolische Azidose.

Pränataldiagnostik  Für fast alle Organoazidopathien sind zuver­ lässige Methoden der Pränataldiagnostik etabliert. Nach eingehen­ der Familienuntersuchung können molekulargenetische Methoden ­eingesetzt werden. Die gezielte quantitative Bestimmung patho­ gnomonisch erhöhter Metabolite aus der Amnionflüssigkeit mittels stabiler Isotope-Verdünnungstechniken ist ab der 11. Schwanger­ schaftswoche möglich. Bei vielen Enzymdefekten kann eine fehlende Aktivität in Amnionzellen und/oder Chorionzotten nachgewiesen werden. Voraussetzung ist in jedem Fall die exakte Diagnose des Indexpatienten.

jjTherapie Da die meisten Organoazidopathien durch Enzymdefekte im Abbau von Aminosäuren bzw. Fettsäuren verursacht werden, gestaltet sich ihre Behandlung oftmals analog der Therapie der Aminoazidopa­ thien und Harnstoffzyklusdefekte: 44 Karenz von Substanzen, deren Abbau gestört ist (zumeist ­spezifische Diätbehandlung), 44 Vermeidung einer katabolen Stoffwechsellage, 44 Herstellung und Aufrechterhaltung des Stoffwechselana­ bolismus, 44 spezifische Entgiftungsmaßnahmen, 44 Substitution von Vitaminen oder Kofaktoren, insbesondere L-Karnitin. Alle empfohlenen Impfungen sollten konsequent durchgeführt ­werden, zusätzlich sollte auch gegen Pneumokokken, Varizellen und jährlich gegen Influenza geimpft werden. Notfallbehandlung  Entscheidend für die Prognose sind der Zeit­

punkt der Diagnosestellung und kompetent, rasch und zuverlässig durchgeführte Notfallmaßnahmen schon im Frühstadium inter­ kurrenter Erkrankungen (Infekte, Impfungen, Operationen, etc.). Die Familien müssen ausführlich geschult werden, um die Therapie bereits zu Hause anpassen zu können. >> Jeder Patient mit einer Organoazidopathie sollte einen Notfallausweis bzw. ein Notfallmedaillon mit den wichtigsten ­Erstinformationen und Telefonnummern bei sich tragen!

Dauert die interkurrente Erkrankung (insbesondere Erbrechen) an, muss der Patient sofort in der behandelnden Klinik vorgestellt und

jjGrundlagen Der Propionazidurie liegt ein Defekt des biotinabhängigen Enzyms Propionyl-CoA-Karboxylase zugrunde. Propionyl-CoA wird beim Abbau von Isoleuzin, Valin, Methionin, Threonin, ungeradzahligen Fettsäuren, der Cholesterolseitenketten und auch von Darmbakte­ rien gebildet. Die Häufigkeit liegt bei ca. 1:200.000. jjKlinik Die Propionazidurie manifestiert sich zumeist nach wenigen Lebens­ tagen mit zunächst unspezifischen Symptomen wie Appetitlosigkeit, Trinkschwäche, rezidivierendem Erbrechen, Dehydratation, Ge­ wichtsverlust und Muskelhypotonie. Rasch entwickelt sich eine aus­ geprägte neurologische Symptomatik mit Dyspnoe, Somnolenz, Apathie, Krampfanfällen und Koma sowie eine schwere metabo­ lische Azidose mit Hyperammonämie. Länger überlebende Patien­ ten entwickeln häufig Dystonien, eine schwere Chorea und Läsionen des pyramidalen Systems. jjDiagnose Die Propionazidurie ist keine Zielkrankheit des erweiterten Neuge­ borenenscreenings. Die pathognomonischen Metabolite (u. a. Me­ thylzitrat, 3-Hydroxypropionsäure) können im Urin nachgewiesen werden. Mutationen oder die Aktivität der Propionyl-CoA-Karbo­ xylase werden in Leukozyten oder Fibroblasten bestimmt. jjTherapie Entscheidend für die Prognose sind neben dem Zeitpunkt der Dia­ gnosestellung die Dauer und Qualität der Therapie der metaboli­ schen Entgleisung zwischen Erstmanifestation und Diagnosestellung und eine Verhinderung bzw. zuverlässige rasche Behandlung späterer Stoffwechselentgleisungen. Kontinuierlich erfolgen Karnitinsubstitution und Proteinrestriktion mit spezifischer Reduktion der Vorläuferaminosäuren Isoleu­ zin, Valin, Methionin und Threonin. Zur Hemmung der enteralen Bildung von Propionsäure kann intermittierend Metronidazol (z. B. Clont) eingesetzt werden. 3.11.2 Methylmalonazidurien jjPathogenese Ursache dieser Gruppe von Erkrankungen sind Störungen der Me­ thyl­malonyl-CoA-Mutase, ein mitochondriales Vitamin B12-abhän­ giges Enzym. Vitamin B12 ist auch Kofaktor der Remethylierung des Homozysteins zum Methionin (. Abb. 3.10). Entsprechend betreffen Defekte entweder die Methylmalonyl-CoA-Mutase direkt (mut0 ohne Restaktivität oder mut- mit Restaktivität) oder die Bereitstel­ lung von Adenosylkobalamin aus Vitamin B12. Bei den Defekten im Kobalaminstoffwechsel kann wiederum ausschließlich der Methyl­ malonatstoffwechsel oder zusätzlich die Remethylierung des Homo­ zysteins zum Methionin betroffen sein. Im letzteren Fall resultieren

63 Metabolische Erkrankungen

sowohl eine Akkumulation von Methylmalonsäure als auch von Homozystein. Eine vegane Fehlernährung oder atrophische Gastritis einer stillenden Mutter kann im Säuglingsalter einen alimentären Vita­ min-B12-Mangel verursachen und zu einer den genetischen Defekten vergleichbaren Gedeihstörung und neurodegenerativer Symp­to­ matik, Methylmalonazidurie, Homozystinurie, Hyperhomozystein­ ämie mit Hypomethioninämie und megaloblastärer Anämie führen. jjEpidemiologie Die Inzidenz aller Methylmalonazidurien wird auf ca. 1:140.000 ge­ schätzt. jjKlinik Entsprechend den heterogenen biochemischen Ursachen kommen unterschiedliche klinische Verlaufsformen vor. Foudroyante Ver­ läufe ähneln der Propionazidurie (7 Abschn. 3.11.1) mit schweren ketoazidotischen Entgleisungen, Erbrechen, Dehydratation, musku­ lärer Hypotonie, Lethargie und Koma. Klinisch-chemisch bestehen eine metabolische Azidose, Hyperammonämie, Hypoglykämie und Leuko- bzw. Thrombozytopenie oder Anämie. Mildere Verläufe sind u. a. durch Entwicklungsretardierung, Gedeihstörung und pro­ grediente neuropsychiatrische Probleme gekennzeichnet. jjDiagnose Die Methylmalonazidurien sind keine Zielkrankheit des erweiterten Neugeborenenscreenings. Im Urin können zumeist massiv erhöhte Ausscheidungen von Methylmalonsäure und Begleitmetaboliten (3-Hydroxypropionsäure, Methylzitrat) nachgewiesen werden. Im Plasma sind die Konzentrationen von Alanin und Glyzin erhöht und von Karnitin erniedrigt. Bei den kombinierten Defekten, die auch die Remethylierung des Homozysteins zum Methionin betreffen, bestehen zusätzlich eine Homozystinurie, Hyperhomozysteinämie mit Hypomethioninämie sowie eine megaloblastäre Anämie. Unter­ suchungen an kultivierten Fibroblasten (14C-Propionatfixation, Methylmalonyl-CoA-Mutasebestimmung, Komplementierungs­ analysen) oder Mutationsanalysen sind für die endgültige Differen­ zierung erforderlich. jjTherapie Initial muss ein Behandlungsversuch mit Vitamin B12 (1–5 mg Hy­ droxycobalamininjektionen i.m. über mehrere Tage) durchgeführt werden; ansonsten erfolgen Notfall- und Dauerbehandlung analog zur Propionazidurie (7 Abschn. 3.11.1). jjVerlauf, Prognose Bei schwerer Stoffwechselstörung (fehlende Restaktivität bzw. feh­ lende Vitamin-B12-Abhängigkeit) entwickeln sich trotz frühzeitigem Therapiebeginn oftmals Komplikationen mit psychomotorischer Retardierung, extrapyramidale Bewegungsstörungen, Osteoporose und progressive Niereninsuffizienz. 3.11.3 Defekte des Biotinstoffwechsels

(­Biotinidasemangel und ­Holokarboxylasesynthetasemangel)

jjPathogenese Die Karboxylierungen von 3-Methylkrotonyl-CoA, Propionyl-CoA, Azetyl-CoA und Pyruvat sind biotinabhängig. Ein multipler Karbo­ xylasemangel kann durch fehlende Aktivierung der Apoenzyme (Holokarboxylasesynthetasemangel), durch mangelnde Bereitstel­

..Abb. 3.11  Biotinstoffwechsel (Apoenzyme: PCC: Propionyl-CoA-Kar­ boxylase, MCC: 3-Methylkrotonyl-CoA-Karboxylase, PC: Pyruvatkarboxylase, AC: Azetyl-CoA-Karboxylase)

lung von Biotin aus Biozytin und proteingebundenem Biotin (Bio­ tinidasemangel) sowie sehr selten durch erworbenen Biotinmangel (Darmsterilisation, Ernährung mit rohem Eiweiß) verursacht wer­ den (. Abb. 3.11). jjEpidemiologie Die Häufigkeit des schweren Biotinidasemangels (Restaktivität > Das Zusammenkommen von psychomotorischer Retardierung und Hypotonie mit nur einem weiteren Symptom, wie Epilepsie, kraniofaziale Dysmorphien, Seh- oder Hörstörung, sollte eine biochemische Untersuchung auf peroxisomale Erkrankungen veranlassen.

3 Krankheitsbilder  Das Vollbild der geschilderten Multisystem­ erkrankung wird als Zellweger-Syndrom bezeichnet. Die betroffe­ nen Kinder versterben zumeist im 1. Lebensjahr. Der infantile M. Refsum verläuft protrahierter mit variabler Überlebenszeit. Pa­ tienten können sogar, wenn auch verspätet, das Gehen mit ataktisch breitbasigem Gang erlernen. Der Verlauf der neonatalen Adrenoleukodystrophie ist häufig rasch progredient mit fortschreitender Leukodystrophie und demyelinisierender peripherer Neuropathie. Zwischen den 3 Krankheitsbildern bestehen Überlappungen und Mischbilder. Klinisch ähnlich verlaufen Einzelenzymdefekte der peroxiso­ malen β-Oxidation. Sie werden als Pseudo-Zellweger-Syndrom bezeichnet.

jjDiagnose Hinweisend auf peroxisomale Erkrankungen sind ein Ikterus pro­ longatus, mäßige Hypoglykämien und Hypocholesterolämien sowie variable Erhöhungen von Transaminasen, Serumeisen und Transfer­ rin. Entscheidend und spezifisch ist der Nachweis erhöhter über­ langkettiger Fettsäuren (VLCFA: „very long chain fatty acids“). Diagnostisch bedeutsam ist ferner der Nachweis verminderter Plas­ malogene im Plasma und Geweben (defekte Biosynthese) sowie ­einer erhöhten Phytansäure (defekter Abbau der aus der Nahrung stammenden Säure). Bei generalisierten peroxisomalen Erkrankun­ gen kann ein Fehlen oder die starke Verminderung der Peroxisomen elektronenmikroskopisch in einer Leberbiopsie oder in kultivierten Fibroblasten nachgewiesen werden. Die Diagnose muss durch den

67 Metabolische Erkrankungen

Nachweis der spezifischen Enzymdefekte in Fibroblasten oder pa­ thologischer Mutationen bestätigt werden. Generalisierte peroxisomale Erkrankungen werden durch mehr als 12 unterschiedliche Einzelgendefekte verursacht. Bei ⅔ der ­Familien sind Mutationen im PEX1-Gen die Krankheitsursache, in einigen weiteren Familien Mutationen im PEX5-Gen. In diesen Familien ist nach Mutationsanalyse eine pränatale Diagnostik we­ sentlich erleichtert.

membranen nachzuweisen ist. Bei Rezeptordefekten des peroxiso­ malen Zielsignals 2 (Mutationen im PEX7-Gen), wodurch mehrere unterschiedliche Enzyme nicht ins Peroxisom integriert werden können, ist zusätzlich zur Biosynthese der Plasmalogene die Oxida­ tion der Phytansäure defekt, sodass die Diagnosestellung auch über den Nachweis erhöhter Phytansäurespiegel im Serum erfol­ gen kann.

jjTherapie Spezifische therapeutische Ansätze sind nicht vorhanden.

Die X-chromosomale Adrenoleukodystrophie beruht auf einem Defekt des peroxisomalen ATP-bindenden Membranproteins ­ (­ABCD1-Gen) und folgt als einzige peroxisomale Erkrankung einem X-chromosomalen Erbgang.

3.12.2 Peroxisomale Einzelenzymdefekte Während einzelne isolierte Enzymdefekte der peroxisomalen β-Oxi­ dation Phänokopien generalisierter peroxisomaler Erkrankungen verursachen (7 Abschn. 3.12.1), führen Defekte anderer peroxiso­ maler Enzyme zu spezifischen Krankheitsbildern, deren Symptome sich auf den Funktionsverlust des betroffenen Enzyms zurückführen lassen. Klinische Überschneidungen mit den generalisierten peroxi­ somalen Erkrankungen zeigen die rhizomele Chondrodysplasia punctata und die X-chromosomal vererbte Adrenoleukodystrophie.

Rhizomele Chondrodysplasia punctata jjKlinik Genetische Defekte der Rezeptoren des peroxisomalen Zielsignals 2 oder der spezifischen Enzyme Dihydroxyazetonphosphat-Azyl­ transferase und Alkyl-Dihydroxyazetonphosphat-Synthase verur­ sachen das klinische Bild einer rhizomelen Chondrodysplasia punc­ tata. Oberschenkel und Oberarme sind stark verkürzt (. Abb. 3.13). Im Gegensatz zum Zellweger-Syndrom findet sich die Chondro­ dysplasia punctata (epiphysäre punktförmige Verkalkungen) nicht nur lokalisiert sondern generalisiert. Die gestörte enchondrale Kno­ chenbildung führt zu koronaren Spalten an den Wirbelkörpern. ­Viele Patienten zeigen neben fazialen Dysmorphien eine Ichthiose und Katarakte. Das Ausmaß der geistigen Retardierung ist zumeist schwer. Es entwickeln sich Spastik und Kontrakturen. jjDiagnose Pathophysiologisch entscheidend ist eine gestörte Biosynthese der Plasmalogene, die diagnostisch am einfachsten in Erythrozyten­

X-chromosomale Adrenoleukodystrophie

jjKlinik Klinisch kann sich die Krankheit im Schulkindesalter (ca. 40%), oder in unterschiedlichen Varianten später in der Adoleszenz oder bei Erwachsenen manifestieren. Klassischerweise zeigen betroffene Jungen im Schulalter zu­ nächst Verhaltensstörungen, eine motorische Ungeschicklichkeit und kortikale Empfindungsstörungen. Eine gestörte Körperorien­ tierung, Sehstörungen und epileptische Anfälle können ebenfalls Frühsymptome sein. Die Erkrankung verläuft dann rasch progre­ dient. Die Kinder sind nach wenigen Jahren blind, taub und schließ­ lich dezerebriert. Es ist unklar, warum bei etwa 20% der Patienten die neurolo­ gische Symptomatik sehr viel später beginnt und milder verläuft (Adrenomyeloneuropathie). Im Erwachsenenalter fallen zuerst Steifheit und Ungeschicklichkeit beim Gehen auf, gefolgt von einer generalisierten Muskelschwäche, Gewichtsverlust, Schwindelan­ fällen und vermehrter Hautpigmentation. Letztere ist Folge erhöhter ACTH-Konzentrationen bei einer Nebenniereninsuffizienz (Addi­ son-Erkrankung), einem weiteren Charakteristikum der Erkran­ kung. Während im Erwachsenenalter eine Nebenniereninsuffizienz­ neurologischen Symptomen viele Jahre vorausgehen kann und letz­ tere völlig ausbleiben können, ist im Kindesalter ein isolierter ­Morbus Addison selten (7% aller Patienten). Dennoch sollte bei Jungen wie Männern mit Morbus Addison immer eine Bestimmung der überlangkettigen Fettsäuren im Serum erfolgen. jjDiagnose Diagnostischer Marker ist ein erhöhter Gehalt an überlangkettigen Fettsäuren in Geweben und Körperflüssigkeiten. jjTherapie Der diätetische Behandlungsansatz (1 Teil Glyzerylerucasäure plus 4 Teile Glyzeryltrioleat) ist als Lorenzos-Öl durch den gleichna­ migen Film bekannt geworden. Umfangreiche Nachuntersuchungen haben leider keine Wirksamkeit nachweisen können, wohingegen eine frühe Knochenmarktransplantation Krankheitsverlauf und -schwere positiv beeinflussen kann.

Primäre Hyperoxalurie Typ I Die primäre Hyperoxalurie Typ I wird durch einen Mangel der ­Alanin-Glyoxalat-Aminotransferase verursacht und führt über die stark vermehrte Urinausscheidung von Oxalsäure zu Nieren­ steinen, einer Nephrokalzinose und schließlich zu einem chroni­ schen Nierenversagen. ..Abb. 3.13  Röntgenbild eines 3-monatigen Patienten mit rhizomeler Chondrodysplasia punctata: charakteristische verkürzte Oberschenkel und generalisierte epiphysäre punktförmige Verkalkungen

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3.13

Cholesterolbiosynthesedefekte

Defekte der Cholesterolbiosynthese verursachen monogene vererbte embryofetale Fehlbildungssyndrome. Am Anfang des Stoffwechselweges verursacht der Mevalonat­ kinasemangel die Mevalonazidurie sowie das Hyper-IgD-Syndrom, am Ende u. a. Defekte der 3β-Hydroxysteroid-∆8,∆7-Isomerase das Conradi-Hünermann-Syndrom (X-gebundene Chondrodysplasia punctata), der Sterol-4-Demethylase das Child-Syndrom und der 3β-Hydroxysterol-∆7-Reduktase das Smith-Lemli-Opitz-Syndrom. Klinisch manifestieren sich die Erkrankungen durch unter­ schiedliche kraniofaziale Dysmorphien, Organ- und Skelettfehlbil­ dungen sowie schwere körperliche und pychomotorische Entwicklungsverzögerungen. 3.13.1 Smith-Lemli-Opitz-Syndrom Am besten bekannt ist das Smith-Lemli-Opitz-Syndrom, 1964 von David W. Smith, Luc Lemli und John Marius Opitz erstbeschrieben und mit einer Inzidenz von 1:60.000. j jKlinik Klinisch fallen die Patienten mit Gedeihstörungen, psychomotori­ scher Retardierung, muskulärer Hypotonie und typischen fazialen Dysmorphien wie Mikrozephalie, Mikrognathie, Ptosis, Katarakte, antevertierte Nares, tiefsitzende, posterior rotierte Ohren sowie multiplen Fehlbildungen der Extremitäten und der inneren Organe auf (. Abb. 3.14). Der Schweregrad der Organfehlbildungen und damit die Prognose der Patienten zeigt eine negative Korrelation zur ­Konzentration des Cholesterols im Serum. Das Spektrum reicht von milden Formen mit leichter Retardierung bis zu letalen Verläufen in den ersten Lebenstagen oder Totgeburten. Das Hyper-IgD-Syndrom ist durch rezidivierende Fieberschübe charakterisiert. jjDiagnose Die Diagnostik der Erkrankungen erfordert bei der Mevalonazidurie die spezialisierte Analytik der Mevalonsäure im Urin, bei den ande­ ren Erkrankungen die differenzierte quantitative Bestimmung der Sterole im Serum mittels Gaschromatographie-Massenspektro­ metrie oder molekulare Untersuchungen. !! Cave Erniedrigte Cholesterolkonzentrationen im Serum sind kein verlässlicher diagnostischer Parameter.

Bei der Mevalonazidurie ist eine pränatale Diagnostik über den Nachweis erhöhter Mevalonsäure in der Amnionflüssigkeit ab der 11. Schwangerschaftswoche, beim Smith-Lemli-Opitz-Syndrom über den Nachweis erhöhten 7-Dehydrocholesterols in Chorion­ zottenbiopsien ab der 10. Schwangerschaftswoche möglich. In infor­ mativen Familien können molekulargenetische Untersuchungen durchgeführt werden. jjTherapie Erfolgversprechende Therapieansätze beim Smith-Lemli-OpitzSyndrom zielen auf die Erhöhung der abnorm niedrigen Choles­ terolkonzentrationen durch Zufuhr von exogenem Cholesterol. Gleichzeitig sollen die erhöhten 7-Dehydrocholesterolspiegel durch Hemmung der endogenen Biosynthese durch Inhibitoren der HMGCoA-Reduktase (z. B. Simvastatin) gesenkt werden. Pränatale Schä­ digungen zeigen allerdings naturgemäß keine Besserungstendenz.

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b ..Abb. 3.14  Patient mit Smith-Lemli-Opitz-Syndrom im Alter von 8 Monaten. a Charakteristische faziale Dysmorphien sind eine Mikrozephalie, Mikrognathie, ein hoher Gaumen, Ptosis, antevertierte Nares und tiefsitzende ­posterior rotierte Ohren. Zusätzlich können Gaumenspalten und Katarakte beobachtet werden. b Obligat für das Syndrom ist eine Syndaktylie der ­Zehen II/III, während weitere Extremitätenfehlbildungen wie postaxiale Polydaktylien und Valgusfehlstellungen inkonstant vorhanden sind

3.14

CDG-Syndrome („congenital disorders of glycosylation“)

jjGrundlagen CDG-Syndrome resultieren aus einer gestörten Glykosylierung, die fehlerhafte Strukturen von Kohlenhydratseitenketten unter­ schiedlicher Glykoproteine (Membranproteine, Transportproteine, Hormone, Gerinnungs- und Komplementfaktoren, Enzyme oder endogene Enzymhemmstoffe, wie z. B. α1-Antitrypsin) verursacht. Inzwischen sind über 50 unterschiedliche Gendefekte bekannt, die sich sowohl im Muster des als diagnostischen Marker verwandten Serumproteins Transferrin als auch in der klinischen Symptomatik unterscheiden. PMM2-CDG (früher CDG-Syndrom Typ Ia) wurde bisher am häufigsten gefunden (>1000 Patienten). Die meisten Patienten sind bisher in Skandinavien mit einer Inzidenz von ca. 1:50.000 diagnos­ tiziert worden. Der Erbgang ist autosomal-rezessiv. Die Krankheits­ zeichen sind geistige und körperliche Behinderung, Muskelschwä­ che, Ataxie, Schielen, Störung der Leberfunktion, Gedeihstörung, eingezogene Brustwarzen und eine auffällige Fettverteilung. Bei Rou­

69 Metabolische Erkrankungen

tineblutuntersuchungen findet sich meist nur eine leichte Erhöhung der Leberwerte (Transaminasen). Bei spezielleren Untersuchungen findet sich darüber hinaus neben einem auffälligen Transferrin­ muster (IEF) häufig ein Mangel an verschiedenen Glykoproteinen, wie Gerinnungsfaktoren (z. B. Faktor XI und AT III). jjDiagnose Die Diagnose wird mittels isoelektrischer Fokussierung von Transferrin als Markerprotein gestellt. Komplementär können auch an­dere Glykoproteine für die Diagnosestellung verwendet werden (z. B. α1-Antitrypsin, AT III, α1-saures Glykoprotein). Infolge der Hypo­ glykolisierung zeigen sich je nach CDG-Syndrom in der Elektropho­ rese unterschiedliche Muster der Proteinbanden. Eine Sicherung der D­iagnose kann bei den bekannten Defekten in kultivierten Haut­ fibroblasten, z. T. in Leukozyten bzw. molekulargenetisch erfolgen. jjTherapie Bislang stehen effektive Therapien nur für das MPI-CDG-Syndrom (früher Typ Ib) durch eine regelmäßige orale Zufuhr von Mannose sowie für das SLC35C1-CDG durch orale Zufuhr von Fukose zur ­Ver­fügung. Für die anderen CDG-Syndrome, die v. a. mit schweren neurologischen Störungen einhergehen, existiert keine effektive ­rationale Therapie. 3.15

Lysosomale Speicherkrankheiten

jjPathogenese Lysosomen dienen dem Abbau von kleinen bis sehr großen Mole­ külen und Molekülverbänden. Dazu enthalten sie in einem sauren Milieu (pH 5) eine Vielzahl verschiedener Hydrolasen. Defekte ­lysosomaler Hydrolasen führen zum Anstau des unvollständig ­verdauten Substrats. Die Speicherung führt zur Vergrößerung der Lysosomen, die mikroskopisch als Vakuolen sichtbar werden (. Abb. 3.15), zu einem Anschwellen der Zellen, Zellvermehrung und letztlich zu Funktionsstörungen. Betroffen sind v. a. mesenchy­ matöse Organe (Haut, Knorpel, Knochen), parenchymatöse Organe (Leber, Milz) und das Nervensystem. Auch im Normalfall wird ein Teil der lysosomalen Enzyme als sekretorische Proteine aus den Zellen ausgeschleust, und können relativ einfach im Blut oder Urin nachgewiesen und quantifiziert werden.

jjGenetik Die Mukopolysaccharidose Typ II (M. Hunter) und die Sphingo­ lipidose M. Fabry werden X-chromosomal, alle anderen autosomalrezessiv vererbt. jjKlinik Es sind etwa 50 lysosomale Speicherkrankheiten bekannt, mit einer Gesamtprävalenz von ca. 1:8.000. Sie zählen zu den häufigsten ­neurometabolischen Erkrankungen und verursachen langsam fort­ schreitende Organfehlfunktionen ohne akute metabolische Ent­ gleisungen. Krankheitsbilder und -verläufe zeigen starke Überschneidungen bei unterschiedlichsten Manifestationsaltern. Zumeist entwickelt sich das Neugeborene initial unauffällig; allerdings sind lysosomale Speicherkrankheiten wichtige Differenzialdiagnosen bei nichtim­ munologischem Hydrops fetalis und Kardiomegalie im Neugebo­ renen- und Säuglingsalter. Vergröberte Gesichtszüge, Skelett- und Hautveränderungen ­infolge einer mesenchymalen Speicherung entwickeln sich mit ­unterschiedlicher Dynamik (. Abb. 3.16). Sie führen bei starker Aus­ prägung, ebenso wie eine Viszeromegalie, rasch zur Verdachtsdia­ gnose einer Speichererkrankung. Erscheinungsbild und Prognose der meisten Speicherkrank­ heiten werden durch progrediente neurologische Symptome be­ stimmt. Bei Beginn im Säuglings- oder frühen Kindesalter impo­ nieren zunächst eine muskuläre Hypotonie und statomotorische Entwicklungsverzögerung. Bald wird eine progrediente psycho­ motorische Retardierung mit Verlust bereits erworbener Fähig­ keiten offensichtlich. Wird die Erkrankung erst im Schulalter oder noch später manifest, können Verhaltensstörungen, emotionale ­Labilität, Schulversagen oder psychiatrische Symptome im Vorder­ grund stehen, oft lange Zeit bevor ein offensichtlich fortschreiten­ der  demenzieller Abbau, Gangstörungen, Lähmungen oder Urin­ inkontinenz hinzukommen. Wichtige Zusatzsymptome sind Hörund Sehstörun­gen, Myoklonien, Pyramidenbahnzeichen oder eine Ataxie. W ­ ährend neuropathische Erkrankungen mit Beginn im frühen Kindesalter rasch zur Dezerebration und Tod führen, sind Verlauf und Prognose bei den juvenilen und adulten Formen sehr variabel. jjDiagnose Wesentliche Hilfen sind organbezogene Zusatzuntersuchungen. Spezifisch untersucht werden sollten: Skelett (Becken und Wirbel­ säule), parenchymatöse Organe (Sonographie), Herz (EKG, Echo­ kardiographie), Augen (Makula, Katarakte), Gehör, ggf. elektro­ physiologische Untersuchungen der peripheren Nervenleitung und Gehirn (kernspintomographische Untersuchung). >> Pathognomonisch sind ein kirschroter Makulafleck oder eine Dysostosis multiplex.

..Abb. 3.15  Knochenmarkausstrich eines Patienten mit Niemann-PickKrankheit Typ I: monströs vergrößerte „Schaumzelle“ infolge massiver Akkumulation von Sphingomyelin in Lysosomen

Ein entscheidender Hinweis ist der histologische Nachweis von Speicherphänomenen. Vakuolisierte Lymphozyten können bei e­ inigen Erkrankungen in peripheren Blutzellen nachgewiesen werden. Erfor­ derlich sind ein direkter Ausstrich auf den Objektträger, nicht erst im Labor aus einem EDTA-Blutbildröhrchen, und eine erfahrene ­kritische Beurteilung. Sehr viel deutlicher sind Spei­che­rungen in ­Knochenmarkzellen nachzuweisen (. Abb. 3.15). Bei ­einigen Erkran­ kungen sind spezifische Speicherungen nur in Biop­sien der betroffe­ nen Organe erkennbar, am aussagekräftigsten in ­einer kombinierten Haut- und Nervenbiopsie (Zeroidlipofuszinosen). Eine besonders wichtige, da relativ einfache und im positiven Falle diagnostisch spezifische Untersuchung ist die Bestimmung und

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..Abb. 3.16  2,5-jähriger Junge mit offensichtlichem Entwicklungsrückstand bei Mukopolysaccharidose Typ I (Pfaundler-Hurler). a Großer skaphokephaler Schädel, vergröberte Gesichtszüge (Wasserspeier), ungewöhnlich

feste Haare, konfluierende Augenbrauen. b Die Röntgenaufnahme der ­Wirbelsäule zeigt ausgeprägte Tonnenwirbel

Differenzierung der Mukopolysaccharide, der Oligosaccharide und der freien Neuraminsäure im Urin, die relativ breit als Screening­ untersuchung eingesetzt werden können. Sind weder pathologische Urinausscheidungen noch Lymphozytenvakuolen nachweisbar, muss in Abhängigkeit von der spezifischen klinischen Symptomatik eine primäre Enzymaktivitätsbestimmung im Serum oder Fibroblas­ ten oder Mutationsanalysen erfolgen. Bei progredientem demenziel­ len Abbau mit Pyramidenbahnläsionen und Leukodystrophie sind Bestimmungen der Arylsulfatase A (metachromatische Leukodys­ trophie) und der β-Galaktozerebrosidase (Globoidzell-Leukodys­ trophie bzw. M. Krabbe) sinnvoll, bei Nachweis einer peripheren Neuropathie ohne Leukodystrophie (ansonsten wiederum primäre Verdachtsdiagnose M. Krabbe) Bestimmungen der Zeramidase (­Lipogranulomatose bzw. M. Farber) oder bei normaler Intelligenz und Angiokeratomen der α-Galaktosidase (M. Fabry). Problema­ tisch in der Diagnostik bleiben dann „nur“ die Mukolipidose IV und Patienten aus der Gruppe der Zeroidlipofuszinosen.

ronopathischen Formen von MPS II und IIIA (Enzyme passieren nicht die Blut-Hirn-Schranke) in der klinischen Erprobung. Für die Behandlung mäßig schwerer Formen des M. Gaucher kann auch eine Substrat­reduktion eingesetzt werden. Dabei wird nicht das d­efekte Enzym substituiert sondern die Bildung der Speichersubs­ tanz gehemmt.

jjTherapie Die Betreuung von Patienten mit lysosomalen Speicherkrankheiten erfordert komplexe, individuelle, interdisziplinäre und langfristig ausgerichtete Konzepte. Besonders wichtig ist das frühzeitige Erken­ nen von Seh- und Hörstörungen, problematisch die Behandlung von Myoklonien. Eine kurative Therapie ist bei den meisten Speicher­ krankheiten nicht möglich. Während Versuche mit Organtransplantationen von Milz, Le­ ber  und Nieren erfolglos geblieben sind, lassen sich bei einigen ­präsymptomatischen Patienten Erfolge durch Knochenmarktrans­ plantationen erzielen, z. B. bei der MPS Typ I, dem spätmanifestie­ rendem M. Krabbe und der metachromatischen Leukodystrophie. Erfolgreich sind Enzymersatztherapien beim M. Gaucher mit pri­ mär viszeraler Symptomatik, beim M. Fabry, M. Pompe und den MPS Typ I, II und VI. Dieser Ansatz wird auch für andere Erkran­ kungen ausgearbeitet und befindet sich für die MPS Typ IV (A) und mit intrathekaler Enzymersatztherapie für die CLN2 und die neu­

3.15.1 Mukopolysaccharidosen Mukopolysaccharidosen sind eine Gruppe von Erkrankungen, die durch Defekte einzelner lysosomaler Enzyme im stufenweisen Abbau von Glykosaminoglykanen verursacht werden. Letztere sind lange, aus sulfatierten und azetylierten Aminozuckern bestehende Poly­ saccharidketten, die an ein Proteinskelett geheftet als Proteoglykane die Grundsubstanz der extrazellulären Matrix bilden. Kinder mit Mukopolysaccharidosen sind bei Geburt unauffällig. Je nach Restaktivität der defekten Enzyme kommt es auch bei identi­ schen Enzymdefekten zu unterschiedlichen Phänotypen. Gemein­ sam sind progrediente Skelettdeformitäten mit typischer Fazies, Kno­ chendysplasien im Sinne einer Dysostosis multiplex (. Abb. 3.16) und Gelenkkontrakturen sowie eine Hepato- und/oder Splenome­ galie. Abhängig vom Typ finden sich Hornhauttrübungen und Taub­ heit. Hernien und rezidivierende Atemwegsinfekte sind häufig. Bei Typ IV und Typ VI bleibt die Intelligenz normal. Die Diagnose erfolgt über den Nachweis pathologischer Frag­ mente von Glykosaminoglykanen im Urin und wird über gezielte enzymatische Analysen bestätigt. 3.15.2 Oligosaccharidosen Die Oligosaccharidosen ähneln klinisch den Mukopolysaccharido­ sen. Sie beruhen auf einem gestörten Abbau der komplexen Kohlen­ hydratseitenketten von glykosylierten Proteinen (Glykoproteinen),

71 Metabolische Erkrankungen

z. B. Membran- und Strukturproteinen, aber auch metabolisch akti­ ven Proteinen. Zu dieser Gruppe gehört auch die ursprünglich kli­ nisch als Mukolipidose Typ I klassifizierte Sialidose. Oligosaccharidosen können schon sehr früh symptomatisch werden (Hydrops fetalis, Kardiomegalie und Herzinsuffizienz beim Neugeborenen) und rasch zum Tode führen. Eine fortschreitende psychomotorische Retardierung ist obligat, Krampfanfälle häufige Begleitsymptome. Die Diagnose erfolgt über den Nachweis patho­ logischer Oligosaccharide im Urin und wird über gezielte enzyma­ tische Analysen bestätigt.

jjKlinik Frühsymptome sind Verhaltensstörungen, schlechte Koordination, Sprachschwierigkeiten sowie Sehstörungen mit Nystagmus und ­Pigmentverschiebungen in der Retina bis zum Vollbild einer Reti­ nitis pigmentosa. Zunehmend wird ein Verlust erworbener Fähigkeiten offensichtlich; die Patienten erblinden; Ataxie, extrapyra­ midale Bewegungsstörungen oder Anfälle dominieren zeitweilig das klinische Bild. Patienten mit der spätinfantilen Form versterben zumeist im Schulkinder- oder Adoleszentenalter, die Überlebenszeit bei Patienten mit juveniler Form in einem vegetativen Zustand ist sehr variabel.

3.15.3 Mukolipidosen

jjDiagnose Die Diagnosestellung erfolgt durch den mikroskopischen Nachweis der Zeroideinlagerungen in einer Hautbiopsie bzw. Lymphozyten. Während die Speicherungen lichtmikroskopisch gleich erscheinen, ließen sich elektronenmikroskopisch unterschiedliche, teilweise fin­ gerdruckartige Muster differenzieren. Bei CNL 1, 2 und 10 können Enzymaktivitätsbestimmungen durchgeführt werden, ansonsten muss primär eine molekulare Diagnostik erfolgen.

Mukolipidosen wurden primär klinisch als Gruppe lysosomaler Speicherkrankheiten definiert, die klinische Merkmale von Muko­ polysaccharidosen und Sphingolipidosen vereinen und biochemisch Zeichen von Oligosaccharidosen und z. T. Sphingolipidosen aufwei­ sen. Sie werden durch Störungen der Phosphorylierung, des Trans­ portes und der Integration lysosomaler Enzyme in den Lysosomen verursacht, z. B. bei der I-Cell-Krankheit. In den Körperflüssigkeiten der Patienten finden sich erhöhte Konzentrationen mehrerer Hydro­ lasen. 3.15.4 Lipidspeicherkrankheiten Eine wichtige, biochemisch heterogene Gruppe von Erkrankungen ist durch eine Speicherung unterschiedlicher Lipide charakterisiert. Die klinische Symptomatik ähnelt den Sphingolipidosen; die Dia­ gnostik muss primär über Enzymaktivitätsbestimmungen oder eine molekulare Diagnostik erfolgen. Man unterscheidet folgende Krank­ heitsformen:

Morbus Niemann-Pick Beim Morbus Niemann-Pick Typ II (Synonym: Typ C) führt eine Störung im intrazellulärem Transport und Speicherung von Choles­ terol zu einer ubiquitären Speicherung von Sphingomyelin, Choles­ terol, Glykospingolipiden und Bis(Monoazylglyzero)phosphat.

Morbus Wolman Beim Morbus Wolman führt ein Defekt der sauren Lipase zur ­Speicherung von Cholesterolestern und Triglyzeriden. Bei dieser Erkrankung steht oft eine gastrointestinale Symptomatik mit konse­ kutiver Gedeihstörung im Vordergrund. Als Besonderheit werden ferner vergrößerte und verkalkte Nebennieren beobachtet.

Neuronale Zeroidlipofuszinosen Eine besonders wichtige Gruppe neurometabolischer Erkrankungen sind die neuronalen Zeroidlipofuszinosen. Sie werden durch eine Speicherung autofluoreszierender Lipidpigmente oder Zeroid verur­ sacht. Aufgrund unterschiedlicher Krankheitsdynamik und elektro­ nenpathologischer Befunde wurden infantile, spätinfantile, juvenile und adulte Manifestationen abgegrenzt. Kürzlich konnte diese Er­ krankungsgruppe molekularbiologisch in bis jetzt 10 unterschied­ liche primäre Gendefekte differenziert werden (CNL 1–10), wobei die Funktionen der betroffenen Gene und damit die Pathophysio­ logie teilweise noch ungeklärt sind. Am häufigsten kommt in Mittel­ europa die spätinfantile Form vor, verursacht durch einen Defekt der pepstatininsensitiven Peptidase (CLN 2, M. Jansky-Bielschowsy) und die juvenile Form infolge eines Defekts des Membranproteins CLN 3 (M. Batten, M. Spielmeyer-Vogt).

3.15.5 Lysosomale Transportdefekte Einzelne Abbauprodukte müssen aktiv aus den Lysosomen ins ­Zytosol transportiert werden. Defekte des Transportsystems für ­Zystin führen zur nephropathischen Zystinose, der Freisetzung von Vitamin B12 zur kombinierten Methylmalonazidurie und Homo­ zystinurie (cblF-Defekt, 7 Abschn. 3.11.2) und des Transportsystems für Sialinsäure zur Salla-Krankheit. Nur Letztere zeigt die für lyso­ somale Erkrankugen charakteristische Speicherung und fortschrei­ tenden neurologischen Abbau. jjKlinik Die Zystinose wird im Kleinkindesalter mit einer tubulären Nephro­ pathie unter dem Vollbild eines De-Toni-Debré-Fanconi-Syndroms symptomatisch. Im Vordergrund stehen Rachitis und Minderwuchs. Ohne spezifische Behandlung entsteht rasch ein Nierenversagen. ­Zystinspeicherungen können ferner endokrine Störungen, eine Hepa­tosplenomegalie oder Myopathie verursachen. Diagnostisch wegweisend ist der Nachweis von Zystinkristallen in der Kornea. Sie verursachen eine Photophobie. jjDiagnose Die Diagnose wird durch den Nachweis eines stark erhöhten Gehalts an Zystin in Leukozyten gestellt. Die Konzentration an Zystin in der Analytik der Aminosäuren in Körperflüssigkeiten ist demgegenüber normal. jjTherapie Neben der symptomatischen Therapie der Tubulopathie bzw. der Niereninsuffizienz konnte mit der Verabreichung von Cysteamin, systemisch und zusätzlich lokal als Augentropfen, ein effizienter ­spezifischer Behandlungsansatz entwickelt werden. Prognostisch entscheidend ist der Zeitpunkt der Diagnose und damit verbunden der Beginn und schließlich die Konsequenz der Cysteaminbehand­ lung. Die beste Prognose haben diejenigen Patienten, die bei Beginn der Behandlung noch über eine gute bis befriedigende Nierenfunk­ tion verfügen.

3

72

G.F. Hoffmann

..Tab. 3.7  Eigenschaften wichtiger Lipoproteine

3

Bezeichnung

Elektropho­ rese­banden

Lipidanteil

Hauptlipide

Hauptapoproteine

Entstehungsort

Funktion

Chylomikronen

Auftragsort

98%

Triglyzeride

A, B48, C, E

Darm

Transport exogener Triglyzeride

VLDL

Prä-b

90%

Triglyzeride

B100, C, E

Darm, Leber

Transport endogener Triglyzeride von der Leber zu extrahepatischen Geweben

IDL

Prä-b

80%

Triglyzeride

B100, C-II, E

Darm, Leber

Entsteht aus VLDL nach Triglyzeridabbau

LDL

B

75%

Cholesterol

B100

Abbauprodukt des VLDL

Cholesteroltransport zu extrahepatischen Geweben

HDL

A

50%

Cholesterol, Phospholipide

A, C, D, E

Leber, Darm

Cholesterolrücktransport aus Geweben zur Leber

3.16

Lipidstoffwechselstörungen

j jGrundlagen Im Blut werden die wasserunlöslichen Lipide als Lipoproteine, d. h. Verbindungen aus Lipiden und Proteinen (sog. Apolipoproteinen) transportiert, wodurch sie wasserlöslich sind. Entsprechend unter­ schiedlicher Wanderungsgeschwindigkeiten in der Elektrophorese und ihrer Dichte stellen sich die Lipoproteine als Chylomikronen, „very low density lipoproteins“ (VLDL), „intermediate density lipo­ proteins“ (IDL), „low density lipoproteins“ (LDL) und „high density lipoproteins“ (HDL) dar. Einen vereinfachten Überblick über die Zusammensetzung und Funktionen zeigt . Tab. 3.7. Zu den wich­ tigsten Apoproteinen zählen ApoB-100, welches für die Protein­ bindung von VLDL und LDL an den LDL-Rezeptor erforderlich ist, sowie ApoC-II, der Kofaktor der Lipoproteinlipase. jjDiagnose >> Bei der Beurteilung der Lipide im Plasma im Kindes- und ­Jugendalter sind die Cholesterolwerte zur Abschätzung des Atheroskleroserisikos nicht ausreichend.

Besondere Bedeutung kommt der Beurteilung der Plasmaspiegel von LDL und HDL zu. Erhöhtes LDL gilt als atherogener Risikofaktor, während hohes HDL als protektiv gilt. Da die direkte Bestimmung des LDL aufwendig ist, wird dieses bei nüchternen Patienten häufig nach der Friedewald-Formel berechnet:

jjTherapie Weglassen der auslösenden Substanz oder Behandlung der Grund­ krankheit bewirkt in der Regel eine Besserung. Genetische Hyper­ lipidämien dagegen bedürfen meist einer spezifischen Therapie, die vor dem Auftreten irreversibler Schäden begonnen werden sollte. Dazu ist eine frühzeitige Diagnosestellung erforderlich. 3.16.1 Hyperlipoproteinämien Unter den verschiedenen primären genetischen Hyperlipidämien steht im Kindesalter die heterozygote familiäre Hypercholesterolämie (. Abb. 3.17) mit einer Häufigkeit von ca. 1:500 Neugeborenen im Vordergrund. Eine Vielzahl von verschiedenen Genmutationen verursacht dabei eine etwa 50%ige Reduktion von funktionellen LDL-Rezeptoren auf Zelloberflächen, sodass die rezeptorvermittelte Aufnahme von LDL beeinträchtigt ist. Eine Hyperchylomikronämie ist dagegen durch seltenere Defekte der Lipoproteinlipase oder dem phänotypisch identischen Defekt des Apoproteins CII, das als Ko­ faktor das Enzym aktiviert, verursacht. Ein Überblick über diese beiden wichtigsten Hyperlipoproteinämien ist in . Tab. 3.8 darge­ stellt.

LDL-Cholesterol =  Gesamtcholesterol – HDL-Cholesterol – (Triglyzeride/5) Werte in mg/dl ×0,0250= mmol/l Die Normalwerte für Cholesterol, LDL und HDL sowie Triglyzeride sind alters- und geschlechtsabhängig. Für ein Screening, welches in einem Alter von etwa 5 Jahren empfohlen werden kann, genügt die Bestimmung des Gesamtcholes­ terols im nicht nüchternen Zustand. Bei erhöhtem Gesamtcho­lesterol (≥200 mg/dl) wird eine Nüchternblutentnahme mit Bestimmung von Cholesterol, Triglyzeriden, HDL-Cholesterol und Berechnung des LDL-Cholesterols durchgeführt. Sekundäre Hyperlipidämien sind bei Kindern und Jugend­ lichen relativ häufig und zunehmend. Die Ursachen sind vielfältig, z. B. Adipositas, Anorexia nervosa, Hepatopathien, endokrinolo­ gische Störungen, Alkohol und verschiedene Medikamente (u. a. Kortison, Östrogene, Thiaziddiuretika, β-Blocker).

..Abb. 3.17  Xanthome am Knie eines 2,5-jährigen Jungen mit homozygo­ ter familiärer Hypercholesterolämie (Hyperlipoproteinämie Typ II)

73 Metabolische Erkrankungen

..Tab. 3.8 Hyperlipoproteinämien Familiäre Hypercholesterolämie (Hyperlipoproteinämie Typ II)

Hyperchylomikronämie (Hyperlipoproteinämie Typ I)

Häufigkeit

Homozygote: 1:250.000–1:1 Mio. Heterozygote 1:500

1:1 Mio.

Ursache

Intrazellulärer Rezeptordefekt cholesteroltransportierender Proteine, LDL wird nicht in Zelle aufgenommen

Lipoproteinlipasemangel bzw. Apo-C-II-Mangel

Symptome

Xanthome, Xanthelasmen, Arcus corneae, Angina pectoris, Herz­ infarkt, Apoplex. Heterozygote werden erst später symptomatisch

Bauchschmerzen, Hepatosplenomegalie, Xanthome, rezidivierende Pankreatitiden, Lipaemia retinalis

Diagnose

Heterozygote: Cholesterol >230 mg/dl, LDL >170 mg/dl Homozygote: Cholesterol 600–1200 mg/dl Familienuntersuchung

Chylomikronen und Triglyzeride (>1000 mg/dl) erhöht, Cholesterol mäßig erhöht, VLDL normal, LDL und HDL erniedrigt, Messung der Lipoproteinlipase im Plasma nach Heparingabe, isoelektrische Fokussierung des VLDL-Proteins bei Apo-C-II-Mangel

Therapie

Fett- und cholesterolarme, polyensäurereiche Diät, Colestyramin, Statine Homozygot: LDL-Apherese, ggf. portokavale Anastomose, Lebertransplantation

Fettarme Diät (15–20 g/Tag), mittelkettige Triglyzeride (MCT-Öl und Margarine), Fibrate

Prognose

Frühzeitige Atherosklerose, Homozygote können bereits im ersten Lebensjahr versterben

Kein Atheroskleroserisiko, schwere rezidivierende Pankreatitiden

..Tab. 3.9 Hypolipoproteinämien Abetalipoproteinämie (Kornzweig-Bassen-Syndrom)

Familiärer HDL-Mangel (Tangier-Krankheit)

Ursache

Apolipoprotein-B-Mangel

Fehlen von Apolipoprotein-A-I, gestörte HDL-Bildung

Symptome

Fettmalabsorption, Steatorrhö, Gedeihstörung, muskuläre ­Hypotonie, zerebelläre Ataxie, Wachstumsretardierung, Retinitis pigmentosa, Blutungsneigung, Akanthozytose

Hepatomegalie, orange-gelblich verfärbt hyperplastische ­Tonsillen, Lymphadenopathie, diffuse Korneatrübung, periphere Neuropathie

Diagnose

Cholesterol und Triglyzeride erniedrigt; Apolipoprotein B, ­Chylomikronen, LDL und VLDL stark vermindert

Apolipo-HDL und Cholesterol stark vermindert, Triglyzeride normal

Therapie

Fettarme Diät mit hochgesättigten Fettsäuren und Linolensäure, hohe Dosen Vitamin E, A und K

Diätetische Fettreduktion

Prognose

Progredienter Verlauf mit spinozerebellärer Degeneration ab 2. Lebensdekade

Gehäuft kardiovaskuläre Erkrankungen

3.16.2 Hypolipoproteinämien Die Abetalipoproteinämie und der familiäre HDL-Mangel gehören zu den wichtigsten genetischen Hypolipoproteinämien. Sie sind im Vergleich zu den Hyperlipoproteinämien sehr selten und durch ei­ nen gestörten Plasmalipidstoffwechsel ohne obligate Hyerlipidämie charakterisiert (. Tab. 3.9).

3

75

Neonatologie, pädiatrische Intensivund Notfallmedizin Inhaltsverzeichnis Kapitel 4

Neonatologie – 77 C.P. Speer

Kapitel 5

Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin – 135 H. Schiffmann

III

77

Neonatologie C.P. Speer1

4.1 Definitionen  – 79 4.2

Postnatale Adaptation  – 79

4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8

Lunge  – 79 Herz und Kreislauf  – 80 Temperaturregulation  – 80 Niere  – 81 Gastrointestinaltrakt  – 81 Eltern-Kind-Beziehung  – 81 Beurteilung der postnatalen Adaptation (Apgar-Schema)  – 81 Akut lebensbedrohliche Fehlbildungen der Neugeborenenperiode  – 81

4.3

Untersuchung des Neugeborenen  – 82

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

Zeitpunkte der Neugeborenen­untersuchung  – 82 Durchführung der Neugeborenen­untersuchung  – 82 Neurologische Neugeborenen­untersuchung  – 85 Bestimmung der somatischen ­Reifezeichen  – 85

4.4

Reanimation Früh- und Neugeborener  – 86

4.4.1 4.4.2

Voraussetzungen zur Reanimation  – 86 Maßnahmen der Neugeborenen­reanimation  – 86

4.5

Perinatale Schäden und ihre Folgen  – 88

4.5.1 4.5.2 4.5.3

Asphyxie  – 88 Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE)  – 89 Geburtstraumatische Schäden  – 91

4.6

Das Frühgeborene  – 93

4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.6.6 4.6.7

Das Atemnotsyndrom Frühgeborener  – 94 Persistierender Ductus arteriosus (PDA)  – 97 Bronchopulmonale Dysplasie  – 98 Retinopathia praematurorum  – 100 Hirnblutungen des Frühgeborenen  – 101 Periventrikuläre Leukomalazie  – 103 Apnoen bei Frühgeborenen  – 104

4.7

Lungenerkrankungen des Neugeborenen  – 106

4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4

Transitorische Tachypnoe  – 106 Mekoniumaspirationssyndrom  – 106 Pneumothorax  – 108 Lungenhypoplasie  – 108

1 Der 7 Abschn. 4.10.14 „Mundsoor“ wurde von D. Nadal und C. Berger verfasst. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_4

4

4.7.5 4.7.6 4.7.7 4.7.8 4.7.9

Neonatale Pneumonien  – 109 Persistierende pulmonale Hypertonie (persistierende fetale Zirkulation)  – 110 Lungenblutung  – 111 Chylothorax  – 111 Obstruktion der oberen Atemwege  – 112

4.8 Bluterkrankungen  – 112 4.8.1 4.8.2 4.8.3 4.8.4 4.8.5 4.8.6 4.8.7 4.8.8 4.8.9 4.8.10 4.8.11 4.8.12 4.8.13 4.8.14 4.8.15 4.8.16 4.8.17 4.8.18 4.8.19 4.8.20

Fetale Erythropoese  – 112 Neonatale Anämie  – 112 Anämie Frühgeborener  – 113 Polyzythämie, Hyperviskositätssyndrom  – 113 Icterus neonatorum und ­Hyperbilirubinämie  – 114 Physiologischer Ikterus  – 114 Muttermilchikterus  – 115 Ikterus bei Frühgeborenen  – 115 Pathologische Hyperbilirubinämie  – 115 Morbus haemolyticus neonatorum  – 116 Kernikterus, Bilirubinenzephalopathie  – 116 AB0-Erythroblastose  – 116 Rh-Erythroblastose  – 117 Weitere hämolytische Erkrankungen  – 118 Direkte Hyperbilirubinämie  – 118 Weißes Blutbild Neugeborener  – 119 Neonatale Thrombozytopenie  – 119 Neonatale Alloimmunthrombozytopenie  – 120 Koagulopathien  – 120 Morbus haemorrhagicus neonatorum (Vitamin-K-Mangel)  – 120

4.9

Nekrotisierende Enterokolitis  – 121

4.10

Fetale und neonatale Infektionen  – 122

4.10.1 Besonderheiten des Immunsystems ­Neugeborener  – 122 4.10.2 Nichtbakterielle konnatale Infektionen  – 123 4.10.3 Röteln  – 124 4.10.4 Zytomegalie  – 124 4.10.5 Herpes simplex  – 124 4.10.6 Varizella-Zoster-Virus  – 124 4.10.7 Neugeborenensepsis  – 125 4.10.8 Meningitis  – 127 4.10.9 Osteomyelitis und septische Arthritis  – 128 4.10.10 Haut- und Weichteilinfektionen  – 129 4.10.11 Omphalitis  – 129 4.10.12 Mastitis  – 129 4.10.13 Bakterielle Lokalinfektionen des Neugeborenen  – 130 4.10.14 Mundsoor   – 130 4.10.15 Neonataler Tetanus  – 131 4.10.16 Ophthalmia neonatorum  – 131

4.11 Neugeborenenkrämpfe  – 131 4.12

Metabolische Störungen  – 132

4.12.1 Hypoglykämie  – 132 4.12.2 Fetopathia diabetica  – 133

79 Neonatologie

4.1

Definitionen

Für die Qualitätskontrolle und die Vergleichbarkeit von Therapieergebnissen in der Neugeborenenmedizin sind einheitliche und ­verbindliche Definitionen von Krankheitsbildern und Zuständen erstellt worden. Diese Einteilungen sind von sehr großer klinischer Bedeutung, da sie Neugeborene mit unterschiedlichen Erkrankungsrisiken definieren. So machen z. B. die Neugeborenen mit ­einem Geburtsgewicht > Die neonatale Mortalität (Anzahl der in den ersten 28 Lebenstagen verstorbenen Neugeborenen pro 1.000 Lebendgebo­ rene) als Maß für die Qualität der Neugeborenenversorgung ist in Deutschland zwischen 1970 und 1991 von 17 auf 4/1.000 gesunken und seither auf diesem geringen Niveau stabil.

4.2

..Tab. 4.1  Definitionen zur Einteilung von Neugeborenen Einteilung nach Gesta­ tionsalter (GA)

Postnatale Adaptation

Die Geburt ist die dramatischste Änderung der Lebensumstände im menschlichen Leben. Innerhalb weniger Minuten finden zahlreiche physiologische Veränderungen, das Kennenlernen der Eltern und das Erleben einer neuen Sinneswelt statt (. Tab. 4.2). Die Aufgabe des Kinderarztes ist es, zusammen mit dem Geburtshelfer, die postnatale Adaptation zu beobachten und wenn nötig zu unterstützen, ohne durch zu viele Maßnahmen diesen für das Neugeborene und seine Eltern wichtigen Augenblick zu stören. 4.2.1

..Abb. 4.1  Einteilung von Neugeborenen nach Gestationsalter und Geburtsgewicht

Lunge

Intrauterin  Die Lunge ist intrauterin ein flüssigkeitsgefülltes ­Organ, in dem kein Gasaustausch stattfindet. Es besteht ein ständi-

ger Einstrom von Flüssigkeit aus dem Lungengewebe in den sich entwickelnden Bronchialbaum und von dort über die Trachea ins Fruchtwasser. Ab der 20. Schwangerschaftswoche lassen sich sporadische Thoraxbewegungen feststellen, mit denen Flüssigkeit einund ausgeatmet wird. Die Surfactantproduktion durch die Typ-IIPneumozyten nimmt ab 24 Schwangerschaftswochen deutlich zu. !! Cave Eine deutlich verminderte Flüssigkeitsfüllung der fetalen ­Lunge bei Ahydramnie oder persistierendem vorzeitigen ­Blasensprung kann in der vulnerablen Phase der Lungenentwicklung zu einer schweren Lungenhypoplasie führen.

Einteilung nach Geburtsgewicht

Einteilung nach Geburtsgewicht bezogen auf das Gesta­ tionsalter

Frühgeborenes

GA 293 Tage)

Geburtsgewicht > Da die Regulationsfähigkeit der Niere des Neugeborenen ­geringer ist, ist das Risiko einer Hyperhydratation sowie einer Dehydratation größer als beim Erwachsenen.

4.2.5

Gastrointestinaltrakt

Intrauterin  Die Ernährung des Feten erfolgt über die Plazenta.

Der Fet schluckt und resorbiert Fruchtwasser und reguliert damit das Fruchtwasservolumen.

!! Cave Ein Polyhydramnion kann Symptom einer gastrointestinalen Obstruktion (z. B. Ösophagusatresie, Duodenalatresie) oder einer Schluckstörung des Feten sein.

..Tab. 4.3  Apgar-Schema zur Beurteilung der postnatalen Adaptation* 0 Punkte

1 Punkt

2 Punkte

Aussehen, Hautfarbe

Blass ­z yanotisch

Stamm rosig, Akrozyanose

Ganz rosig

Puls (Herz­ frequenz)

Keine

100/min

Gesichtsmimik bei Stimulation

Keine

Grimassieren

Schreien

Aktivität ­(Muskeltonus)

Schlaff

Geringe Extremitätenflexion

Kräftig, aktive Bewegung

Respiration (Atmung)

Keine

Langsam, unregelmäßig

Regelmäßig, kräftig

* Bestimmung nach 1, 5 und 10 min

ausreichend entwickelt, sodass orale Nahrung aufgenommen werden kann. Die Nahrungsmenge wird langsam gesteigert bis sich eine koordinierte gastrointestinale Peristaltik entwickelt hat. 4.2.6

Eltern-Kind-Beziehung

Die Geburt ist ein wichtiger Augenblick für die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung. Die Eltern sehen zum ersten Mal das lange erwartete Kind und auch das gesunde reife Neugeborene ist in der ersten Stunde nach der Geburt wach und aufmerksam. Augen- und Hautkontakt zum Neugeborenen sind in dieser Phase der Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung besonders förderlich. Zudem sollte das gesunde reife Neugeborene bereits im Kreißsaal an die Brust der Mutter angelegt werden, weil dadurch das spätere erfolgreiche Stillen begünstigt wird. 4.2.7

Beurteilung der postnatalen Adaptation (Apgar-Schema)

Zur Beurteilung der postnatalen Adaptation hat sich das von der amerikanischen Anästhesistin Virginia Apgar eingeführte ApgarSchema ohne Zweifel bewährt (. Tab. 4.3). Dr. Apgar’s primäres Ziel war es, Neugeborene zu identifizieren, die unmittelbar postnatal deprimiert waren und eine unverzügliche Hilfe benötigten. >> Der Apgar-Wert wird 1, 5 und 10 min nach der Geburt erhoben.

Der 1-min-Apgar-Wert dient zur Identifikation der Neugeborenen, die sofortiger Hilfe bedürfen. Für die neonatale Mortalität und spätere neurologische Morbidität kommt dem 5-min-Apgar-Score eine gewisse prognostische Bedeutung zu.

Postnatal  Die Ernährung erfolgt durch die Resorption von Nährstoffen aus dem Gastrointestinaltrakt.

4.2.8

Adaptationsvorgänge  70% der Neugeborenen setzen innerhalb der ersten 12 Lebensstunden Mekonium, den ersten Stuhl, ab; die restlichen Neugeborenen innerhalb von 48 h. Mekonium ist grünlich-schwarz und besteht aus eingedickter Galle, Lanugo und Zelldetritus. Beim reifen Neugeborenen ist der Saug- und Schluckreflex

2–3% der Neugeborenen haben angeborene Fehlbildungen, die mit bedeutsamer Behinderung einhergehen oder lebensbedrohend sind, 3–4% der Neugeborenen haben geringfügige Fehlbildungen. Durch die pränatale Ultraschalldiagnostik können zahlreiche angeborene

Akut lebensbedrohliche Fehlbildungen der Neugeborenenperiode

82

C.P. Speer

44 Alter der Mutter, Anzahl und Ausgang vorausgegangener Schwangerschaften, 44 jetzige Schwangerschaft: Dauer, Komplikationen oder Erkrankungen der Mutter in der Schwangerschaft, Medikamente, Blutgruppe der Mutter, Schwangerenvorsorge, Mutterpass, 44 Geburtsmodus, Geburtsdauer, Risikofaktoren für eine Am­ nioninfektion (vorzeitiger Blasensprung, Fieber bei Geburt), Fruchtwasser, Nabelarterien-pH, 44 Erstversorgung, Apgar-Score.

4

Untersuchungsablauf Die Qualität einer Neugeborenenuntersuchung hängt vom Können und der Erfahrung des Untersuchers ab, sie erfordert ausreichend Zeit und ein Eingehen auf das Neugeborene und seine Eltern. a

b

..Abb. 4.3 Spaltfuß. a pränatale Diagnose mit Hilfe der 3-D-Sonographie, b klinischer Befund nach der Geburt

Fehlbildungen bereits vor der Geburt erkannt werden (. Abb. 4.3). Bei intrauteriner Diagnose einer angeborenen Fehlbildung sollten die Eltern von Geburtshelfern, Neonatologen und Kinderchirurgen gemeinsam beraten werden und der Geburtsmodus und das postnatale Vorgehen festgelegt werden. 4.3

Untersuchung des Neugeborenen

4.3.1

Zeitpunkte der Neugeborenen­ untersuchung

Bei jedem Neugeborenen werden vorgeschriebene Vorsorgeunter­ suchungen gemacht: 44 die U1 in den ersten 4 Lebensstunden, 44 die U2 im Alter von 3–10 Tagen 44 die U3 am Ende der Neonatalperiode im Alter von 4–6 Wochen. Außerdem hat sich eine zusätzliche Untersuchung im späteren Verlauf des 1. Lebenstages als nützlich erwiesen. Jeder Untersuchungszeitpunkt hat eigene Untersuchungsschwerpunkte und beinhaltet zusätzliche präventive Maßnahmen. Neugeborenenscreening  Bei allen Neugeborenen soll im Alter von 36–72 Lebensstunden ein Screening auf verschiedene Stoffwechselerkrankungen und hormonelle Erkrankungen durchgeführt werden, u. a.: 44 Hypothyreose (1:4.000 Lebendgeborene): Messung der TSHKonzentration, 44 Phenylketonurie (1:7.000 Lebendgeborene): semiquantitative Bestimmung des Phenylalaninspiegels, 44 Galaktosämie (1:40.000 Lebendgeborene): semiquantitative Bestimmung der Uridyltransferaseaktivität, 44 weitere Erkrankungen (7 Abschn. 3.1)

4.3.2

Durchführung der Neugeborenen­ untersuchung

Anamnese Zuerst sollte die Schwangerschafts- und Geburtsanamnese erhoben werden:

10 Grundregeln für die Neugeborenenuntersuchung  1. Die Untersuchung soll in einem warmen Raum auf einer ­warmen Unterlage erfolgen.  2. Das Licht soll hell, aber nicht grell sein.  3. Zur Untersuchung soll das Neugeborene vollständig ­ent­kleidet werden.  4. Der beste Untersuchungszeitpunkt ist 2–3 h nach der letzten Mahlzeit, wenn das Neugeborene wach, aber ruhig ist.  5. Die Eltern sollen bei der Untersuchung anwesend sein.  6. Das Neugeborene soll immer erst in Ruhe beobachtet ­werden, bevor Untersuchungen vorgenommen werden.  7. Immer mit den Untersuchungen beginnen, die das Neu­ geborene am wenigsten irritieren und belasten.  8. Bei der Untersuchung soll mit dem Neugeborenen ­gesprochen werden und nicht nur über das Neuge­ borene.  9. Auch harmlose Befunde, die aber unerfahrene Eltern ­beunruhigen können, sollen erklärt und demonstriert ­werden (z. B. Fühlen der Fontanelle). 10. Alle Fragen der Eltern sollen in Ruhe und ausführlich ­be­antwortet werden.

Der Ablauf der körperlichen Untersuchung soll flexibel dem ein­ zelnen Neugeborenen angepasst werden. Folgende prinzipielle ­Vorgehensweise hat sich bewährt: zuerst wird das Neugeborene beobachtet, ohne es durch „Anfassen“ zu irritieren. Dabei werden Aussehen, Spontanatmung, Spontanhaltung und Spontanmotorik beurteilt. Solange das Neugeborene noch ruhig ist, erfolgt danach die Auskultation von Herz und Lunge. Die weitere Untersuchung erfolgt vom Kopf zu den Zehen. >> Zur Neugeborenenuntersuchung gehören neben der allgemeinen körperlichen Untersuchung die Bestimmung der somatischen Reifezeichen, die Suche nach Geburtsverletzungen und nach Fehlbildungen.

Untersuchung der einzelnen Körperregionen In diesem Abschnitt werden wichtige Untersuchungsinhalte und häufige Befunde für die einzelnen Körperregionen des Neugeborenen aufgeführt. Haut  Akrozyanose (häufig bei kalten Händen, Füßen), zentrale

Zyanose (Zunge!), Blässe, Plethora, Ödeme, marmoriertes Haut­ kolorit, graues Munddreieck, Ikterus. 44 Storchenbiss (Naevus simplex): Angeborene Teleangiektasien symmetrisch auf Stirn, Oberlidern, Nase, Oberlippe und im

83 Neonatologie

..Abb. 4.4 Neugeborenenexanthem

..Abb. 4.5  Transitorische neonatale pustulöse Melanose, die bereits bei der Geburt des Neugeborenen nachweisbar war

Nacken, die im Gesicht meist bis zum 3. Lebensjahr verschwinden, im Nacken aber häufig persistieren. Differenzialdiagnose: Naevus flammeus, Hämangiome. 44 Milien: Zahlreiche punktförmige weiße Papeln auf dem Nasenrücken und am Kinn durch transiente Keratinzysten. Milien verschwinden ohne Therapie. 44 Waschfrauenhände: Schuppung und Abschilferung der Haut an Handinnenflächen und Fußsohlen bei Übertragung oder Plazentainsuffizienz. 44 Neugeborenenexanthem (Erythema toxicum neonatorum): Nichtinfektiöse, transiente erythematöse Makulae zum Teil mit zentraler gelblicher Papel, die meist am Stamm zwischen dem 3. und 7. Lebenstag auftreten (. Abb. 4.4). Im Direktpräparat im Wesentlichen eosinophile Granulozyten. Differenzialdia­ gnose: Staphylodermie. 44 Transiente neonatale pustulöse Melanose: Dabei handelt es sich vermutlich um eine selten auftretende Variante des Erythema toxicum neonatorum. Die Pusteln und Vesikel sind ­bereits bei der Geburt vorhanden und nicht von einem erythematösen Hof umgeben. Die abgeheilten Läsionen hinterlassen oft hyperpigmentierte Maculae, die für 2–3 Monate persistieren können (. Abb. 4.5).

44 Subkonjunktivale Einblutungen: Entstehen durch den Pressdruck unter der Geburt, harmlos. 44 Konjunktivitis: Meist nichtinfektiös durch chemische oder physikalische Irritation, Differenzialdiagnose: infektiöse Konjunktivitis (Chlamydien).

Kopf  Messung des frontookzipitalen Kopfumfangs (Makrozepha-

lie, Mikrozephalie), Größe und Konsistenz der Fontanellen, Schädelnähte. Die Schädelform ist abhängig vom Geburtsmodus, nach vaginaler Entbindung sind häufig die Scheitelbeine über die Stirnbeine geschoben. 44 Caput succedaneum (Geburtsgeschwulst): Ödematös-teigige Kopfhautschwellung, die Grenzen überschreiten die Schädelnähte, meist parietookzipital, verschwindet in den ersten ­Lebenstagen. 44 Kephalhämatom: Prallelastische Schwellung, die durch die Schädelnähte begrenzt wird, nach subperiostaler Einblutung, häufig parietookzipital, kann über Monate persistieren und am Rand verknöchern; die „Verknöcherung“ löst sich in der Regel bis zum Ende des 1. Lebensjahrs wieder auf. Augen  Roter Pupillenreflex, Konjunktivitis, Kolobom, Stellung

der Lidachsen. Kongenitale Katarakt; bei direktem Lichteinfall: ­Leukokorie (weißlicher Pupillenreflex), bei seitlichem Lichteinfall: „Pupillentrübung“. Normal sind symmetrische Stellung und koordinierte Bewegungen. Bei plötzlichem hellem Licht schließt das Neugeborene geblendet die Augen.

>> Das Neugeborene öffnet oft spontan die Augen, wenn es aufrecht gehalten wird.

Mund  Physiologische Retrogenie, auf Spaltbildungen in Lippen, Kiefer, hartem und weichem Gaumen achten. Mikrogenie, Retrogenie, Glossophthose: Pierre-Robin-Sequenz; „neonatale“ Zähne. 44 Retentionszysten (Epstein-Perlen): Weißliche Knötchen längs der Mittellinie am Gaumen oder den Zahnleisten. 44 Bednar-Aphthen, ulzerative Läsionen am Gaumenbogen: Ätiologisch unklare, in den ersten Lebenstagen auftretende z. T. eindrucksvolle ulzerative Läsionen; transient, keine Therapie. Hals  Schiefhals, Struma, Halszysten. 44 Sternokleidomastoideushämatom: Kirschgroße harte schmerzlose Verdickung im Muskel nach geburtstraumatisch bedingter Einblutung. Die nachfolgende Vernarbung kann zum Schiefhals führen mit Neigung des Kopfs zur kranken und Drehung des Kopfs zur gesunden Seite. Physiotherapie. Thorax  Brustkorb fast kreisrund, Rippen weich. 44 Brustdrüsenschwellung: Treten zwischen dem 3. und ­ 7. Lebenstag meist beidseits bei männlichen und weiblichen Neugeborenen auf. Rötung und Überwärmung ist möglich, es kann sogar zu einer kolostrumähnlichen Sekretion kommen („Hexenmilch“). Ursache sind diaplazentar übergetretene ­mütterliche Hormone (. Abb. 4.6). Differenzialdiagnose: eitrige Mastitis. 44 Klavikulafraktur: Schmerzempfindung im Bereich der betroffenen Schulterregion, Schonung des Arms auf der betroffenen Seite, nach einer Woche tastbarer Kugelkallus. Herz und Kreislauf  Zyanose, Blässe, Ödeme, Lage des Herzspit-

zenstoßes, periphere Pulse an oberer und unterer Extremität, Herzfrequenz und Herzrhythmus, Blutdruck, Herztöne, Herzgeräusch (. Tab. 4.4). Systolische Herzgeräusche in den ersten Lebenstagen sind häufig funktionell oder durch einen noch nicht komplett verschlossenen Ductus arteriosus verursacht und verschwinden häufig nach einigen Tagen. Nur 8% der Neugeborenen mit einem Herzgeräusch haben ein Vitium cordis.

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84

C.P. Speer

4

..Abb. 4.6  Brustdrüsenschwellungen und kolostrumähnliche Sekretion („Hexenmilch“) bei einem Neugeborenen

..Tab. 4.4  Wichtige Normalwerte bei reifen Neugeborenen Körpergewicht [g]

3.500 (3.000–4.300)*

Länge [cm]

50 (46–58)

Frontookzipitaler Kopfumfang [cm]

34 (32,5–36,5)

Herzfrequenz [/min]

125 (70–190)

Atemfrequenz [/min]

30 (22–40)

Systolischer Blutdruck [mmHg]

60 (50–70)

Diastolischer Blutdruck [mmHg]

35 (28–45)

*50. Perzentile (10.–90. Perzentile)

!! Cave Fehlende Pulse an der unteren Extremität sind pathognomonisch für eine Aortenisthmusstenose.

Lunge  Die Atemfrequenz liegt in Ruhe zwischen 22–40/min. Bauchatmung und pueriles Atemgeräusch mit hörbarem Ex­

spirium sind beim Neugeborenen physiologisch. Dyspnoezeichen sind Nasenflügeln (Erweiterung der Nasenlöcher bei der Einatmung), Einziehungen (interkostal, subkostal, jugulär), Stridor und exspiratorisches Stöhnen. Abdomen  Das Abdomen des Neugeborenen ist ausladend, da die

Bauchwandmuskulatur schwach ausgeprägt ist, häufig besteht eine Rektusdiastase. Lebergröße (normal bis 2 cm unter dem Rippen­ bogen), Milzgröße, Lage und Aussehen der Analöffnung, Abdomendistension und Abwehrspannung sollten untersucht werden. 44 Zystische abdominelle Tumoren: Hydronephrose, multizystisch-dysplastische Nieren, Nebennierenblutung, Hydrometrokolpos, Darmduplikaturen, Choledochuszyste, Ovarialzyste. 44 Solide abdominelle Tumoren: Neuroblastom, Wilms-Tumor, Teratom, Nierenvenenthrombose, Pylorushypertrophie.

Nabel  Sekretion, Rötung, Hernie. Normalerweise trocknet die Na-

belschnur bis zum 6.–10. Lebenstag ein und fällt dann ab. 44 Nässender Nabel: Nach Abfallen des Nabelstumpfs auftre­ tende  geringe seröse Sekretion aus dem Nabel ohne Rötung. Falls 2 Wochen nach dem Abfallen der Nabelschnur der ­

..Abb. 4.7  Vaginalsekretion: weißliches, gelegentlich leicht blutiges ­Sekret, das nach Abstoßung des durch mütterlichen Hormoneinfluss proliferierten Endometriums auftritt

Nabel weiter sezerniert, kommen folgende Differenzialdiagno­ sen in Frage: 55Nabelgranulom: Am Nabelgrund mit serös-blutiger Sekretion, 55Ductus omphaloentericus (zwischen Nabel und Darm) oder Urachusfistel (zwischen Nabel und Blase), 55Omphalitis: Rötung und Schwellung des Nabelrings mit ­eitriger Sekretion. >> Der Nabel soll nicht mit Puder oder Nabelbinde versorgt, ­sondern unverbunden und trocken belassen werden.

Männliches Genitale  Hydrozele, Hypospadie, Hoden tastbar im Skrotum oder im Leistenkanal, Hodengröße. 44 Phimose: Ist beim Neugeborenen physiologisch. Weibliches Genitale  Klitorisgröße, Vaginalsekretion (. Abb. 4.7). 44 Hymenalpolyp: Zipfel des hypertrophierten Hymens, der aus der Scheide ragt – Normvariante. 44 Vaginalsekretion: Weißliches, manchmal leicht blutiges Sekret bei Abstoßung des durch mütterliche Hormone proliferierten Endometriums (. Abb. 4.7). Extremitäten  Beweglichkeit, Schonhaltung, Beinlängendifferenz, Hüftdysplasie. 44 Kongenitale Hüftdysplasie: Bei kongenitaler Hüftdysplasie sind klinische Zeichen wie Abspreizhemmung der Oberschenkel, Faltenasymmetrie oder Beinlängendifferenz nicht zuverlässig. Der Ortolani-Test (Ausrenken und Wiedereinrenken der dysplastischen Hüfte) wird heute nicht mehr empfohlen. Bei klinischer Untersuchung auf Instabilität der Hüften achten! >> Die adäquate Diagnostik zum Ausschluss einer Hüftdysplasie ist heute die Ultraschalluntersuchung der Hüfte.

44 Polydaktylie: Überzählige, häufig rudimentäre Finger oder ­Zehen. 44 Vierfingerfurche: einzelne, die gesamte Plantarfläche durchziehende Furche. Kommt bei 5% der Normalbevölkerung vor, kann jedoch ein unspezifisches Hinweiszeichen auf eine Chromosomenstörung, z. B. Trisomie 21, sein.

85 Neonatologie

44 Sichelfußhaltung (Pes adductus et supinatus): Supinationsstellung des Vorfußes bedingt durch intrauterine Haltung. Durch Stimulation der Fußaußenkante vom Neugeborenen ­aktiv ausgleichbar. Differenzialdiagnose: Klumpfuß. Wirbelsäule  Auf Hinweiszeichen für eine Spina bifida occulta, wie

lumbosakral gelegenes Hautgrübchen, Haarbüschel, subkutanes ­Lipom oder Dermalsinus (epithelialisierter Verbindungsgang zwischen äußerer Haut und Neuralrohr) achten.

!! Cave „Tethered cord“, evtl. spinale Sonographie.

4.3.3

Neurologische Neugeborenen­ untersuchung

Die Untersuchungsergebnisse der neurologischen Neugeborenenuntersuchung hängen sehr vom Verhaltenszustand des Neuge­borenen ab (ruhiger Schlaf, ruhiges Wachsein, aktives Wachsein, Schreien). Der Verhaltenszustand muss also dokumentiert und in die Beurteilung einbezogen werden. Die besten Ausgangsbedingungen für die neurologische Untersuchung sind ruhiges und aktives Wachsein. Die neurologische Untersuchung am 1. Lebenstag hat eher ­orientierenden Charakter, wesentlich aussagekräftiger ist die Untersuchung am 3. Lebenstag. Bei der neurologischen Untersuchung des Neugeborenen werden folgende Funktionen beurteilt: Spontanverhalten und Spontanmotorik  Das gesunde Neugeborene zeigt im Wachzustand eine lebhafte Spontanmotorik mit seitengleichem, alternierendem Strampeln der Beine und alternierendem Rudern mit den Armen. Auffällig sind Apathie oder Hyperexzitabilität. Das gesunde Neugeborene saugt kräftig und trinkt ohne sich zu verschlucken. Muskeltonus  Das gesunde Neugeborene hält Arme und Beine ge-

beugt am Körper. Beim Hochziehen des Oberkörpers an den Armen bleiben die Arme leicht gebeugt und der Kopf wird – zumindest anfangs – mitgenommen. Das gesunde Neugeborene kann aus der Bauchlage heraus kurz den Kopf heben.

..Abb. 4.8  Moro-Reflex (I): durch kurzes Zurückfallenlassen des Kopfes plötzliche Extension und Abduktion der oberen Extremität sowie Spreizung der Finger

..Tab. 4.5  Somatische Reifezeichen eines Frühgeborenen und eines reifen Neugeborenen Frühgeborenes ­ (28 Wochen)

Reifgeborenes ­ (40 Wochen)

Hauttextur

Ödematös, glänzend, transparent

Einzelne Venen sichtbar

Hautfarbe

Rot

Rosig

Lanugohaare

Flächig vorhanden

Fehlen

Sohlenfältelung

Nur vereinzelt

Über ganzer Sohle

Brustwarze

Roter Punkt

∅ über 1 cm, erhaben

Ohrmuschelrand

Weich, formlos

Fest, elastisch

Hoden

Im Inguinalkanal

Im Skrotum

Skrotum

Klein, wenig Falten

Groß, viele Falten

Große Labien

Klaffend

Bedecken kleine Labien

Spontanhaltung

Extremitäten gestreckt

Extremitäten gebeugt

Neugeborenenreflexmuster (Auswahl) 44 Suchreflex: Beim Berühren der Wangen wendet sich das Neu-

geborene suchend in Richtung der Berührung und öffnet den Mund. 44 Saugreflex: Das Neugeborene saugt kräftig am Finger. 44 Greifreflexe an Händen und Füßen. Das Neugeborene umfasst den in seine Handinnenfläche gelegten Finger des Untersuchers. 44 Arm-Recoil: Wenn die Arme des Neugeborenen gestreckt und dann plötzlich losgelassen werden, federn die Unterarme in den Beugezustand zurück. 44 Moro-Reaktion: Durch kurzes Zurückfallenlassen des kind­ lichen Kopfs kommt es zu einer raschen ausfahrenden Be­ wegung mit Streckung der Arme und Spreizen der Finger (. Abb. 4.8), gefolgt von einem langsameren Zurückholen der Arme an den Rumpf. 44 Stützreaktion: Das Aufsetzen des Kindes mit beiden Beinen auf eine Unterlage führt zu einer kurzen tonischen Streckung des gesamten Körpers. 44 Reflexschreiten: Auslösen von Schreitbewegungen durch alternierendes Aufsetzen der Füße auf die Unterlage.

44 Asymmetrisch-tonischer Nackenreflex: Die Seitwärtsdrehung des Kopfs führt zur Streckung des Arms und Beins auf der ­Gesichtsseite und zur Beugung des Arms und Beins auf der Gegenseite („Fechterstellung“). !! Cave Bei der Beurteilung der Seitengleichheit von Bewegungen bei Neugeborenen darf der Kopf nicht zur Seite gedreht sein, da sonst durch den asymmetrisch-tonischen Nackenreflex eine Seitendifferenz vorgetäuscht wird.

4.3.4

Bestimmung der somatischen ­Reifezeichen

Zur klinischen Schätzung des Gestationsalters werden somatische und neurologische Merkmale herangezogen. Ein gut validiertes ­Untersuchungsschema zur Schätzung des Gestationsalters ist der

4

86

C.P. Speer

4 ..Abb. 4.9  3-Stufenmodell der Neugeborenenreanimation

Ballard-Score. Die klinische Reifealterbestimmung ist auf ±1,5 Wochen genau. In . Tab. 4.5 sind somatische Reifezeichen eines Frühgeborenen und eines reifen Neugeborenen gegenübergestellt.

4.4

Reanimation Früh- und Neugeborener

4.4.1

Voraussetzungen zur Reanimation

Voraussetzungen zur Durchführung  Die meisten Neugeborenen

durchlaufen eine unproblematische kardiorespiratorische Adapta­ tion; bei ca. 10% der Kinder können allerdings mehr oder weniger intensive Reanimationsmaßnahmen erforderlich sein. Ungefähr ⅔ dieser Patienten lassen sich aufgrund definierter Risiken bereits vor der Geburt identifizieren, bei ⅓ der Neugeborenen tritt die ­Reanimationssituation völlig unerwartet auf. Diese Tatsache unterstreicht die Notwendigkeit, dass die essenziellen Wiederbelebungsmaßnahmen zu jeder Zeit differenziert und kompetent durch ein geschultes neonatologisches Reanimationsteam durchgeführt werden können. Weitere Voraussetzungen sind eine optimale Infor­ mation über maternale und fetale Risiken sowie eine gezielte Vorbereitung auf die spezielle Reanimationssituation. Sind die personellen und apparativen Möglichkeiten in einer Geburtsklinik nicht vorhanden, um ein Frühgeborenes oder Risikoneugeborenes optimal zu versorgen, so muss die Mutter – wenn ­immer medizinisch vertretbar – in ein Perinatalzentrum verlegt ­werden. Diese Vorgabe wurde in den letzten Jahren auch vom G-BA aufgegriffen. Der präpartale Transport von Schwangeren und damit von Risiko­früh- und Neugeborenen in ein Perinatalzentrum Level 1 ist bei folgenden Situationen obligat: 1. Frühgeborene mit einem Gestationsalter > Differenzialdiagnostisch ist ein zystisches Neuroblastom auszuschließen (Katecholaminbestimmung im Urin).

Die Blutung liquefiziert im weiteren Verlauf und kann später kalzifizieren. Die Erkrankung erfordert, außer bei massiven bilateralen Befunden mit Nebenniereninsuffizienzzeichen, keine Behandlung, die Prognose ist gut. Subkutane Fettgewebsnekrose  Für die Entwicklung dieses

Krankheitsbilds ist offenbar eine Kombination von verminderter Hautperfusion im Rahmen einer fetalen Hypoxie mit einem lokalen Trauma verantwortlich. Arme, Beine, Gesäß, Rücken und Gesicht sind bevorzugt betroffen. Klinisch findet sich eine in den ersten Lebenstagen auftretende, unregelmäßig begrenzte, leicht erhabene, derbe Schwellung mit Hautrötung. Im Verlauf werden die Veränderungen weicher und lösen sich auf, selten resultiert eine lokale Atrophie. Pathologisch liegt eine perivaskuläre Inflammation der Subkutis vor, gefolgt von Nekrose und Ausbildung eines Granuloms. Diese Granulomzellen sind offenbar in der Lage, extrarenal 1,25-Dihydroxyvitamin D zu produzieren, das zu einer Hyperkalzämie führen kann. !! Cave 3–6 Wochen nach Ausbildung einer subkutanen Fettgewebsnekrose kann sich eine ausgeprägte Hyperkalzämie mit ­klinischen Symptomen (Erbrechen, Somnolenz) entwickeln. Entsprechende laborchemische Kontrollen sind erforderlich.

4.6

Das Frühgeborene

jjEpidemiologie Ungefähr 6,5% aller Geburten erfolgen vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche; etwa 1,5% der Kinder sind sehr kleine Frühgeborene (Geburtsgewicht Bei einer drohenden Geburt vor der 34. Gestationswoche ist unter maximaler tokolytischer Therapie und kritischer Indikationsstellung eine Lungenreifungsbehandlung mit Betamethason oder Dexamethason durchzuführen.

4

..Abb. 4.14  Maternale Chorioamnionitis und intrauterine Zytokinexposition des Feten. Proinflammatorische Zytokine wie Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) und die Interleukine 1, 6, 8 (IL-1, IL-6, IL-8) die im Rahmen einer Chorioamnionitis in das Fruchtwasser gelangen, können bereits intrauterin eine pulmonale Entzündungsreaktion des Feten auslösen. Dieses Ereignis ist vermutlich ein bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung einer bronchopulmonalen Dysplasie. Darüber hinaus kann eine Chorioamnionitis eine systemische fetale Entzündungsreaktion induzieren, die mit einem erhöhten Risiko für zerebrale Schädigungen assoziiert ist

Hirnblutungen bzw. periventrikulärer Leukomalazie nahelegen. Eine Chorioamnionitis lässt sich bei mehr als 50% aller sehr unreifer Frühgeborener in der Vorgeschichte nachweisen. Vermutlich führt die im Rahmen einer Chorioamnionitis beschriebene intrauterine Zytokinexposition des Feten zu einer Inflammationsreaktion in der kindlichen Lunge sowie zu einer ersten Schädigung der unreifen vaskulären Endothelstrukturen, dem sog. „first hit“ (. Abb. 4.14). Treten unmittelbar nach der Geburt weitere schicksalshafte oder auch vermeidbare Ereignisse auf, die zu einer Veränderung der zerebralen Durchblutung und Fluktuationen des zerebralen Blutflusses führen, so kann eine Hirnblutung oder Minderperfusion vulnerabler Gehirnstrukturen auftreten. Die intrauterine pulmonale Inflammationsreaktion wird durch postnatale O2-Toxizität, Baro-Volu-Trauma sowie Infektionen verstärkt und kann in eine bronchopulmo­nale Dysplasie einmünden. Männliche Frühgeborene und Mehrlinge haben allerdings eine geringere Überlebenschance als weibliche Risikopatienten bzw. Einzelgeborene gleichen Gestationsalters. j jManagement Für eine optimale Betreuung von Risikofrühgeborenen muss eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein. Risikoschwangere und Früh­ geborene sollten nur in personell und technisch optimal ausgestatteten Perinatalzentren Level 1 betreut werden. Ein In-utero-Transport eines gefährdeten Frühgeborenen ist mit ungleich geringeren Risiken verbunden als eine postnatale Verlegung. Die Inzidenz von bleibenden Behinderungen ist – wie in vielen Studien belegt – bei

Die Geburt dieser Risikopatienten sollte so atraumatisch wie möglich erfolgen. Durch eine schonende Spontangeburt scheint die Komplikationsrate insbesondere zerebraler Schädigungen nicht ­erhöht zu sein. Eine primäre Sectio caesarea ist in jedem Fall bei Kindern mit Beckenendlage, drohender intrauteriner Asphyxie, Verdacht auf Amnioninfektionssyndrom sowie jedweder Form relevanter mütterlicher und kindlicher Pathologie indiziert. Während der mütterlichen Anästhesie muss eine intrauterine und postnatale Depression des Kindes unbedingt vermieden werden. Dies setzt eine enge Abstimmung von Anästhesieverfahren, chirurgischem Vorgehen und unmittelbar postnataler Versorgung der Frühgeborenen voraus. Nach der Erstversorgung der Frühgeborenen im Kreißsaal ­erfolgt die weitere zeit- und personalaufwändige Behandlung und Pflege der Kinder auf einer neonatologischen Intensivstation. Die therapeutischen Maßnahmen zielen auf eine Stabilisierung und Korrektur von postnatal einsetzenden Organstörungen ab. Da Frühgeborene nicht in der Lage sind, die Körpertemperatur selbstständig aufrecht zu erhalten, werden die Kinder in einem Inkubator oder in speziellen Wärmeeinheiten gepflegt; die Temperatur wird den Bedürfnissen der Patienten (thermoneutrale Temperatur, ausreichende Luftfeuchtigkeit) angepasst. Zur Überwachung der Frühgeborenen werden EKG- und Atmungsmonitore eingesetzt, in Abhängigkeit vom postnatalen Verlauf (maschinelle Beatmung, O2-Therapie) erfolgt eine kontinuierliche transkutane Messung des O2- und CO2Partialdrucks, eine kontinuierliche Pulsoxymetrie, repetitive Blutgasanalysen, Blutdruckmessungen u. a. Sehr kleine Frühgeborene werden häufig parenteral (zentrale Katheter) und/oder mithilfe ­einer Magensonde ernährt. Das Risiko an einer nosokomialen Sepsis und lokalen nosokomialen Infektionen zu erkranken ist hoch; in einigen Perinatalzentren erkranken bis zu 25% der Hochrisikopatienten an einer Sepsis. Die psychische Bindung zwischen Mutter und Frühgeborenem bzw. zwischen Vater und Frühgeborenem soll auch bei beatmeten, aber respiratorisch und zirkulatorisch stabilen Kindern so früh wie möglich erfolgen. Die sog. Känguru-Methode wird von den meisten Frühgeborenen außerordentlich gut toleriert (. Abb. 4.15). 4.6.1

Das Atemnotsyndrom Frühgeborener

Die Surfactantsubstitution stellt einen entscheidenden Durchbruch in der Behandlung des Atemnotsyndroms Frühgeborener dar. Durch diese kausale Therapiemaßnahme konnten die akuten pulmonalen Komplikationen beatmeter Frühgeborener und die Sterblichkeit drastisch reduziert werden. jjEpidemiologie Das Atemnotsyndrom Frühgeborener (RDS: „respiratory distress syndrome“; syn: hyalines Membranensyndrom) stellte vor Einführung der Surfactantsubstitution die häufigste Todesursache der Neonatalperiode dar. Ungefähr 1% aller Neugeborenen erkrankt an einem RDS. Die Inzidenz steigt mit abnehmendem Gestationsalter: bis zu 60% der Frühgeborenen > Das Grundprinzip besteht im „minimal handling“, einer möglichst geringen Belastung des Frühgeborenen durch diagnostische und therapeutische Maßnahmen.

..Abb. 4.18  Radiologische Veränderungen bei schwerem Atemnotsyndrom: verdichtetes Lungenparenchym, Auslöschung von Zwerchfell- und Herzkonturen, sog. „weiße Lunge“

j jKlinik Klinische Symptome treten unmittelbar nach der Geburt oder innerhalb der ersten 3–4 Stunden post partum auf: 44 Tachypnoe >60/min, 44 Nasenflügeln, 44 exspiratorisches Stöhnen, 44 sternale und interkostale Einziehungen, 44 abgeschwächtes Atemgeräusch, 44 Mikrozirkulationsstörungen: blass-graues Hautkolorit, 44 Temperaturinstabilität, 44 evtl. Zyanose (bei insuffizienter Behandlung). Bei der röntgenologischen Untersuchung des Thorax finden sich typische Veränderungen: unter zunehmender Verdichtung des Lungenparenchyms mit Auslöschung der Herz- und Zwerchfellkonturen entwickelt sich eine sog. „weiße Lunge“ (. Abb. 4.18). !! Cave Eine neonatale Infektion mit β-hämolysierenden Strepto­ kokken der Gruppe B kann sich unter klinischen und radio­ logischen Zeichen eines RDS manifestieren!

j jKomplikationen Im Verlauf der Erkrankung können folgende Komplikationen auftreten: 44 extraalveoläre Luftansammlung, pulmonales interstitielles ­Emphysem, 44 Pneumothorax, 44 Pneumomediastinum, 44 Pneumoperitoneum, 44 Pneumoperikard. Als Folge der Lungenunreife, der Langzeitbeatmung und O2-Toxizität in der Einatmungsluft kann sich bei Risikopatienten eine chronische Lungenerkrankung, die bronchopulmonale Dysplasie (BPD) entwickeln. j jSymptomatische Therapie Die Therapie des RDS wird vom Schweregrad der pulmonalen Erkrankung bestimmt: 44 Bei leichtem RDS: Nasen-CPAP („continuous positive airway pressure“ über einen binasalen CPAP); frühzeitige minimal in-

jjSurfactantsubstitutionstherapie In den letzten 25 Jahren ist mit der Substitution mit natürlichem Surfactant als kausaler Therapie ein entscheidender Fortschritt­ in der Behandlung des Atemnotsyndroms Frühgeborener erzielt worden. 1959 konnten Avery u. Mead, Boston, bei verstorbenen Frühgeborenen erstmals belegen, dass das hyaline Membranensyndrom mit dem Mangel des oberflächenaktiven Materials assoziiert war. Enhorning u. Robertson, Stockholm, publizierten 1972 die vielbeachteten Ergebnisse einer Surfactantsubstitutionstherapie bei beatmeten frühgeborenen Kaninchen. 1980 berichteten Fujiwara et al., Akita, erstmals von Frühgeborenen mit manifestem Atemnotsyndrom, die nach intratrachealer Applikation eines Rindersurfactants deutliche Veränderungen des pulmonalen Gasaustauschs zeigten. In der folgenden Dekade wurde die klinische Wirksamkeit der Surfactantbehandlung in sorgfältig geplanten multizentrisch kontrollierten und/ oder randomisierten Studien eindrucksvoll belegt; weltweit wurden mehr als 10.000 Frühgeborene mit verschiedensten Surfactantpräparationen behandelt. Die Surfactantsubstitution ist damit die am besten untersuchte Therapie der Neonatalmedizin. Natürliche Surfactantpräparate werden durch Lavage von Kälber- und Rinderlungen (Alveofact, Infasurf) oder Homogenisierung von Rinderlungen (Surfactant-TA, Survanta) oder Schweinelungen (Curosurf) extrahiert oder aber wurden für klinische Studien aus dem menschlichen Fruchtwasser isoliert. Die Präparate enthalten die Apoproteine SP-B und SP-C (ca. 1%), sie unterscheiden sich aber in der Zusammensetzung der Phospholipidfraktionen, der Konzentration und dem Applikationsvolumen. Synthetische Surfactantpräparate sind apoproteinfrei. Wie in randomisierten Studien belegt wurde, überlebten mehr Frühgebo­ rene mit RDS, die ein natürliches Surfactantpräparat erhielten; ­synthetische Surfactantpräparate stehen zur Zeit nicht mehr zur Verfügung. Effekte der Surfactantsubstitution  Unmittelbar nach intratrachealer Applikation natürlicher Surfactantpräparate konnte bei

Frühgeborenen mit manifestem RDS in allen kontrollierten Studien eine – wenn auch recht unterschiedliche – Verbesserung der Oxigenierung und der Beatmungssituation erzielt werden; die Pneumothoraxinzidenz konnte um 50–70% und die Sterblichkeit um ca. 40% reduziert werden. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass eine Surfactantbehandlung in der frühen Phase des Atemnotsyndroms einer Therapie in einer späteren Erkrankungsphase überlegen ist. Besonders sehr unreife Frühgeborene 30% und maschineller Beatmung (kumulative Dosis: 400 mg/kgKG) 55Unabhängig von der Art der Surfactantpräparation muss der behandelnde Kinderarzt mit allen Aspekten der Surfactantapplikation, der maschinellen Beatmung sowie allen ­an­deren Maßnahmen der neonatologischen Intensivmedizin vertraut sein

Nebenwirkungen !! Cave Nach Gabe natürlicher Surfactantpräparate kann eine akute Überblähung des Lungenparenchyms („Hyperexpansion“) durch eine ungenügende Anpassung des Beatmungsdrucks zu ernsthaften Ventilations- und Zirkulationsproblemen der behandelten Kinder führen.

Eine Sensibilisierung gegen tierische, im Surfactant enthaltende Apoproteine wurde bei keinem Patienten beschrieben. In Nachuntersuchungen von Kindern, die mit natürlichen oder synthetischen Präparaten behandelt worden waren, konnte kein Unterschied in der somatischen oder neurologischen Entwicklung im Vergleich zu unbehandelten Kontrollpatienten festgestellt werden. Eine gehäufte Infektanfälligkeit oder gar ein Auftreten einer chronischen Slowvirus-Infektion wurde nach Behandlung mit natürlichen Surfactantpräparaten auch nach einer mehr als 25-jährigen Erfahrung mit diesem neuen Therapieprinzip bisher nicht beobachtet. Andere Indikationen für eine Surfactanttherapie

Neben dem neonatalen Atemnotsyndrom ist eine Surfactantbehandlung auch bei Erkrankungen vorstellbar, in deren Verlauf ein sekundärer Surfactantmangel auftritt. jjPrävention Die sog. Lungenreifungsbehandlung durch Betamethason oder Dexamethason kann die Inzidenz und den Schweregrad des RDS Frühgeborener durch eine Enzyminduktion vermindern. Betamethason sollte der Schwangeren möglichst 48 h vor der Geburt verabreicht werden. Pränatale Kortikosteroide in Kombination mit der postnatalen Surfactantherapie (natürliches Surfactant) reduzieren die Sterblichkeit sowie die Inzidenz pulmonaler sowie extrapulmonaler Komplikationen (Hirnblutung). Allerdings ist von einer repetitiven Gabe, die noch in jüngster Vergangenheit in 8- bis 10-tägigen Abständen bis zum Zeitpunkt der Geburt erfolgte, abzuraten. Es gibt ernst zu nehmende Hinweise, dass die Entwicklung des fetalen Gehirns durch diese Strategie beeinträchtigt wird.

Als weiterer bedeutsamer Faktor in der Prävention des RDS ist eine schonende Geburtseinleitung und optimale primäre Stabilisierung der Risikokinder anzusehen. Der besondere Fall Anamnese.  Nach unauffälligem Schwangerschaftsverlauf treten bei einer 24-jährigen Zweitgebärenden in der 29. Gestationswoche plötzlich vorzeitige Wehen auf, dazu rasche Muttermundseröffnung, unauffälliges kindliches CTG. Trotz sofortigen Beginns einer tokolytischen (wehenhemmenden) Therapie erfolgt nach einmaliger Kortisongabe die Spontangeburt wenige Stunden nach stationärer Aufnahme. Befund und Erstversorgung.  Weibliches Frühgeborenes der 29. Gestationswoche, Geburtsgewicht 1.060 g, vital. Wegen unregelmäßiger Atmung wird nach kurzzeitiger Maskenbeatmung mit 40% O2 ein ­stabiler klinischer Zustand erreicht mit O2-Sättigung von 92%. Nach 45 min zeigt sich eine zunehmende Tachypnoe (Atemfrequenz um ­ 70/min), „stöhnende“ Atmung und beginnende juguläre und interkostale Einziehungen. Darauf folgt die endotracheale Intubation. Verlauf.  Unter maschineller intermittierender Beatmung nimmt der O2-Bedarf weiter zu, im Alter von 3 h unter 80% inspiratorischem ­O2-Gehalt normale Sättigung, Ventilation und systemischer Blutdruck. Röntgenthorax.  Diffuse feingranuläre Verdichtung des Lungenparenchyms mit beginnender Auslöschung des Herzrandes: RDS Grad III. Therapie.  Nach intratrachealer Applikation eines natürlichen Surfactantpräparats (100 mg Phospholipide/kgKG ≈1,25 ml Flüssigkeit/kgKG) kann innerhalb weniger Minuten eine Reduktion des inspiratorischen O2-Gehalts auf 30% erfolgen. Etwa 30 min später fällt dann eine rasch progrediente Verschlechterung der Oxygenierung und der Ventila­ tionssituation auf (inspiratorische O2-Konzentration 100%, pCO2 65 mmHg). Radiologisch zeigte die Lunge eine massive Überblähung mit geringer Gefäßzeichnung. Durch drastische Senkung des inspiratorischen Spitzendrucks und Atemwegmitteldrucks normalisiert sich die Beatmungssituation, der kindliche Zustand stabilisiert sich. Die Extubation erfolgt am 5. Lebenstag. Im weiteren Verlauf treten keine pulmonalen und zerebralen Komplikationen (Hirnblutung) nach Atemnotsyndrom auf, die Entlassung eines gesunden ehemaligen Frühgeborenen erfolgt in der 10. Lebenswoche bei einem Gewicht von 2.560 g. Beurteilung. Typisches mittelschweres, durch Surfactantmangel bedingtes Atemnotsyndrom, erfolgreiche Surfactantsubstitutionsbehandlung. Durch die unterlassene Reduktion des Beatmungsdrucks nach Surfactantapplikation iatrogene Überblähung des Lungenparenchyms mit schwerer Ventilations- und Oxygenierungsstörung sowie Drosselung der pulmonalen Perfusion.

4.6.2

Persistierender Ductus arteriosus (PDA)

>> Ein hämodynamisch wirksamer persistierender Ductus arteriosus stellt das häufigste kardiovaskuläre Problem Frühgeborener dar.

jjPathogenese, Pathophysiologie Bei reifen Neugeborenen setzt mit ansteigenden O2-Partialdrucken nach der Geburt eine Konstriktion des Ductus arteriosus und ein konsekutiver Verschluss ein. Der Ductus arteriosus Frühgeborener reagiert schwächer auf die postnatalen Kontraktionsreize. Wesentliche Faktoren dürften die unreife Muskulatur des Ductus und der persistierende vasodilatatorische Effekt hoher Prostaglandinkonzentrationen (PGE2) bei Frühgeborenen sein. Bei ausbleibendem Ductusverschluss entwickelt sich in der akuten Phase des RDS ein Shunt zwischen pulmonaler und systemischer Zirkulation (Rechtslinks-Shunt).

4

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Mit Rückbildung des RDS sinkt der pulmonale Gefäßwiderstand ab. In dieser Phase kann sich ein hämodynamisch signifikanter Links-rechts-Shunt über den PDA entwickeln. Die Folge ist eine akute pulmonale Überflutung mit hämorrhagischem Lungenödem und akuter kardialer Insuffizienz. Die Beatmungssituation der Pa­ tienten verschlechtert sich akut, durch Intensivierung der Beatmung und Erhöhung der inspiratorischen O2-Konzentration nimmt die Lungenschädigung zu (bronchopulmonale Dysplasie). Auch bei protrahierter Manifestation eines PDA können u. a. ein interstitielles Lungenödem und Veränderungen der Organperfusion (Nieren, Magen-Darm-Trakt) auftreten. jjKlinik Ein PDA manifestiert sich häufig zwischen dem 3. und 5. Lebenstag: 44 präkordiale Hyperaktivität, 44 systolisches Herzgeräusch, gelegentlich kontinuierlich, 44 Pulsus celer et altus („springende Pulse“), Tachykardie, 44 Verschlechterung der Beatmungssituation, evtl. feinblasige Rasselgeräusche, 44 evtl. Hepatomegalie, 44 renale Ausscheidungsprobleme, 44 Zirkulationsstörungen. !! Cave Etwa 20% der Frühgeborenen mit hämodynamisch signifi­ kantem persistierendem Ductus arteriosus haben kein Herzgeräusch!

Die klinische Verdachtsdiagnose wird durch die Röntgenthoraxaufnahme, die 2-dimensionale Echokardiographie und den direkten Shuntnachweis mithilfe der Dopplertechnik und Farbdopplerverfahren bestätigt. jjTherapie Die wesentlichen Therapieprinzipien des symptomatischen PDA sind: 44 Flüssigkeitsrestriktion, 44 Prostaglandinsynthesehemmer (Indometacin, Ibuprofen), 44 operativer PDA-Verschluss. Durch die Hemmung der Prostaglandinsynthese wird der gefäß­ erweiternde Effekt von Prostaglandin E2 antagonisiert. Kontrain­ dikationen der Indometacinbehandlung sind: Thrombozytopenie, ­Serumkreatinin >1,8 mg/dl und Oligurie. Etwa 40% aller medikamentös behandelten Frühgeborenen sprechen auf diese konservative Behandlung nicht an. 4.6.3

Bronchopulmonale Dysplasie

j jGrundlagen 1967 beschrieb Northway erstmalig eine Gruppe von Frühgeborenen, die nach maschineller Beatmung und langer O2-Therapie ­wegen eines Atemnotsyndroms keine Besserung der Lungenfunk­ tion zeigten. Viele Kinder blieben über lange Zeit respiratorabhängig oder verstarben unter der Beatmung. Diese vorher nicht beobach­tete chronische Lungenkrankheit wurde als bronchopulmonale Dysplasie (BPD) bezeichnet. jjPathogenese Die BPD ist eine chronische Lungenkrankheit Frühgeborener. Grundvoraussetzung für die Entstehung ist die Unreife der Lunge, welche sowohl die anatomischen Strukturen als auch funktionelle

Postnatal

Pränatal Funktionell und strukturell unreife Lunge

+ Stabilisierung sequentielle Lungenschädigung

4

C.P. Speer

Chorioamnionitis

+ Hyperoxie + Beatmung + Pneumonie / Sepsis

Infammation

Gestörte Lungenentwicklung

Hemmung der Alveolarisierung und Vaskularisierung, Fibrose

BPD ..Abb. 4.19  Mögliche pathogenetische Sequenz der bronchopulmonalen Dysplasie

Systeme wie das Surfactantsystem betrifft. In der Frühphase liegt eine pulmonale Inflammationsreaktion vor, die durch ein maschinelles Beatmungstrauma die O2-Toxizität in der Einatmungsluft oder eine pränatale Infektion im Rahmen einer Chorioamnionitis ausgelöst wird. Eine postnatale Infektion ist ebenfalls in der Lage, eine pulmonale Entzündung zu induzieren. Folge ist zunächst ein interstitielles und alveoläres Ödem. Bei anhaltender Exposition gegenüber den Noxen wird der normale Gewebsreparaturprozess in der Lunge gestört, bei schweren Verläufen kommt es zur Ausbildung einer Fibrose und eines Lungenemphysems (. Abb. 4.19). Es gibt zunehmend Hinweise, dass die Inflammationsreaktion die physiologische Sequenz des Lungenwachstums beeinflusst. Die Folge ist eine abnorme Lungenentwicklung mit einer Beeinträchtigung der Alveolarisierung und der Vaskularisierung. >> Für die Entwicklung einer bronchopulmonalen Dysplasie ist häufig ein Atemnotsyndrom in den ersten Lebenstagen verantwortlich, es ist aber keine unbedingte Voraussetzung: ein Teil sehr unreifer Frühgeborener entwickelt eine BPD auch bei initial scheinbar gesunder Lunge.

jjPathophysiologie Die Lungenfunktion von Frühgeborenen mit schwerer BPD ist durch ein niedriges Lungenvolumen sowie eine erniedrigte Compliance charakterisiert. Entwickelt sich in der Folge ein erhöhter Atemwegswiderstand, so liegt eine Kombination von obstruktiver und restriktiver Ventilationsstörung vor. Atelektasen und Emphysem führen zu einer Störung der Relation zwischen alveolärer Ventilation und Perfusion. Der resultierende intrapulmonale Rechts-linksShunt ist die Ursache für die Hypoxämie bzw. den O2-Bedarf. Auf-

99 Neonatologie

grund der Gefäßrarefizierung und einer Mediahypertrophie ent­ wickelt sich bei fortgeschrittenem Krankheitsbild ein pulmonaler Hypertonus. jjKlinik Frühgeborene mit einer BPD zeigen folgende Charakteristika und klinische Symptome: 44 Langzeitbeatmung, schwierige Entwöhnung von der maschinellen Beatmung, 44 nach der Extubation: eine persistierende Atemnot mit anhaltendem O2-Bedarf, sternalen und kostalen Einziehungen und Tachypnoe. 44 Kardiopulmonale Instabilität mit Neigung zu häufigen ­O2-Sättigungsabfällen und Bradykardien. 44 Typisches radiologisches Bild: fleckig-steifige röntgendichte Veränderungen in Abwechslung mit Regionen erhöhter Strahlentransparenz oder zystisch-emphysematösen Bereichen (. Abb. 4.20). 44 Auf Grund der erhöhten Atemarbeit: Gedeihstörung. jjDiagnose Der Schweregrad der BPD wird durch den O2-Bedarf bzw. Beatmungsform im Alter von 36 Wochen definiert.

..Abb. 4.20  Radiologischer Befund einer bronchopulmonale Dysplasie. Neben fibrotisch verdichteten und atelektatischen Arealen () finden sich überblähte Bezirke () und Zeichen eines Cor pulmonale

jjPrävention Prinzipiell ist die Prävention der BPD das erste Behandlungsziel.

>> Das Risiko für die Entwicklung einer Zerebralparese ist bei ­einer frühzeitigen Behandlung mit Dexamethason deutlich erhöht und daher obsolet. Eine spätere Therapie nach dem 14. Lebenstag darf nur bei schwerer pulmonaler Insuffizienz eines Frühgeborenen erfolgen.

Allgemeine Maßnahmen zur Prävention der bronchopulmonalen Dysplasie 55Pränatale Steroidbehandlung 55Frühzeitige Surfactanttherapie bei Atemnotsyndrom 55Frühzeitige Behandlung eines klinisch relevanten persistierenden Ductus arteriosus 55Vermeidung einer Flüssigkeitsüberladung 55Niedrigste mögliche Beatmungsunterstützung und O2-Gabe zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gasaustauschs 55Falls möglich, Vermeidung einer maschinellen Beatmung 55Bei Beatmung frühzeitige Extubation und CPAP-Behandlung 55Gewährleistung einer ausreichende Ernährung (parenteral/ enteral) sowie Versorgung mit Spurenelementen und Vitaminen (Vitamin A)

jjTherapie Während der stationären Behandlung können folgende, gut belegte Behandlungsmaßnahmen sinnvoll sein: 44 Koffein. Offenbar durch Verbesserung der Lungenmechanik sowie der diuretischen Wirkung führt die Behandlung mit ­Coffein zu einer Senkung der BPD-Rate. 44 Steroide. Unter einer postnatalen Behandlung Frühgeborener mit Dexamethason kommt es zu einer Verminderung des pulmonalen Wassergehalts, zu einer Verbesserung des Gasaustauschs, einer Abnahme der pulmonalen Inflammationsreak­ tion sowie der mikrovaskulären Permeabilität der Lunge. Diese Therapie sollte aber nur unter strengster Indikation und nicht vor Beginn der 3. Lebenswoche durchgeführt werden; sie ermöglicht innerhalb von 2–5 Tagen bei der Mehrzahl der behandelten beatmeten Patienten eine Extubation. Die Rolle inhalativer Kortikosteroide in der Prävention der BPD ist weiterhin unklar.

44 Sauerstoff. Bei etablierter BPD, insbesondere bei schweren Verläufen, besteht eine deutliche Mediahypertrophie der ­Pulmonalgefäße. In dieser Situation sollte Sauerstoff nicht zu niedrig dosiert werden, um die Entwicklung bzw. Zunahme ­einer pulmonalen Hypertonie zu vermeiden (SO2 >92%, pO2 >55 mmHg). Ausreichende O2-Zufuhr ist ebenfalls erforderlich für eine befriedigende Gewichtszunahme. Eine regelmäßige echokardiographische Überwachung zur Beurteilung des Lungengefäßwiderstandes ist notwendig. jjPrognose In den meisten Fällen kommt es zu einer Reparatur der pulmonalen Veränderungen, dieses zeigt sich am Rückgang der Atemnotsymptomatik und des O2-Bedarfs. Nur wenige Frühgeborene benötigen auch zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Klinik noch Sauerstoff und erhalten eine entsprechende häusliche Therapie, die in der Regel nicht länger als 3–6 Monate erforderlich ist. Einzelne Kinder lassen sich nicht von der Beatmung entwöhnen. Weiterhin haben Kinder mit BPD nicht selten ein hyperreagibles Bronchialsystem und erkranken innerhalb der ersten 2 Lebensjahre häufig an einer obstruktiven Bronchitis. Virale Infektionen, insbesondere die RSV-Bronchiolitis, können bei BPD-Patienten zu einem schwer verlaufenden Krankheitsbild führen. Auffälligkeiten der Lungenfunktion (reversible oder fixierte Obstruktionen, erhöhtes intrathorakales Gasvolumen) sind bis ins Erwachsenenalter nachweisbar. In der Regel sind die Kinder jedoch körperlich später gut belastbar und in der Lage, Sport zu treiben.

4

100

4.6.4

4

C.P. Speer

Retinopathia praematurorum

Die Geschichte der Retinopathia praematurorum stellt ein erschreckendes Beispiel dar, wie dogmatisch getroffene medizinische Entscheidungen zu menschlichen Katastrophen führen können. Seit Beginn der 1940er Jahre wurden viele Frühgeborene mit zusätz­ lichem Sauerstoff behandelt, die Konzentrationen lagen bei 70% O2. Erst in den 1950er Jahren wurde von australischen Kinderärzten der freizügige Einsatz von Sauerstoff als Ursache des epidemieartigen Auftretens der retrolentalen Fibroplasie (= ROP) und damit der Erblindung von relativ „reifen“ Frühgeborenen identifiziert. Eines der berühmtesten Opfer ist Stevie Wonder, Jahrgang 1950, der in der 34. Gestationswoche geboren wurde. Aufgrund dieser alamierenden Ergebnisse wurden strenge Therapierichtlinien mit Limitierung der O2-Gabe auf 40% eingeführt. Die Folge war ein dramatischer Rückgang der ROP. Dieses wurde als überzeugender Beweis für die Richtigkeit der These angesehen, dass Sauerstoff in der Tat die einzige notwendige und ausreichende Ursache der retinalen Erkrankung war. Jeder Fall von ROP-bedingter Blindheit wurde als Folge einer fehlerhaften O2-Therapie angesehen und hatte entsprechende juristische Folgen. Aufgrund der zunehmenden Überlebensraten sehr unreifer Frühgeborener kam es in den 1980er Jahren jedoch zu einer deutlichen Wiederzunahme der Erkrankung, sodass von einer neuen zweiten Epidemie gesprochen wurde. Es wurde nun jedoch klar, dass die ROP eine multikausale Erkrankung war, die ihre Hauptursache in der Unreife der Frühgeborenen hat. Während die Inzidenz der schweren ROP in den meisten westlichen Ländern erfreulicherweise rückläufig ist, erkranken gerade in den Schwellenländern wieder relativ reife Frühgeborene an dieser bedrohlichen Retinopathie („dritte Epidemie“). j jDefinition Die Frühgeborenenretinopathie („retinopathy of prematurity“, ROP) ist eine multifaktorielle vasoproliferative Netzhauterkrankung, deren Inzidenz und Schweregrad mit zunehmender Unreife zunimmt: 10% der Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht Um eine Retinopathie nicht zu übersehen, sollte die Erst­ untersuchung bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht (GG) > Durch Fortschritte in der neonatologischen Intensivtherapie sind die beschriebenen postnatalen Ursachen der Hirnblutungsgenese in den Hintergrund gerückt. Perinatale Faktoren haben eine zunehmende Bedeutung erlangt.

j jKlinik Schwere intraventrikuläre und intraparenchymatose Hirnblutungen (Grad 3 und 4) führen bei sehr kleinen Frühgeborenen praktisch immer zu mehr oder weniger ausgeprägten klinischen Symptomen: 44 plötzliche Änderung der Hautperfusion, „septisches Aussehen“ mit blass-grauem oder marmoriertem Hautkolorit und verzögerter Kapillarfüllungszeit, 44 plötzliche Änderung des respiratorischen Status mit erhöhtem O2-Bedarf, Apnoen oder erhöhtem Ventilationsbedarf bei beatmeten Patienten, 44 Instabilität des Blutdrucks, 44 bei massiven Blutungen „gefüllte“ oder gespannte Fontanelle, 44 Krampfanfälle, 44 Abfall von Hämoglobin bzw. Hämatokrit, 44 muskuläre Hypotonie und Hypomotorik, 44 Temperaturinstabilität. !! Cave Bei entsprechenden Symptomen gehört die zerebrale Sonographie zu einer Notfalluntersuchung, bei fehlender Blutung

müssen andere Ursachen für die Zustandsverschlechterung gesucht werden.

80–90% der Hirnblutungen treten innerhalb der ersten 48 h nach der Geburt auf. jjDiagnose Die Diagnose wird durch die zerebrale Sonographie gestellt, eine weitergehende bildgebende Diagnostik ist nicht indiziert. Die anfänglich echodichte Blutung wird im Verlauf zunehmend echoärmer als Zeichen der Liquefizierung, bis sie nicht mehr darstellbar ist. Zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus sind bei den meisten Frühgeborenen nach Hirnblutungen vom Grad 1 oder 2 ­keine Residuen nachweisbar. Bei ca. 30% der Patienten mit Ventrikelblutung kommt es zu einer Ventrikeldilatation, venöse Infarkte im Parenchymbereich hinterlassen eine porenzephale Zyste. jjTherapie, Prävention Eine kausale Therapie der intrazerebralen Blutung gibt es nicht. Ziel der symptomatischen Therapie ist es, die Kreislauffunktion, Hirnperfusion und Beatmungssituation zu stabilisieren und Fluktuationen der Organdurchblutung zu vermeiden. Ein hoher Qualitätsstandard der neonatalen Versorgung ist Grundvoraussetzung für die Prävention potenziell vermeidbarer Hirnblutungen. Diese betrifft das Vorhalten einer ausreichenden Anzahl gut geschulten Personals sowie die Regionalisierung von extrem unreifen Frühgeborenen in speziell ausgestatteten Zentren. Die pränatale Behandlung mit Glukokortikoiden und ein spätes Abnabeln der Kinder sind wohl die am besten belegten präventiven Maßnahmen. jjPrognose Die Prognose der intrazerebralen Blutung hängt v. a. vom Vorhandensein einer Parenchymläsion ab. Während neurologischer Folgeschäden bei einer erst- oder zweitgradigen Blutung nur selten auftreten, zeigen ca. ⅓ der Frühgeborenen mit ausgeprägter intraventrikulärer Blutung neurologische Auffälligkeiten und die Mehrzahl der Frühgeborenen mit Hirnparenchymläsionen. Die Ausdehnung dieser Parenchymläsion hat jedoch ebenfalls einen Einfluss auf die Prognose. Ausgedehnte Läsionen mit Beteiligung der frontoparietookzipitalen Regionen gehen nahezu immer mit neurologischen

103 Neonatologie

..Abb. 4.25  Faktoren, die an der Pathogenese der PVL beteiligt sind

Schädigungen und einer mentalen Retardierung einher. Bei lokalisierten Blutungen ist die Schädigungswahrscheinlichkeit geringer, frontal gelegene Blutungen sind prognostisch günstiger als okzipital gelegene. Die typische neurologische Konsequenz der unilateralen Hirnparenchymblutung ist die spastische Hemiparese. Wegen der Nähe zum Tractus corticospinalis ist dabei ist die untere Extremität deutlich bevorzugt beteiligt (7 Abschn. 4.6.6).

Andere intrazerebrale Blutungen bei ­Frühgeborenen Ischämischer und hämorrhagischer Infarkt („Stroke“) Eine vaskuläre Minderperfusion oder Okklusion im Bereich der ­arteriellen Hirngefäße hat einen ischämischen Infarkt zur Folge, dessen Ausdehnung dem Versorgungsgebiet des betroffenen Gefäßes entspricht. Strömt nach Verschluss eines Arterienasts aus der Umgebung Blut in die nekrotische Region ein oder liegt ein venöser Gefäßverschluss vor, so entsteht ein hämorrhagischer Infarkt. Diese Läsionen betreffen sowohl Früh- als auch reife Neugeborene. Sie sind zu 90% unilateral mit Bevorzugung der linken Seite und be­ treffen v. a. die A. cerebri media. Als Folge des Infarkts entwickelt sich eine porenzephale Zyste. Selten führen pränatale bilaterale Verschlüsse zu einer Hydranenzephalie. Die Diagnose wird durch die zerebrale Ultraschallunter­ suchung gestellt. Bei einigen Kindern ist bereits intrauterin­ eine unilaterale porenzephale Zyste nachweisbar, andere zeigen­ zum Zeitpunkt der Geburt einen Infarkt an typischer Stelle im ­arteriellen Versorgungsgebiet. Diese isolierten (d. h. ohne Ventrikelblutung auftretenden) Parenchymläsionen sollten unbedingt von den oben beschriebenen Hirnblutungen vom Grad 4 unterschieden werden. In einigen Fällen entstehen zerebrovaskuläre Infarkte postnatal. Die Gefäßverschlüsse können durch Thrombose (arteriell oder ­venös), Embolien, Vasospasmus oder Gefäßfehlbildung bedingt sein, häufig findet sich jedoch keine fassbare Ursache. Infarkte, die im Rahmen einer schweren arteriellen Hypotension auftreten, ­finden sich in der Regel nicht im Versorgungsgebiet der A. cerebri media. Eine spezifische Therapie ist nicht möglich. Trotz der manchmal großen Ausdehnung des Defekts ist die Prognose unilateraler Ge-

fäßverschlüsse meist erstaunlich gut, durch Hypotension oder Kreislaufschock bedingte Infarkte haben in der Regel eine sehr schlechte Prognose. 4.6.6

Periventrikuläre Leukomalazie

jjGrundlagen >> Als periventrikuläre Leukomalazie (PVL) wird eine Nekrose mit nachfolgender zystischer Umwandlung der weißen Substanz lateral der Seitenventrikel bezeichnet, die durch eine Ischämie im Grenzgebiet vaskulärer Versorgungsgebiete entsteht.

Es ist eine typische Läsion Frühgeborener mit einem Maximum um die 28. Schwangerschaftswoche, die Inzidenz beträgt bei Frühgeborenen unter der 32. SSW zwischen 3 und 9%. Klinisch führt sie häufig zum Bild der spastischen Diplegie. Die Diagnose wird durch die zerebrale Ultraschalluntersuchung gestellt. jjNeuropathologie und zerebrovaskuläre Architektur Die pathologischen Veränderungen der PVL bestehen aus einer fokalen periventrikulären Nekrose sowie einer diffusen Läsion der umgebenden weißen Substanz (. Abb. 4.25). Der fokalen, immer symmetrischen, bilateralen Läsion liegt eine ischämiebedingte ­Nekrose zugrunde, die sich innerhalb von 2–4 Wochen in Zysten umwandeln. Durch Proliferation von Astrozyten bilden sich diese zystischen Veränderungen innerhalb einiger Monate zurück. Diffuser Oligodendrogliaverlust, Beeinträchtigung der Myelinisierung und Proliferation von Astroglia können zu einer Verminderung des Volumens der weißen Substanz führen, daraus resultiert als Spät­ folge eine Dilatation der Seitenventrikel. Die Hauptorte der fokalen Nekrose liegen in der weißen Substanz in Höhe der Foramina Monroi (anterior) sowie im Trigonumbereich (posterior). In diesem Bereich liegen die Grenzgebiete der vaskulären Versorgung langer penetrierender Arterien von der Hirnoberfläche und der Hirnbasis (. Abb. 4.25). Eine Ischämie in diesen sog. „letzten Wiesen“ wird als „Wasserscheideninfarkt“ bezeichnet. Bei zunehmender Reife ändert sich die Blutversorgung. Aus diesem Grunde wird bei reifen Neugeborenen eine PVL nicht mehr beobachtet.

4

104

C.P. Speer

j jPathogenese Für die Entstehung der PVL sind folgende Faktoren von Bedeutung (. Abb. 4.25): 44 anatomische Voraussetzungen: spezielle zerebrovaskuläre ­Architektur, 44 Faktoren, die zu einer zerebralen Ischämie führen, 44 eine vermehrte Vulnerabilität der weißen Substanz.

4

Eine zerebrale Ischämie kann bei Frühgeborenen durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt sein, welche pränatal, perinatal oder postnatal ihren Ursprung haben. Pränatale und perinatale Ursachen sind zirkulatorische Beeinträchtigungen aufgrund maternaler Blutungen während der Schwangerschaft, Plazentalösungen oder Komplikationen bei Mehrlingsgravidität. In solchen Fällen zeigen sich bei der Ultraschalluntersuchung unmittelbar nach der Geburt bereits periventrikuläre Läsionen an typischer Lokalisation. Am häufigsten entsteht eine PVL in Verbindung mit einer Chorioamnionitis. Vermutlich werden Oligodendrozyten im Rahmen einer fetalen Entzündungsreaktion durch proinflammatorische ­Zytokine und andere entzündliche Mediatoren geschädigt. Bei Frühgeborenen mit PVL finden sich zum Zeitpunkt der Geburt häufig erhöhte Serumkonzentrationen an proinflammatorischen Zytokinen (TNF α, Interleukin-6), die Hochrisikopatienten zeigen jedoch in der Regel keine Infektionssymptome. >> Eine Chorioamnionitis spielt in der Pathogenese der periventrikulären Leukomalazie eine entscheidende Rolle.

Im zerebralen Ultraschall lässt sich zum Zeitpunkt der Geburt bereits eine symmetrische periventrikuläre Echoverdichtung darstellen, die später in zystische Veränderungen übergeht (. Abb. 4.26). Postnatal kann eine PVL bei schweren kardiorespiratorischen Beeinträchtigungen auftreten. Dazu gehören ein persistierender Ductus arteriosus, Blutdruckabfälle im Rahmen einer Sepsis oder eine zerebrale Hirnminderdurchblutung aufgrund einer beatmungsbedingten ausgeprägten Hypokapnie oder schwerer Apnoen. In solchen Fällen sind periventrikuläre Echoverdichtungen erst später im Verlauf sonographisch darstellbar. jjKlinik In den meisten Fällen von prä- und perinatal entstandener PVL sind die Kinder asymptomatisch. Eine muskuläre Hypotonie und Hypomotorik wird nur bei ausgedehnten Befunden beobachtet und zeigt sich auch bei kranken Frühgeborenen ohne PVL. Die klinischen Spätfolgen der PVL sind durch die Lokalisation der Läsionen bedingt (. Abb. 4.25). Eine PVL betrifft vorwiegend die untere Extremität und führt zu einer spastischen Diplegie. Ein massiver Befund mit lateraler Ausdehnung kann auch zu einer Beeinträchtigung der Funktion der oberen Extremität und des Intellekts führen. jjPrävention Eine Prävention der PVL ist derzeit nur bei den postnatal entstandenen Läsionen möglich und hier auch oft nur sehr bedingt. Sie besteht in der Vermeidung der Hyperventilation bei beatmeten Frühgeborenen sowie der adäquaten Therapie einer Hypotension, eines PDA oder schwerer Apnoen. Eine kausale Prävention der Chorioamnionitis-assoziierten PVL gibt es bisher nicht. Der besondere Fall Anamnese. Ein weibliches Frühgeborenes wurde spontan nach unaufhaltsamer Wehentätigkeit in der 29. Gestationswoche mit einem Geburtsgewicht von 1.360 g geboren. Der Blasensprung erfolgte 4 Tage

..Abb. 4.26  Zystische Erweichungsherde bei periventrikulärer Leukomalazie (Schädelsonographie, Längsschnitt)

vor der Geburt, das Fruchtwasser war klar. Die Mutter zeigte keine Erhöhung des C-reaktiven Proteins, sie hatte kein Fieber. Die histologische Untersuchung der Plazenta aber zeigte deutliche Zeichen einer Chorioamnionitis mit massiver leukozytärer Infiltration der Eihäute. Befunde.  Postnatal zeigte das Frühgeborene eine rasche und gute kardiopulmonale Adaptation. Es entwickelte kein Atemnotsyndrom und keinen zusätzlichen O2-Bedarf. Eine Ultraschalluntersuchung des Kopfs am 2. Lebenstag zeigte eine deutliche, scharf begrenzte Echoverdichtung beidseits frontal und lateral der Seitenventrikel. Eine Echoverdichtung im Bereich der germinalen Matrix oder innerhalb der Seitenventrikel fand sich nicht. Klinischer Verlauf.  Im Alter von 11 Tagen zeigte das Frühgeborene eine Serie von Apnoen, welche nach taktiler Stimulation sistierten. Der Muskeltonus war schlaffer als vorher, das Kind wies eine diskrete Marmorierung der Haut auf, der Blutdruck war instabil und bedurfte einer Volumengabe. Es wurde die Verdachtsdiagnose einer Sepsis gestellt und nach Abnahme von Blutkulturen eine antibiotische Therapie ­begonnen. Die Blutkultur zeigt ein Wachstum von Staphylococcus ­epidermidis. Nach einer Woche waren im Ultraschallbild zystische Veränderungen beidseits periventrikulär nachweisbar. Das Kind entwickelte eine spastische Diplegie bei unauffälliger mentaler Entwicklung. Beurteilung.  Das Kind zeigte die typischen sonographischen Befunde einer PVL. Die unmittelbar postnatal registrierten periventrikulären Echoverdichtungen weisen auf eine prä- oder perinatale Genese hin. Obwohl die Anamnese keine sicheren maternalen Infektionssymptome zeigte, lag histologisch eine Chorioamnionitis vor, welche wahrscheinlich mit der Entstehung einer periventrikulären Leukomalazie in Verbindung gebracht werden kann. Die Chorioamnionitis hatte zu keiner kindlichen Infektion geführt. Die Atem- und Kreislaufregulationsstörungen sind als Symptome der nosokomialen Sepsis zu deuten.

4.6.7

Apnoen bei Frühgeborenen

jjGrundlagen Frühgeborene, insbesondere sehr unreife Kinder mit einem Geburtsgewicht > Schwere Frühgeborenenapnoen können vermutlich das Risiko für ischämische Hirnläsionen sowie für die Entwicklung einer eine Retinopathie erhöhen.

jjDefinitionen Apnoen, Bradykardien und Hypoxämien werden in der Literatur recht unterschiedlich definiert, die folgenden Definitionen werden jedoch für Frühgeborene zunehmend akzeptiert: 44 Apnoe: Atempause >20 s oder Atempause Aufgrund der Häufigkeit von Apoen, Bradykardien und Hypoxämien bei Frühgeborenen müssen die Vitalparameter dieser Kinder in der Regel über lange Zeit auf einer Intensivstation überwacht werden.

j jTherapie Zur Behandlung des Apnoe-Bradykardie-Hypoxämie-Syndroms Frühgeborener stehen verschiedene Optionen zur Verfügung. Weiterhin hängt die Wahl der Therapiemaßnahme von der Häufigkeit und Schwere der Atemregulationsstörung ab.

Flüssigkeitsgehalt ausgelöst. Die prädisponierenden Faktoren, die mit einer normalen Flüssigkeitsresorption interferieren oder aber zu einer Erhöhung des pulmonalen Flüssigkeitsgehalts führen, sind in der Übersicht dargestellt. Faktoren, die mit verzögerter Flüssigkeitsresorption oder vermehrtem pulmonalem Flüssigkeitsgehalt einhergehen 55Sectio caesarea am wehenlosen Uterus 55„Wunsch“sectio vor der 39. Gestationswoche 55Perinatale Asphyxie 55Mütterlicher Diabetes 55Exzessive mütterliche Analgesie 55Oxytocin und vermehrte maternale Flüssigkeitszufuhr 55Polyglobulie (Polyzythämie) des Neugeborenen 55Erhöhter zentraler Venendruck des Neugeborenen 55Verspätetes „Abnabeln“

Therapeutische Maßnahmen bei Frühgeborenenapnoe 55Taktile Stimulation: Taktile Maßnahmen wie Streicheln oder sanftes Schütteln führen in den meisten Fällen zur Wiederaufnahme der Atmung 55Atemstimulation durch Methylxanthine (Coffein) 55Verminderung von Hypoxämien durch Nasen-CPAP und/ oder geringfügige Anhebung der inspiratorischen O2-Konzentration (5%) 55Bei Versagen dieser Maßnahmen ist eine maschinelle Beatmung erforderlich

Es gibt derzeit keine sicheren Angaben, wie viele Apnoen und ­welcher Schweregrad toleriert werden können. Somit keine klaren Indikationen, wann die konservative Behandlung beendet und eine maschinelle Beatmung erfolgen soll. Wenn bei schweren Apnoen wiederholt eine Maskenbeatmung zur Behandlung der Bradykardie und Hypoxie notwendig ist, besteht in der Regel die Indikation zur maschinellen Beatmung. !! Cave Die auf den Intensivstationen übliche Überwachung der ­O2-Therapie durch Pulsoxymeter ist nur für die Erfassung ­einer Hypoxie sinnvoll und eignet sich nicht gut für die Kontrolle einer Hyperoxie. Diese erfolgt besser durch die transkutane Messung des pO2.

4.7

Lungenerkrankungen des Neugeborenen

4.7.1

Transitorische Tachypnoe

j jDefinition Die transitorische Tachypnoe (syn: transientes Atemnotsyndrom des Neugeborenen, „fluid lung“, Flüssigkeitslunge) entwickelt sich in den ersten Lebensstunden nach der Geburt überwiegend bei reifen Neugeborenen oder relativ „reifen“ Frühgeborenen. Charakteristisch ist die deutlich beschleunigte Atemfrequenz mit minimalen Einziehungen und gelegentlich auftretender leichter Zyanose. Die Erkrankung bildet sich in der Regel innerhalb der ersten 2–3 Lebenstage spontan zurück. jjPathogenese Die transitorische Tachypnoe wird vermutlich durch eine verzögerte Resorption der kindlichen Lungenflüssigkeit über die pulmonalen Lymph- und Blutgefäße oder aber einen vermehrten pulmonalen

jjKlinik Die Neugeborenen fallen durch eine kurze Zeit nach der Geburt einsetzende Tachypnoe (bis zu 120 Atemzüge/min) auf, die nur von geringen Einziehungen und wechselnd ausgeprägtem exspiratorischem Stöhnen begleitet ist; die Lungen sind häufig überbläht. Bei Hypoxämie ist in der Regel eine Zufuhr von 30–40% O2 in der Inspirationsluft ausreichend, um eine suffiziente Oxygenierung zu ­erzielen. Das Röntgenthoraxbild zeigt typischerweise vermehrte zentrale Verdichtungen mit einer peripheren Überblähung der Lunge und gelegentlich interlobären Flüssigkeitsansammlungen oder kleinen Pleuraergüssen. Gelegentlich entwickelt sich auf dem Boden einer massiven pulmonalen Überblähung eine pulmonale Hypertonie mit Rechts-links-Shunt, die in das gefürchtete Krankheitsbild der persistierenden pulmonalen Hypertonie einmünden kann. jjDiagnose Die Diagnose der transitorischen Tachypnoe basiert häufig auf dem Ausschluss anderer akuter pulmonaler Erkrankungen und wird häufig erst retrospektiv gestellt. Neonatale Pneumonien, insbesondere mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe B, können mit einer identischen initialen Dynamik verlaufen. jjTherapie Bei Atemfrequenzen >80/min wegen Aspirationsgefahr keine orale Ernährung, intravenöse Flüssigkeitszufuhr, bei Bedarf O2-Gabe und evtl. Anlage eines binasalen CPAP; häufig ist eine kurzzeitige antibiotische Behandlung indiziert. 4.7.2

Mekoniumaspirationssyndrom

jjDefinition Nach der Aspiration von Mekonium entwickelt sich eine pathogenetisch komplexe Erkrankung, die durch eine akute Atemnotsymptomatik der überwiegend übertragenen oder reifen hypotrophen Neugeborenen und einen kompatiblen radiologischen Lungenbefund charakterisiert ist. Mekoniumhaltiges Fruchtwasser ist bei 10–18% aller Geburten nachzuweisen. jjEpidemiologie Die Inzidenz des schweren Mekoniumaspirationssyndroms liegt zwischen 0,2–6 erkrankten Neugeborenen/1.000 Lebendgeborene.

107 Neonatologie

..Abb. 4.28  Pathogenetische Sequenz der Mekoniumaspiration: neben mechanischen Faktoren, die zu einer schweren Beeinträchtigung der ­Lungenfunktion beitragen, begünstigt die chemische pulmonale Inflammationsreaktion die Entwicklung von Hypoxie und Azidose

..Abb. 4.29  Radiologische Veränderungen bei schwerem Mekoniumaspirationssyndrom. Neben verdichteten dystelektatischen Arealen finden sich typische überblähte Lungenanteile

Es bestehen erhebliche geographische und regionale Unterschiede in der Erkrankungshäufigkeit.

chealaspirat nachweisen, die bei der Mehrzahl der Kinder folgenlos eliminiert werden. Größere Mekoniumpartikel, die mit den ersten Atemzügen in die kleineren Luftwege gelangen, führen zu einer ­partiellen Bronchusobstruktion und Verlegung der Alveolen. Die Folgen sind die Ausbildung von Atelektasen, überblähten emphysematösen Arealen („air trapping“) und extraalveoläre Luftansammlungen (interstitielles Emphysem, Pneumothorax, Pneumomediastinum etc; . Abb. 4.28). Durch im Mekonium enthaltene Substanzen (z. B. Fettsäuren) entwickelt sich innerhalb von 24–48 h eine chemische Pneumonie. Darüber hinaus führen verschiedene Proteine und Phospholipasen zu einer direkten Inaktivierung des Surfactantsystems. Häufig ­bilden sich intrapulmonale Shunts und eine durch eine Konstriktion der Lungengefäße bedingte persistierende pulmonale Hypertonie aus, die zu einer Rekonstitution fetaler Zirkulationsverhältnisse führen kann.

jjÄtiopathogenese Mekonium besteht aus eingedickten intestinalen Sekreten und ­Zellen sowie löslichen und zellulären Fruchtwasserbestandteilen. Die wasserlöslichen Festsubstanzen bestehen u. a. aus Mukopolysacchariden, Plasmaproteinen, Proteasen, konjugiertem Bilirubin, die fettlöslichen Bestandteile u. a. aus Bilirubin, Bilirubinoiden, freien Fettsäuren, Cholesterin und Glykolipiden. Mekonium wird bereits von der 10.–16. Gestationswoche an im fetalen Gastrointestinaltrakt gefunden. Aufgrund einer intestinalen Hypomotorik wird nur selten ein Mekoniumabgang bei Frühgeborenen beobachtet. Die Häufigkeit des Auftretens von mekoniumhaltigem Fruchtwasser ist direkt mit der Reife der Neugeborenen verbunden und ist mit ­höheren Serumspiegeln des properistaltischen Hormons Motilin ­assoziiert. Bei fehlenden Hinweisen auf eine intrauterine oder subpartale Gefährdungssituation dürfte ein Mekoniumabgang v. a. ein reifeabhängiges Phänomen reflektieren. Eine akute intrauterine oder subpartuale kindliche Hypoxie kann, gerade in den letzten Gestationswochen, einen vorzeitigen Mekoniumabgang auslösen, der besonders bei einem Oligohydramnion ein sehr konsistentes „erbsbreiartiges“ Fruchtwasser hinterlassen kann. Der Abgang von partikelhaltigem und dickflüssigem Mekonium prädisponiert zur Entstehung eines Mekoniumaspirationssyndroms und zu komplizierten Erkrankungsverläufen. Die konnatale Listerioseinfektion kann eine Ursache für den vorzeitigen Mekoniumabgang bei Frühgeborenen sein.

jjKlinik Das klinische Bild wird vom Schweregrad der intrauterinen Asphyxie und dem Ausmaß der Mekoniumaspiration bestimmt. Die Neu­ geborenen fallen unmittelbar nach Geburt durch schwere Atem­ depression, Schnappatmung, Bradykardie, Hypotonie, Schocksymptome auf; die Haut ist mit Mekonium bedeckt, Fingernägel und Nabelschnur können grünlich verfärbt sein. Neugeborene mit Spontanatmung weisen eine Tachypnoe, ausgeprägte Dyspnoezeichen und evtl. eine Zyanose auf. Die Röntgenthoraxaufnahme zeigt dichte fleckige Infiltrate neben überblähten Arealen, abgeflachte Zwerchfelle und häufig extraalveoläre Luft (. Abb. 4.29).

jjPathophysiologie Im Verlauf einer intrauterinen oder subpartualen Hypoxie, die zu einer Vasokonstriktion mesenterialer Gefäße, Darmischämie, konsekutiver Hyperperistaltik und Sphinkterrelaxation führt, tritt ein frühzeitiger Mekoniumabgang auf. Die Aspiration von Mekoniumpartikeln kann durch eine hypoxieinduzierte vorzeitige Atemtätigkeit, die ein bestimmtes Muster aufweist, bereits in utero erfolgen; häufiger findet die Aspiration von Mekonium jedoch unmittelbar nach der Geburt statt. Bei >50% aller Neugeborenen mit mekoniumhaltigem Fruchtwasser lassen sich Mekoniumbestandteile im Tra-

jjPrävention Durch sorgfältiges fetales Monitoring sind die Warnzeichen der ­intrauterinen Hypoxie zu erkennen. Bestehen Hinweise auf eine kindliche Gefährdung, so ist die sofortige Geburtsbeendigung obligat. Bei allen Geburten, die durch mekoniumhaltiges Fruchtwasser auffallen, sollte umgehend ein erfahrener Kinderarzt zur postnatalen Versorgung des Neugeborenen hinzugezogen werden. Findet sich bei einem klinisch auffälligen Neugeborenen während der laryngoskopischen Inspektion des Kehlkopfs Mekonium unterhalb der Stimmbänder, so ist es unverzüglich mit einem dick-

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lumigen Katheter oder evtl. direkt über einen Endotrachealtubus abzusaugen. Bei größeren Mengen erbsbreiartigen Mekoniums in den Luftwegen sollte eine Bronchiallavage durchgeführt werden. Tierexperimentelle Untersuchungen und einzelne klinische Erfahrungsberichte weisen darauf hin, dass eine Bronchiallavage mit einer verdünnten Lösung einer natürlichen Surfactantpräparation (ca. 5 mg Phospholipide/ml) zu einer deutlichen Verbesserung der Oxygenierung und Ventilation führen. Auf eine primäre Maskenbeatmung ist – wenn möglich – zu verzichten. j jTherapie Die zum Teil außerordentlich schwierige Behandlung Neugeborener mit Mekoniumaspirationssyndrom schließt, zur Behandlung der Hypoxämie, eine konventionelle Beatmungstherapie, die Hochfrequenzoszillationsbeatmung, die Surfactantsubstitutionstherapie und den Einsatz von Stickstoffmonoxid (NO) ein. Als Ultima-ratioTherapie ist eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) zu erwägen. Einzelheiten der Therapie sind den Lehrbüchern der Neonatologie zu entnehmen. 4.7.3

Pneumothorax

j jEpidemiologie Ein spontaner asymptomatischer Pneumothorax tritt bei ca. 0,5–1% aller Neugeborenen auf. Die Pneumothoraxinzidenz bei maschinell beatmeten Frühgeborenen mit Atemnotsyndrom betrug vor Einführung der Surfactanttherapie 15–30%. Inzwischen wird diese Komplikation bei 3–6% aller beatmeten Frühgeborenen beobachtet. j jÄtiologie Ein symptomatischer Pneumothorax kann bei einer Reihe pulmonaler Erkrankungen Früh- und Neugeborener auftreten: Atemnotsyndrom, Mekoniumaspiration, Lungenhypoplasie, kongenitale Zwerchfellhernie, transitorische Tachypnoe, Aspirationspneumonie, Staphylokokkenpneumonie mit Pneumatozele, lobäres Emphysem, nach Thorakotomie. Ebenso findet es sich nach unsachgemäßer ­Reanimation und maschineller Beatmung. j jPathogenese Ein hoher intraalveolärer Druck, der durch erhöhten Spitzendruck und positiv endexspiratorischen Druck („positive endexpiratory pressure“, PEEP) bei maschineller Beatmung entsteht oder aber von tachypnoeischen spontanatmenden Kindern durch einen erhöhten sog. „Auto-PEEP“ gebildet wird, kann besonders in ungleich belüfteten Lungenarealen zu einer Überblähung von Alveolen und zu einer möglichen Ruptur der Alveolarwand führen. Die extraalveo­ läre Luft ist in der Lage, durch das interstitielle Gewebe und entlang  der perivaskulären Gefäßscheiden sowie der peribronchialen Lymphgefäße zu entweichen. In Abhängigkeit von der Ausbreitung der Luft ist mit einer Reihe von Komplikationen zu rechnen: interstitielles Emphysem, Pneumomediastinum, Spannungspneumothorax, Pneumoperitoneum, Pneumoperikard und subkutanes zervikales oder thorakales Emphysem. Ein Spannungspneumothorax entwickelt sich bei einer druckwirksamen Ansammlung von Luft im Pleuraspalt. Ein einseitiger Spannungspneumothorax führt nicht nur zu einer schweren Ventilationsstörung der betroffenen, gelegentlich kollabierten Lungen­ seite, sondern durch die Mediastinalverlagerung auch der kontralateralen Lunge. Daneben wird durch Kompression der V. cava oder Torsion der großen Gefäße der venöse Rückfluss erheblich beeinträchtigt. Bei der Entstehung des interstitiellen Emphysems schei-

nen nicht nur physikalische Faktoren von Bedeutung zu sein, sondern auch pulmonale Entzündungsvorgänge und proteolytische Lungengerüstschädigungen, die u. a. nach pränatalen Infektionen beobachtet wurden. jjKlinik Die klinischen Leitsymptome des gefürchteten Spannungspneumothorax sind: 44 plötzlich einsetzende Atemnot, 44 Zyanose, 44 Hypotension, 44 Schocksymptome, 44 Bradykardie, 44 Thoraxasymmetrie, 44 Verlagerung der Herztöne, 44 seitendifferentes Atemgeräusch. Gerade bei kleinen Frühgeborenen kann die Diagnose eines Spannungspneumothorax schwierig sein, da bei maschinell beatmeten Patienten nicht immer ein fehlendes oder abgeschwächtes Atem­ geräusch nachweisbar ist. jjDiagnose, Therapie In lebensbedrohlichen Situationen darf keine Zeit durch Anfertigung einer Röntgenaufnahme vergehen, es ist eine sofortige Pleurapunktion mit Entlastung des Pneumothorax durchzuführen. Anschließend wird eine Pleuradrainage unter optimalen Bedingungen gelegt. Die Transillumination des Thorax mit einer fiberoptischen Kaltlichtlampe erlaubt eine rasche Identifizierung des illuminierenden lufthaltigen Pleuraraums (. Abb. 4.30). 4.7.4

Lungenhypoplasie

jjDefinition Eine Lungenhypoplasie ist entweder Ausdruck einer gestörten Organanlage oder einer Ausreifungsstörung der fetalen Lunge, die durch verschiedene mit der normalen Lungenentwicklung inter­ ferierende Faktoren ausgelöst werden kann. jjÄtiopathogenese Eine Anlagestörung der Lunge wird bei seltenen Chromosomen­ aberationen beobachtet. Wesentlich häufiger entwickelt sich eine Lungenhypoplasie im Rahmen fetaler Grunderkrankungen oder Störungen, die mit der normalen Ausbildung der Alveolen interferieren. Ein Mangel an Fruchtwasser, der zu einem Verlust intraalveolärer Flüssigkeit in der vulnerablen Phase der Lungenentwicklung (vor der 26. Gestationswoche) führt, kann eine schwere Lungenhypoplasie nach sich ziehen. Eine bilaterale Nierenagenesie (Potter-Sequenz), Anhydramnie bei vorzeitigem Blasensprung oder Fruchtwasserverlust nach Amniozentese sind als Ursache der Lungenhypoplasie definiert. Aber auch fehlende intrauterine Atembewegungen der Feten, wie sie bei neuromuskulären Erkrankungen, Myasthenia gravis, Anenzephalie u. a. Erkrankungen beobachtet werden, können die normale Entwicklung nachhaltig beeinflussen. Eine Kompression der fetalen Lunge nach Malformation des Thorax führt bei verschiedenen Skeletterkrankungen (u. a. asphyxierende Thoraxdysplasie) zu einer Lungenhypoplasie. Auch andere Fehlbildungen wie die Zwerchfellhernie und Chylothorax können über eine Kompression des Lungengewebes die normale Wachstumsdynamik nachhaltig beeinträchtigen.

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a ..Abb. 4.30  Diagnose eines linksseitigen Pneumothorax durch Transillumination mit Hilfe einer Kaltlichtlampe (a); linksseitiger Spannungspneu-

b mothorax mit Verdrängung des Mediastinums nach rechts (Thoraxröntgenaufnahme) (b)

jjKlinik, Diagnose Die schwere Lungenhypoplasie manifestiert sich entweder unter dem Bild einer Asphyxie oder aber schwersten respiratorischen Insuffizienz. Die hypoplastischen Lungen lassen sich häufig auch unter intensiven Beatmungsmaßnahmen nicht wirksam eröffnen. Häufig treten bilaterale Pneumothoraces auf; einige Patienten ­entwickeln auf dem Boden einer primären pulmonalen Hypertonie eine persistierende fetale Zirkulation. Bei ausgeprägten Formen der Lungenhypoplasie ist die Prognose infaust. Die Thoraxröntgenaufnahme zeigt typischerweise schmale Lungen mit einem glockenförmigen Thorax (. Abb. 4.31). Die Diagnose ist allerdings häufig nur zu vermuten und wird anhand anamnestischer Risiken sowie­ des postnatalen Verlaufs nicht selten retrospektiv gestellt. Post ­mortem kann durch Bestimmung des Lungengewichts sowie mit­ hilfe morphometrischer Techniken die Verdachtsdiagnose verifiziert werden. jjTherapie Nur bei weniger ausgeprägten Formen der Lungenhypoplasie kann durch differenzierte Beatmungstechniken, Einsatz von Stickstoffmonoxid NO und ggf. Surfactantsubstitution (sekundärer Surfactantmangel) eine nachhaltige Stabilisierung der Lungenfunktion erzielt werden. 4.7.5

Neonatale Pneumonien

jjDefinition Eine neonatale Pneumonie entwickelt sich auf dem Boden einer intrauterinen, sub- oder postnatalen Infektion mit mütterlichen oder nosokomialen Erregern, u. a. durch Aspiration infizierten Fruchtwassers. Man kann davon ausgehen, dass bakteriell kontaminiertes Fruchtwasser oder infizierte Lungenflüssigkeit mit den ersten ­Atemzügen in die terminalen Atemwege gelangt und dort mit einer ­kurzen Latenz eine Entzündungsreaktion auslöst. Dieser Mechanis-

..Abb. 4.31  Radiologischer Befund einer ätiologisch ungeklärten Lungen­hypoplasie bei einem Frühgeborenem der 34. Gestationswoche

mus erklärt das oftmals symptomfreie Intervall nach der Geburt­ (. Abb. 4.32). jjPathogenese Pathogenese, Risikofaktoren und Erregerspektrum sind im 7  Abschn. 4.10.7 abgehandelt. Beatmete und intensivmedizinisch behandelte Früh- und Neugeborene sind besonders gefährdet, eine Pneumonie mit Pseudo­

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..Abb. 4.32  Ätiopathogenese der neonatalen Pneumonie. Bakteriell infizierte Lungenflüssigkeit gelangt mit den ersten Atemzügen des Neugeborenen in die terminalen Atemwege

monas- oder Klebsiellenspezies zu akquirieren. Chlamydien und ­Ureaplasmen kommen ebenfalls als Erreger von Pneumonien Früh-

..Abb. 4.33  Circulus vitiosus der perinatalen Hypoxie und postnataler ­Risikofaktoren, die zur Entwicklung einer pulmonalen Hypertonie und persistierenden fetalen Zirkulation führen

geborener vor. Seltener treten Mykoplasmen als Erreger auf.

>> Bei langzeitbeatmeten Frühgeborenen, die über längere Zeit antibiotisch behandelt wurden, ist immer an eine Pilzpneumonie, insbesondere mit Candida spp. zu denken.

j jKlinik Die klinische Symptomatik einer in den ersten Lebensstunden und Lebenstagen oder auch später auftretenden neonatalen Pneumonie verläuft häufig unter dem Bild eines progredienten Atemnot­ syndroms mit Tachypnoe, Einziehungen und Nasenflügeln. j jTherapie Die primäre antibiotische Behandlung muss gegen die poten­ziellen Mikroorganismen gerichtet sein (7 Abschn. 4.10.7). Bei Atem- und/ oder Kreislaufinsuffizienz der erkrankten Neugebo­renen wird die erforderliche Supportivtherapie durchgeführt. ­Chlamydien- und Ureaplasmapneumonien werden mit Erythro­ mycin behandelt, Pneumocystispneumonien mit Trimethoprim/Sulfamethoxazol. 4.7.6

Persistierende pulmonale Hypertonie (persistierende fetale Zirkulation)

j jDefinition Die persistierende pulmonale Hypertonie (PPH; syn. persistierende fetale Zirkulation) ist ein lebensbedrohliches Krankheitsbild, das auf dem Boden eines persistierenden erhöhten pulmonalen ­Gefäßdrucks durch einen signifikanten Rechts-links-Shunt über das offene Foramen ovale, über den persistierenden Ductus arteriosus und auch intrapulmonale Shunts ohne Hinweise auf eine strukturelle Herzerkrankung charakterisiert ist. jjÄtiologie Die PPH tritt überwiegend bei reifen und übertragenen Neuge­ borenen auf. Nach intrauteriner und subpartualer Hypoxie, mütterlicher Aspirin- und Indometacineinnahme während der Schwangerschaft, wurde eine Verdickung und Ausdehnung der Gefäßmus-

kulatur bis in kleine pulmonale Arterien hinein beschrieben. Am häufigsten entwickelt sich eine PPH sekundär bei Neugeborenen nach Mekoniumaspiration. Weitere Erkrankungen, in deren Folge sich eine PPH entwickeln kann, sind die subpartuale und postnatale Hypoxie, die neonatale Sepsis mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe B und Listerien, die Zwerchfellhernie, die Lungenhypoplasie, Pneumothorax, Hyperviskositätssyndrom, Hypoglykämie und Hypothermie sowie ein Atemnotsyndrom. Die PPH ist nicht selten idiopathisch. Die Prävalenz dieser Erkrankung wurde auf etwa 1 Neugeborenes pro 1.000 Lebendgeborene geschätzt. jjPathophysiologie Bei intranataler oder postnataler Hypoxie entwickelt sich rasch eine metabolisch-respiratorische Azidose. Die normalerweise durch Anstieg des paO2 und Abfall des paCO2 unmittelbar nach der Geburt einsetzende Dilatation der Lungenarterien bleibt aus; die Azidose induziert über eine pulmonale Vasokonstriktion eine pulmonale Hypertonie, die über das Foramen ovale, den Ductus arteriosus ­Botalli und intrapulmonale Shunts die Entwicklung eines persistierenden Rechts-links-Shunts nach sich zieht. Es bildet sich eine zunehmende O2-Untersättigung des arteriellen Bluts aus, die mit der postnatal einsetzenden Vasodilatation interferiert (. Abb. 4.33). Bei einigen dieser Patienten liegen bereits pulmonale Gefäßveränderungen im Sinne einer Mediahypertrophie vor, die Ausdruck einer chronischen intrauterinen Hypoxie sein könnten (primärer pulmonaler Hochdruck; andere Kinder haben als Grunderkrankung eine mehr oder weniger ausgeprägte Lungenhypoplasie). Potente Stimuli der pulmonalen Vasokonstriktion sind Leukotriene und weitere ­Lipidmediatoren, deren Freisetzung bei allen sekundären Formen der PPH durch Hypoxie, Infektionen und die im Verlauf verschiedenster Grunderkrankungen einsetzende Inflammationsreaktion gefördert wird. jjKlinik Die Neugeborenen erkranken in der Regel innerhalb der ersten 12 Lebensstunden. In Abhängigkeit von der Grunderkrankung ste-

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hen entweder die Zyanose (Polyzythämie, idiopatische PPH u. a.) oder die schwere Atemnotsymptomatik mit Zyanose (Mekonium­ aspiration, Zwerchfellhernie u. a.) im Vordergrund. Die Patienten können innerhalb kurzer Zeit ein Multiorganversagen oder Myokardischämie entwickeln. Die klinische Verdachtsdiagnose einer PPH kann durch die prä- und postduktale O2-Differenz und nicht zuletzt durch die Echokardiographie (einschließlich dopplersonographischer Diagnostik) bestätigt werden. Der Röntgenthoraxbefund ist bei einigen Erkrankungen unauffällig (Asphyxie, Hyperviskositätssyndrom etc.), bei anderen zeigt er die typischen Veränderungen der Grunderkrankung. jjTherapie Zu einer optimalen Behandlung gehört – wenn immer möglich – eine Korrektur der Grundproblematik sowie eine gezielte Supportivtherapie und Behandlung aller im Verlauf der Erkrankung aufgetretenen Komplikationen, wie z. B. Hypotension, myokardiale Dysfunktion, Azidose. Die Kinder sind zu sedieren und ggf. zu relaxieren. Der entscheidende therapeutische Ansatz ist eine suffiziente maschinelle Beatmung mit ausreichender Oxygenierung. Die früher geübte Hyperventilationstherapie mit einem pCO2 von 20–25 mmHg ist wegen der Drosselung der zerebralen Durchblutung heute obsolet. Zusätzlich wird das kurzzeitig wirksame und gut steuerbare Prostazyklin auch in inhalativer Form eingesetzt. Als vielversprechender neuer therapeutischer Ansatz ist die ­inhalative Behandlung mit NO („nitric oxide“, Stickstoffmonoxid) anzusehen. NO führt zu einer selektiven Vasodilatation der Pulmonalgefäße in den ventilierten Lungenarealen. Neugebo­rene, die auf keine dieser Maßnahmen ansprechen, werden einer Hochfrequenz­ oszillationsbeatmungstherapie zugeführt. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, um eine ausreichende ­Oxygenierung zu erreichen, so sollte der Patient mit einer extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) behandelt werden. Die international anerkannten Kriterien für ECMO-Therapie sind: ­Gestationsalter >34 Wochen, Geburtsgewicht >2.000 g, keine Gerinnungsstörung, fehlendes Ansprechen auf alle erwähnten therapeutischen Maßnahmen und das Vorliegen eines Oxygenierungsindex (OI) von 25–40 (mittlerer Atemwegsdruck [cmH2O] × FiO2 × 100/ paO2 [mmHg]). jjPrognose Die neonatale Sterblichkeit der PPH liegt bei 20–30%. In den wenigen Langzeituntersuchungen der überlebenden Kinder wird deutlich, dass nur ca. 40% diese Erkrankung unbeschadet überstehen; die restlichen Patienten weisen neurologische Folgeschäden in unterschiedlichster Ausprägung auf. Bei 20% der Kinder wurde ein neurosensorischer Hörverlust diagnostiziert. 4.7.7

jjÄtiologie Prädisponierende Faktoren für eine Lungenblutung sind eine neonatale Streptokokkenpneumonie, die perinatale Asphyxie, ­ Hypo­ ther­ mie, Azidose, Hypoglykämie, Gerinnungsstörungen, Herz­versagen, schwere Erythroblastose, Surfactanttherapie und O2-Toxizität. jjKlinik Akute Blutung aus Mund, Nase und den Atemwegen mit rasch progredientem Kreislauf- und Atmungsversagen. In den Röntgenthoraxaufnahmen zeigt sich eine zunehmende Verdichtung der Lunge. jjTherapie Unverzügliche Stabilisierung der Beatmungs- und Kreislaufsituation mit allen zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Maßnahmen sowie – wenn immer möglich – Behandlung der Grundproblematik. 4.7.8

Chylothorax

jjDefinition Unter einem Chylothorax wird eine Ansammlung von chylöser Flüssigkeit im Pleuraraum verstanden (. Abb. 4.34). jjEpidemiologie Ein angeborener Chylothorax ist ein seltenes Ereignis; häufiger werden erworbene Ansammlungen chylöser Flüssigkeit nach kardiochirurgischen Eingriffen beobachtet. Als Folge parenteraler Langzeiternährung über einen zentralen Venenkatheter wurden Thrombosierungen der oberen Hohlvene mit sekundärem Chylothorax beschrieben. jjÄtiopathogenese Die Ursache für die Entstehung eines angeborenen Chylothorax ist unklar; es wird ein angeborener Defekt des Ductus thoracicus ­vermutet. Bei Neugeborenen mit Down-, Noonan- und TurnerSyndrom sowie bei Hydrops fetalis tritt gelegentlich ein Chylothorax auf; ebenso wurde nach Geburtstraumata die Entwicklung chylöser Effusionen berichtet.

Lungenblutung

jjDefinition Eine akute, von den Alveolen ausgehende Lungenblutung, tritt überwiegend bei Frühgeborenen und hypotrophen Neugeborenen auf, die an verschiedensten Erkrankungen der Neonatalperiode l­eiden. jjEpidemiologie Während bei mehr als 10% verstorbener Neugeborener eine Lungenblutung autoptisch diagnostiziert wird, entwickelt sich dieses lebensbedrohliche Ereignis bei weniger als 5% aller Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht 65% auf. Risikokollektive sind reife oder postmature hypotrophe Neugeborene (intrauterine Wachstumsretardierung, chronische ­fetale Hypoxie), Patienten nach fetofetaler oder maternofetaler Transfusion, Neugeborene nach zu später Abnabelung, Kinder diabetischer Mütter, Nikotinabusus während der Schwangerschaft, Neugeborene mit Hyperthyreose oder Kinder mit angeborenen Erkrankungen (adrenogenitales Syndrom, Trisomie 21, BeckwithWiedemann-Syndrom). Bei einem Hämatokrit von >65% steigt die Blutviskosität exponenziell an. jjKlinik Die klinische Symptomatik ist außerordentlich vielfältig und reflektiert die Mikrozirkulationsstörungen und manifesten Durch­ blutungsstörungen der betroffenen Organsysteme. Die Neugeborenen fallen häufig durch ihr plethorisches oder auch blass-graues Hautkolorit und eine Belastungszyanose auf. Daneben finden sich Hyperexzitabilität, Myoklonien, Hypotonie, Lethargie und zerebrale Krampfanfälle. Bei einigen Kindern steht die kardiopulmonale ­sowie renale Symptomatik im Vordergrund: Atemnotsyndrom, persistierende pulmonale Hypertonie mit PFC-Syndrom, Herzinsuffizienz, Oligurie, Hämaturie und Nierenversagen. Die Neugebo-

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renen können foudroyante Verlaufsformen einer nekrotisierenden Enterokolitis sowie einen Ileus entwickeln. Daneben treten zum Teil

gravierende Thrombozytopenien, Hypoglykämien, Hypokalzämien und ausgeprägte Hyperbilirubinämien auf.

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j jTherapie Beim Auftreten erster Symptome muss unverzüglich eine partielle modifizierte Austauschtransfusion durchgeführt werden. Zur Senkung des Hkt auf 55% wird kindliches Blut gegen Plasma oder eine Albuminlösung simultan ausgetauscht (Hämodilution).

Icterus neonatorum und ­Hyperbilirubinämie

nicht nur von der Gesamtkonzentration des Transporteiweißes bestimmt, sondern auch von im Blut vorhandenen Faktoren, die mit Bilirubin um die Albuminbindungsstellen konkurrieren. Zu diesen Substanzen, die zu einer Verdrängung des Bilirubins aus der Albuminbindung führen können, gehören freie Fettsäuren, Steroid­ hormone und Medikamente (Sulfonamide, Salizylate u. a.); eine verminderte Bindungsaffinität des Albuminmoleküls wird bei Azidose beobachtet. 4.8.6

Physiologischer Ikterus

jjKlinik Unter normalen Bedingungen beträgt der Bilirubinspiegel im Nabelschnurblut 1–3 mg/dl. Vor dem Hintergrund der Besonderheiten Bilirubinstoffwechsel  Durch den Abbau von Hämoglobin (→ Bi- des Bilirubinstoffwechsels entwickeln mehr als die Hälfte aller reifen liverdin) im retikuloendothelialen System entsteht wasserunlös­ Neugeborenen und nahezu 80% aller Frühgeborenen 2–3 Tage nach liches unkonjugiertes Bilirubin ①. Aus 1 g Hämoglobin werden­ der Geburt einen physiologischen Ikterus, der am 4.–5. Lebenstag ca. 35 mg Bilirubin gebildet. Im Blut bindet sich das unkonjugierte seinen Höhepunkt erreicht und dann langsam abklingt. Bis zu 7% Bilirubin an Albumin. Man geht davon aus, dass Albumin eine pri- aller Neugeborenen haben maximale indirekte Bilirubinspiegel von märe und sekundäre Bindungsstelle mit unterschiedlicher Affinität mehr als 13 mg/dl und nahezu 3% von mehr als 15 mg/dl. Bei diesen für Bilirubin besitzt. Nach Transport zur Leberzelle dissoziiert das Kindern findet man häufig eine Reihe von Risikofaktoren: ethnische Bilirubin vom Albumin und wird aktiv mit Hilfe der Transportpro- Zugehörigkeit (Chinesen, Koreaner, Japaner), Höhe über Meeresteine Y und Z (Ligandine) in das Zellinnere geschleust ②. Dort er- spiegel, Polyzythämie, männliches Geschlecht, Muttermilchernähfolgt die Konjugation durch die UDP-Glukuronyltransferase ③; das rung, starker Gewichtsverlust, verzögerte Stuhlentleerung u. a. Der an Uridin-5’-di-Phosphat-Glukuronsäure gekoppelte Bilirubin ist Ikterus fällt in der Regel bei Bilirubinkonzentrationen von 5 mg/dl wasserlöslich und wird über das biliäre System in den Darm ausge- zuerst im Gesicht auf und breitet sich dann kaudal aus; die Kinder sind nicht beeinträchtigt. Bei Frühgeborenen kann der Ikterus schieden (④; . Abb. 4.36). ausgeprägter sein, das Maximum des Bilirubinanstiegs tritt­ ­ Besonderheiten beim Neugeborenen  Der Bilirubinstoffwechsel später auf und der Ikterus hält länger an. Viele Neugeborene er­ des Neugeborenen weist im Vergleich zum Erwachsenen einige reichen nach c­ a. 14 Tagen mit Erwachsenen vergleichbare Serum­ ­Besonderheiten auf, die die Entstehung des physiologischen Neuge- bilirubinspiegel. borenenikterus erklären: jjTherapie 44 eine 2- bis 3-fach höhere Bilirubinproduktion bedingt durch Die meisten Neugeborenen mit physiologischem Ikterus bedürfen die höhere Erythrozytenzahl und Hämoglobinkonzentration, keiner speziellen Behandlung. Eine Phototherapie ist nur bei Über44 die verkürzte Erythrozytenüberlebenszeit (Neugeborene schreiten eines festgelegten Grenzwerts indiziert. ­70–90 Tage, Erwachsene 120 Tage), 44 die Hydrolyse des in den Darm gelangten glukuronidierten ­Bilirubins durch intestinale Glukuronidasen und vermehrte Phototherapie  Durch sichtbares Licht (Wellenlänge 425–475 nm) wird das in der Haut vorhandene Bilirubin zu nichttoxischen BiliruRückresorption des Bilirubins aus dem Darm („enterohepatibinisomeren umgeformt; diese wasserlöslichen Substanzen können scher Kreislauf “). ohne Glukuronidierung mit der Galle und dem Urin ausgeschieden Dieser Vorgang wird durch eine verzögerte Darmpassage des meko- werden. Eine optimale Isomerisierung des Bilirubins findet im Beniumhaltigen Darms und die fehlende intestinale Kolonisation­ reich des normalen Adsorptionsspektrums statt; blaues Licht mit mit Bakterien, die Bilirubin in Urobilinogen und Sterkobilinogen einer Wellenlänge von 445 nm ist daher besonders zur Behandlung umwandeln, verstärkt. Weiterhin besteht eine relative Defizienz­ der Hyperbilirubinämie geeignet (. Abb. 4.37). Bei reifen Neuge­ der hepatischen Transportproteine Y und Z sowie der Glukuronyl- borenen mit physiologischem Ikterus ohne weitere Risikofaktoren transferaseaktivität. Die Bindungskapazität des Albumins wird­ sollte eine Phototherapie nach dem 3. Lebenstag erst bei Bilirubin-

4.8.5

..Abb. 4.36  Schematische Darstellung des Bilirubinstoffwechsels (ER endoplasmatisches Retikulum, GK Gallenkapillare; Erläuterungen 7 Text)

115 Neonatologie

behandeln, ein Unterbrechen des Stillens ist in der Regel nicht angezeigt. 4.8.8

Ikterus bei Frühgeborenen

jjÄtiopathogenese Eine Reihe von Beobachtungen deuten darauf hin, dass sehr kranke kleine Frühgeborene besonders gefährdet sind, eine Bilirubinenzephalopathie zu entwickeln. Die Albuminkonzentrationen sind im Vergleich zu reifen Neugeborenen häufig deutlich erniedrigt; verschiedene Faktoren wie Azidose, erhöhte Freisetzung von Fettsäuren während einer Hypothermie und Hypoglykämie interferieren mit der Bilirubin-Albumin-Bindung. ..Abb. 4.37  Neugeborenes mit Hyperbilirubinämie während einer ­Phototherapie mit blauem Licht, eine kontinuierliche Monitorüberwachung ist sicherzustellen

serumspiegeln von >16 mg/dl begonnen werden. Neuere deutschsprachige Richtlinien setzen die Behandlungsgrenze in dieser Pa­ tientengruppe bei 18 mg/dl an. Durch kritiklose Anwendung von speziell für hämolytische Erkrankungen erstellten Therapieschemata werden zu viele Neugeborene ohne klare Indikationsstellung einer Phototherapie unterzogen. Nebenwirkungen dieser Therapie sind Diarrhö, vermehrter Flüssigkeitsverlust, Temperaturinstabilität und Dehydratation. Durch das blaue Licht der Phototherapielampe ist die Hautfarbe des Neugeborenen nicht mehr zu beurteilen; bedrohliche klinische Veränderungen und Erkrankungen (u. a. neonatale Infektion) ­werden möglicherweise trotz einer Monitorüberwachung zu spät erkannt. Die Neugeborenen müssen daher regelmäßig klinisch untersucht werden (. Abb. 4.37). !! Cave Die zum Schutz von potenziellen Retinaschäden zu applizieren­ den Schutzbrillen können zur Verlegung der Nasenwege ­führen.

4.8.7

Muttermilchikterus

jjÄtiologie Ein länger bekanntes Phänomen ist der deutliche Anstieg des unkonjugierten, indirekten Bilirubins unter Muttermilchernährung. Obwohl die exakte Ursache dieser Ikterusform bis heute nicht ­geklärt ist, wird vermutet, dass entweder Pregnandiol oder nicht veresterte, langkettige Fettsäuren die konjugierende Aktivität der hepatischen Glukuronyltransferase kompetitiv hemmen. Erst vor Kurzem wurde eine erhöhte Aktivität von β-Glukuronidase in der Muttermilch nachgewiesen; ein erhöhtes enterohepatisches „­ Recycling“ könnte ebenfalls die erhöhten Bilirubinkonzentrationen erklären. jjVerlauf, Therapie Mit Muttermilch ernährte Neugeborene haben im Vergleich zu mit Formula ernährten Kindern häufiger höhere Bilirubinspiegel; therapeutische Konsequenzen ergeben sich bei den meisten Neugeborenen nicht. Allerdings entwickelt 1 von 200 mit Muttermilch ernährten Neugeborenen zwischen dem 4.–7. Lebenstag einen deutlichen Anstieg der Bilirubinkonzentration, das Maximum wurde bei einigen Neugeborenen erst in der 3. Lebenswoche erreicht. Nur wenige Neugeborene mit Muttermilchikterus sind mit Phototherapie zu

jjTherapie Eine Phototherapie muss bei Frühgeborenen bereits bei niedrigeren Bilirubinspiegeln als bei Neugeborenen eingeleitet werden. Die differenzierten Indikationen sind in den Lehrbüchern der Neonatologie dargestellt. 4.8.9

Pathologische Hyperbilirubinämie

jjÄtiopathogenese Neben Erkrankungen, die mit einer gesteigerten Hämolyse einhergehen, können pathologische Erhöhungen des indirekten Bilirubins bei angeborenen Defekten der Glukuronidierung, bei erhöhtem ­Bilirubinanfall durch vermehrten Erythrozytenabbau sowie durch eine vermehrte enterale Rückresorption von Bilirubin erfolgen. Ätiologie der indirekten Hyperbilirubinämie (Erhöhung des unkonjugierten Bilirubins) 55Gesteigerte Hämolyse –– Blutgruppeninkompatibilität –– Rh, AB0, Kell, Duffy u. a. –– Neonatale Infektionen –– Bakteriell –– Viral –– Genetisch bedingte hämolytische Anämien –– Enzymdefekte: Glukose-6-Phosphatdehydrogenase, Pyruvatkinase –– Membrandefekte: Sphärozytose u. a. –– Hämoglobinopathien (homozygote a-Thalassämie) 55Keine Hämolyse –– Verminderte Bilirubinkonjugation –– Physiologischer Ikterus –– Muttermilchikterus –– Kinder diabetischer Mütter –– Crigler-Najjar-Syndrom (genetisch bedingter Glukuronyltransferasemangel) –– Gilbert-Meulengracht-Syndrom (verminderte Bilirubinaufnahme in Leberzelle) –– Hypothyreose –– Medikamente (Pregnandiol) –– Vermehrter Bilirubinanfall –– Polyzythämie –– Organblutungen, Hämatome –– Vermehrte enterale Rückresorption von Bilirubin –– Intestinale Obstruktion –– Unzureichende Ernährung (verminderte Peristaltik)

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4.8.10

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Morbus haemolyticus neonatorum

j jAllgemeine Ätiopathogenese Die häufigsten Ursachen für einen Morbus haemolyticus neonatorum sind Blutgruppenunverträglichkeiten zwischen Mutter und Fetus, die Rhesus-Inkompatibilität (Rh), die AB0-Erythroblastose und seltene Unverträglichkeiten gegen andere erythrozytäre Anti­ gene (Kell, Duffy u. a.). Durch Übertritt von fetalen inkompatiblen Erythrozyten während der Schwangerschaft oder vorherige Transfusion mit nicht blutgruppengleichen Erythrozyten (Sensibilisierung) reagiert das mütterliche Immunsystem mit der Bildung spezifischer IgG-Antikörper. Diese Immunglobuline sind plazentagängig und binden sich nach Übertritt auf das Kind an spezifische Antigenstrukturen fetaler Erythrozyten. Die Folge ist ein vorzeitiger und ­vermehrter Abbau der fetalen Erythrozyten; der Fetus beantwortet diese In-utero-Hämolyse mit einer Steigerung vorwiegend der extramedullären Blutbildung (Leber, Milz), es gelangen unreife Erythrozyten (Erythroblasten) in die kindliche Blutbahn. Das durch die gesteigerte Hämolyse anfallende indirekte Bilirubin wird über­ ..Abb. 4.38  Charakteristische Bilirubinablagerungen in den Stammgandie Plazenta transportiert und vom hepatischen Enzymsystem der glien bei Bilirubinenzephalopathie Mutter glukuronidiert und biliär ausgeschieden, selbst bei schwerer fetaler Hämolyse sind die kindlichen Bilirubinkonzentrationen intrauterin kaum erhöht. Industrienationen wird aber inzwischen eine zunehmende Anzahl von Kindern beobachtet, die an den Folgen einer Bilirubinenzaphalopathie leiden. Ziel aller in der Peri- und Neonatalmedizin tätigen 4.8.11 Kernikterus, Bilirubinenzephalopathie Ärzte, Hebammen und Kinderkrankenschwestern muss es sein, die Früh- und Neugeborenen mit einem erhöhten Risiko für eine Hyj jÄtiologie perbilirubinämie frühzeitig zu identifizieren und einer adäquaten Unkonjugiertes, nicht an Albumin gebundenes Bilirubin kann auf- Therapie zuzuführen. grund seiner lipophilen Eigenschaften leicht in das zentrale Nervensystem eindringen. Es inhibiert den neuronalen Metabolismus (eine Hemmung der oxidativen Phosphorylierung) und hinterlässt eine 4.8.12 AB0-Erythroblastose irreversible Schädigung im Bereich der Basalganglien, des Globus pallidus, des Nucleus caudatus (Kernikterus), des Hypothalamus, jjEpidemiologie einiger Kerngebiete von Hirnnerven und auch der Großhirnrinde Mit einer AB0-Unverträglichkeit ist bei ca. 1 von 200 Neugeborenen (. Abb. 4.38). Bei einer erhöhten Permeabilität der Blut-Hirn- zu rechnen. Schranke (schwere Anämie, Hypoxie, Hydrops) kann auch an AlbujjPathogenese min gebundenes Bilirubin in das Hirngewebe übertreten. Im Gegensatz zur Rh-Inkompatibilität tritt die AB0-Erythroblastose j jPathogenese häufig in der ersten Schwangerschaft auf. Mütter mit der Blut­ Die Entstehung einer Bilirubinenzephalopathie wird von folgenden gruppe 0 haben natürlich vorkommende Anti-A- und Anti-B-AntiFaktoren beeinflusst: Lebensalter und Reifegrad der Kinder, Über- körper (Isoagglutinine), die zur Gruppe der IgM-Antikörper gehöschreiten der Albuminbindungskapazität durch zu hohe Bilirubin- ren und deshalb nicht die Plazenta passieren. Dennoch bilden einige spiegel, Verminderung der Bindungskapazität bei Hypalbuminämie, Schwangere plazentagängige IgG-Antikörper, die gegen die kind­ Verdrängung des Bilirubins durch Gallensäuren, freie Fettsäuren liche Blutgruppeneigenschaft A, B oder AB gerichtet sind. Die müt(Hypoglykämie!) oder Medikamente und Veränderungen bzw. terliche IgG-Antikörperbildung kann vermutlich durch exogene Schädigung der Blut-Hirn-Schranke nach Asphyxie, Hypoxie, neo- Ursachen, wie z. B. Darmparasiten stimuliert werden. Als weitere nataler Meningitis und anderen Erkrankungen. Ursache wird der Übertritt kindlicher Erythrozyten in die mütterliche Zirkulation vermutet, da die Antigenität der kindlichen Blutj jKlinik gruppeneigenschaften erst gegen Ende der Schwangerschaft voll Die Frühsymptome der Bilirubinenzephalopathie sind: Apathie, ausgebildet ist, erklärt sich der im Vergleich zur Rh-Inkompatibilität Hypotonie, Trinkschwäche, Erbrechen, abgeschwächte Neugebore- milde Verlauf der hämolytischen Erkrankung beim ersten Neugebonenreflexe und schrilles Schreien. Danach fallen die Neugeborenen renen sowie die Tatsache, dass Frühgeborene nur extrem selten an durch eine vorgewölbte Fontanelle, eine opisthotone Körperhaltung, einer AB0-Inkompatibilität erkranken. Der Schweregrad der hämomuskuläre Hypertonie und zerebrale Krampfanfälle auf. Überle­ lytischen Erkrankung Neugeborener nimmt bei nachfolgenden bende Kinder weisen häufig eine beidseitige Taubheit, choreoathe- Schwangerschaften in der Regel nicht zu. Der Grund liegt vermutlich in einer Suppression der IgG-Antikörperbildung durch die natürlich toide Bewegungsmuster sowie eine mentale Retardierung auf. vorkommenden IgM-Anti-A- oder Anti-B-Antikörper. j jTherapie Keine therapeutische Maßnahme kann diese irreversible Schädi- jjKlinik gung rückgängig machen. In der heutigen Zeit sollte diese vermeid- Die Neugeborenen weisen meistens nur eine geringgradige Anämie bare Komplikation nicht mehr auftreten. Gerade in den westlichen auf; es besteht nur selten eine Hepatosplenomegalie; die Kinder ent-

117 Neonatologie

..Tab. 4.8  Unterschiede zwischen der Rh- und AB0-Inkompatibilität Inkompatibilität Rh

AB0

Erkrankung bei erster Schwangerschaft

Selten

Häufig

Frühzeitige Anämisierung des Kindes

++

+

Hyperbilirubinämie während der ersten 24 h post partum

++

+

Erythroblasten

+++

+

Sphärozyten

±

++

Retikulozyten

++

+ bis ++

Direkter Coombs-Test (Kind)

+++

– bis +

Indirekter Coombs-Test (Mutter)

+++

±

wickeln keinen Hydrops. Im peripheren Blut finden sich neben ­Retikulozyten und Erythroblasten als Ausdruck der gesteigerten Erythropoese Sphärozyten, die infolge der komplementvermittelten Hämolyse durch Fragmentation entstehen. Erkrankte Neugeborene sind lediglich durch die Hyperbilirubinämie und das damit verbundene Risiko einer Bilirubinenzephalopathie gefährdet.

Bluttransfusionen ausgeschlossen ist. Unter der Geburt und bei der Plazentalösung kann eine größere Menge kindlicher Erythrozyten in die mütterliche Blutbahn übertreten. Die Rh-Erythroblastose bei unterlassener Rh-Prophylaxe manifestiert sich typischerweise während der 2. und weiteren Schwangerschaften mit zunehmendem Schweregrad der fetalen Erkrankung, die in einen Hydrops fetalis einmünden kann. jjKlinik In Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung bestehen: eine mehr oder weniger ausgeprägte Anämie, ein Icterus praecox (Gesamtbilirubin >7 mg/dl innerhalb der ersten 24 Lebensstunden), ein Icterus gravis (Gesamtbilirubin >15 mg/dl bei reifen Neugeborenen), und als Ausdruck der extramedullären Blutbildung eine Hepatosplenomegalie. Als Zeichen der gesteigerten Hämatopoese sind Erythroblasten und Retikulozyten im peripheren Blut in großer Zahl nachweisbar. Hydrops fetalis  Bei schwerer fetaler Anämie (Hämoglobin > Unmittelbar nach der Geburt kann die Konzentration des indirekten Bilirubins stark ansteigen; es sind daher engstmaschige Bilirubinbestimmungen erforderlich.

Antikörpern und verfügbarem Bilirubin eliminiert. Als Komplika­ tionen der Blutaustauschtransfusion können Infektionen (u. a. Sep-

sis), Katheterperforation, Pfortaderthrombose, Hypotension, Azidose, nekrotisierende Enterokolitis und Elektrolytentgleisungen auftreten. Nach einem Blutaustausch besteht häufig eine Anämie und Thrombozytopenie; durch eine zusätzliche kontinuierlich durchgeführte Phototherapie kann die Zahl von mehrfachen Austauschtransfusionen gesenkt werden.

jjPrävention Durch Gabe eines Anti-D-Immunglobulins innerhalb von 72 h nach der Geburt kann die Sensibilisierung einer Rh-negativen Mutter durch die Rh-positiven fetalen Erythrozyten häufig vermieden werden. Die Anti-D-Prophylaxe muss bei Rh-negativen Frauen auch nach Aborten, Amniozentesen oder unsachgemäßer Transfusion mit Rh-positivem Blut durchgeführt werden. >> In der ersten Schwangerschaft kann eine maternale Immunglobulinprophylaxe in der 28. Gestationswoche und unmittelbar postnatal die Sensibilisierung auf weniger als 1% reduzieren.

Nach bisherigen Kenntnissen scheint die im letzten Trimenon durchgeführte Anti-D-Prophylaxe beim Neugeborenen keine klinisch signifikante Hämolyse auszulösen. jjPrognose Trotz adäquater Initialbehandlung entwickeln die Kinder aufgrund der noch vorhandenen Anti-D-Antikörper häufig eine über meh­ rere Wochen anhaltende Spätanämie. Bei erhöhten Retikulozytenzahlen und asymptomatischem Kind ist keine weitere Therapie not­ wendig. Stellen sich eine persistierende Tachykardie sowie andere Zeichen der chronischen Anämie ein, so ist eine weitere Transfusion indiziert. Selten wird eine Pfortaderthrombose nach Austauschtransfusion beobachtet; diese schwerwiegende Komplikation ist ­therapeutisch nicht zu beeinflussen.

j jTherapie Intrauterine Therapie des Feten  Bei ausgeprägter fetaler Anämie ist eine intrauterine Transfusion durch Kordozentese in die Nabelvene erforderlich; bei ersten Zeichen eines Hydrops fetalis ist eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft durch Sectio caesarea notwendig. Phototherapie  Bei leichten Verläufen (einer Rh-Inkompatibilität)

kann eine Phototherapie unter Umständen in 3 Ebenen zur Behandlung der Hyperbilirubinämie ausreichen. Die Indikation für den Beginn einer Phototherapie hängt vom Gestationsalter, Lebensalter, Höhe der Bilirubinkonzentration, Dynamik des Bilirubinanstiegs, von dem Ausmaß der Anämie und anderen Risikofaktoren ab.

Austauschtransfusion  Zur Vermeidung der Bilirubinenzephalopathie wird nach wie vor eine Austauschtransfusion reifer Neugeborener bei Bilirubinserumkonzentrationen >20 mg/dl empfohlen; bei schweren Grunderkrankungen (Asphyxie, neonatale Sepsis, ­hämolytische Anämie u. a.) sowie einer Hyperbilirubinämie in den ersten 3 Lebenstagen liegt die Austauschgrenze in dieser Gruppe niedriger. Für Frühgeborene gelten besondere Austauschgrenzen (Frühgeborene mit einem Gewicht von >1.500 g: >15 mg/dl, ­Frühgeborene >1.000 g: >10 mg/dl). Der Blutaustausch erfolgt mit kompatiblem Spendervollblut in 5- bis 20-ml-Portionen über einen liegenden Nabelvenenkatheter; durch diese Maßnahme wird das­ 2- bis 3-fache Blutvolumen eines Neugeborenen ausgetauscht, d. h. ca. 90% der kindlichen Erythrozyten werden neben mütterlichen

4.8.14

Weitere hämolytische Erkrankungen

Blutgruppenunverträglichkeiten gegen andere Erythrozytenantigene [c, E, Kell (K), Duffy u. a.] sind für weniger als 5% aller hämolytischen Erkrankungen der Neonatalperiode verantwortlich. Der direkte Coombs-Test ist bei diesen Unverträglichkeiten immer positiv. Kongenitale Infektionen mit verschiedenen Erregern sowie neonatale Infektionen können eine nichtimmunologische Hämolyse induzieren. Die homozygote α-Thalassämie kann sich ebenfalls unter dem Bild einer schweren hämolytischen Anämie mit Hydrops fetalis präsentieren; auch bei dieser und den folgenden Erkrankungen ist der direkte Coombs-Test negativ. Hämolytische Anämie und ausgeprägte Hyperbilirubinämie mit Gefahr der Bilirubinenzephalopathie werden bei Neugeborenen mit hereditärer Sphärozytose oder angeborenen Enzymdefekten, wie dem Pyruvatkinase- oder Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel beobachtet.

4.8.15

Direkte Hyperbilirubinämie

Eine direkte Hyperbilirubinämie (direktes, konjugiertes Bilirubin >2 mg/dl) wird bei einer Reihe angeborener und erworbener hepatischer sowie extrahepatischer Erkrankungen. Größere Schwierigkeiten bereitet es, die extrahepatische Gallengangsatresie von der neonatalen Hepatitis abzugrenzen. Bei einigen Kindern konnte inzwischen belegt werden, dass eine Hepatitis der Entwicklung einer

119 Neonatologie

Gallengangsatresie vorausging. Eine nicht unerhebliche Anzahl Neugeborener mit prolongierter direkter Hyperbilirubinämie hat als Grunderkrankung einen α1-Antitrypsinmangel (α1-ProteinaseInhibitor). Ebenso wird ein cholestatischer passagerer Ikterus häufig bei Früh- und Neugeborenen beobachtet, die eine langzeitige parenterale Ernährung erhalten. Als Ursache wird weniger die Infusion mit Lipiden, als die Gabe bestimmter Aminosäuren vermutet. Ätiologie der direkten Hyperbilirubinämie (Erhöhung des konjugierten Bilirubins) 55Intrahepatische Cholestase –– Neonatale Hepatitis (B) –– Perinatale Infektionen (CMV u. a.) –– Syndrom der eingedickten Galle –– Parenterale Ernährung –– α1-Antitrypsinmangel (α1-Proteinasemangel) –– Galaktosämie, Tyrosinose –– Intrahepatische Gallengangshypoplasie (Alagille-Syndrom) 55Extrahepatische Cholestase –– Gallengangsatresie –– Choledochuszyste –– Zystische Fibrose (Mukoviszidose)

4.8.16

Weißes Blutbild Neugeborener

..Abb. 4.40  Gesamtzahl der neutrophilen Granulozyten gesunder Neugeborener im Verlauf der ersten 28 Lebenstage

die Knochenmarkreserven sind durch die geburtsbedingte Mobilisierung der Granulozyten erschöpft. Nach Regeneration der Knochenmarkreserven entwickeln Neugeborene, die nach dem 3. Lebenstag an einer Sepsis erkranken, häufig eine Granulozytose. In der Regenerationsphase einer neonatalen Infektion kann gelegentlich eine leukämoide Reaktion beobachtet werden. 4.8.17

Die peripheren Gesamtleukozytenzahlen sowie die Verteilung der einzelnen Leukozytensubpopulationen unterscheiden sich während der Neonatalperiode deutlich von denen späterer Lebensalter. Im Zusammenhang mit dem Geburtsvorgang werden physiologischerweise die Knochenmarkreserven der Früh- und Neugeborenen mobilisiert, d. h. die Zahl unreifer und reifer Granulozyten steigt in der Peripherie an. Das Maximum der Granulozytose ist 12 h post partum erreicht, im Verlauf der ersten 3 Lebenstage fällt die Zellzahl kontinuierlich ab. Eine stabile obere Normgrenze findet sich vom 5. Lebenstag an. In . Abb. 4.40 sind die Gesamtzahl der neutrophilen Granulozyten und der unreifen Granulozyten (Stabkernige und ­jugendliche Formen) während der Neonatalperiode dargestellt. Erniedrigte Gesamtzahlen der neutrophilen Granulozyten werden nach mütterlicher Hypertonie, EPH-Gestose und viralen konnatalen Infektionen beobachtet; sie sind möglicherweise Ausdruck einer verminderten Bildung von Granulozyten im kindlichen Knochenmark. Daneben tritt eine Neutrozytopenie häufig bei Neugeborenen mit neonataler Sepsis auf; im Verlauf der Erkrankung werden überwiegend periphere neutrophile Granulozyten verbraucht,

Neonatale Thrombozytopenie

jjÄtiologie Die wesentlichen maternalen und kindlichen Ursachen und Erkrankungen, die eine neonatale Thrombozytopenie ( Als idealer Spender kompatibler Thrombozyten kommt daher nur die Mutter in Frage. Das Verfahren der Thrombozytenisolierung durch Zellseparation wird auch unmittelbar nach der Geburt von den Müttern gut toleriert.

Einige Neugeborene sprechen auch auf eine hochdosierte i.v.-Immunglobulintherapie an. Bei erneuter Schwangerschaft einer sensibilisierten Mutter besteht ein hohes Risiko für das Kind, an einer Alloimmunthrombozytopenie zu erkranken. Der durch Nabelschnurpunktion erfolgte Nachweis einer fetalen Thrombozytopenie kann eine repetitive Inutero-Transfusion von kompatiblen Thrombozyten erfordern. Der therapeutische Effekt einer hochdosierten mütterlichen Therapie mit Gammaglobulinpräparaten ist aufgrund der unzureichenden Datenlage noch nicht zu beurteilen. 4.8.19

Koagulopathien

In der Neonatalperiode werden nicht selten Störungen der plasmatischen Blutgerinnung beobachtet; sie können Ausdruck einer ange-

borenen Defizienz an Gerinnungsfaktoren (7 Hämophilie 7 Kap. 23), eines Vitamin-K-Mangels oder einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung (DIC, „disseminated intravascular coagulation“) sein. Neugeborene haben erniedrigte Plasmakonzentrationen nahezu aller Gerinnungsfaktoren, besonders die Synthese der vitamin-Kabhängigen Faktoren II, VII, IX und X ist gestört. Es gibt keinen diaplazentaren Übertritt von Gerinnungsfaktoren. 4.8.20

Morbus haemorrhagicus neonatorum (Vitamin-K-Mangel)

jjDefinition Der Morbus haemorrhagicus neonatorum ist eine durch einen ­Vitamin-K-Mangel ausgelöste potenziell lebensbedrohliche Erkrankung, die durch präventive Vitamin-K-Substitution verhindert werden kann. jjEpidemiologie Bei ca. 1 von 200 Neugeborenen, die keine postnatale Vitamin-KProphylaxe erhalten haben, tritt ein unerwartetes Blutungsereignis innerhalb der ersten Lebenswochen auf. jjÄtiologie Vitamin K ist für die hepatische Synthese von Prothrombin, Faktor VII, IX und X verantwortlich. Ein Vitamin-K-Mangel kann sich bei Neugeborenen zu verschiedenen Zeitpunkten manifestieren: Eine am 1. Lebenstag aufgetretene Blutung wird nach mütterlicher Medikamenteneinnahme beobachtet. Phenytoin, Phenobarbital, Primidon, Salizylate, Antikoagulanzien u. a. beeinträchtigen den Vitamin-K-Metabolismus Neugeborener, eine mütterliche Heparinbehandlung dagegen hat keine Auswirkungen auf das kindliche ­Gerinnungssystem. Die typische Vitamin-K-Mangelblutung des reifen Neugeborenen tritt vom 3.–7. Lebenstag überwiegend bei mit Muttermilch ernährten Kindern auf; Muttermilch hat nur einen geringen Vitamin-K-Gehalt. Bei allen Früh- und Neugeborenen, die einer antibiotischen Langzeitbehandlung oder einer parenteralen Ernährung unterzogen sind, können sich bei mangelnder VitaminK-Substitution im Verlauf der Neonatalperiode bedrohliche Blutungen entwickeln. Eine Spätmanifestation des Vitamin-K-Mangels im Alter von 4–12 Wochen kann bei mit Muttermilch ernährten Säug-

121 Neonatologie

lingen, besonders aber bei Kindern mit einer Vitamin-K-Malabsorption auftreten (Mukoviszidose, cholestatischer Ikterus u. a. bei Gallengangsatresie, Wachstumshemmung der vitamin-K-produzierenden intestinalen mikrobiellen Flora durch Antibiotika). jjKlinik Eine Vitamin-K-Mangelblutung ist immer dann zu vermuten, wenn ein gesund wirkendes Neugeborenes spontane Hämorrhagien entwickelt: Hämatemesis, gatrointestinale Blutung (Melaena vera), Epistaxis, Nabelschnur- und Hautblutungen, intrakranielle Blutung u. a. jjDifferenzialdiagnose Eine in den ersten Lebenstagen auftretende Hämatemesis oder Meläna kann auch durch mütterliches, bei der Geburt verschlucktes Blut verursacht sein. >> Mithilfe des Alkaliresistenztests (Apt-Test) kann in kürzester Zeit entschieden werden, ob es sich um kindliches oder mütterliches Blut handelt.

Kindliche Erythrozyten enthalten überwiegend alkaliresistentes ­Hämoglobin F, sie werden in einer Lösung von 1% Natronlauge nicht denaturiert, die Lösung bleibt rötlich gefärbt. Die mütterlichen, ­Hämoglobin A enthaltenen Erythrozyten dagegen werden sofort zerstört, die Lösung bekommt eine gelblich-braune Farbe. jjPrävention, Therapie Bei manifester Vitamin-K-Mangelblutung (Risikopatienten, Vitamin-K-Malabsorption) muss unverzüglich Vitamin K i.v. appliziert werden, zusätzlich kann die Gabe von Frischplasma notwendig sein. Höhere Dosen von Vitamin K sind bei mütterlicher Medikamenteneinnahme oder Lebererkrankung des Neugeborenen indiziert. Der Verdacht, dass i.m.-injiziertes Vitamin K zu einem erhöhten Krebsrisiko bei Kindern führt, konnte eindeutig widerlegt werden. >> Mit der routinemäßig durchgeführten oralen Vitamin-K-Prophylaxe können Vitamin-K-Mangelblutungen fast vollständig

vermieden werden. Dazu werden direkt postnatal, zwischen dem 3. und 5. Lebenstag (U2) und in der 4. bis. 6. Lebenswoche (U3) jeweils 2 mg Vitamin K verabreicht. Frühgeborene und kranke Neugeborene erhalten bis zum errechneten Geburtstermin 1-mal pro Woche 0,1 mg/kgKG i.v. oder 1 mg p.o.

4.9

Nekrotisierende Enterokolitis

jjGrundlagen Die nekrotisierende Enterokolitis (NEC) ist eine akut auftretende inflammatorische Erkrankung des Dünn- und Dickdarms, welche im Verlauf zu einem septischen Krankheitsbild mit disseminierten Darmnekrosen führt. Die Ursache ist multifaktoriell. Die NEC ist die häufigste Ursache gastrointestinaler Notfallsituationen Neugeborener, v. a. erkranken Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 g. Neben einzelnen sporadischen Fällen wird häufig ein gruppenweises Auftreten der Erkrankung beobachtet. jjPathogenese Eine Erklärung der Genese der Erkrankung muss folgende Faktoren berücksichtigen: 90% der Fälle treten bei Frühgeborenen auf. Fast alle erkrankten Kinder sind oral ernährt worden. Die NEC tritt ­erheblich seltener auf bei Ernährung mit Muttermilch. Viele Fälle treten endemisch auf, ohne dass sich oft ein gemeinsamer Erreger isolieren lässt. Es ist somit offensichtlich, dass die NEC multifaktoriell verursacht wird. Dabei können verschiedene pathogenetische Faktoren identifiziert werden (. Abb. 4.41): 44 Verminderung der Darmdurchblutung, 44 Unreife der intestinalen Abwehrmechanismen, 44 bakterielle Überwucherung des Darms, 44 orale Ernährung. Die intestinale Abwehr gegenüber pathogenen Erregern ist bei Frühgeborenen beeinträchtigt. Neben einer verminderten Konzentration des sekretorischen IgA auf der Darmschleimhaut, finden sich

..Abb. 4.41 Pathogenetische Faktoren bei der Entstehung der nekrotisierenden Enterokolitis

Bakterielle Darmwandinvasion

4

122

4

C.P. Speer

weitere Defizienzen der lokalen Immunität. Die geringe Darmmo­ tilität begünstigt ebenfalls die Bakterienadhäsion. Die herabgesetzte lokale Immunität ist einer der wesentlichen pathogenetischen Faktoren der NEC. Die bakterielle Besiedlung des Darms ist ebenfalls von Be­deu­ tung. In der Tat lassen sich bei einer NEC häufig bakterielle ­Erreger, v. a. gramnegative Keime wie Klebsiella, Enterobacter- und Pseudomonas-Spezies oder Escherichia coli aus der Peritonealflüssigkeit, der Blutkultur oder aus dem Stuhl isolieren. Aber auch Infektionen mit Staphylokkokus epidermidis oder Rotaviren werden bei einer NEC beobachtet Die Pneumatosis als pathognomonisches ­Symptom entsteht durch intraluminale Ausbreitung der bakteriellen H2-Bildung im Rahmen der Kohlenhydratvergärung des Darminhalts. Die orale Ernährung ist ein weiterer pathogenetischer Faktor. Bei Fütterung mit Frauenmilch kommt eine NEC vermutlich seltener vor als bei Ernährung mit einer Kuhmilchpräparation. jjKlinik Kinder mit NEC präsentieren sich mit folgenden Symptomen: 44 geblähtes, meist druckschmerzhaftes Abdomen, 44 blutige Stühle, 44 Erbrechen, Nahrungs- oder Sekretrückstau im Magen, 44 häufig lokalisierte Resistenz im Abdomen, 44 livide oder rötlich verfärbte Bauchhaut, 44 bei fortschreitender Erkrankung mit diffuser Peritonitis: ­gesamte Bauchhaut glänzend und ödematös, 44 fehlende Darmgeräusche. Neben den lokalen Befunden zeigen die Kinder Symptome einer

systemischen Infektion:

44 Temperaturinstabilität, 44 Apnoen, 44 Muskelhypotonie, 44 Hypomotorik bis Lethargie. 44 Bei schweren Verläufen zusätzlich: 55Hypotension, 55Azidose, 55dissiminierte intravasale Gerinnung mit Thrombozytopenie. j jLabordiagnostik Typische laborchemische Befunde gibt es nicht, sie entsprechen der einer Sepsis (Leukozytose oder Leukozytopenie, „Linksverschiebung“, im Verlauf erhöhte Serumkonzentrationen des C-reaktiven Proteins). jjRöntgendiagnostik Radiologisch findet sich in den frühen Stadien der Erkrankung eine lokalisierte oder generalisierte Dilatation von Darmschlingen sowie eine Verdickung der Darmwand. Das typische Symptom einer NEC ist die Pneumatosis intestinalis mit einer perlschnurartigen Ansammlung von Gasblasen in der Darmwand. Bei Extension dieser Gasansammlung über die Mesenterialgefäße in die Lebervenen lässt sich intrahepatische Luft nachweisen. Eine Perforation des Darms führt zum Auftreten freier Luft im Abdomen. Das Pneumoperitoneum imponiert in Rückenlage oft als rundliche strahlentransparente Figur in Bauchmitte, die Perforation lässt sich meist besser bei einer Aufnahme in Linksseitenlage als sichelartige Luftdarstellung über der Leber nachweisen. jjTherapie Die Behandlung der NEC hängt ab von der Schwere der Erkrankung. Bei Verdacht auf NEC erfolgt eine konservative Behandlung mit

Nahrungspause (keine oralen Medikamente), Magenablaufsonde und breiter antibiotischer Therapie. Die Flüssigkeits- und Elektrolyttherapie ist von besonderer Bedeutung, da es zu erheblichen Verlusten von Flüssigkeit in den Darm (sog. dritter Raum) kommen kann. In der Regel ist die Gabe von isotoner Elektrolytlösung erforderlich. Bei definitiver NEC oder Ileussymptomatik ist unbedingt eine Mitbeurteilung des klinischen Befunds durch einen Kinde­r­ chirurgen notwendig, um eine rechtzeitige Indikation zu opera­ tivem Vorgehen stellen zu können. Eine Operationsindikation ist gegeben bei Perforation, klinischen Peritonitissymptomen oder deutlichen Pneumatosiszeichen. Ein toxisches Krankheitsbild erfordert eine notfallmäßige operative Therapie.

4.10

Fetale und neonatale Infektionen

4.10.1

Besonderheiten des Immunsystems ­Neugeborener

Während der 2. Schwangerschaftshälfte entwickelt der Fetus die ­Fähigkeit zur zellulären und humoralen Immunabwehr, jedoch ist das Immunsystem des Feten in seiner Aktivität supprimiert, um Abstoßungsreaktionen zwischen Feten und Mutter zu vermeiden. Die Umstellung des Immunsystems auf die aktive Bekämpfung von invasiven Erregern erfolgt erst postnatal. Deshalb sind viele immunologische Effektorsysteme beim Neugeborenen und noch aus­ geprägter beim Frühgeborenen weniger funktionsfähig als beim Erwachsenen (. Tab. 4.10). Immunglobuline  Fetale B-Lymphozyten sind in der Lage bei in­ tranterinen Infektionen IgM-Antikörper zu bilden. Die IgG-Anti­ körper des Neugeborenen sind dagegen IgG-Antikörper der Mutter, die über einen aktiven Transportmechanismus der Plazenta auf das Neugeborenen übertragen werden und ihm den sog. Nestschutz vor Infektionen vermitteln. Der protektive Effekt von mütterlichen IgG-Antikörpern z. B. gegen β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe B oder Herpes simplex ist eindeutig belegt. Dieser trans­ plazentare Transport beginnt mit 20 Schwangerschaftswochen und führt zu mit dem Gestationsalter zunehmenden IgG-Konzentra­ tionen beim Neugeborenen. Frühgeborene haben deshalb nur einen ungenügenden Nestschutz. IgA passiert die Plazenta nicht und ist beim Neugeborenen nicht nachzuweisen.

..Tab. 4.10  Funktionseinschränkungen des neonatalen Immunsystems Immunglobuline

IgG von der Mutter übertragen (Nestschutz) Evtl. Mangel an spezifischen Antikörpern IgG bei Frühgeborenen deutlich vermindert IgM-Produktion bei intrauteriner Infektion möglich

Komplementsystem

Serumspiegel nur 50–75% des Erwachsenen

Granulo­ zyten

Geringe Knochenmarkreserven Verminderte Adhärenz und Chemotaxis

Makro­ phagen

Verringerte Chemotaxis und Aktivierbarkeit

T-Lympho­ zyten

Verringerte Mitogenstimulierbarkeit Verringerte Zytokinproduktion Verringerte Fähigkeit, B-Zellen und Makrophagen zu stimulieren

4

123 Neonatologie

>> Beim Neugeborenen nachweisbares IgM ist ein Hinweis auf eine intrauterine Infektion, da mütterliche IgM-Antikörper wegen ihrer Größe die Plazenta nicht passieren.

..Tab. 4.11  Bedeutung der verschiedenen Infektionswege bei nichtbakteriellen konnatalen Infektionen Erreger

Transplazentare Infektion

Perinatale Infektion

Postnatale Infektion

Toxoplasmose

++





HIV

+

++

+

Parvovirus

++





reserven im Knochenmark. Die Granulozyten zeigen normales Phagozytoseverhalten und Bakterizidie, jedoch eine eingeschränkte Adhärenz und Chemotaxis.

Hepatitis-B-Virus

+

++

+

Varicella-ZosterVirus

++

+

+

Makrophagen  Neonatale Makrophagen zeigen eine verringerte

Röteln

++





Chemotaxis und Aktivierbarkeit.

Zytomegalie

++

++

+

T-Lymphozyten  Mit 15–20 Schwangerschaftswochen haben Feten

Herpes simplex



++

+

Komplementsystem  Die Serumkonzentrationen der meisten

Komplementfaktoren und Komplementaktivität betragen beim ­reifen Neugeborenen nur ca. 50% der Erwachsenenwerte. Dadurch ist die Opsonisierung von Erregern verringert und somit die opsoninabhängige Phagozytose eingeschränkt.

Granulozyten  Das Neugeborene hat nur geringe Granulozyten­

eine nachweisbare T-Zell-Population im peripheren Blut. Diese ist allerdings in ihrer Aktivität supprimiert und zeigt eine verringerte Mitogenstimulierbarkeit, eine verminderte Fähigkeit, B-Zellen­ und Makrophagen durch eine eingeschränkte Zytokinproduktion z. B. von γ-Interferon zu aktivieren. 4.10.2

Nichtbakterielle konnatale Infektionen

jjGrundlagen Die nichtbakteriellen Erreger konnataler Infektionen werden häufig unter dem Merkwort TORCH zusammengefasst: 44 Toxoplasma gondii 44 Others (HIV, Varizella-Zoster-Virus, Hepatitis-B-Virus, ­Parvovirus-B19) 44 Rötelnvirus 44 CMV (Zytomegalievirus) 44 Herpes-simplex-Virus Typ 1 und 2 Die einzelnen Erkrankungen warden in 7 Kap. 7, 15 und 17 dargestellt. jjÜbertragung Diese Erreger können auf verschiedenen Wegen von der Mutter auf das Kind übertragen werden (. Tab. 4.11): 44 Transplazentare Infektion: Der Erreger im mütterlichen Blut durchdringt die Plazentaschranke und infiziert das Kind. Die Durchlässigkeit der Plazentaschranke hängt von der Art des Erregers und vom Zeitpunkt der Gestation ab; so wird die ­Plazenta z. B. mit zunehmendem Gestationsalter durchlässiger für Toxoplasmen. 44 Perinatale Infektion: Das Kind infiziert sich beim Durchtritt durch den Geburtskanal. 44 Postnatale Infektion: Die Infektion erfolgt durch Muttermilch oder Kontakt mit infektiösem Material von der Mutter. jjKlinik Die Symptomatik der TORCH-Infektionen reicht von der asymptomatischen Infektion bis zur tödlichen Erkrankung (. Tab. 4.12). Folgende Symptome bei Geburt sind verdächtig auf eine intrauterin übertragene TORCH-Infektion: 44 Untergewicht, 44 Mikrozephalie, intrazerebrale Verkalkungen, Krampfanfälle (Enzephalitis),

..Tab. 4.12  Symptome der nichtbakteriellen konnatalen Infektionen Erreger

Symptomatik

Röteln

Embryopathie mit Trias: Innenohrschwerhörigkeit, Herzfehler, Katarakt

Zytomegalie

90% bei Geburt asymptomatisch (Spätschäden psychomotorische Retardierung, Schwerhörigkeit) 10% bei Geburt symptomatisch (Enzephalitis, Hepatitis, Chorioretinitis, Wachstumsretardierung)

Herpes ­simplex (Typ 2)

Generalisiert-septische Infektion oder lokalisierte Herpesläsionen an Haut, Auge und Mund oder isolierte Enzephalitis

Varicella ­Zoster

Varizellenembryopathie (Hautnarben, Extremitätenhypoplasie), neonatale Varizellen

Hepatitis B

Hepatitis, häufig mit chronischem Verlauf

HIV

Bei Geburt meist asymptomatisch, in den ersten Lebensmonaten Lymphadenopathie, Gedeih­ störung, rezidivierende Diarrhö oder Atemwegs­ infektionen

Parvovirus B19

Transiente intrauterine Anämie

Toxoplasmose

90% bei Geburt asymptomatisch (Spätschäden Chorioretinits, psychomotorische Retardierung, Hydrozephalus) 10% bei Geburt symptomatisch (Enzephalitis, Hepatitis, Chorioretinitis, Gedeihstörung)

44 Netzhautverkalkungen, Mikrophthalmie (Chorioretinitis), 44 Anämie, Thrombozytopenie (Knochenmarkdepression), 44 Hepatomegalie, Ikterus (Hepatitis). jjDiagnose Diagnostisch stehen der direkte Erregernachweis in Urin, Speichel oder anderen Körpersekreten zur Verfügung, die Erregerausscheidung persistiert oft über Monate. Der Nachweis von IgM-Anti­ körpern gelingt oft nicht, deshalb sind Verlaufsuntersuchungen des IgG-Titers erforderlich.

124

C.P. Speer

4.10.3

4

Röteln

4.10.5

Herpes simplex

j jEpidemiologie Das Risiko einer Rötelnembryofetopathie beträgt 30% bei einer ­mütterlichen Infektion vor der 12. Schwangerschaftswoche und 10% bei einer mütterlichen Infektion zwischen 13 und 20 Schwangerschaftswochen. Die Häufigkeit der Rötelnembryopathie hat in Deutschland durch die Impfung und die verbesserte pränatale Diagnostik auf 1 pro 10.000 Geburten abgenommen.

jjEpidemiologie Die Häufigkeit der konnatalen Herpes-simplex-Infektion beträgt­ 1 auf 7.500 Neugeborene. In 85% der Fälle wird sie durch den ­Virustyp 2 (Herpes genitalis) verursacht (7 Kap. 14.1).

jjPathogenese Das Rötelnvirus wird während der mütterlichen Virämie transplazentar übertragen. 50% der infizierten Schwangeren sind selbst asymptomatisch. Bei unbeabsichtigter Rötelnimpfung einer Schwangeren kann es zwar selten zu einer kindlichen Infektion kommen, aber nicht zu einer Rötelnembryopathie.

jjEpidemiologie Die Inzidenz mütterlicher Windpocken in der Schwangerschaft ­beträgt nur 1–5/10.000 Schwangerschaften. Bei mütterlichen Windpocken in der Schwangerschaft werden 25% der Feten infiziert.

jjKlinik Typisch ist die Rötelnembryopathie mit der Fehlbildungstrias I­ nnenohrschwerhörigkeit, Herzfehler (persistierender Ductus ­arteriosus) und Katarakt, die auch als Gregg-Syndrom bezeichnet  wird. Es kann aber auch zum Abort, zur intrauterinen Infek­ tion  ohne Fehlbildung, zu transienten neonatalen Symptomen oder zur persistierenden Infektion mit permanenten Organschäden kommen. !! Cave Meningoenzephalitis, Chorioretinitis, Glaukom, Hepatitis etc.

j jDiagnose Zur Diagnose tragen Anamnese und Virusnachweis in Speichel, Blut oder Urin bei. Die Virusausscheidung ist 1–3 Monate nach der ­Geburt am höchsten und kann bis zu 1 Jahr persistieren. Positives Röteln-IgM in der Serologie, persistierender oder ansteigender Röteln-IgG-Titer sind diagnostisch wegweisend. jjDifferenzialdiagnose Zytomegalie, Toxoplasmose. jjTherapie Bei hohem Verdacht auf eine Rötelnembryopathie kann eine Schwangerschaftsunterbrechung erwogen werden.

4.10.6

Varizella-Zoster-Virus

jjPathogenese Die frühe transplanzentare Infektion führt zur Varizellenembryopathie, die späte transplazentare Infektion in den letzten 3 Schwangerschaftswochen zu neonatalen Windpocken. jjKlinik Die Varizellenembryopathie geht mit Enzephalitis, Chorioretinitis, Hypoplasie von Gliedmaßen und dermatombezogenen Hautnarben einher. Neonatale Windpocken verlaufen je nach Infektionszeitpunkt unterschiedlich schwer: 44 Auftreten der mütterlichen Windpocken 5–21 Tage vor der Geburt: Die Infektion erfolgt transplazentar. Die Inkubationszeit nach transplazentarer Infektion ist kürzer (10 statt 14 Tage) als nach Infektion über den Nasopharynx. Das Neugeborene zeigt innerhalb weniger Tage nach Geburt in der Regel milde Symptome, da es auch mütterliche Antikörper über die Plazenta bekommt. 44 Auftreten der mütterlichen Windpocken 4 Tage vor dem Entbindungstermin bis 2 Tage nach Geburt: Das Neugeborenes wird 5–10 Tage post partum symptomatisch. Die Erkrankung kann in 20% der Fälle schwer verlaufen mit sich rasch ausbreitendem hämorrhagischem Exanthem, Pneumonie, Enzephalitis und Tod, da das Neugeborene keine mütterlichen Anti­ körper mehr erhalten hat. 44 Postnatale Infektion: Wird ein Neugeborenes/Säugling ­postnatal über den Nasopharynx infiziert hat es kein höheres Erkrankungsrisiko als ältere Kinder.

>> Entscheidend ist die Sicherstellung des Rötelnimpfschutzes bei allen Mädchen vor Eintritt der Pubertät, denn bei intrauteriner Infektion ist keine spezifische Therapie möglich.

jjKomplikationen Nach neonatalen oder postnatalen Windpocken tritt in den ersten 10 Lebensjahren häufig ein Zoster auf.

j jPrognose Die Gesamtmortalität infizierter Neugeborener beträgt 10%, davon 35% im 1. Lebensjahr.

jjDiagnose Anamnese und Nachweis des typischen Exanthems, Virusisolierung aus Effloreszenzen und Serologie ermöglichen die Diagnosestellung.

4.10.4

Zytomegalie

jjDifferenzialdiagnose Konnatale Herpes-simplex-Virus-Infektion.

j jEpidemiologie Die Zytomegalie ist die häufigste nichtbakterielle konnatale Infek­ tion. 1% aller Neugeborenen sind bei Geburt mit dem Zytomegalievirus infiziert, 10% der infizierten Neugeborenen sind bei Geburt symptomatisch (7 Kap. 14.4).

jjTherapie Bei mütterlichen Varizellen kurz vor dem Entbindungstermin erhält die Mutter sofort und das Kind nach der Geburt ein Varizellen­ hyperimmunglobulin, außerdem werden beide mit Aciclovir behandelt.

>> Die konnatale Zytomegalieinfektion ist eine führende ­Ursache von geistiger Behinderung und Schwerhörigkeit.

jjPrognose Die Letalität der Varizellenembryopathie beträgt 47%.

125 Neonatologie

4.10.7

Neugeborenensepsis

jjDefinition Die neonatale Sepsis stellt nach wie vor eines der Hauptprobleme der Neugeborenenmedizin dar; sie ist eine disseminierte mikrobielle Erkrankung, die durch die klinischen Symptome einer systemischen Infektion und die Septikämie, d. h. den kulturellen Nachweis pathogener Erreger in der Blutkultur charakterisiert ist. Im Rahmen des septischen Schocks kann sich ein Multiorganversagen ausbilden. jjEpidemiologie In Westeuropa und den USA erkranken 1–4 Neugeborene/1.000 Lebendgeborene/Jahr an einer neonatalen Sepsis, 10–25% der Patienten versterben an den Komplikationen dieser oftmals foudroyant verlaufenden Infektion, bis zu ¼ der Kinder entwickeln als Folge einer zu spät diagnostizierten Sepsis eine eitrige Meningitis. Diese Komplikation tritt in Deutschland inzwischen bei weniger als 10% der Früh- und Neugeborenen auf. Besonders kritisch ist die Situation auf neonatologischen Intensivstationen; hier kann bei 25% der ­Kinder im Verlauf der Intensivtherapie eine Sepsis nachgewiesen werden. Wie eine Reihe von epidemiologischen Untersuchungen belegen, hat die Inzidenz der neonatalen Sepsis in den letzten 20 Jahren zugenommen. jjVerlauf Die neonatale Sepsis manifestiert sich in 2 Verlaufsformen: 44 früheinsetzende Form (Frühsepsis), 44 späteinsetzende Form (Spätsepsis). Die früheinsetzende Form zeichnet sich durch den Krankheits­ beginn in den ersten Lebenstagen, das typische Erregerspektrum (. Tab. 4.14) und die fulminante Verlaufsform aus. Häufig entwickelt sich die systemische Infektion auf dem Boden einer neonatalen Pneumonie. Bei vielen Kindern sind geburtshilfliche Risikofaktoren vorhanden. Die späteinsetzende Form tritt in der Regel nach dem 5. Lebenstag auf, der klinische Verlauf kann entweder foudroyant oder langsamer fortschreitend sein; die Neugeborenen erkranken häufig an einer Meningitis. Die Erreger stammen häufig aus dem postnatalen Umfeld (. Tab. 4.14). Besonders intensivmedizinisch behandelte Früh- und Neugeborene sind gefährdet, an einer späteinsetzenden nosokomialen Sepsis zu erkranken. ..Abb. 4.42  Prä- und postnatale Infektionswege der neonatalen Sepsis

jjPathogenese, Risikofaktoren Die geburtshilflichen Risikofaktoren der früheinsetzenden Sepsis sind: 44 vorzeitiger Blasensprung, 44 Amnioninfektionssyndrom, 44 Fieber, Bakteriämie der Mutter, 44 Frühgeburtlichkeit. Durch vorzeitigen Blasensprung, Aszension vaginaler Erreger (aszendierende Infektion) oder im Rahmen einer mütterlichen Bakteriämie (deszendierende Infektion) kann das Neugeborene bereits in utero infiziert werden und manifest erkranken (. Abb. 4.42). Bei einer mütterlichen vaginalen und rektalen Kolonisierung mit pathogenen Erregern kann ein Neugeborenes darüber hinaus auf dem Geburtsweg infiziert werden. Bis zu 30% der amerikanischen und westeuropäischen Schwangeren weisen eine vaginale Besiedlung mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe B auf, maximal 50% mit pathogenen E. coli. Nach einer vaginalen Geburt sind bis zu 70% der Neugeborenen mit diesen pathogenen Bakterien auf Haut- und Schleimhäuten kolonisiert. Das Ausmaß der Besiedlung erhöht das Risiko, an einer Sepsis zu erkranken. Man kann davon ausgehen, dass ca. 1 von 100 Neugeborenen, die mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe B besiedelt sind, an einer Sepsis erkrankt. Eine Gruppe von Risikopatienten ist in einem hohen Maß ­gefährdet, eine nosokomiale Sepsis zu akquirieren: intensivmedizinisch behandelte Früh- und Neugeborene. Die gut belegten Risikofaktoren sind in . Tab. 4.13 zusammengefasst. >> Eine Übertragung von pathogenen Erregern erfolgt überwiegend durch unzureichende Handwaschpraktiken der betreuenden Schwestern und Ärzte.

In einzelnen amerikanischen Intensivstationen wurden bei 15% aller Hochrisikofrühgeborenen systemische Infektionen mit Candida spp. diagnostiziert. In . Tab. 4.14 sind die wesentlichen Erreger der neonatalen Sepsis zusammengefasst. jjKlinik Die klinische Symptomatik der Neugeborenensepsis ist uncharakteristisch und variabel; bleiben die oftmals diskreten klinischen ­Zeichen unerkannt, so kann sich innerhalb kurzer Zeit das Vollbild des septischen Schocks entwickeln. Einer der wichtigsten Hinweise

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..Tab. 4.13  Risikofaktoren der nosokomialen Sepsis

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Intensivmedizinische Maßnahmen

Endotracheale Intubation Maschinelle Beatmung Zentrale Katheter, Lipidinfusionen

Mangelhafte ­Stationshygiene

Unzureichende Handwaschpraktiken Überbelegung der Intensivstation Personelle Unterbesetzung

Kontamination

Inkubatoren Waschbecken Andere Gegenstände

ist das von einer erfahrenen Kinderkrankenschwester registrierte „schlechte Aussehen“ des Neugeborenen. Neben Störungen d ­ er Temperaturregulation und der Atmungsfunktion, werden gastro­ intestinale Symptome beobachtet. Phasenweise nachweisbare ­Ver­änderungen des Hautkolorits weisen auf die im Rahmen der ­Bakteriämie auftretende Mikrozirkulationsstörung hin. Daneben können Hyperexzitabilität, Hypotonie, Apathie und zerebrale Krampfanfälle auftreten. Petechien, verstärkte Blutungsneigung, Hypotension und septischer Schock entwickeln sich im Verlauf der Erkrankung. Wesentliche Symptome der neonatalen Sepsis 55Temperaturinstabilität: Hyper-, Hypothermie 55Atemstörungen: Tachypnoe, Dyspnoe, Apnoe 55Gastrointestinale Symptome: Trinkschwäche, Erbrechen, abdominelle Distension 55Zirkulatorische Insuffizienz: periphere Mikrozirkulations­ störungen, Blässe, grau-marmoriertes Hautkolorit, septischer Schock, Multiorganversagen, disseminierte intravasale ­Gerinnung 55Neurologische Störungen: Hyperexzitabilität, Lethargie, Krampfanfälle

Bei klinischen Warnzeichen muss solange der Verdacht auf eine neonatale Sepsis bestehen, bis das Gegenteil bewiesen ist, also eine ­Infektion ausgeschlossen oder eine andere Ursache für die Verschlechterung des kindlichen Zustands gefunden wurde. >> Der Verlauf der Neugeborenensepsis wird entscheidend vom Zeitpunkt der Diagnose bzw. des Behandlungsbeginns beeinflusst.

j jErregernachweis Mit Blutkulturen (aerob, anaerob), ggf. Liquorkulturen, Urinstatus und -kultur, Haut- und Schleimhautabstrichen sowie Untersuchung von Magensekret erfolgt der Erregernachweis. Bei jedem isolierten Erreger ist eine Resistenztestung durchzuführen. j jLabordiagnostik Verschiedene Entzündungsparameter können als Warnzeichen ­einer neonatalen Infektion angesehen werden und zur Früherkennung der neonatalen Sepsis beitragen.

..Tab. 4.14  Wesentliche Erreger der früh oder spät einsetzenden neonatalen Sepsis Früheinsetzende Sepsis

Späteinsetzende Sepsis

Streptokokken Gruppe B Escherichia coli Staphylococcus aureus Listeria monocytogenes Enterokokken u. a.

Escherichia coli Staphylococcus epidermidis Klebsiella-Enterobacter-Spezies Pseudomonas aeruginosa Proteus-Spezies Streptokokken Gruppe B Candida albicans u. a.

Früherkennung und Warnzeichen neonataler Infektionen 55Geburtshilfliche Risikofaktoren 55Klinische Zeichen 55Entzündungsparameter: –– Leukozytose (Gesamtzahl aller neutrophiler Granulozyten) –– I/T-Quotient –– CRP –– Interleukin-6 u. a. 55Erregernachweis

Zu diesen Entzündungsindikatoren gehören die Gesamtzahl der Leukozyten am 1. Lebenstag (0,2). Eine Thrombozytopenie tritt bei ca. 30% der Neugeborenen mit neonataler Sepsis im Verlauf der Infektion auf. Auch erhöhte Konzentrationen des C-reaktiven Proteins (CRP) und des Interleukin-6 (IL-6) weisen auf eine Infektion hin. Die Sensitivität und Spezifität dieser Entzündungszeichen wird von verschiedensten internationalen Arbeitsgruppen unterschiedlich beurteilt. Die Wertigkeit der verschiedenen Infektionszeichen als sog. „Früherkennungsparameter“ sollte auf keinen Fall überschätzt werden. Der Stellenwert der einzelnen Parameter wird am ehesten deutlich, wenn man sich die Sequenz des Entzündungsgeschehens vor Augen führt (. Abb. 4.43). Nach Keiminvasion werden mit einer kurzen Latenz neutrophile Granulozyten rekrutiert, die möglicherweise im Verlauf des initialen Abwehrgeschehens bereits verbraucht werden – die Patienten entwickeln eine Neutrozytopenie – oder aber es werden vermehrt unreife und reife Granulozyten aus dem Knochenmark freigesetzt. Erst im Rahmen der Makrophagenaktivierung werden der Tumornekrosefaktor, Interleukin-1 und Interleukin-6 sezerniert, diese immunologischen Hormone (Zytokine) stimulieren die Synthese des CRP in der Leber; sie lassen sich relativ früh und zum Teil nur innerhalb eines kurzen Zeitfensters sicher identifizieren. Mit einem Konzentrationsanstieg dieses Akutphaseproteins­ ist erst 4–6 h nach Keiminvasion oder lokaler Inflammation zu ­rechnen. Das CRP ist allerdings als idealer Verlaufsparameter einer neonatalen Infektion anzusehen. jjDifferenzialdiagnose Verschiedene Erkrankungen Früh- und Neugeborener können sich unter nahezu identischer Symptomatologie manifestieren wie die neonatale Sepsis. Bei Frühgeborenen kann eine Infektion mit Streptokokken der Gruppe B unter dem Bild eines Atemnotsyndroms verlaufen. Weitere Erkrankungen: akute pulmonale Erkrankungen

127 Neonatologie

Supportivtherapie  Eine optimale Supportivtherapie sämtlicher im Verlauf der Sepsis auftretender Funktionsstörungen von Organsystemen (Herz-Kreislauf, Atmung, Säure-Basen-Haushalt, Gerinnung u. a.) ist eine wesentliche Voraussetzung in der Behandlung dieser lebensbedrohlichen Erkrankung. Ein Therapiekonzept sollte sich immer nach dem lokalen Erregerspektrum richten. Daher ist es sinnvoll, durch regelmäßige bakteriologische Untersuchungen von Patienten und Gegenständen der neonatalen Intensivstation Änderungen im Resistenzverhalten von Problemkeimen frühzeitig zu erfassen.

..Abb. 4.43  Hypothetische Sequenz des Entzündungsgeschehens im Verlauf einer Sepsis: die Zytokine TNF-α, IL-1 und IL-6 stimulieren die Synthese von CRP in der Leber

des Neugeborenen, persistierende fetale Zirkulation, Hyperviskositätssyndrom, kardiale Erkrankungen, nekrotisierende Enterokolitis, zerebrale Blutungen, metabolische Störungen, intrauterine Infek­ tionen u. a. jjTherapie Nach Durchführung der Sepsisdiagnostik ist unverzüglich eine intravenöse antibiotische Therapie durchzuführen. Antibiotische Therapie  Bei der Frühsepsis wird von vielen klinischen Gruppen an einer Kombinationsbehandlung mit Ampicillin und einem Aminoglykosid (z. B. Gentamicin) festgehalten; alternativ wird eine empirische Therapie mit Ampicillin und einem Cephalosporin der 3. Generation (z. B. Cefotaxim) praktiziert. Beide Therapiestrategien wurden von der „American Academy of Pediatrics“ empfohlen. Der Hauptgrund für die Gabe von Ampicillin ist die unzulängliche Aktivität der Cephalosporine gegen Listeria monocytogenes und Enterokokken. Bei Verdacht auf eine Staphylokokkeninfektion muss die verwendete Kombination um ein gegen Staphylokokken wirksames Mittel erweitert werden. Bestehen durch bakteriologische Untersuchungen der Mutter Hinweise auf einen seltenen Erreger der Frühsepsis (Klebsiella, Pseudomonas, Serratia etc.), sollte eine Kombinationstherapie mit einem Cephalosporin und ­einem Aminoglykosid gewählt werden. Nach Vorliegen der bakteriologischen Resistenztestung (Blut-, Liquorkulturen) werden die Patienten meist in einer Zweierkombination weiterbehandelt. Vor einigen Jahren wurde im Rahmen einer Standardtherapie mit Cefotaxim eine rasche Selektion von cefotaximresistenten ­Enterobacter-Spezies (Enterobacter cloacae) nachgewiesen; diese Erreger waren auch gegen neuere Cephalosporine resistent. >> Eine Anwendung von Cephalosporinen sollte daher nur unter strenger Indikationsstellung erfolgen.

Bei Staphylokokkusepidermidis-Sepsis kann eine Vancomycinthe­ rapie erforderlich sein. Infektionen mit Anaerobiern werden mit Metronidazol und Infektionen mit Candida spp. bzw. Aspergillus spp. mit 5-Fluorocytosin und Amphotericin B behandelt. Die Behandlungsdauer für eine neonatale Sepsis ohne Meningitis oder andere schwere Begleitinfektionen beträgt in der Regel 10–14 Tage.

jjProphylaxe Eine Immunprophylaxe gegen das breite Erregerspektrum der ­neonatalen Sepsis existiert nicht. Die Entwicklung eines speziellen Impfstoffs gegen Streptokokken der Gruppe B dürfte erst in einigen Jahren gelingen. Einen weiteren präventiven Ansatz stellt die sog. Chemoprophylaxe dar. Schwangere, die vaginal und zervikal mit B-Streptokokken besiedelt sind, zusätzlich vorzeitige Wehen und/oder einen vorzeitigen Blasensprung von >12 h haben, erhielten eine selektive intrapartale Chemoprophylaxe mit Penicillin. Durch diese Maßnahme konnte die Kolonisierung Neugeborener und die Sepsisinzidenz durch Streptokokken der Gruppe B eindeutig gesenkt werden. Allerdings ist diese Maßnahme nur dann wirksam, wenn die antibiotische Prophylaxe mindestens >4 h präpartal verabreicht wird. Seit 1996 wird in den USA ein generelles Screening bei allen Schwangeren in der 35.–37. Gestationswoche durchgeführt, um eine maternale Kolonisierung mit B-Streptokokken zum Zeitpunkt der Geburt zu erfassen. Trotz der erheblichen Kosten und der potenziellen Risiken einer Penicillinallergie erhalten alle Schwangeren präpartal eine Penicillingabe. Durch diese Strategie konnte eine früh einsetzende neonatale Sepsis mit B-Streptokokken wirksamer ­verhindert werden als durch eine Identifizierung Schwangerer mit bekannten Risikofaktoren. Bis zu 60% aller reifen Neugeborenen mit B-Streptokokkenerkrankungen hatten symptomfreie Mütter, die keinen Risikofaktor aufwiesen. Durch die Screeningstrategie können bis zu 70% aller früh einsetzenden Septikämien mit B-Strepto­kokken verhindert werden. 4.10.8

Meningitis

jjDefinition Die neonatale Meningitis/Meningoenzephalitis ist eine mikrobielle Infektion der Hirnhäute, des Gehirns und häufig auch der Ventrikel; sie wird durch die typischen Erreger neonataler Infektionen ver­ ursacht. jjEpidemiologie Die Inzidenz der neonatalen Meningitis hat in den letzten 10 Jahren abgenommen; vermutlich haben die verbesserte Perinatalversorgung und Früherfassung neonataler Infektionen sowie die rechtzeitige antibiotische Behandlung zu diesem Rückgang beigetragen. Die durchschnittliche Erkrankungsrate liegt zwischen 0,1–0,4 pro 1.000 Lebendgeborene. jjÄtiologie In Mitteleuropa und in Nordamerika werden bis zu ⅔ aller neonatalen Meningitiden durch Streptokokken der Gruppe B und E. coli verursacht. Für die in den ersten Lebenstagen auftretende Streptokokkenmeningitis sind überwiegend die Serotypen I und II ver­ antwortlich; sie stammen aus der mütterlichen Vaginal- und Rektal-

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flora. Bei der Spätform der Streptokokkenmeningitis wird der ­Serotyp III isoliert. Die verantwortlichen E. coli besitzen ein Kapselpolysaccharidantigen K1, das die Virulenz der Erreger erhöht ­(Elimination der Bakterien nur bei kompletter Opsonierung). In einzelnen Regionen werden gehäuft Listerien (L. monocytogenes) als Meningitiserreger identifiziert. Eine nosokomiale Meningitis wird in Abhängigkeit vom lokalen Erregerspektrum am häufigsten durch Klebsiella- und Enterobacter-Spezies, Pseudomonas aeruginosa u. a. hervorgerufen. Bei intensivmedizinisch behandelten Frühgeborenen, die an einer unklaren systemischen Infektion erkrankt sind, muss immer an eine Candida-Meningitis gedacht werden. Wenn auch selten, so können doch die typischen Erreger der eitrigen Hirnhautentzündung im Kindesalter eine neonatale Meningitis verursachen. jjPathogenese, Risikofaktoren Die bekannten geburtshilflichen, pränatalen und postnatalen Risikofaktoren der neonatalen Sepsis lassen sich uneingeschränkt bei der Meningitis Neugeborener nachweisen. Eine Meningitis ent­ wickelt sich häufig als Folge einer zu spät diagnostizierten Sepsis. Ausgangspunkte für die hämatogene Streuung sind: Pneumonien, Hautinfektionen, infizierter Nabel, Harnwegsinfektionen, Otitis media etc. >> Neugeborene mit Liquorshuntsystemen sind besonders gefährdet, über eine Bakteriämie eine Ventilinfektion zu ent­ wickeln; der häufigste Erreger ist Staphyloccocus epidermidis.

j jKlinik Die klinischen Zeichen der neonatalen Meningitis sind unspezifisch und in der Regel nicht von den Symptomen der Neugeborenensepsis zu unterscheiden. Als zusätzliche Symptome können Berührungsempfindlichkeit, spärliche Spontanbewegungen und schrilles Schreien hinzukommen. Eine gespannte Fontanelle, die opisthotone Körperhaltung oder gar Nackensteifigkeit treten insgesamt selten und erst im fortgeschrittenen Stadium der Meningitis auf. Krampfanfälle werden bei ca. 15% der erkrankten Neugeborenen beobachtet. jjDiagnose Aufgrund der uncharakteristischen Symptomatologie sollte bei jedem Patienten, bei dem eine neonatale Sepsis zu vermuten ist, eine Liquoruntersuchung erfolgen. Bei ausgeprägter Instabilität der ­Kinder kann man jedoch gezwungen sein, die erforderliche Lumbalpunktion erst nach Therapiebeginn durchzuführen. Die Besonderheiten der Liquordiagnostik im Neugeborenenalter sind an anderer Stelle ausgeführt. Repetitive Sonographien und evtl. MRT-Unter­ suchungen sind zur Erfassung von Komplikationen durchzuführen. jjTherapie Die Prognose der neonatalen Meningitis wird entscheidend vom Therapiebeginn und der Wahl der Antibiotika bestimmt; die antibiotische Behandlung muss sich gegen das besondere Spektrum­ der zu vermutenden Erreger neonataler Infektionen richten (7 Abschn.  4.10.7). Eine zuverlässige Liquorgängigkeit sowie eine aus­ reichende Dosierung der Antibiotika sind unbedingt zu beachten; die Dosierung der verschiedenen Präparate liegt in der Regel höher als bei der neonatalen Sepsis. jjPrognose Die Prognose der neonatalen Meningitis ist trotz aller Behandlungsfortschritte immer noch als ernst anzusehen. Die Letalität beträgt

..Abb. 4.44  Ausgeprägte, im MRT nachweisbare, überwiegend okzipital gelegene subkortikale Substanzdefekte bei einem Neugeborenen mit ­Meningoenzephalitis

20–50%. Akute Komplikationen sind ein kommunizierender oder nicht-kommunizierender Hydrozephalus, subdurale Effusionen, Taubheit und Blindheit (. Abb. 4.44). Bis zu 70% aller Patienten mit E.-coli-Meningitis entwickeln eine Ventrikulitis. Selten werden Hirnabszesse beobachtet; sie treten u. a. bei Infektionen mit Citrobacter diversus, Proteus mirabilis und Enterobacter-Spezies auf. Schwere neurologische Spätschäden (Zerebralparesen, Anfallsleiden, mentale Retardierung, Taubheit, Blindheit) sind bei ungefähr 10% der Patienten nachweisbar; ¼ aller erkrankter Kinder weist leichte bis mittelschwere neurologische und psychomentale Beeinträchtigungen auf. Über den Effekt einer im akuten Erkrankungsstadium durchgeführten Dexamethasontherapie auf die Komplikationsrate der neonatalen Meningitis liegen zurzeit noch keine Ergebnisse vor. Aspekte zur Prophylaxe der neonatalen Meningitis: 7 Abschn. 4.10.7. 4.10.9

Osteomyelitis und septische Arthritis

jjEpidemiologie, Ätiologie Die Osteomyelitis und bakterielle Arthritis sind seltene Erkrankungen im Neugeborenenalter; verlässliche Angaben zur Inzidenz liegen nicht vor. Staphylococcus aureus wird bei bis zu 8% der Patienten mit Osteomyelitis als kausaler Erreger identifiziert. Daneben werden Streptokokken der Gruppen A und B, Staphyloccocus epidermidis und Streptococcus pneumoniae sowie eine Reihe gramnegativer Erreger nachgewiesen. Besonders bei der septischen Arthritis lassen sich neben Staph. aureus auch E. coli, Klebsiella- und EnterobacterSpezies, Pseudomonas, Salmonellen, Serratia, Neisseria gonorrhoeae und auch Candida albicans isolieren. jjPathogenese Aufgrund der besonderen ossären Gefäßversorgung bei Neugeborenen und Säuglingen treten Osteomyelitis und septische Arthritis häufig zusammen auf: Diaphyse, Metaphyse und Epiphyse werden über gemeinsame Arterien versorgt. Als Konsequenz können sich Erreger, die in die Metaphyse der langen Röhrenknochen gelangt sind, über diese Gefäßverbindungen zur Epiphyse ausbreiten und das Gelenk in das Infektionsgeschehen einbeziehen. Erst gegen Ende des ersten Lebensjahres werden diese Gefäßverbindungen und somit die ungehinderte Infektionsausbreitung unterbrochen.

129 Neonatologie

Die meisten Osteomyelitiden treten hämatogen auf; systemische bakterielle Infektionen können ebenso wie lokale Infektionen (Pyodermie, Omphalitis, Mastitis u. a.) oder infizierte Infusions­ systeme (Nabelgefäßkatheter, zentrale Silastic-Katheter u. a.) im Rahmen einer Bakteriämie zu einer Absiedlung von Erregern in Knochen und Gelenk führen. Bei einem Teil der Patienten lassen sich multiple Knochenherde nachweisen. Neben der hämatogenen Genese kann auch ein lokales Entzündungsgeschehen per continuitatem eine Osteomyelitis induzieren (Abszess, infiziertes Kephal­ hämatom etc.). Durch repetitive Fersenpunktionen zur kapillaren Blutentnahme kann sich eine Kalkaneusosteomyelitis entwickeln.

Besiedlung mit Staph. aureus (Phagengruppe II; Produktion des Exotoxins Exfoliatin) kann das Neugeborene diese ernste Haut­ erkrankung akquirieren. Es bilden sich größere, von einem roten Hof umgebene Blasen aus; diese hinterlassen nach Platzen gerötete, nässende Hautstellen. 3–5 Tage nach Erkrankungsbeginn tritt eine ­Desquamation von epidermalen Teilen auf (Nikolsky-Phänomen negativ). Die schwerste Verlaufsform einer durch Staph.-aureusEnterotoxin ausgelösten Hautinfektion ist die Dermatitis exfoliativa neonatorum (Ritter von Rittershain). Im Bereich großflächiger, unscharf begrenzter Erytheme entstehen nach Hautablösung große Wundflächen (Nikolsky-Phänomen positiv).

jjKlinik Häufig finden sich eine lokalisierte Schwellung im Bereich der betroffenen Knochen bzw. Gelenke sowie eine eingeschränkte Beweglichkeit mit Schonhaltung der Extremität (sog. Pseudoparalyse). Am häufigsten sind die langen Röhrenknochen Femur, Humerus und Tibia betroffen. Aber auch die Maxilla und andere Schädelknochen können ebenso wie Finger- oder Wirbelknochen infiziert sein. Die häufigsten eitrigen Arthritiden treten in Hüft-, Knie- und Schultergelenken auf.

jjDifferenzialdiagnose Die Differenzialdiagnose umfasst vesikuläre Effloreszenzen bei­ ­neonataler Herpes simplex, Zytomegalie- und Varizelleninfektion sowie bullöse Veränderungen bei der Lues connata (Pemphigus ­syphiliticus).

jjDiagnose Blutkultur(en), Entzündungszeichen im Blut, röntgenologische Untersuchung, Szintigraphie und bei septischer Arthritis Sonographien und Gelenkpunktionen ermöglichen die Diagnosestellung. Bei der Differenzialdiagnose müssen neben Frakturen und Paresen Weichteilinfektionen sowie ossäre Veränderungen durch intrauterine Infektionen von der Osteomyelitis abgegrenzt werden. jjTherapie, Prognose Bei dem infrage kommenden Erregerspektrum empfiehlt sich eine antibiotische Initialbehandlung in Analogie zur Sepsistherapie, zusätzlich sollte in jedem Fall ein staphylokokkenwirksames Medikament (z. B. Oxacillin) eingesetzt werden. Die Langzeitprognose der Neugeborenenosteomyelitis/Arthritis ist immer noch alles andere als zufriedenstellend. Eine chronische Osteomyelitis, Skelett- oder Knochendeformitäten und gestörtes Knochenwachstum sind bei 25–50% aller Kinder zu erwarten. 4.10.10

Haut- und Weichteilinfektionen

jjKlinik Das Spektrum neonataler Hautinfektionen, die durch Bakterien, ­Viren oder Pilze hervorgerufen werden, reicht von unproblema­ tischen lokalen Affektionen bis hin zu lebensgefährlichen Erkrankungen. Pustulöse und bullöse Hautveränderungen  Die Impetigo neonatorum, eine oberflächliche pustulöse Pyodermie ist die häufigste

Hautinfektion der Neugeborenenperiode. Die Pusteln sind häufig in der Inguinalregion, periumbilikal, nuchal und retroaurikulär zu finden. Erreger: Staph. aureus. Lokale Behandlungsmaßnahmen sind ausreichend; Kontaktinfektionen sind unbedingt zu vermeiden. In der Differenzialdiagnose sind folgende Erkrankungen abzugrenzen: Erythema toxicum neonatorum (rötliche Flecken, die von einer gelblichen Pustel besetzt sein können, treten am ganzen Körper auf; Direktpräparat der Pustel: eosinophile Granulozyten), Milien (weißlich-gelbliche Talgretention an Nase, Wange oder Stirn). Eine weitere Staphylokokkenerkrankung ist die Impetigo ­bullosa oder Pemphigus neonatorum. Durch intra- oder postna­tale

jjTherapie Die antibiotische Behandlung beider Verlaufsformen muss immer systemisch (i.v.) erfolgen. Die Supportivtherapie der Dermatitis ­exfoliativa erfolgt nach den Prinzipien der Verbrennungstherapie. Als Komplikationen sind die neonatale Sepsis, Meningitis, Osteomyelitis und andere Organmanifestationen gefürchtet. 4.10.11

Omphalitis

jjÄtiologie Bevorzugter Erreger der Omphalitis ist Staph. aureus, aber auch andere Erreger der Neonatalperiode können eine Nabelinfektion auslösen. Durch konsequente prophylaktische Nabelhygiene ist ­diese Infektion selten geworden. jjKlinik Die eitrige Entzündung des Nabels manifestiert sich durch eine ­periumbilikale Rötung, derbe Infiltration und ggf. Ulzeration. Der Nabelgrund kann eitrig belegt sein, häufig entleert sich purulentes Sekret. Im Rahmen der Diagnostik werden Abstriche und Blut­ kulturen abgenommen sowie zur Verlaufskontrolle Entzündungszeichen bestimmt. Als Komplikationen können eine Nabelphlegmone, Nabelsepsis, Infektion der Nabelgefäße u. a. auftreten. Die Therapie besteht in einer Lokalbehandlung und systemisch intravenösen Antibiotikatherapie. 4.10.12

Mastitis

jjEpidemiologie Eine Mastitis entwickelt sich in der Regel zwischen der 2. bis­ 3. Lebenswoche; weibliche Neugeborene erkranken häufiger als männ­liche. Diese Erkrankung tritt vermutlich wegen der noch nicht entsprechend entwickelten Brustdrüsen bei Frühgeborenen nicht auf. Eine beidseitige Affektion ist selten. Häufigster Erreger ist Staph. aureus, zunehmend auch E. coli und Streptokokken der Gruppe B. Der Entstehungsmechanismus ist unklar, es ist nicht auszuschließen, dass Manipulationen an der geschwollenen Brust die Infektion begünstigen. jjDiagnose, Therapie Direktpräparat des Brustdrüsensekrets und Abstriche. Die Therapie erfolgt immer mit intravenösen Antibiotika; bei ausgeprägten Be-

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funden kann eine chirurgische Intervention notwendig werden. Langzeitnachuntersuchungen lassen nicht ausschließen, dass einige der erkrankten Mädchen ein vermindertes Brustgewebe auf der ­erkrankten Seite zurückbehalten. 4.10.13

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Bakterielle Lokalinfektionen des Neugeborenen

Weitere recht häufige bakterielle Lokalinfektionen des Neugeborenen sind: 44 Kopfschwartenabszess (Verletzung durch CTG-Elektroden, Erreger: Staph. aureus, Streptokokken der Gruppe B u. a. Erreger neonataler Infektionen), 44 infiziertes Kephalhämatom (7 Kopfschwartenabszess), 44 Paronychien (wichtigste Erreger: Staph. aureus, Streptokokken der Gruppe B). 4.10.14

Mundsoor

D. Nadal, C. Berger j jGrundlagen Neugeborene, ob gesund oder krank, können Mundsoor manifestieren. Neugeborene und Säuglinge in den ersten Lebensmonaten sind besonders anfällig. Rund 4% der Neugeborenen erleiden Mundsoor. Später stellt sich eine relative Resistenz ein. Die Erklärung dieses Phänomens steht aus. j jEpidemiologie, Ätiologie Die häufigste primäre Quelle des Mundsoors beim Neugeborenen ist vaginale Candida spp. der Mutter. Die Übertragung Mutter-Kind erfolgt meist perinatal. Auf der Neugeborenen- oder Säuglingsabteilung können auch sekundäre Fälle auftreten. Quelle ist dann direkter oder indirekter Kontakt mit infizierten Neugeborenen, medizinischem Personal mit insuffizienter (Hand)hhygiene oder kontaminierten Gegenständen. Candida albicans ist die am häufigsten ­isolierte Spezies (50–60%); alle anderen Candida-Spezies können vorkommen. j jPathogenese Die verantwortlichen Mechanismen der Pathogenität bei Neuge­ borenen und Säuglingen sind nicht geklärt. Wahrscheinlich beitragende Faktoren sind die Anzahl der Organismen, die Virulenz der beteiligten Spezies, Umgebungsfaktoren und günstige Wachstumsbedingungen für Candida. Antibiotische Therapie mit Änderung der Mundflora und Proliferation von Candida, Steroidtherapie oder primärer oder sekundärer Immundefekt sind eindeutige pathogenetisch begünstigende Faktoren. Sie erhöhen das Risiko für invasive und disseminierte ­Infektionen. Die Phagozytose von Candida durch Leukozyten von Früh- oder Termingeborenen unterscheidet sich nicht von jener durch Leukozyten von Erwachsenen. Demgegenüber ist die Abtötung der phagozytierten Mikroorganismen durch Leukozyten der Neugeborenen schlechter als durch jene von Erwachsenen. j jKlinik Die Läsionen an den Schleimhäuten von Mund oder Oropharynx treten üblicherweise am 7. bis 10. Lebenstag auf (. Abb. 4.45). ­Charakteristisch sind weißlich-graue, nicht gut abstreifbare Plaques.

..Abb. 4.45  Mundsoor mit Befall von Gaumen und Zunge

Die Schleimhaut darunter erscheint nach Abstreifen der Plaques ­gerötet, blutet jedoch nicht. jjKomplikationen Der Mundsoor kann sich via Magen-Darm-Trakt bis zum Anus ­ausbreiten und die nachfolgende Ausbildung eines Windelsoors bewirken. Die Ausbreitung auf die übrige Haut oder gar die Disseminierung auf andere Organe ist sehr selten. jjDiagnose Sie kann meist klinisch gestellt werden. Mikroskopischer Direktnachweis oder Kultur des Pilzes kann bei unklarem Befund und muss bei rezidivierendem oder langanhaltendem Befund erzwungen werden. jjDifferenzialdiagnose Andere infektiöse oder nichtinfektiöse Ursachen von oropharyngealen Läsionen müssen in Betracht gezogen werden. Virusinfektionen (Herpesvirus, Coxsackievirus) sind dabei die häufigsten. Diese ­Kinder wirken aber kränker und zeigen häufig einen Temperaturanstieg. Bei Windeldermatitis ist auch an Infektionen mit Staph. aureus, Treponema pallidum, Herpesviren oder Irritation durch Harnstoff, Faeces oder Seifen zu denken. jjTherapie Die lokale Behandlung ist indiziert, wenn Windelsoor als Komplikation auftritt. Nystatin (100.000–500.000 U 6-mal täglich für 7–14 Tage) ist die Therapie der Wahl. Es wird nicht resorbiert und erreicht nach oraler Gabe den ganzen Darm. Der Windelsoor wird lokal mit Nystatin-Zinkoxid-Paste be­ handelt. Komplikationen durch Invasion und Disseminierung müssen systemisch antifungal behandelt werden (7 Kap. 16). Kontaminierte Schnuller können auch nach Auskochen zu ­rezidivierendem Mundsoor führen und müssen durch neue ausgewechselt werden. !! Cave Bei „rezidivierendem Mundsoor“ an Kontakt mit kontaminierten Schnullern oder anderen Gegenständen und Nichtein­ halten hygienischer Kautelen denken! Sind diese Faktoren ausgeschlossen, muss ein Immundefekt in Betracht gezogen werden.

131 Neonatologie

jjPrognose Der Mundsoor des Neugeborenen heilt im Allgemeinen innerhalb von 1–2 Monaten von selbst ab. Bei Nystatintherapie erfolgt die ­Abheilung (wenn keine Reinfektionen auftreten) innerhalb von 7 Tagen. jjProphylaxe Eine medikamentöse Prophylaxe ist nicht indiziert. Hingegen sind hygienische Instruktion der Eltern oder von Personal und das Einhalten von Hygienekautelen notwendig. 4.10.15

Neonataler Tetanus

C.P. Speer In einigen Teilen der Welt stellt der neonatale Tetanus eine ernst­ hafte Bedrohung Neugeborener dar. Von einer Infektion des Nabels ausgehend entwickeln die Neugeborenen gegen Ende der ersten Lebenswoche Trinkschwäche, muskuläre Hypertonie und generalisierte Spasmen. Die akute Erkrankung kann nur durch neuromuskuläre Blockade und maschinelle Beatmung wirksam behandelt werden. 4.10.16

Ophthalmia neonatorum

7 Kap. 28.

4.11

Neugeborenenkrämpfe

jjGrundlagen Von Krampfanfällen spricht man, wenn aufgrund einer vorübergehenden Beeinträchtigung der Hirnfunktion eine abnormale motorische und/oder vegetative Aktivität mit oder ohne Änderung der Bewusstseinslage auftritt, die von einer paroxysmalen elektrischen Aktivität des Gehirns begleitet wird. Typisch für Neugeborene ist, dass nicht alle als Krampfanfall imponierende motorische Aktivitäten mit Veränderungen des EEG einher gehen. Da es bei Krampfanfällen zu einer Auschüttung von Katecholaminen kommt, sind sie oft mit autonom-vegetativen Phänomenen wie Tachykardie und einem Blutdruckanstieg verbunden. >> Im Gegensatz zu Krampfanfällen bei älteren Säuglingen und Kindern sind Krampfanfälle beim Neugeborenen in der überwiegenden Mehrzahl nicht idiopathisch, sondern beruhen auf einer akuten zerebralen Funktionsstörung.

Die Inzidenz wird mit 0,5% aller Neugeborenen angegeben. Die klinische Diagnose neonataler Krämpfe ist nicht immer einfach, aus diesem Grund ist immer eine genaue Beobachtung und Beschreibung der registrierten Phänomene notwendig. jjKlinik Klinisch können spezifische Typen neonataler Anfälle unterschieden werden: 44 Klonische Krämpfe: rhythmische Zuckungen mit einer ­Frequenz von 1–2/s, wobei Hin- und Rückbewegung von ­unterschiedlicher Geschwindigkeit sind (meist schnelle Hinund langsamere Rückbewegung), auf einer oder beiden ­Körperseiten (fokal oder generalisiert). 44 Tonische Krämpfe: Fokale tonische Anfälle manifestieren sich als einseitige anhaltende tonische Beugung oder

­Streckung einer Extremität, des Halses oder Rumpfs. Bei

der generalisierten Form betreffen diese Bewegungen beide Körperseiten, z. T. mit Streckung der Beine und Beugung der Arme. 44 Myoklonische Krämpfe: Plötzlich einschießende rasche Kontraktion eines Beugemuskels, entweder fokal oder multifokal, d. h. asynchrone alternierende Myoklonien unterschiedlicher Körperteile. Myoklonische Krämpfe sind in der Regel ohne EEG-Veränderungen. Im Schlaf werden fokale Myoklonien bei Neugeborenen, insbesondere bei Frühgeborenen, sehr häufig gesehen. Diese Schlafmyoklonien sind physiologisch und kein Ausdruck einer Hirnfunktionsstörung; beim Erwecken der Neugeborenen sistieren sie unverzüglich. 44 Subtile Krämpfe: orale Automatismen, stereotype komplexe Bewegungsmuster wie Pedalieren der Beine, tonische Augendeviation. Selten können sich Krämpfe auch als Apnoe präsentieren, die dann in der Regel mit einer Tachykardie einhergeht (differenzialdiagnostisch wichtiges Kriterium zu anderen Apnoeformen!). jjÄtiologie, Diagnostik Sehr verschiedene Grundkrankheiten können sich mit Krämpfen in der Neugeborenenperiode präsentieren, und die Prognose der ­Kinder wird in der Regel durch diese zugrundeliegenden Erkrankungen bestimmt. Die basale Diagnostik bei Neugeborenenkrämpfen umfasst neben der Anamnese und der klinischen Untersuchung bestimmte Laboruntersuchungen (Blutzucker, Elektrolyte, Kalzium, großes Blutbild, Blutgasanalyse, CRP, Urinstatus), die Sonographie des Kopfs und das EEG. Weitere Untersuchungen erfolgen entsprechend spezifischer Auffälligkeiten. Ursache von Neugeborenenkrampfanfällen 55Akute metabolische Störungen –– Hypoglykämie –– Hypokalzämie –– Hyponatriämie –– Hypernatriämie –– Hypomagnesiämie 55Asphyxie 55ZNS-Infektion –– Meningitis –– Enzephalitis 55Hirnblutung, Hirninfarkt 55Periventrikuläre Leukomalazie 55Sinusvenenthrombose 55Hirnfehlbildungen 55Angeborene Stoffwechselerkrankungen –– Aminoazidopathien –– Organoazidurien 55Benigne Neugeborenenkrämpfe –– Familiär –– Fifth-day fits (Krämpfe am 5. Lebenstag) –– Pyridoxinabhängige Krämpfe 55Angeborene peroxisomale Erkrankungen 55Neurokutane Syndrome 55Toxine –– Bilirubin –– Heroin –– Kokain –– Lokalanästhetika

4

132

C.P. Speer

Akute metabolische Störungen  Eine unverzügliche Therapie ­ ieser Störungen stellt die Erstmaßnahme bei Neugeborenenkrämpd fen dar. Asphyxie  Dieses ist die häufigste Ursache für Krampfanfälle innerhalb der ersten 2 Lebenstage. Das frühe Auftreten innerhalb der ersten 4–6 h spricht für eine sehr schlechte Prognose.

4

ZNS-Infektion  Bei nicht sicher einzuordnenden Krämpfen oder bei entsprechender klinischer Symptomatik ist immer eine Liquorpunktion indiziert. Bei pathologischen Befunden: differenzierte

Diagnostik.

Hirnblutungen  Sowohl traumatisch bedingte Hirnblutungen reifer Neugeborener als auch intrazerebrale Blutungen bei Frühgeborenen können mit Krampfanfällen einhergehen. Bei Frühgeborenen ist die sonographische Untersuchung ausreichend, bei Reifgeborenen ist meist ein CT oder MRT notwendig. Hirnfehlbildungen  Lissenzephalie, Holoprosenzephalie, Porenzephalie. Bei Verdacht im Ultraschallbild ist eine genaue weiterge­ hende bildgebende Diagnostik erforderlich. Angeborene Stoffwechselerkrankungen  Dieses sind v. a. Aminoazidopathien (Ahornsirupkrankheit, Hyperglyzinämie) oder Organoazidurien (Propionaziämie). Aufgrund eines Abbau- oder

S­ ynthesedefekts kommt es zur Akkumulation toxischer Metabolite. Die Symptome treten dann auf, wenn die Kinder eine gewisse ­Nahrungsmenge erhalten haben oder sich in einer katabolen Stoffwechselsituation befinden (Abbau von körpereigenem Eiweiß). ­Toxinentfernung, Begrenzung der Eiweißzufuhr und Beseitigung der Katabolie sind die Hauptmaßnahmen. Diagnostik: Ammoniak, Laktat, Blutzucker im Serum, Ketonkörper im Urin, sofortige Asservierung von Urin zur spezifischen Diagnostik.

Benigne Neugeborenenkrämpfe  Krämpfe in der Neugeborenen-

periode sind zu einem großen Teil benigner Natur. Sie treten in der ersten Lebenswoche auf, sind transient und die Kinder entwickeln sich unauffällig. Die Diagnose erfolg per Ausschluss anderer Ur­sachen. Eine familiäre Form wird autosomal-dominant vererbt, der Genort liegt auf Chromosom 20q. Eine weitere Sonderform sind Krämpfe, die typischerweise am 5. Lebenstag auftreten („fifth-day fits“). Die Ursache ist ungeklärt, die Bedeutung eines Zinkmangels unklar. ­Ätiologisch unklare Krämpfe sollten als Neugeborenenkrämpfe ohne Dignitätsangabe bezeichnet werden, erst die unauffällige weitere Entwicklung erlaubt es, die Diagnose benigner Anfälle sicher zu stellen.

Pyridoxinabhängige Krämpfe  Diesem seltenen Krankheitsbild liegt wahrscheinlich ein GABA-Sythesedefekt zugrunde. Die Krampf-

anfälle treten am ersten Lebenstag auf und sind gegenüber den üblichen Antikonvulsiva therapieresistent. Vitamin B6 stellt einen Kofaktor für die Sythese von GABA dar und ist therapeutisch wirksam. Trotz der Seltenheit dieses Krankheitsbilds ist bei therapieresistenten Krampfanfällen ein Behandlungsversuch mit Vitamin B6 sinnvoll. Angeborene peroxisomale Erkrankungen (Zellweger-Syndrom, neonatale Adrenoleukodystrophie)  Klinisch finden sich bei die-

sen selteneren Erkrankungen in der Neonatalphase neben den Krampfanfällen eine kraniofaziale Dysmorphie, Muskelhypotonie, Trinkschwäche, Optikusatrophie oder Katarakt. Die Diagnose erfolgt über die Bestimmung biochemischer Marker im Blut, insbesondere den sehr langen Fettsäuren (VLFA).

Neurokutane Sydrome  Diese angeborenen Erkrankungen können selten ebenfalls mit Krampfanfällen im Neugeborenenalter einhergehen. Klinisch ist auf kutane Depigmentierungen (tuberöse Sklerose), Café-au-lait-Flecken (Neurofibromatose) oder faziale Portwein-Naevi (Sturge-Weber) zu achten. Toxine  Die Bilirubinenzephalopathie ist eine Rarität geworden.

Bei maternaler Heroineinnahme können Neugeborenenkrämpfe als

neonatales Entzugssyndrom auftreten. Nach maternaler Kokain-

einnahme kann es zu intrazerebralen Gefäßverschlüssen kommen. Die akzidentelle Injektion eines Lokalanästhetikums in den Fetus bei Pudendusanästhesie kann zu Krämpfen führen, klinisch finden sich eine muskuläre Hypotonie und dilatierte Pupillen.

jjTherapie Bei Neugeborenenkrämpfen muss Diagnostik und Therapie parallel erfolgen. Da die Hypoglykämie sofort behandelbar und ihre Folgen schwerwiegend sind, erfolgt als erste Maßnahme die Bestimmung des Blutzuckers als kapillärer Schnelltest und sofort nach Blut­ abnahme möglichst durch eine 2. Person Verabreichung von Glu­ kose 10% i.v., 2 ml/kgKG. Unter der Glukosezufuhr sollte der Krampfanfall beobachtet und beschrieben werden: Krampftyp, einoder beidseitig, vegetative Symptome, Dauer. Anschließend Blut­ abnahme für Kalzium, Natrium, Magnesium und Kalium. Wenn der Krampfanfall nicht innerhalb von einigen Minuten sistiert, werden i.v.-Antikonvulsiva verabreicht (Mittel der ersten Wahl Lorazepam, Midazolam oder Clonazepam, dann Phenobarbital und Phenytoin). Findet sich keine Krampfursache, sollte bei persistierenden Krämpfen Pyridoxin (Vitamin B6) verabreicht werden. 4.12

Metabolische Störungen

4.12.1

Hypoglykämie

jjEpidemiologie Eine symptomatische Hypoglykämie ereignet sich bei 1–3 von 1.000 Neugeborenen. Deutlich höher ist das Hypoglykämierisiko bei dystrophen Neugeborenen (5–15%) und bei Frühgeborenen. Wei­tere Risikofaktoren für eine Hypoglykämie sind Hypothermie, ­Hypoxie, mütterlicher Gestationsdiabetes oder Diabetes mellitus und Polyzythämie. jjPathogenese Hypoglykämien bei Neugeborenen können folgende Ursachen ­haben: 44 Der Glukoseverbrauch übersteigt die Glukosezufuhr bzw. die Glukoseproduktion. Da Neugeborene nur einen geringen ­Glykogenvorrat (1% des Körpergewichts) haben, kommt es bei Ausbleiben einer exogenen Glukosezufuhr rasch zu Hypoglykämien. Dies ist die häufigste Ursache von Hypoglykämien beim Neugeborenen. 44 Ein Hyperinsulinismus liegt bei Kindern diabetischer Mütter (transient), beim Beckwith-Wiedemann-Syndrom und bei der Nesidioblastose (diffuse Inselzellhyperplasie) vor. 44 Kongenitale Stoffwechseldefekte: Aminosäurestoffwechselstörungen (z.  B. Ahornsirupkrankheit) stören die Glukoneogenese. Glykogenspeicherkrankheiten, Galaktosämie und Fruktoseintoleranz verringern die Verfügbarkeit von Glukose aus Glykogen. 44 Polyglobulie: Die Ursache der Hypoglykämien bei Poly­ globulie ist nicht bekannt.

133 Neonatologie

jjKlinik Die Symptome der Hypoglykämie sind unspezifisch und umfassen Zittrigkeit, Apathie, Krampfanfälle, Apnoen, muskuläre Hypotonie und Trinkschwäche. jjDiagnose Die Definition der Hypoglykämie beim Neugeborenen ist schwierig, da Neugeborene auch bei niedrigen Blutzuckerwerten häufig asymptomatisch sind. Laborchemische Definition der Hypoglykämie 55Frühgeborene/Reifgeborene (>24 h): Plasmaglukose 24 h): Plasmaglukose > Bei Kindern sofort reanimieren, nach 1 min den Rettungsdienst alarmieren: „Act first – phone fast!“

In der Notfallsituation herrscht Zeitmangel, die anamnestischen Informationen sind oft lückenhaft. Eine ethisch und medizinisch „richtige“ Entscheidung zu treffen kann sehr schwierig sein. Im Zweifel sind Reanimationsmaßnahmen immer sofort und mit ­ganzer Intensität zu beginnen. Davon kann abgewichen werden, wenn die Erziehungsberechtigten z. B. im Finalstadium chronischer Erkrankungen keine Einwilligung zur Durchführung der Wieder­ belebungsmaßnahmen geben oder wenn sichere Todeszeichen bestehen.

Thromboembolie Spannungspneumothorax

>> Reversible Ursachen des Herz-Kreislauf-Stillstands während der Reanimation behandeln!

Eine Pufferung mit Natriumbikarbonat kann bei langer Reanima­ tionsdauer erwogen werden. Eine Übersicht der verwendeten kreislaufwirksamen Medikamente findet sich in . Tab. 5.2. jjEnde der Reanimation Mit zunehmender Reanimationsdauer sinken die Erfolgschancen rapide, v. a. wenn es nicht gelingt, reversible Ursachen des Stillstands

..Tab. 5.1  Kardiopulmonale Reanimation im Kindesalter: Basismaßnahmen. (Mod. nach Empfehlungen des European Resuscitation Council, 2015) Kind >1 Jahr

Kind > Eine schnelle Orientierung erlaubt der Blick auf den kleinen Finger: die Stärke des Mittelglieds entspricht der altersgerechten Tubusgröße.

Narbige Stenosen oder Tracheomalazie sind gefürchtete Komplikationen der Intubation. jjTechnik der Intubation Zur Intubation wird der Patient in „Schnüffelposition“ gelagert­ und präoxygeniert (. Abb. 5.3). Instrumentarium und Medikation müssen vollständig bereitgestellt und überprüft sein. Altersabhängig wird ein gerader Spatel Typ Miller für Früh- und Neugeborene oder der gebogene McIntosh-Spatel gewählt. Die Intubation erfordert­ ein eingespieltes Team und muss gleichsam automatisiert ablaufen. Spezielle klinische Situationen, wie eine geringe respiratorische ­Reserve, ein voller Magen oder Intubationshindernisse stellen besondere Herausforderungen dar, die durch eine „Rapid Sequence Induction“ oder durch fiberoptische Intubation beherrscht werden können. Eine Tubusfehllage ist klinisch und durch technische Hilfsmittel wie z. B. die exspiratorische CO2-Messung sicher auszuschließen. In der Klinik muss eine radiologische Kontrolle der Tubusposition erfolgen. Kleine Kinder werden nur in Ausnahmefällen und bei Langzeitbeatmung tracheotomiert. 5.3

Analgosedierung

jjIndikation Zur Langzeitbeatmung, zur postoperativen Schmerztherapie, für kleinere diagnostische oder therapeutische Eingriffe ist eine Analgosedierung erforderlich. Schmerz und Angst sollen aufgehoben oder

139 Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin

zumindest reduziert werden. Der intubierte Patient soll den endotrachealen Tubus und die maschinelle Beatmung tolerieren. Ein „Kampf gegen die Maschine“ muss verhindert werden. Der Atemantrieb soll erhalten bleiben, sodass neben der maschinellen Beatmung, die Spontanatmung zur Optimierung von Ventilation und Oxygenierung beitragen kann. Die Analgosedierung kann kontinuierlich über einen Perfusor und/oder als Bolus verabreicht werden. Im Rahmen der Beatmungstherapie ist eine Relaxierung nur selten erforderlich und bleibt besonderen Situationen vorbehalten.

oder Blutdruckanstieg, Tränenfluss oder subjektive Äußerungen des Patienten skalieren. In der Praxis ist die klinische Beobachtung entscheidend. Das verantwortlich betreuende Pflegepersonal kann oft am besten beurteilen, ob das Kind eine ausreichende Medikation erhält. Einen Überblick der häufig verwendeten Substanzen, sowie deren Vor- und Nachteile gibt . Tab. 5.4.

>> Auch der relaxierte Patient braucht eine Analgosedierung!

Die maschinelle Beatmung zählt zu den wichtigsten therapeutischen Maßnahmen in der Intensivmedizin. Bis zum Schulkindalter benötigen Kinder spezielle Beatmungsgeräte. Die angewendeten Beatmungsverfahren unterscheiden sich vom Erwachsenenalter und sollen deshalb detaillierter besprochen werden. Die künstliche Beatmung ist ein massiver Eingriff in die natürliche Atemphysiologie. Herz und Kreislauf, die Nierenfunktion und die Darmmotilität können beeinträchtigt werden, die Vigilanz wird durch sedierende Medikamente reduziert, die neurologische Beurteilung erschwert, Infektionen werden begünstigt.

jjAuswahl der Medikation Zur Sedierung und Anxiolyse werden Benzodiazepine, zur Analgesie Opioide verwendet. Zur postoperativen Schmerztherapie ist eine Kombination mit Paracetamol oder Ibuprofen sinnvoll. Ist die Analgosedierung über viele Tage erforderlich, so tritt insbesondere bei Opioiden und Benzodiazepinen ein Gewöhnungseffekt ein, der eine Dosisanpassung erforderlich macht. Sinnvoll kann ein Wechsel der Substanzklassen sein. !! Cave Abruptes Absetzen der Analgosedierung kann zu einer Entzugssymptomatik mit erheblichen Unruhezuständen und ­vegetativen Symptomen führen.

Nach langer Analgosedierung müssen Opioide und Benzodiazepine daher ausgeschlichen werden. Zur Therapie eines ausgeprägten Entzugssyndroms hat sich die kontinuierliche Verabreichung des zentral dämpfenden α2-Agonist Clonidin bewährt. jjSchmerzscore Zur Objektivierung von Schmerz und Angst können Scores ver­ wendet werden, die vegetative Symptome wie die Herzfrequenz-

5.4

Beatmung

jjTechnik der maschinellen Beatmung Bei der maschinellen Ventilation wird das Tidalvolumen durch Überdruck in die Alveolen gepresst, die Exspiration erfolgt passiv durch die elastischen Rückstellkräfte der Lunge und des Brustkorbs. Bei kleinen Kindern ist die Relation von Tidalvolumen zu anatomischem und apparativem Todraum ungünstig, außerdem ist der Atemwegswiderstand groß. Deshalb werden bis zu einem Körper­ gewicht von etwa 15 kg und Tidalvolumina von 120 ml zeitgesteuerte, druckkontrollierte Beatmungsgeräte mit einem kontinuier­ lichen Bypassgasflow eingesetzt. Das maschinelle Tidalvolumen wird appliziert, indem das Exspirationsventil am Respirator schließt, der Druck im Schlauchsystem

..Tab. 5.4  Auswahl von Medikamenten zur Analgosedierung und Relaxation Substanz

Einzeldosis

Kontinuierlich

Effekte

Nebenwirkungen

Etomidate

0,3 mg/kgKG



Hypnose

Myoklonien

Propofol

2–4 mg/kgKG

1–3 mg/kgKG/h

Hypnose

Hypotension, Hepathopathie

Fentanyl

10 µg/kgKG

0,5–5(–20) µg/kgKG/h

Analgesie

Atemdepression

Ketamin

1–2 mg/kgKG

2–8 mg/kgKG/h

Dissoziative Anästhesie, Broncho­ dilatation

Hypersalivation Hypertension

Morphin

0,1 mg/kgKG

10–30(–100) µg/kgKG/h

Analgesie

Atemdepression

Piritramid

0,1 mg/kgKG

0,02–0,05 mg/kgKG/h

Analgesie

Atemdepression

0,5–2 µg/kgKG/h

Reduktion der Entzugsymptome

Blutdruckabfall

0,1–0,3 mg/kgKG

0,3 mg/kgKG/h

Sedierung

Pancuronium

0,1 mg/kgKG



Nichtdepolarisierendes Muskelrelaxans

Rocuronium

0,6 mg/kgKG

0,1 mg/kgKG/h

Nichtdepolarisierendes Muskelrelaxans

Hypnotika

Analgetika

Sedativa Clonidin Midazolam Muskelrelaxanzien

Alle Dosierungen, wenn nicht anders angegeben, als Bolus oder kontinuierlich i.v.

5

140

H. Schiffmann

..Tab. 5.5  Monitoring der maschinellen Beatmung

5

Methode

Technik

Vorteil

Nachteil

Klinische Beobachtung

Atemfrequenz, Thoraxexkursionen, Hautkolorit, Schaukelatmung

Einfach, beliebig wiederholbar

Klinische Erfahrung erforderlich, subjektiv

Blutgasanalyse

Kapilläre oder arterielle Blutprobe

Objektiver Globalparameter der Oxygenierung und Ventilation

Invasiv, schmerzhaft, nur punktuelle Analyse

Transkutane pO2- und pCO2-Messung

Elektrochemische Potenzialdifferenz

Kontinuierliches Monitoring, wenig invasiv

Kalibrierung erforderlich, „Drift“, Haut­ schäden

Transkutane ­O2-Sättigung

Infrarotspektroskopie und optische Plethysmographie

Kontinuierliches Monitoring, nichtinvasiv

Bewegungsartefakte, reduzierte Hautperfusion oder Dyshämoglobinämie verfälschen Ergebnis

Kapnographie

Endexspiratorische pCO2-Messung durch Infrarotspektroskopie im Haupt- oder Nebengasfluss

Kontinuierliches Monitoring, nichtinvasiv, Verifizierung der korrekten Tubuslage

Totraumvergrößerung, durch Hämodynamik beeinflusst

Lungenfunktion

Tidalvolumen, Atemgasflüsse, Compliance, Resistance

Objektive Parameter, nichtinvasiv

Respirator- bzw. geräteabhängig, nur z. T. in klinischer Routine einsetzbar

Röntgen

Thorax a.p., Computertomogramm

Regionale Ventilation darstellbar

Strahlenbelastung, punktuelle Analyse, technischer Aufwand

entsprechend dem eingestellten Gasfluss bis zu einer vorgewählten Druckobergrenze rasch ansteigt und über den Druckausgleich zwischen Respirator und Alveolarraum das Tidalvolumen in die Lungen strömt. Die Exspiration erfolgt passiv. Damit die Alveolen am Ende der Exspiration nicht kollabieren, wird ein kontinuierlich positiver Atemwegsdruck von 3–5 cmH2O eingestellt. >> Durch „positive endexpiratory pressure“ (PEEP) lässt sich der Alveolarkollaps verhindern.

Die Zeiten für In- und Exspiration werden vorgegeben und bestimmen die maschinelle Beatmungsfrequenz. Innerhalb eines vorgegeben Zeitfensters kann der maschinelle Beatmungshub durch Inspirationsanstrengung des Patienten ausgelöst werden. Dies ermöglicht eine bessere Synchronisation von Patient und Gerät und verbessert den Komfort des Patienten am Respirator. Der Respirator „erkennt“ den Beginn einer Inspiration über einen tubusnahen Flowsensor und löst fast verzögerungsfrei die maschinelle Inspiration aus. Zwischen den maschinellen Beatmungshüben kann der Patient ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen. Die Synchronisation von Patient und Gerät reduziert den Bedarf an Analgosedierung. Ein weiterer Vorteil ist die Reduktion von Baro- und Volutrauma, nachteilig ist der größere Aufwand im ­Monitoring (. Tab. 5.5). Die applizierten Beatmungsvolumina und das Atemminutenvolumen können sich abhängig vom Krankheitsverlauf oder dem Wachheitsgrad des Patienten rasch ändern, sodass die Beatmungsintensität ständig an die klinische Situation adaptiert werden muss. jjTerminologie In der pädiatrischen Intensivmedizin haben sich die angloamerikanischen Bezeichnungen zur Benennung der Beatmungsformen in der täglichen Arbeit durchgesetzt. >> Bei der synchronisierten Beatmung, Synchronized Intermittend Mandatory Ventilation, kurz SIMV, werden die Atemhübe mit den Einatembemühungen des Kindes synchronisiert.

Die Oxygenierung wird über die Erhöhung des Plateaudrucks, des PEEP oder eine längere Inspirationszeit verbessert, die Ventilation,

d. h. die CO2-Elimination kann über eine höhere Beatmungsfrequenz und den Plateaudruck gesteigert werden (. Abb. 5.4). Bei lungengesunden älteren Kindern können zur postoperativen Nachbeatmung auf der Intensivstation, wie bei Erwachsenen volumenkontrollierte Beatmungsformen eingesetzt werden. Dabei werden Tidalvolumen und Atemfrequenz vorgegeben, das Atem­ minutenvolumen liegt somit fest, eine Sicherheitsdruckgrenze schützt die Lunge vor Überblähung. Auch bei dieser Beatmungsform ist eine Synchronisation durch Triggerung möglich. 5.4.1

Spezielle Beatmungstechniken bei ­Atemversagen

Beim respiratorischen Versagen ist oft die Compliance der Lunge reduziert, sodass hohe Beatmungsspitzendrücke und ein hoher PEEP von bis zu 15 cmH2O erforderlich sind, um einen Alveolar­ kollaps zu verhindern und den Gasaustausch zu gewährleisten. Bei Kindern und Erwachsenen werden meist spezielle druckkontrol­ lierte, zeitgesteuerte Beatmungsformen angewandt, die zu einer gleichmäßigen Blähung der Lunge führen sollen. >> Biphasic Positive Airway Pressure, kurz BIPAP, ist eine spe­ zielle druckkontrollierte, zeitgesteuerte Beatmungstechnik beim Atemversagen.

Eine Sonderposition nimmt die Hochfrequenzbeatmung ein. Über eine Kolbenpumpe werden das Gasvolumen des Schlauchsystems und der Atemwege in hochfrequente Schwingungen versetzt. Diese Form der Hochfrequenzbeatmung wird als High Frequency Oscillatory Ventilation, kurz HFOV, bezeichnet. Sie ist definiert durch ­supraphysiologische Beatmungsfrequenzen (5–15 Hz) und Tidalvolumina unter dem Totraumvolumen (1–3 ml/kgKG). HFOV wird zunehmend bei kritisch kranken Früh- und Neugeborenen mit Atemnotsyndrom oder persistierender fetaler Zirkulation und auch bei älteren Kindern eingesetzt. Ziel ist die Reduktion des Barotraumas, der Scherkräfte und die Rekrutierung der Alveolen, um den Gasaustausch zu optimieren. Die Mechanismen des Gastransports unter Hochfrequenzoszillation sind nicht vollständig verstanden.

5

141 Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin

..Abb. 5.4  Druck-, Flow- und Volumendiagramm bei SIMV. Abhängig von der Synchronisation und dem Druckplateau variiert das effektiv applizierte ­Tidalvolumen (untere Reihe). Tidalvolumen II ist größer als I, da der Patient unter der Inspiration „mitatmet“, Tidalvolumen III ist kleiner, da es außerhalb des Erwartungsfensters als maschineller Beatmungshub appliziert wird und der Patient „gegenpresst“, bei Atemzug IV wurde der Inspirationsdruck reduziert, es resultiert ein niedrigeres Tidalvolumen. pmax Spitzendruck, pPlateau Plateaudruck, PEEP positive endexspiratory pressure

Erwartungsfenster Beatmungsdruck (cmH2O) I

Spontanatmung

Pmax PPlateau PEEP II

III

Spontanatmung IV

Gasfluss (l/min) Inspiration

Exspiration

appliziertes Volumen (l/min)

Zeit

Die Oxygenierung wird über den Atemwegsmitteldruck reguliert, die CO2-Elimination über Amplitude und Oszillationsfrequenz. >> Beim kindlichen Atemversagen wird auch die High Frequency Oscillatory Ventilation, HFOV, erfolgreich eingesetzt.

5.4.2

Atemgasklimatisierung

jjPhysiologie der Atemgasanfeuchtung Im Mittelpunkt der Atemgasklimatisierung steht die Mukosa der Atemwege, die physikalisch als Wasser- und Wärmespeicher aufgefasst werden kann. Die Klimatisierung der Atemgase gleicht einem Kreislauf für Wasser und Wärmeenergie. Bei der Inspiration werden die Atemgase durch Konvektion erwärmt, gleichzeitig wird durch Verdunstung von Wasser das Atemgas mit Wasserdampf gesättigt. Ein Teil des verdunsteten Wassers und der abgegebenen Energie wird bei der Exspiration durch Kondensation zurückgewonnen. Dennoch kommt es zu erheblichen Wasserverlusten von bis zu 250 ml/Tag. Durch die Intubation geht die Klimatisierungsfunktion der oberen Atemwege weitgehend verloren, daher ist die Anfeuchtung und Erwärmung der Atemgase ein wichtiger Bestandteil der maschinellen Beatmung. Eine unzureichende Atemgasklimatisierung schädigt das respiratorische Epithel. Die mukoziliare Clearance wird gestört, der ­Sekrettransport kommt zum Erliegen. Daraus resultieren Obstruktionen der Atemwege, Atelektasen und eine Verschlechterung des Gasaustauschs. Als Folge der Sekretretention kann es zur mikrobiellen Besiedelung der tieferen Atemwege und schließlich zur Infektion kommen. >> Die Atemgasklimatisierung schützt das respiratorische E ­ pithel und beugt beatmungsinduzierten Lungenschäden vor.

jjTechnik Zur Atemgasklimatisierung werden Wasserverdampfer als aktive Anfeuchtung oder Wärme- und Feuchteaustauscher (Heat and Moisture Exchanger, HME) als passive Systeme eingesetzt (. Abb. 5.5).

HME werden auch als „künstliche Nasen“ bezeichnet. Während der Exspiration wird Wasser und Wärme im HME gespeichert und in der Inspiration wieder abgegeben. In jüngerer Zeit konnte die Leistungsfähigkeit dieser passiven Klimatisierungssysteme erheblich verbessert werden, sodass sie auf Grund ihrer einfachen und sicheren Handhabung bei Erwachsenen und Kindern eingesetzt werden. Ein besonderer Vorteil der HME liegt in der Prävention ventilatorassoziierter Pneumonien, die eine erhebliche Mortalität ­haben. Das feuchtwarme Milieu im Verdampfertopf und im Schlauchsys-

Temperatursensor

Respirator Wasserfallen Befeuchter

Heat and Moisture Exchanger

Respirator

..Abb. 5.5  Atemgasklimatisierung durch aktive Wasserverdunstung und Erwärmung der Atemgase über einen Verdampfertopf (oben) oder durch eine „künstliche Nase“ als Wärme- und Feuchteaustauscher (unten)

142

H. Schiffmann

..Tab. 5.6  Komplikationen der maschinellen Beatmung und der endotrachealen Intubation

5

Akutkomplikationen

Maßnahmen

Langzeitkomplikationen

Maßnahmen

Tubusfehllage, -obstruktion

Lagekorrektur, Umintubation ggf. über Tubuswechsler

Trachealstenose, Treacheomalazie

Laserchirurgische Abtragung, Stents, Tracheotomie

„air leaks“ (Pneumothorax, inter­ stitielles Emphysem, Pneumo­ perikard)

Drainage, Modifikation der Ventilation mit PEEP und Plateaudruckreduktion

Bronchopulmonale Dysplasie

O2-Therapie, Flüssigkeitsreduktion, Diuretika, kalorienreiche Ernährung

Interstitielles oder intraalveoläres Ödem durch exzessives Volutrauma

Modifikation der Ventilation mit PEEP-Erhöhung und Plateaudruckreduktion

Lungenfibrose mit restriktiver Ventilationsstörung nach ARDS

Kortikosteroide

„Ventilatorassoziierte Pneumonie“

Antibiotische Therapie

Kognitive und affektive Störung nach ARDS bei Erwachsenen (Kinder?)

Low-cardiac-output-Syndrom durch reduzierte Lungenperfusion und/oder Rechtsherzversagen

Volumengabe, Katecholamine

Durchgangssyndrom und Entzug nach langdauernder Analgosedierung

tem aktiver Systeme ist ein idealer Nährboden für nosokomiale Erreger. Bei Verwendung von HME bleibt das Schlauchsystem des Respirators dagegen vollkommen trocken. In einer Studie konnte die Inzidenz der ventilatorassoziierten Pneumonie allein durch den ­Einsatz von HME signifikant gesenkt werden. 5.4.3

Entwöhnung von der Beatmung

Durch schrittweise Reduktion von Beatmungsdruck und -frequenz wird der Patient zu größerer Spontanatmungsaktivität veranlasst und so behutsam vom Respirator entwöhnt (Weaning). >> Zur Erleichterung der Spontanatmung kann eine Druckunterstützung jedes Atemzugs bis zu einem vorgegeben Druck­ niveau (z. B. 10 cmH2O) eingestellt werden Diese Beatmung wird als Pressure Support Ventilation, PSV, bezeichnet.

Die Unterstützung erfolgt durch einen dezelerierenden Flow und wird beendet, wenn dieser auf 6–25% des initialen Werts abgefallen ist. Allerdings kompensiert die Druckunterstützung den erhöhten Atemwegswiderstand des Tubus unter Spontanatmung nur teilweise. Eine „elektronische Extubation“ kann durch eine bessere Anpassung der inspiratorischen Druckunterstützung an den aktuellen Gasfluss erreicht werden. Diese variable Druckunterstützung kompensiert die tubusbedingte Atemmehrarbeit weitgehend. Allerdings bieten derzeit nur wenige Respiratoren diesen Modus. Zur Entwöhnung vom Tubus werden schrittweise die maschi­ nelle Beatmungsfrequenz auf 12/min und der Plateaudruck auf > Beim ARDS entsteht die Hypoxämie aus einer Diffusions­ störung und der gestörten Ventilations-Perfusions-Ratio durch intrapulmonale Shunts.

Exsudative Phase  In einer ersten exsudativen Phase findet sich eine ausgeprägte Permeabilitätserhöhung des Kapillarendothels und Alveolarepithels. Das Alveolarepithel wird von den Typ-I-Pneumozyten gebildet. Rasch entwickeln sich ein eiweißreiches interstitielles und alveoläres Ödem sowie hyaline Membranen. Daneben findet sich eine Schädigung der Typ-II-Pneumozyten mit Reduktion der Surfactantproduktion. Zudem inhibiert das eiweißreiche Ödem den Surfactant und verstärkt so den Surfactantmangel. In der Bronchiallavage von ARDS-Patienten finden sich hohe Konzentrationen proinflammatorischer Zytokine (TNF-α, IL-1, -6, -8). Die Alveolitis ist durch die Invasion aktivierter neutrophiler Granulozyten gekennzeichnet, die proteolytische Enzyme, O2-Radikale und Leukotriene freisetzen. Die lokale Aktivierung der Gerinnungskaskade führt zu

Fibroproliferative Phase  Übersteht der Patient die Akutphase, entwickelt sich nach etwa 2 Wochen die fibroproliferative Phase­ des ARDS. Das alveoläre Ödem wird resorbiert. Histopathologisch finden sich jetzt eine Proliferation der Typ-II-Pneumozyten, Ver­ dickung der Alveolarsepten, intra- und extraalveoläre Granulationen und Kollagenablagerungen. Die initiale Reduktion der Compliance durch das alveoläre und insterstitielle Ödem wandelt sich im Verlauf durch den fibroproliferativen Umbauvorgang der Lungenfibrose in eine restriktive Ventilationsstörung. In jeder Phase des ARDS kann die Schädigung der Lunge durch eine inadäquate Beatmungsstrategie verstärkt werden: „Ventilator Induced Lung Injury“. Andererseits ist in jeder Phase eine vollständige Ausheilung möglich.

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gesunde Lunge Typ I Alveolarzelle Typ II Alveolarzelle

exsudatives Stadium

proliferatives Stadium respiratorisches Epithel

respiratorisches Epithel

phagozytierender Alveolarmakrophagen

Basalmembran

Kapillare

Myofibroblast

Epithelschäden inaktivierter Surfacant

Endozytose aktivierter Neutrophiler

Typ I Zellnekrose

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Erythrozyt

eiweißreiches Ödem

Ödem Apoptose Phagozytose

Kollagen

Interstitium Kapillarendothel Surfactantfilm Alveolarmakrophagen

Fibronektin Erythrozyt intakte Typ II Zellen

Fibroblast Fibrin

Fibroblast Alveolarmakrophagen

Thrombozytenaggregate

Neutrophile interstitielles Ödem

hyaline Membran

..Abb. 5.6  Pathophysiologie des ARDS. In der exsudativen Akutphase des ARDS (Bildmitte) sezernieren Makrophagen proinflammatorische Interleukine und Tumornekrosefaktor α. Durch die Chemotaxis angelockt, ­wandern Neutrophile aus dem Gefäßsystem in den Alveolarraum und sezernieren ebenfalls Enzündungsmediatoren, wie Leukotriene, Proteasen und „platelet activating factor“. Es resultiert ein Kapillarleck, eiweißreiches Exsudat strömt in die Alveolen, Surfactant wird inaktiviert und der Gasaustausch gestört. Das respiratorische Bronchialepithel wird teilweise zerstört. Es finden sich Nekrosen der

..Abb. 5.7  Die Röntgenaufnahme des Thorax zeigt diffuse bilaterale In­ filtrate im exsudativen Stadium des ARDS

Epithelschäden

Typ-I-Alveolarzellen und hyaline Membranen. Im proliferativen Stadium des ARDS (rechte Bildseite) entwickelt sich aus Kollagen, Fibronektin und Myofibroblasten eine alveoläre und interstitielle Fibrose. Im weiteren Verlauf wird die Alveolarflüssigkeit resorbiert. Alveolarmakrophagen phagozytieren apoptotische Neutrophile und Proteine. Lösliche Proteine werden durch Endozytose entfernt. Das Alveolarepithel regeneriert sich durch Proliferation und Differenzierung der Typ-I- und -II-Alveolarzellen. Durch diese Reparaturmechanismen können Anatomie und Funktion vollständig normalisiert werden

jjTherapie Grundlage einer erfolgreichen Behandlung des ARDS ist die Therapie der Grunderkrankung. Die maschinelle Beatmung ist eine supportive Maßnahme, welche die Oxygenierung und CO2-Elimination sicherstellt. In der exsudativen Phase der Erkrankung ist die Rekrutierung atelektatischer und vom Ödem betroffener Alveolen das Ziel der Beatmung. Die Eröffnung atelektatischer Areale erfordert einerseits hohe inspiratorische Drucke, andererseits muss die Beatmung so schonend wie möglich erfolgen, um Sekundärschäden durch eine zu ­aggressive Beatmung zu vermeiden. Der inspiratorische Plateaudruck sollte 28–32 cmH2O nicht überschreiten. Nach Eröffnung der Atelektasen, erkennbar an einem plötzlichen Anstieg des paO2, muss das hohe Druckniveau rasch reduziert werden, um das Barotrauma gering zu halten. Diese Beatmungstechnik wird als „RecruitmentManöver“ bezeichnet. Nach Recruitment soll der Beatmungsdruck so gering wie möglich über dem alveolären Verschlussdruck liegen, um die Gefahr einer Lungenüberblähung, eines interstitiellen Emphysems oder eines Pneumothorax zu minimieren. Ein erneuter Alveolarkollaps wird auch durch hohen PEEP von bis zu 15 cmH2O verhindert. Durch einen zyklischen Alveolarkollaps entstehen ­große Scherkräfte, die zur Zerreißungen der alveolären Basalmembran und des Epithels führen und so das Krankheitsgeschehen negativ beeinflussen können.

145 Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin

>> Das optimale PEEP-Niveau wird als „Best PEEP“ beeichnet und verhindert den zyklischen Alveolarkollaps.

In der „ARDS-Lunge“ finden sich Bezirke mit weitgehend gesunden Alveolen, neben atelektatischen oder überblähten Arealen. Kranke und gesunde Bezirke haben unterschiedliche physikalische Eigenschaften. Manche Areale entfalten sich rasch, andere brauchen eine längere Zeit zur Blähung. Die Lungenareale haben also unterschiedliche Zeitkonstanten. Druck- und volumenkontrollierte Ventilation eignen sich grundsätzlich beide zur Beatmung des ARDS, sofern durch eine adäquate Einstellung die regionalen Zeitkonstanten ­berücksichtigt werden. Dabei wird die Inspirationszeit relativ lang, der inspiratorische Gasfluss dezelerierend eingestellt. Ferner muss die enge Interaktion von Beatmung und Hämodynamik bedacht werden. So können hohe Beatmungsdrucke die Lungenperfusion reduzieren und die Hypoxämie verstärken. Infolgedessen kann­ das Herz-Zeit-Volumen signifikant abfallen und eine arterielle ­Hypotonie mit systemischer Minderperfusion und Nierenversagen resultieren. !! Cave Exzessive Inspirationsdrucke und hoher PEEP können ein Rechtsherzversagen auslösen.

Einen ungünstigen Effekt auf den Verlauf und die Prognose des ARDS hat die Beatmung mit großen Tidalvolumina. Um ein Volu­ trauma zu vermeiden, sind unabhängig von der Form der gewählten Beatmung die applizierten Tidalvolumina unter Berücksichtigung der Lungencompliance zu begrenzen (protektive Beatmung). Bei einem schweren ARDS mit stark reduzierter Compliance wird ein Tidalvolumen von 3–6 ml/kgKG, bei besserer Compliance von 5–8 ml/kgKG angestrebt. Hohe CO2-Werte von 65–85 mmHg werden im Sinne einer „permissiven Hyperkapnie“ toleriert, wobei der pH zwischen 7,15–7,30 gehalten werden soll. Eine protektive Beatmungsstrategie kann auch sehr gut mittels Hochfrequenzoszillationsbeatmung umgesetzt werden. Die konstante und homogene Blähung der Lunge in Verbindung mit den geringen Scherkräften in den Alveolen sind Vorteile der HFOV. Aus technischen Gründen kann HFOV bislang nur bei Kindern bis etwa 30 kgKG eingesetzt werden. Die Flüssigkeitsrestriktion ist ein wichtiger Bestandteil der ARDS-Therapie. Das pulmonale Ödem wird reduziert. Das intravaskuläre Volumen ist auf dem niedrigsten Level zu halten, das eine adäquate Organperfusion und O2-Versorgung erlaubt. Die Organperfusion bzw. das Herz-Zeit-Volumen kann über die arteriovenöse O2-Gehaltsdifferenz oder einfacher über die zentralvenöse O2-Sättigung abgeschätzt werden, die über 65% liegen soll. Ein Abfall des Herz-Zeit-Volumens und niedrige Perfusionsdrucke können mehrere Ursachen haben: 44 relativer Volumenmangel, 44 hoher Widerstand der Pulmonalgefäße, 44 Rechtsherzversagen. Mit Hilfe der Echokardiographie kann eine Funktionsstörung des Herzens rasch erkannt werden. Insbesondere bei hohem Lungengefäßwiderstand muss die Myokardfunktion durch Katecholamine wie Dobutamin unterstützt werden. >> Zur Optimierung des Herz-Zeit-Volumens und der systemischen Perfusionsdrücke kann der Einsatz von Katecholaminen erforderlich sein.

Eine Reihe weiterer Maßnahmen können im Einzelfall erfolgreich sein, sind jedoch nicht durch größere randomisierte Studien belegt:

44 Surfactantgabe, 44 inhalativer Stickstoffmonoxid, 44 pulmonale Vasodilatatoren, 44 intermittierende Lagerung in Bauchlage. Als ultima ratio wird die extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) eingesetzt. 5.6

Sepsis

Die Sepsis ist eine komplexe systemische inflammatorische ­Reaktion des Organismus auf eine Infektion. Verlauf und Schwere

sind fließend und reichen von der Erregerinvasion, der Bakteriämie über die systemische Reaktion, die als Systemic Inflammatory ­Response Syndrome, SIRS, bezeichnet wird, bis zur manifesten ­Sepsis (7 Kap. 15.1). Eine schwere Sepsis geht mit einer akuten ­Organdysfunktion, einer verminderten Organperfusion oder einem Blutdruckabfall einher. Diagnosekriterien für die Sepsis I. Infektiologische Genese (Bakterien, Viren, Pilze) –– Mikrobiologischer Nachweis in der Blutkultur oder dringender klinischer Verdacht –– SIRS: systemische inflammatorische Antwort (mindestens 2 Kriterien) –– Fieber ≥38ºC oder Hypothermie ≤36ºC –– Tachykardie –– Tachypnoe bzw. Hyperventilation (pCO2 ≤33 mmHg) –– Leukozytose ≥12.000/mm3 oder Leukopenie ≤4.000/mm3 oder Linksverschiebung ≥10% unreife Neutrophile im Differenzialblutbild II. Akute Organdysfunktion (mindestens 1 Kriterium) –– Akute Enzephalopathie (eingeschränkte Vigilanz, ­Desorientiertheit, Unruhe) –– Arterielle Hypotension (1,5-fach über oberen Normbereich III. Differenzierung nach Schweregraden –– Sepsis: Kriterien I und II –– Schwere Sepsis: Kriterien I–III –– Septischer Schock: Kriterien I und II sowie arterielle ­Hypotension oder notwendiger Vasopressoreinsatz ­(Dopamin ≥ 5µg/kgKG/min oder Noradrenalin, Adrenalin, Vasopressin) >> Beim septischen Schock werden Vasopressoren zur Stabilisierung des Blutdrucks benötigt.

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j jInzidenz Für pädiatrische Intensivstationen in Deutschland ist die Inzidenz der schweren Sepsis nicht genau bekannt. In den USA werden jährlich mehr als 20.000 Kinder behandelt. Die Letalität ist bei vorher gesunden Kindern niedriger als bei Erwachsenen und liegt in den industrialisierten Ländern zwischen 2,8% und 8,6%, bei Multiorganversagen zwischen 10% und 19%. In vielen Fällen handelt es sich um nosokomiale Infektionen, denen durch peinliche Einhaltung der Hygienevorschriften begegnet werden muss. Die sozioökonomische Bedeutung der Sepsis ist groß. Die direkten und indirekten Kosten bewegen sich für alle behandelten Patienten in Deutschland zwischen 5 und 11 Mrd. Euro. Diese Zahlen belegen die hervorragende Bedeutung präventiver Hygienemaßnahmen in der Intensivmedizin. j jDiagnostik Zur Diagnose und Therapie der Sepsis ist der mikrobiologische Keimnachweis von zentraler Bedeutung. Die häufigsten Erreger jenseits der Neugeborenenperiode sind: Häufigste Erreger der Sepsis im Kindesalter 55Bakterien –– Pneumokokken –– Meningokokken –– Streptokokken –– Staphylokokken –– E. coli u. a. gramnegative Erreger 55Viren –– Enteroviren –– Herpesviren 55Immunsupprimierte Patienten –– Candida –– Aspergillus –– Gramnegative Erreger

Fieber, Schüttelfrost, eine Hypothermie, eine Linksverschiebung im Differenzialblutbild in Verbindung mit einer Leukozytose oder ­Leukopenie sind Indikationen für die Gewinnung einer Blutkultur. Für einen sicheren Erregernachweis sind meist 2–3 Blutkulturen über eine frische Venenpunktion erforderlich. Liegt ein zentraler Venenkatheter, werden Blutkulturen über den liegenden Katheter entnommen, dieser wird entfernt und die Spitze bakteriologisch untersucht. Ein Hautabstrich der Punktionsstelle vervollständigt die Diagnostik. Intravasale Katheter werden nur bei Infektionsverdacht gewechselt oder entfernt. >> Der routinemäßige Wechsel von zentralen Venenkathetern senkt nicht das Risiko der katheterinduzierten Sepsis.

Eine ventilatorassoziierte Pneumonie (7 Abschn. 5.4.4) kommt ­immer als Sepsisquelle in Frage. Die Diagnostik beinhaltet Blut­ kulturen, Kulturen und Ausstrich des Trachealsekrets sowie ein Röntgenbild des Thorax. Eine Bronchoskopie wird bei Kindern nicht als diagnostische Routinemaßnahme eingesetzt. Eine Urosepsis findet sich v. a. bei Säuglingen mit und ohne Anomalien des Harntrakts. Neben der Blutkultur sind Urinstatus und -kultur beweisend. Bei Verdacht auf postoperative Infektionen im Operationsgebiet oder bei einem intraabdominellen Fokus sind ebenfalls Blutkulturen erforderlich. Eitrige Wundinfektionen erfordern Abstriche. Eine Koinfektion mit anaeroben Erregern ist immer möglich und muss entsprechend behandelt werden (z. B. mit Metronidazol). Zur abdominellen Fokussuche eignet sich die Sonogra-

phie oder die Computertomographie. Anschließend sollte möglichst rasch eine chirurgische Sanierung erfolgen. Besonders bei immunsupprimierten Kindern ist neben gramnegativen Erregern (E. coli, Pseudomonas, Serratia u. a.) auch an eine Infektion mit Candidaoder Aspergillus-Spezies zu denken. jjTherapie Antibiotische Therapie  Die Schwere der Erkrankung macht­ eine sofortige empirische antibiotische Behandlung erforderlich. Die Wahl des Antibiotikums richtet sich nach dem zu erwartenden Keimspektrum. Meist wird eine Monotherapie mit einem Cephalosporin der 3. oder 4. Generation oder mit einem Carbapenem ­begonnen, diese zeigt die gleiche Wirksamkeit wie eine Kom­ binationstherapie aus einem β-Laktamantibiotikum und einem Aminoglykosid. Bei Verdacht auf eine katheterinduzierte Sepsis oder hoher Inzidenz von MRSA-Infektionen (methicillinresistente Staphyloccus aureus) kann primär eine Kombination mit Vancomycin eingesetzt werden. Eine routinemäßige Initialtherapie mit ­Antimykotika ist nicht indiziert. Ist der Erreger identifiziert und­ im Antibiogramm getestet, wird die antibiotische Therapie ggf. ­modifiziert. >> Eine frühzeitige empirische antibiotische Therapie reduziert die Letalität der Sepsis.

Stabilisierung des Kreislaufs  In der Sepsis führen Mediatoren zu einer peripheren Vasodilatation. Das rosige bis tiefrote Hautkolorit und die warmen Extremitäten sind klinische Zeichen des hyperdynamen Kreislaufs. Zunächst kann die Vasodilatation durch einen Anstieg des Herz-Zeit-Volumens kompensiert werden. Die zentralvenöse Sättigung sollte in dieser Phase der Sepsis >70% sein, um dem erhöhten O2-Bedarf gerecht zu werden. Das Kapillarleck führt zu einem ausgeprägten intravasalen Volumenmangel, gleichzeitig bilden sich Ödeme. Die beste Form des Volumenersatzes ist unklar. Bei Kindern werden isotone kistalloide Lösungen oder Humanalbumin eingesetzt (. Abb. 5.8). Kommt es durch Abfall des arteriellen Blutdrucks zu einer ­hyperdynamen Dekompensation, sind neben exzessiven Volumengaben Katecholamine zur Kreislaufstützung erforderlich. In dieser Phase der Sepsis („warmer Schock“) werden für eine adäquate ­Organperfusion Dopamin >5 µg/kgKG/min oder Noradrenalin eingesetzt. Ist das Herz-Zeit-Volumen trotz ausreichender Volumengaben ungenügend und der Kreislauf zentralisiert („kalter Schock“) wird Adrenalin verwendet. In der Spätphase kann es zur kardialen Dekompensation kommen, sodass bei therapierefraktärer Pumpfunktionsstörung neben Adrenalin Phosphodiesteraseinhibitoren wie Enoximon, Amrinon oder Milrinon eingesetzt werden. Die Hämoglobinkonzentration sollte bei einer schweren Sepsis oder im septischen Schock zwischen 8 und 10 g/dl liegen. Beatmung  Die Indikation zur maschinellen Beatmung wird bei einer Sepsis frühzeitig gestellt, um bei erhöhtem O2-Bedarf in jedem Fall eine adäquate Versorgung zu gewährleisten. Dies ist bei Tachydyspnoe, Vigilanzstörung oder Hypoxämie trotz O2-Gabe der Fall. Sekundär kann sich eine „Acute Lung Injury“ oder ein ARDS ent­ wickeln, welches entsprechend zu behandeln ist (7 Abschn. 5.5). Adjuvante Therapien  Niedrig dosiertes Hydrocortison (50 mg/

m2/d) scheint bei einem Teil der Sepsispatienten die Prognose zu verbessern, es wird bei volumen- und katecholaminrefraktärem Schock eingesetzt.

147 Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin

..Abb. 5.8  Algorithmus der HerzKreislauf-Therapie bei der schweren Sepsis und des septischen Schocks. (Mod. nach Dellinger et al. 2013)

0–5 min.

Kurze Klinische Untersuchung, Hautperfusion? i.o.-/i.v.-Zugang, ggf. N-CPAP, O2, Atemwege sichern

15 min.

Volumenbous 20(–60) ml/kgKG isotonische Kochsalzlösung 0,9% ggf. Hypoglykämie oder -kalzamie ausgleichen Antibiotikum

Volumenresistenzer Schock? Zentraler Venenkatheter, zentralvenöse O2-Sättigung (ZV-SO2)? Dopamin arterielle Blutdruckmessung etablieren

Volumen- und dopaminresistenter Schock? Adrenalin bei „katem Schock“, Noradrenalin bei „warmen Schock“ bis ZV-SO2 > 70% oder klinischer Stabilisierung

katecholaminresistenter Schock? 60 min.

Hydrocortison 50 mg/m2/d

RR normal, „kalter Schock“ ZV-SO2 < 70% Vasodilatoren

RR niedrig, „kalter Schock“ ZV-SO2 < 70% Volumen + Adrenalin titrieren

RR niedrig, warmer Schock“ ZV-SO2 > 70% Volumen + Noradrenalin titrieren

Persistierender kateochaminresistenter Schock Herz-Zeit-Volumen-Messung, adjuvante Therapien, ECMO

>> Hochdosierte Steroide haben keinen positiven Effekt auf das Überleben bei Sepsis.

Im Rahmen einer Sepsis kann es zu einer ausgeprägten Störung der Blutgerinnung kommen, die als dissiminierte intravasale Gerinnungstörung bezeichnet wird. Neben Blutungen können sich als Folge einer Hyperkoagulopathie Thrombosen entwickeln, die an der Haut als Purpura erkennbar sind und die insbesondere bei der ­Meningokokkensepsis zu ausgedehnten Nekrosen führen können (. Abb. 5.9). Zur Therapie wird Plasma als sog. „Fresh Frozen Plasma“ eingesetzt. Die Gabe von „aktivierten Protein C“ oder eine ­routinemäßige Thromboseprophylaxe mit Heparin wird nicht mehr empfohlen. Eine Hämofiltration ist nur im manifesten Nierenversagen indiziert. Zu den supportiven Maßnahmen zählen weiterhin eine strenge Einstellung des Blutzuckers mit Insulin und eine Stressulkus­ prophylaxe. Die enterale Ernährung hat Vorteile gegenüber einer parenteralen Zufuhr. Der besondere Fall Säuglinge und Kleinkinder können mit besonders fulminanten und schweren Verläufen einer Sepsis erkranken. Ein 15 Monate alter Junge mit einem Gewicht von 12 kg entwickelt nachts Husten, Schnupfen und Fieber >39°C. Nach Besserung im Verlauf des Tages stellt ihn die Mutter gegen 16.00 Uhr dem Kinderarzt vor, der bei Verdacht auf eine bakterielle Bronchitis Clarithromycin ­ als Antibiotikum verschreibt. Gegen 18.00 Uhr tritt zu Hause erneut

Fieber um 40°C auf. Das Kind ist jetzt somnolent und die Mutter bemerkt erstmals Petechien. Sie fährt umgehend in eine nahe gelegene Kinderklinik. Bei Aufnahme ist die Hautperfusion reduziert, es findet sich eine ­Tachykardie mit einer Herzfrequenz >200/min., der Blutdruck wird mit 80/60 mmHg gemessen, die transkutane O2-Sättigung beträgt 80%. In der Lumbalpunktion finden sich 10/3 Zellen. Das Kind erhält Cefotaxim 800 mg, Penicillin G 1,5 Mio. Einheiten sowie 8 mg Dexametason i.v. Zur Volumensubstitution werden als Humanalbumin und 500 ml einer Vollelektrolytlösung infundiert. Gegen 20.00 Uhr erfolgt der Transport in ein Zentrum für Kinderintensivmedizin. Nach Ankunft wird das Kind umgehend intubiert und maschinell beatmet. Ein zentraler Venen­ katheter und eine arterielle Blutdruckmessung werden etabliert. Nun besteht das Vollbild eines septischen Schocks mit dissiminierter intravasaler Gerinnungsstörung und Nebennierenblutung. Diese Trias wird als Waterhouse-Friderichsen-Syndrom bezeichnet (. Abb. 5.9). ­ Im weiteren Verlauf ist trotz Volumensubstitution und Katecholaminunterstützung ein prärenales Nierenversagen nicht zu verhindern, ­sodass eine Hämofiltration begonnen wird. Es entwickeln sich aus­ gedehnte periphere Durchblutungsstörungen mit akralen Nekrosen, generalisierte zerebrale Anfälle, eine myokardiale Insuffizienz mit „Low-cardiac-output-Syndrom“ und später ein Bridenileus nach gedeckter Perforation. Das Kind überlebt die Sepsis. Als Folge der akralen Nekrosen müssen einzelne Fingerendglieder und Zehen amputiert werden. Der Junge wird nach Wochen entlassen und weist bei den regelmäßigen Kontrolluntersuchungen erfreulicherweise nur ein geringes Entwicklungs­ defizit auf.

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5 a

b

c

d

..Abb. 5.9a–d  Patient mit Waterhouse-Friderichsen-Syndrom. a Nierenersatztherapie im Rahmen der Intensivbehandlung, b, c Thrombosen führten

5.7

Akutes Nierenversagen

j jDefinition und Notfallmaßnahmen Ein akutes Nierenversagen (ANV) droht bei einem Rückgang der Urinproduktion Alle kritisch kranken Kinder müssen streng bilanziert werden.

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149 Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin

..Abb. 5.10  Technik der Hämodiafiltration. Die Substitutionslösung kann auch vor dem Filter zugeführt werden (Prädilutionstechnik), um durch Blutverdünnung einem „Clotting“ im Filter vorzubeugen

Antikoagulans (Heparin)

Waage Blutpumpe

Ultrafiltrat

Doppellumenkatheter in V. subclavia

Ultrafiltratpumpe Waage

Dialysat

Waage Substitutionslösung

Substitutionspumpe

Luftdetektor und Rückflussklemme

Dialysatpumpe

jjTherapie Ist ein bedeutsamer Rückgang der Urinproduktion zu registrieren, sind Gegenmaßnahmen in 3 Stufen einzuleiten: 44 Optimierung der Hämodynamik, 44 Stimulation der Diurese, 44 Nierenersatztherapie. Optimierung der Hämodynamik  Vor der Gabe von Diuretika muss die Hämodynamik optimiert werden. Der Ausgleich eines Volumendefizits, die Normalisierung der myokardialen Funktion,

ein adäquates Herz-Zeit-Volumen und ein ausreichender Blutdruck können ein drohendes ANV abwenden. Der renale Perfusionsdruck kann durch Vasopressoren wie Dopamin oder Noradrenalin angehoben werden, allerdings bewirken diese auch eine Vasokonstrik­ tion, sodass die effektive Nierenperfusion reduziert werden kann. Diuretische Therapie  Eine medikamentöse Stimulation der Diu-

rese ist bei einem Rückgang der Urinproduktion unter 2 ml/kgKG/h sinnvoll, sofern kardiovaskuläre Ursachen behandelt und die Flüssigkeitsbilanz positiv wird. Das Serumnatrium sollte im Norm­ bereich liegen. Eingesetzt werden: 44 Furosemid 0,5–1 mg/kgKG als Einzeldosis, bis 10 mg/kg/Tag, 44 Theophyllin initial 5 mg/kgKG dann 0,5–1 mg/kgKG/h, 44 Ethacrynsäure 0,5–1 mg/kgKG/Tag, 44 Mannitol 20% 0,25 g/kgKG. Furosemid ist Mittel der 1. Wahl. Durch Theophyllin konnte nach kardiochirurgischen Eingriffen die Häufigkeit des ANV bei Kindern signifikant reduziert werden. Mannitol führt zu einer osmotischen Diurese. Die osmotische Wirkung erhöht auch das zirkulierende Blutvolumen. Deswegen darf Mannitol nur gegeben werden, wenn noch keine Anurie vorliegt, da sonst die osmotisch induzierte ­Hypervolämie persistiert.

Nierenersatztherapie  Insbesondere bei herzinsuffizienten Patien-

ten mit Hyperkaliämie (K+ >6,0 mval/l) oder bei einer Volumenüberladung, muss die Indikation zur Nierenersatztherapie frühzeitig gestellt werden.

>> Die Indikation zur Dialyse wird in Abhängigkeit von der klinischen Situation gestellt.

Bei der Peritonealdialyse wird das Peritoneum als „Dialysemembran“ genutzt. Vorteilhaft ist die einfache Installation und Durchführung. Die Implantation des Tenckhoff-Katheters in das Abdomen kann auf der Intensivstation durchgeführt werden. Eine intraabdominelle Druckerhöhung durch vorbestehenden Aszites wird entlastet. Die Peritonealdialyse ist kreislauf- und gerinnungsneutral und kann auch bei Früh- und Neugeborenen problemlos angewendet werden. Das Peritonitisrisiko ist bei streng aseptischem Vorgehen gering. Es können laktat- oder bikarbonatgepufferte Lösungen eingesetzt werden. Der Hauptvorteil der Peritonealdialyse ist neben der einfachen Anwendung, die rasche Elimination von harnpflichtigen Substanzen und Kalium. Der Flüssigkeitsentzug ist dagegen weniger effektiv. Während die Peritonealdialyse nach dem osmotischen Prinzip funktioniert, wird bei der Hämofiltration über ein System feinster Kapillaren mit einer definierten Porengröße ein Ultrafiltrat abgepresst (. Abb. 5.10). Abhängig vom verwendeten Filter werden alle Substanzen 35% Fehlender Puls

O2-Bindung an Hämoglobin gestört

Methämoglobinämie, CO- oder Zyanidvergiftung

Polytrauma und Schock

j jDefinition Unfälle sind die häufigste Todesursache jenseits des ersten Lebensjahres. Schwere Unfälle führen oft zu multiplen Verletzungen. Unter einem Polytrauma versteht man die kombinierte Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, die als Einzelverletzung oder in Kombination lebensbedrohlich sind. Bei Schädel-HirnTraumata finden sich in mehr als 50% der Fälle assoziierte Verletzungen des Brustkorbs, des Bauchs oder der Extremitäten. Schwere intrathorakale Verletzungen können auch ohne gravierende äußere Verletzungen auftreten, hierzu zählen: 44 Lungenkontusion, 44 Hämato- und Pneumothorax, 44 mediastinales Emphysem, 44 Contusio cordis, 44 Perikardtamponade. Ein schweres Thoraxtrauma kann zu einer kardiopulmonalen Insuffizienz führen. Nach einer Kontusionsverletzung des Herzens können sich neben der Perikardtamponade schwere Arrhythmien entwickeln. Im Abdomen werden Leber und Milz am häufigsten verletzt. An den Extremitäten können Frakturen und Weichteilverletzungen, sowie Gefäßabrisse zu erheblichen Blutverlusten führen.

j jPathophysiologie Beim Polytrauma führt die Gewebszerstörung zur Freisetzung von Mediatoren und anaeroben Metaboliten. Blutverlust und Schmerz werden als afferente Signale an Hirnstamm und Kortex gesendet und bewirken eine neuronale und humorale Aktivierung des autonomen Nervensystems. Die Aktivierung des sympathischen Nervensystems sichert kurzfristig das Überleben, langfristig wirkt sich dieser Reflex jedoch negativ auf die Prognose aus. >> Pathophysiologisch finden sich beim Polytrauma Schädigungen verschiedener Organsysteme, deren Folgen über die Summe der Einzelverletzungen hinausgehen.

Beim Polytrauma steht meist der Volumenmangel im Vordergrund des Schockgeschehens. Der massive Blutverlust führt zum hämorrhagischen Schock. Ein spinaler Schock kann zu Verteilungsstörungen und einem relativem Volumenmangel führen. Eine mechanische

Obstruktion durch Herztamponade oder Spannungspneumothorax führt zu einem „Low-cardiac-output-Syndrom“ und Hypotension (. Tab. 5.9). jjErstversorgung Die Prognose des polytraumatisierten Patienten wird maßgeblich von der Versorgung in den ersten 30 Minuten nach Trauma bestimmt. Primär stehen die Sicherung der Atemwege und ein adäquater Gasaustausch im Vordergrund der Versorgung. Jeder Traumapatient muss als „nicht nüchtern“ angesehen werden und wird durch Rapid-Sequence-Intubation intubiert. Beatmet wird mit 100% Sauerstoff und PEEP. Bei einem einseitigen Atem­ geräusch oder asymmetrischen Thoraxexkursionen besteht der Verdacht auf Pneumo- oder Hämatothorax, der umgehend durch eine Probepunktion bestätigt und ggf. durch Anlage einer Thoraxdrainage behandelt werden muss. Die frühzeitige maschinelle Be­ atmung erleichtert die suffiziente Analgosedierung der häufig agitierten ­Kinder und trägt zur Verbesserung der Prognose bei. Parallel zum Airwaymanagement wird der Kreislauf stabilisiert. Ein hämorrhagischer Schock wird durch Kontrolle aktiver Blutungen, großlumige i.v.-Zugänge und aggressive Volumenzufuhr behandelt. Geeignet für eine rasche Punktion sind die Kubitalvenen, die V. jugularis externa oder die V. femoralis. Eine wichtige Alter­ native ist die intraossäre Punktion in den Markraum der Tibia (. Abb. 5.1). Präklinisch werden zur Schockbehandlung kristalloide Flüssigkeiten wie Ringer-Lösung infundiert. Eine „Low-volume-resus­ citation“ mit hyperosmolarer NaCl-Lösung wird für Kinder im ­Volumenmangelschock bislang nicht empfohlen. Das Ausmaß des ­Blutverlusts muss klinisch klassifiziert werden, da die Hämoglobinkonzentration erst nach „Verdünnung“ mit Volumenersatz den wahren Blutverlust widerspiegelt (. Tab. 5.10). >> Bei Kindern führt erst ein Blutverlust von über 25% zu einem Abfall des systolischen Blutdrucks.

Später wird in der klinischen Versorgung insbesondere im Schock­ stadium III und IV der Blutverlust durch gezielte Substitution mit Blutprodukten wie Erythrozytenkonzentrat, Fresh Frozen Plasma oder Thrombozytenkonzentrat behandelt. jjTransport Mit der Primärversorgung muss der Notarzt eine Entscheidung zur weiteren klinischen Versorgung treffen. Sofern Zustand und Transportdauer dies gestatten, sollte ein pädiatrisches Zentrum angesteuert werden. Ein multidisziplinäres Team aus Pädiatrie, Anästhesie,

151 Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin

Chirurgie, Neurochirugie und ggf. weiteren Fachdisziplinen entscheidet über Art und Umfang der Diagnostik und Therapie.

erneuten Temperaturabfall führen, der als „after drop“ bezeichnet wird. Die Vasodilatation kann auch einen Volumenmangel mit arterieller H ­ ypotension auslösen. Während in der Hypothermie eine >> Kinder mit hochgradigen oder großflächigen Brandverletzun„physiologische“ Azidose nicht ausgeglichen wird, kann nun das gen sollten primär in eine pädiatrische Verbrennungseinheit Einschwemmen saurer Valenzen aus der Körperperipherie Natriumtransportiert werden. bikarbonatgaben erforderlich machen. Der Patient wird auf eine Die hochspezialisierte und teure Behandlung brandverletzter Kinder Körpertemperatur von 36ºC erwärmt, eine Hyperthermie muss wird nur von wenigen Kinderkliniken angeboten. Der Bettennach- ­unbedingt vermieden werden. Da das Ausmaß zerebraler Schäden weis erfolgt durch die zentrale Bettenvermittlung für Schwerbrand- zunächst unklar ist, folgt die weitere Intensivtherapie den Regeln der Neuroprotektion. Für Erwachsene konnte in Studien gezeigt werden, verletzte in Hamburg. dass nach Reanimation eine zeitlich begrenzte milde therapeutische jjKlinische Versorgung Hypothermie von 34ºC, Vorteile für das neurologische Outcome hat. In der Klinik zielt die primäre chirurgische Versorgung polytrauma- Dieses Vorgehen sollte auch für die Behandlung von Kindern nach tisierter Patienten auf die Behandlung lebensbedrohlicher Verlet- prolongierten Reanimationen und nach akzidenteller Hypothermie zungen. Hierzu zählen schwere Blutungen und Organverletzungen. erwogen werden, wenngleich kontrollierte Studie hierzu bislang Die Stabilität des Patienten und das Ausmaß der Verletzungen ­fehlen. Als Folge der Wasseraspiration kommt es nach Ertrinkungsun­bestimmen den Umfang der operativen Erstversorgung. Insbesondere Schädel-Hirn-Verletzungen (7 Kap. 8.13) können zunächst die fällen häufig zu einem ARDS, das nach der o. g. Strategie behandelt Versorgung von Begleitverletzungen limitieren, ebenso Gerinnungs- wird. Begleitverletzungen, wie Frakturen oder ein Schädel-Hirnstörungen oder ein respiratorisches Versagen. Lässt es der Zustand Trauma müssen ausgeschlossen werden. Die Prognose von Ertrinkungsunfällen ist abhängig von der des Patienten zu, wird eine frühe osteosynthetische Versorgung­ von Frakturen angestrebt. In der weiteren Behandlung liegt die Auf- Submersionszeit und dem Ausmaß der akzidentellen Hypothermie. gabe der pädiatrischen Intensivmedizin in der Stabilisierung der Nach Eisunfällen ist gesundes Überleben selbst nach SubmersionsVitalfunktionen und der Koordinierung von zweizeitigen chirurgi- zeiten von bis zu 1 h beschrieben! schen Eingriffen in enger Abstimmung mit den beteiligten Fach­ disziplinen. 5.10 Der plötzliche Kindstod (Sudden Infant 5.9

Ertrinkungsunfall

Death Syndrome, SIDS)

Der besondere Fall

Ein Sonderfall des Polytraumas ist das Beinaheertrinken. In Analogie zur angloamerikanischen Terminologie spricht man von Ertrinken („drowning“), wenn der Patient innerhalb von 24 h nach dem Unfall verstirbt und von Beinaheertrinken („near drowning“) wenn mehr als 24 h überlebt werden. Wie im Fallbeispiel zu Beginn dieses Kapitels geschildert, sind meist Kleinkinder Opfer eines Ertrinkungsunfalls. In Abhängigkeit von der Wassertemperatur besteht fast immer eine akzidentelle Hypothermie. Nach Bergung des Kindes wird umgehend die Körperkerntemperatur gemessen. Aus dem Grad der Hypothermie kann auf die Submersionszeit geschlossen werden. Auf Grund ihrer großen Körperoberfläche in Relation zum Körpergewicht kühlen Kinder rascher aus als Erwachsene. Bei Klein­ kindern findet sich zudem der „Tauchreflex“, eine bradykarde Kreislaufzentralisation auf die lebenswichtigen Organe Gehirn und­ Herz. Tauchreflex und Hypothermie wirken neuroprotektiv. Die Prognose, insbesondere das Ausmaß hypoxischer Folgeschäden, können am Unfallort fast nie mit ausreichender Sicherheit vorher­ gesagt werden, sodass bei akzidenteller Hypothermie alle lebensrettenden Maßnahmen solange fortgeführt werden müssen, bis der Patient aufgewärmt ist.

Dieser Notarzteinsatz liegt inzwischen 25 Jahre zurück und ist trotzdem in der Erinnerung präsent: Während der Morgenvisite auf der ­Kinderintensivstation werden wir von der Rettungsleitstelle zur Reanimation eines Säuglings gerufen. Der Notarzt vor Ort hat uns nach­ gefordert. Nach kurzem Hubschrauberflug erreichen wir das Dorf. Bei Eintreffen wird der 3 Monate alte Säugling in der Küche der kleinen Wohnung in Anwesenheit der Eltern bereits mehr als eine halbe ­Stunde erfolglos reanimiert. Die Eltern sind verzweifelt und erwarten die Fortführung der Maßnahmen durch das Kindernotarzt-Team. ­Während die Wiederbelebungsmaßnahmen fortgeführt werden, verschaffen wir uns einen Überblick und besprechen die bisherigen Maßnahmen mit dem Notarzt. Die Reanimation war gut und effektiv durchgeführt worden. Bei anhaltender Asystolie beschließen wir nach mehr als 45 Minuten die Maßnahmen einzustellen. Die Rettungsassistenten zeigen mir die Auffindesituation: Eine kleine Dachkammer als Kinderzimmer, bei winterlicher Kälte gut beheizt, im Kinderbettchen zusätzlich eine dicke Daunendecke. Der gesunde Säugling war gegen 2 Uhr nachts gefüttert worden, die Mutter legte ihn in Bauchlage in das Bett, weil er so ­ruhiger schlief. Am Morgen wunderte sie sich, da sie nichts von ihrem Kind hörte und fand es leblos mit dem Gesicht auf der ­Kissenunterlage unter der Bettdecke.

>> „No one is dead, until he is warm and dead“.

jjDefinition Durch Fortschritte in Forschung und Diagnostik wurde der plötz­ liche Kindstod In den letzten Jahrzehnten genauer definiert. Drei Begrifflichkeiten sind zu unterscheiden: Unter dem Begriff „Sudden Uninspected Infant Death (SUID)“ werden alle plötzlichen unerwarteten Todesfälle im Säuglingsalter, unabhängig von den zu Grunde liegenden Ursachen oder Umständen zusammengefasst. Eine Teilmenge des SUID ist das „Sudden Infant Death Syndrome“ (SIDS, Plötzlicher Kindstod). Die aktuelle Definition wurde bei einer Expertenkonferenz 2004 in San Diego

Bei tiefer Hypothermie unter 30ºC Körpertemperatur und unzu­ reichendem Kreislauf kann eine schonende Wiedererwärmung mit einer Geschwindigkeit von weniger als 1ºC pro Stunde am besten an der Herz-Lungen-Maschine erreicht werden. Die Kanülierung gelingt rasch über die Femoralgefäße. Bei milder Hypothermie wird mit externer Wärmezufuhr und angewärmten Infusionslösungen gearbeitet. Auch hierbei ist auf einen kontrollierten langsamen ­Temperaturanstieg zu achten, um Reperfusionsschäden zu ver­ meiden. Die Wiedereröffnung der Körperperipherie kann zu einem

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152

H. Schiffmann

USA festgelegt und beinhaltet alle Fälle deren Ursache trotz umfangreicher Untersuchungen ungeklärt bleibt. >> Sudden Infant Death Syndrome (SIDS): „Der plötzliche, unerwartete Tod eines Säuglings mit dem Eintritt des tödlichen Ereignisses offensichtlich während des Schlafs, der nach einer gründlichen Untersuchung, die eine vollständige Obduktion, die Überprüfung der Todesumstände und die Anamnese einschließt, ungeklärt bleibt.“

5

Die dritte Gruppe umfasst kausal geklärte, plötzliche und unerwartete Todesfälle im Säuglingsalter. Hierzu zählen z. B. Tod durch Ersticken, Überdecken oder Strangulation, Sepsis, metabolische Erkrankungen, Herzrhythmusstörungen, akzidentelle oder nichtakzidentelle Traumata (Kindstötung). >> SIDS ist eine Ausschlussdiagnose!

j jDiagnostik Um mögliche Differenzialdiagnosen auszuschließen und einen Todesfall als SIDS zu klassifizieren, sind umfangreiche Untersuchungen erforderlich. Hierzu zählen die Analyse der Todesumstände und der Auffindesituation sowie eine detaillierte medizinische und soziale Anamnese. Es muss eine protokollgerechte Autopsie erfolgen. Nach der o. g. San-Diego-Definition müssen zudem Toxikologie, Mikrobiologie, Radiologie, Glaskörperbiochemie und Stoffwechseldiagnostik ohne pathologischen Befund sein. In der Praxis ist eine derartig aufwändige Untersuchung häufig nicht umzusetzen. In Deutschland ist die Obduktion von Säuglingen und Kleinkindern nicht gesetzlich vorgeschrieben (Ausnahme: Bremen), es muss lediglich eine Leichenschau durchgeführt werden. Aufgabe der Leichenschau ist es v. a. eine natürliche von einer nichtnatürlichen Todesursache abzugrenzen. Im Falle eines plötzlich und unerwartet verstorbenen Säuglings kann die Todesursache durch die Leichenschau allein nicht festgestellt werden, sodass als Todesart „ungeklärt“ anzukreuzen ist. Danach entscheidet die Staatsanwaltschaft nach den Umständen des Falls, ob und in welchem Umfang eine Obduktion durchgeführt wird. Aus Kostengründen beschränkt sich die Autopsie häufig auf die Klärung eines möglichen Fremdverschuldens. Wenngleich bei SIDS definitionsgemäß keine Todesursache gefunden werden kann, gibt es in der Obduktion unspezifische aber doch charakteristische Befunde:

44 Weißlich, z. T. blutig-tingiertes Sekret an den Nasenöffnungen, im Rachen und Bronchialsystem, 44 ventrale Totenflecken durch Bauchlage, 44 intrathorakale Petechien an Pleura, Epikard und Thymus, 44 hämorrhagisches Lungenödem, 44 Rechtsherzdilatation. Die in . Tab. 5.11 genannten Differenzialdiagnosen sind durch die Obduktion auszuschließen. jjPathophysiologie und Genetik Der plötzliche unerwartete Tod eines Säuglings wird als SIDS deklariert, weil mit den heutigen Methoden und Kenntnissen die Todesumstände nicht geklärt werden können. Selbstverständlich hat der Tod dennoch Ursachen, sie sind Gegenstand der Forschung. Eine Arbeitshypothese zur Genese von SIDS vermutet drei Faktoren, die den plötzlichen Tod eines eigentlich gesunden Säuglings begünstigen können („Triple Risk Model“). Triple Risk Model 55Exogene Triggerfaktoren –– Atemwegsobstruktion durch Bauchlage oder Über­ deckung –– Überwärmung –– Bedsharing –– Rauchen in der Wohnung –– Kritische Entwicklungsphase –– Frühes Säuglingsalter, höchstes Risiko mit 2–4 Monate 55Intrinsische Faktoren –– Dysfunktion oder Unreife kardiorespiratorischer Funk­ tionen –– Fehlende „Arousal“-Reaktion 55Genetische Faktoren (afrikanische Ethnie, männliches ­Geschlecht, Long-QT-Syndrom) –– Frühgeburtlichkeit –– Prä- und postnatale Exposition auf Nikotin und Alkohol

Das Zusammenspiel der Faktoren kann zu einer zunehmenden ­Asphyxie, Bradykardie, arteriellen Hypotension und sich verstärkenden metabolischen Azidose führen. Diese Ereigniskette mündet

..Tab. 5.11  Die wichtigsten Differenzialdiagnosen zum plötzlichen Kindstod Infektionen

Angeborene Veränderungen

Unfälle

Misshandlung

Sepsis Bakterielle und virale Sepsis

Stoffwechselerkrankungen Fettsäureoxydationsstörungen Störung der Glukoseoxydation und Glukoneogenese Hyperinsulinismus

Massive Aspiration

Schütteltrauma

Atemwegsinfektione Bronchiolitis Pneumonie Epiglottitis

Herzfehler Aortenklappenstenose Aortenisthmusstenose Endokardfibroelastose Koronararterienanomalien Lungenvenenfehlmündung

Hypoxie/Asphyxie durch Suffokation

Vergiftung

ZNS-Infektionen Meningitis Enzephalitis

Herzrhythmusstörungen Long-QT-Syndrom

Einklemmung Überdeckung

Münchhausen-by ProxySyndrom

Myokarditis

ZNS-Tumoren

Strangulation

Pseusomembranöse Kolitis

Hyperthermie

153 Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin

in einer respiratorischen Insuffizienz und dem Tod des Säuglings. Physiologische Gegenregulationen, wie Herzfrequenz- und Blutdruckanstieg oder vertiefte eine Atmung, die als „arousal reaction“ bezeichnet werden und zum Erwachen des Kindes führen, unterbleiben oder sind insuffizient.

rung der ICD-9 verwendet, danach der ICD-10. Die Kodierung zur Erfassung des plötzlichen Kindstods oder „unklarer“ Todesfälle sind nicht völlig deckungsgleich.

Exogene Faktoren  Die exogenen Faktoren sind weitgehend be-

1990 verstarben in Deutschland insgesamt 6385 Säuglinge, davon 1415 Kinder aus unbekannter Ursache, was einem Anteil von 22% entspricht. Der größte Teil dieser Fälle ist als SIDS einzuordnen, obwohl nur in wenigen Fällen eine umfassende Todesursachen­ ermittlung durchgeführt worden sein dürfte. Die Praxis und die Empfehlungen zur Schlafumgebung und Schlafposition von Säuglingen änderten sich immer wieder. Um lagebedingte Schädeldeformitäten zu verhindern und die Schlafqualität zu verbessern wurde 1930 in den USA erstmals die Bauchlage als Schlafposition empfohlen. Wenige Jahre später beobachteten Rechtsmediziner eine auffällige Häufung von Todesfällen junger Säuglinge und warnten vor der Bauchlage, weil in einer Studie 68% von 136 verstorbenen Kindern in dieser Position aufgefunden wurden. In Deutschland propagierten allerdings noch Ende der 1960er Jahre mehrere wissenschaftliche Veröffentlichungen und Elternratgebern, die Bauchlage als bevorzugte Schlafposition. Erst in den 1980er Jahren entwickelte sich medizinischer Konsens, dass der Schlaf in Bauchlage eine wesentliche Ursache für den plötzlichen Kindstod darstellt. In vielen Ländern wurden „Back to Sleep“ Kampagnen gestartet, die eine sichere Schlafumgebung in Rückenlage propagierten. Vorreiter waren die Niederlande, wo als Folge der Kampagne in dem Zeitraum 1986–1991 ein Rückgang der SIDSInzidenz von 1,04 auf 0,44/1000 Lebendgeburten zu verzeichnen war. Auch in Deutschland konnte ein deutlicher Rückgang erreicht werden (. Abb. 5.11).

kannt und können beeinflusst werden. Es bleibt aber unklar, warum einige wenige Kinder v. a. in der kritischen Entwicklungsphase zwischen dem 2. bis 4. Lebensmonat versterben, obwohl alle Maßnahmen zur Prävention umgesetzt wurden.

Genetische Faktoren  Verschiedene genetische Faktoren spielen

eine Rolle. Neuere Untersuchungen lassen vermuten, dass 5–10% aller Todesfälle auf Neumutationen in den kardialen Natrium- und Kaliumkanalgenen zurückzuführen sind, insbesondere Mutationen spezieller Untereinheiten des SCN5A-Gens, die zu einem Long-QTSyndrom führen. Eine große landesweite dänische Studie sieht in bis zu 7,5% der SIDS-Fälle die Ursache in genetischen Varianten des Na-Kanal-Komplexes. Auch Stoffwechseldefekte können SIDS imitieren. In einigen Fällen wurden Störungen der Fettsäureoxidation, der Glukoseoxidation oder der Glukoneogenese gefunden. Für eine genetische Komponente sprechen auch Unterschiede in der SIDSInzidenz zwischen verschiedenen Ethnien. Die SIDS-Inzidenz ist bei Schwarzafrikanern und Indianern mehr als doppelt so hoch wie bei weißen, spanischstämmigen oder asiatischen Kindern.

Intrauterine Faktoren  Frühgeborene und dystrophe Kinder haben ein erhöhtes Risiko an SIDS zu versterben, was auf intrauterine Faktoren hinweist. Gleiches gilt für eine prä- und postnatale Nikotinund Alkoholexposition. Eine zentrale Rolle scheinen seretoninbasierte Neurotransmitter im kaudalen Hirnstamm zu spielen. Bei SIDS-Kindern war die Anzahl der seretoninergen Neurone und Rezeptoren sowie die Serotoninkonzentration in der Medulla oblongata reduziert. Im Tiermodell führt eine intrauterine Nikotinexposition zu vergleichbaren neuronalen Veränderungen im Hirnstamm. Postnatal ist bei exponierten Tieren eine Hypoventilation, Apnoen und einer verminderten Antwort auf Hyperkapnie oder Hypoxie zu beobachten.

jjEpidemiologie Für das Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland liegen ab 1870 verlässliche Daten zur Anzahl der Geburten und zur Säuglingssterblichkeit vor. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verstarb in Deutschland jedes 4. Kind vor Erreichen des ersten Geburtstags, dies waren mehr als 400.000 Todesfälle pro Jahr. Durchfallerkrankungen und andere Infektionen waren die häufigsten Todesursachen, der plötzliche Kindstod war ein tragischer Einzelfall. Sozialer Fortschritt, bessere wirtschaftliche Verhältnisse, die Verbesserung der medizinischen Versorgung, insbesondere der Hygiene und die Einführung von Antibiotika und Impfungen, führten zu einem kontinuierlichen Rückgang der Kindersterblichkeit. Anfang 2015 verstarben in Deutschland nur noch 2,405 Säuglinge, was einer Quote von 3,3‰ entspricht. Neben der quantitativen Erfassung der Sterblichkeit hat seit ­Mitte des 20. Jahrhunderts die Erfassung der Todesursachen eine zunehmende Bedeutung. Die statistische Erfassung der Todesur­ sachen ist nicht einfach und mit Fehlern behaftet. Sie hängt u. a. vom Umfang der Untersuchungen (Leichenschau, Obduktion) zu den Todesumständen ab. Der Vergleich verschiedener zeitlicher Perioden ist zudem von Art und Umfang der statistischen Erfassung abhängig. Von 1979 bis 1997 wurde in Deutschland zur Kategorisie-

>> Mit dem Rückgang der Säuglingssterblichkeit stieg der rela­ tive Anteil unklarer Todesfälle an.

>> Weltweite Kampagnen zum Schlaf in Rückenlage hatten einen starken positiven Effekt. 1990 verstarben in Deutschland 1.415 Kinder am plötzlichen Säuglingstod, im Jahr 2015 ­waren es nur noch 127.

Die SIDS-Inzidenz konnte in Deutschland von 1,4 auf 0,2 Todes­ fälle/1.000 Lebendgeburten gesenkt werden. Hierzu haben neben der Rückenlage weitere Faktoren beigetragen haben, die Eingang in die Präventionsempfehlungen gefunden haben. jjPrävention >> Säuglinge sollen bis zum Ende des 1. Lebensjahres in Rückenlage schlafen.

Die Bauchlage erhöht das Risiko der Rückatmung, begünstigt ­Hyperkapnie, Hypoxie und eine Überwärmung der Kinder. Sie ist mit einem deutlich erhöhten SIDS-Risiko assoziiert (Odds Ratio 2,3–13,1). Die Seitenlage ist instabil und ebenfalls mit einem erhöhten Risiko verbunden. Sie sollte wie die Bauchlage vermieden werden. Die Sorge, das Rückenlage Aspirationsereignisse oder Ersticken begünstigen könnte, ist selbst bei ausgeprägtem gastroösophagealen Reflux unbegründet. >> Frühgeborene sollen so früh wie möglich in Rückenlage gelagert werden.

Die Bauchlage verbessert bei Frühgeborene mit Atemstörungen die postpartale Adaptation. Sie sind dadurch kardiorespiratorisch stabiler und durch das intensivmedizinische Monitoring kontinuierlich überwacht. Spätestens mit Erreichen der 32. Schwangerschafts­ woche sollen Frühgeborene an die Rücklage als Schlafposition gewöhnen, um die Schlafqualität zu Hause zu fördern.

5

154

H. Schiffmann

..Abb. 5.11  Die Entwicklung der SIDS-Fälle und SIDS-Inzidenz in Deutschland von 1980–2015

1600

1,80

1400

1,60

Todesfälle/Jahr

5

1,20

1000

1,00 800 0,80 600

0,60

400

0,40

200 0 1980

Todesfälle auf 1000/Lebendgeburten

1,40

1200

0,20 0,00 1985

1990

1995

Todesfälle/Jahr

Gestillte Kinder versterben seltener am plötzlichen Kindstod. Um Mutter-Kind-Bindung, Milcheinschuss und Stillrate zu fördern soll das Neugeborene nach der Geburt auf der Brust der Mutter liegen können und angelegt werden, sofern beide medizinisch stabil und wach sind. In Einzelfällen können Mutter und Kind durch die Geburt sehr erschöpft sein. In derartigen Situationen sind schon schwere Atemwegsobstruktionen und sogar Todesfälle durch Er­ sticken beobachtet worden. Daher muss die Hebamme die Vitalfunktionen des Neugeborenen regelmäßig überwachen. Später­ s­­oll das Neugeborene in Rückenlage in ein eigenes Bettchen gelegt werden. >> Sichere Schlafumgebung reduziert das SIDS-Risiko.

Der Säugling soll in einem Schlafsack auf einer festen Matratze schlafen. Decken, Kissen oder andere Gegenstände die Erstickung oder Strangulation begünstigen können gehören nicht ins Kinderbett. Mit etwa 6 Monaten können sich Säuglinge selbstständig vom Rücken in die Bauchlage drehen. Sie müssen dann nicht in die Rückenlage zurückgedreht werden. Allerdings sollen weiterhin keine Kissen, Decken oder Kuscheltiere im Bett liegen. Die Kinderkrippe oder das Bettchen sollen zumindest für die ersten 6 Lebensmonate im elterlichen Schlafzimmer stehen. Um Überdeckung und Erstickung zu vermeiden soll das Kind nicht im elterlichen Bett zusammen mit den Eltern schlafen. Nach dem Stillen oder Füttern ist das Kind in das eigene Bettchen zurückzulegen. Säuglinge sollen nicht auf Sofas oder Sesseln schlafen. Allgemeine Empfehlungen zur Prävention des „Plötzlichen Kindstods“ 55Stillen ist grundsätzlich die beste Ernährung für den Säugling und senkt das SIDS-Risiko. 55Der Gebrauch eines Schnullers ist protektiv. 55Impfungen sind protektiv! Der Gipfel der SIDS-Sterblichkeit liegt im zeitlichen Zusammenhang mit den Impfungen des Säuglingsalters. Hierbei handelt es sich um eine zeitliche ­Assoziation. Fall-Kontroll-Studien haben gezeigt, dass keine Kausalität vorliegt und geimpfte Kinder seltener an SIDS versterben.

2000

2005

2010

2015

Todesfälle/1000 Lebendgeburten

55Rauchen, Alkohol oder Drogenabusus während der Schwangerschaft oder nach der Geburt erhöhen das Risiko des plötzlichen Kindstods und sind strikt zu meiden. 55Überheizen des Schlafzimmers und der Gebrauch von Babymützen erhöhen das Risiko. 55Unter „Pucken“ oder „Swaddling“ versteht man das enge Einwickeln des Kindes in ein Tuch, unter der Vorstellung die Schlafqualität zu bessern. Diese Technik erhöht wahrscheinlich das SIDS-Risiko, da Kinder nicht stabil auf dem Rücken liegen, sondern in Bauchlage rollen können. 55Kardiorespiratorisches Monitoring (EKG, Pulsoximetrie, ­Spezialmatrazen) kann SIDS nicht effektiv verhindern.

Im Alter von 8 Monaten weisen bis zu 20% der konsequent auf dem Rücken gelagerten Kinder einem lagebedingten Plagiozephalus auf, der im zweiten Lebensjahr mit zunehmender Mobilität in fast allen Fällen spontan verschwindet. Die Ausbildung dieser Schädeldeformität kann durch intermittierende Bauchlage, die nur unter Supervision stattfinden darf, reduziert werden. Die Eltern sollen z. B. im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen über Präventionsmaßnahmen intensiv aufgeklärt werden. jjPsychosoziale Folgen Meist sind es die Eltern die ihr Kind tot auffinden und den Notarzt alarmieren. In der Akutsituation sind sie mit Reanimationsmaßnahmen des Rettungsdienstes, polizeilichen Ermittlungen, Entscheidung über eine Obduktion und den Formalien der Bestattung konfrontiert. Professionelle, in Krisenintervention geschulte Helfer der Rettungsdienste oder der Notfallseelsorge können helfen. Der Tod des eigenen Kindes zählt zu den schwersten Belastungen, die Eltern treffen können. >> Die familiäre Trauer kann zu erheblichen posttraumatischen Stresssituationen führen.

Viele Familien leiden in der Folge an Angstgefühlen, Konzentra­ tionsstörungen oder einem breiten Spektrum psychosomatischer Beschwerden. Auch Ärger und Zorn werden als Traueraffekte angegeben, Spannungen in der Beziehung sind oftmals die Folge. Selbst-

155 Pädiatrische Intensiv- und ­Notfallmedizin

hilfeorganisationen wie z. B. der „Bundesverband verwaister Eltern“ oder die „Gemeinsame Elterninitiative plötzlicher Säuglingstod (GEPS)“ bieten landesweit Unterstützung an. >> Mehr als die Hälfte aller vom SIDS betroffene Paare bekommen weitere Kinder.

Die meisten Folgeschwangerschaften entstehen innerhalb eines Jahres und sind von ambivalenten Gefühlen begleitet. Lebensbejahende Gefühle wie Freude und Zuversicht stehen Trauer, Schuldgefühlen, Scham und Zweifel über die eigene elterliche Kompetenz gegenüber. Meist begleitet das Folgekind bis zum ersten Geburtstag große Ängste. Häufig wünschen die Eltern eine häusliche Monitorüber­ wachung, obwohl das SIDS-Risiko für Folgekinder wesentlich ge­ ringer ist als z. B. das Risiko für Kinder rauchender Mütter. Trotzdem wird nach entsprechender Aufklärung in Einzelfällen ein Heim­ monitoring verordnet, obwohl dessen Effizienz nie durch Studien belegt werden konnte. Das kardiorespiratorische Monitoring sollte die Herz­frequenz und die transkutane O2-Sättigung erfassen.

5

157

Neurologie Inhaltsverzeichnis Kapitel 6

Entwicklung, Entwicklungsstörungen und Risikofaktoren – 159 R. Michaelis [†]

Kapitel 7

Epilepsie – 169 H. Todt

Kapitel 8

Nervensystem – 179 E. Boltshauser, A.M. Kaindl, O.S. Ipsiroglu, I. Krägeloh-Mann, K. Rostasy, M. Schöning, S. Stöckler-Ipsiroglu, J. Krauss, T. Schweitzer

Kapitel 9

Neuromuskuläre Erkrankungen – 221 A.M. Kaindl, U.Schara, M. Schülke-Gerstenfeld

IV

159

Entwicklung, Entwicklungs­ störungen und Risikofaktoren R. Michaelis [†] 1

6.1

Entwicklungspädiatrie und Entwicklungsneurologie  – 160

6.2

Die normale Entwicklung  – 160

6.2.1 Widersprechende Entwicklungstheorien  – 160 6.2.2 Definierte Entwicklungsziele  – 161

6.3

Risikofaktoren für die kindliche ­Entwicklung  – 162

6.3.1 Anamnestische Risikofaktoren  – 163 6.3.2 Symptomatische Risikofaktoren  – 163 6.3.3 Sozial bedingte Risikofaktoren  – 164

6.4

Frühe Lernstörungen  – 165

6.4.1 Definitionen und Nomenklaturen  – 165 6.4.2 Frühe Symptomatik spezifischer ­Lernstörungen  – 165 6.4.3 Diagnostische und therapeutische ­Konsequenzen  – 166

6.5

Entwicklungspädiatrische Beurteilung ­ der Schulfähigkeit  – 167

1 Das Kapitel wurde von Frau Prof. Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann, Universität Tübingen, revidiert und aktualisiert

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_6

6

6

160

R. Michaelis

6.1

Entwicklungspädiatrie und Entwicklungs­ neurologie

Nach dem Schweizer Entwicklungspädiater Remo Largo ist das „Kerngeschäft“ einer modernen Kinderheilkunde die Entwicklungs­ beurteilung von Kindern in den ersten 6 Lebensjahren. Denn keine anderen Disziplinen, die sich nur um Teilaspekte der Entwicklung von Kindern kümmere (wie z. B. die Sprachwissenschaften oder die Entwicklungspsychologie oder die auf ein bestimmtes Defizit be­ zogenen therapeutischen Disziplinen), hätten, wie die Kinderärzte, mit der Vorsorgeuntersuchung die einmalige Chance, ein Kind in der Gesamtheit seiner physiologischen, motorischen, sprachlichen, ­kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung, aber auch in seinem familiären, ökologisch-sozialen Umfeld, zu beurteilen. Diese Aufgabe könne nur von Kinderärztinnen und Kinderärzten in der Praxis geleistet werden. Daher hat sich heute der Begriff einer Entwicklungspädiatrie durchgesetzt. Die Entwicklungspädiatrie soll vermitteln: 44 Daten und Kenntnisse über die normale Entwicklung von ­Kindern, 44 die Risiken und Symptome einer auffälligen oder bereits mani­ fest gestörten Entwicklung, 44 das professionelle Wissen über notwendige therapeutische Konsequenzen, deren Verordnung und die Kontrolle ihrer ­Effektivität. Die Entwicklungsneurologie hat dagegen die Aufgabe, neben den genannten Kenntnissen einer Entwicklungspädiatrie 44 die altersgebundene, sich rasch ändernde neurologische ­Symptomatik der Kinder im Säuglings- und Vorschulalter ­untersuchen zu können, 44 für manifeste Entwicklungsstörungen eine klinische Diagnose, eine klinische Entität zu finden, 44 Störungen der motorischen, sprachlichen, kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung genauer zu beschreiben und mit Screening- oder Testverfahren zu sichern, 44 weiterführende neuropsychologische, neurophysiologische, neurometabolische, bildgebende und diagnostische Verfahren zu veranlassen, 44 humangenetische und molekulargenetische Diagnostik, wo notwendig, einzuleiten, 44 eine humangenetische Beratung, wenn notwendig, sicherzu­ stellen und 44 therapeutische Strategien auszuwählen, zu verordnen und ­deren Effektivität kontinuierlich zu überprüfen und, wenn not­ wendig, zu korrigieren.

In dem hier vorgegebenen Rahmen können nur die großen Linien der frühen kindlichen Entwicklung dargestellt werden. Zwei grund­ sätzliche Theorien der kindlichen Entwicklung müssen jedoch ­diskutiert werden. Abhängig von der gewählten theoretischen Basis ergeben sich gravierende Unterschiede und Konsequenzen in der Beurteilung der individuellen kindlichen Entwicklung. Die für die praktische Entwicklungsbeurteilung verwendete theoretische Grundlage entscheidet nämlich, wie die Entwicklung eines Kindes beurteilt wird: auffällig, pathologisch oder normal. 6.2.1

Widersprechende Entwicklungstheorien

Hierarchisch-lineare Entwicklungstheorie Dieses Entwicklungskonzept geht davon aus, dass die kindliche Ent­ wicklung in streng zeitlich und hierarchisch geordneten Stufen ver­ läuft, was nur mit einer weitgehend genetischen Steuerung der Entwicklung möglich ist. Lernen, Erfahrungen, die Umwelt eines Kindes spielen in einem solchen Kontext nur eine geringe Rolle. Bei allen Kindern in der Welt müssten dann aber konsequenterweise auch die gleichen zeitlichen und funktionellen Entwicklungsver­läufe gefunden werden, da alle Menschen, biologisch gesehen, von einer Art sind. Als Beispiel sei hier die Entwicklung der Körpermotorik und der Sprache dargestellt: 44 Körpermotorik: Rücken- oder Bauchlage → Seitrollen → Sitzen → 4-Füßlerstand → Krabbeln → Hochziehen zum Stehen → ­Stehen mit Festhalten → Gehen mit Festhalten → freies Gehen. 44 Sprachentwicklung: Spontane Artikulation → Lippenschluss­ laute → Silbenketten → Silbenverdopplung (z. B. da-da, ba-ba) → Symbolsprache (z. B. wau-wau für einen Hund, nam-nam, für Essen) → 1-Wortsprache → 2-Wortsprache → 3- bis 5-Wort­ sprache → Sätze mit Wortreihungen → grammatikalisch kor­ rekte Sprache.

Um eine normal verlaufende Entwicklung zu garantieren, muss jeder Entwicklungsschritt zu einem festgelegten Zeitpunkt absolviert sein, kein Entwicklungsschritt darf ausgelassen werden, die Reihung des Ablaufs muss eingehalten werden. Entspricht die Entwicklung nicht diesem genetisch vorgegebenen Schema, muss sie in diesem Konzept als auffällig oder als pathologisch gewertet werden. Ein solches Kind benötigt dann aber auch eine Entwicklungstherapie, mit der die Entwicklungsstufen nachgeholt werden müssen, um sie wieder in die scheinbar naturgewollte Reihungen zu bringen. Das Konzept einer hierarchisch-linear strukturierten Entwick­ lung geht auf den Entwicklungspädiater Arnold Gesell zurück, der es, basierend auf einer Vielzahl von Studien zur Entwicklung von Kleinkindern, in den 1930er und 1940er Jahren an der Yale-Univer­ sität in den USA entwickelt und propagiert hat. Sein Konzept ist bis 6.2 heute Grundlage so gut wie aller Entwicklungstests für Kleinkinder, Die normale Entwicklung nicht nur in der Kinderheilkunde, auch in der Testpsychologie und In der kinderärztlichen Praxis erfolgt die Entwicklungsbeurteilung in der Pädagogik. Mit einem solchen Entwicklungskonzept sollen nach weitgehend festgelegten Entwicklungspfaden. Diese sind in Entwicklungsschritte, da zeitlich festgelegt, in ihrer Abfolge gut den verschiedenen Entwicklungstests und Screenings im Prinzip­ ­voraussagbar sein – ein scheinbar für die Praxis erheblicher Gewinn die gleichen, wenn auch gelegentlich in unterschiedlichen Kombina­ an Zeit- und Untersuchungsaufwand. tionen: Individuell-variante Entwicklungstheorie 44 Körpermotorik, 44 Hand- und Fingermotorik (Feinmotorik der Finger und Hände), Das unbefangene, theoriefreie Beobachten der Entwicklung eines 44 kognitive Entwicklung (geistige Kompetenz), individuellen Kindes zeigt jedoch sehr häufig Abweichungen von 44 Sprachentwicklung (rezeptiv und expressiv), einer hierarchisch-linearen Ordnung der Entwicklung (. Abb. 6.1). 44 sozioemotionale Entwicklung (soziale und emotionale Ein Kind antwortet in seiner Entwicklung auf seine Umweltbedin­ ­Kompetenz), gungen (z. B. Sahara oder polare Eiswelt), auf die soziale Bindungs­ 44 Selbstständigkeit in der eigenen Lebensführung. konditionen (Kernfamilie, Familienverband) und auf die daraus

161 Entwicklung, Entwicklungs­störungen und Risikofaktoren

setzt sich für klinisch-pädiatrische Zwecke immer mehr ein Modell durch, das bestimmte Entwicklungsabläufe zeitlich auf ein bestimm­ tes Alter festlegt, bei dem 90–95% aller unauffällig sich entwickelnden Kinder einer definierten Population ein definiertes Entwicklungsziel erreicht haben. So können z. B. süddeutsche und deutschschweizerische, gesunde Kinder zu 95% spätestens mit dem 9. Monat sicher und frei sitzen, mit 18 Monaten haben sie das freie Gehen ­sicher erlernt. Dabei ist es gleichgültig auf welchen Wegen, hier­ archisch oder nichthierarchisch individuell, sie dieses Entwicklungs­ ziel erreicht haben.

Grenzsteine der Entwicklung Die Bestimmung der Grenzsteine eines Kindes in einem bestimmten Alter ist kein Entwicklungstest und auch keine Diagnose. Grenz­ steine der Entwicklung sind ausschließlich Warnsignale, ein Kind den Eltern gegenüber, aber auch kinderärztlich, nicht einfach nur als Spätentwickler zu bezeichnen. Sie sollen verhindern, dass nur zuge­ wartet wird, mit der Hoffnung, das Kind werde schon noch in seiner Entwicklung „aufholen“. >> Bei einem Kind, das mit dem Erwerb einer bestimmten ­Fähigkeit die vorgegebene Grenzsteinzeit überschreitet, ­ muss ­intensiv nach der Ursache dieser Retardierung gesucht werden.

..Abb. 6.1  Variante, normale Verläufe der frühen motorischen Entwicklung vom Liegen zum freien Gehen. Die roten Pfeile verweisen auf häufige, die gelben auf weniger häufige Entwicklungsverläufe

entstehenden Zwänge, bestimmte motorische, kognitive und soziale Fähigkeiten zu erlernen, die in einem bestimmten kulturellen Kon­ text gebraucht werden. Der Entwicklungsverlauf eines Kindes ­reagiert darauf adaptiv und individuell; abhängig aber auch von den genetischen, angeborenen Verhaltens-, Begabungs- und Körperqua­ litäten, die das Kind von seinen Eltern und Ahnen als Erbe in seiner Genstruktur mitbekommen hat. Insgesamt bestimmt also ein indi­ vidueller Mix von Genetik, Erfahrung und Lernen die Entwicklung eines Kindes. Eine Entwicklungsbeurteilung in der kinderärztlichen Praxis wird dadurch zwar sehr viel komplizierter, vieldeutiger und schwie­ riger sein, erfasst aber dafür die Komplexität der kindlichen Ent­ wicklung sehr viel genauer und realistischer. Variante Entwicklungs­ verläufe sind dann aber nicht mehr auffällig oder pathologisch, sondern gehören prinzipiell zu einer normalen Entwicklung. Die Unterschiede dieser beiden Konzepte sind evident und die Konse­ quenzen daraus diametral unterschiedlich. Wenn Entwicklung ­derartig komplex verläuft, wie soll es dann möglich sein, in der ­kinderärztlichen Praxis die „Normalität“ einer individuellen Ent­ wicklung eines Kindes festzustellen? Das gelingt mit dem Prinzip der sog. Grenzsteine der Entwicklung und über die Festlegung definier­ ter Entwicklungsziele. 6.2.2

Definierte Entwicklungsziele

Da ein hierarchisch-lineares Entwicklungsmodell viele Phänomene der individuellen kindlichen Entwicklung nicht zu erklären vermag,

Diese Zeitüberschreitung kann einen schwerwiegenden Grund ­haben, sie kann aber auch nur vorübergehend sein, wofür dann aber Gründe gefunden werden müssen, die überzeugen. Das Prinzip der Grenzsteine ist vor allem zur Anwendung in der kinderärztlichen Praxis erarbeitet worden. Es sagt, im Gegensatz zu psychologischen Entwicklungstests, nichts über Kinder aus, die sehr früh ihre Grenz­ steine erreichen. Ziel ist nur, die Aufmerksamkeit in der Praxis für mögliche Entwicklungsverzögerungen und deren Folgen zu sensi­ bilisieren. In der . Tab. 6.1 sind Grenzsteine für die Entwicklungsschritte am Ende des 18. Monats, in der . Tab. 6.2 die für das Ende des 3. und in der . Tab. 6.3 die für das 5. Lebensjahr angegeben. Die Auswahl aus einer Grenzsteinliste vom 6. Lebensmonat bis zum Ende des 6. Lebensjahres ist nicht zufällig, sie erfasst Kinder in besonders ­bedeutsamen Entwicklungsphasen: 44 Mit dem Alter von 18 Monaten sollten alle Entwicklungsziele des Säuglingsalters erreicht sein. 44 Am Ende des 3. Lebensjahrs sollten Kinder zu einer gewissen Selbstständigkeit fähig sein und über einen bereits deutlich kompetenten Spracherwerb und über eine beginnende sozio­ emotionale Kompetenz verfügen; sie beginnen sich zu selbst handelnden Individuen zu mausern. 44 Am Ende des 5. Lebensjahrs steht die kinderärztlich relevante Frage im Raum, ob ein Kind Entwicklungsauffälligkeiten zeigt, die auf Schwierigkeiten bei der sozialen und schulischen ­Integration hinweisen könnten, und ob sie die schulische Leis­ tungsfähigkeit (z. B. durch Lese- oder Rechtschreibschwächen) gefährden könnten. Bei Kindern, die in bestimmten Entwicklungsbereichen nach dem „Grenzsteinprinzip“ ein Entwicklungsziel nicht zeitgerecht errei­ chen, sind diagnostische Überlegungen zu den Ursachen der Ent­ wicklungsverzögerung notwendig. Auszuschließen sind neurodege­ nerative und neuromuskuläre Erkrankungen, eine sich anbahnende Behinderung und eine in der Familie weitere Kinder gefährdende genetische Konstellation.

6

162

R. Michaelis

..Tab. 6.1  Grenzsteine der Entwicklung am Ende des 18. Lebensmonats

6

Körpermotorik

Freies Gehen mit sicherer Gleichgewichtskontrolle. Treppen werden bewältigt mit Nachstellschritten, mit Festhalten am G ­ eländer oder an der Hand Erwachsener

Hand- und Fingermotorik

Gegenstände, vom Kind in Händen gehalten, werden auf Verlangen hergegeben oder in ein Gefäß hineingetan und wieder herausgeholt. Zeigefinger wird gezielt zum Manipulieren eingesetzt

Sprache

Symbolsprache (z. B. wau-wau für Hund, nam-nam für Essen). „Dialogisches Reden“ mit Bindungspersonen. Korrekte und teil­ korrekte 1-Wortsprache wird zur Kommunikation verwendet.

Kognitive ­Entwicklung

Turm aus 2–4 Holzklötzchen wird gebaut. Genaues Betrachten von Bildern in altersentsprechenden Bilderbüchern; Zeigen auf Bekanntes in Bilderbuch und in der nahen Umwelt. Kann sich für 20–30 min selbst beschäftigen

Sozialisation

Noch kein Zusammenspiel mit anderen Kindern, jedes Kind spielt für sich. Gerne jedoch mit anderen Kindern zusammen. Kind versteht „nein“, hält mindestens einen Augenblick inne, befolgt (meist) Verbot

Emotionale Entwicklung

Stabile Gebundenheit an Bezugspersonen. Bezugsperson kann sich für 1–2 h vom Kind trennen, wenn es während dieser Zeit von gut bekannter Person betreut wird (Baby-Sitter, Großeltern)

..Tab. 6.2  Grenzsteine der Entwicklung am Ende des 3. Lebensjahrs Körpermotorik

Beidseitiges Abhüpfen von einer untersten Treppenstufe, mit sicherer Gleichgewichtkontrolle. Rennen mit deutlichem Armschwung und Umsteuern von Hindernissen

Hand- und Fingermotorik

Buch- oder Katalogseiten werden einzeln sorgfältig umgeblättert. Präziser 3-Fingerspitzgriff (Daumen, Zeige- und Mittelfinger) zur Manipulation kleiner Gegenstände

Sprache

3- bis 5-Wortsätze. Keine Aussprachefehler bei allen Buchstaben, Lauten und Konsonanten

Kognitive Entwicklung

Malen und Kritzeln. Wenn auch noch wenig gestaltet, kommentiert Kind, wen oder was es gemalt hat. Konzentriertes, anhaltendes Spielen für mindestens 30 min, mit Puppen, Autos, Bausteinen, Lego, Playmobil u. ä. Ahmt Tätigkeiten Erwachsener in Rollenspielen nach

Sozialisation

Gemeinsame Spiele für mindestens 20–30 min mit anderen Kindern. Sprechen, Austausch von Gegenständen. Kind will bei häuslichen Tätigkeiten gerne helfen, ahmt Tätigkeiten Erwachsener im Rollenspiel nach

Emotionale Entwicklung

Kind kann für einige Stunden bei ihm bekannten Personen auch außerhalb seines Zuhauses, ohne seine Bezugsperson bleiben

..Tab. 6.3  Grenzsteine der Entwicklung am Ende des 5. Lebensjahrs Körpermotorik

Treppen werden auf-/absteigend ohne Festhalten im Wechselschritt bewältigt. Bälle (etwa 20 cm Durchmesser) können mit Händen, Armen, Körper aufgefangen werden, wenn aus etwa 2 m Entfernung zugeworfen

Handmotorik

Schere kann benützt werden, einfaches Basteln, Kleben möglich. Malen von Baum, Haus, Mensch mit den wichtigsten Charakteristika möglich. Einzelne Buchstaben, Zahlen, Namen können mit Großbuchstaben geschrieben werden

Sprache

Fehlerfreie Aussprache. Erlebtes wird in logisch und zeitlich korrekter Reihenfolge berichtet; richtige, aber noch grammatikalisch einfach strukturierte Sätze. Keine Aussprachefehler

Kognitive ­Entwicklung

Grundfarben werden gekannt und benannt. Kennt Oberbegriffe: Tiere, Pflanzen, Nahrungsmittel, Kleidung. Fahrzeuge können mit einem altersgemäßen Bilderbuch erfragt werden

Sozialisation

Kooperation im Spiel mit anderen Kindern, Spielregeln werden befolgt. Kind kann Spielzeug, Süßigkeiten u. ä. zwischen sich und anderen gerecht aufteilen. Lädt Kinder zu sich ein, wird selbst eingeladen

Emotionale Entwicklung

Keine Schwierigkeiten, sich von Bezugspersonen über Stunden oder über Nacht zu trennen, wenn Betreuung durch gut bekannte Personen garantiert ist. Kind kann auch über beschämende, frustrierende, unerfreuliche Ereignisse berichten

6.3

Risikofaktoren für die kindliche ­Entwicklung

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einer kinder- und jugendärzt­ lichen Praxis. Sie versorgen und betreuen viele akut kranke Klein­ kinder. Sie führen aber auch bei Kindern dieser Altersgruppe die Vorsorgeuntersuchungen durch. Allerdings können Sie sich jedoch nicht darauf verlassen, mit dieser auch die Kinder herauszufinden,

denen Entwicklungsauffälligkeiten drohen oder die bereits manifes­ te Entwicklungsstörungen zeigen. Effektiver wäre es, schon von ­Geburt an v. a. die Kinder zu kennen, die ein höheres statistisches Risiko für eine Entwicklungsstörung oder für eine lebenslange Be­ hinderung tragen. Effektiv wäre es für Sie außerdem, wenn Ihnen eine Liste von Symptomen zur Verfügung stünde, die Ihre Aufmerk­ samkeit gezielt auf drohende oder bereits manifeste Entwicklungs­ auffälligkeiten lenken würde. Und schließlich wäre Ihnen eine

163 Entwicklung, Entwicklungs­störungen und Risikofaktoren

Sammlung von Fragen hilfreich, mit denen Sie gezielt die Eltern nach bestimmten Auffälligkeiten fragen könnten. Haben Sie solche Suchund ­Fragestrategien nicht zur Hand, wird Ihnen das Entdecken von Entwicklungsauffälligkeiten nur mit einer Art Zufallsprinzip höchst unzulänglich gelingen. Drei Strategien zur Realisierung und Siche­ rung von Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung sollen daher, für die Praxis umsetzbar, dargestellt werden: 44 anamnestische Risikofaktoren, 44 symptomatische Risikofaktoren, 44 sozial bedingte Risikofaktoren. 6.3.1

Anamnestische Risikofaktoren

Mit anamnestischen Risikofaktoren belastete Kinder tragen ein ­statistisch höheres Risiko für Entwicklungsstörungen, gegenüber Kindern ohne ein solches. Sie sind jedoch in ihrer Entwicklung stets als unauffällig anzusehen, solange sie keine Symptome einer Ent­ wicklungsstörung bieten. Haben solche Kinder gelernt, sich frei ­sicher und aufrecht zu bewegen und sind auch die Sprachentwick­ lung und die geistige Entwicklung bis zum Schuleintritt unauffällig, kann die anamnestische Risikoanamnese ad acta gelegt werden. ­Kinder mit einer Risikoanamnese sollten jedoch in den ersten­ 3 Lebensjahren häufiger als es die Vorsorgeuntersuchungen vor­ schreiben, in ihrer Entwicklung überwacht werden, je nach unauf­ fälligen oder auffälligen Befunden in einem ¼- bis ½-jährigen Rhythmus. Anamnestische Risikofaktoren ergeben sich ganz vor­ wiegend aus der mütterlichen Anamnese, der Anamnese der Schwangerschaft, der Geburt und der Anamnese der 1. Lebens­ wochen.

Anamnestische Risikofaktoren in den ersten Lebensjahren 55Schwere Erkrankungen, mehrfache Operationen, längere Krankenhausaufenthalte, chronische Erkrankungen (ange­ borene Herzfehler, Mukoviszidose u. ä.) 55Schwere allergische Erkrankungen 55Physische und psychische Vernachlässigung, soziale Isolation 55Häufig wechselnde Bezugspersonen, wechselnde Pfleg­ schaften 55Armut, sozial unterprivilegierter Status der Eltern

Risikofaktoren für Entwicklungsstörungen bedeuten keineswegs, dass die davon betroffenen Kinder auch tatsächlich entwicklungs­ beeinträchtigt sein werden. Solche Kinder benötigen jedoch in den ersten Lebensjahren eine regelmäßige und sorgfältige kinderärzt­ liche Überwachung. 6.3.2

Symptomatische Risikofaktoren

Bestimmte Symptome, die bei Entwicklungskontrollen eines indivi­ duellen Kindes gefunden werden, müssen ebenfalls als Hinweise auf eine gefährdete Entwicklung beachtet werden. Kinder mit Risikosymptomen sind, wie die mit anamnestischen Risikofaktoren, in ihrem Entwicklungsgang zeitlich eng und sorgfältig zu überwachen, solange bis sicher ist, dass die Entwicklung des betreffenden Kindes unauffällig verläuft oder bis sich Symptome einer auffälligen Ent­ wicklung manifestiert haben. Solche Faktoren sind: Symptomatische Risikofaktoren

Anamnestische Risikofaktoren der Schwangerschaft ­ und Geburt 55Mütter mit sozial unterprivilegiertem Status 55Mütter mit Drogen-, Arzneimittel-, Alkohol- oder Nikotin­ abusus 55Mütter mit chronischen Erkrankungen, die eine kontinuier­ liche Medikamenteneinnahme erfordern (z. B. Diabetes ­mellitus, Epilepsie, Gerinnungsstörungen) 55Erhebliche Blutungen oder eine manifeste Gestose während der Schwangerschaft 55Schwere Infektionskrankheiten der Mutter während der Schwangerschaft, neonatale Infektionen des Kindes 55Frühgeburtlichkeit (> Unter zerebralen Anfällen versteht man eine plötzliche, ­vorübergehende, meist kurz (Sekunden bis Minuten) dauernde Funktionsänderung eines Teils oder des gesamten Gehirns mit sensorischen, motorischen, vegetativen oder psychischen Reiz- bzw. Hemmungserscheinungen.

j jEpidemiologie Zerebrale Anfälle sind ein häufiges Ereignis. Etwa 4–5% aller Kinder erleiden im Laufe der Kindheit mindestens einen Anfall. In der über­ wiegenden Zahl handelt es sich um sog. Gelegenheitsanfälle.

7

j jSystematik Folgende Formen werden unterschieden: 44 epileptische Anfälle, 44 epileptische Reaktionen (Gelegenheitsanfälle), 44 nichtepileptische Anfälle. 7.1.1

Epileptische Anfälle

j jDefinition Als Symptom einer Epilepsie gelten epileptische Anfälle nur dann, wenn sie chronisch-rezidivierend und weitestgehend unabhängig von äußeren Einflussfaktoren auftreten. j jEpidemiologie Mit einer Prävalenz von 5–10‰ und einer Inzidenz von etwa 0,4‰ gehören die Epilepsien zu den häufigsten chronischen Erkrankun­ gen des Kindesalters. Die Hälfte der Epilepsien manifestiert sich vor dem 10. Lebensjahr, etwa ⅔ vor dem 20. Lebensjahr. j jPathophysiologie Der epileptische Anfall ist Ausdruck einer abnormen und exzes­ siven elektrischen Entladung größerer Neuronenverbände. Basis­ mechanismus ist dabei eine paroxysmale Depolarisation der Ner­ venzellmembran. Dieser pathologische Entladungsvorgang wird u. a. ausgelöst durch: 44 Imbalancen zwischen inhibitorischen und exzitatorischen Transmittersubstanzen, 44 Veränderungen der Membranrezeptoren und Ionenkanäle ­(Natrium- und Kalziumkanäle), 44 Störungen des neuronalen Energiestoffwechsels. j jÄtiologie Epileptische Anfälle sind multifaktoriell bedingt. Die Manifestation resultiert aus dem Zusammenwirken von genetischer Disposition und exogenen Realisationsfaktoren: prä-, peri- und postnatale Hirnschäden, Phakomatosen, metabolisch-genetische Erkrankun­ gen, chromosomale Aberrationen. jjKlassifikation Nach der gegenwärtig international gültigen Klassifikation werden epileptische Anfälle in fokale (partielle, herdbezogene) Anfälle mit einfacher und komplexer Symptomatik, fokale Anfälle mit sekun­ därer Generalisation, generalisierte (Absencen; myoklonische, klonische, tonische, atonische, tonisch-klonische Anfälle) und ­ nichtklassifizierbare Anfälle unterteilt.

>> Grundsätzlich ist zwischen epileptischen Anfällen und epileptischen Syndromen zu unterscheiden.

Diese Differenzierung ist zweckmäßig, da unterschiedliche Anfälle bei gleichen Syndromen, bzw. gleiche Anfälle bei unterschiedlichen Syndromen auftreten können. Einfache fokale Anfälle  Beim einfach fokalen Anfall bleibt das

Bewusstsein erhalten. Es finden sich motorische, sensible, sensori­ sche, autonome und psychische Symptome. Die motorischen (Kloni) oder sensiblen Erscheinungen (Kribbeln, Taubheitsgefühl) treten an umschriebenen Körperstellen (Gesicht, Extremitäten) auf. Eine Ausbreitung auf die gesamte Körperhälfte („march of convulsion“, Jackson-Anfall) oder Übergang in einen tonisch-klonischen Anfall (fokales Grand mal) ist möglich. Bei längerer Anfallsdauer kann es zu einer postparoxysmalen temporären Lähmung einer Extremität bzw. Körperseite kommen (Todd-Lähmung). Komplexe fokale Anfälle  Kernsymptom ist die Bewusstseins­ veränderung. Häufig geht eine Aura (visuell, auditiv, gustatorisch, olfaktorisch, vertiginös) voraus. Nicht selten zeigen sich Automatismen (Schmatz-, Kau-, Schluckbewegungen, Nesteln, Treten und

Scharren mit den Füßen), unartikulierte Laute oder szenische Aus­ gestaltung (Umherlaufen, An- und Auskleiden). Das Anfallsende ist meist durch eine über mehrere Minuten anhaltende Reorientie­ rungsstörung gekennzeichnet. Absencen  Die Absence ist charakterisiert durch eine unvermittelt einsetzende und ebenso plötzlich endende Bewusstseinspause von

15–30 s. Das Kind unterbricht seine Tätigkeit, das Gesicht wird starr und leer. Die Augen sind halb geöffnet und meist leicht nach oben gerichtet.

Myoklonische Anfälle  Myoklonische Anfälle äußern sich als blitz­ artige symmetrische Muskelzuckungen im Bereich von Schulter und Armen, gelegentlich auch unter Beteiligung der Beine. Bei hef­ tigen Myoklonien kann es zum Sturz kommen. Klonische Anfälle  Unter klonischen Anfällen versteht man sym­ metrische rhythmische Muskelkontraktionen, wobei die Abfolge

von längerer Dauer ist als bei Myoklonien. Das Verteilungsmuster entspricht dem der Myoklonien. Tonische Anfälle  Tonische Anfälle sind gekennzeichnet durch eine wenige Sekunden dauernde symmetrische axorhizomelische Muskelverkrampfung mit Beugung des Kopfs und Anheben der

Arme. Beim Auftreten im Stehen ist plötzliches Hinstürzen möglich.

Atonische (astatische) Anfälle  Bei atonischen Anfällen kommt es zu einem plötzlichen Tonusverlust, sodass die Kinder hinstürzen.

Der Anfall ist so kurz, dass die Patienten rasch wieder aufstehen. Häufig geht der Atonie eine Myoklonie voraus (myoklonisch-astatischer Anfall). Tonisch-klonische Anfälle  Meist ohne Vorboten stürzen die Pa­

tienten zu Boden. Der Anfallsablauf gliedert sich in eine tonische und eine klonische Phase. Nach Abklingen der Kloni kommt es zur Erschöpfung und meist tiefem Schlaf. Begleitphänomene sind häufig Gesichtszyanose, Mydriasis, Anstieg von Blutdruck und Herz­frequenz, vermehrter Speichelfluss, Einnässen und seitlicher Zungenbiss.

171 Epilepsie

..Tab. 7.1  Klassifikation der Epilepsiesyndrome Fokale Epilepsien

Idiopathisch mit altersgebundenem Beginn

Benigne Epilepsie im Kindesalter mit zentrotemporalen Spikes und „sharp waves“ Epilepsie im Kindesalter mit okzipitalen „sharp slow waves“

Symptomatisch Kryptogen Generalisierte Epilepsien

Idiopathisch mit altersgebundenem Beginn

Benigne familiäre Neugeborenenkrämpfe Benigne Neugeborenenkrämpfe Benigne myoklonische Epilepsie des Kleinkindalters Epilepsie mit pyknoleptischen Absencen (Pyknolepsie) Juvenile Absenceepilepsie Juvenile myklonische Epilepsie Aufwach-Grand-mal-Epilepsie

Idiopathisch und/oder symptomatisch altersgebunden

Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe (West-Syndrom) Lennox-Gastaut-Syndrom Epilepsie mit myoklonisch-astatischen Anfällen Epilepsie mit myoklonischen Absencen

Symptomatisch Epilepsien, die nicht als fokal oder generalisiert ­bestimmbar sind

Mit sowohl generalisierten als auch fokalen Anfällen

Neugeborenenkrämpfe Schwere myoklonische Epilepsie des Kleinkindalters Epilepsie mit anhaltenden Spike-wave-Entladungen im synchronisierten Schlaf Aphase-Epilepsie-Syndrom (Landau-Kleffner-Syndrom)

Ohne eindeutige generalisierte oder fokale Zeichen Spezielle Syndrome

Gelegenheitsanfälle (Fieberkrämpfe, Alkohol, Drogen, Schlafentzug) Oligoepilepsien (einzelne scheinbar unprovozierte Anfälle) Epilepsien mit speziellen Formen der Anfallsauslösung Chronisch progrediente Epilepsia partialis continua des Kindesalters

>> Myoklonien, tonische, tonisch-klonische und atonische An­ fälle können sowohl primär generalisierten als auch fokalen Ursprungs sein.

7.1.2

Epileptische Syndrome

jjKlassifikation Grundlage der Einteilung epileptischer Syndrome sind 2 unter­ schiedliche Dichotomien: 44 Anfallssymptomatik (fokal, generalisiert), 44 Ätiopathogenese (idiopathisch, symptomatisch). Die Klassifikation der Epilepsiesyndrome ist aus . Tab. 7.1 er­ sichtlich. Benigne Partialepilepsie mit zentrotemporalen Spitzen (RolandiEpilepsie)  Dies ist die häufigste Form kindlicher fokaler Epilep­

sien. Das Manifestationsalter liegt zwischen dem 2. und 12. Lebens­ jahr. Die Anfälle treten überwiegend im Schlaf auf. Charakteristisch sind Missempfindungen im Bereich von Mundhöhle, Zunge und Gesicht, gefolgt von hemifazialen Kloni unter Einbeziehung der Kaumuskulatur (typisch vermehrter Speichelfluss). Das Bewusst­ sein ist in der Regel erhalten, die Kinder können aber nicht sprechen. Das EEG zeigt zentrotemporale „sharp waves“ (. Abb. 7.1). Die An­ fälle sistieren mit Beginn der Pubertät. >> Bei Vorliegen eines bioelektrischen Status im Schlaf ist mit ­einer ungünstigen Entwicklung zu rechnen.

Seltene Varianten sind das Landau-Kleffner-Syndrom (erworbene epileptische Aphasie) und das Pseudo-Lennox-Syndrom. Epilepsie mit pyknoleptischen Absencen  Der Erkrankungsgipfel

liegt zwischen dem 5. und 9. Lebensjahr. Kennzeichnend ist das ­täglich gehäufte Auftreten von Absencen. Die Prognose ist günstig. Bei etwa 30% der Patienten können jedoch im Verlauf tonisch-­ klonische Anfälle hinzutreten. Abzugrenzen ist die frühkindliche und juvenile Absenceepilepsie. Das EEG zeigt während einer ­Absence generalisierte bilateral-synchrone, regelmäßige 3/s „spikewaves“ (. Abb. 7.2).

Juvenile myoklonische Epilepsie  Hauptmanifestationsalter ist das 12.–20. Lebensjahr. Bevorzugt nach dem morgendlichen Er­ wachen zeigen sich meist bilateral-synchron einzelne bzw. repetitive, teilweise sehr heftige (impulsive) Myoklonien im Bereich von ­Armen und Schultergürtel. Das Bewusstsein ist erhalten. Der Verlauf ist selbst bei Hinzukommen tonisch-klonischer Anfälle günstig. Im EEG finden sich kurze, generalisierte Paroxysmen von unregel­ mäßigen „spike-“ und „polyspike-waves“ (. Abb. 7.3). Aufwach-Grand-mal-Epilepsie  Betroffen sind Jugendliche ab

dem 10. Lebensjahr. Die Anfälle treten typischerweise in den beiden ersten Stunden nach dem Erwachen auf. Begünstigende Fakto­ ren sind Schlafentzug, Stress, Alkoholgenuss, visuelle Reize (Fern­ sehen, Spielautomaten – fotosensible Epilepsie). Eine Kombination mit Myoklonien und Absencen ist nicht selten. Bei ordnungs­ gemäßer Therapie und geregelter Lebensführung ist die Prognose günstig.

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172

H. Todt

..Abb. 7.1  Sharp-wave-Fokus links präzentral

7

..Abb. 7.2  EEG während einer Absence: generalisierte bilateral-synchrone 3/s „spike-waves“

Epilepsie mit Blick-Nick-Salaam-Krämpfen (BNS-Anfälle, WestSyndrom)  Der Anfallsbeginn liegt zwischen dem 3. und 7. Lebens­

monat. Es kommt zu blitzartigen Myoklonien mit Hochreißen der Arme, Anheben des Rumpfs und der Beine. Weitere Anfallsformen sind Nickanfälle und dem orientalischen Salaam-Gruß ähnelnde tonische Anfälle. Charakteristisch ist das serienhafte Auftreten. Häufige Ursachen sind frühkindliche Hirnschäden, neurokutane Syndrome (tuberöse Hirnsklerose), ZNS-Fehlbildungen und meta­ bolische Störungen. Bioelektrisches Korrelat ist die Hypsarrhythmie (diffuses Auftreten von spannungshohen Theta- und Deltawellen mit Einlagerung von „spikes“, „sharp waves“, unregelmäßigen „spike-waves“ sowie „sharp-slow waves“; . Abb. 7.4). Die Therapie ist schwierig, in den meisten Fällen zeigen die Patienten komplexe Entwicklungsstörungen.

Lennox-Gastaut-Syndrom  Dieses Syndrom ist gekennzeichnet durch das Auftreten unterschiedlicher Anfallsformen (tonisch, ­tonisch-klonisch, tonisch-astatisch, myoklonisch-astatisch, Nickund fokale Anfälle, atypische Absencen) zwischen dem 2. und­ 7. Lebensjahr. Bei ca. 20% der Fälle geht ein West-Syndrom voraus. Die Prognose ist sehr ungünstig. Neben Therapieresistenz findet sich häufig eine deutliche Retardierung. Das EEG ist charakterisiert durch meist generalisierte, frontal betonte, langsame 2–2,5/s „sharp-“ bzw. „spike-slow waves“: Spike-wave-Variant-Muster (. Abb. 7.5). Epilepsie mit myoklonisch-astatischen Anfällen  Leitsymptom sind myoklonische und atonisch-astatische Anfälle. Heftige Anfälle mit plötzlichem Hinstürzen sind nicht selten. Prädilektionsalter ist das 1.–5. Lebensjahr. Die Behandlung gestaltet sich meist problema­

173 Epilepsie

..Abb. 7.3  Kurzer generalisierter Paroxysmus irregulärer „spike-“ und „poly-spike-waves“

..Abb. 7.4 Hypsarrhythmie

tisch. Im EEG zeigen sich kurze generalisierte Paroxysmen unregel­ mäßiger 2–3/s „spike-waves“ (. Abb. 7.6). jjDiagnostik Wesentliche Voraussetzung für eine exakte Diagnosestellung ist eine akribisch und ggf. wiederholt erhobene Anamnese. Unerlässlich ist die Durchführung eines Elektroenzephalogramms. Bei fokalen ­Anfällen bzw. bei Verdacht auf eine symptomatische Genese ist der Einsatz bildgebender Verfahren erforderlich. jjDifferenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch sind alle epileptischen Reaktionen (7  Abschn. 7.1.4) und nichtepileptischen Anfälle (7 Abschn. 7.4) zu berück­ sichtigen.

jjAkuttherapie Zur Unterbrechung des Anfalls erfolgt die langsame i.v.-Injektion von Lorazepam, Diazepam oder Clonazepam (Dosierung . Abb. 7.7). Ist eine i.v.-Applikation nicht möglich, können alternativ Diazepamrectal-Tube, Lorazepam, Clonazepam und Midozolam bukkal bzw. Midozolam intranasal verabreicht werden. >> Nach dem ersten Anfall ist die Einleitung einer Langzeittherapie meist nicht indiziert.

jjLangzeittherapie Da es nur bei 65% der betroffenen Kinder zu wiederholten epilepti­ schen Anfällen kommt und das individuelle Rezidivrisiko nicht ein­ deutig voraussagbar ist, kann nach einem ersten Anfall in der Regel

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H. Todt

..Abb. 7.5  Spike-wave-Variant-Muster bei LennoxGastaut-Syndrom

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..Abb. 7.6  Kurzer generalisierter Paroxysmus unregelmäßiger „spike-waves“

mit einer Langzeittherapie zugewartet werden. Sofern die Indikation gegeben ist, muss zur Vermeidung gravierender Nebenwirkungen die Einstellung stufenweise erfolgen (bevorzugter Einsatz von Retardprä­ paraten). Eine allmähliche Beendigung der Therapie kann nach 3- bis 5-jähriger Anfallsfreiheit vorgenommen werden. Die zum Einsatz kommenden Antiepileptika sind . Tab. 7.2 zu entnehmen. jjPrognose Anfallsfreiheit ist bei etwa 60%, eine deutliche Reduktion der An­ fallsfrequenz bei weiteren 20% der Patienten erreichbar. Eine nicht unbedeutende Zahl mit therapieresistenten Anfällen profitiert von epilepsiechirurgischen Eingriffen oder einer N.-vagus-Stimulation.

jjSoziale Aspekte Neben der medikamentösen Therapie ist bei anfallskranken Kindern besonders auf eine ihrem Leistungsvermögen angepasste soziale Eingliederung und Förderung zu achten. Unnötige Restriktionen sind zu vermeiden. Gegen die Teilnahme am Sport bestehen grund­ sätzlich keine Bedenken (lediglich Sportarten mit Absturzgefahr sind nicht geeignet). Schwimmen sollte nur unter besonderer Auf­ sicht erfolgen. >> Bis auf wenige Ausnahmen (sorgfältige Abwägung bei parenteraler Impfung gegen Typhus, Paratyphus, Gelbfieber und Cholera) können alle Impfungen durchgeführt werden.

175 Epilepsie

..Abb. 7.7  Therapie des Status epilepticus

..Tab. 7.2  Pharmakotherapie der Epilepsien Anfalls- bzw. Epilepsieform

1. Wahl

2. Wahl

3. Wahl

Frühkindliche tonisch-klonische Anfälle

Valproat

Brom Phenobarbital

Benigne Partialepilepsien

Sultiam Oxcarbazepin

Valproat Levetirazetam

Clobazam

Einfache und komplexe fokale Anfälle, ­fokales Grand mal

Oxcarbazepin Lamotrigin

Levetirazetam Valproat Topiramat Zonisamid Sultiam Lacosamid

Phenytoin Primidon Phenobarbital

Absencen

Valproat Ethosuximid

Lamotrigin

Mesuximid

Myoklonien, Aufwach-Grand-mal

Valproat

Lamotrigin

Primidon

BNS-Anfälle

Initialversuch mit Pyridoxin ACTH Kortikoide Vigabatrin

Sultiam Valproat Topiramat

Ketogene Diät

Dravet-Syndrom

Valproat

Topiramat + Brom Stiripentol + Clobazam

Levetirazetam Ethosuximid Mesuximid

Myoklonisch-astatische Anfälle

Valproat

Ethosoximid Lamotrigin

Mesuximid

Lennox-Gastaut-Syndrom

Valproat

Lamotrigin ACTH Kortikoide Topiramat Rufinamid Felbamat

7

176

H. Todt

7.1.3

Status epilepticus

j jDefinition Unter einem Status epilepticus versteht man eine länger als 15 min andauernde epileptische Anfallstätigkeit mit oder ohne Beeinträch­ tigung des Bewusstseins. Zu unterscheiden ist zwischen konvulsi­ vem und nichtkonvulsivem Status. Bewusstseinseinengung, Stupor oder Dämmerzustand können das alleinige Symptom des nichtkon­ vulsiven Status sein. Eine Erkennung ist dann nur durch das EEG möglich. !! Cave Der Status epilepticus ist eine Notfallsituation und bedarf dringlich stationärer Behandlung.

7

j jTherapie Die grundsätzliche Vorgehensweise bei Status epilepticus besteht in: 44 Erhaltung vitaler Funktionen, 44 Unterbrechung des Status (. Abb. 7.7), 44 Behandlung systemischer Komplikationen (Hirndruck, Blut­ druck, Blutzucker, Azidose, Elektrolyte), 44 Abklärung der Ätiologie. 7.1.4

Epileptische Reaktionen

j jDefinition Als epileptische Reaktionen (Gelegenheits- oder Okkasions­ krämpfe) werden Konvulsionen bezeichnet, die nur im Rahmen akuter zerebraler bzw. extrazerebraler Erkrankungen auftreten. Sie sistieren nach Behandlung oder Abklingen der jeweils auslö­ senden Situation. jjÄtiologie Wichtige Ursachen von Gelegenheitsanfällen sind: 44 Fieber, 44 intrakranielle Infektionen (Meningitis, Enzephalitis), 44 Schädel-Hirn-Trauma, 44 hypoxisch-ischämische Enzephalopathie, 44 Elektrolytstörungen (Hypo-/Hypernatriämie, Hypokalzämie), 44 metabolische Störungen (Hypoglykämie, angeborene Stoff­ wechseldefekte, Vitamin-B6-Mangel). 7.2

Fieberkrämpfe

>> Als Fieberkrämpfe (Infektkrämpfe) werden Konvulsionen ­verstanden, die zwischen dem 6. Lebensmonat und dem ­ 5. Lebensjahr im Rahmen hochfieberhafter Infekte auftreten.

j jKlinik Fieberkrämpfe sind mit einem Anteil von 50% die häufigste Form der Gelegenheitskrämpfe. Fieber als Realisationsfaktor sowie eine genetische und Altersdisposition sind die wesentlichsten pathogenetischen Faktoren. Die Anfälle treten meist im Fieberanstieg auf und sind phänomenologisch nicht von tonisch-klonischen Anfällen zu unterscheiden. In 10–15% der Fälle zeigen sich fokale Symptome. Prolongierte Halbseitenkrämpfe können von neurologischen Aus­ fällen und fokaler Epilepsie gefolgt sein: Hemikonvulsion-Hemiple­ gie-Epilepsie-Syndrom (HHE-Syndrom).

jjDiagnose Man unterscheidet einfache und komplizierte Fieberkrämpfe. >> Bei jedem Krampfanfall unter Fieber ist stets an eine entzündliche Erkrankung des ZNS zu denken und im Zweifelsfall durch eine Lumbalpunktion auszuschließen.

Kriterien komplizierter Fieberkrämpfe 55Dauer >15 min 55Fokale Anfallssymptome 55Mehrfaches Auftreten innerhalb 24 h

jjAkuttherapie Neben der Fiebersenkung erfolgt die Unterbrechung des Anfalls wie oben beschrieben (7 Abschn. 7.1.2). jjDauertherapie Eine Langzeittherapie sollte nur nach sorgfältiger Abwägung einge­ leitet werden. Als engere Indikationen gelten: 44 Anfallsdauer von mehr als 15 min, 44 fokale Anfallssymptome, 44 Anfallsserien, 44 Kombination von mindestens 2 der o. g. Risikofaktoren. jjAnfallsprophylaxe Bei Temperaturen über 38°C erfolgt die prophylaktische Antipyrese. Eine Anfallsprophylaxe mit Diazepam-Suppositorien sollte erst nach wiederholten Fieberkrämpfen erwogen werden. jjPrognose Die Kinder nehmen in der Regel eine normale Entwicklung. Das Epilepsierisiko beträgt bei einfachen Fieberkrämpfen 1–2%, bei komplizierten 10–15%. 7.3

Neugeborenenkrämpfe

Die Neugeborenenkrämpfe werden in 7 Kap. 4.11 beschrieben. 7.4

Nichtepileptische Anfälle

Nichtepileptische paroxysmale Phänomene können in ihrem Er­ scheinungsbild epileptischen Anfällen sehr ähnlich sein und somit fehlgedeutet werden. Eine Gegenüberstellung ist aus . Tab. 7.3 er­ sichtlich. Psychogene Anfälle  Kennzeichnend ist reaktives, situations­

gebundenes Auftreten, demonstrativ theatralischer Ablauf, Zusam­ mensinken ohne Verletzungen, unkoordiniertes Umherschlagen und partiell erhaltene Reaktion. Im Gegensatz zu epileptischen ­Anfällen findet sich in der Regel keine Erhöhung des Prolaktin­ spiegels. Synkopen  Unter Synkopen (Kollaps, Ohnmacht) versteht man

Zustände kurzzeitiger Bewusstlosigkeit infolge kardiovaskulär be­ dingter zerebraler Ischämie. Bei vagovasalen Synkopen führen komplexe zentrale Reflexmechanismen, die über vagale Efferenzen vermittelt werden, zum Kreislaufversagen. Auslösende Situationen sind langes Stehen (orthostatische Dysregulation: allmähliches Hinsinken nach Vorboten wie Übelkeit, Schwindel, Schwarzwerden

177 Epilepsie

..Tab. 7.3  Gegenüberstellung epileptischer und nichtepileptischer Anfälle Epileptische ­Anfälle

Nichtepileptische Anfälle

Tonische ­Anfälle

Paroxysmale kinesiogene Choreoathetose, transitorische Dystonie des Säuglings, benigner paroxysmaler Tortikollis, alternierende Hemiplegie mit Dystonie des Kleinkindalters, Hyperekplexie, Sandifer-Syndrom

Atonische Anfälle

Synkopen, Affektanfälle, blasse Reflexsynkopen, benigne paroxysmale Vertigo

Myoklonien

Benigne Schlafmyoklonien des Säuglings, Tics, Schauderanfälle, Spasmus nutans, Muskelzittern des Neugeborenen (Jitteriness)

Absencen

Tagträumen

Einfach fokale Anfälle

Migräne mit Aura

Komplex fokale Anfälle

Pavor nocturnus, Somnambulismus, dysphre­ nische Migräne, Hyperventilationssyndrom, ­Wutanfälle, Bewegungsstereotypien (Jactatio, Masturbation), Narkolepsie

vor den Augen) bzw. Angst, Schreck oder Schmerz (z. B. Blutentnah­ men). Im Einzelfall ist blitzartiges Hinstürzen begleitet von tonischer Haltung und Myoklonien möglich (konvulsive Synkope). Bei kardialen Synkopen ist u. a. an das Long-QT-Syndrom zu denken (Romano-Ward-Syndrom: autosomal-dominant; Jervell-LangeNielsen-Syndrom assoziiert mit Taubheit: autosomal-rezessiv). Blasse Reflexsynkopen  Bei meist banalen Kopftraumen stürzen die Kinder nach einem Aufschrei plötzlich zu Boden, sind blass und bewusstlos. Ursache ist ein hypersensitiver Vagusreflex, der über eine kurze Asystolie zu einer zerebralen Minderperfusion führt. Affektanfälle  Hauptmanifestationsalter ist das 2.–4. Lebensjahr. Hervorgerufen durch emotionale Belastungen (Trotz, Wut, Angst)

kommt es zu heftigem Schreien und Anhalten der Atmung in Exspi­ ration. Die Folge sind Zyanose, Bewusstseinstrübung und allmäh­ liches Hinsinken. Dramatische Verläufe mit tonischen Streckkrämp­ fen und einzelnen Kloni sind möglich. Pavor nocturnus  Betroffen sind meist Knaben im Vorschul- und

Schulalter. Etwa 1–2 h nach dem Einschlafen setzen sich die Kinder nach einem initialen lauten Schrei im Bett auf, gestikulieren und zeigen einen angstbesetzten Gesichtsausdruck. Zuspruch und Trost sind wirkungslos. Gewöhnlich schlafen die Kinder nach Abklingen der Symptome ruhig weiter. Als Begleiterscheinungen oder allei­ nige Manifestation kann es zu ziellosem Umherlaufen kommen (Somnambulismus).

7

179

Nervensystem E. Boltshauser, A.M. Kaindl, O.S. Ipsiroglu, I. Krägeloh-Mann, K. Rostasy, M. Schöning, S. Stöckler-Ipsiroglu, J. Krauss, T. Schweitzer

8.1

Neurologische Beurteilung  – 181

8.2

Entwicklungsstörungen ­des Zentralnervensystems  – 184

8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5

Dysraphien  – 184 Störung der Vorderhirninduktion: ­Holoprosenzephalie  – 186 Mittellinienfehlbildungen  – 186 Entwicklungsstörungen der Großhirnrinde  – 188 Entwicklungsstörungen von Kleinhirn und Hirnstamm  – 188

8.3

Hydrozephalus  – 189

8.4

Kraniosynostosen  – 190

8.5

Lagerungsasymmetrien  – 192

8.6

Gedeckte spinale Fehlbildungen  – 193

8.6.1 8.6.2 8.6.3 8.6.4

Pathologisches Filum terminale  – 194 Lipomyelomeningozele, spinales Lipom  – 194 Diastematomyelie  – 195 Dermalsinus  – 195

8.7

Zerebralparesen  – 195

8.8

Neuro- und heredodegenerative ­Erkrankungen  – 199

8.8.1 8.8.2 8.8.3 8.8.4 8.8.5 8.8.6

Erkrankungen mit primär mentalem ­Abbau  – 199 Demyelinisierende Erkrankungen  – 200 Hypomyelinisierende und ­dysmyelinisierende Erkrankungen  – 200 Erkrankungen mit charakteristischen ­extrapyramidalen Bewegungsstörungen ­ und heredodegenerative Erkrankungen der Basalganglien  – 200 Andere heredodegenerative ­Erkrankungen  – 201 Erworbene ZNS-Erkrankungen mit n ­ eurodegenerativem Verlauf  – 202

8.9

Globale Entwicklungsverzögerung ­und Intelligenzminderung  – 202

8.9.1 8.9.2

Genetische Ursachen der Entwicklungsverzögerung/Intelligenzminderung  – 203 Erworbene Ursachen der Entwicklungs­verzögerung/Intelligenzminderung  – 203

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_8

8

8.10

Vaskuläre Malformationen  – 203

8.10.1 8.10.2 8.10.3 8.10.4

Arteriovenöse Malformationen  – 203 Vena-Galeni-Malformation  – 204 Kavernome  – 204 Aneurysmen  – 204

8.11

Ischämische zerebrale Insulte  – 205

8.12

Sinus- und Hirnvenenthrombosen  – 207

8.13

Kopfschmerzen und Migräne  – 207

8.13.1 Migräne  – 207 8.13.2 Andere Kopfschmerzursachen  – 209

8.14

Traumatische Schädigungen ­des Nervensystems  – 209

8.14.1 8.14.2 8.14.3 8.14.4

Schädeltrauma  – 209 Schädel-Hirn-Trauma (SHT)  – 210 Sonstige Manifestationen von ­Schädeltraumen  – 210 Verletzungen von Rückenmark, Nervenwurzeln und peripheren Nerven  – 211

8.15

Entzündliche Erkrankungen ­des Nervensystems  – 211

8.15.1 8.15.2 8.15.3 8.15.4 8.15.5 8.15.6 8.15.7 8.15.8 8.15.9

Meningitis  – 212 Enzephalitis  – 213 Poliomyelitis  – 215 Transverse Myelitis  – 215 Akute Polyradikuloneuritis ­(Guillain-Barré-Syndrom)  – 215 Enzephalomyelitis disseminata ­(multiple Sklerose)  – 216 Akute disseminierte Enzephalomyelitis  – 217 Neuromyelitis-optika-Spektrumserkrankungen  – 218 Zerebrale Vaskulitis  – 218

8.16

Neurologische Mitbeteiligung ­bei systemischen Erkrankungen  – 219

8.16.1 Neurologische Manifestationen ­bei rheumatischen Erkrankungen  – 219 8.16.2 Neurologische Manifestationen bei Herz-, ­ Nieren und Lebererkrankungen  – 219

8.17

Neurologische Manifestationen ­bei Intoxikationen  – 220

181 Nervensystem

8.1

Neurologische Beurteilung

O. Ipsiroglu und S. Stöckler-Ipsiroglu Allgemeines  Die entwicklungsbedingte Änderung der Funktion

des kindlichen Nervensystems hat zur Folge, dass die neurologische Untersuchung je nach Alter mit unterschiedlichen Techniken und Fragestellungen durchgeführt werden muss. Frühestens ab dem 5. Lebensjahr ist eine neurologische Untersuchung mit den Standardmethoden der Erwachsenenneurologie durchführbar.

Anamnese  Die genaue Beschreibung der Art, Dauer und des Ver-

laufs der Probleme ist gerade bei der neurologischen Evaluation des Kindes von essenzieller Bedeutung. Weiterhin müssen in der neurologischen Erstanamnese Schwangerschaftsverlauf, Geburt (ApgarScore, Geburtsgewicht, Länge, Kopfumfang), postpartale Periode und die Meilensteine der psychomotorischen Entwicklung erfasst werden. Oft ist ein schlechtes Trinkverhalten das erste Zeichen einer neurologischen Erkrankung.

>> Eine Entwicklungsstörung von Geburt an spricht für eine ­intrauterine oder perinatale Ursache. Ein Verlust bereits erworbener Fähigkeiten ist charakteristisch für degenerative ­Erkrankungen des Nervensystems.

Beurteilung der psychomotorischen Entwicklung  Zur groben Beurteilung der statomotorischen und psychomentalen Entwicklung im ersten Lebensjahr werden Kriterien der Grob- und Feinmotorik, des Sozialkontaktes (inkl. Spielverhalten und Wahrnehmung des eigenen Körpers) und der Sprache herangezogen. Die wichtigsten Orientierungskriterien sind in . Tab. 8.1 zusammengefasst. Für eine objektive Beurteilung werden standardisierte Tests (Entwicklungsskalen) herangezogen (z. B. Denver Developmental Screening Test). In diesen Skalen werden die von einem Kind erreichten Entwicklungsmeilensteine mit einem Normalkollektiv verglichen. Hat ein Kind bestimmte Meilensteine in einem Alter nicht erreicht, in dem bereits 75–90% des Vergleichskollektives diese Meilensteine erreicht haben, besteht ein Verdacht auf Entwicklungsverzögerung. In diesem Fall sollte eine engmaschige Verlaufskontrolle (innerhalb von 3 Monaten) erfolgen. Eine eindeutige Entwicklungsverzögerung

besteht, wenn das Kind seine Entwicklungsmeilensteine zeitlich so verzögert erreicht, dass dies eindeutig außerhalb des durch das Normalkollektiv vorgegebenen Rahmens liegt. Die Entwicklungsverzögerung kann einen einzelnen Teilbereich der Entwicklungsskala betreffen (z. B. isolierte Sprachentwicklungsverzögerung), oder sie kann mehrere Teilbereiche bis hin zur globalen Entwicklungsver­ zögerung, bei der alle Teilbereiche mitbeteiligt sind, betreffen. Das Ausmaß der Entwicklungsverzögerung kann als das aktuelle ­Entwicklungsalter, verglichen mit dem chronologischen Alter des Kindes, angegeben werden. Hat z. B. ein Kind mit einem chronologischen Alter von 12 Monaten erst die Meilensteine des 6 Monate alten Normkollektives erreicht, hat dieses Kind ein aktuelles Entwicklungsalter von 6 Monaten. Familienanamnese  Die sorgfältige Erhebung der Familienanamnese ist Bestandteil jeder neurologischen Erstuntersuchung, v. a. wenn eine genetische Ursache der Erkrankung nicht von vorneherein ausgeschlossen werden kann. Bei der Erhebung der Familienanamnese ist darauf zu achten, dass die Eltern aufgefordert werden, jede Erkrankung anzugeben, auch wenn sie auf den ersten Eindruck nichts mit der Erkrankung des Kindes zu tun hat. Beobachtung  Die Beurteilung des sich unbeobachtet fühlenden Kindes im Spiel und in der Interaktion mit den Eltern stellt die wichtigste Informationsquelle über die psychomentale und psychoso­ ziale  Entwicklung sowie über die motorischen Funktionen des ­Kindes dar. Dieser Phase der Untersuchung muss daher gerade bei der (entwicklungs)neurologischen Untersuchung genügend Platz eingeräumt werden. Kopfumfang  Die Messung des Kopfumfangs erfolgt mit einem Maßband, das von der Stirn aus über den größten Durchmesser des Kopfs gezogen wird. Liegen die Messwerte über der 97. oder unter der 3. Perzentile oder entfernen sich im Rahmen von Verlaufsuntersuchungen die Werte von der ursprünglichen Perzentile, muss ein Makro-/Hydrozephalus bzw. Mikrozephalus in Betracht gezogen werden. Äußere Merkmale  Insbesondere bei genetischen, z. T. aber auch

bei intrauterin erworbenen Erkrankungen können Dysmorphie­

..Tab. 8.1  Meilensteine der frühkindlichen psychomotorischen Entwicklung (25–75%-Perzentile, Denver Develpomental Screening Test II) Alter ­[Monate]

Grobmotorik

Feinmotorik

Sozialkontakt

Sprache

 3

Stützt sich in Bauchlage auf Unterarme

Beginnt zu greifen

Spontanes Lächeln, betrachtet eigene Hände

Variantenreiche Vokalisation, Lachen, Quietschen

 6

Hält sich kurz im freien Sitz

Greift gezielt, gibt Objekte von einer Hand in die andere

Zeigt, wenn es etwas mag, verfolgt Personen mit Blick, nimmt Essen in den Mund

Imitieren von Sprachlauten, Vokalisation mit wechselndem Tonfall und Rhythmus, Gurren und Lippenlaute

 9

Zieht sich zum Stand hoch

Pinzettengriff

Reagiert auf fremde Personen, winkt zum Abschied

Imitiert Sprachlaute, Doppelsilben

12

Steht alleine, geht mit Unterstützung an einer Hand

Lässt Objekt auf Aufforderung los, gibt Bauklotz in ein Gefäß

Spielt mit Untersucher Ball, imitiert Aktivitäten

1–2 Wörter

18

Treppaufgehen mit Hilfe, Rennen

Baut Turm mit ­ 2 Bausteinen

Verwendet Gabel/Löffel, füttert eine Puppe, zieht sich aus

≥6 Wörter

24

Wirft Ball über dem Kopf, springt aus dem Stand

Baut Turm mit ­ 6 Bausteinen

Spielt mit Anderen, wäscht und trocknet Hände

2- bis 3-Wort-Sätze, benennt Körperteile

8

182

E. Boltshauser et al.

..Tab. 8.2  Funktionen, Ausfallserscheinungen und spezielle Krankheitsbilder der 12 Hirnnerven

8

Funktion bzw. ­Innervation

Ausfallerscheinungen und charakteristische Untersuchungsbefunde

Ursachen und spezielle Krankheitsbilder

I N. olfactorius

Riechen

Anosmie

Meningitis, Hydrozephalus

II N. opticus

Sehen

Optikushypoplasie, Optikusatrophie, ­Stauungspapille

Mittelliniendefekt, unspezifische Hirnschädigung, Hirndruck

III N. oculomotorius

M. rectus med., sup., inf., M. obliquus inf., M. levator palpebrae sup.

Ptose, Pupillendilatation, Deviation des ­Bulbus nach unten und außen

IV N. trochlearis

Musculus obliquus sup.

Deviation des Bulbus nach oben und außen

VI N. abducens

M. rectus lat.

Deviation des Bulbus horizontal nach innen

Externe Ophthalmoplegie: Ptose und Paralyse aller Augenmuskeln, normale Pupillenreaktion Interne Ophthalmoplegie: Pupillendilatation ohne Licht und Akkomodationsreflex Internukleäre Ophthalmoplegie (Hirnstammläsion, M. rectus medialis und Nystagmus): Adduktionshemmung und Nystagmus bei Adduktion

V N. trigeminus

Sensibler Gesichtsnerv; motorische Innervation der Masseter und Temporalmuskulatur

Ausfall des Kornealreflexes, Atrophie und Kraftminderung der Kaumuskulatur, bei Säuglingen durch Auslösung des Kinnreflexes objektivierbar

Kongenitale Kernaplasie, Raumforderung

VII N. facialis

Motorische Innervation der Gesichtsmuskulatur

Periphere Parese: ipsilateral Schwäche der perioralen, periorbitalen und Stirn Muskulatur Zentrale Parese: nur unterer Versorgungsteil (perioral) betroffen

Kongenitale Kernaplasie, Trauma, Infektion (Borrelien), Raumforderung Infarkt, Blutung

Hypakusis, Vertigo

Intrauterine Infektionen, Dysmorphie­ syndrome, familiäre Schwerhörigkeit, bakterielle Meningitis, ­toxisch, iatrogen (­Aminoglykoside)

VIII N. statoaccusticus

IX N. glosso­ pharyngeus

Innervation der hinteren Pharynxwand (motorisch) und des hinteren Zungenbereichs (sensibel)

Fehlender oder asymmetrischer Würgereflex

Kernaplasie, neurodegenerative Erkrankungen, Raumforderung „idiopathisch”

X N. vagus

Innervation des weichen Gaumens und der Stimmbänder

Schluckstörung, heisere Stimme durch Stimmbandlähmung

Postoperativ nach Thorakotomie, Chiari-IIMalformation

XI N. accessorius

Innervation des ­ M. sternocleidomastoideus und M. trapezius

Untersuchung: Rotation des Kopfs und Reklination des Nackens gegen die Hand des Untersuchers

Motoneuronenerkrankung, Myasthenia gravis, myotone Dystrophie

XII N. hypoglossus

Innervation der Zungenmuskulatur

Schwäche, Atrophie und Spontanaktivität (Faszikulationen) der Zungenmuskulatur. Bilaterale Schwäche: Herausstrecken der Zunge nicht möglich, Dysphagie

Motoneuronenerkrankung, kongenitale Anomalien im Bereich des Foramen magnum

zeichen diagnostisch eine Rolle spielen. Am Kopf sollten v. a. die Kopfform, Richtung und Abstand der Lidspalten, der Ansatz der Nasenwurzel, die Form der Nase und des Munds sowie die Stellung und Modellierung der Ohrmuschel beachtet werden. Weitere differenzialdiagnostische Merkmale können die Beschaffenheit der Hautfalten an der Palma und Planta, der Brustwarzen, die Form des Genitals sowie die Form und Beweglichkeit der Extremitäten und des Stammskelettes sein. Kinder mit schweren neurologischen oder neuromuskulären Erkrankungen können aufgrund einer bereits intrauterin manifesten Haltungs- und Bewegungsstörung mit fixierten Gelenkfehlstellungen (Klumpfuß, Gelenkskontrakturen) zur Welt kommen. Hirnnervenfunktionen  Das Sehvermögen und somit auch die Funktion des N. opticus (II) kann bereits bei Frühgeburten ab der

28. Schwangerschaftswoche durch blinzeln und ab der 35. Schwan-

gerschaftswoche durch anhaltenden Augenschluss bei Reizung mit einer Lichtquelle festgestellt werden. Bei Geburt wird eine Licht­quelle bereits fixiert und nachverfolgt. Mit 3 Jahren können Objekte auf den üblichen Sehtafeln zur Prüfung der Sehrschärfe erkannt werden. Die Beurteilung der Okulomotorik und somit des N. oculomotorius (III), N. trochlearis (IV) und N. abducens (VI) ist zur Feststellung des Schielens wichtig. Schielen kann wiederum Ursache für eine funktionelle Amaurose sein (7 Kap. 28). Angeborene Hörstörungen und somit Funktionsdefizite des N. statoacusticus (VIII) kommen sehr häufig vor (Prävalenz international 1–2/1.000 Neugeborene). Die Früherkennung von Hör­ störungen wird heute bereits vielerorts durch die Untersuchung von Neugeborenen mittels otoakustischer Emissionen durchgeführt (weitere Möglichkeiten 7 Kap. 29). Funktionen und Ausfallserscheinungen der 12 Hirnnerven sind in . Tab. 8.2 dargestellt.

183 Nervensystem

..Tab. 8.3  Beurteilung der Muskelkraft durch Angabe der Kraftgrade 0–5

..Abb. 8.1 Floppy-infant-Syndrom: 6 Monate alter männlicher Säugling mit ausgeprägter Muskelhypotonie an Stamm und Extremitäten mit unphysiologisch abduzierten Hüft- und Schultergelenken (Froschhaltung) bei mitochondrialem Atmungskettendefekt (Cytochrom-C-Oxidase)

Untersuchung der Motorik  Die Untersuchung des motorischen

Systems umfasst eine Beurteilung von Muskeltrophik, Muskeltonus, Muskelkraft, von Haltungs- und Bewegungsmustern sowie der ­Reflexe. Die Muskeltrophik lässt sich bei jüngeren Kindern aufgrund des hohen Anteils an subkutanem Fettgewebe nur bei ausgeprägten S eitenunterschieden feststellen. Die Pseudohypertrophie der ­ ­Wadenmuskulatur ist ein spezifisches Zeichen für eine proximale Muskelschwäche der Oberschenkel und Beckengürtelmuskulatur. Sie ist ein erstes Symptom bei Muskeldystrophie Duchenne (7 Kap. 9). Der Muskeltonus wird durch den Widerstand bei passiver Bewegung bestimmt. Bei Muskelhypotonie ist der passive Widerstand der Muskulatur so gering, dass es zu einer ungewöhnlichen Überstreckbarkeit der großen und kleinen Gelenke kommt. In ausgeprägten Fällen (Floppy-infant-Syndrom) liegen die Kinder in Froschhaltung mit unphysiologisch abduzierten Hüft- und Schultergelenken (. Abb. 8.1). Eine Erhöhung des Muskeltonus im Sinne einer Spastik liegt vor, wenn nach einem initial hohen Widerstand bei passiver Bewegung der Tonus plötzlich nachlässt (Klappmesserphänomen). Beim Rigor ist der Muskeltonus ebenfalls erhöht. Im Gegensatz zur Spastik kommt es jedoch bei passiver Bewegung nur zu einem ruckartigen Nachlassen des Muskeltonuns (Zahnradphänomen). Von einem Opistotonus spricht man bei einer extremen Überstreckung des Rumpfs. Die Muskelkraft wird nach Jenda in 6 Kraftgrade eingeteilt, die vom völligen Fehlen der aktiven Beweglichkeit (Kraftgrad 0) bis zur vollen Muskelkraft mit Bewegung gegen starken Widerstand reichen . Tab. 8.3). Zur gezielten Beurteilung der Beckengürtel und Oberschenkelmuskulatur kann die Fähigkeit treppauf zu gehen herangezogen ­werden. Wenn sich Kinder beim Aufstehen aus der Bauchlage an­ den eigenen Oberschenkeln abstützen (Gower-Zeichen, 7 Kap. 9, 7  Abb. 9.7), ist das ebenfalls ein Hinweis für eine Schwäche der ­Beckengürtel und Oberschenkelmuskulatur. Störungen der Bewegungs- und Haltungsmuster können spastisch, ataktisch, choreatisch oder dyston-athetoid sein. Die Störungen können den Rumpf und/oder die Extremitäten betreffen. Eine klinische Beschreibung der hier aufgezählten abnormen Haltungsund Bewegungsmuster findet sich in . Tab. 8.4. Reflexe  Die Untersuchung der Reflexe beinhaltet die Beurteilung

von Muskeleigenreflexen, der pathologischen Reflexe und der Primitivreflexe: Die wichtigsten Muskeleigenreflexe sind der Achilles-, Patellar-, Bizeps-, Trizeps- und Radiusperiostreflex. Der wichtigste

Kraftgrad 0

Keine Bewegung

Kraftgrad 1

Bewegung ohne Überwindung der Schwerkraft (z. B. Bewegung von Armen und Beinen auf der Liegeunterlage)

Kraftgrad 2

Bewegung gegen Schwerkraft möglich (z. B. Heben von Armen und Beinen)

Kraftgrad 3

Bewegung gegen leichten Widerstand

Kraftgrad 4

Bewegung gegen Widerstand

Kraftgrad 5

Volle Muskelkraft mit Bewegung gegen starken ­Widerstand

..Tab. 8.4  Beschreibung der wichtigsten pathologischen ­Haltungs- und Bewegungsmuster Spastik

Abnorm erhöhter Muskeltonus; abnorm gesteigerte Muskeleigenreflexe, positive Pyramidenzeichen ­(Babinski positiv); abnorme Haltungs- und Bewegungsmuster (Spitzfußstellung, Innenrotation und Adduktion des Hüftgelenks, Pronation und Flexion des Unterarmes und der Hand)

Dystonie

Abnorme, anhaltende Muskelkontraktion, die zu ab­ normen dystonen Stellungen der Extremitäten und des Rumpfs (Flexion, Pronation im Handgelenk bei Strecken der Finger oder Torsion des Rumpfs) sowie zu ausfahrenden unwillkürlichen Bewegungsabläufen führt

Choreoathetose

Unwillkürliche, überschießende (hyperkinetische) Bewegungsstörung bei normalem oder niedrigem Muskeltonus; choreatisch: irreguläre Zuckungen v. a. aus den großen Gelenken heraus; athetoid: abnorme geschraubte Bewegungen; ein kurzzeitiges Verharren in abnormer Position ist möglich

Ataxie

Im Bereich der oberen Extremität: Dysmetrie oder Intentionstremor; im Bereich der unteren Extremitäten und des Rumpfes: Gang- und Standataxie (breitbasig, schwankend); im Bereich der Mundmotorik: Dysarthrie

pathologische Reflex ist der Babinski-Reflex, der normalerweise nicht auslösbar ist. Beim Vorhandensein von Pyramidenbahnläsionen kommt es beim Bestreichen der lateralen Fußsohle zu einer ­Extension der großen Zehe und zu einer fächerförmigen Spreizung der übrigen Zehen. Die Primitivreflexe (Such-, Greif-, tonischer ­Nackenreflex, Mororeflex) sind entwicklungsabhängig in den ersten Lebenswochen bis Monaten nachweisbar. Bei degenerativen Pro­ zessen können Primitivreflexe auch im Erwachsenenalter wieder auftreten. Sensibilität  Die Überprüfung der klassischen Sensibilitätskriterien

(Berührung, Temperatur, spitz/stumpf Diskrimination, Vibra­ tionsempfinden) ist bei jüngeren und bei Kindern mit Intelligenzminderung aufgrund mangelnder Kooperation schwer möglich. Hier ist der Kinderarzt v. a. auf die anamnestischen Angaben durch die Eltern angewiesen. Angaben zu Schmerz- und Temperatur­ empfindung können üblicherweise von den Eltern gut gemacht werden.

8

184

E. Boltshauser et al.

Spezielle Diagnostik  Spezielle elektrophysiologische Diagnosemethoden beinhalten das Elektroenzephalogramm (EEG), die visu-

ell, akustischen und somatosensorischen evozierten Potenziale (VEP, AEP, SSEP), Nervenleitgeschwindigkeit und Elektromyogramm (EMG). Spezielle bildgebende Verfahren beinhalten die Magnetresonanztomographie (MRT), die kranielle Computertomographie (CCT), und die Schädelsonographie. Mit der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) können metabolische Veränderungen im Gehirn festgestellt werden Die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis ist v. a. bei Verdacht auf entzündliche Erkrankungen obligat. Bei der Abklärung von ätiologisch unbekannten Erkrankungen kommen spezielle biochemische und molekulargenetische Unter­suchungen in Harn, Blut, Liquor und sonstigen Geweben zur Anwendung. 8.2

8

Entwicklungsstörungen ­ des Zentralnervensystems

A.M. Kaindl, E. Boltshauser Entwicklungsstörungen des Zentralnervensystems (ZNS) können isoliert oder im Rahmen von Syndromen auftreten und stellen mit einer Häufigkeit von 1% die häufigsten Entwicklungsstörungen des Menschen dar. Das Vorliegen einer ZNS-Fehlbildung korreliert insgesamt mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität. Die Prognose eines Einzelnen hängt aber entscheidend von der Art der Ent­ wicklungsstörung und von Anomalien weiterer Organsysteme ab. Ursachen können sowohl genetische als auch umweltbedingte Faktoren sein. Der Entstehungszeitpunkt unterschiedlicher Entwicklungsstörungen kann anhand des Ablaufs der ZNS-Entwicklung zeitlich eingeordnet werden (. Tab. 8.5). Häufig haben Betroffene das klinische Zeichen einer Mikrozephalie (Kopfumfang 97. Perzentile). Diese können weiter als primär (bereits bei Geburt vorhanden) oder ­sekundär (erst im Laufe des Lebens aufgetreten) spezifiziert werden. 8.2.1

Dysraphien

Dysraphien oder Verschlussstörungen des Neuralrohrs sind die ­häufigsten Entwicklungsstörungen des ZNS und entstehen um die

3.–4. SSW mit einer Prävalenz von 0,5–2/1.000 Schwangerschaften. Zu diesem Zeitpunkt stülpt sich normalerweise die Neuralplatte entlang ihrer Achse ein, bildet dadurch erst eine Neuralrinne und nachfolgend ein Neuralrohr, aus dessen oberen Anteil sich das Gehirn und unteren Anteil das Rückenmark entwickeln. Je nach Zeitpunkt und Lokalisation der Verschlussstörung können kranielle und/oder spinale Dysraphien entstehen (. Tab. 8.6).

Spinale Dysraphien Die Spina bifida ist durch eine defekte Fusion posteriorer spinaler knöchener Elemente definiert und wird in eine aperta (offene) und occulta (geschlossene) Form unterteilt. Eine Spina bifida aperta kann bereits im ersten Trimenon der Schwangerschaft mittels Ultraschall und Bestimmung des α1-Fetoproteins im mütterlichen Blut und in der Amnionflüssigkeit diagnostiziert werden. Die Prävalenz dieser Fehlbildung liegt bei 1/1.000 Lebendgeburten, wobei die ­Häufigkeit weltweit u. a. wegen der hohen Interruptiorate bei Diagnosestellung und der gezielten präkonzeptionellen Folsäuresupplementation abnimmt. Risikofaktoren sind hohes mütterliches Alter, mütterlicher Diabetes mellitus, Hyperthermie, Alkoholabusus, teratogene Substanzen, Zink- und Folsäuremangel. Die Prävalenz der Spina bifida occulta ist unklar, da diese äußerlich nicht immer erkennbar ist. kkSpina bifida aperta jjKlinik Patienten mit einer Spina bifida aperta haben typischerweise sen­ sible und motorische Ausfälle. Die Schwere dieser sowie einer ­Blasen-, Mastdarm- und/oder Errektionsstörung korrelieren mit der anatomischen und funktionellen Höhe der Läsion wie auch mit dem Vorhandensein weiterer spinaler und/oder zerebraler Fehlbildungen. Eine Spina bifida aperta tritt am häufigsten lumbosakral auf (. Abb. 8.2), und bei ca. 90% der Patienten liegt auch eine Chiari-IIMalformation vor, d. h. eine Kaudalverlagerung von Teilen des Hirnstamms und des Kleinhirns durch das Foramen ovale und „Kinking“ (Knickung) des Hirnstamms. Dies kann mit dem Auftreten von Atemantriebsstörungen, Schluckstörungen, Hirnnervenparesen und Hydrozephalus verbunden sein. Ungefähr 25% der Patienten, insbesondere solche mit begleitenden Hirnfehlbildungen, weisen eine Intelligenzminderung auf. Sekundärkomplikationen sind ­Fußdeformitäten, Kontrakturen, Skoliosen, Hüftluxationen, patho-

..Tab. 8.5  Zeitlicher Ablauf der ZNS-Entwicklung und Entwicklungsstörungen [Schwabe G et al. (2014) Entwicklungsstörungen des Nerven­ systems. In: Hoffmann GF et al. (Hrsg.) Pädiatrie – Grundlagen und Praxis. 4. Aufl.] Zeitpunkt

Entwicklungsvorgang

Malformation

1.–2. SSW

Anlage der Keimblätter

3.–4. SSW

Entwicklung Neuralplatte, -wülsten und -rinne (Neurulation)

Dysraphien wie Myelomeningozele, Chiari-Malformation

4.–6. SSW

Ventrale Induktion, Ausbildung von Telenzephalon, Rhomben­ zephalon, Auge, medianer Längsfissur, Kleinhirnanlage

Holoprosenzephalie, Dandy-Walker-Malformation, ­Kleinhirnhypoplasien

6.–16. SSW

Neuronale, später gliale Proliferation

Mikro-/Makroenzephalie

12.–24. SSW

Migrationsvorgänge, Ausbildung Corpus callosum, Fissura sylvii, Septum pellucidum, Kleinhirnwurm, Kleinhirnwachstum ­ 5.–6. Monat

Lissenzephalie, Polymikrogyrie, Heterotopien, ­Schizenzephalie, septooptische Dysplasie, Corpus-­ callosum-Hypo-/-aplasie, Kleinhirnwurmhypo-/-aplasie,

25.–36. SSW

Zunehmend Organisationsprozesse inkl. Gyri-/Sulci-Entwicklung mit Sekundär- und Tertiärfurchen, Myelinisierung

Fokale kortikale Dysplasien

24. SSW bis ­ ca. 2. Lebensjahr

Fortschreiten der Myelinsierung, Gliazellproliferation, physiologische Apoptose, neuronale Differenzierung mit Synapsenbildung

Myelinisierungsstörung, Störung der zerebellären Mikroarchitektur

185 Nervensystem

..Tab. 8.6 Neuralrohrverschlussstörungen Kranioschisis

Spaltbildung im Bereich des Schädels (Cranium bifidum)

Kraniorachischisis

Verschlussstörung großer Abschnitte des Neuralrohrs oder komplette Verschlussstörung mit Anenzephalie und kompletter Spina bifida. Hohe Spontanabortrate bzw. hohe postnatale Letalität

Anenzephalie

Verschlussstörung des anterioren Neuroporus mit fehlender Entwicklung wesentlicher Teile des Gehirns. Oft Kleinhirn, Hirnstamm und Rückenmark vorhanden und deshalb auch einige Primitivreflexe. Kinder versterben meist Stunden bis Wochen nach Geburt. Ggf. weitere Organsysteme betroffen

Meningozele/­ Enzephalozele

Verschlussstörung des Schädelknochens durch den Meningen und Liquor (Meningozele) oder auch Hirngewebe (Enzephalozele, Meningoenzephalozele) hernieren. Meist okzipital in der Medianlinie lokalisiert und von Haut bedeckt. Prognose ab­ hängig von Lokalisation, den hernierenden Anteilen und weiteren Fehlbildungen

Spina bifida

Partielle Verschlussstörung des Neuralrohrs mit defekter Fusion posteriorer spinaler knöcherner Elemente. Es werden offene (aperta) von geschlossenen (occulta) Defekte unterschieden

Diastematomyelie

In zwei Hälten aufgespaltetes Rückenmarks. Kombination mit Spina bifida aperta und Wirbelanomalien möglich

..Abb. 8.2  Spina bifida aperta: Unterschiedliche Myelomeningozelen mit offener Plakode. (Mit freundl. Genehmigung von Dr. Matthias Schulz, Pädiatrische Neurochirurgie, Charité-Universitätsmedizin Berlin)

logische Frakturen, Depression und ein metabolisches Syndrom (Adipositas, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus). Die frühzei­ tige Behandlung einer Blasenfunktionsstörung ist entscheidend, um einer sekundäre Nierenfunktionsstörung entgegenzuwirken. Viele der Patienten entwickeln eine Latexallergie.

gung, Analtampons, medikamentöse Therapie wie Lactulose). Weitere zentrale Aspekte in der Behandlung stellen Physio­therapie und Hilfsmittelversorgung zur Ermöglichung des höchsten Grads an Mobilität dar. Fetalchirurgische Eingriffe werden auf Grund der damit einhergehenden Komplikationen derzeit kontrovers betrachtet.

jjTherapie Die pränatale Beratung und lebenslange Therapie sollte in einem ­interdisziplinären Team erfolgen. In den ersten beiden Lebenstagen steht die perinatale, neonatologische Versorgung und der operative Verschluss der Spina bifida aperta im Vordergrund. Innerhalb der Neonatalperiode entwickeln knapp 90% der Kinder einen shuntpflichtigen Hydrozephalus. Weitere Eingriffe können notwendig werden zu Shuntrevisionen, Dekompression des kraniozervikalen Übergangs bei Chiari-II-Malformation, Untethering, Ableitung bei sekundärer Hydromyelie (Zentralkanalaufweitung) bzw. Syringomelie (Liquorhöhle im Rückenmark) oder Behandlung orthopädischer Sekundärkomplikationen. Bei manchen Patienten kommen operative Verfahren zum Erreichen einer sozialen Kontinenz in Betracht. Konservative Therapiemöglichkeiten bestehen sowohl für die Blasen(Einmalkatheterisierungen, Antibiotikaprophylaxe, medikamentöse Therapie bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie) als auch für die Mastdarmentleerungsstörung (Ballaststoffe, manuelle Enddarmreini-

kkSpina bifida occulta jjKlinik Bei Geburt bestehen meist keine neurologischen Auffälligkeiten, und nur bei ca. ⅓ der Patienten bestehen in der Mittellinie des ­Rückens Hinweise auf eine Dysraphie wie Hypertrichose (. Abb. 8.3), Hämangiom, Lipom, Dermalsinus/fistel oder Naevus. Deshalb ­sollte in den ersten Lebenswochen bei Vorliegen derartiger kutaner Auffälligkeiten eine Sonographie durchgeführt werden, später eine ­Magnetresonanztomographie. Wenn eine Dermalfistel und damit ein Zugang zum Liquorraum vorliegen, können postnatal rezidivierende ZNS-Infektionen zu Komplikationen führen. Ebenso kann eine Schädigung des Rückenmarks durch Zugbelastung bei Anheftung des Rückenmarks an die Dura („Tethered Cord“) gerade bei Wachstumsschüben auftreten. Klinisch äußert sich dies durch Kontinenzprobleme, Zehenspitzengang, Skoliosen, Spastik, Schwäche, Sensibilitätsstörungen, Rückenschmerzen und/oder Schmerzen in den unteren Extremitäten.

8

186

E. Boltshauser et al.

Tractus opticus können betroffen sein. Eine monogenetische Ursache kann in ca. 25% der Fälle identifiziert werden, aber eine Holoprosenzephalie kann auch als Teil eines Syndroms, wie dem SmithLemli-Opitz-Syndrom oder der Trisomie 13 bzw. 18, auftreten. Als Risikofaktoren sind maternaler Diabetes mellitus, teratogene Substanzen und Hypocholesterinämie bekannt. jjKlinik Betroffene haben typischerweise eine globale Entwicklungsstörung, eine Epilepsie und oft einen Hydrozephalus. Auf das Vorliegen einer Holoprosenzephalie hinweisende kraniofaziale Anomalien in der Mittellinie (singulärer maxillärer Schneidezahn, Nasenfehlbildung, Hypotelorismus, Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, Anophthalmie, ­Zyklopie) bestehen bei ca. 80% der Patienten. Ihr Schweregrad korreliert häufig mit dem der ZNS-Malformation. Nicht selten bestehen auch Dysautonomien und Schluckstörungen. Kinder mit einer lobaren Holoprosenzephalie überleben meist nicht und nur 50% aller Patienten mit einer alobaren Form erreichen den 4.–5. Lebensmonat. Wenn weitere Mittellinienstrukturen des Gehirns betroffen sind, können auch endokrine Störungen wie eine Dysfunktion des Hypothalamus oder der Adeno- und Neurohypophyse auftreten, am häufigsten besteht ein zentraler Diabetes insipidus.

8 ..Abb. 8.3  Spina bifida occulta. Lumbal lokalisierte Hypertrichose in der Mittellinie als Hinweis auf eine gedeckte spinale Malformation. (Mit freundl. Genehmigung von Dr. Matthias Schulz, Pädiatrische Neurochirurgie, CharitéUniversitätsmedizin Berlin)

j jTherapie Eine Dermalfistel sollte operativ verschlossen werden und bei Vorliegen eines „Tethered Cord“ mit neurologischen Auffälligkeiten ein Untethering durchgeführt werden (7 Abschn. 8.6).

jjDiagnose und Therapie Die Diagnosestellung anhand der klinischen und radiologischen Befunde und zur Ursachenklärung sollte bei unauffälligen Befunden von Chromosomenanalyse/Array-CGH auch eine Sequenzierung insbesondere der Gene SHH, ZIC2, SIX3 und TGIF1 erfolgen. Die Behandlung ist symptomatisch. 8.2.3

Mittellinienfehlbildungen

Mittellinienfehlbildungen können isoliert oder als eine von vielen Fehlbildungen auftreten. Am häufigsten tritt eine Corpus-callosum-Agenesie oder ­-Hypoplasie (Balkenmangel; . Abb. 8.6) mit einer Prävalenz von­ Eine Holoprosenzephalie entsteht durch eine gestörte Trennung des ca. 1,8/10.000 Lebendgeborenen und 2–3% bei Patienten mit EntProsencephalons in zwei Hemisphären mit einer Prävalenz von­ wicklungsstörungen auf. Genetische Ursachen liegen bei knapp 50% ca. 0,5/10.000 Lebendgeburten zwischen der 3.–4. Woche post con- der Patienten vor, aber auch „Umweltfaktoren“ wie Infektionen oder ceptionem. Es werden neben einer Fusionsvariante (Syntelencephalie) Toxine werden diskutiert. Es wird angenommen, dass die Neurokodie alobare, semilobare und lobare Form unterschieden (. Abb. 8.4,­ gnition bei isolierter Balkenagenesie in der Norm liegt, während bei . Abb. 8.5). Weitere Mittellinienstrukturen des Gehirns wie Thala- Patienten mit einer nichtisolierten Balkenagenesie eine globale Entmus, Corpus callosum, Septum pellucidum, Bulbus olfactorius und wicklungsstörung unterschiedlichen Schweregrads, Epilepsien und

8.2.2

Störung der Vorderhirninduktion: ­Holoprosenzephalie

alobär

semilobär

lobär

normal

Holoprosenzephalie ..Abb. 8.4 Holoprosenzephalie-Formen. Alobaren Form mit Fehlen der Trennung der Großhirnhemisphären und Monoventrikel; semilobare Form mit Fusion der Frontal- und Parietallappen und nur posterior vorhandenem Interhemispärenspalt, und lobare Form mit Fusion des rostralen Anteils des

Telencephalons und der Frontallappen mit Trennung eines großen Anteils der Hemisphären und Seitenventrikel. (Mod. nach: Hoffmann et al. Pädiatrie – Grundlagen und Praxis. 5. Auflg. Springer, Heidelberg Berlin)

187 Nervensystem

..Abb. 8.5  Schwere alobäre Holoprosenzephalie. T2-gewichtetes MRT, (a) axial, (b) sagital. (Mit freundl. Genehmigung von Dr. Anna Tietze, Pädiatrische Neuroradiologie, Charité-Universitätsmedizin Berlin)

a

b

..Abb. 8.6  Isolierte Balkenagenesie. MRT-Bilder in sagitaler (T1) und axialer Ebene (T2) im Alter von einem Jahr; die frühkindliche Entwicklung des Kindes verlief unauffällig

..Abb. 8.7  Septooptischen Dysplasie. a Hypoplastische N. optici und b Septum-pellucidum-Agenesie. MRT-Bilder in axialer Ebene (T2). In weiteren Schich­t­ ebenen fiel eine deutlich größenreduzierte Hypo­ physe auf. Der 5-jährige Patient zeigte eine globale Entwicklungsstörung, einen frühkindlichen Autismus, eine schwere Sehbeeinträchtigung, eine generalisierte Epilepsie und einen hypophysären Hormonausfall

a

weitere Symptome je nach Begleitfehlbildungen auftreten können. Die große Spannbreite der möglichen Klinik erschwert die prä­natale Beratung. Septum-pellucidum-Anomalien entstehen, wenn sich die der zwischen den Blättern des Septum pellucidum während der Hirnentwicklung entstehende Hohlraum, das Cavum septi pellucidi bzw. bei sehr posteriorer Ausbreitung Cavum vergae, postnatal nicht zurückbildet. Diese Fehlbildung ist selten. Bei Persistenz kann der Hohlraum eine Verbindung mit dem übrigen Liquorraum haben

b

und/oder das Formen Monroi komprimieren mit der Folge eines Liquoraufstaus, der dekomprimiert werden muss. Eine Septumpellucidum-Agenesie kann zusammen mit weiteren Hirnfehlbildungen auftreten. Die septooptische Dysplasie (. Abb. 8.7) ist definiert durch die Trias Mittelhirnfehlbildung wie Septum-pellucidum-Agenesie, ­Hypophysenhypoplasie mit endokrinologischen Symptomen und N.-opticus-Hypoplasie in unterschiedlicher Ausprägung. Zur Klinik gehören globale Entwicklungsstörung, Epilepsie, Diabetes insipidus,

8

188

E. Boltshauser et al.

..Abb. 8.8  Subkortikale Bandheterotopien ­(„double cortex“). Subkortikal erkennbare dünne Schicht grauer Substanz okzipital (siehe auch Pfeile). MRT-Bilder in axialer Ebene (T1)

8

Kleinwuchs, Pubertas praecox, Temperaturregulationsstörung, Sehstörungen, Anosmie. Neben monogenetischen Ursachen spielen Umwelt-/Risikofaktoren (Alkohol, Valproat, Kokain, niedriges ­mütterliches Alter) eine Rolle. 8.2.4

Entwicklungsstörungen der Großhirnrinde

Die Klinik bei Vorliegen einer neokortikalen Entwicklungsstörung hängt von der Lokalisation und Ausprägung der Fehlbildung und dem Vorliegen zusätzlicher Fehlbildungen ab. Ursächlich spielen genetische Veränderungen, Stoffwechselstörungen und Umwelteinflüsse eine Rolle. Im Folgenden sind einige Subtypen genannt: Eine Polymikrogyrie bezeichnet eine irregulären Kortexoberfläche mit einer Überzahl an abnorm kleinen Gyri („blumenkohlartige“ Gyrierung) bei unauffällig imponierenden tiefen Schichten des Neokortex. Fokal kortikale Dysplasien bezeichnet unterschiedliche Fehlbildungsformen des Neokortex, am ehesten als Ausdruck einer fokalen Störung der neuronalen Migration. Diese Fehlbildungen gehen häufig mit therapierefraktären Epilepsien einher und können mittels hochauflösender MRT identifiziert werden. Die Lissenzephalie bezeichnet eine abnorme Reduktion der ­Gyrierung und abnorme Kortexschichtenbildung. Als Ursachen sind Mutationen in Genprodukten bekannt, welche für die neuronale Migration und Schichtenbildung des Kortex essenziell sind, und exogene Faktoren wie der Abusus von Alkohol und Kokain einer Schwangeren. Es werden drei Lissenzephaliehaupttypen unterschieden, je nach Ätiologie und assoziierten Malformationen: Bei der klassischen Lissenzephalie liegt eine Agyrie oder Pachygyrie vor, mit verdicktem Neokortex und einer unregelmäßigen Verteilung der Neurone in einer reduzierten Anzahl an Schichten. Meist liegen ­Mutationen im LIS1-Gen, seltener solche in den Genen DCX, ­TUBA1A, RELN, ARX oder 14-3-3ε bzw. chromosomale Imbalancen vor. Zu den Lissenzephalie Typ-I-Varianten gehören Mikrolissenzephalien (Lissenzephalien mit Mikrozephalie), Lissenzephalien mit Kleinhirnhypoplasien und syndromale Lissenzephalien ein. Die Typ-II-Lissenzephalien („Cobblestone“-Lissencephalien) umfassen das Walker-Warburg-Syndrom und die Muscle-Eye-Brain-Erkrankung. Lissenzephalien vom Typ III können weder Typ I noch Typ II zugeordnet werden. Periventrikuläre noduläre Heterotopien sind Inseln grauer Substanz an den lateralen Seitenventrikelwänden und periven­ trikuläre Heterotopien Inseln grauer Substanz ohne Bindung zur

Ventrikelwand. Subkortikale Bandheterotopien oder „double c­ortex“ bezeichnen ein durch eine dünne Schicht weißer Sub­ stanz  vom K ­ ortex getrenntes subkortikales Band grauer Substanz (. Abb. 8.8). Bei der Schizenzephalie liegt eine Spaltbildung der zerebralen Hemisphären meist im Bereich der Sylvi-Fissur vor, wobei die S­ palte geschlossen (Typ I, „fused cleft“) oder offen (Typ II, „unfused lips“) sein kann. Es können große Hemisphärenabschnitte fehlen, und die Spalte einen polymikrogyren Kortex aufweisen. 8.2.5

Entwicklungsstörungen von Kleinhirn und Hirnstamm

Eine Kleinhirnhypoplasie beschreibt den unspezifischen radiologischen Befund eines volumengeminderten Kleinhirns bei sehr heterogener Ätiologie. Letztere reicht von Frühgeburtlichkeit, pränataler Infektion oder Teratogenexposition über Stoffwechselerkrankungen bis hin zu Chromosomenaberrationen und monogenetischen Krankheiten. Betroffene können u. a. Entwicklungsstörungen, Kleinhirnzeichen inkl. Ataxie, Okulomotorikstörung und Epilepsien unterschiedlichen Ausmaßes haben. Der Begriff Rhombenzephalosynapsis umschreibt den ra­ diologischen Befund fusionierter Kleinhirnhemisphären und ein Fehlen der Vermis cerebelli (. Abb. 8.9). Inkonstant können ­wei­tere  Fehlbildungen des Gehirns bestehen. Die Betroffenen ­können  eine E ­ ntwicklungsstörung, Ataxie, Hydrozephalus oder ­abnorme Kopfbewegungen aufweisen. Fast alle Fälle treten sporadisch auf. Die Dandy-Walker-Malformation ist durch die radiologischen Befunde eines zystisch dilatierten vierten Ventrikels, der mit der hinteren Schädelgrube breit kommuniziert, und einer hypoplastischen, angehobenen und rotierten Vermis definiert. Begleitend können inkonstant Tentoriumhochstand, Hydrozephalus, Balkenfehlbildung und eine Erweiterung der hinteren Schädelgrube vorhanden sein. Die Pränatalberatung wird durch die Variabilität der Klinik erschwert, wobei bei ca. 50% der Betroffenen eine Intelligenzminderung vorliegt, seltener Kleinhirnsymptomatik und ein (z. T. shuntpflichtiger) Hydrozephalus. Die Ursache bleibt in vielen Fällen ­unklar. Vereinzelt tritt eine solche Fehlbildung im Rahmen von ­Syndromen oder bei einzelnen Genmutationen (u. a. ZIC1, ZIC4, FOX1, FGF17) auf. Das Joubert-Syndrom zeichnet sich in der Bildgebung durch das Vorliegen einer schweren Vermishypoplasie und das Auftreten

189 Nervensystem

..Abb. 8.9 Rhombenzephalosynapsis. a Fusionierung der Kleinhirnhemisphären und das Fehlen des Kleinhirnwurms, deutlich an den ohne Unterbrechung horizontal verlaufenden zerebellären Folien.­ b Begleitend kann ein Hydrozephalus auftreten, hier mit Shuntversorgung. Partieller und stark ballonierter Monoventrikel. (MRT, T2, axial). In anderen Schichten des MRTs fielen zahlreiche Heterotopien, fusionierte Thalami, eine Balkenagenesie und bifrontale Polymikrogyrien auf. Klinisch bestand eine globale Entwicklungsstörung und symptomatische Epilepsie

a

b

..Abb. 8.10  Molar-Tooth-Sign beim Joubert-Syndrom. Dieses in axialen MRT-Bildern zu erkennendes Zeichen bei Patienten mit einem Joubert-Syndrom ist Ausdruck einer vertieften Fossa interpeduncularis des Mittelhirns und verdickten und verlängerten obere Kleinhirnschenkeln

..Abb. 8.11  Chiari-Typ-I-Fehlbildung. Bei der 3-jährigen Patientin fanden sich bis zu 11 mm unterhalb des Formen magnum hernierte zerebelläre Tonsillen (MRT, T1)

eines Molar-Tooth-Signs („Backenzahnzeichen») in der Bildgebung aus (. Abb. 8.10). Zusätzlich können weitere infra- und supratentorielle Veränderungen vorhanden sein. Diese genetisch heterogene Erkrankung der primären Zilien kann auch weitere Organe wie ­Niere, Leber und Retina betreffen. Klinisch stehen Entwicklungs­ störungen, Muskelhypotonie und Ataxie im Vordergrund. Seltener treten Augenbewegungsstörungen oder ein abnormes Atmungsmuster auf. Eine Chiari-Fehlbildung beschreibt eine Kleinhirnfehlbildung und Herniation des Kleinhirns in das Forman magnum. Es werden je nach Ausprägung vier Typen unterschieden, wobei am häufigsten Typ  II auftritt. Typ  I: Kleinhirntonsillenherniation >5  mm (. Abb. 8.11); Typ II: zusätzlich Hirnstammherniation, Kleinhirnwurm und IV. Ventrikel (Auftreten oft mit Meningomyelozele und Hydrozephalus); Typ III zusätzlich mit Dysmorphien von Kleinhirn und Hirnstamm und Auftreten einer okzipitalen Enzephalozele; Typ IV zusätzlich Kleinhirnhypoplasie/-aplasie.

8.3

Hydrozephalus

O. Ipsiroglu jjDefinition Ein Hydrozephalus liegt vor, wenn die intrakraniellen Liquorräume erweitert sind. Von einem Hydrocephalus internus spricht man, wenn die inneren Liquorräume erweitert sind. Von einem Hydrocephalus externus spricht man, wenn die externen Liquorräume er­ weitert sind. Die Erweiterung der intrakraniellen Liquorräume kann entweder durch eine Vermehrung des Liquorvolumens (mit intrakranieller Hirndrucksteigerung bzw. kompensatorischer Zunahme des Kopfumfangs) oder durch eine Verminderung des Hirnvolumens (generell ohne intrakranielle Hirndrucksteigerung) bedingt sein. Die Vermehrung des Liquorvolumens geht üblicherweise mit einer Erhöhung des Hirndrucks einher.

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E. Boltshauser et al.

j jÄtiologie und Pathogenese Ursachen können eine Störung der Liquorzirkulation (Hydrocephalus obstructivus, occlusus), der Liquorproduktion (Hydrocephalus hypersekretorius) oder der Liquorresorption (Hydrocephalus aresorptivus) sein. >> Beim Säugling mit offenen Hirnnähten kann die intrakra­ nielle Drucksteigerung mit einer Vergrößerung des Kopfumfangs (Makrozephalie) kompensiert werden. Klinische ­Hirndrucksymptome entwickeln sich daher nur sehr langsam.

8

Bei älteren Kindern mit geschlossenen Schädelnähten entstehen bei einer Vermehrung des intrakraniellen Liquorvolumens hingegen rasch klinische Hirndrucksymptome. 20% aller Hydrozephalusformen sind überwiegend obstruktiv, z. B. bedingt durch eine Stenose des Aquädukts. Die Aquäduktste­ nose kann sowohl angeboren als auch erworben sein. Ursachen für erworbene Aquäduktstenosen können entzündlicher Natur (nach bakterieller Meningitis) sein oder aber auch durch Blutungen und Tumoren bedingt sein. Häufigste Ursache eines Hydrocephalus internus bei Frühgeborenen ist eine abgelaufene intraventrikuläre Hirnblutung. Subdurale Hygrome stellen eine besondere Form des Hydro­ cephalus externus dar. Ihre Lokalisation ist meist frontotemporo­ parietal. Bei Vorhandensein von Hygromen muss differenzialdia­ gnostisch an eine resorbierte Blutung nach Schütteltrauma (7 Abschn. 8.14.2) gedacht werden. Frontotemporale Liquoransammlungen sind auch typisch für Glutarazidurie Typ 1. Wachstum des Kopfumfangs  Beim Säugling, bei dem die Schä-

delnähte noch offen sind, kann eine verstärkte intrakranielle ­Volumszunahme zunächst durch eine Zunahme des Kopfvolumens ohne wesentliche Hirndrucksteigerung kompensiert werden. Typischerweise findet man folgende Zeichen: 44 Rasche Zunahme des Kopfumfangs (Kreuzen der Wachstums­ perzentile nach oben), 44 vorgewölbte Fontanelle, 44 klaffende Schädelnähte, 44 Sonnenuntergangsphänomen (Deviation der Bulbi nach ­unten), 44 Hirndrucksymptome entstehen erst im Spätstadium der Erkrankung.

Erhöhung des Hirndrucks  Bei älteren Kindern mit weitgehend

geschlossenen Schädelnähten manifestiert sich eine verstärkte ­intrakranielle Volumenzunahme mit einer primären Zunahme des Hirndrucks. Die Hirndrucksymptomatik entwickelt sich meist ­langsam. Erste Hinweise einer kompensierten Hirndruckerhöhung sind 44 Kopfschmerzen, 44 Nüchternerbrechen, 44 unspezifische Verhaltensstörungen. 44 Bei der klinischen Untersuchung kann man evtl eine Brady­ kardie, arterielle Hypertonie und Stauungspapille finden. Zeichen einer akuten Hirndruckerhöhung, die auch als akute ­Dekompensation eines chronisch erhöhten Hirndrucks vorkommen kann, umfassen 44 Bewusstseinsstörung (Somnolenz bis Koma), 44 Pupillenanomalien, 44 Hirnnervenausfälle, 44 Atemstörung.

jjDiagnostik Im Säuglingsalter ist die primäre Untersuchungsmethode bei Verdacht auf Hydrozephalus die zerebrale Sonographie durch die ­vordere Fontanelle. Bei älteren Kindern mit bereits geschlossener Fontanelle eignet sich für die Akutdiagnostik die Durchführung ­einer kraniellen Computertomographie. Die Kernspintomographie kann u. U. eine genauere Information über die Ursache der Hirndruckerhöhung geben. jjTherapie Wichtigstes Behandlungsziel ist die Vermeidung eines pathologisch erhöhten intrakraniellen Drucks. Weitaus am häufigsten ist als ­Therapie die operative Anlage eines ventrikuloperitonealen bzw. -atrialen Shuntsystems mit Druckventil notwendig. Bei sehr ­kleinen Frühgeborenen (> Monosuturale KS treten meistens konnatal auf und führen zu charakteristischen Schädeldeformationen.

Bisuturale und multisuturale Synostosen sind relativ selten und führen nur bedingt zu typischen Schädelformen. Bei pränataler Fusion von Sagittal-, Koronar- und Lambdanaht entsteht die Extremform des sog. Kleeblattschädels. Synostosen im Rahmen von einigen ­Syndromen (besonders Crouzon-, Apert- und Saethre-ChotzenSyndrom) sind regelmäßig mit einer progressiven multisuturalen Synostose verbunden. Bei den syndromalen Formen können auch Orbita und Mittelgesicht von der Wachstumsstörung betroffen sein, daneben treten häufig Anomalien an den Extremitäten und gelegentlich an inneren Organen auf. jjKlinik KS können die Gesundheit in verschiedener Weise gefährden. Wichtigste Ursachen sind 44 die verminderte Kapazität des Neurokraniums (Kraniostenose), 44 eine zu flache Orbita (Orbitostenose), 44 die Unterentwicklung des knöchernen Mittelgesichts ­(Faziostenose), 44 gelegentliche Begleitfehlbildungen an Gehirn, Extremitäten und inneren Organen und 44 die soziale Ausgrenzung wegen entstellender Deformationen.

Bei monosuturalen Synostosen ist in der Regel keine wesentliche Drucksteigerung zu befürchten, während die frühzeitige Fusion mehrerer Nähte bei normalem Hirnwachstum zu einem relativen Volumenmangel und damit zur intrakraniellen Drucksteigerung führen kann: Kraniostenose i.e.S. Dieses Problem entwickelt sich nur während des Hirnwachstums, d. h. v. a. in den ersten 4–8 Lebensjahren, aber kaum mehr nach dem 12. Lebensjahr. Unbehandelt kann es allerdings bis weit ins Erwachsenenalter persistieren. !! Cave Die Kraniostenose gefährdet in erster Linie die Sehnerven: Chronische Stauungspapillen, die in eine Optikusatrophie übergehen und letztlich in der Erblindung enden können.

Häufigkeit und Schweregrad der Kraniostenose hängen von der Zahl der betroffenen Nähte und vom Zeitpunkt ihrer Fusion ab. Anders als die Sehnerven scheint das Gehirn gegenüber der Kraniostenose relativ widerstandsfähig zu sein, obwohl man bei frühzeitiger und schwerer Drucksteigerung doch Anfallsleiden und Intelligenzminderung befürchten muss. Die frühzeitige Synostose der Lambdanaht hat eine mangelhafte Expansion der hinteren Schädelgrube zur Folge und kann dadurch zu einer Herniation der Kleinhirntonsillen im Sinne einer akquirierten Chiari-I-Fehlbildung und sekundär zu einem Liquoraufstau und/oder zu einer Hydrosyringomyelie führen. Diese Probleme treten besonders beim Crouzon-Syndrom, aber auch bei der isolierten Lambdanahtsynostose und im Rahmen einer Pansynostose auf. Eine zu flache Orbita („Orbitostenose“ in Analogie zur Kranio­ stenose) führt u. U. zur 44 schweren Proptose der Bulbi, 44 damit zu inkomplettem Lidschluss und 44 gefährdet so die Hornhaut (Keratopathia e lagophthalmo). 44 Im Extremfall kann es zu rezidivierenden Bulbusluxationen kommen. Die Unterentwicklung des Mittelgesichts (Mittelgesichtshypoplasie, Faziostenose) engt die oberen Luftwege ein. Die resultierende Atemwegsobstruktion wird dadurch verstärkt, dass die Zunge im zu kleinen Gaumen keinen Platz findet und deshalb nach hinten verlagert wird. Der Schlaf kann durch Schnarchen und Apnoephasen gestört sein, was sich auf die mentale und auch körperliche Entwicklung auswirkt (Schlaf-Apnoe-Syndrom). Hypoxie und Hyperkapnie können ein – u. U. lebensbedrohliches – Cor pulmonale verursachen. Die eingeschränkte Belüftung des Mittelohrs führt zu rezidivierenden Paukenergüssen, Mittelohrentzündung und Schallleitungsschwerhörigkeit. Darüber hinaus fehlt in einem hypoplastischen Oberkiefer Platz für die Zähne, deren Durchbruch gestört wird. Die fehlende Kongruenz der Kiefer kann Beiß- und Kaufunktion erheblich beeinträchtigten. Grob auffällige Deformationen des Gesichts wirken oft entstellend und führen damit häufig zu sozialer Ausgrenzung. Bei leichter Ausprägung oder guter Kaschierung durch die Frisur sind derartige Sorgen aber unbegründet, wie die wachsende Erfahrung mit nicht operierten Patienten zeigt. Bei Syndromen muss man zusätzlich mit Begleitfehlbildungen rechnen, so z. B. mit primären zerebralen Entwicklungsstörungen beim Apert- und beim Muenke-Syndrom, aber auch bei einigen ­undefinierten Syndromen mit einer Frontalnahtsynostose. Relativ häufig kommen unterschiedliche Dysplasien an Händen und Füßen vor: 44 Brachydaktylie, 44 Polydaktylie,

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E. Boltshauser et al.

44 partielle Syndaktylien 44 bis zur kompletten Verschmelzung der Finger und Zehen. Wirbel- und Gelenkfusionen, Mobilitätsdefizite großer Gelenke, schließlich Gaumenspalten und diverse Fehlbildungen der inneren Organe können auftreten j jDiagnostik Röntgenverfahren sollten aus Strahlenschutzgründen im Kindes­ alter besonders kritisch eingesetzt werden. >> So muss bei typischer Schädeldeformität die zugrundeliegende Nahtfusion nicht röntgenologisch bestätigt werden. Im Zweifelsfall reicht dazu im ersten Lebensjahr eine Sono­ graphie der Schädelnähte aus, die zuverlässig zwischen ­offenen und fusionierten Nähten unterscheiden kann.

Röntgenaufnahmen (grundsätzlich in digitaler Technik!) sind im

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ersten Lebensjahr präoperativ sinnvoll, weil sie Auskunft geben über intraoperative Gefahren durch Besonderheiten des Schädelinnen­ reliefs und abnorme intraossäre Gefäßkanäle. Bei älteren Kindern kommen Fragen nach einer progressiven Synostose und einer intrakraniellen Drucksteigerung hinzu. Außerdem ist zu beachten, dass sich in der frühen Säuglingszeit wegen des dünnen Knochens alle Nähte nur undeutlich abbilden, was im Kindesalter wegen ihrer ­speziellen Nahtmorphologie nur noch für die Koronarnaht gilt (Cave: Fehlinterpretationen!) Die Computertomographie ist in den meisten Fällen ent­ behrlich. Sog. 3D-Rekonstruktionen ergeben prinzipiell keine zusätzlichen Informationen und sind nur bei komplexen knöchernen Verhältnissen zur Operationsplanung indiziert. CT-Schichten ­zeigen intraossäre Gefäßkanäle und das Schädelinnenrelief zuverlässiger als Röntgennativaufnahmen. Die Magnetresonanztomographie beantwortet Fragen nach zerebralen Begleitfehlbildungen (Ventrikulomegalie oder Balken­ agenesie, Hydrozephalus, Herniation der Kleinhirntonsillen sowie Hydrosyringomyelie). Ergänzende syndromologische und molekulargenetische Untersuchungen dienen der genaueren ätiologischen Klassifizierung. Untersuchungen des Augenhintergrunds, der Ohren, der Atmung, der psychomotorischen Entwicklung, des übrigen Skelettsystems und der inneren Organe sind zur Abschätzung der sehr variablen individuellen Gefährdung durch Folgeerscheinungen der KS oder durch Begleitanomalien erforderlich. jjTherapie Operationsindikation  Bei den meisten isolierten monosuturalen

Synostosen wie der Sagittalnahtsynostose besteht wegen des geringen funktionellen Risikos nur eine relative Indikation, die sich in erster Linie auf ästhetische bzw. psychosoziale Aspekte gründet. Bei nachgewiesener intrakranieller Drucksteigerung, schwerer Orbitostenose oder Faziostenose ist dagegen eine absolute OP-Indikation gegeben.

Behandlungsprinzipien  Alle Maßnahmen zielen darauf ab, funktionelle Folgen der KS zu beseitigen bzw. abzumildern oder ihnen vorzubeugen, und gleichzeitig das äußere Erscheinungsbild möglichst bis zur Unauffälligkeit zu verbessern. Dabei sind prinzipielle Grenzen zu beachten: >> Eine funktionsfähige Naht lässt sich genauso wenig herstellen wie das inhärente pathologische Wachstumsmuster normalisieren.

Die operative Therapie richtet sich nach der betroffenen Naht: Bei einer Sagittalnahtsynostose wird der Schädelknochen zu beiden ­Seiten der Naht breit entfernt. Der OP Zeitpunkt im Alter von 5–7 Lebensmonaten nutzt die zu diesem Zeitpunkt noch beste­ hende, osteoplastische Potenz der Dura mater, die den Defekt in 8–10 Wochen reossifiziert. Neben diesem sog. passiven Remodelling wird bei Frontal-, Koronar- und Lambdanahtsynostosen ein aktives Remodelling durchgeführt. Hierbei werden Knochensegmente aktiv umgeformt und refixiert. In jedem Fall ist zu beachten, dass auch im neu gebildeten Knochen die entsprechende Nahtsynostose entstehen wird. Aus diesem Grund beinhaltet das aktive ­Remodelling eine entsprechende Überkorrektur, um dieser Rezidiv­ ausprägung entgegenzuwirken. Zu späteren Zeitpunkten erfolgen, in Abhängigkeit von den betroffenen Nähten, komplexe Umformungen des gesamten Schädels. Bei einer Mitbeteiligung des Mittelgesichts ergeben sich komplexe, interdisziplinäre Behandlungsstrategien. Alle Kraniosynostosen sollten daher in entsprechend spezialisierten Zentren behandelt ­werden. Die zahlreichen spezifischen Folge- und Begleiterscheinungen bei Synostosesyndromen erfordern eine koodinierte Betreuung durch ein Team aus verschiedenen Fachgebieten: Pädiatrie, Genetik, Ophthalmologie, HNO, Neurochirurgie, Kieferchirurgie und ­-orthopädie, Handchirurgie, Psychologie und Orthopädie. 8.5

Lagerungsasymmetrien

T. Schweitzer jjDefinition Kommt es nach der Geburt zu einer Schädelverformung, die auf eine einseitige Lagerung zurückzuführen ist und nicht aufgrund einer vorzeitigen Schädelnahtverknöcherung spricht man von einer Lagerungsasymmetrie. Dabei kann es zu einer Abflachung des gesamten Hinterkopfs kommen (Lagerungsbrachyzephalus, aufgrund der kurzen Schädelform) oder einer Seite des Hinterkopfs mit einer u. U. deutlich asymmetrischen Komponente (Lagerungsplagiozephalus). jjPathogenese Durch einseitige Lagerung (Unachtsamkeit, geburtstraumatische Muskelläsionen etc.) kommt es aufgrund der noch wenig mineralisierten Schädelknochen bei gleichzeitig offenen Schädelnähten zu einer asymmetrischen Schädelform. Aufgrund der Rückenlagerung ist v. a. der Hinterkopf betroffen. jjKlinik Typischerweise beschreiben die Eltern eine harmonische Kopfform direkt nach der Geburt. >> Verformungen, die im Zusammenhang mit der eigentlichen Geburt entstanden sind, sollten nicht zu den Lagerungs­ plagio­zephali gerechnet werden, da diese sich über wenige Tage bis Wochen korrigieren.

Die auf den gesamten oder eine Hinterkopfseite einwirkenden K ­ räfte führen zu einer Abflachung: Bei dem Lagerungsbrachyzephalus ist der gesamte Hinterkopf betroffen. Die okzipitale Abflachung wird durch eine höhere Schädelform kompensiert. Beim Lagerungspla­ giozephalus führt die einseitige Lagerung zu einer Abflachung einer Hinterkopfseite. Die offenen Schädelnähte führen dann zu einer Verschiebung der gesamten Kopfseite nach vorne, was v. a. durch eine ipsilaterale Ohrverlagerung nach frontal („ear shift“) sowie

193 Nervensystem

..Abb. 8.12  3D-stereophotogrammetrische Verlaufsanalysen, Kopforthese und Volumenzuwachs über eine Therapiedauer von 4–6 Monaten

eine ipsilateral prominentere Stirnpartie unterschiedlichen Aus­ maßes erkennbar wird. Zur Einteilung klinischer Schweregrade dient entweder die Beschreibung der einzelnen Phänomene nach Argenta oder ein Vergleich der beiden schrägen Schädeldurchmesser zur Festlegung der Asymmetrie. Auch wenn eine Entwicklungsbeeinträchtigung mit daraus resultierend eingeschränkter motorischer Entwicklung eine Prädisposition zur Entwicklung eines Lagerungsplagiozephalus sein kann, bedeutet eine Lagerungsverformung keine Entwicklungsbeeinträchtigung. Inwieweit persistierende Asymmetrien Anlass für Hänseleien und damit psychosoziale Faktoren darstellen, ist nicht eindeutig zu beantworten. jjDiagnose Aus den Schilderungen der Klinik wird deutlich, dass sich die Diagnose aus dem zeitlichen Verlauf und dem Erscheinungsbild ableiten lässt. Im Gegensatz zu einer Kraniosynostose bestehen die charakteristischen Veränderungen nicht bei der Geburt. Differenzialdiagnostisch ist hier v. a. der sehr viel seltenere ­(Inzidenz 0,003%) posteriore Plagiozephalus aufgrund einer Lambdanahtsynostose abzugrenzen. In Zweifelsfällen kann eine Ultraschalluntersuchung den Status der Schädelnähte bestimmen. In den ersten Lebensmonaten erlaubt die Ultraschalluntersuchung eine genauere Aussage über den Nahtstatus als eine Röntgendiagnostik. Eine CCT-Untersuchung ist nicht indiziert! jjTherapie Die meisten Lagerungsasymmetrien zeigen eine spontane Rückbildung. Trotzdem gibt es einen Anteil bleibender Asymmetrien. Zunächst sollte eine möglicherweise zugrundeliegende Ursache herausgefunden und behandelt werden. In den ersten Lebensmonaten können entsprechende Umlagerungsmaßnahmen durch die Eltern durchgeführt werden. Mit zunehmender Kopfkontrolle kann auch die kontrollierte Bauchlage v. a. tagsüber zu Verbesserungen führen. Die absolut sinnvolle Empfehlung, Kinder zur Vermeidung eines plötzlichen Kindstods auf den Rücken zu lagern, soll dadurch nicht relativiert werden! Zusätzlich kann eine Kopforthese (Helmtherapie), durch symmetrische Verteilung der von außen auf den Schädel einwirkenden Kräfte, zu einer raschen Harmonisierung beitragen (. Abb. 8.12).

8.6

Gedeckte spinale Fehlbildungen

J. Krauß jjDefinition Spinale Fehlbildungen werden als gedeckt bezeichnet, wenn sie vollständig von Haut überdeckt sind. Die Mehrzahl dieser Fehlbildungen weist aber lokale Stigmata auf, die bereits im Neugeborenenalter die Diagnose und therapeutische Weichenstellung ermöglichen (. Abb. 8.13). Dies ist wichtig, denn es sind mindestens ¾ der Neugeborenen neurologisch unauffällig, im weiteren Verlauf aber einem erheblichen Risiko neurologischer Verschlechterung ausgesetzt. Art und Ausmaß der Risiken und damit die Dringlichkeit der Behandlung sind von der Ausprägung der Fehlbildung abhängig. jjPathophysiologie Fast allen dieser Fehlbildungen gemeinsam ist, dass sie eine pathologische Fixation des Rückenmarks bewirken. Die vorwiegend im zweiten Trimenon der Schwangerschaft stattfindende und zum Zeitpunkt der Geburt im Gegensatz zu früheren Vorstellungen bereits abgeschlossene Aszension des Conus medullaris wird in der Regel dadurch reduziert oder vollständig blockiert, so dass ein pathognomonischer Tiefstand des Konus auf Höhe oder unterhalb von LW3 resultiert. Dieser Zustand wird als „tethered (spinal) cord“ be­ zeichnet. Durch Elongation und pathologische Fixation wird das Rückenmark im Alltag vermehrt mechanisch belastet. Insbesondere Beugebewegungen der Wirbelsäule führen zu Dehnung der unteren Rückenmarksegmente, die dadurch repetitive Durchblutungs­ störungen erleiden. Wachstumsphasen sind von nachrangiger ­Bedeutung, das Verschlechterungsrisiko besteht auch im Erwach­ senenalter fort. jjKlinik Beim Tethered-(spinal)-cord-Syndrom können ein oder mehrere der folgenden Symptome vorliegen: 44 neurogene Blasenentleerungsstörung, 44 Paresen, 44 Sensibilitätsstörung, 44 Beinverkürzung und Fußdeformitäten. 44 Schmerzen lokal und radikulär oder auch Zeichen einer ­Spastik treten eher später hinzu.

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E. Boltshauser et al.

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..Abb. 8.13  Kutane Stigmata gedeckter spinaler Fehlbildungen. a Subkutane Fettgewebsmasse und fleckförmige vaskuläre Nävi bei Lipomyelomeningozele. b Fleckförmig (etwa rautenförmig) vermehrte Behaarung, patho-

gnomonisch für die Diastematomyelie. c Dermalsinus mit kleinem Porus, ­einigen Härchen dort und blassem vaskulärem Nävus

j jDiagnose Wenn lokale Stigmata vorliegen oder neurologische Defizite oder Deformierung der unteren Extremitäten abzuklären sind, muss in der Neonatalphase eine Ultraschalluntersuchung des Spinalkanals erfolgen. Zur Behandlungsplanung ist eine Kernspintomographie erforderlich, die erst mit 3 Monaten durchgeführt werden soll, um qualitativ hochwertige Bilder zu erhalten. Bei anorektalen und urogenitalen Fehlbildungen kann ein pathologisch verdicktes Filum terminale auch ohne kutane Stigmata ein „tethered cord“ bewirken, weshalb betroffene Kinder bis zum Ende des ersten Lebensjahrs eine spinale Kernspintomographie erhalten sollten.

Da es häufig begleitend zu komplexeren Fehlbildungen vorliegt, ist es insgesamt auch der häufigste Befund im Formenkreis dieser Fehlbildungen. In der isolierten Form sind kutane Stigmata nur in 50% der Fälle festzustellen, oft weisen anorektale oder urogenitale Fehlbildungen den Weg zur Diagnose. Konnatale neurologische Defizite sind beim pathologischen Filum terminale selten, es besteht aber ein lebenslanges und kumulativ erhebliches Risiko schleichender neurologischer Verschlechterung. Die Therapie besteht in operativer Durchtrennung etwa auf Höhe des lumbosakralen Übergangs. Das Risiko neurologischer Komplikationen ist gering, ebenso das Rezidivrisiko. Daher wird die Operationsindikation trotz des typischerweise zunächst asymptomatischen oder oligosymptomatischen Verlaufs großzügig gestellt.

jjTherapie Ziel der operativen Versorgung ist die möglichst vollständige Beseitigung der Fixation oder Kompression des Rückenmarks zur Vermeidung oder zumindest Reduktion des Risikos einer sekundären neurologischen Verschlechterung im weiteren Verlauf. Die strukturelle Integrität der Wirbelsäule soll so wenig wie möglich beeinträchtigt werden. Daher wird der Spinalkanal im betroffenen Bereich durch osteoplastische Laminotomie freigelegt. Hierbei werden die Wirbelbögen ausgesägt und am Ende des Eingriffs reimplantiert. Mikrochirurgische Operationstechnik und intraoperatives Neuromonitoring sind unverzichtbar. Indikationsstellung, Komplikationsrisiko und Prognose sind abhängig von Art und Ausprägung der Fehlbildung. Besonderheiten der häufigsten Fehlbildungsentitäten werden daher im Folgenden dargestellt. 8.6.1

Pathologisches Filum terminale

Ein verdicktes, teils auch fetthaltiges und verkürztes Filum terminale mit Tiefstand des Conus medullaris stellt die einfachste Form einer gedeckten spinalen Fehlbildung dar. >> Ein Konusstand bei LW3 und darunter sowie eine Dicke von über 2 mm sind sicher pathologisch, geringere Ausprägungen sind möglich und erfordern eine individuelle Beurteilung.

8.6.2

Lipomyelomeningozele, spinales Lipom

Mit einer Inzidenz von 1:8.000 bis 1:16.000 sind spinale Lipome die häufigste gedeckte spinale Fehlbildung. Fast 90% dieser Fehlbildungen sind konnatal an einer umschriebenen subkutanen Fettgewebsvermehrung zu erkennen. Vaskuläre Nävi, Hauteinziehungen oder Hautanhängsel kommen vor. Das Rückenmark ist durch Fettgewebe und Bindegewebe fixiert, das in der Neurulationsphase sich mit dem noch nicht geschlossenen Neuralrohr von dorsal oder kaudal her kommend verbunden hat. Die kraniokaudale Ausdehnung dieser Verbindung, das Ausmaß des Übergreifens auf lateral liegende ­nervale Strukturen und der begleitenden Dysplasie dieses Rückenmarkabschnitts bestimmen Symptome, Schwierigkeit und Komplikationsrisiko der operativen Behandlung und Prognose des betroffenen Kindes. Die Diagnostik folgt den oben angegeben Regeln. >> Die Indikation zur Operation ist eindeutig gegeben bei be­ hindernden Fettgewebsmaßen, nachgewiesener Kompression des Rückenmarks und Entwicklung von Symptomen.

Das intraspinale Fettgewebe wird möglichst weitgehend entfernt, Wundflächen mit Kapselanteilen geschlossen und ein weiter Liquor-

195 Nervensystem

raum rekonstruiert. Die prophylaktische Operation wird überwiegend, aber nicht einstimmig befürwortet. Grund der Zurückhaltung ist der auch für den Erfahrenen bei komplexen Fehlbildungen oft schwierige Eingriff und das trotz adäquater Operation noch hohe Risiko neurologischer Verschlechterung im weiteren Verlauf. Das Risiko neurologischer Schädigung durch den Eingriff kann je nach Erfahrung des Operateurs und nach gegebenem Befund von 5% variieren, spätere Zweiteingriffe werden in etwa 20% er­ forderlich. 8.6.3

Diastematomyelie

Mit Diastematomyelie bezeichnet man eine meist kurzstreckige Aufspaltung des Rückenmarks. Pathogenetisch wird eine Störung der Mittellinienintegration in der Gastrulationsphase angenommen. Die Rückenmarkstränge können bei Anlage eines Duraseptums mit Knochensporn in zwei getrennten Duralschläuchen („split cord malformation“ Typ 1) oder bei Fehlen eines solchen Septums in ­einem gemeinsamen Duralsack verlaufen („split cord malforma­ tion“ Typ 2). >> Die Diastematomyelie ist in der Hälfte der Fälle an einem ­rauten- oder dreieckförmigen Bereich vermehrter Behaarung über der Wirbelsäule identifizierbar.

Begleitende Segmentationsstörungen der Wirbelsäule, teilweise mit Fehlbildungsskoliosen, sind häufig. Schon konnatal kann eine asymmetrische Benachteiligung einer unteren Extremität vorliegen, die sich durch Längen- und Umfangsreduktion, Deformierung und Kontrakturen sowie neurologische Defizite manifestieren kann. ­Ursächlich ist eine asymmetrische Aufspaltung des Rückenmarks mit entsprechender Minderinnervation der benachteiligten Seite. Zusätzlich kann die Fixation und Kompression oder Hypomoch­ lionwirkung eines Knochensporns zu einem Tethered-cord-­ Syndrom führen, bei gemeinsamem Duralsack kann ein fibröses Septum diese Wirkung entfalten. Fast immer liegt zusätzlich ein pathologisches Filum terminale vor. Zur Beseitigung dieser Mechanismen wird die Operationsindikation auch prophylaktisch gestellt. !! Cave Große Knochensporne können im Säuglingsalter bedrohlich bluten.

Das Risiko neurologischer Verschlechterung durch den Eingriff ist in erfahrener Hand gering, die Langzeitprognose bezüglich des „tethered cord“ sehr günstig. Allerdings bleiben asymmetrische Innervation, Skelettdysplasie und Fehlbildungsskoliose unbeeinflusst und können zu progredienter Beeinträchtigung führen. 8.6.4

Dermalsinus

Im Gegensatz zu harmlosen kokzygealen Sinus und Grübchen weisen echte Dermalsinus keine tastbare bindegewebige Verbindung zur Steißbeinspitze auf. Sie sind höher, etwa ab dem Oberrand der Rima ani über der Mittellinie angelegt. Sie kommen gehäuft am oberen Sakrum und der unteren Lendenwirbelsäule vor, können aber entlang der Mittellinie über Gehirn und Rückenmark vom Nasenrücken bis in den Sakralbereich hinein vorkommen. Am Kopf sind die Prädilektionsstellen frontonasal und okzipital. Ein Grübchen oder ein manchmal schwer erkennbarer Porus ist oft mit fleckförmigem vaskulärem Nävus, einzelnen Härchen oder geringer subkutaner Fettvermehrung vergesellschaftet. Der äußere Porus ist durch einen

Fehlbildungstrakt mit der Stelle des Rückenmarks verbunden, die zum Zeitpunkt der Neurulation sich auf dieser Höhe befand. Durch Rückenmarkaszension kann der Trakt sich über mehr als 5 Wirbelhöhen erstrecken. Hautepithel und Hautanhangsgebilde können in jedem Abschnitt dieses Trakts angelegt sein und in der Folge Dermoide und Epidermoide bilden. Keime können entlang des Trakts einwandern und diese Einschlusstumoren besiedeln. >> Wird die Diagnose nicht gestellt, drohen rezidivierende ­Meningitiden. Als einzige der gedeckten spinalen Fehlbildungen erfordert der Dermalsinus daher frühestmögliche Diagnostik und Therapie.

Intradurale Fehlbildungstrakte sind oft weder im Ultraschall noch im MRT eindeutig darstellbar, nach Beurteilung durch erfahrene Spezialisten muss die Indikation zur vollständigen Resektion klinisch gestellt werden. Neugeborene mit Dermalsinus sind in der Regel asymptomatisch, mit jeder Meningitisepisode steigt das Risiko bleibender Schäden. Das Risiko einer prophylaktischen Operation ist sehr gering, die Langzeitprognose exzellent. Nach Infektionen steigt durch Vernarbung des Trakts mit Cauda equina und Rückenmark die Schwierigkeit des Eingriffs und grundsätzlich auch das Risiko neurologischer Schädigung. Unvollständige Entfernung des Trakts geht mit hohem Risiko eines Infektionsrezidivs einher. 8.7

Zerebralparesen

I. Krägeloh-Mann jjDefinition Die Zerebralparesen (hier abgekürzt als CP) bilden zusammengenommen die häufigste Ursache für eine motorische Behinderung zerebraler Ursache im Kindesalter. Sie stellen kein einheitliches Krankheitsbild dar, sondern bilden eine Gruppe von statischen ­Enzephalopathien unter folgender Definition zusammengefasst: 44 die Motorik in Haltung und Bewegung ist betroffen – neurologisch klar definiert als Spastik, Dyskinesie, Ataxie, 44 die Störung ist bleibend, Änderungen im klinischen Bild sind möglich, 44 sie entsteht durch eine nicht progrediente Erkrankung des ­unreifen, sich entwickelnden Gehirns, 44 zusätzliche Störungen wie Lernbehinderung, geistige Behinderung, Sehstörungen, Epilepsie sind häufig assoziiert. 44 Ausgeschlossen sind Erkrankungen des Gehirns, die pro­ gredienter Natur sind und nicht-zerebrale Erkrankungen. jjEpidemiologie International liegt die CP-Prävalenz relativ einheitlich bei ­2,0–2,5/1.000 Lebendgeburten. Die Prävalenz der CP steigt mit ­sinkendem Geburtsgewicht deutlich von 1,0/1.000 Lebendgeburten mit einem Geburtsgewicht über 2.500 g bis zu 50–100/1.000 Lebendgeburten mit einem Geburtsgewicht > Pathogene Ereignisse, die das sich entwickelnde Gehirn betreffen, verursachen Fehlbildungen oder Läsionen, deren ­Muster abhängig ist von dem Stadium der Gehirnentwicklung.

Assoziation Zeitpunkt der Schädigung und Art der Läsion  In der Embryonal- und frühen Fetalperiode (bis zur 20./24. Schwanger­ schaftswoche; SSW) wird die „Grobarchitektur“ des Gehirns ent­

wickelt. Die Migration der neuronalen Zellen aus der Mittellinie zum zukünftigen Kortex prägt diesen Zeitraum. Störungen führen zu bestimmten Fehlbildungsmustern, sie können genetisch bedingt sein oder erworben (z. B. infektiös, toxisch oder hypoxisch-ischämisch; . Tab. 8.7). Ab dem 3. Trimenon entstehen bei Störungen der Gehirnentwicklung Schädigungsmuster im Sinn von Defektbildungen:

b

..Abb. 8.14  Läsionsmuster des frühen bis mittleren 3. Trimenon (MRT). a Leichte periventrikuläre Leukomalazie ohne Marklager­ reduktion (klinisch: leichte spastische Diplegie ohne kognitive ­De­fizite), das rechte koronare Bild zeigt die Gliose im Bereich der ­Pyramidenbahn (Pfeil). b Schwere periventrikuläre Leukomalazie mit Marklagerreduktion, schwere Läsion im Pyramidenbahnbereich ­(klinisch schwere spastische Tetraparese und kognitive Defizite). ­ c Asymmetrische, leichte periventrikuläre Leukomalazie, die nur ­einseitig die Pyramidenbahn betrifft, mit Folge einer spastischen ­Hemiplegie. (Mit freundl. Genehmigung des Magnetic Resonance ­Research Center, Hvidovre, Kopenhagen)

Bis etwa zur 36. SSW stehen Läsionen der weißen Substanz­ im Vordergrund (. Abb. 8.14) in Form der periventrikulären Leukomalazie oder von Parenchymdefekten nach hämorrhagischer Infarzierung. Beim reiferen Kind (ab etwa der 37. SSW) ist die graue Substanz Prädilektionsort einer Schädigung (z. B. Hypoxie/Ischämie). Verschiedene Muster sind beschrieben (. Abb. 8.15): die parasagittale Schädigung, die Schädigung von Basalganglien und Thalamus, ­häufig kombiniert mit einer kortikosubkortikalen Schädigung der Zentralregion. Die schwerste Ausprägung einer solchen Schädigung wird als multizystische Enzephalomalazie beschrieben. Ein weiteres Läsionsmuster stellen Infarkte der großen Hirnarterien dar, vor­ wiegend der A. cerebri media. Ihre Entstehung wird ab der 30./32. Schwangerschaftswoche beschrieben. Assoziation neurologisches Bild und Art der Läsion  Bei den ­Kindern mit bilateral-spastischer CP findet sich bei über 80% ein

Schädigungsmuster (Defektbildungen) des 3. Trimenon. Beim reifen

197 Nervensystem

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..Abb. 8.15  Läsionsmuster des späten 3. Trimenon nach Hypoxie/Ischämie im MRT. a Periventrikuläre Marklagerschädigung (klinisch schwere spas­ tische Tetraparese). b Bilaterale Basalganglien- und Thalamusschädigung (klinisch beinbetonte spastische Tetraparese mit deutlich dystoner Komponente). (Mit freundl. Genehmigung der Abteilung für Neuroradiologie, ­Universitätsklinikum Tübingen)

Neugeborenen kann die Läsion im frühen 3. Trimenon (also intrauterin), oder im späten 3. Trimenon (also peri- und neonatal in ­Folge einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie nach Asphyxie oder Schock) entstanden sein. Bei Frühgeborenen überwiegen Läsionsmuster des frühen 3. Trimenon. Wie bei der bilateral-spastischen CP, findet sich auch bei Kindern mit unilateral-spastischer CP (spastischer Hemiplegie) zum Großteil (80%) ein Schädigungsmuster (Defektbildung) des 3. Trimenon. Bei den Reifgeborenen entspricht dies entweder Infarkten im Stromgebiet der A. cerebri media und/oder periventrikulären, häufig unilateralen Gliosen, deren Entstehung wahrscheinlich am ehesten im frühen 3. Trimenon zu sehen ist. Bei Frühgeborenen finden sich ebenfalls fast ausschließlich Läsionen des frühen 3. Trimenon einerseits in Form von unilateralen periventrikulären Parenchymdefekten nach Blutungen oder andererseits asymmetrischen periventrikulären Leukomalazien. Auch die dyskinetische CP zeigt beim Reifgeborenen, bei dem sie vorwiegend auftritt, eine überwiegend läsionelle Genese. In mehr als 50% ist sie durch Läsionen im Thalamus und den Basalganglien bedingt, die typischerweise hypoxisch-ischämisch nach Asphyxie oder Schock entstehen. Eine dyskinetische CP nach Kernikterus ist heute selten geworden. Lediglich die ataktische CP unterscheidet sich bezüglich der ­Pathogenese deutlich, da läsionelle Muster hier die Seltenheit sind, und die Ursache, die insgesamt wohl sehr heterogen ist, in den meisten Fällen unklar bleibt. Diese CP-Form findet sich vorwiegend bei Reifgeborenen, teils werden familiäre Fälle beschrieben. Die Bild­ gebung zeigt nur bei 30–40% eine ursächliche Veränderung z. B. im Sinne einer zerebellären Hypoplasie. Zusammenfassend stehen also bei den meisten Formen der Zerabralparese (CP) tatsächlich Läsionsmuster, d. h. Defektbildungen, die Entstehungsmechanismen im 3. Trimenon (vor, unter oder kurz nach der Geburt) nahe legen, stark im Vordergrund. Fehlbildungen des Gehirns sind sehr selten, also Befunde, die für genetische und frühe Entstehungsmechanismen (im 1. oder 2. Trimenon der Schwangerschaft) sprechen. Eine Sonderform bildet bei der ätiologischen Aufarbeitung die ataktische CP, bei der offensichtlich genetisch bedingte Formen eine größere Rolle spielen.

jjKlinik Prinzipiell ist das klinische Bild der CP einerseits durch die Art und Schwere der motorischen Funktionsstörung geprägt und andererseits ganz wesentlich dadurch, ob zusätzliche zerebrale Funktionsstörungen assoziiert sind. Letztere umfassen Störungen der kognitiven Entwicklung – von der Lernstörung bis zur schweren geistigen Behinderung – und zerebrale Sehstörungen. Epilepsien kommen vorwiegend bei kortikalen und kortexnahen Läsionen oder kortikalen Fehlbildungen vor. Hörstörungen sind selten. Patienten mit CP können daher zusätzlich zu den motorischen Defiziten schwere Mehrfachbehinderungen haben. Die Veränderungen des Muskeltonus und der Bewegungsmuster können bei der CP im Rahmen von folgenden neurologischen Syndromen auftreten: Bilateral-spastische CP (BS-CP)  Hier wurde zwischen einer beinbetonten Form oder Diplegie und einer kompletten Form oder ­Tetraparese/Tetraplegie unterschieden. Da „beinbetont“ ein subjektives, zwischen verschiedenen Untersuchern nicht stabiles Kriterium ist, wird eine Erfassung des funktionellen Schweregrads über standardisierte Scores Grob- und Feinmotorik empfohlen. Mehr als ⅔ der Kinder haben eine schwere motorische Behinderung (kein freies Gehen mit 5 Jahren). Ebenfalls mehr als ⅔ der Kinder haben Störungen der kognitiven Entwicklung, 50% haben eine Epilepsie und etwa 10% schweren Sehstörung (blind oder fast blind). >> Die bilateral spastische Zerebralparese ist die typische Form des ehemaligen Frühgeborenen.

Unilateral-spastische CP (spastische Hemiparese)  Hier ist nur

eine Körperseite von der Lähmung betroffen. Die motorische Behinderung ist selten schwer im oben definierten Sinn, ein Nichterlernen des freien Gehens ist sehr selten (> Therapieziel ist, Sekundärfolgen der Zerebralparese zu ­vermindern und mögliche Entwicklungsvorgänge zu unterstützen.

Die üblichen therapeutischen Möglichkeiten beinhalten Krankengymnastik, Ergotherapie, Logopädie, Heilpädagogik und Frühförderung. Es handelt sich dabei um Langzeittherapien mit interdisziplinärer Ausrichtung. Wichtig ist eine Anleitung der Eltern, die in der Regel die tägliche Betreuung der Kinder übernehmen. Ziele der Krankengymnastik sind eine Verbesserung des motorischen Lernens im Rahmen der vorhandenen motorischen Fähigkeiten durch Reduktion des Muskeltonus, das Erlernen zielgerichteter Abläufe und das Vermeiden pathologischer Bewegungsabläufe sowie von Kontrakturen. Hilfsmittel dienen der funktionellen Verbesserung der Bewegungsabläufe und der Vermeidung von Sekundärfolgen (z. B. Sitzschalen, Stehbrett, Rollstuhl, Rollator, Innenschuhe, Gehörthesen) und erleichtern die Pflege der Patienten (z. B. Badehilfe). Medikamentös werden zur Beeinflussung der Spastik Baclofen (oral oder auch intrathekal) und Memantin eingesetzt; bei der Dystonie wird Dopamin oder Trihexyphenidyl empfohlen. Bei der spastischen CP ist Botulinumtoxin (lokal injiziert in die vorwiegend betroffenen Muskelgruppen) eine wichtige therapeutische Option. Operative Maßnahmen können bei Kontrakturen oder Hüft­ luxationen erforderlich werden. Die dorsale Rhizotomie ist bei ausgeprägter, beinbetonter Spastik und relativ guter Funktion ggf. eine therapeutische Option. Operative Maßnahmen sollten nur im Zusammenhang mit einer intensiven krankengymnastischen Vor- und Nachbetreuung durchgeführt werden. Zusätzliche Therapiemöglichkeiten wie Frühförderung, Ergotherapie oder Heilpädagogik sind dann begleitend angezeigt, wenn zusätzliche kognitive Probleme und deutlich beeinträchtigte motorische Fähigkeiten und damit begrenzte Erfahrungsmöglichkeiten im spielerischen Bereich bestehen. Eine logopädische Betreuung kann nicht nur zur Unterstützung der Sprachentwicklung, sondern auch zur Verbesserung der Mundmotorik wichtig sein. Bei Kommunikationsproblemen in Folge einer massiven Dysarthrie können computerisierte Kommunikationshilfen indiziert sein. Eine er­ hebliche zerebrale Sehstörung macht die Einleitung einer Sehbehindertenförderung sinnvoll. Bei Auftreten einer Epilepsie gelten die Richtlinien für die symptomatische Epilepsiebehandlung. Schwer mehrfach behinderte CP-Kinder zeigen sehr häufig ausgeprägte Essschwierigkeiten, woraus eine kalorische Unterversorgung, eine verminderte Gewichts- und auch Wachstumsentwicklung resultieren kann. Die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) sollte daher in einer entsprechenden Situation frühzeitig diskutiert werden.

199 Nervensystem

8.8

Neuro- und heredodegenerative ­Erkrankungen

S. Stöckler-Ipsiroglu jjDefinition Neuro- und heredodegenerative Erkrankungen gehen meist mit ­einer progredienten Verschlechterung neurologischer und/oder mental/kognitiver Funktionen einher. Dabei können je nach Erkrankung der Beginn, die Art und auch die Geschwindigkeit der progredienten Verschlechterung variieren. jjHäufigkeit In ihrer Gesamtheit stellen diese Erkrankungen im Kindesalter eine wichtige, da häufige, Krankheitsgruppe dar. Ihre Prävalenz wird mit mindestens mit 1 pro 1.000 angenommen. jjÄtiologie und Pathogenese Neurodegenerative Erkrankungen sind meist genetisch bedingt. Aber auch erworbene Erkrankungen (z. B. die nach Maserninfek­

..Tab. 8.8  Neurodegenerative Erkrankungen Krankheitsgruppen ­ nach neurologischer ­Leitsymptomatik

Spezielle Krankheitsbilder, Syndrome

Erkrankungen mit primär mentalem ­Abbau und im Vordergrund stehender Epilepsie

Neuronale Zeroidlipofuszinosen Gangliosidosen Mukopolysaccharidosen (v. a. Typ 1, 2,Typ 3) M. Niemann-Pick Typ C Mitochondriale Erkrankungen

Stillstand/Aberration der frühkindlichen ­Entwicklung und Neurodegeneration

Rett-Syndrom Angelmann-Syndrom

Demyelinisierende Erkrankungen ­(Leukodystrophien)

Adrenoleukodystrophie Metachromatische Leukodystrophie M. Krabbe Vanishing White Matter Disease M. Canavan M. Alexander

Hypo-/dysmyelinisierende Erkrankungen

M. Pelizeus-Merzbacher

Erkrankungen mit ­charakteristischen extrapyramidalen Bewegungsstörungen (hereditäre Dystonien)

Segawa-Syndrom (doparesponsive Dystonie) Andere Defekte der monoaminergen Neurotransmittersynthese Herediatäre Dystonien (z. B. Torsions­ dystonie) Erkrankungen der Neurotransmitter­ synthese Chorea Huntington Pantothenatkinase assoziierte ­Neurodegeneration (PKAN) M. Wilson

Heredodegenerative Ataxien/Neuropathien

Friedreich-Ataxie Ataxia Teleangiectasia (Louis-Bar-­ Syndrom) Andere spinozerebelläre Ataxien­ (SCA) Episodische Ataxien Hereditäre motorisch sensorische ­Neuropathien (HMSN)

Dysautonomien

Hereditäre senorisch autonome ­Neuropathien (HSAN) Hereditäre Dysautonomien ­ (z. B. Riley-Day-Syndrom)

Motoneuronen­ ekrankungen

Spinale Muskelatrophie Amyotrophe Lateralsklerose

Spezielle mitochondriale Erkrankungen

MELAS-Syndrom MERFF-Syndrom Leigh-Syndrom Alpers-Syndrom NARP-Syndrom

Erworbene neurodegenerative ­Erkrankungen

Subakut sklerosierende ­Panenzephalitis (SSPE), HIV, ­Prionerkrankung, nutritiver ­Vitamin-B12-Mangel, Methotrexat­ enzephalopathie

tion auftretende subakut sklerosierende Panenzephalitis, s. auch

7 Kap. 15) können einen neurodegenerativen Verlauf haben. Bei an-

geborenen Stoffwechselstörungen sind die degenerativen Pro­ zesse im Nervensystem durch genetisch bedingte Enzymdefekte, die zur Akkumulation oder zu einem Mangel an stoffwechselaktiven Substanzen führen, bedingt. Viele der im 7 Kap. 3 dargestellten Krankheitsbilder gehen wesentlich mit einer Gehirnbeteiligung einher und haben klinisch einen neurodegenerativen Verlauf (z. B. Erkrankungen aus dem Formenkreis der lysosomalen, mitochondrialen und peroxisomalen Stoffwechselstörungen, der Störungen im Stoffwechsel von Aminosäuren und von organischen Säuren sowie der Glykosilierungsstörungen). Heredodegenerative Erkrankungen (hereditäre Systemdegenerationen) führen zu einem vorzeitigen Untergang von Neuronen oder Bahnen eines bestimmten Funktionssystems. Beispiele sind hereditäre degenerative Basalganglienerkrankungen (z. B. Torsionsdystonie, M. Huntington), hereditäre spinozerebelläre Ataxien (z. B. Friedreich-Ataxie), familiäre spastische Paraplegien, Motoneuronenerkrankungen (z. B. spinale Muskelatrophien, familiäre amyotrophische Lateralsklerose), hereditäre sensorisch motorische/autonome Neuropathien. Eine Übersicht über die wichtigsten neuro- und heredo-degenerativen Erkrankungen ist in . Tab. 8.8 dargestellt. !! Cave Die frühzeitige Diagnose ist v. a. für jene Erkrankungen ­bedeutsam, für die es kausale Therapieansätze gibt.

Die allogene Knochenmark-/Stammzelltransplantation ist bei Adrenoleukodystrophie und Mukopolysaccharidose Typ 1 (PfaundlerHurler-Erkrankung) eine Therapie des Frühstadiums. Äußerst effektiv sind die Therapien L-Dopa/Carbidopa für das Segawa-Syndrom und andere Erkrankungen der monoaminergen Neurotransmittersythese sowie für Vitamin-B12-assoziierte Stoffwechselstörungen. Für eine zunehmende Anzahl dieser Erkrankungen werden derzeit medikamentöse, Enzymersatz- und Gentherapien entwickelt. 8.8.1

Erkrankungen mit primär mentalem ­Abbau

Bei diesen Erkrankungen ist primär die graue Hirnsubstanz vom Degenerationsprozess betroffen.

8

200

E. Boltshauser et al.

Neuronale Zeroidlipofuszinosen (NCL)  Die Trias mentaler Ab-

bau, Epilepsie und Erblindung bedingt durch Netzhautdegeneration ist charakteristisch für Erkrankungen aus dieser Krankheitsgruppe die sich je nach dem zugrundeliegenden Gendefekt in unterschiedlichem Alter manifestieren (infantile, juvenile und adulte Formen. Für die spätinfantile neuronale Zeroidlipofuszinose Type 2 steht eine Enzymersatztherapie zur Verfügung. (7 Kap. 3.15). Andere Erkrankungen der grauen Hirnsubstanz sind in . Tab. 8.8 zu finden. Rett-Syndrom  Das Rett-Syndrom ist die häufigste Ursache von

8

globaler Entwicklungsstörung und intellektueller Behinderung bei Mädchen. In den meisten Fällen finden sich Mutationen im MECP2Gen, das auf Xq28 lokalisiert ist. Meist handelt es sich um spontane Mutationen. Klinisch ist das Krankheitsbild durch einen phasenhaften Verlauf mit progredienter Verschlechterung von intellektuellen und neurologischen Funktionen gekennzeichnet: 44 Phase 1: Entwicklungsstillstand, Kommunikationsverlust, ­ und Verminderung der Kopfwachstumsgeschwindigkeit ab dem 6.–12. Lebensmonat; 44 Phase 2: kognitive Regression, Autismus und Verlust der Handfunktion (charakeristische wringende Handstereotypien und Hyperventilationsperioden im 2.-4. Lebensjahr; 44 Phase 3: Ataxie, Spastizität und Epilepsie (bis zum 10. Lebensjahr); 44 Phase 4: zunehmende Immobilität, Rollstuhlabhängigkeit, Skoliose, Kachexie nach der 1. Dekade.

Der mentale Abbau ist bei speziellen Erkrankungen mit psychiatrischen Symptomen als Erstmanifestation verbunden. Ein typisches Beispiel ist die M. Niemann-Pick-Typ C-Erkrankung, die durch einen genetischen Defekt im zellulären Cholesterintransport bedingt ist. >> Psychiatrische Verhaltensstörungen (Depression, Schizophrenie) in der Adoleszenz, vergesellschaftet mit mentalem Abbau und vertikaler Blickparese sollten immer an die M. NiemannPick-Typ C-Erkrankung denken lassen. Die Diagnose ist wichtig, da eine kausale Therapie (Miglustat) zur Verfügung steht.

8.8.2

Demyelinisierende Erkrankungen

j jDefinition Demyelinisierende Erkrankungen sind durch den Zerfall von primär grobstrukturell weitgehend normalen Myelinscheiden charakterisiert. Durch diverse pathogenetische Mechanismen (z. B. Abbaudefekte von bestimmten Myelinbestandteilen und Akkumulation ­pathogener Metabolite sowie lokale inflammatorische Reaktionen kommt es nach unterschiedlich langer Latenzzeit zu einem progredienten Zerfall der Myelinscheiden, zu sekundärem Untergang von Neuronen und gliöser Parenchymveränderung. j jBeispiele Die Adrenoleukodystrophie (ALD) ist eine X-chromosomal ver­erbte rasch progrediente demyelinisierende Erkrankung, die durch Mutationen im ABCD1-Gen und einen daraus folgenden Abbaudefekt von gesättigten überlangkettigen Fettsäuren bedingt ist. Die klinischen und biochemischen Charakteristika sind im 7 Kap. 3 genauer beschrieben. Die typische klinische Verlaufsform zeigt 7 Der besondere Fall. Die Akkumulation der überlangkettigen Fettsäuren in der Nebennierenrinde kann zusätzlich zu einem M. Addison führen, der auch das erste und über längere Zeit das einzige Symptom sein kann.

Der besondere Fall Martin ist ein ganz normaler Schuljunge, der immer gute Noten hatte. Im letzten halben Jahr fällt der Lehrerin auf, dass Martin Dinge, die er bereits gut beherrscht hat, verlernt. Sein früher tadelloses Schriftbild ist unregelmäßig und ausfahrend geworden. Wird er im Unterricht ­etwas gefragt, scheint es, er habe die Frage nicht verstanden. Eine Vorstellung beim Hals-Nasen-Ohrenarzt ergibt keinen Hinweis auf eine Hörstörung. Ein halbes Jahr später, nachdem Martin auch Gleichgewichtsstörungen entwickelt hat und sich bei einem Sturz vom Fahrrad eine Unterarmfraktur zugezogen hat, erfolgt erstmalig eine Vorstellung im Kinderkrankenhaus. Dort lässt die Schilderung der Probleme Martins durch die verzweifelten Eltern die Kinderärzte an neurodegenerative Erkrankung denken. Die Untersuchung der Konzentration der überlangkettigen Fettsäuren im Blut ergibt die Diagnose „Adrenoleukodystrophie“. Ausgeprägte Veränderungen im kranialen MRT weisen auf ein fortgeschrittenes Stadium der Erkrankung hin. Innerhalb der nächsten Monate erleidet Martin einen Visusverlust sowie einen Status epilepticus. Martin wird innerhalb der nächsten Jahre seine intellektuellen Fähigkeiten verloren haben und aufgrund einer fortschreitenden Bewegungsstörung ein schwerer Pflegefall sein. Im fortgeschrittenen Stadium gibt es keine wirksame Therapie. Wird die Erkrankung in ­einem früheren Stadium erkannt, kann eine Knochenmarks-/Stammzelltransplantation die Erkrankung zum Stillstand bringen.

8.8.3

Hypomyelinisierende und ­dysmyelinisierende Erkrankungen

Unter dieser Gruppe werden Erkrankungen zusammengefasst, die primär zu einer quantitativ und qualitativ veränderten Myelinbildung führen. M. Pelizeus-Merzbacher ist die in dieser Gruppe am besten bekannte Erkrankung. Klinisch charakteristisch sind un­ willkürliche langsam oszillierende Augen- und Kopfbewegungen (Nystagmus und Kopftremor) und eine dyston-spastische Be­ wegungsstörung. In 80% finden sich Veränderungen des X-chromosomalen Proteolipid(PLP)-Gens, das für ein Strukturprotein des Myelins kodiert. Es sind sowohl Punktmutationen, Insertionen, ­Deletionen und Duplikationen bekannt. 8.8.4

Erkrankungen mit charakteristischen ­extrapyramidalen Bewegungsstörungen und heredodegenerative Erkrankungen der Basalganglien

Dystonie, Rigor, Athetose und Chorea können isoliert oder in Kombination mit globaler Entwicklungsverzögerung und Intelligenzminderung auftreten.

Doparesponsive Dystonie (Segawa-Syndrom) Die Krankheit beginnt meist vor dem 5. Lebensjahr mit zuerst vorwiegendem Betroffensein der Beine. kann als spastische Diplegie fehldiagnostiziert werden. Charakteristisch sind tageszeitliche Schwankungen mit Verschlechterung im Tagesverlauf. Während sich die Patienten in den ersten Tagesstunden noch vergleichsweise gut fortbewegen können, kommt es im Lauf des Tages zu einer Zunahme der Dystonie, die z. T. zu fortgeschrittener Tageszeit kein Gehen mehr möglich macht. Unbehandelt führt die Erkrankung zu schwerer motorischer Behinderung mit Gehverlust, Dystonie und Rigidität. Die Intelligenz ist unauffällig. Der Erkrankung liegt ein dominant vererbter Defekt in der ­Tetrahydrobiopterin Synthese (GTP-Cyclohydrolase) zugrunde. Da

201 Nervensystem

Tetrahydrobiopterin ein essenzieller Kofaktor in der Dopaminsynthese ist, führt die Therapie mit L-Dopa (Vorstufe von Dopamin) bei den meisten Patienten zum völligen Verschwinden der Symptome. >> Bei einer vor/im Kindergartenalter auftretenden, beinbetonten Dystonie bei normal intelligentem Kind und normaler Bildgebung des Gehirns sollte man immer an eine doparesponsive Dystonie denken und einen Therapieversuch mit ­Dopamin, erwägen.

Störungen der Synthese von (monoaminergen) Neurotransmittern Neben der doparesponsiven Dystonie gibt es eine Reihe anderer ­genetischer Defekte in der Bildung der monoaminergen Neurotransmitter Dopamin und Serotonin. Bei allen Defekten stehen unterschiedlich schwer verlaufende dyskinetische Bewegungsstörungen und allgemeine Entwicklungsverzögerung im Vordergrund. Bei ausgeprägter Hypo- und Akinesie spricht man von infantilem Parkinsonismus. Okulogyre Krisen (minuten- bis stundenlang dau­ ernde Deviation der Augen nach oben) können als zerebrale Anfälle fehlinterpretiert werden. Periodisch wiederkehrende aseptische ­Fieberschübe und gastrointestinale Symptome gehören ebenfalls zum Bild. Die Therapie umfasst ganz allgemein die Gabe von Dopaminund Serotoninvorstufen (L-Dopa und 5-Hydroxytryptophan) kombiniert mit Carbidopa, um den peripheren Abbau dieser Substanzen zu hemmen.

Hereditäre Dystonien Die Torsionsdystonie (Dystonia musculorum deformans) ist eine von derzeit 28 bekannten hereditären Dystonien (DYT1-28), die sich vorwiegend im Erstmanifestationsalter, im Verteilungsmuster der Dystonie und in der Assoziation mit anderen neurologischen Manifestationen und Beteiligung von kognitiven Funktionen unterscheiden. Die Dystonie kann generalisiert oder (multi)fokal sein mit ­Tendenz zur Generalisierung und Verschlechterung im Verlauf. Die Intelligenz ist normal. Medikamentös werden Trihexiphenidyl, Tetrabenazin sowie Carbamzepin, Bromocriptin und Diazepam eingesetzt. Bei lokalisierten Dystonien (z. B. zervikale Dystonie) wird Botulinumtoxin erfolgreich eingesetzt. Bei therapieresistenten Fällen kann die tiefe Hirnstimulation zu guten Erfolgen führen. 8.8.5

Andere heredodegenerative ­Erkrankungen

Friedreich-Ataxie Die Friedreich-Ataxie ist die häufigste genetisch bedingte Ataxie mit Erstmanifestation um das 10. Lebensjahr Bei der neurologischen Untersuchung fällt eine Ataxie, Dysarthrie und ein frühzeitiger Verlust der Muskeleigenreflexe bei positivem Babinski-Zeichen auf (Degeneration der Pyramidenbahnen) sowie ein Verlust der Tiefensensibilität auf. Als Zeichen der Degeneration der langen sensiblen und motorischen Bahnen entsteht eine charakteristische Fuß­ fehlstellung mit Hohlfuß und Hammerzehe (Friedreich-Fuß). Eine Skoliose gehört ebenfalls zum typischen klinischen Bild. Weiter entwickeln Patienten mit Friedreich-Ataxie eine Kardiomyopathie, die zu kongestivem Herzversagen führen kann sowie eine erhöhte ­Glukosetolereanz und einen Diabetes mellitus. Die Intelligenz ist normal, aufgrund der ausgeprägten Dysarthrie werden diese Patienten von Laien jedoch häufig für geistig behin-

dert gehalten. Der Verlauf ist mäßig rasch progredient; die meisten Patienten können in der 3. Lebensdekade nicht mehr frei gehen. Die Friedreich-Ataxie ist molekulargenetisch durch eine GAAExpansion im Frataxin-Gen bedingt. Frataxin ist ein mitochondriales Funktionsprotein, das eine Rolle in der intrazellulären Eisen­ homöostase spielt. Therapieversuche mit hochdosierten Antioxidanzien wie Vitamin E und mit Idebenone (einem synthetischen Coenzym Q) haben bislang keinen Verbesserungen der neurologischen Symptomatik bewirkt. >> Bei einer im Schulalter beginnenden Ataxie mit abgeschwächten/fehlenden Muskeleigenreflexen ist in erster Linie an das Vorliegen einer Friedreich-Ataxie zu denken.

Neben der Friedreich Ataxie gibt es mehr als 40 dominant oder rezessiv vererbbare hereditärenspinozerebelläre Ataxien (SCA), die sich vorwiegend im Erstmanifestationsalter, in der Ausprägung der zerebellären Symptome sowie in der Assoziation mit anderen neurologischen Manifestationen und Verlust von kognitiven Funktionen unterscheiden. >> Wichtig ist bei allen unklaren Ataxien der Ausschluss einer ­Vitamin-E-Defizienz, da sich sowohl nutritive als auch ­hereditäre Vitamin-E- (Tokopherol-)Stoffwechselstörungen (Abetalipoproteinämie, primäre Vitamin-E-Defizienz) gut mit Vitamin-E-Substitution behandeln lassen.

Motoneuronenerkrankungen Zu den primär degenerativen Erkrankungen des ZNS gehören auch die Motoneuronenerkrankungen. Bei den verschiedenen Formen der spinalen Muskelatrophie (SMA) ist vom Zelluntergang v. a. das 2. Motoneuron (motorische Vorderhornzellen) betroffen. Die schwerste Form der spinalen Muskelatrophie ist die vom Typ Werdnig-Hoffmann, die sich meist schon am Ende der Schwangerschaft in Form von verminderten Kindsbewegungen manifestiert. Die ­klinischen Symptome und andere Verlaufsformen der SMA sind im 7 Kap. 9 erörtert.

Hereditäre Erkrankungen der peripheren Nerven Die wichtigsten Erkrankungen aus dieser Gruppe sind die hereditären motorisch sensorischen Neuropathien (HMSN) vom Typ Char-

cot-Marie-Tooth. Die genauere Beschreibung dieser neuronalen Muskelatrophien befindet sich im 7 Kap. 9. Krankheitsbilder und Verlaufsformen mit zusätzlicher Beteiligung des 1. Motoneurons (spastische Bewegungsstörung) oder mit Kleinhirnsymptomatik (Ataxie) sind bekannt. Hereditäre sensorisch autonome Neuropathien (HSAN) sind durch einen progredienten Verlust der peripheren Sensibilität gekennzeichnet. Trophische Hauveränderungen (Lazeration, Ulzera, spontane Blasenbildung) an den Extremitäten, Selbstmutilation und neuropathische Gelenksveränderungen und Durchblutungsstörungen sind klinische Zeichen. Bei systemischen Dysautonomiesyndromen (z. B. familiäre Dysautonomie/Rilley-Day-Syndrom) bestehen zusätzlich zu peripher neuropathischen Symptomen Regulations­ störungen von Blutdruck und Körpertemperatur, gastrointestinale Motilitätsstörungen, Schluckstörungen, zyklisches Erbrechen, Blasenentleerungsstörungen, bis hin zu lebensbedrohlichen dysautomomen Krisen. Dysautonome Krisen und zyklisches Erbrechen können durch die Gabe von Diazepam attenuiert oder sogar unterbrochen werden.

8

202

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8.8.6

Erworbene ZNS-Erkrankungen mit ­neurodegenerativem Verlauf

Infektiöse, parainfektiöse Ursachen  Die subakut sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine Slow-Virus-Erkrankung, der immer eine Maserninfektion vorausgeht. Die HIV-Infektion bei Kindern

führt zu einer progressiven Enzephalopathie, die zu einem Verlust der bereits erworbenen Fähigkeiten und zu einer fortschreitenden Bewegungsstörung führt. Die wichtigsten Erkrankungen dieser Gruppe sind in 7 Kap. 14 zusammengefasst. Die Prionerkrankung (übertragbare spongiforme Enzephalopathie) ist eine Variante der Creutzfeld-Jakob-Erkrankung, die bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu einem Abbau aller mentalen und motorischen Fähigkeiten führt. Die wahrscheinliche Ursache ist ein infektionsartiges Geschehen mit einem konformationsveränderten Prionenprotein (7 Kap. 14).

8

Vitamin-B12-Mangel  Alimentär bedingte Vitamin-B12-Mangel­ zustände treten bei gestillten Säuglingen auf, deren Mütter strikt vegane Diäten (ohne tierisches Eiweiß) einhalten. Klinisch kommt es dabei zu einer zunehmenden Teilnahmslosigkeit/Apathie sowie zur Muskelhypotonie, Verlernen von motorischen Fähigkeiten und zerebralen Krampfanfällen. Da Vitamin B12 Kofaktor im Stoffwechsel von Homozystein und Methylmalonsäure ist, findet man bei diesen Patienten als biochemische Hinweise eine erhöhte Ausscheidung von Methylmalonsäure im Harn sowie erhöhte Konzentrationen von Homozystein im Plasma. >> Bei rechtzeitigem Erkennen der Ursache, ist die Symptomatik unter Vitamin-B12-Substitution reversibel. Bei lang andauernden Mangelzuständen ist allerdings auch mit nicht mehr ­korrigierbaren Hirnschäden zu rechnen.

8.9

Globale Entwicklungsverzögerung ­ und Intelligenzminderung

S. Stöckler-Ipsiroglu, O. Ipsiroglu j jDefinition Für diese Erkrankungsgruppe werden in der Literatur unterschiedliche Begriffe verwendet: globale Entwicklungsverzögerung, psychomotorische Entwicklungsverzögerung, Intelligenzminderung. Sie sind durch verzögerte oder ausbleibende Entwicklung von altersentsprechenden Fertigkeiten gekennzeichnet. Der Begriff „mentale Retardierung“ wird in der medizinischen Fachsprache nicht mehr verwendet und wird mit Begriffen wie „Intelligenzminderung/intellectual disability“ ersetzt. Der Begriff „globale Entwicklungsverzögerung“ wird bei Kindern unter 5 Jahren verwendet, wenn diese in zwei oder mehr als zwei Entwicklungsdomänen eine Ver­ zögerung aufweisen (z. B. Grobmotorik, Feinmotorik, Sprachentwicklung, soziale Entwicklung). Von „Intelligenzminderung“ spricht man ab einem Alter, in dem dieser Zustand mit einem IQ-Test ­beschrieben werden kann. Dies ist ab dem Alter von 5 Jahren der Fall. Laut Definition der American Association on Intellectual and Developmental Disabilities, sind für die Diagnose 3 Faktoren ausschlaggebend: 1. verminderte intellektuelle Funktionen (Lernen, Problem­ lösen); 2. verminderte adaptive Funktionen (soziale Anpassung, prak­ tische Lebensfertigkeiten); 3. Manifestation vor dem 18. Lebensjahr.

..Tab. 8.9  Globale Entwicklungsverzögerung/Intelligenzminderung: Ursachen und spezielle Krankheitsbilder Ursachen

Beispiele

Genetisch

Down-Syndrom, fragiles X-Chromosom und andere Formen der X-chromosomalen ­Intelligenzminderung, Angelmann-Syndrom, Rett-Syndrom, Smith-Magenis-Syndrom, ­Prader-Willi-Syndrom

Stoffwechsel­ erkrankungen

Unbehandelte Phenylketonurie, Kreatin­ synthese- und Transportdefekte

Endokrinopathien

Unbehandelte konnatale Hypothyreose

Intrauterine Schädigung

Fetales Alkoholsyndrom/fetale Alkoholspektrumstörungen, fetale Substanzexposition, maternale Phenylketonurie, Medikamente, (Valproinsäure, Warfarin) , konnatale Infektionen

Peripartale ­Schädigung

Frühgeburtlichkeit, Geburtstrauma, Infektionen

Postpartale ­Schädigungen

Trauma, Enzephalitis

Diese Störungen sind sehr häufig und treten bei 2,5% der Gesamtbevölkerung auf. jjUrsachen Die Ursachen der intellektuellen Behinderung beruhen auf prä-, peri-oder postnatal eingetretenen Hirnschädigungen. Ätiologisch stehen genetische, toxische und infektiöse Ursachen im Vordergrund (. Tab. 8.9). Die intellektuelle Behinderung kann isoliert vorkommen oder mit anderen mit der jeweiligen Grunderkrankung einhergehenden Symptomen assoziiert sein (z B. Dysmorphiezeichen, Epilepsie, ­Autismus, neurologische Funktionsstörungen). jjDiagnose Zur Objektivierung des Ausmaßes der globalen Entwicklungsver­ zögerung/Intelligenzminderung werden standardisierte Entwicklungs- und Intelligenztests durchgeführt. Entwicklungstests erfassen die Grob- und Feinmotorik sowie die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung und geben den allgemeinen Entwicklungsstand eines Kindes bezogen auf das chronologische Alter an. Die am häufigsten verwendeten Entwicklungstests sind die Bayley Scales of Infant Development und der DenverII-Test. Intelligenztests messen verschiedene kognitive Leistungen (z. B. logisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen, sprachliche Fertigkeiten) Die im deutschsprachigen Bereich am häufigsten verwendeten Intelligenztests sind der HAWIK III Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder und der K-ABC Kaufman-Assessment Battery for Children. Der durchschnittliche Intelligenzquotient (IQ) der allgemeinen Bevölkerung liegt zwischen 90 und 109. Von einer unterdurchschnittlichen Intelligenz spricht man bei einem IQ von 80–89. Von Borderline-Intelligenz spricht man bei einem IQ von 70–79. Eine Intelligenzminderung liegt bei einem IQ unter 70 vor. Die kausale Diagnostik ist auf Grund der multifaktoriellen Ätiologie sehr komplex. Genetische und prä-/peripartal erworbene Ursachen müssen in Betracht gezogen werden. In jedem Fall sollten neben einer detaillierten Anamnese und körperlichen Untersuchung

203 Nervensystem

ein Seh- und Hörtest sowie ein Hypothyreosescreening durchgeführt werden. 8.9.1

Genetische Ursachen der Entwicklungsverzögerung/Intelligenzminderung

leibliche Mutter) und zweitens die Symptome bei FASD sehr unspezifisch sind und betroffene Patienten häufig nicht/oder fälschlicherweise diagnostiziert werden. Lebenslange Verhaltens- und Impuls­ störungen führen in vielen Fällen zu sozialer Isolation, die durch Drogenmissbrauch und erhöhte Deliquenraten weiter verstärkt wird.

Pränatale Substanzexposition

Genetische Defekte werden in bis zu 50% der Fälle als Ursache einer Entwicklungsverzögerung und/oder intellektuellen Behinderung vermutet: Zur Erfassung der häufigsten genetischen Ursachen für Entwicklungsverzögerung und Intelligenzminderung wird eine Chromosomen-/Microarray-Analyse und ein molekulargenetischer Test für fragiles X-Chromosom bei Jungs und für RettSyndrom bei Mädchen empfohlen. Durch die Verfügbarkeit von „whole exome sequencing“ wird eine zunehmende Vielfalt von sehr seltenen ­monogenen Ursachen der Entwicklungsverzögerung bekannt. Nicht selten handelt es sich dabei um De-novo-Keimzellmutationen. ­Angeborene Stoffwechselerkrankungen stellen eine Untergruppe von genetischen Erkrankungen dar, und gehen meist mit u. a. einer Entwicklungsverzögerung einher. Da viele dieser Erkrankungen kausal behandelbar sind, sollte eine erweiterte Stoffwechseldiagnostik in das Untersuchungsprogramm eingeschlossen werden.

Intelligenzminderung, Verhaltensprobleme und/oder Lernschwierigkeiten können auch durch Missbrauch von anderen Drogen ­entstehen (Kokain, Marihuana). Für solche Fälle wird zunehmend der Ausdruck „pränatale Substanzexposition“ (prenatal substance exposure) verwendet.

!! Cave

Teratogene Medikamente

Mit dem Neugborenenscreening werden nicht aller behandelbaren Stoffwechselerkrankungen erfasst. Eine erweiterte Stoffwechseldiagnostik ist daher auch bei Kindern mit unauffälligem Befund im Neugeborenenscreening indiziert.

Bei Ungewissheit über die Durchführung des Neugeborenenscreenings sollte dieses unabhängig vom Alter des Kindes nachgeholt werden. 8.9.2

Erworbene Ursachen der Entwicklungs­ verzögerung/Intelligenzminderung

Fetales Alkoholsyndrom (FAS) und fetale ­Alkoholspektrumstörungen (FASD) Die pränatale Alkoholexposition ist eine der häufigsten erworbenen Ursachen für Entwicklungsverzögerung und Verhaltensstörungen im Kindesalter. Die Prävalenz von 0,1–0,3% für das embryo-fetale Alkoholsyndrom („fetal alcohol syndrome“; FAS) – das klinische Vollbild und 1–3–(5)% für fetale Alkoholspektrumstörungen („fetal alcohol spectrum disorder“; FASD) zeigen die Dimension einer gesundheitsökonomischen und gesellschaftspolitischen Herausforderung auf. FAS wird durch verzögerte Entwicklung mit Kleinwuchs, Mikrozephalie, neurologischen Besonderheiten und verschiedenen Malformationen (u. a. Herzfehler, Kiefer-Gaumen-Spalte, Retro- oder Mikrognathie, Ohrfehlbildungen etc.), charakteristischen Auffälligkeiten im Gesicht (schmale Lidspalte und Epikanthusfalte, flaches Mittelgesicht mit kurzer Nase, niedrigem Nasenrücken, verstrichenem Philtrum, dünner Oberlippe) definiert. FASD wird durch die 4 Säulen: Wachstum, Gesichtsdysmorphie, entwicklungsneurologisch/neuropsychologische Befundung und Alkoholanamnese in der Schwangerschaft definiert (4-Digit-Code). Beide Diagnosen bedeuten eine signifikante Schädigung des zentralen Nervensystems, das eine lebenslange Dauerbetreuung notwendig macht. Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit FAS und/oder FASD stellen eine besonders vulnerable Populationen dar, weil erstens die Diagnose mit einem Stigma verbunden ist (Schädigung durch die

Maternale Phenylketonurie (PKU) Hohe Blutphenylalaninspiegel bei schwangeren Frauen mit Phenylketonurie (PKU) führen zu einer Embryo-fetopathie, die mit kongenitalem Mikrozephalus, globaler Entwicklungsverzögerung und kardialen Malformationen führen einhergehen kann. Die Kinder dieser Mütter haben in den meisten Fällen selbst keine PKU und fallen daher im Neugebornenscreening nicht auf. Verhindert werden kann die maternale PKU durch eine strikte Phenylalanin-reduzierte Diät von Beginn der Schwangerschaft an. Die Einnahme teratogener Medikamente während der Schwangerschaft ist eine weitere Ursache für intrauterin erworbene Entwicklungsstörungen. Die bekanntesten Beispiele sind die Valproat-, ­Warfarin und Metothrexat-Embryofetopathie. 8.10

Vaskuläre Malformationen

M. Schöning 8.10.1 Arteriovenöse Malformationen jjGrundlagen Arteriovenöse Malformationen (AVM) des Gehirns sind kongenitale Fehlbildungen des arteriolär-kapillären Gefäßbetts. Sie bestehen aus einem Gefäßkonvolut unterschiedlicher Größe („Nidus“), das von einer oder mehreren Arterien gespeist und von großen, oberflächlichen oder tiefen Venen drainiert wird. Ein zwischengeschaltetes Kapillarbett fehlt. Die Durchblutungsrate dieser arteriovenösen Kurzschlussverbindung ist deutlich erhöht. Nidus und drainierende Venen sind einem erhöhten intravasalen Druck ausgesetzt. Daraus resultiert die Gefahr der Gefäßruptur. Benachbarte Hirnregionen können ischämisch geschädigt werden („Steal-Effekt“). AVM sind meist in den zerebralen Hemisphären lokalisiert, seltener in den Basalganglien oder im Zerebellum. Zu 20% manifestieren sie sich bereits im Kindes- und Jugendalter. jjKlinik Initialsymptome treten in ca. 60% als Blutung, in 30% als epileptische Anfälle auf, seltener in Form von migräneartigen Kopfschmerzen oder neurologischen Ausfallserscheinungen. !! Cave Die erste Blutung verläuft bei 10–25% tödlich und hinterlässt bei der Hälfte der Überlebenden bleibende neurologische Ausfallserscheinungen.

Die jährliche Blutungsrate beträgt 3% nach Diagnosestellung und steigt auf 5% nach erster Blutung an.

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j jDiagnose Kernspintomographie und MR-Angiographie können Lage, Größe und Hauptversorgung der AVM aufzeigen. Vor Beginn einer Behandlung muss eine Katheterangiographie durchgeführt werden. j jTherapie Die Behandlung erfolgt in spezialisierten Zentren im interdisziplinären Team. Behandlungsziel ist die vollkommene Ausschaltung der AVM. Eine neurochirurgische Operation der AVM ist anzustreben. Eine interventionelle Embolisierung durch Neuroradiologen kann ggf. die Operabilität verbessern. Kleine, operativ unzugängliche AVM können mittels Protonenbestrahlung behandelt werden. Die Therapieindikation unrupturierter AV-Malformationen ist bei ­Erwachsenen Gegenstand aktueller Studien, das hohe kumulative Blutungsrisiko von Kinder und Jugendlichen spricht jedoch für eine Behandlung.

8

8.10.2 Vena-Galeni-Malformation j jGrundlagen Bei der aneurysmatischen Malformation der V. Galeni handelt es sich um eine arteriovenöse Gefäßfehlbildung mit Persistenz des embryonalen Vorläufers der V. magna Galeni, der „V. prosencephalica“. Diese wird von einer bis wenigen arteriovenösen Fisteln (muraler Typ) oder multiplen Fisteln (choroidaler Typ) gespeist und mündet schräg ansteigend in den Sinus sagittalis superior (. Abb. 8.16). Das hohe Shuntvolumen führt zu einer sackförmigen Erweiterung der V. prosencephalica im Mündungsbereich der Fisteln. jjKlinik Bei der choroidalen Form stehen postnatal die Zeichen der kardialen Volumenbelastung im Vordergrund: Herzgeräusch, Tachykardie, Kardiomegalie, Herzinsuffizienz. Über der Kalotte ist ein Gefäßgeräusch auskultierbar, die sichtbaren kranialen Venen sind gestaut. Die Herzinsuffizienz bestimmt Therapie und Prognose in dieser Phase. Die Mortalität ist hoch. Die murale Form manifestiert sich meist in der Säuglings- und Kleinkindzeit. Pathogenetisch steht die venöse Abflussstörung des erhöhten Shuntvolumens im Vordergrund. Infolge des ansteigenden Drucks in den großen venösen Blutleitern nimmt die Liquorresorptionskapazität ab. Als Leitsymptom besteht eine Makrozephalie­ bei Hydrocephalus internus. Diapedeseblutungen sind möglich. Außerdem kann die venöse Hypertension zu Perfusionsstörung und Hypoxie des Hirnparenchyms mit Ausbildung von Verkalkungen im subkortikalen Marklager führen. Mögliche Folgen sind zerebrale Krampfanfälle und eine Entwicklungsstörung. jjDiagnose Die Diagnose kann durch Ultraschall gestellt werden: Es zeigt sich eine große, zentrale, zystische Formation, die farbdopplersonographisch durchflossen ist. MR-Tomographie und MR-Angiographie sind geeignet, die Veränderungen des Parenchyms, der Liquorräume und der Gefäßarchitektur detailliert darzustellen. j jTherapie Die interventionelle Angiographie mit Embolisationsbehandlung sollte in spezialisierten Zentren durchgeführt werden. Die Prognose hat sich seit Einführung der Embolisationstherapie deutlich verbessert: Beim choroidalen Typ wird eine Heilungs­ rate von 50% berichtet, beim muralen Typ sogar bis zu 100%. Bei Vorliegen einer neonatalen Herzinsuffizienz wird die Indikation zur

..Abb. 8.16  Vena-Galeni-Malformation vom choroidalen Typ (Vertebralis­ angiographie seitlich)

Embolisation jedoch erst nach Beherrschen der Herzinsuffizienz und Ausschluss schwerer enzephalomalazischer Veränderungen ­gesehen. 8.10.3 Kavernome jjGrundlagen Kavernome bestehen aus sinusoidal erweiterten vaskulären Räumen zwischen denen kein Hirngewebe liegt. Sie besitzen weder zuführende, dilatierte Arterien noch drainierende Venen und sind daher meist angiographisch okkult. Häufig liegen sie im frontalen oder parietalen Marklager, seltener im Pons. Multiple Kavernome kommen vor. Sporadische und familiäre Formen sind beschrieben. jjKlinik Kavernome werden selten im Kindes- und Jugendalter symptomatisch, entweder aufgrund rezidivierender Einblutungen oder einer Größenzunahme. Führendes Symptom sind fokale Krampfanfälle. Die zunehmende Raumforderung kann zu Kopfschmerzen und progressiven neurologischen Defiziten führen. Fatale Hämorrhagien sind selten. jjDiagnose Diagnostisch wegweisend ist die Magnetresonanztomographie des Gehirns. Nach wiederholter Blutung zeigt sich eine typische, mehrschichtige Läsion (. Abb. 8.17). jjTherapie Symptomatische Kavernome sollten – wenn operativ gut zugänglich – mikrochirurgisch entfernt werden. Postoperativ sind 90% der ­Patienten anfallsfrei. 8.10.4 Aneurysmen jjGrundlagen Als Aneurysmen werden umschriebene, beeren-, sack- oder spindelförmige Gefäßerweiterungen bezeichnet. Sie können sich an Teilungsstellen der Hirnarterien, v. a. im Bereich des Circulus arteriosus

205 Nervensystem

Inzidenz von 2–5/100.000 pro Jahr. Er zählt zu den 10 häufigsten Todesursachen im Kindes- und Jugendalter und geht mit hoher ­bleibender Morbidität einher.

..Abb. 8.17  MRT-Bild eines Kavernoms links parietal, zentral Hämosiderin, außen Ödem

Willisii bilden und beruhen meist auf kongenitalen Defekten der Tunica media. Im Kindesalter werden sie sehr selten manifest. jjKlinik Eine Aneurysmaruptur führt zur Subarachnoidalblutung, die mit stärksten Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit und akuter Bewusstseinsstörung einhergeht. Komplikationen sind Liquorzirkulationsstörungen und Vasospasmen (mit möglicher Folge eines ischämischen Defizits). Die Prognose wird negativ beeinflusst durch das Ausmaß der Blutung und der initialen Bewusstseinsstörung. Riesen­ aneurysmen können sich primär auch durch isolierte Hirnnervenausfälle und Zeichen der Hirnstammkompression bemerkbar ­machen. jjDiagnose Bei Verdacht auf eine Subarachnoidalblutung wird sofort ein kraniales Computertomogramm veranlasst. Der Nachweis xanthochromen Liquors mittels Lumbalpunktion kann auch bei unauffälligen CT die Blutung beweisen. Zur Aneurysmasuche ist eine arterielle Angiographie erforderlich. jjTherapie Die Behandlung des rupturierten Aneurysmas liegt in den Händen erfahrener Neurochirurgen (frühzeitige mikrochirurgische Clippung, ggf. interventionelle Embolisation; Einsatz von Kalziumantagonisten bei Vasospasmen). 8.11

Ischämische zerebrale Insulte

M. Schöning jjGrundlagen Der arterielle ischämische Schlaganfall im Kindes- und Jugendalter ist ein sehr seltenes, akutes, lebensbedrohliches Ereignis mit einer

jjPathogenese Eine zerebrale Ischämie kann durch einen embolischen Verschluss bzw. eine Stenose einer Hirnarterie oder durch einen hämodynamisch bedingten Abfall des zerebralen Perfusionsdrucks verursacht werden. Die daraus resultierende regionale oder globale Minderdurchblutung des Gehirns führt zu vorübergehenden oder dauer­ haften neurologischen Ausfällen. Bei Unterschreiten eines Durchblutungsgrenzwerts von etwa 20 ml/min pro 100 g Hirngewicht (normal: 50–70 ml/100 g/min) treten Störungen der neuronalen Funktion auf, bei Werten unter 12 ml/100 g/min kommt es – abhängig von der Dauer der Mangelversorgung – schließlich zu irreversiblen morphologischen Schäden. Diese sind im Zentrum einer Infarktregion am stärksten ausgeprägt (Nekrose aller Gewebsbestandsteile). Dagegen ist in der Infarktperipherie, der so genannten „Penumbrazone“, der Strukturstoffwechsel zunächst noch erhalten und die Schädigung bei rechtzeitiger Reperfusion dort prinzipiell reversibel (daher ist eine rasche Notfallversorgung der Patienten dringend geboten: „time is brain“!). Der komplette Verschluss eines Stammastes führt zu einem keilförmigen Territorialinfarkt im zugehörigen distalen Versorgungsgebiet mit Beteiligung der Hirnrinde und des subkortikalen Marklagers. Eine hämodynamisch bedingte Minderperfusion kann einen Wasserscheideninfarkt verursachen, der sich v. a. im Grenzbereich zweier benachbarter Gefäßterritorien manifestiert. jjÄtiologie Zur ätiologischen Zuordnung kindlicher Insulte muss nach einer Vielzahl sehr seltener Krankheitsursachen gesucht werden (. Tab. 8.10). Veränderungen der Hals- oder Hirngefäße lassen sich bei etwa 50% der Patienten nach einem Schlaganfall nachweisen: fokale zerebrale Arteriopathien können nach Infektionen (z. B. ­Varizellen, Borrelien, Mykoplasmen, viralen Infekten) auftreten, Dissektionen von Halsgefäßen nach Nacken- oder Schädeltrauma. Infektionen erhöhen das Risiko für einen Schlaganfall deutlich. Kardiale Vorerkrankungen liegen bei etwa 20% der Patienten vor. Bei der ätiologischen Vielzahl ischämischer Ursachen muss für die einzelnen seltenen Sonderformen auf Spezialliteratur verwiesen werden. jjDiagnostik Klinische Untersuchung  Akut auftretende neurologische Defizite lassen Rückschlüsse auf das betroffene Gefäßterritorium zu: bra-

chiofazialbetonte Hemiparese und Aphasie bei Beteiligung der mittleren Hirnarterie, beinbetonte Hemiparese im Gebiet der vorderen Hirnarterien, Hemianopsie, Ataxie, Schwindel, Nystagmus und Hirnnervenausfälle im Versorgungsgebiet des hinteren Hirnkreislaufs. Häufig geht ein Insult mit Bewusstseinsstörung und Erbrechen einher, in ca. 20% auch mit zerebralem Anfall. Bei der klinischen Untersuchung ist u. a. zu achten auf Traumazeichen, Haut- und Schleimhautblutungen, Herzrhythmus und ­-geräusche, Blutdruck, Strömungsgeräusche über Kopf und Hals, Augenhintergrundveränderungen (Blutungen, Papillenödem). Anamnestisch wichtig sind Hinweise auf frühere ischämische Ereig­ nisse, ein vorausgegangenes Trauma, ein bekanntes Vitium cordis, ­begleitende Entzündungen, Kopf- oder Nackenschmerzen. Bildgebende Verfahren  Im Verdachtsfall ist eine sofortige MRT-

Untersuchung durchzuführen. Diese muss neben den üblichen

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..Tab. 8.10  Ursachen ischämischer zerebraler Insulte des Kindes- und Jugendalters Kardiogene Embolie

Zyanotische Herzfehler, Rechts-links-Shunts, rheumatische Herzerkrankungen, Myokarditis, Endokarditis, Vorhofmyxom, Mitralklappenprolaps, Überleitungsstörungen und Arrhythmien, künstliche Herzklappen, Operation komplexer Herzvitien

Gefäß­ erkrankungen

Vaskuläre Dysplasien: idiopathisches und erworbenes Moyamoya-Syndrom, Neurofibromatose Typ 1, fibromuskuläre Dysplasie, vaskuläre Malformationen Bindegewebserkrankungen: Marfan-Syndrom, Ehlers-Danlos-Syndrom, Pseudoxanthoma elasticum Vaskulitis: systemischer Lupus erythematodes, Panarteritis nodosa, Morbus Behçet, Takayasu-Erkrankung, Purpura SchönleinHenoch, Kawasaki-Syndrom, hämolytisch-urämisches Syndrom Traumatische und andere Gefäßerkrankungen: Schädel- oder Halstrauma; Gefäßdissektion der A. carotis interna oder Vertebralarterien (traumatisch, idiopathisch oder familiär), perorales Stifttrauma der A. carotis interna, passagere vertebrale Okklusion bei übermäßiger Kopfdrehung

Hämatologische Erkrankungen und Gerinnungsstörungen

Sichelzellerkrankung, Polyzythämie, Thrombozytose (z. B. bei Eisenmangelanämie), Antithrombinmangel, Protein-C-Mangel, Protein-S-Mangel, APC-Resistenz bei Faktor-V-Leiden-G169A-Mutation, Prothrombin-G20210A-Variante, disseminierte intravasale Gerinnung, Antiphospholipidantikörpersyndrom, L-Asparaginasebehandlung bei Leukämien, methotrexatinduzierte Thrombose

Metabolische Erkrankungen

Dyslipoproteinämien, Erhöhung von Lipoprotein a, mitochondriale Enzephalomyopathie mit Laktatazidose und Schlaganfall (MELAS), Homozystinurie und Hyperhomozysteinamie z. B. bei Methylentetrahydrofolsäure-Reduktase-Mangel Propionazidämie, Carbohydrate-deficient-glycoprotein(CDG)-Syndrom, Harnstoffzykluserkrankungen, Sulfitoxidasemangel, Menkes-Disease, Fabry-Erkrankung

Infektiöse ­Ursachen

Bakterielle Meningitiden, tuberkulöse Meningitis, virale Erkrankungen (Post-Varizellen-Arteriopathie, Herpes zoster, HIV, Röteln, Coxsackie A9), Infektionen der Halsweichteile; vorausgehende (respiratorische) Infekte als Risikofaktor für Insulte

Verschiedenes

Insult bei Migräne, familiäre hemiplegische Migräne, Kokain- und Lösungsmittelabusus, Bestrahlungsfolge (v. a. bei Tumoren der Hirnbasis), Fettembolie, genetische Faktoren (z. B. COL4A1-Mutation)

8

S­ equenzen unbedingt auch diffusionsgewichtete Aufnahmen einschließen, da diese den Infarktkern bereits in der ersten Stunde nach Ischämie darstellen können. Die MR-Angiographie erlaubt eine ­rasche Beurteilung basaler Hirngefäße (Stenosen, Verschluss). Kontrastangehobene Sequenzen sind nur zum Ausschluss von Erkrankungen erforderlich, die einen Insult klinisch imitieren. Eine MRT-­ Untersuchung der Halsgefäße mit Fettsättigung sollte zum Ausschluss einer Gefäßdissektion angeschlossen werden. Eine cCT-Unter­ suchung ist bei Kindern diagnostisch nicht adäquat. Eine invasive Angiographie ist nur selten im Verlauf erforderlich (z. B. vaskulitische Veränderungen distaler Gefäße, unklare Infarktrezidive). Farbduplexsonographische Untersuchungen der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien können Hinweise auf Dissektionen, Gefäßstenosen oder -abbrüche geben. Kardiologische Diagnostik   Eine eingehende kardiologische ­ iagnostik muss zur Suche nach einer kardialen Emboliequelle D ­veranlasst werden, ggf. auch mittels transösophagealer Echokardiographie. Labor  Neben dem Übersichtslabor mit Gerinnungsanalysen und Lipidstatus umfassen spezielle laborchemische Kontrollen ein Thrombophiliescreening (Protein-C- und -S-Aktivität, Antithrombin, Faktor VIII, Faktor-V-Leiden-Mutation, Prothrombin-Genmutation, Antiphospholipidantikörpersuche, Lipoprotein a, Homocystein) sowie eine Vaskulitisdiagnostik (BSG, CRP, antinukleäre ­Faktoren, anti-dsDNA, C3, C4, ANCA, von-Willebrand-FaktorAntigen), infektiologische Diagnostik (Borrelien, Mykoplasmen, Varizella, Enteroviren u. a.), Serumlaktat und Ammoniak, Aminosäuren im Serum, organische Säuren im Urin, ggf. Hämoglobinelektrophorese sowie eine Liquoruntersuchung (mit Zellzahl, Eiweiß, Laktat, Varizella-IgM und PCR, ggf. weiteren Serologien). Beim kindlichen Schlaganfall sind oft mehrere Faktoren ursächlich beteiligt, daher ist auch beim Nachweis eines Risikofaktors ein vollständiges Untersuchungsprogramm erforderlich.

jjDifferenzialdiagnose Hirnblutungen gehen mit massiven Kopfschmerzen, Hirndruckzeichen und neurologischen Ausfällen einher. Die Abgrenzung gegen eine postkonvulsive Hemiparese (Todd-Lähmung) fällt nicht schwer. Die Symptome einer hemiplegischen Migräne bilden sich meist innerhalb weniger Stunden komplett zurück. Bei langsam oder akut einsetzender Hemiparese ist auch an Enzephalitiden, Hirnabszesse, Hirntumoren und eine multiple Sklerose zu denken. Neben der Konstellation klinischer Symptome ist die cMRT wegweisend. jjTherapie Allgemeine Maßnahmen  Die primäre Notfallversorgung auf In-

tensivstation soll eine Vergrößerung des Infarktkerns verhindern: Optimierung von Atmung und Kreislauf, Vermeidung einer arteriellen Hypotonie, Erhaltung von Normothermie, Normoglykämie und normalen Elektrolyten, Behandlung von Schmerzen und ggf. von zerebralen Anfällen.

Akuttherapie  Zur speziellen Akuttherapie des ischämischen Insults gibt es im Kindesalter bisher keine allgemein verbindlichen Leitlinien. Antikoagulation  Die primäre Rezidivprophylaxe erfolgt nach Ausschluss einer Blutung vorwiegend mit niedermolekularem ­Heparin. Bei Patienten mit nachgewiesener kardiogener Embolie

oder schwerer prothrombotischer Koagulopathie wird eine längerfristige Antikoagulation (mit niedermolekularem Heparin oder Phenprocoumon) eingeleitet. In den übrigen Fällen kann Acetylsalicylsäure (3–5 mg/kgKG) zur Rezidivprophylaxe eingesetzt w ­ erden. Thrombolyse und mechanische Thrombektomie  Bei Erwachsenen kann eine Fibrinolysebehandlung mit rt-PA („recombinant tissue plasminogen activator“) nach festgelegtem Protokoll bis ­maximal 4,5 h nach Beginn der Symptome durchgeführt werden. Zudem ist seit kurzem die Entfernung eines intravasalen Thrombus

207 Nervensystem

mit einem „Stent-Retriever“ möglich. Für das Kindes- und Jugendalter gibt es bisher hierfür keine prospektive kontrollierte Studie. Im Einzelfall kann in spezialisierten Schlaganfallzentren im interdis­ ziplinären Team die Indikation zur Thrombolyse oder Thromb­ ektomie nach eingehender Abwägung des Risikos gestellt und von hierin erfahrenen interventionellen Neuroradiologen durchgeführt werden („off label use“).

jjTherapie Wie bei Erwachsenen wird nun auch bei Kindern eine initiale Behandlung mit niedermolekularem Heparin empfohlen (auch wenn eine hämorrhagische Infarzierung besteht) mit anschließender oraler Antikoagulation über 3–6 Monate. Septische Thrombosen erfordern antibiotische Therapie. MRT-Kontrollen nach 3 und 6 Monaten werden empfohlen, ebenso augenärztliche Kontrollen über 1 Jahr.

Prognose  Die Mortalität des akuten Schlaganfalls liegt bei ­10–20%.

jjPrognose Die Mortalität in der Akutphase beträgt 3%, bei etwa 40% der ­Patienten bleiben neurologische Defizite zurück. Risikofaktoren für zerebrale oder systemische Thromboserezidive (Häufigkeit 3%) sind: unterlassene Antikoagulation, persistierende Okklusion bei MRT-Kontrolle nach 3 Monaten und Faktor-II G20210-Mutation.

Das Rezidivrisiko eines Schlaganfallrezidivs liegt bei etwa 6%; es ist v. a. bei Kindern mit zerebralen Arteriopathien erhöht. Bei ⅔ der Kinder und Jugendlichen bleiben dauerhafte neurologische Ausfälle zurück, deren Art und Ausmaß von Lokalisation und Ausdehnung des Infarkts abhängig ist. 8.12

Sinus- und Hirnvenenthrombosen

8.13

Kopfschmerzen und Migräne

M. Schöning

M. Schöning

jjEpidemiologie und Ätiologie Thrombosen zerebraler Venen sind sehr selten (jährliche Inzidenz 0,7/100.000). Disponierende Faktoren sind (einzeln oder kombiniert): prothrombotische Faktoren, Infektionen im HNO-Bereich, chronische Erkrankungen (hämatologisch-onkologisch, autoimmun, kardial); akute Dehydratation, perinatale Komplikationen und Sepsis finden sich bei Neugeborenen.

Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Beschwerden im Kindesund Jugendalter. Über 50% der Schulkinder leiden gelegentlich oder häufig an Kopfschmerzen vom Spannungstyp. Die Migräneprävalenz nimmt bis zur Pubertät auf 10–20% zu. Nach der Klassifikation der International Headache Society (IHS), die auch für das Kindes- und Jugendalter gilt, werden pri­ märe Kopfschmerzen (v. a. Migräne und Kopfschmerzen vom Spannungstyp) von sekundären Kopfschmerzen abgegrenzt. Sekundäre Kopfschmerzen treten bei entzündlichen kranialen Erkrankungen (z. B. Sinusitis) oder als Begleitsymptom intrakranieller Infektionen (Meningitis, Enzephalitis, Hirnabszess) auf. Zerebrale Raumforderungen äußern sich durch anhaltende, drückende Kopfschmerzen mit frontaler oder okzipitaler Betonung. Wie bei der Sinusitis nehmen die Schmerzen beim Vornüberbeugen und Pressen zu. Typisch sind Kopfschmerzen aus dem Schlaf heraus und Nüchternerbrechen! Oft zeigen sich zusätzliche neurologische Symptome, wie Ataxie, Hirnnervenausfälle und Paresen, die eine unbedingte Indikation für zerebrale Bildgebung (MRT) darstellen. Auch arteriovenöse Malformationen können einseitig lokalisierte, pulsierende Kopfschmerzen verursachen. Eine Subarachnoidalblutung geht mit maximalem Kopfschmerz (Vernichtungsschmerz) einher. Es ist daher eine wichtige Aufgabe des Kinderarztes, bereits mittels einer exakten Anamnese- und Befunderhebung die selteneren Fälle sekundärer Kopfschmerzen herauszufinden und ggf. einer bildgebenden Diagnostik (. Tab. 8.11) sowie einer adäquaten Therapie zuzuführen, in der großen Mehrzahl der primären Kopfschmerzfälle aber die oft sehr beunruhigten Patienten und Eltern sicher zu beraten und zu beruhigen.

jjPathophysiologie Die partielle oder komplette Thrombose von Hirn- oder Sinusvenen führt im vorgeschalteten Gefäßgebiet zur venösen Stase, zur Er­ höhung des Kapillardrucks und Ödembildung. Zudem kann es zu verminderter Liquorresoption in den Sinusvenen kommen. Mögliche Folgen sind eine hämorrhagische Infarzierung des regionalen Hirnparenchyms und eine Erhöhung des intrakraniellen Drucks. jjKlinik Die Symptome entwickeln sich oft subakut oder schleichend. Hirndruckzeichen können sich in Form heftiger Kopfschmerzen, ­Bewusstseinsstörungen jeden Grads, Stauungspapille und Sehstörungen einstellen. Eine hämorrhagische Infarzierung kann sich in fokal-neurologischen Ausfällen (Hemiparese, Hemianopsie, Aphasie) und in epileptischen Anfällen äußern. Eine Thrombose des Sinus transversus oder sigmoideus kann bei ungehindertem kontralateralem Abfluss symptomarm verlaufen. Eine relevante Abflussstörung äußert sich v. a. in Hirndruckzeichen. Thrombosen der inneren Hirnvenen führen zur hämorrhagischen Infarzierung der Thalami und können mit einem enzephalitis­ ähnlichen Bild mit Koma, zerebralen Krampfanfällen und extrapyramidalmotorischen Störungen in Erscheinung treten. Die gefürchtete septische Sinus-cavernosus-Thrombose geht meist auf eine Infektion der Orbita, der Nasennebenhöhlen oder der Haut im Mittelgesichtsbereich zurück. Sie manifestiert sich mit ­hohem Fieber, Chemosis, Protrusio bulbi und Hirnnervenläsionen. jjDiagnose Diagnostik der Wahl ist die MRT-Untersuchung (T2-, T2*- und T1Sequenzen) mit MR-Phlebographie. Die native, kraniale CT ist in 30% normal, die kontrastangehobene CT mit Phlebographie verbessert die Diagnostik deutlich. Die Lumbalpunktion zeigt nur in 30– 50% unspezifische Veränderungen. Analog zum ischämischen Insult sollte nach prothrombotischen Faktoren gesucht werden.

8.13.1 Migräne jjDefinition Nach der International Headache Society (IHS) ist die Migräne eine Erkrankung, die mit intermittierenden Kopfschmerzattacken in Kombination mit neurologischen und vegetativen Funktions­ störungen einhergeht. Bei einigen Patienten und bei einigen Attacken geht den Kopfschmerzen eine Aura voraus. jjÄtiologie, auslösende Faktoren In 70–90% findet sich eine familiäre Migränebelastung mit vermutlich polygenetischem Übertragungsmodus. Erwachsene Patienten

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208

E. Boltshauser et al.

..Tab. 8.11  Indikation zur zerebralen Bildgebung, möglichst mittels MRT, bei Kindern mit Kopfschmerzen Absolute Indikationen

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Relative Indikationen

Bei Erstmanifestation von Kopfschmerzen mit zentraler Parese, Ataxie, Dysarthrie, Hirnnervenausfall, Bewusstseinsveränderung oder epileptischem Anfall Bei auffälligem neurologischen Befund oder Stauungspapille Bei vorhandenem Liquorshunt Bei plötzlichem massivem Schmerz, Nackensteifigkeit (Blutung? → CT) Kopfschmerzen nehmen beim Husten oder Pressen zu (Sinusitis klinisch ausschließen) oder führen zu morgendlichem Erwachen oder Nüchternerbrechen Bei bekannter Grund- oder Systemerkrankung mit möglicher intrakranieller Beteiligung Persistierende oder häufig rezidivierende Kopfschmerzen einhergehend mit anhaltender Änderung des Verhaltens oder der kognitiven Funktionen Zunehmende Dauer, Intensität und Frequenz der Kopfschmerzen Kopfschmerz als Leitsymptom bei Kindern unter 6 Jahren

geben zu 90% an, dass externe und interne Faktoren (Lärm, Flackerlicht, Kälte, Qualm; bestimmte Nahrungsmittel; starke Emotionen, Stress oder Entlastung nach Stress, Konfliktsituationen; Änderung des Wach-Schlaf-Rhythmus; körperliche Anstrengung; Menstrua­ tion) an der Auslösung einer Migräneattacke beteiligt sind. Im Kindesalter wirkt gelegentlich ein harmloses Schädeltrauma auslösend. Insgesamt kommt es also auf dem Boden einer genetischen Disposition durch Änderung interner Zeitgeber, des Hormonspiegels oder des adrenergen Systems zu einer Modulation der inneren Reaktionsbereitschaft, sodass idiosysnkratische Triggerreize eine Migräne­ attacke auslösen können. j jPathogenese Der Pathomechanismus eines Migräneanfalls ist komplex und nicht ganz geklärt. Es liegt auf genetischer Basis eine neuronale Dysfunktion mit veränderter kortikaler Erregbarkeit und Imbalance im Hirnstamm mit resultierender erhöhter Sensitivität auf verschiedene Stimuli vor. Projektionen vom Locus coeruleus im Hirnstamm über einen trigeminovaskulären Reflex führen zur Freisetzung potenter vasoaktiver Substanzen („calcitonin gene related substance“ und Substanz P) mit Auslösung von Schmerzen und einer aseptischen Entzündungsreaktion, sowie zur sog. „cortical spreading depres­ sion“, die sich als kortikale Hypoprfusion langsam vom Okzipitallappen nach parietal und temporal ausbreitet und die Auraphänomene erklären kann. Die Mitbeteiligung weiterer Hirnstammzentren wie z. B. der Area postrema erklärt die vegetative Begleitsymptomatik (Übelkeit und Erbrechen). Migräne ohne Aura  Es handelt sich um wiederkehrende Kopf-

schmerzattacken, die im Kindesalter unbehandelt 1–72 h lang an­ halten und mindestens 2 der folgenden Charakteristika aufweisen: 44 einseitige Lokalisation (bei Kindern häufig bilateral, nur in 20–30% typische Hemikranie), 44 pulsierende Schmerzqualität (von jüngeren Kindern oft nicht zu beschreiben), 44 mittlere bis starke Schmerzintensität mit Einschränkung der Aktivitäten (Kinder legen sich freiwillig hin), 44 Verstärkung durch körperliche Belastung.

Die Kopfschmerzen müssen entweder von Übelkeit und/oder Erbrechen oder von Licht- und Lärmempfindlichkeit begleitet sein. Erst nach dem Auftreten von mindestens 5 gleichartigen Episoden kann die sichere Diagnose einer Migräne gestellt werden. Den Kopfschmerzen können unspezifische Prodromi (wie Reizbarkeit, Mattigkeit, depressive oder euphorische Stimmung, innere Unruhe, Heißhunger, häufiges Gähnen) vorausgehen. Während der Attacke können weitere vegetative Symptome wie Tachykardie, Blässe, Schweißausbruch, Kältegefühl und Zittern, Gesichtsrötung, Tränenfluss, Miktionsdrang und Durchfall hinzukommen. Meist beenden Ruhe und Schlaf die Kopfschmerzen. Im freien Intervall besteht Beschwerdefreiheit. Die Häufigkeit dieser Migräneform liegt bei 70%. Migräne mit Aura  Kennzeichen dieses in etwa 20% der Fälle ­auftretenden Migränetyps ist ein biphasischer Verlauf. Initial ent­

wickeln sich über mindestens 5 min fokale Reiz- oder Ausfalls­ erscheinungen (Aura), die in der Regel nach 20–60 min wieder ­vollständig abklingen und innerhalb einer Stunde nach Beginn­ der Aura von einer akuten Kopfschmerzattacke gefolgt werden. Kopfschmerzsymptomatik und vegetative Begleiterscheinungen gleichen denen der Migräne ohne Aura. Als Aurasymptome treten am häufigsten visuelle Phänomene auf (Flimmerskotome, Gesichtsfeldausfälle, verzerrte Wahrnehmung), weniger häufig sind peri­ orale  Parästhesien und Hemihypästhesien, seltener sind Sprach­ störungen. Als seltene Sonderformen der Migräne mit Aura sind aufzu­ führen: 44 Die Migräne mit Hirnstammaura (früher „Basilarismigräne“) geht mit zwei oder mehreren Aurasymptomen wie Dysarthrie, Schwindel, Tinnitus, Hörminderung, Doppelbilder, bilaterale Sehstörungen, Ataxie, Bewusstseinsstörung, bilateralen Parästhesien einher; eine motorische Schwäche besteht nicht. 44 Bei der hemiplegischen Migräne dominiert eine (reversible) motorische Schwäche; visuelle Phänomene, Parästhesien oder Taubheitsgefühl und Dysphasie können mit auftreten. Sporadische und familiäre Formen sind bekannt, letztere sind als ­Ionenkanalerkrankungen einzuordnen und auf Mutationen im CACNA1A-, ATP1A2- oder SCN1A-Gen zurückzuführen. 44 Die „ acute confusional migraine“ geht mit Verwirrungszustand, Agitation, Desorientierung (bis zu 24 h), Stupor und ­Gedächtnisstörung einher. 44 Die Aura ohne Kopfschmerz besteht aus isolierten, meist visuellen oder sensiblen Aurasymptomen. Migränekomplikationen  Migränekomplikationen sind sehr s­elten: Einzelfälle von ischämischen Insulten im Rahmen einer ­Migräneattacke wurden beschrieben; ein Status migränosus hält bis zu 72 h an; persistierende Auren können bis zu einer Woche dauern.

jjDiagnose >> Die typische, akute Kopfschmerzepisode (mit oder ohne Aura), die meist positive Familienanamnese und das beschwerdefreie Intervall führen zur richtigen Diagnose.

Neurologischer Befund und Funduskopie sind unauffällig. Das EEG kann eine unspezifische fokale Verlangsamung aufweisen. Eine Lum­ balpunktion ist nicht indiziert. Bei Kopfschmerzen und Migräne ist die Rate pathologischer Befunde in Computer- oder Kernspin­ tomographie des Gehirns sehr gering. In . Tab. 8.11 sind absolute und relative Indikationen für eine zerebrale Bildgebung bei Kopfschmerzen aufgeführt.

209 Nervensystem

jjTherapie Allgemeine Maßnahmen  Die Aufklärung der Eltern und des

­ atienten, dass es sich um eine passagere Funktionsstörung des GeP hirns (und nicht um einen Hirntumor) handelt, kann bereits zur deutlichen Reduktion der Anfallsfrequenz führen. Vor Beginn einer Behandlung und zur Evaluation der Therapiemaßnahmen ist das Führen eines Kopfschmerzkalenders unerlässlich. Therapie der akuten Migräneattacke  Für die Therapie der akuten Migräneattacke sind zunächst allgemeine, reizabschirmende Maßnahmen zu ergreifen: Rückzug in einen abgedunkelten Raum,

Kühlen der Stirn, Ruhelage und möglichst Schlaf. Ist zur medikamentösen Behandlung ein Analgetikum erforderlich, so sollte dies frühzeitig und ausreichend dosiert verabreicht werden: eingesetzt werden Ibuprofen (10–15 mg/kgKG/ED) und – mit geringerer Wirkung – Paracetamol (15 mg/kgKG/ED). Steht bei einem Migränepatienten bekanntermaßen starkes Erbrechen im Vordergrund, so sollten noch vor Gabe der Analgetika Antiemetika eingesetzt werden. Sie lindern die vegetativen Begleitsymptome, regen die Darmperistaltik an und verbessern die Resorption der Analgetika. Bevorzugt wird Domperidon (1 Tropfen pro kgKG/ED, max. 33 Tr/ED) eingesetzt. Bei schweren Attacken und Erfolglosigkeit der Analgetika können die 5-HT-Serotoninrezeptor-Agonisten Sumatriptan, (Dosis 10–20 mg) und Zolmitriptan (Dosis 5 mg) als Nasenspray zur Akuttherapie appliziert werden. Sie sind erst ab 12 Jahren zugelassen; Sumatriptan wurde in Studien bereits bei Kindern ab 6 Jahren erfolgreich eingesetzt. Nichtmedikamentöse Prophylaxe  Zur nichtmedikamentösen Prophylaxe werden verhaltensmodifizierende Maßnahmen (regel-

mäßiger Schlaf, Ausgleichssport, Entspannungstechniken, Biofeedback) erfolgreich eingesetzt. Kopfschmerztherapieprogramme mit Aufklärung der Patienten und der Eltern über die mögliche Schmerzgenese, Anleitung zu Schmerzbewältigung und Stressabbau, Elimination von individuellen Triggerfaktoren und Noxen (z. B. ­bestimmte Nahrungsmittel, Tabakrauch) sind von wesentlicher Bedeutung. Medikamentöse Dauerprophylaxe  Sie ist nur indiziert bei mehr als 3 Attacken pro Monat, die auf adäquate Medikation unzureichend ansprechen, sowie mit unerträglicher Schmerzintensität und langer Dauer einher gehen. Eingesetzt werden vorwiegend Kalziumkanalblocker (Flunarizin, 5–10 mg/Tag; Nebenwirkung Müdigkeit und Gewichtszunahme) und β-Rezeptorenblocker (Metoprolol oder Propranolol; einschleichende Dosierung, Enddosis 1–2 mg/kgKG/ Tag, Kontraindikationen sind Asthma bronchiale und AV-Über­ leitungsstörungen), daneben auch Magnesium, Acetylsalicylsäure (2–3 mg/kgKG/Tag) und Pestwurz (Phytotherapeutikum). Das bei Erwachsenen eingesetzte Antikonvulsivum Topiramat und das ­trizyklische Antidepressivum Amitryptilin zeigten sich in einer jüngst publizierten, prospektiven placebokontrollierten Doppelblindstudie an Kindern und Jugendlichen als nicht wirksam.

jjPrognose Während der Pubertät kann es zu einer spontanen Remission der Migräne kommen. Nur etwa ¼ aller Kinder wird vor dem 25. Lebensjahr migränefrei, etwas mehr als 50% leidet im Alter von 50 Jahren noch unter Migräneattacken.

8.13.2 Andere Kopfschmerzursachen Spannungskopfschmerzen  Diese sind bei Kindern und Erwach-

senen die häufigste Kopfschmerzform. Auch hier handelt es sich um episodische Kopfschmerzen mit beschwerdefreiem Intervall. Die meist bilateralen, häufig frontal lokalisierten Kopfschmerzen von dumpfem Schmerzcharakter treten nicht attackenhaft auf. Beginn und Ende sind unscharf begrenzt, die Dauer beträgt Stunden bis mehrere Tage. Die leichte bis mittlere Schmerzintensität führt kaum zur Einschränkung der täglichen Aktivität. Vegetative Begleitsymptome sind selten. Auslöser sind u. a. emotionale Anspannung, Schlafmangel und Wetterwechsel. Ein Kopfschmerzkalender sollte zur Bestandsaufnahme vor Therapie und zur Therapiebegleitung geführt werden. Zum Einsatz kommen v. a. Ibuprofen und Paracetamol. Bei häufigen Kopfschmerzen erscheinen Kopfschmerztherapieprogramme sinnvoll (7 Abschn. 8.13.1). Von wesentlicher Bedeutung erscheinen lebenspraktische Maßnahmen: Stressvermeidung, geregelte Lebensführung, Elimination von Noxen (wie z. B. Tabakrauch), roborierende Maßnahmen, Ausdauersport, Entspannungstraining. Seltene Kopfschmerzformen  Seltene Kopfschmerzformen wie Clusterkopfschmerz, paroxysmale Hemikranie und Trigeminusneuralgie sind im Kindesalter extrem selten und zeichnen sich durch heftigste, streng unilaterale Kopfschmerzen aus.

8.14

Traumatische Schädigungen ­ des Nervensystems

O. Ipsiroglu 8.14.1 Schädeltrauma Von einem Schädeltrauma spricht man bei einer traumatischen Schädigung des Schädelknochens ohne zusätzliche Schädigung des Gehirns. Frakturformen  Bei 75% der Schädelfrakturen liegen lineare ­Frakturen (meist temporoparietal) vor. Lineare Frakturen heilen in-

nerhalb von 1–2 Monaten, eine spezifische Behandlung ist nicht erforderlich. Dennoch besteht v. a. bei temporoparietalen oder sagittalnahtnahen Frakturen das Risiko für eine zusätzliche Epiduralblutung. Bei linearen Frakturen ist daher eine strenge Überwachung bzw. die prompte Durchführung eines CT notwendig. Ein subkutanes Hämatom im Bereich des Mastoids ist ein Hinweis für eine basale Schädelfraktur. Bei Blutaustritt aus den Ohren muss an eine Felsenbeinfraktur gedacht werden. Der Verlust von liquorhaltiger Flüssigkeit aus der Nase ist ein Hinweis für eine frontobasale Schädelbasisfraktur. Bei einer Impressionsfraktur ist wegen der Gefahr einer Verletzung des darunter liegenden Hirngewebes eine operative Anhebung des unter dem Niveau liegenden Knochenfragments notwendig. Bei der wachsenden Fraktur kommt es durch einen Durariss und eine Interposition von Hirnhäuten und Hirn zu einer kontinuierlichen Erweiterung des Frakturspalts. !! Cave Ein Schädeltrauma kann zu einer Epidural- bzw. Subdural­ blutung führen.

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210

E. Boltshauser et al.

Das Risiko einer Blutung ist bei einer Schädelfraktur wesentlich ­größer als ohne Fraktur. Daher sollte bei Kindern nach Sturz vom Hochbett, Wickeltisch etc., auch wenn sie klinisch neurologisch unauffällig sind, ein Schädelröntgen durchgeführt werden. Im Falle einer Fraktur sollte das Kind stationär aufgenommen und bis zu 24 h überwacht werden. 8.14.2 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Das diffuse SHT ist durch eine Störung der Bewusstseinslage charakterisiert. Bei einem umschriebenen SHT stehen dagegen die neurologischen Ausfälle und lokalen Verletzungszeichen im Vordergrund. Schädel-Hirn-Traumen werden je nach Dauer der Bewusstseinsstörung und je nach dem zusätzlichen Vorhandensein von neurologischen Zeichen in leichtes, mittleres und schweres Schädel-HirnTrauma (SHT 1–3) eingeteilt.

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..Abb. 8.18  MRT bei „battered child“: ältere und subakut imponierende Parenchymläsionen, jeweils links okzipital Parenchymnekrose (1) und rechts okzipital Blutung (2)

Leichtes Schädel-Hirn-Trauma (SHT 1) Klinisch kann beim leichten SHT die Bewusstseinsstörung bis zu 1 h dauern, neurologische Zeichen/Ausfälle sind nicht vorhanden. Die retrograde Amnesie (Erinnerungslücke für die Zeit vor dem Unfall) ist typischerweise kurz. Erbrechen und vegetative Regulationsstörungen sind für ein leichtes SHT typisch aber nicht obligat. Therapeutisch erfordert das leichte, unkomplizierte SHT in der Regel keine weiteren Maßnahmen. Bei nachgewiesener oder ver­ muteter Bewusstseinsstörung sollte aber eine 24-stündige Über­ wachung (Vigilanz, Atmung, Puls, Blutdruck, Pupillenreaktion) ­gesichert sein. Als kurzfristige Folge eines leichten Schädel-Hirn-Traumas kann es zu Kopfschmerzen, Verhaltens- und Konzentrationsstörungen kommen (postkommotionelles Syndrom). Langzeitprobleme treten nach SHT-1 üblicherweise nicht auf.

tible Vorgeschichte, könnte ebenso wie das Vorliegen von weiteren, etwa im Haut- und Weichteilbereich lokalisierten Auffälligkeiten den Verdacht auf ein nicht akzendentelles Trauma (Kindesmisshandlung) wecken. Eine erweiterte röntgenologische Dokumenta­ tion ist dann indiziert. Das Schütteltrauma („Shaken-baby-Syndrom“) stellt eine besondere Verletzungsform des nicht akzidentellen Schädeltraumas kleiner Kinder dar. Es ist gekennzeichnet von subduralen Blutungen, und nicht selten auch intraparenchymatösen Läsionen (. Abb. 8.18). Von augenärztlicher Seite können Fundusblutungen registriert ­werden. Schädelfrakturen sind immer suspekt, wenn sie nicht linear sind und mit subduralen Hämatomen einhergehen (7 Kap. 32).

Mittleres und schweres Schädel-Hirn-Trauma ­(SHT-2 und 3)

8.14.3 Sonstige Manifestationen von

Definitionsgemäß gehen das SHT-2 und SHT-3 mit Bewusstseinsstörung zwischen 1 und 24 h (SHT-2) bzw. von mehr als 24 h (SHT-3) einher. Meist liegen auch spezifische neurologische Ausfälle vor. Für die klinische Beurteilung des Verlaufs der Bewusstseins­ störung wird üblicherweise die Glasgow-Koma-Skala (GCS) ­verwendet: Dabei werden einfache Funktionen wie Augenöffnen (spontan bzw. auf Anruf oder auf Schmerzreize) sowie die beste verbale Reaktion und die beste motorische Reaktion (im optimalen Fall eben auf Aufforderung) jeweils mit einer bestimmen Anzahl von Punkten festgehalten. Die maximal erreichbare Punktezahl ist­ 15 (keine Bewusstseinsstörung). Beim leichten SHT liegt defini­ tionsgemäß die Punktezahl zwischen 13 und 15 vor, beim schweren SHT sind Werte zwischen 3 und 8 zu erwarten. Therapeutisches Ziel ist die Aufrechterhaltung des zerebralen Perfusionsdrucks. Dieser hängt vom intrakraniellen Druck (Ausmaß des Hirnödems), vom systemischen Blutdruck und von der zerebralen Autoregulationskapazität ab. Die Stabilisierung des systemischen arteriellen Blutdrucks wird medikamentös und mittels ­Volumenbilanz gesteuert. Das Management des Hirnödems bein­ haltet die Gabe von hyperosmolaren Lösungen, Volumenbilanz, kontrollierte Hyperventilation und evtl. osteoklastische Entlastung.

Nicht akzidentelles Schädel-Hirn-Trauma Bei SHT gilt es nicht nur, die Behandlung des Verletzten optimal zu gestalten, sondern auch den „Blick nach hinten“ zu richten. Eine mit den Befunden (Art und Zeitpunkt der Verletzung) schwer kompa-

­Schädeltraumen

Epiduralhämatome (. Abb. 8.19) entstehen durch eine Verletzung

und Blutung einer Meningealarterie, meist der A. meningea media, zwischen Knochen und Dura. Klinisch kommt es oft nach einem symptomarmen Intervall, das manchmal länger als bei Erwachsenen ist, zu einer Bewusstseinsstörung bzw. zu neurologischen Ausfällen. Das Epiduralhämatom kommt in der CT klar zur Darstellung. Die therapeutische Versorgung des klinisch relevanten Epidural­ hämatoms erfolgt durch den Neurochirurgen. Akute subdurale Hämatome entstehen durch Läsionen der Brückenvenen. Sie sind nicht selten mit intrakraniellen Kontusionen oder Hämorrhagien verbunden. Auch sie kommen im CT klar zur Darstellung. Das Vorgehen ist dann unter Beachtung des computertomographischen und klinischen Befunds mit den Neurochirurgen zu besprechen. Tentoriumrissblutungen kommen als schwere, meist letale Komplikation nach traumatischer Geburt vor. Eine intrakranielle Druckerhöhung (z. B. aufgrund einer Blutung oder eines Ödems) kann zu Herniation (Einklemmung) von Hirngewebe führen. Der Tentoriumschlitz einerseits (in Höhe des Mittelhirns) und der kraniozervikale Übergang auf Höhe des Hinterhauptlochs stellen die beiden wichtigsten Gefährdungsstellen dar. Die Kenntnis der dann auftretenden Hirnstammsyndrome und ­deren Dynamik ist von großer Bedeutung für die richtige Einschätzung entsprechender Komplikationen. So stehen beim dienzephalen Syndrom die Bewusstseinsstörung, die Zeichen der pyramidalen

211 Nervensystem

8.15

Entzündliche Erkrankungen ­ des Nervensystems

S. Stöckler-Ipsiroglu, K. Rostasy

..Abb. 8.19  CT eines epiduralen Hämatoms (1) mit raumforderndem ­Effekt und Ventrikelkompression (2)

bzw. extrapyramidalen Schädigung bis hin zu tonischen BeugeStreck-Synergien bei erhaltenen Hirnstammreflexen und engen Pupillen im Vordergrund. 8.14.4 Verletzungen von Rückenmark, Nerven-

wurzeln und peripheren Nerven

Querschnittlähmungen Spinale Verletzungen führen meist zu Querschnittlähmungen, die komplett oder inkomplett sein können. >> Typischerweise besteht unterhalb der Läsion durch Verletzung der langen Bahnen, eine spastische Parese mit Sensibilitätsstörung und Dysfunktion von Blase und Mastdarm. Auf Höhe der Läsion besteht durch Verletzung des 2. Motoneurons eine schlaffe Lähmung.

Eine hohe Querschnittlähmung ist u. a eine sehr seltene geburts­ traumatische Komplikation. Da sich die kaudal der Läsion zu er-

wartende Spastizität klinisch nicht unmittelbar nach dem Trauma manifestiert, muss gerade bei Neugeborenen mit schlaffer Parese aller Extremitäten und Ateminsuffizienz an diese seltene geburtstraumatische Verletzung gedacht werden. Die Darstellung der Läsion erfolgt mittels spinalem MRT. Wenn operative Maßnahmen indiziert sind (z. B. Dekompression), müssen diese zeitlich rasch nach dem Unfall/Trauma stattfinden um eine evtl. Restfunktionen zu erhalten.

Plexusverletzungen Verletzungen des Plexus brachialis sind meist geburtstraumatisch bedingt. Je nach Höhenlokalisation der betroffenen Segmente unterscheidet man eine obere Plexuslähmung (Erb-Lähmung C5 und C6) und die untere Plexuslähmung (Klumpke C7 und C8). Klinik und sonstige geburtstraumatische Läsionen des Nervensystems 7 Kap. 4.

Entzündliche Reaktionen des Nervensystems umfassen ein weites Spektrum von Erkrankungen und sind entweder bedingt durch primär erregerbedingte oder autoimmunologische Ursachen, die verschiedenen Strukturen des Gehirns wie graue und weiße Substanz, Gefäße der Gehirn und die Meningen betreffen. In die Gruppe der primär infektiösen Erkrankungen des Nervensystems fallen v. a. die bakterielle und virusbedingte Meningitis, die primär infektiöse meist virusbedingte Enzephalitis und der Hirnabszess im Rahmen einer Sinusitis, Otitis media oder Trauma. Eine Sondergruppe stellen immunsupprimierte oder Kinder mit Immundefekten dar, die bei einer Vielzahl von Erregern (z. B. Viren, Pilzen) akute/subakute Verlaufsformen einer Meningoenzephalitis entwickeln können. In die Gruppe der autoimmunologisch-mediierten Erkran­ kungen des Nervensystems fallen Erkrankungen, die entweder die weiße oder die graue Substanz betreffen, peripher oder zentral sich manifestieren und unterschiedliche anatomische Prädilek­ tionsorte ­haben. Die akute entzündliche Polyradikuloneuritis (Guillain-Barré-Syndrom) z. B. betrifft fast auschließlich das periphere Nervensystem. Die disseminierten Enzephalomyelitis (multiple Sklerose, MS) und die akut disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) sind durch eine Affektion der weißen Substanz charakte­ risiert. Eine neue Krankheitsentität bzw. Krankheitskonzept stellt die nach einer HSV-Enzephalitis auftretende NMDA-Rezeptor-Antikörper-Enzephalitis. Hier wird angenommen, dass durch die primäre Gewebsschädigung eine zweite autoimmunologische Erkrankung in Gang gesetzt wird, die zwingend immunmodulatorisch behandelt werden muss (7 Abschn. 8.15.2.1). Seltene Erkrankungen, die viele Hinweise für eine autoimmune Pathogenese haben sind die Hashimoto-Enzephalitis, die Rasmussen-Enzephalitis und das Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom. Die subakut sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) hat eine Sonderstellung zwischen viralgetriggerter Erkrankung und fehlender Wirtsantwort. Eine weitere Gruppe stellt die zerebrale Vaskulitis dar, die entweder primär/isoliert oder sekundär im Rahmen von rheumatischen Erkrankungen (z. B. Lupus erythematodes, Panarteritis nodosa) auftreten kann. jjKlinik Die Klinik der entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems ist heterogen. Sie hängt davon ab, ob es durch das auslösende Agens primär zu einer Schädigung der Neuronenzellen (Polioenzephalitis, Poliomyelitis) oder der Myelinscheiden (Leukenzephalitis) kommt und welche anatomischen Strukturen und Funktionseinheiten von der Entzündung betroffen sind (Zerebellitis, Myelitis, Radikuloneuritis). Ein weiteres Kriterium ist, ob es sich um eine akute, einmalige Manifestation mit oder ohne Residualsymptomatik (z. B. Meningitis, Enzephalitis) oder um einen chronisch progressiven (z. B. SSPE) oder rezidivierenden Verlauf (z. B. MS, NMOSD) handelt. jjDiagnostik Diagnostisch kommt bei allen Formen der entzündlichen Er­kran­ kungen des Nervensystems der Untersuchung des Liquor cerebrospinalis eine zentrale Bedeutung zu. Die einzelnen Bestimmungsgrößen im Liquor und deren Bedeutung für die Diagnose ­von

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212

E. Boltshauser et al.

..Tab. 8.12  Diagnostische Aussagekraft der gängigsten Untersuchungen im Liquor cerebrospinalis Farbe

Zellzahl, Zellbild

Eiweiß

8 Glukose

Bakterienkultur, Gramfärbung

Virologie

Normal

Farblos und klar

Pathologisch

Trüb: eitrige Meningitis Xanthochrom: Extrem hoher Eiweißgehalt bei Sperrliquorsyndrom (Spinale Raumforderung, ältere Blutung) Blutig: blutige Punktion, Blutung (subarachnoidal)

Normal

8 Jahre und >50 kgKG: Doxycyclin 200 mg/Tag in 2 ED für 4 Wochen p.o. Die Prognose ist gut. 8.15.2 Enzephalitis jjDefinition Die Enzephalitis ist v. a. eine entzündliche Erkrankung des Hirnparenchyms. Eine Ursache der Enzephalitis sind virale Infektionen. Die Erreger können eine akut entzündliche Reaktion hervorrufen (z. B. Herpesenzephalitis). Sie können aber auch nach primär asymptomatischem Befall im ZNS persistieren und erst zu einem späteren Zeitpunkt eine Krankheitsmanifestation mit einem subakut chronischen Verlauf hervorrufen (z. B. subakut sklerosierende Panenzephalitis nach Maserninfektion). Bei para- und postinfektiösen Enzephalitiden stehen immunmediierte Prozesse, die als Reaktion auf eine vorhandene oder ab­

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E. Boltshauser et al.

gelaufene Virusinfektion entstanden sind, im Vordergrund (z. B. Rötel-, Mumps-, Masernenzephalopathie). Die histopathologischen Korrelate für immunmediierte Prozesse sind perivaskuläre inflam­ matorische Reaktionen v. a. in der grauen Substanz und Demyelina­ tion. Eine dritte Gruppe von Enzephalitiden sind antikörpervermittelte Erkrankungen wie die NMDAR-Enzephalitis, die bei Mädchen häufig mit einem ovariellen Teratom assoziert ist, aber auch u. a postinfektiös auftreten kann. j jÄtiologie Die wichtigsten Erreger der Enzephalitis sind Herpesviren. Weiterhin können Retro-, Zytomegalie- (CMV), Ebstein-Barr- (EBV), ­Papova- (Polyomavirus, Papillomavirus), FSME- oder Adenoviren eine Enzephalitis verursachen. In Ländern, in denen nicht routinemäßig gegen Masern geimpft wird, sind Masern die häufigste ­Ursache der postinfektiösen Enzephalitis. Prionen (Kuru-Kuru, ­Jacob-Creutzfeldt-Erreger) kommen als potenzielle Erreger einer chronischen Enzephalitis in Frage.

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jjPathogenese Viele Viren bevorzugen aus noch nicht gut verstandenen Gründen bestimmte Regionen des ZNS. So befällt z. B. das Poliovirus in ­erster Linie die grauen Vorderhornzellen des Rückenmarks (Poliomyelitis) und das Herpes-simplex-Virus 1 den Temporallappen der Hemisphären. Andere Viren befallen bevorzugt die graue Substanz des Hirnmantels oder die Übergangszone von der grauen in die ­weiße Substanz. Die Viren können in Neuronen oder Ganglien des ZNS in einem Latenzstadium verharren und sich dort reaktivieren, replizieren und in andere Hirnteile ausbreiten. jjKlinik Eine akute virale Enzephalitis fällt fast immer durch eine febrile Erkrankung auf. Neben den Allgemeinsymptomen Fieber und Kopfschmerzen sind die häufigsten klinischen Zeichen Bewusstseinsund Gedächtnisstörungen, Desorientiertheit, Änderungen des Verhaltens und der Sprache, fokale/multifokale epileptische Anfälle sowie neurologische Defizite insbesondere fokaler Art, wie zerebrale motorische und/oder sensible Ausfälle. Das EEG zeigt als ­Ausdruck eines fokalen elektrischen Status häufig periodische, lateralisierte epileptische Entladungen und eine generalisierte Verlangsamung. Nach Abklingen der akuten Entzündungsreaktion kann ein nicht progredienter (Residual)defekt den weiteren klinischen Verlauf bestimmen. In diesem Zusammenhang sind v. a. fokale Epi­ lepsien, fokale motorische Ausfälle, häufig aber auch diffuse Defektsyndrome mit Verhaltens-, Aufmerksamkeits- und Lernstörungen zu nennen. Die durch Persistenz von bestimmten Masernviren verursachte subakut sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) manifestiert sich erst Jahre nach der primären (Masern)virusinfektion v. a. getriggert durch einen anderen interkurrenten viralen Infekt. Bei der SSPE liegt aufgrund einer progredienten Verschlechterung der klinischen Symptomatik ein neurodegenerativer Verlauf vor. Die FSME ist durch einen 2 gipfligen Verlauf gekennzeichnet. Nach einer Phase mit unspezifischen viralen Symptomen mit Fieber, Malaise kommt es nach einem fieberfreien Intervall zu erneuten Symptomen mit insbesondere sehr starken Kopfschmerzen und anderen neurologischen Symptomen. Im EEG zeigt sich eine generalisierte Verlangsamung, in der Liquorpunktion eine Pleozytose und deutliche Proteinerhöhung. Im MRT des Gehirns finden sich häufig Basalganglienläsionen.

jjDiagnose Die Diagnose einer Enzephalitis wird durch die anamnestischen Symptome und klinischen Befunde vermutet und durch Liquor- und serologische Untersuchungen bestätigt. Weitere – aber unspezifische – diagnostische Hinweise sind das EEG, evozierte Potenziale, und Magnetresonanztomographie. jjTherapie Die Behandlung erfolgt in Abhängigkeit vom Erreger und vom Schweregrad der Erkrankung. >> Da bei einem enzephalitischen Zustandsbild die Hepesenzephalitis (HSV 1) a priori nicht ausgeschlossen werden kann, und die Herpesenzephalitis die einzige virale Enzephalitis ist, bei der eine kausale (antivirale) Therapie zur Verfügung steht, ist schon beim geringsten klinischen Verdacht auf eine Enzephalitis die Therapie mit Aciclovir zu beginnen und eine ­HSV-PCR im Liquor durchzuführen!

Aciclovir wird in einer Dosierung von 15–30 mg/kgKG, in schweren Fällen aber in einer Dosierung von 30–50 mg/kgKG/Tag in 3–4 Einzeldosen als Kurzinfusion verabreicht. Falls sich im Rahmen der Diagnostik eine andere Ursache für die Symptomatik herausstellt, kann die Therapie mit Aciclovir vorzeitig abgebrochen werden. jjProphylaxe Die Prophylaxe der viralen Enzephalitis erfolgt durch Impfungen (7 Kap. 17) wie Polio, Masern, Mumps und Röteln. In Endemiegebieten (Süddeutschland, Österreich) sollte auch eine aktive Immunisierung gegen die durch Zeckenbiss übertragenen Erreger der Frühsommermeningoenzephalitis (FSME) durchgeführt werden. Die FSME-Impfung wird nach dem ersten Lebensjahr in 3 Teilimpfungen im Abstand von 4 Wochen und 1 Jahr durchgeführt. !! Cave Bei Exposition von nicht aktiv gegen FSME immunisierten Kindern wird von einer passiven Immunisierung mit Immunglobulinen aufgrund der Nebenwirkungen abgeraten.

Von Impfgegnern wird häufig das Argument eines Impfschadens gebracht. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Risiko einer ZNSKomplikation nach spontaner Masernerkrankung mit 1/1.000– 1/2.000 angegeben wird. Dieses Risiko wird durch die Masernimpfung etwa auf 1/1 Mio. gesenkt! Auch im Rahmen einer FSME sind schwere neurologische Verläufe möglich, sodass auch hier die Impfung insbesondere in Endemiegebieten empfohlen ist.

Autoantikörpervermittelte Enzephalitiden Antikörpervermittelten Enzephalitiden wurden in den letzten Jahren zunehmend beschrieben. Antikörper richten sich v. a. gegen Oberflächenantigene von Nervenzellen und führen zu einer Vielzahl von Symptomen. Die mit Abstand häufigste Form im Kindesalter stellt die NMDA-Rezeptor-Enzephalitis dar, die durch Antikörper gegen den NMDA-Rezeptor ausgelöst wird. Im Gegensatz zu Erwachsenen finden sich nur selten andere Formen einer antikörpervermittelten Enzephalitis. jjKlinik Die Erkrankung beginnt oft mit unspezifischen Symptomen wie ­innere Unruhe, Schlaflosigkeit, Verwirrtheit, gefolgt von psychiatrischen Symptomen wie visuellen und auditiven Halluzinationen. In der weiteren Folge kommt es zu epileptischen Anfällen und Bewegungsstörungen und z. T. schweren autonomen Beeinträchtigungen (Temperaturinstabilität, Herzrythmusschwankungen), die eine in-

215 Nervensystem

tensivmedizinische Betreuung erfordern. Zunehmend werden aber auch abortive Formen beschrieben ausschließlich mit fokalen Anfällen oder Verläufe mit rein psychiatrischen Symptomen.

jjTherapie Die Therapie ist supportiv. Motorische Defizite sind nach Poliomyelitis häufig und erfordern eine rehabilitative Langzeitbetreuung.

jjDiagnose Nachweis von NMDA-Rezeptor-Antikörpern im Serum und/oder Liquor (20% der Patienten haben nur Ak im Liquor!!); bei Mädchen unbedingt ein ovarielles Teratom ausschließen! Im Liquor zeigt sich häufig eine Zellzahlerhöhung, selten positive oligoklonale Bande.

jjPrognose Das Postpoliosyndrom kann Jahre nach der primären Infektion zu einer progressiven Atrophie und Verlust der Muskelkraft in den von der primären Infektion befallenen Muskelgruppen führen. Die ­Ursache für das Auftreten des Postpoliosyndroms ist nicht bekannt.

jjTherapie Hochdosierte Kortisonpulstherapie, Immunglobuline. Bei fehlendem Ansprechen rasche Gabe von Rituximab oder Cyclophosphamid. 8.15.3 Poliomyelitis jjÄtiologie Die Poliomyelitis wird durch eine Infektion v. a. mit Polioviren (Gruppe: Picornaviren), in seltenen Fällen auch von Cocksackieund Echoviren hervorgerufen. Poliovirensind Enteroviren und umfassen 3 immunologisch unterschiedliche (nicht kreuzreagierende) Typen. Die Infektion erfolgt über Sekrete des Nasopharyngealtrakts oder über fäkale Kontamination. jjPathogenese Pathogenetisch steht bei Poliomyelitis ein primärer Virusbefall der motorischen Vorderhornzellen im Vordergrund. jjEpidemiologie In den Ländern (z. B. Europa, Nordamerika) mit flächendeckender Impfung gegen Poliomyelitis ist die Erkrankung sehr selten. In Entwicklungsländern ist sie jedoch nach wie vor eine häufige Ursache von persitierenden Lähmungen bei Kindern und Erwachsenen. >>Cave Aufgrund der abnehmenden Impffreudigkeit unserer Bevölkerung, des zunehmenden Reisetourismus in Länder ohne wirksame Impfprogramme und auch aufgrund der zunehmenden Migration sollte das klinische Bild der Poliomyelitis trotz ihrer gegenwärtigen Seltenheit nicht in Vergessenheit geraten.

jjVerlauf Der klinische Verlauf der Poliomyelitis ist biphasisch. 44 In der 1. Phase treten Fieber, Pharyngitis, und gastrointestinale Symptome auf. 44 In der 2. Phase kommt es zu Nackensteifigkeit und Rückenschmerzen (im Sinne einer aseptischen Meningitis) sowie zu einer langsam progressiven charakteristischerweise asym­ metrischen Muskelschwäche (im Sinne der Schädigung des 2. Motoneurons). Es sind vorwiegend die spinalen Moto­ neurone betroffen, bulbäre Motoneuronen (Hirnnervenlähmungen) selten. jjDiagnose Im Liquor findet sich eine monozytäre Pleozytose, das Liquoreiweiß kann geringfügig erhöht sein. Zum Erregernachweis muss eine ­Bestimmung der Virus-DNA erfolgen (. Tab. 8.13).

8.15.4 Transverse Myelitis Die transverse Myelitis (TM) wird primär durch Virusinfektionen oder durch assoziierte immunmediierte Prozesse verursacht. Es handelt sich um eine seltene Erkrankung. jjKlinik Meist kommt es innerhalb weniger Stunden oder im Verlauf eines Tages zu einer akut oder subakut auftretenden inkompletten Querschnittlähmung. Diese kann auf jedem spinalen Niveau vorkommen. Je nach Ätiologie ist entweder das Zervikalmark (bei MS) oder der untere Bereich des Thorakalmarks betroffen. Typisch ist eine plötzlich auftretende Schwäche und Lähmung der Beine. Bei der klinisch-neuropädiatrischen Untersuchung fällt neben der Parese der Beine auch eine Hypo- oder Areflexie auf. Da der gesamte Querschnitt des Myelons betroffen ist, sind neben den motorischen auch sensible Ausfälle im Sinne von Hypo- und/oder Parästhesien distal vom erkrankten Segment typisch. Weiterhin typisch sind akute ­Störungen der Spinkterfunktionen von Blase und Enddarm (Analreflex?). Schmerzen werden selten berichtet und sollten immer an einen Tumor denken lassen. jjDiagnose Die diagnostischen Kriterien und die differenzialdiagnostische ­Abgrenzung der TM (Schädigung des gesamten Querschnitts des Myelons) von der Poliomyelitis (Schädigung der motorischen Vorderhornzellen) und von der akuten Poliradikuloneuritis (GuillainBarré-Syndrom, Schädigung der Nervenwurzeln) sind in . Tab. 8.13 zusammengefasst. jjPrognose Die TM verursacht auch bei rascher Behandlung mit Kortikoiden, Immunglobulinen und konsequenter Physiotherapie in über 50% der Fälle Folgeschäden im Sinne von spastischen Lähmungen, anhaltenden Störungen der Sphinkterkontrolle oder dissoziierten Empfindungsstörungen distal von der betroffenen Region des Myelons führen. Eine TM kann isoliert oder im Rahmen anderen Erkrankungen wie der MS, NMOSD, insbesondere wenn sie mit einer langstreckigen Läsion im Rückenmark einhergeht, auftreten. Auch bei einer akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) 7 Abschn. 8.15.7 wird häufig eine TM beschrieben. 8.15.5 Akute Polyradikuloneuritis

­(Guillain-Barré-Syndrom)

7 Kap. 9 und . Tab. 8.13.

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E. Boltshauser et al.

..Tab. 8.13  Differenzialdiagnostische Abgrenzung der wichtigsten entzündlichen Erkrankungen des Rückenmarks

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Poliomyelitis

Transverse Myelitis

Poliradikuloneuritis

Ursache

Primär viral (Polioviren)

Primär viral oder immunmediiert nach abgelaufener Virusinfektion

Immunmediiert nach abgelaufener Virusinfektion

Ort der Schädigung

Spinale Motoneurone (selten bulbäre Motoneurone)

Myelon segmental

Nervenwurzeln und periphere Nerven, bulbäre Hirnnerven häufig mitbetroffen

Motorische Ausfälle

Asymmetrisch schlaffe Lähmung, MER negativ, Muskelatrophie

Symmetrische, zuerst schlaffe Lähmung, MER negativ, später distal des befallenen Segments spastische Lähmung, MER ++

Symmetrisch aufsteigende, schlaffe Lähmung, MER negativ

Sensible Ausfälle

Keine

Distal des befallenen Segments

Keine in typischen Fällen

Autonome Ausfälle

Keine

Distal des befallenen Segments

Keine

Sphinkterinsuffizienz (Blase, Mastdarm)

Keine

Vorhanden

Keine

Verlauf

Langsam einsetzende Lähmung

Rasch einsetzende Lähmung, Querschnittsymptomatik

Aufsteigende Lähmung bis bulbär

EMG, NLG

EMG: Denervierungsaktivität

Unspezifisch

NLG: pathologisch, Leitungsblock

Liquor

Monozytäre Pleozytose, Eiweiß (+)

Monozytäre Pleozytose, Eiweiß +

Zellzahl normal, Eiweiß +++

Therapie

Supportiv, Impfprophylaxe

Immunglobuline, Kortikosteroide

Immunglobuline, Kortikosteroide

Prognose

Bleibende motorische Defekte, Postpoliosyndrom

Restdefekte: Lähmungen, Sphinkterinsuffizienz, sensible Ausfälle

In den meisten Fällen Restitutio nach 2–4 Wochen

MER Muskeleigenreflexe, EMG Elektromyographie; NLG Nervenleitgeschwindigkeit.

8.15.6 Enzephalomyelitis disseminata ­

(multiple Sklerose)

j jDefinition Die Enzephalomyelitis disseminata oder multiple Sklerose (MS) ist eine primär entzündliche, demyelinisierende Erkrankung des ZNS unter Einbeziehung des N. opticus und des Myelons. Typisch ist ein chronisch rezidivierender Verlauf mit Remissionen und Relapsen.

Myelinscheiden aber auch neuronalen Strukturen führt. Histopathologisch führt dies dann zur Bildung der charakteristischen Plaques mit perivaskulären T-lymphozytären Infiltraten, Destruktion der Myelinscheiden und Gliose im Endstadium des entzündlichen Prozesses.

jjKlinik Die MS ist als eine Erkrankung des ZNS definiert, die in der Regel mit mehr als einem klinischen Schub in Kombination mit multiplen jjEpidemiologie MRT-Läsionen in der weißen Substanz einhergeht. Im MRT zeigt Die MS ist eine der häufigsten chronischen neurologischen Erkran- sich eine zeitliche (gleichzeitiges Vorhandensein von Läsionen mit kungen des Erwachsenenalters. Bis zu 10% aller MS-Fälle betreffen und ohne Kontrastmittelanreicherung) und eine örtliche (an mehr Kinder vor dem 16. Lebensjahr. In der Pädiatrie unterscheidet man als einer Stelle) Dissemination begleitet von einem typischen Liquordie echte kindliche MS mit Beginn vor dem 10. Lebensjahr und die befund. Vielfältige neurologische Ausfallerscheinungen bilden ein juvenile MS, mit einem Häufigkeitsgipfel zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr, die 80% der kindlichen MS-Fälle ausmacht. buntes Spektrum von möglichen klinischen Symptomen und ­Zeichen, die länger als 24 h anhalten sollten: Störungen der Sensibij jÄtiologie lität äußern sich häufig mit andauernden Parästhesien, Hypo- oder Ätiologisch werden primär immunologische, (post)infektiöse, toxi- Hyperästhesien. Störungen der Motorik äußern sich mit Schwäche sche, genetische und Umweltfaktoren diskutiert. Es konnte u. a. ge- von einzelnen Muskelgruppen und Extremitäten. Sehstörungen zeigt werden, dass der langfristige Aufenthalt in Gegenden mit nied- ­bedingt durch Augenmuskelschwäche äußern sich mit Diplopie, rigen Temperaturen, hoher Luftfeuchtigkeit und Nebel mit einem Sehstörungen bedingt durch eine Neuritis nervi optici äußern sich erhöhten Risiko für die Entwicklung einer MS assoziiert sind. Kinder charakteristischerweise mit einer schleierartigen Trübung des gemit einer MS haben zu fast 100% eine EBV-Infektion durchgemacht. samten Sehfelds, einer Farbentsättigung, Schmerzen bei AugenbeGenetisch konnte eine Assoziation mit bestimmten Subtypen des wegungen und einem afferenten Pupillendefekt. Auch Ataxie, DysHLA-DR2-Lokus gefunden werden. arthrie und Spinkterinsuffizienz oder Harninkontinenz gehören zum klinischen Spektrum der MS. j jPathogenese Im MRT findet man disseminierte Läsionen v. a. in der perivenPathogentisch wird derzeit die Hypothese vertreten, dass potenziell trikulären weißen Hirnsubstanz, im Balken (perpendikuläre Läsioautoaggressive T-Lymphozyten nach ihrem Eindringen in das­ nen oder Dawson-Fingers, seltener zerebellär, im Hirnstamm oder ZNS in Kombination mit B-Zell-mediierten Mechanismen zu einer Myelon (. Abb. 8.21). Läsionen mit ringartiger Anreicherung von Entzündungskaskade führen, die primär zu einer Schädigung der Kontrastmittel sind pathognomonisch für eine MS. Im Liquor fin-

217 Nervensystem

logischen Symptomen gehören. Das klinisch isolierte Syndrom (clinical isolated syndrome, CIS) ist durch eine einmalige akute mono- oder polysymptomatische inflammatorisch demyelinisie­ rende Attacke, jedoch ohne Enzephalopathie gekennzeichnet. Das Risiko für eine MS ist deutlich erhöht wenn im Liquor ­positive OKB und im MRT mehr als 2 T2-Signalanhebungen in der weißen Substanz gefunden werden. Die Neuromyelitis-optikaSpektrumserkrankung ist eine weitere Form eines inflammatorisch demyelinisierenden Prozesses, die durch eine Neuritis N. optici und eine akute Myelitis mit typischen MRT-Veränderungen wie einer langstreckigen extensiven transversen Myelitis (LETM) gekennzeichnet ist. Bei einem primär progressiven Verlauf der MS müssen unbedingt neurometabolische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Auch definierte und noch ungeklärte Leukodystrophien und v. a. mitochondriale Enzephalomyelopathien, wie die Leber-hereditäre Optikusatrophie (LHON) gilt es auszuschließen.

..Abb. 8.21  Kernspintomographischer Befund (MRT) des Gehirnes eines 15-jährigen Mädchens mit multipler Sklerose (MS). Es sind multiple und ­unterschiedlich große rundliche Signalintensitäten der subkortikalen und tieferen weißen Substanz zu erkennen

den sich eine leicht erhöhte Zellzahl, Zeichen einer intrathekalen IgG-Produktion mit zusätzlichen oligoklonale Banden und nephelometrisch gemessenen intrathekalen IgG- und IgM-Synthese. Ein weiteres diagnostisches Merkmal ist das gleichzeitige Vorhandensein einer intrathekalen Masern-, Rubella- und Varizellenatikörpersynthese der sog. positiven MRZ-Reaktion. Weitere diagnostische Hilfsmittel sind die evozierten Potenziale (z. B. visuell-evozierte, VEP). jjVerlauf Der klinische Verlauf der MS ist durch einen rezidivierend schubhaften (remitting-relapsing) Verlauf mit völliger Rückbildung der neurologischen Symptomatik in der Anfangsphase oder mit residualen Defiziten nach Abklingen des akuten Schubs im weiteren Verlauf gekennzeichnet. Eine primär progressive Verlaufsform wie bei Erwachsenen ohne Verbesserung nach dem initialen Schub und darauf folgender weiterer Verschlechterung wird bei Kindern nur extrem selten beschrieben und sollte zum Überdenken der Dia­ gnose  MS führen. Die sekundär progressive MS ist durch einen anhaltend progredienten Verlauf nach initial schubhaft rezidivierenden Episoden gekennzeichnet. jjDiagnose Zwei klinische Episoden oder ein klinisch-isoliertes Syndrom (CIS) mit Hinweisen für eine zeitliche (T2-Signalanhebung mit und/ohne KM-Anreicherung) und räumliche Dissemination in der MRT-Bildgebung (McDonald-Kriterien). jjDifferenzialdiagnose Im Unterschied zu Erwachsenen mit MS ist bei Kindern eine wesentlich breitere Differenzialdiagnose zu bedenken. Abzugrenzen von der MS ist aufgrund der akuten Symptome bei Beginn der Erkrankung die akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM; 7  Abschn.  8.15.7) insbesondere bei Kindern unter 10 Jahren, die im ­Gegensatz zur MS durch einen transitorischen, selbstlimitierten multifokalen Prozess gekennzeichnet ist, zu deren Initialsymptomen obligatorisch auch enzephalopathische Erscheinungen (Verhaltensauffälligkeiten, Verwirrtheit, Lethargie, Koma) neben fokal neuro-

jjTherapie Die Therapie der MS bezieht sich vorwiegend auf die Behandlung der akuten Schübe bei der rezidivierenden und remittierenden Verlaufsform sowie auf die Verringerung der Progressionsrate. Die Behandlung von Schüben erfolgt v. a. mit hochdosierten Steroiden (z. B. Pulstherapie mit Methylprednisolon i.v.). Das Ziel der anschließenden immunmodulatorischen Therapie ist die Reduktion der Häufigkeit von Relapsen und die Prävention der Progression der neurologischen Ausfallserscheinungen. Als immunmodulatorische Substanzen sind v. a. Interferon β (1b und 1a) und Glatirameracetat im Einsatz. Bei unzureichendem Ansprechen auf diese Therapie (Fortbestehen der Relapse mit Progression der neurologischen Ausfallserscheinungen, neue Läsionen im MRT trotz Basistherapie) ­sollte die Therapie eskaliert werden (z. B. Natalizumab, Fumarate, Fingolimod). >> Entscheidend sind bei progressivem Verlauf die schnelle ­Therapieeskalation in Kombination mit konsequenten therapeutischen Maßnahmen und sozialmedizinische Hilfen!

jjPrognose Langzeitverlaufstudien bei Patienten mit Erstmanifestation der MS im Kindes- und Jugendalter zeigen, dass eine relativ lange Latenzzeit (Median ca. 15–20 Jahre) vom Beginn der Erkrankung bis zum Einsetzen der sekundären Progression mit schwerer neurologischer Behinderung. Die meisten Patienten mit kindlicher und juveniler MS sind daher im frühen Erwachsenenalter voll beruflich aktiv mit nur milden neurologischen Beeinträchtigungen (mild disability). 8.15.7 Akute disseminierte Enzephalomyelitis Die akute disseminierte Enzephalomyelits (ADEM) ist eine monophasische Erkrankung, die häufig in der Folge von viralen Infekten auftritt. Eine Assoziation mit einer vorangegangenen Infektion mit Mykoplasma pneumoniä wird ebenfalls beschrieben. jjKlinik Klinisch geht die ADEM mit multifokalen neurologischen Symptomen und einher. Im Unterschied zur MS treten die multifokalen Ausfälle gleichzeitig auf. Weiterhin gehören im Unterschied zur­ MS und zum klinisch isolierten Syndrom (CIS) auch enzephalo­ pathische Erscheinungen (Verhaltensauffälligkeiten, Verwirrtheit, ­Lethargie, Koma) und zerebrale Anfälle zum Erscheinungsbild. ­Typisch ist auch eine Beteiligung des Rückenmarks. In ausgeprägten

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E. Boltshauser et al.

Fallen kann es bis zu einer kompletten Querschnittsymptomatik kommen. Bei der initial häufigen dramatischen Symptomatik kann die ADEM wie eine Virusenzephalitis (7 Abschn. 8.15.2) imponieren. Dagegen kommt der Beginn einer MS eher „auf leisen Sohlen“. Im Liquor findet man seltener oligoklonale Banden und häufiger eine deutlichere Zellzahlerhöhung. Im MRT findet man großflächige, unscharf begrenzte, meist bilaterale Läsionen, die neben der weißen Substanz auch die Basalganglien und das Myelon betreffen können. Selten findet man eine Kontrastmittelaufnahme der Läsionen. Bei einem Großteil der Kinder mit einer ADEM lassen sich im Serum Antikörper gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG), einem Bestandteil der Myelinscheide, nachweisen. j jTherapie Therapeutisch werden hochdosierte Kortikosteroide und Immunglobuline eingesetzt.

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j jPrognose Die ADEM kann trotz initial häufig schwerer neurologischer Symptomatik wieder ganz abheilen und keine oder nur geringe neurologische Symptome hinterlassen. In einigen Fällen gibt es jedoch auch schwere neurologische Residualsyndrome. Insbesondere Kinder mit abfallenden Serum-MOG-Werten haben eine gute Prognose. Kinder mit persistierenden MOG-Werten haben im Verlauf neue Schübe mit Sehnervenentzündungen. 8.15.8 Neuromyelitis-optika-Spektrums­

erkrankungen

Die Neuromyelitisspektrumserkrankungen (NMOSD) sind eine wichtige, behandelbare Gruppe von Autoimmunerkrankungen der weißen Substanz, die mit rezidivierenden Optikusneuritiden und transversen Myelitiden einhergehen und sich in mehreren Aspekten von der MS unterscheiden. Eine seltene Manifestation bei Kindern ist das Area-postrema-Syndrom (Episoden mit Schluckauf, Übelkeit, Erbrechen, MRT-Läsionen in der Area postrema). j jPathogenese Bei einer kleinen Gruppe von Kindern werden Serumaquaporin4-Antikörper, die gegen das astrozytenexpremierte Protein Aquaporin-4 (AQP4) gerichtet sind, gefunden. Bei der Mehrzahl der Kinder mit NMOSD finden sich Serum-MOG-Antikörper. j jDefinition 1. NMOSD mit AQP4-Ak: mind. 1 klinisches Kerncharakteris­ tikum + Serum AQP4-Ak. 2. NMOSD ohne AQP4-Ak: mind. 2 klinische Kerncharakteris­ tika während einer oder mehrere Episoden; davon muss ­ 1 Charakteristikum obligat aus Optikusneuritis, langstreckiger (≥3 Segmente) transverser Myelitis oder Area-postrema-­ Syndrom bestehen und negativen Serum AQP4-Ak. j jTherapie Schubbehandlung mit Methyprednisolone (20mg/kgKG/d für 3–5 Tage), dann langsames Ausschleichen und Therapiebeginn mit Rituximab oder Azathioprim.

8.15.9 Zerebrale Vaskulitis jjDefinition Eine Vaskulitis des ZNS kann in 4 unterschiedlichen Formen bzw. klinischen Zusammenhängen auftreten: 44 als isolierte Erkrankung (primäre Angiitis des ZNS); 44 als Komplikation einer systemischen Vaskulitis oder einer rheumatischen Erkrankung (7 Abschn. 8.16); 44 als Folge infektiöser (v. a. Varizellen) oder anderer Erkrankungen des ZNS; 44 durch toxische Wirkungen von Medikamenten und Drogen. jjPathogenese Pathogenetisch kommt es zur Akkumulation und Infiltration der Gefäßwände mit Leukozyten, zur Freisetzung von Zytokinen, Aktivierung der inflammatorischen Kaskade, Schädigung des Endothels und schließlich zur Zerstörung der Gefäßwände mit Thrombosen und distalen Gewebsinfarkten. In der Pathogenese scheinen antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA) wichtige Rollen zu spielen. jjKlinik Anamnestische und klinische Symptome einer zerebralen Vaskulitis sind abhängig von der befallenen Hirnregion. Sind kortikale oder subkortikale Regionen betroffen, resultieren fokale neurologische Symptome und Defizite. Leitsymptome, die auf eine Vaskulitis des ZNS hinweisen können, sind akute zerebrale (meist fokale) Anfälle und Veränderungen des Verhaltens („seizures and psychiatric symptoms“). Diese Symptome kommen ebenso bei der fokalen Enzephalitis (mit Vaskulitis) vor. jjDiagnose Den Beweis für die Diagnose einer zerebralen Vaskulitis oder Angiitis liefert die invasive konventionelle Angiographie, wobei auch diese nicht sensitiv genug ist und daher falsch negative Ergebnisse erbringen kann. Die nichtinvasive Kernspinangiographie kann nur bei Angiitis größerer Gefäße diagnostisch sein. Ein normaler MRTsowie ein unauffälliger Liquorbefund schließen eine umschriebene zerebrale Vaskulitis nicht aus, wenngleich zahlreiche Kinder mit ­einer ausgeprägten Angiitis des Zerebrums kleine hypodense Zonen im MRT und ein erhöhtes Liquoreiweiß aufweisen. Somit gehören neben einer detaillierten Anamnese und sorgfältigen klinischen und neurologischen Untersuchung immer auch ein MRT und eine Lumbalpunktion zur Basisdiagnostik, ein Angiogramm zur erweiterten klinischen Diagnostik. Zur Labordiagnostik gehört neben dem Nachweis von Eiweiß im Liquor (unspezifisch) die serologische Untersuchung auf Antikörper, die mit bestimmten Formen der zerebralen Vaskulitis assoziiert sein können (ANCA, Antiphospholipid-AK, Kardiolipin-AK, Faktor-VIII-Antigen, Lupus-Antikoagulans). In seltenen Fällen kann der Nachweis von vaskulitischen Veränderungen im Biopsiematerial förderlich sein. jjTherapie Die Therapie der zerebralen Vaskulitis richtet sich ggf. in erster­ Linie auf die Behandlung der Grunderkrankung (antibakteriell, ­antiviral, antituberkulostatisch usw.). Gegen die postinfektiöse­ oder isolierte zerebrale Vaskulitis müssen bei Persistenz der Symptome Steroide eingesetzt werden. In vielen Fällen sind zytostatisch wirksame ­Medikamente wie Methotrexat (MTX) oder Cyclophosphamid erforderlich. In akuten Phasen kann bei systemischem Lupus erythematodes (SLE) mit zerebraler Beteiligung eine ­

219 Nervensystem

­ las­mapherese oder die i.v.-Anwendung von Immunglobulinen inP diziert sein. jjPrognose Die Prognose ist in erster Linie von der Grunderkrankung (z. B. Infektion) abhängig. Bei der postinfektiösen Vaskulitis (insbeson­dere nach Varizellen) kann es je nach betroffener Hirnregion bei vasku­ litisch verursachten Hirninfarkten akut und dauerhaft zu schweren neurologischen Defiziten kommen: Hirnnerven- und Hemiparesen; Sprachstörungen; Ataxie; Lern- und Verhaltensstörungen. 8.16

Neurologische Mitbeteiligung ­ bei systemischen Erkrankungen

..Tab. 8.14  ZNS-Manifestationen bei rheumatischen Erkrankungen Erkrankung

Mögliche ZNS-Manifestationen

Rheumatisches Fieber

Chorea Sydenham, Anfälle, Meningoenzephalitis, Pseudotumor cerebri, Papillenödem, akute ­Psychose

Systemischer Lupus ­erythematodes

Hypertensive Enzephalopathie bei Nieren­ insuffizienz, akute Psychose, Demenz, ­Chorea, Meningitis

Polyarteritis nodosa

Plötzlicher Visusverlust, Schlaganfall, ­Hemiparese

Primäre Angitis des ZNS

Fokal neurologische Ausfälle, Anfälle, ­Demenz

S. Stöckler-Ipsiroglu 8.16.1 Neurologische Manifestationen ­

bei rheumatischen Erkrankungen

Rheumatische Erkrankungen umfassen eine Gruppe von Autoimmunerkrankungen, denen das allgemeine Symptom der chronischen Arthritis gemeinsam ist. Zusätzlich besteht bei den einzelnen Erkrankungen dieser Gruppe ein Spektrum an nichtartikulären Manifestationen, wobei im Rahmen einer neurologischen Manifestation auch das zentrale, periphere und autonome Nervensystem betroffen sein kann. Pathogenetisch liegen den neurologischen Manifestationen von rheumatischen Erkrankungen entzündliche Prozesse der kleinen und mittleren Gefäße (zerebrale Vaskulitis), vaskuläre Immunkomplexdepositionen sowie thrombotische/thromboembolische Veränderungen zugrunde. Sekundäre Veränderungen im ZNS kommen im Rahmen einer hypertensiven Enzephalopathie bei renaler Manifestation der rheumatischen Erkrankung (systemischem Lupus erythematodes) vor. Zu Bewegungsstörungen können auch rheumatische Myositis (Dermatomyositis; 7 Kap. 9) sowie Myelopathien im Rahmen einer fortgeschrittenen zervikalen Arthritis führen. Die wichtigsten ZNS-Manifestationen bei rheumatischen Erkrankungen sind in . Tab. 8.14 zusammengefasst. jjChorea Sydenham Neben den mannigfaltigen neurologischen Manifestationen, die bei rheumatischen Erkrankungen auftreten können, stellt die Chorea Sydenham auf Grund ihrer eindrücklichen extrapyramidalen Symptomatik ein spezifisches Krankheitsbild dar und wird daher an dieser Stelle exemplarisch herausgegriffen und genauer beschrieben. Die Chorea Sydenham ist eine neurologische Komplikation, die als Folge einer Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken auftreten kann. Die Chorea kann dabei zusammen mit den typischen Manifestationen des rheumatischen Fiebers (Fieber, Arthritis, Endokarditis, Erythema marginatum, subkutane Noduli) auftreten, oder auch isoliert ohne jegliche Zeichen des rheumatischen Fiebers. Pathogenetisch liegt eine rheumatoid proliferierende Endarteritis kortikal, in den Basalganglien und meningeal zugrunde. Die klinische Symptomatik ist charakterisiert durch schnelle, unwillkürliche distale Bewegungen (Chorea), allgemeine Muskelhypotonie und emotionale Labilität. Die choreiformen Bewegungen sind abrupt, nicht repetitiv und betreffen v. a. das Gesicht (Grimassieren), die Hände und die Füße. Die psychischen Veränderungen beinhalten Hyperaktivität, unkoordiniertes Verhalten und Konzentrationsprobleme in der Schule. Die Symptomatik entwickelt sich meist langsam und bildet sich im Regelfall nach 2–6 Monaten zurück.

Die Diagnose wird aufgrund der typischen klinischen Symptomatik, des Antistreptolysin-O-Titers, eines verkürzten PR-Intervalls im EKG und einer Erhöhung der Entzündungsparameter (CRP und Blutsenkungsreaktion) gestellt. Die Therapie besteht in der Gabe von Penizillin über 10 Tage und im Anschluss daran in einer Penizillinprophylaxe. >> Die Penizillinprophylaxe muss bis ins Jugend- bzw. junge ­Erwachsenenalter eingehalten werden, da bei Reinfektion ein 50%iges Risiko für die Entwicklung einer rheumatischen ­Endokarditis besteht.

Gegen die neurologische Symptomatik wird Phenobarbital, Diazepam, Valproinsäure, Chlorpromazin oder Haloperidol eingesetzt. Die Prognose ist gut. In den meisten Fällen bilden sich die Symptome völlig zurück. Selten können aber auch Residualsymptome im Sinne von motorischen, kognitiven oder neuropsychologischen ­Störungen bestehen bleiben. 8.16.2 Neurologische Manifestationen bei Herz-,

Nieren und Lebererkrankungen

Herzerkrankungen jjPathogenese Annähernd jedes 100. Neugeborene kommt mit einem angeborenen Herzfehler (Vitium) zur Welt. Mehr als 50% davon haben ein hämodynamisch wirksames Vitium, das innerhalb des 1. Lebensjahrs einer operativen Korrektur bedarf. Neurologische Schäden stellen die häufigste extrakardiale Komplikation bei angeborenen Vitien dar. Das pathogenetische Substrat für die zerebralen Schäden sind hypoxische bzw. ischämische und Reperfusionsschäden, die im Rahmen von fokalen vasookklusiven Insulten oder im Rahmen einer globalen zerebralen Hypoperfusion auftreten. Bei unkorrigierten Vitien stehen als Ursache für die Schädigung chronische Zyanose, Polyglobulie und Rechts-links-Shunt im Vordergrund. Bei Opera­ tionen an der Herz-Lungen-Maschine sind intraoperative globale Perfusionsstörungen die Hauptursache für die zerebrale Morbidität. In der postoperativen Phase können Thromboembolien und kardiogener Schock zu weiteren neurologischen Schäden führen. jjKlinik Klinisch stehen im Falle von lokalisierten vasookklusiven Ereig­ nissen neurologische Herdsymptome im Vordergrund (z. B. Hemiparese, fokale zerebrale Anfälle). Im Falle eines generalisierten

8

220

E. Boltshauser et al.

..Tab. 8.15  Häufige neurologische Intoxikationssyndrome

8

Neurotransmitterwirkung

Klinische Symptomatik

Wichtigste verursachende Substanzen

Anticholinerg

Peripher: Tachykardie, trockene Haut, Schleimhaut, weite Pupille, gastrointestinale Hypomobilität, Harnretention Zentral: Halluzinationen, Agitation, Ataxie, Psychose

Atropin, trizyklische Antidepressiva

Cholinerg

Bewusstseinsstörung, Koma, enge Pupillen, Faszikulationen, Speichelfluss, Bronchokonstriktion, Lungenödem, Bradykardie

Organische Insektizide, Nikotin

Sympathomimetisch

Ruhelosigkeit, Schlaflosigkeit, Mydriasis

Amphetamine, Koffein, Kokain, Nikotin

Serotoninerg

Peripher: Fieber, Flush, Schweißausbrüche Zentral: Myoklonus, Tremor, Ataxie, Hyperreflexie

Serotoninreuptakehemmer

Antihistaminerg

Sedierung bis Koma, Bewegungsstörung

Antihistaminika

Opioid

Peripher: Bradykardie , Muskelschwäche; Zentral: stecknadelkopfgroße Pupillen, Koma

Opioide

­ ypoxie-/Ischämie-/Reperfusionsschadens sind komplexe neuroloH gische Bilder mit zusätzlicher allgemeiner Entwicklungsverzögerung zu erwarten. Dieser Schädigungsmechanismus ist im Vergleich zu ­lokalisierten Ereignissen viel häufiger. Eine spezifische Verlaufsform stellt die postoperative Enzephalopathie (nach Operationen an der Herz-Lungen-Maschine) dar, die gekennzeichnet ist durch eine postoperative prolongierte Bewusstseinsstörung, zerebrale Anfälle und (meist choreoathetotische) ­Bewegungsstörungen. Zu 90% ist mit einer bleibenden Residual­ symptomatik zu rechnen.

Nierenerkrankungen Akutes Nierenversagen  Beim akuten Nierenversagen führen Hypervolämie und Elektrolytverschiebungen zu Kopfschmerzen,

Erbrechen, Bewusstseinsstörung (Apathie oder Agitation), Muskelfibrillationen und Muskelschwäche. Ähnliche Symptome können auch bedingt durch Osmolaritäts- und Volumenschwankungen v. a. im Rahmen der ersten Hämodialysesitzungen auftreten.

Chronisches Nierenversagen  Spezifische, aber selten auftretende

mit Hämodialyse assoziierte neurologische Komplikationen sind das

Dialyse-Dysequilibrium-Syndrom (Kopfschmerzen, Erbrechen, Sehverlust, Hirndrucksteigerung) und die progressive Dialyseenzephalopathie (Stakkatosprache, Paraplegie, Myoklonus, Intelligenz-

abbau). Die urämische Enzephalopathie ist ein komplexer metabolischer Zustand, dem zusätzlich zu Volumen- und Elektrolytveränderungen auch die Akkumulation von toxischen, harnpflichtigen ­Substanzen zugrunde liegt. Ein frühes Zeichen ist ein charakteristischer Tremor, weiterhin können auch dyspraktische Sprachstörungen, die sog. urämische Amaurose, Choreoathetose, Gehörverlust, Myoklonien und zerebrale Anfälle assoziiert sein. Die ebenfalls bei chronischem Nierenversagen vorkommende hypertensive Enzephalopathie ist bei Blutdrucksteigerungen um über die 4-fache Standardabweichung des altersentsprechenden Normwerts zu erwarten. Sie ist pathogenetisch durch ein Versagen der zerebralen Autoregulation (Versagen der kompensatorischen Vasokonstriktion und perivaskuläres Ödem) bedingt. Klinisch ­neurologische Hinweise für das Vorliegen einer hypertensiven Enzephalopathie sind akute Hirndruckzeichen wie Kopfschmerzen, Erbrechen, Meningismus, Bewusstseinsstörung bis hin zum Koma sowie durch lokalisierte Infarkte hervorgerufene fokale Zeichen.

Charakteristisch ist die okzipitale Rindenblindheit. Therapeutisch ist eine rasche Blutdrucksenkung mit Nifedipin, Natriumnitroprussid oder Captopril notwendig.

Lebererkrankungen Die hepatische Enzephalopathie kann sowohl bei akutem als auch bei chronischem Leberversagen im Rahmen von Intoxikationen, Virushepatitis oder chronisch metabolischer oder infektiöser ­ ­Lebererkrankungen entstehen. Pathogenetisch liegen den ZNS-Erscheinungen erhöhte arterielle Ammoniakwerte, erhöhte Glutaminspiegel im ZNS sowie die Akkumulation von toxischen Substanzen und von bakteriellen Abbauprodukten von Eiweißen aus dem Darm zugrunde. Weitere Enzephalopathiesyndrome, die in Assoziation mit akuten oder chronischen Lebererkrankungen auftreten, sind das ReyeSyndrom (Leberverfettung, Transaminasen- und Serumammoniakerhöhung, Koma), die Bilirubinenzephalopathie (Kernikterus: Choreoathetose, zerebelläre Ataxie und beidseitige Taubheit) und der M. Wilson (hepatolentikuläre Degeneration, autosomal rezessive Kupfertransport-ATPase-Störung mit Leberzirrhose, typischem Hand-Kopf-Tremor, Dystonie, Rigor, Demenz und Kayser-­FleischerKornearing). 8.17

Neurologische Manifestationen ­ bei Intoxikationen

S. Stöckler-Ipsiroglu In . Tab. 8.15 sind die wichtigsten neurologischen Intoxikationssyndrome dargestellt, die durch Hemmung bzw. Exzitat des autonomen Nervensystems entstehen.

221

Neuromuskuläre Erkrankungen A.M. Kaindl, U.Schara, M. Schülke-Gerstenfeld

9.1

Spinale Muskelatrophien  – 222

9.1.1 Spinale Muskelatrophien Typ 1–3 (SMA1–3)  – 222 9.1.2 Distale spinale Muskelatrophie Typ 1 (DSMA1)  – 223 9.1.3 Andere spinale Muskelatrophien  – 223

9.2

Polyradikuloneuritis Guillain-Barré  – 223

9.3

Hereditäre Neuropathien  – 224

9.4

Myasthenien  – 225

9.4.1 Myasthenia gravis  – 225 9.4.2 Kongenitale myasthene Syndrome (CMS)  – 226

9.5

Myotonie, periodische Paralyse ­und Paramyotonie  – 227

9.6

Myotone Dystrophien  – 228

9.7

Muskeldystrophien  – 229

9.7.1 9.7.2 9.7.3 9.7.4 9.7.5

Dystrophinopathien  – 229 Gliedergürtelmuskeldystrophien  – 231 Kongenitale Muskeldystrophien (MDC)  – 232 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie (FSHD)  – 232 Emery-Dreifuss-Muskeldystrophien (EDMD)  – 233

9.8

Kongenitale Strukturmyopathien  – 233

9.9

Mitochondriopathien und ­Atmungs­kettendefekte  – 233

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_9

9

222

A.M. Kaindl et al.

k kWichtige neuromuskuläre Erkrankungen (NME) Die wichtigsten NME sind von proximal nach distal solche 44 der motorischen Vorderhornzelle → spinale Muskelatrophien, 44 des Axons oder der Schwann-Zelle → Neuropathien, 44 der motorischen Endplatte → Myasthenien, 44 der Ionenkanäle der Muskelzelle → Myotonien, 44 der Muskelzelle → Muskeldystrophien, Myopathien, 44 der Mitochondrien → Mitochondriopathien. Weitere Informationen zu den einzelnen Erkrankungen sowie Querverweise auf hier nicht aufgeführte Differenzialdiagnosen können im Internet gefunden werden (www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/ entrez?db=OMIM und www.treat-nmd.eu). Myopathien können auch im Rahmen von Systemerkrankungen auftreten. Die Dermatomyositis mit entzündlich veränderter Muskelzelle wird im Kapitel der rheumatologischen Erkrankungen (7 Kap. 12), Mitochondriopathien werden in 7 Abschn. 9.9 abgehandelt. !! Cave

9

Bei Patienten mit einer Muskelerkrankung besteht ein erhöhtes Risiko einer malignen Hyperthermie, das bei jeder Narkose zu beachten ist. Die Patienten sind mit einem Muskelpass zu versorgen.

9.1

Spinale Muskelatrophien

j jDefinition Spinale Muskelatrophien (SMA) sind in erster Linie degenerative Erkrankungen der motorischen Vorderhornzellen im Rückenmark und ihrer peripheren Axone. Häufig ist der N. hypoglossus mit­ betroffen mit dem Symptom einer Zungenfaszikulation.

..Abb. 9.1  „Floppy infant“ mit einer frühinfantilen spinalen Muskelatrophie (SMA1). Atrophie der Schultergürtel- und Interkostalmuskulatur ­(Glockenthorax), vorgewölbtes Abdomen (paradoxe Schaukelatmung) ­ und Froschschenkelhaltung. (Mit freundl. Genehmigung von Herrn Prof. ­ Dr. C. Hübner)

jjEpidemiologie Die klassische autosomal-rezessive SMA ist in der mitteleuropäischen Bevölkerung mit einer Inzidenz von 1:10.000 Lebendgeburten und einer Überträger- oder Heterozygotenfrequenz von 1:50 die zweithäufigste autosomal-rezessiv erbliche Erkrankung des Kindesalters nach der zystischen Fibrose.

SMA1  Bei der frühinfantilen schweren Verlaufsform SMA1 (Morbus Werdnig-Hoffmann) berichten die Mütter oft von schwachen

jjPathogenese Die autosomal-rezessive SMA wird in ca. 96% der Fälle durch homozygote Deletionen/Genkonversionen des telomeren SMN1-Gens (Chromosom 5q13) verursacht, das das Survival-motor-neuron1-Protein kodiert. Dies führt zu einem Verlust des SMN1-Produkts und zu einer SMA, deren Verlaufsform statistisch durch eine variable Anzahl zentromerer SMN2-Genkopien bestimmt wird. SMN2 unterscheidet sich von SMN1 durch einen stillen Basenaustausch im Exon 7 und nur wenige SMN2-Transkripte entsprechen einem funktionsfähigen SMN1-Protein. In der Regel gilt, je mehr SMN2-Kopien ein Patient besitzt, desto milder ist der Verlauf seiner SMA (Gendosiseffekt). 9.1.1

Spinale Muskelatrophien Typ 1–3 (SMA1–3)

j jKlinik, Verlauf Die autosomal-rezessive SMA des Kindes- und Jugendalters wird nach Zeitpunkt der Manifestation, Schweregrad und Prognose in 3 Verlaufsformen (SMA1–3) unterteilt. Im Folgenden wird der natürliche Verlauf der Erkrankung vor Einführung unten genannter medikamentöser Therapie im Jahre 2017 aufgeführt.

Kindsbewegungen während der Schwangerschaft. Die Kinder haben bereits bei Geburt eine generalisierte Muskelschwäche („floppy ­infant“, . Abb. 9.1) mit proximaler Betonung oder zeigen bis zum 6. Lebensmonat erste Symptome. Eine symmetrische, proximal betonte Muskelschwäche, bei der die Beine mehr als die Arme betroffen sind, eine schlechte, meist fehlende Kopfkontrolle, eine wache aufmerksame Mimik, die auf eine relative Aussparung der fazialen Muskulatur weist, eine Atrophie der Interkostalmuskulatur mit ­Tachypnoe und paradoxer Schaukelatmung, bei der bei Inspiration sich die Rippen senken, Zungenfaszikulation und Polyminimyoklonien oder Tremor der Hände sind typische Symptome. Oft können die Säuglinge nur noch ihre Finger und Zehen bewegen, und das Trinken fällt ihnen schwer. Das charakteristische Bild eines Glockenthoraxes beruht auf ­einer Atrophie der Interkostal- und Schultergürtelmuskulatur, die typische sog. Froschschenkelhaltung auf einer ausgeprägten Muskelschwäche der Beine (. Abb. 9.1). Die Muskeleigenreflexe sind erloschen. Den betroffenen Kindern ist freies Sitzen auch im fortgeschrittenen Alter nicht möglich. Untherapiert überleben aufgrund einer fortschreitenden respiratorischen Insuffizienz und Bulbär­ paralyse nur ⅓ aller Kinder die ersten 2 Lebensjahre. Auch eine Arthrogryposis multiplex congenita kann Folge ­einer pränatal manifesten SMA1 sein. SMA2  Bei der spätinfantilen intermediären SMA2 treten erste Symptome mit etwa 8, spätestens 18 Lebensmonaten auf. Die Pa­ tienten erreichen den motorischen Meilenstein des kurzzeitigen

223 Neuromuskuläre Erkrankungen

f­reien Sitzens, können aber nicht frei laufen. Die Muskelschwäche führt oft im Verlauf zu Skoliosen, Trichterbrust, Gelenkkontrakturen und einer eingeschränkten Lungenfunktion. Fast alle Patienten erreichen das 11. und viele (ca. 80%) das 20. Lebensjahr. SMA3  Die milde Verlaufsform SMA3 (Morbus Kugelberg-Welander) beginnt jenseits des 18. Lebensmonats und vor dem 30. Lebensjahr mit einer großen Variabilität der klinischen Symptome. Alle Patienten lernen, frei zu laufen, manche verlieren ihre Gehfähigkeit; viele führen ein unabhängiges Leben. Insbesondere die proximale Oberschenkelmuskulatur ist atroph.

9.1.2

Distale spinale Muskelatrophie Typ 1 (DSMA1)

jjPathogenese Die autosomal-rezessive DSMA1 (SMA mit „respiratory distress“ Typ 1, SMARD1) beruht auf Mutationen des IGHMBP2-Gens, das das „immunoglobulin μ binding protein 2“ kodiert. Klinik  Eine oft kongenitale, immer distal betonte Muskelschwäche

(Kontrakturen der Füße), inspiratorischer Stridor, leises Schreien, Trinkschwäche und rezidivierende Bronchopneumonien gehen ­einer in den ersten Lebensmonaten abrupt einsetzenden, rasch projjDiagnose gredienten Atemnot voraus, die irreversibel zur BeatmungspflichEntscheidend für die Diagnose einer SMA sind das typische klini- tigkeit führt. Im Säuglingsalter kann es zu Apnoen mit plötzlichem sche Bild, eine normale oder nur geringfügig erhöhte Kreatinkina- Kindstod kommen. Während bei der SMA1 eine fortschreitende seaktivität (CK) im Serum und der Nachweis einer homozygoten Atrophie der Interkostalmuskulatur und des proximalen SchulterSMN1-Deletion/Genkonversion (Untersuchung einer EDTA-­ gürtels zu dem Bild eines Glockenthoraxes führt, fehlen diese SymBlutprobe). Ist der Befund negativ, so ist eine SMA zwar noch nicht ptome bei der DSMA1, da hier das Diaphragma und die distalen ausgeschlossen, doch sind Missense-Mutationen selten (ca. 5%). Muskeln primär betroffen sind. Typisch ist ein Hochstand des atroDegenerationen der großen ventromedialen Vorderhornzellen mit phen Zwerchfells im Thorax-Röntgenbild. Waller-Degeneration der Axone führen zu einem progredienten Ausfall der motorischen Einheiten und einer kompensatorischen kollateralen Aussprossung intakter Motoneurone. Im Elektromyo- 9.1.3 Andere spinale Muskelatrophien gramm (EMG) entspricht dies einem gelichteten Interferenzmuster (Lattenzaunmuster) und hoch- und breitamplitudigen, oft polypha- Eine fetale Manifestation einer spinalen Muskelatrophie kann, ähnsischen Aktionspotenzialen. Die histologische Untersuchung einer lich wie bei den fetalen Formen einer Myasthenie, zu einer ArthroMuskelbiopsie zum Nachweis einer felderförmigen Muskelfaseratro- gryposis multiplex congenita führen mit typischen Begleitsymptophie und -hypertrophie und das EMG sind in aller Regel obsolet. men wie fetaler Hydrops und intrauterine Akinesie, Mikrognathie, tiefsitzende Ohren, multiple Pterygien, perinatale Frakturen, Differenzialdiagnose  Insbesondere kongenitale Muskeldystro- ­Lungenhypoplasie oder kongenitale Atemnot („lethal congenital phien, die kongenitale myotone Dystrophie, hereditäre kongenitale contracture syndrome“, LCCS). Andere spinale Muskelatrophien Neuropathien, das Prader-Willi-Syndrom, Stoffwechselerkrankun- gehen mit einer pontozerebellären Hypoplasie oder einer Myoklogen und weitere Formen der SMA kommen in Betracht. Symptome nus-Epilepsie einher. wie Diaphragmaschwäche (Zwerchfellhochstand im Röntgen-­ Die X-chromosomal-rezessive SMAX1 oder „spinale und bul­ Thoraxbild), (olivo)pontozerebelläre Hypoplasie (MRT) und eine bäre Muskelatrophie“ (Kennedy disease) hat ihre Ursache in einer deutlich erhöhte Kreatinkinaseaktivität (CK) im Serum (>10-facher Expansion von CAG-Repeats im Androgenrezeptor-Gen (AR), die Normalwert) schließen die Diagnose einer SMA sicher und eine zu der Bildung eines neurotoxischen Polyglutaminfragments deutlich erniedrigte Nervenleitgeschwindigkeit (NLG, > Myasthenien beruhen auf prä-, intra- oder postsynaptischen Defekten der neuromuskulären Erregungsübertragung.

9.4.1

Myasthenia gravis

jjEpidemiologie Die Prävalenz der Myasthenia gravis liegt bei 3–10:100.000 Einwohnern, und rund 10–15% aller Patienten sind jünger als 16 Jahre. Die bereits im präpubertären Alter bestehende Geschlechtswendigkeit von w:m = 2:1 steigt nach der Pubertät auf w:m = 14:1. jjPathogenese Bei dieser postsynaptischen Autoimmunerkrankung beeinträchtigen Antikörper (AK) der IgG-Subklasse, die gegen Bestandteile des adulten AChR gerichtet sind, die neuromuskuläre Erregungsübertragung. Es wird ein Zusammenhang zwischen den bei 90% der Patienten vorhandenen Thymusveränderungen und der Entstehung der Myasthenia gravis (MG) diskutiert. Die AChR-AK-Titer korrelieren nicht mit der Schwere, jedoch häufig mit dem Verlauf der Erkrankung und dem Ansprechen auf eine Therapie. 10–20% aller MGPatienten sind seronegativ für AChR-AK. In der Mehrzahl dieser Patienten (60–70%) lassen sich Antikörper gegen die postsynaptische muskelspezifische Rezeptor-Tyrosinkinase (MUSK) nachweisen, die eine essenzielle Rolle bei der Entwicklung des AChR spielt. Sehr viel seltener liegen Autoantikörper gegen Titin, Low-densitylipoprotein-receptor-related-Protein 4 (LRP4) oder Agrin vor. Während der Entwicklung werden von der 8. bis zur 33. Schwangerschaftswoche (SSW) fetale AChR (γ-Untereinheit) synthetisiert,

9

226

A.M. Kaindl et al.

die mit der Entwicklung schrittweise durch den adulten Typ des AChR (ε-Untereinheit) ersetzt werden. Durch den diaplazentaren Übertritt mütterlicher IgG-AK gegen den adulten Typ des AChR kann es zu einer transienten neonatalen MG des Kindes kommen. In seltenen Fällen sind mütterliche AK gegen den fetalen Typ des AChR gerichtet, was klinisch eine Arthrogryposis multiplex congenita zur Folge hat. jjKlinik, Verlauf Kardinalsymptom der MG ist eine abnorme Ermüdbarkeit der Muskulatur, die im Tagesverlauf zunimmt und sich nach Ruhepausen bessert. Ptosis und Doppelbilder, die auf einer Schwäche der äußeren Augenmuskeln beruhen, sind typische Frühsymptome, nasale Sprache und Schluckstörungen sind Zeichen einer Schwäche der Kau- und Schlundmuskulatur. Im Verlauf schreitet die Erkrankung über die Rumpfmuskulatur (Atemprobleme) bis zu den Extremitätenmuskeln fort. !! Cave

9

Infektionen, eine abrupte Beendigung einer Immunsuppres­ sion, muskelrelaxierende Substanzen und Medikamente wie Antibiotika können zu einer myasthenen Krise mit lebens­ bedrohlicher Ateminsuffizienz und hoher Mortalität führen.

Die Hauptsymptome der transienten neonatalen Myasthenia gravis sind Saug-/Fütterprobleme, generalisierte Muskelhypotonie, Atembeschwerden, leises Schreien, Gesichtsmuskelschwäche und seltener eine Ptosis. Ähnlich der fetalen Manifestation einer spinalen Muskelatrophie ist die oft letale „fetale Myasthenia gravis“ neben einer Arthrogryposis multiplex congenita charakterisiert durch fetalen Hydrops und intrauterine Akinesie, Mikrognathie, tief sitzende Ohren sowie Lungenhypoplasie und kongenitale Atemnot, nicht aber durch eine Myasthenie, da jenseits der 33. SSW die mütterlichen, gegen den fetalen AChR gerichteten AK ihre Antigene und damit Wirkung verloren haben. jjDiagnose Der klinischen Untersuchung folgen die Elektromyographie (EMG) unter niederfrequenter repetitiver Stimulation eines Nerven mit 3 Hz zum Nachweis eines pathologischen Dekrement des muskulären Summenaktionspotenzials, die Bestimmung der zirkulierenden AChR-AK und bei seronegativem Befund die der MUSK-AK. Ein zellbasierter AChR-Cluster-Test kann trotz negativem AChR-­AKTest positive Ergebnisse liefern. Eine Testung mit dem AChE-Hemmer Edrophoniumchlorid (Camsilon-Test) ist dann sinnvoll, wenn Symptome vorliegen, die sich rasch verbessern können wie eine ­Ptose. Diese Untersuchung sollte unter Intubationsbereitschaft und nach Legen eines venösen Zugangs und Aufziehen von Atropin zur Antagonisierung von Nebenwirkungen (Brady-/Arrhythmie, Hypotonie) erfolgen (. Abb. 9.2).

a

b

..Abb. 9.2  Positiver Camsilon-Test bei Myasthenia gravis. a Der Patient versucht, seine beidseits ausgeprägte Ptosis mit der Stirnmuskulatur zu kompensieren (hochgezogene Augenbrauen). b Nach Gabe des AChE-Hemmers verschwindet die Ptosis vollständig. (Mit freundl. Genehmigung von Herrn Prof. Dr. C. Hübner)

romuskulären Synapse und zum anderen auf der Inhibition der ­Autoimmunreaktion durch Immunsuppressiva. Der AChE-Hemmer Pyridostigminbromid ist das Medikament der ersten Wahl. In

der Regel sollte zeitnah eine kombinierte mit Prednisolon und steroidsparendem Azathioprin angeschlossen werden. Es ist zu bedenken, dass sich die Symptomatik in den ersten 10 Tagen der Steroidtherapie verschlechtern kann. Ciclosporin A oder Cyclophosphamid werden wegen des Nebenwirkungsprofils als Langzeittherapeutika nicht mehr gerne eingesetzt, eine Alternative ist Mycophenolatmofetil, allerdings im Kindes- und Jugendalter als „off label use“. ­7S-Immunglobulin-G-Infusionen helfen bei bulbärer Symptomatik, i.v.-Immunglobulingaben und Plasmapherese in Krisen und werden auch präoperativ eingesetzt. Eine Thymektomie ist bei kindlichen und jugendlichen Patienten sinnvoll und zeigt bessere Ergebnisse, wenn sie früh im Verlauf durchgeführt wird. Beschwerdefrei werden ⅔ aller Patienten, eine Besserung innerhalb von 10 Jahren erfährt ⅓. 9.4.2

Kongenitale myasthene Syndrome (CMS)

jjDifferenzialdiagnose Zu denken ist an Krankheiten wie kongenitale myasthene Syndrome, Schilddrüsenerkrankungen, Kearns-Sayre-Syndrom und die okulopharyngeale Muskeldystrophie. Dem Lambert-Eaton-MyasthenieSyndrom liegen AK gegen die präsynaptischen Kalziumkanäle zugrunde, die zu einer verminderten ACh-Freisetzung führen. Eine Manifestation im Kindesalter ist selten und kann paraneoplastisch bedingt sein.

jjPathogenese Den heterogenen CMS liegen Mutationen synapsenassoziierter Gene zugrunde. Die präsynaptische autosomal-rezessive CMS mit episodischer Apnoe beruht auf Mutationen des CHAT-Gens, dessen Produkt, die Cholin-Acetyl-Transferase, die Biosynthese von ACh katalysiert. Die autosomal-rezessive synaptische CMS mit EndplattenAcetylcholinesterase-Defizienz ist verursacht durch Mutationen des COLQ-Gens, dessen Produkt die AChE mit der Basalmembran ­verankert. Postsynaptische CMS und autosomal-dominante Slowchannel-Syndrome haben ihre Ursachen in Mutationen der Gene, die die Untereinheiten des adulten Typs des AChR kodieren (CHRNA1/B1/D/E). Andere postsynaptische CMS beruhen auf Mutationen des MUSK- (7 Abschn. 9.4.1, Pathogenese) oder Rapsyn-Gens (RAPSN), deren Produkte an der Entwicklung des AChR beteiligt sind. Mutationen des CHRNG-Gens, das die den fetalen AChR determinierende γ-Untereinheit kodiert, führen zu einer Arthrogryposis multiplex congenita mit multiplen Pterygien (Escobar-Syndrom) und den gleichen Symptomen, die auch mütterliche Antikörper gegen den fetalen AChR hervorrufen können (7 Abschn. 9.4.1).

jjTherapie Die Therapie basiert zum einen auf der Verbesserung der neuromuskulären Übertragung durch Hemmung der AChE an der neu-

jjKlinik, Verlauf Typisch sind eine Manifestation im Neugeborenen- bis Kleinkindesalter unterschiedlicher Schweregrade, die von einer leichten Muskel-

227 Neuromuskuläre Erkrankungen

schwäche bis zur schweren Verlaufsform eines „floppy infant“ ­reichen. Die Begleitsymptome sind wechselnd ausgeprägte Ptosis, Facies myopathica, leises Schreien sowie Schluck- und Saugschwächen. Im Säuglingsalter kann es zu Apnoen mit plötzlichem Kindstod oder bei respiratorischen Infekten zu einer lebensbe­ drohlichen  Ateminsuffizienz kommen. Im Jugendalter treten eine ab­norme Ermüdbarkeit der Muskulatur bei Belastung mit Ptosis mit oder ohne Augenmuskellähmung und eine meist proximal betonte ­Muskelschwäche der Extremitäten in den Vordergrund. Bei einigen CMS kann es auch jenseits des Kleinkindesalters zu krisenhaften Verschlechterungen mit lebensbedrohlichen Atemmuskellähmungen kommen.

nals. Nach willkürlicher Kontraktion kommt es bei diesen Patienten zu weiteren Muskelaktionspotenzialen, weil die vorwiegend stabilisierende Funktion des Chloridkanals eingeschränkt ist. Diese ­Dauererregung imponiert klinisch als Muskelstarre. Die hyperkaliämische periodische Paralyse und die Paramyotonia congenita sind verursacht durch Mutationen der α-Untereinheit eines Natrium­ kanals (SCN4A-Gen), die primäre hypokaliämische periodische Paralyse durch Mutationen der α1-Untereinheit eines Kalzium­ kanals (CACNA1S-Gen), eines spannungsabhängigen Kalium­ kanals (KCNE3-Gen) oder des SCN4A-Gens. Eine Ausnahme bildet die seltene chondrodystrophische Myotonie (Schwartz-Jampel-Syndrom), die mit Kleinwuchs und Skelettfehlbildungen einhergeht und bei der die Myotonie nicht primär­ a­­uf einem Ionenkanaldefekt beruht, sondern auf Mutationen des Perlecan-Gens.

jjDiagnose Neben der typischen klinischen Symptomatik mit Manifestation im Säuglings- oder Kindesalter sind der fehlende Nachweis von AChR!! Cave und MUSK-Antikörpern im Serum Voraussetzung für die Diagnose Ionenkanaldefekte der Muskelzelle gehen mit einem erhöhten eines CMS. Im EMG zeigt sich unter der repetitiven Stimulation­ Narkoserisiko einher. (7 Abschn. 9.4.1, Diagnose) ein pathologisches Dekrement. Derzeit sind >30 Gene kausal für CMS verantwortlich. RAPSN- und ­CHRNE-Mutationen sind relativ häufig und zuerst abzuklären. Myotonia congenita Becker und Thomsen  Die generalisierte, autosomal-rezessive Myotonia congenita vom Typ Becker wird jjTherapie, Prognose zwischen dem 3. und 30. Lebensjahr klinisch manifest. Die ersten In der Regel ist die Prognose gut. In vielen Fällen sprechen die Beschwerden beginnen in den Beinen und breiten sich in den folgenPatienten auf den AChE-Hemmer Pyridostigminbromid an den Jahren auf die Arm-, Gesichts- und Nackenmuskulatur aus. Bei ­ (. Abb. 9.2), dies gilt nicht für Patienten mit einer COLQ-Mutation, der Mehrzahl der Patienten folgt nach einer transienten Muskelbei denen Ephedrin oder Salbutamol positive Effekte zeigen und schwäche der Arme oder Hände über mehrere Sekunden die myoAChE-Hemmer kontraindiziert sind. Eine Behandlungsalternative tone Muskelversteifung. Letztere hindert die Betroffenen an der bietet das 3,4-Diaminopyridin, durch das die ACh-Freisetzung er- Ausführung einer Bewegung und ist von einer anhaltenden Inaktihöht wird und das auch in Kombination mit Pyridostigminbromid vität gefolgt (Unfähigkeit, Hände nach repetitivem Faustschluss gegeben werden kann. Patienten mit einem Slow-channel-Syndrom rasch zu öffnen). Viele Patienten entwickeln eine deutliche Hyperprofitieren von einer Therapie mit Chinidin. Eine solche Therapie trophie ihrer Muskulatur. Typisch sind das Warm-up-Phänomen kann bei anderen Formen der CMS zu einer Verschlechterung der und sog. „myotonic runs“ im Elektromyogramm (EMG). Die Symp­ Symptomatik führen. So ist die molekulargenetische Abklärung tome verstärken sich bei Kälte, in Stresssituationen und nach Ruhe. wichtige Voraussetzung für eine langfristig sinnvolle Therapie. Der autosomal-dominante Typ Thomsen stellt eine mildere Verlaufsform dar. Das betroffene Neugeborene kann nach dem Schreien oder nach dem Waschen mit kaltem Wasser nicht die ­Augen öffnen. Im späteren Lebensalter bleibt bei Blickwendung 9.5 Myotonie, periodische Paralyse ­ nach unten das Augenweiß sichtbar, da das Oberlid verzögert mitund Paramyotonie geht („lid lag“, Graefe-Zeichen). jjGrundlagen Endplattenpotenziale (7 Abschn. 9.4, Grundlagen) öffnen Natrium- Hypokaliämische periodische Paralyse  Die hypokaliämische kanäle des Sarkolemm. Deren Aktionspotenziale wiederum öffnen ­periodische Paralyse manifestiert sich meist vor dem 16. Lebensjahr. an der Triade des T-tubulären Systems und sarkoplasmatischen Während es bei der milden Form nur vereinzelt zu Episoden mit Retikulums Kalziumkanäle, Kalzium wird freigesetzt und die generalisierten Muskelschwächeanfällen kommt, sind bei der schwe­ ­Muskelkontraktion findet statt. ren Form Anfälle so häufig, dass zwischen den Episoden keine ­normale Muskelkraft erlangt wird. Die mit einer Hypokaliämie verjjDefinition bundenen Anfälle treten typischerweise in der zweiten Nachthälfte Ionenkanaldefekte der Muskelzelle führen zu einer Myotonie und beim Aufstehen auf. Auslösende Faktoren sind hohe körperliche ­(hyperexzitables Sarkolemm) mit verzögerter Erschlaffung der Belastung oder kohlenhydrat- bzw. natriumreiche Nahrung am ­Muskulatur oder zu einer Paralyse (hypoexzitables Sarkolemm) mit ­Vortag. Unabhängig von der Häufigkeit der Anfälle kann sich eine temporär eingeschränkter Muskelfunktion. Durch wiederholte chronisch progrediente Myopathie entwickeln. Myotone EMG-Ver­Muskelkontraktionen nimmt die Myotonie bei Chlorid- und weni- änderungen findet man in der Regel nicht. Ist der Kaliumspiegel im ger ausgeprägt bei Natriumkanaldefekten ab (Warm-up-Phäno- Serum auch zwischen den Anfällen erniedrigt, so kann es sich um men), während sie bei der Paramyotonie „paradox“ zunimmt. Die eine sekundäre hypokaliämische periodische Paralyse mit renaperiodischen Paralysen zeichnen sich durch spontan auftretende lem oder gastrointestinalem Kaliumverlust oder auch um eine ­ hyreotoxikose handeln. Episoden schlaffer Muskelschwäche aus. T jjPathogenese Die Myotonia congenita vom autosomal-rezessiven Typ Becker und vom dominanten Typ Thomsen sind verursacht durch Mutationen eines Chloridkanals (CLCN1-Gen), seltener auch des Natriumka-

Hyperkaliämische periodische Paralyse  Das klinische Bild der

hyperkaliämischen periodischen Paralyse ist variabler als das der hypokaliämischen Form. Patienten können von einer Myotonie mit entsprechenden Veränderungen im EMG oder einer Paramyotonie

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betroffen sein. Erste Schwächeanfälle treten innerhalb der ersten 10 Lebensjahre auf und nehmen typischerweise im Alter wieder ab. Die morgens auftretenden Schwächeanfälle sind häufiger und ­milder als bei der hypokaliämischen Form. Anfälle können durch kaliumhaltige Nahrung, Stress und Glukokortikoide provoziert werden. Im Anfall kann der Kaliumspiegel bis auf ca. 6 mmol/l ansteigen oder auch normal bleiben. Paramyotonia congenita  Hauptsymptom der Paramyotonia congenita sind das Auftreten bei Kälteexposition und die „paradoxe“ Zunahme der Myotonie während einer muskulären Belastung. Prädilektionsorte sind Gesicht (Amimie bei Kälte) und distale obere Extremitäten. Die paramyotonen Symptome sind kongenital (Nichtöffnen der Augen des Neugeborenen nach dem Schreien oder ­Waschen mit kaltem Wasser) oder spätestens bis zum 10. Lebensjahr sichtbar, in der Regel nicht progredient und persistieren lebenslang. Muskelschwächeanfälle manifestieren sich während der Adoleszenz.

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jjDiagnose Die Reihenfolge der zu untersuchenden Gene richtet sich nach der Klinik, die allerdings nur erste Anhaltspunkte bieten kann, da die Symptome sich überlappen. Die häufigste Verlaufsform im Kindesalter ist die Myotonia congenita Becker, die durch Sequenzierung des CLCN1-Gens abgeklärt wird. Wenn dies negativ bleibt, empfiehlt sich eine Untersuchung des SCNA4-Gens. jjTherapie Die molekulargenetische Abklärung ist eine Voraussetzung einer jeden Therapie, da in Abhängigkeit vom betroffenen Ionenkanal die verschiedenen Medikamente die Myotonie verschlimmern oder verbessern können. Eine Therapie der Myotonia congenita ist unter Berücksichtigung der potenziell erheblichen Nebenwirkungen vorhandener Substanzen nur bei schweren Verläufen indiziert. Das ­Medikament der ersten Wahl ist der Natriumkanalblocker Mexiletin. Medikamente der zweiten und dritten Wahl sind Carbamazepin und Phenytoin. Bei der hypokaliämischen periodischen Paralyse können Schwächeanfälle durch die perorale Einnahme ungesüßten Kaliumchlorids abgemildert werden. Kohlenhydratreiche Mahlzeiten sind ebenso zu vermeiden wie körperliche Belastung. Natrium, Antiphlogistika oder Lokalanästhetika können schwere Anfälle auslösen. Die Therapie mit Acetazolamid und anderen Medikamenten ist Aufgabe des Spezialisten. Bei der hyperkaliämischen periodischen Paralyse wirken zahlreiche kohlenhydratreiche, kaliumarme Mahlzeiten präventiv. Bariumhaltige Kontrastmittel sind kontraindiziert. Schwächeanfälle können durch die perorale rasche Einnahme von Traubenzucker abgefangen werden. Präventive Maßnahmen zur Stabilisierung der Körpertemperatur und des Kaliumserumspiegels sind bei jedem Eingriff mit Narkose indiziert. Bei der Paramyotonia congenita sollten depolarisierende Muskelrelaxanzien gemieden und eine Auskühlung des Körpers vermieden werden; eine Therapie ist meist überflüssig. 9.6

Myotone Dystrophien

j jDefinition Myotone Dystrophien (DM) sind Multisystemerkrankungen, bei denen neben dem Muskel (Myotonie und Muskeldystrophie) wei­tere Organsysteme beteiligt sind. Man unterscheidet zwei Formen, die myotone Dystrophie Typ 1 (DM1; Curschmann-Steinert-Krankheit) und die DM Typ2 (DM2; proximale myotone Myopathie, PROMM).

jjEpidemiologie Die Inzidenz liegt bei 1:8.000 (DM1) und 1:20.000 (DM2). jjPathogenese Die beiden Formen der DM sind autosomal-dominant und beruhen auf Repeat-Expansionen. Genetische Ursache der DM1 ist die Verlängerung eines CTG-Trinukleotid-Repeats auf >50 Repeats in der 3’-nicht-translatierten Region des Myotonin-Protein-Kinase-Gens (DMPK) und bei der DM2 die eines CCTG-Repeats (ca. 5.000 Repeats, normal: 10–30 Repeats) im 1. Intron des Zinc-finger-protein9-Gens (ZNF9). Die expandierten CUG- und CCUG-(RNA-)Repeats nehmen Einfluss auf die RNA-Prozessierung und Expression verschiedener Gene. So ist bei der DM1 die Myotonie durch eine defekte RNA-Prozessierung des intakten Chloridkanal-Gens CLCN1 verursacht (7 Abschn. 9.5, Pathogenese). Expandierte CTG-Repeats sind instabil und können von Generation zu Generation weiter zunehmen. Entsprechend können bei der DM1 das Manifestationsalter ab- und die Schwere der Erkrankung zunehmen (Antizipation). Eine solche Genotyp-Phänotyp-Korrelation ist bei der DM2 deutlich weniger ausgeprägt. Myotone Dystrophie Typ 1 (DM1)  Die schwerste und kongenitale Form der DM1 mit >1.000 CTG-Repeats ist immer vererbt und dies

überwiegend von der Mutter, möglicherweise gehen Spermatozyten mit sehr hoher Repeatzahl zugrunde. Die Neugeborenen zeigen eine Facies myopathica, meist mit hochgezogener Oberlippe, und eine generalisierte Hypotonie („floppy infant“) mit oft lebensbedrohlicher Ateminsuffizienz in den ersten Lebenswochen. Später halten diese Kinder den Mund geöffnet, was den Eindruck der vorhandenen mentalen Retardierung noch verstärkt (. Abb. 9.3). Die Myotonie tritt meist erst nach dem 10. Lebensjahr auf. Hauptsymptome der juvenilen Form sind Antriebsarmut, distal  betonte Muskelschwäche, Myotonie, ausgeprägte Facies myo­ pathica, Ptosis, Atrophie der Gesichtsmuskulatur, durch die der ­Patient einen abgezehrten, hageren Eindruck vermittelt. Die Myo­ tonie kann durch eine Perkussion der Zunge und durch ein Elektromyogramm (EMG) nachgewiesen werden. Weitere Symptome der kongenitalen wie der juvenilen Formen sind Katarakt und Innenohrschwerhörigkeit, Schluckstörung und Dysarthrie, Symptome einer Schwäche der glatten Muskulatur mit Cholelithiasis, Obsti­ pation oder Megakolon, eine Skoliose, periphere Neuropathien, ­Hypersomnie und Intelligenzminderung sowie eine Stirnglatze bei Männern. Kardiologisch sind Kardiomyopathie, Mitralklappenprolaps und Herzreizleitungsstörungen, die zum plötzlichen Herztod führen können, möglich und sorgfältig abzuklären. Häufige endokrine Störungen sind Hodenatrophie, Amenorrhö und er­höhte FSH- und Insulinspiegel im Serum, selten ein Diabetes mellitus. Bei der milden Form, die sich meist im mittleren Alter manifestiert, stehen nicht die muskulären Symptome, sondern eine Dysarthrie und eine Katarakt im Vordergrund. Myotone Dystrophie Typ 2 (DM2)  DM2-Patienten leiden wie DM1-Patienten unter einer progredienten Muskelschwäche, Myotonie, kardialen Arrhythmie, Katarakt, Hodenatrophie und Insulinresistenz. Im Unterschied zur DM1 ist bei der DM2 bisher nur ein Fall mit kongenitaler Manifestation und verzögerter mentaler Entwicklung bekannt. Antriebsschwäche, Hypersomnie und distal betonte und faziale Muskelschwäche führen den DM2-Patienten selten zum Arzt führen. Vielmehr sind Muskelschmerzen oder -versteifung oder proximal betonte Muskelschwäche der unteren Extremitäten isolierte erste Symptome. Die DM2 wird selten vor dem zweiten ­Lebensjahrzehnt manifest.

229 Neuromuskuläre Erkrankungen

..Abb. 9.3  Kongenitale myotone Dystrophie (DM1). a Bei Neugeborenem und b Jugendlichem: Facies myopathica, offener Mund und mentale Retardierung. (Mit freundl. Genehmigung von Herrn Prof. Dr. C. Hübner)

a

jjDiagnose Bei der kongenitalen und infantilen DM steht neben der des Kindes die Abklärung der nahezu immer betroffenen Mutter im Vordergrund (Facies myopathica, Dysarthrie, Katarakt). Eine molekulargenetische Untersuchung der CTG-Repeats im DMPK-Gen (DM1) und danach der CCTG-Repeats im ZNF9-Gen (DM2) schließen sich an. jjDifferenzialdiagnose Die Hypersomnie der DM1 wird leicht verwechselt mit einer Narkolepsie. Die Zeichen einer Myotonie im Säuglingsalter weisen auf eine Paramyotonia congenita oder eine Myotonia congenita Typ Thomsen, nicht auf eine kongenitale myotone Dystrophie, bei der die Myotonie erst später manifest wird. Eine Ptosis im Säuglingsalter findet man häufiger beim Möbius-Syndrom, bei einer Myasthenie oder auch einigen kongenitalen Myopathien. jjTherapie Eine kausale Therapie ist nicht möglich. Bei Herzreizleitungsstörungen ist eine Indikation einer Versorgung mit einem Herzschrittmacher zu klären. Vor jeder Narkose muss der Anästhesist über die Diagnose und den pulmonalen und kardialen Befund informiert werden. !! Cave Depolarisierende Relaxanzien und Neostigmin sind zu meiden. Barbiturate, Opiate und Benzodiazepine können zu einer schweren Apnoe führen.

9.7

Muskeldystrophien

jjDefinition Muskeldystrophien sind eine heterogene Gruppe hereditärer ­Erkrankungen, die durch progrediente Muskelschwäche gekennzeichnet sind und deren primärer Defekt in der Muskelzelle zu ­finden ist. Es sind mehr als 30 verschiedene Genorte für Muskel­ dystrophien bekannt. Allen Muskeldystrophien gemein sind eine Muskelfaserdegeneration und -regeneration und bereits im frühen Stadium eine endo- und perimysiale Fibrose.

b

jjDiagnose Die Diagnostik umfasst eine (Familien)anamnese (inkl. Stammbaum), eine kardiologische und neurologische Untersuchung und die Bestimmung der Kreatinkinaseaktivität (CK) im Serum und in manchen Fällen und insbesondere bei kongenitalen Muskeldystrophien eine Untersuchung des ZNS (MRT) inkl. der Augen. In der Regel schließt sich eine Muskelbiopsie zur weiterführenden Diagnostik an. Die Analysen der Histopathologie inkl. Immunhistochemie und der Proteine (Western-Blot) und ggf. eine molekulargenetische Analyse aus EDTA. Eine Ausnahme bildet die Abklärung der Muskeldystrophie Duchenne, bei der meist auf eine Muskelbiopsie verzichtet ­werden kann. jjTherapie Eine kausale Therapie besteht nicht. Experimentelle Ansätze zur Gen- und Stammzelltherapie sind klinisch nicht etabliert. Im Vordergrund stehen eine symptomatische Therapie und die Behandlung von Komplikationen. Mit dem Ziel, Therapiemaßnahmen rechtzeitig einzuleiten, sollten regelmäßig neurologische, kardiologische (EKG, Echo), pulmonologische (Lungenfunktion, nächtliche Pulsoxymetrie/Polysomnographie) und orthopädische Untersuchungen erfolgen. Eine Physiotherapie dient der Vorbeugung von Gelenkkontrakturen und Verbesserung der respiratorischen Situation. Eine fortschreitende Kardiomyopathie oder Herzrhythmusstörungen sind frühzeitig zu behandeln. Die Indikation einer Heimbeatmung ist abzuklären bei anamnestischen Hinweisen auf eine nächtliche Hypoventilation wie Schnarchen, Mundtrockenheit beim Aufstehen, Kopfschmerzen und Tagesmüdigkeit. Eine psychologische Betreuung des Kindes und/oder der Familie sowie eine Beratung der Eltern durch einen Humangenetiker sind oft sinnvoll. 9.7.1

Dystrophinopathien

jjEpidemiologie Die beiden Verlaufsformen der Dystrophinopathie sind die ­ uchenne- (DMD) und die Becker-Muskeldystrophie (BMD), D sehr milde Formen, die nur mit einer erhöhten CK im Serum oder Myalgien einhergehen, sind selten. Die DMD ist die häufigste Mus-

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..Abb. 9.4  Der Dystrophin-Glykoprotein-Komplex (DGC) verbindet das subsarkolemmale Zytoskelet mit der extrazellulären Matrix. Mutationen der die einzelnen Proteine kodierenden Gene führen zu Muskeldystrophien. BMD Becker-Muskeldystrophie; DMD Duchenne-Muskeldystrophie; FCMD „Fukuyama ­congenital muscular dystrophy“; LGMD „limb girdle muscular dystrophy“; MDC „muscular dystrophy ­congenital“; MEB „muscle-eye-brain disease“; WWS Walker-Warburg-Syndrom. (Mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. V. Straub, Newcastle upon Tyne)

• LGMD 2C • LGMD 2D • LGMD 2E • LGMD 2F

LGND 2I • MDC 1B • MDC 1C • FCMD • WWS • MEB α-, β-Dystroglycan

Laminin-2 MDC 1A

LGMD 1C

Sarcoplycane Sarcospan Caveolin-3 δ α

β

Dysferlin LGMD 2B

γ

Dystrobrevin

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Syntrophine

Dystrophin DMD/BMD F-Actin

keldystrophie und hat eine Inzidenz von ca. 1:3.500 männlichen ­Lebendgeburten und eine Prävalenz von 32:1 Mio. Kinder. Die BMD ist mit einer Inzidenz von ca. 1:5.000 Neugeborenen seltener.

keln, die sich an den Waden leicht tasten lässt und später zu einer Spitzfußneigung und Kontraktur der Sprunggelenke führt. Mit ­fortschreitenden Lebensjahren entwickeln die Kinder einen Watschelgang, eine deutliche Schultergürtelschwäche mit abstehenden j jPathogenese Schulterblättern und eine Hyperlordose. Jenseits des 7. Lebensjahres Ursache der X-chromosomal-rezessiven und damit in erster Linie nehmen die Fähigkeiten wie Treppensteigen und Laufen rasch ab, das männliche Geschlecht betreffenden DMD und BMD sind Muta- und die Kinder werden zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr rolltionen im Dystrophin-Gen (DMD; Xp21). Am häufigsten liegen stuhlpflichtig. Komplikationen entwickeln sich durch BeugekonDeletionen (60–65%), seltener Duplikationen (5–10%) oder Punkt- trakturen, eine Skoliose, eine zunehmende respiratorische Insuffizimutationen vor. In der Regel führen DMD-Mutationen, die den enz und eine Mitbeteiligung des Herzmuskels (Kardiomyopathie) ­Leserahmen des Gens verschieben (Nonsense- oder Out-of-frame- und Reizleitungsstörungen. In ⅓ der Fälle ist eine nicht progre­ Mutationen), zur schweren Verlaufsform der DMD und DMD-­ diente kognitive Teilleistungsschwäche festzustellen. Das gelegent­ Mutationen ohne Auswirkungen auf den Leserahmen (Missense- liche Auftreten von Blasenentleerungsstörungen, paralytischem oder In-frame-Mutationen) zur milderen BMD. In der Skelett­ Ileus und Magendilatation spricht für eine Beteiligung der glatten muskelzelle verbindet der Dystrophin-Glykoprotein-Komplex Muskulatur. Das Versagen der Atmung oder des Herzmuskels führen (DGC; . Abb. 9.4) die extrazelluläre Matrix mit dem Zytoskelett. bei unbehandelter DMD meist vor dem 20. Lebensjahr zum Tod. Dabei fungiert Dystrophin als Kettenglied zwischen F-Actin und BMD-Patienten können je nach Mutation auch eine normale Dystroglycan. Fehlt Dystrophin, so kommt es wahrscheinlich Lebenserwartung haben; sie bedürfen einer lebenslänglich regel­ ­während der Kontraktions- und Relaxationsphasen zu Schäden der mäßigen kardiologischen Untersuchung aufgrund der potenziellen Muskelfasern. Entwicklung einer Kardiomyopathie. Die Mütter der Patienten sind als Überträgerinnen überwiegend klinisch unauffällig, zeigen aber j jKlinik, Verlauf in 70% eine Erhöhung der CK im Serum und können eine KardioErste Symptome werden bei der DMD meist im Kleinkindesalter myopathie entwickeln. ­beobachtet (bei >50% verzögerte statomotorische Entwicklung). Eindeutig manifest wird die zunächst symmetrisch proximal betonte jjDiagnose Muskelschwäche meist erst ab einem Alter von 3–5 Jahren. Die Jun- Muskelschwäche und eine deutlich erhöhte CK im Serum lenken bei gen fallen durch eine Fallneigung und Schwierigkeiten beim Rennen einem männlichen Kleinkind schnell den Verdacht auf das Vor­ und Treppensteigen auf. Diagnostische Zeichen der Beckengürtel- liegen einer DMD. Bei dieser Konstellation ist der erste diagnostische schwäche ist das Gowers-Phänomen, das „Hochklettern“ an den Schritt die genetische Analyse (MLPA-Methode), womit 80% der eigenen Beinen beim Aufrichten aus dem Sitzen (. Abb. 9.5a). Durch Mutationen im DMD-Gen entdeckt werden können. Es folgt bei die fortschreitende Verfettung und Fibrosierung der Muskulatur fehlendem Mutationsnachweis die Gesamtsequenzierung des kommt es zu einer Induration und Pseudohypertrophie der Mus- ­Dystrophin-Gens. Zur differenzialdiagnostischen Abklärung kann

231 Neuromuskuläre Erkrankungen

..Abb. 9.5  Positives Gowers-Phänomen als ­Zeichen einer proximal betonten Muskelschwäche. ­ a 8-jähriger Junge mit X-chromosomal-rezessiver ­Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) und Pseudohypertrophie der Muskulatur. b 16-jährige Jugendliche mit einer autosomal-rezessiven Gliedergürtelmuskeldystrophie mit Mutation des Calpain-3-Gens ­(LGMD2A). (Mit freundl. Genehmigung von Herrn Prof. Dr. C. Hübner)

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die Durchführung einer Muskelbiopsie sinnvoll sein. Bleibt die ­Diagnose nach der immunhistochemischen Analyse von Dystrophin auf Gefrierschnitten unklar, so schließt sich eine Western-BlotUntersuchung an. Es werden Muskelproteine der Größe nach aufgetrennt und mit spezifischen Antikörpern detektiert, wie z. B. auf Nonsense-Mutationen beruhende verkürzte Dystrophine. jjDifferenzialdiagnose Eine Schwäche der Schulter- und Beckengürtelmuskulatur inkl. Gowers-Phänomen zeigen auch Patienten mit einer Gliedergürteldystrophie (LGMD) und Patienten mit einer SMA3, letztere geht aber mit einer nicht oder nur gering erhöhten CK im Serum einher. Weitere Differenzialdiagnosen sind die Emery-Dreifuss- und die fazioskapulohumerale Muskeldystrophie und einige metabolische Myopathien, insbesondere die Glykogenosen Typ II und V (7 Kap. 3.8). jjTherapie Durch eine Behandlung mit Prednisolon ab dem 5. Lebensjahr kann die Progredienz der Muskelschwäche temporär verzögert werden. Es müssen Nebenwirkungen berücksichtigt werden, besonders ­Gewichtszunahme, vermindertes Längenwachstum und Kataraktentwicklung. Für Patienten mit DMD und zu einem Stopp-Kodon führenden Punktmutationen steht zusätzlich Translarna (Ataluren) in einigen Ländern zur Verfügung, welches dazu führt, dass das vorzeitige Stopp-Kodon überlesen wird. >> Es gibt bis heute keine Therapieform, durch die das Fortschreiten der Krankheit wesentlich beeinflusst wird. Durch eine multiprofessionelle Betreuung und Therapie können ­Lebenserwartung und -qualität verbessert werden.

9.7.2

Gliedergürtelmuskeldystrophien

jjEpidemiologie Die Prävalenz der „limb-girdle muscular dystrophies“ (LGMD) liegt bei etwa 1:100.000.

jjPathogenese Die LGMD folgen einem autosomal-dominanten (LGMD1) oder rezessiven (LGMD2) Erbgang und sind verursacht durch Mutationen von Genen, die zum großen Teil Proteine der extrazellulären Matrix, des Sarkolemms und des subsarkolemmalen Zytoskeletts kodieren (. Abb. 9.4) oder an der posttranslationalen Modifikation und Prozessierung von Proteinen beteiligt sind. jjKlinik, Verlauf Leitsymptom ist ähnlich wie bei der DMD eine progrediente Muskelschwäche insbesondere im Bereich der Schulter- und Becken­ gürtelmuskulatur („limb-girdle muscular dystrophy“, LGMD; . Abb. 9.5b). Die Muskelschwäche kann sich im Verlauf auf die distalen Abschnitte der Extremitäten ausdehnen. Es besteht eine große inter- und intrafamiliäre Variabilität des Phänotyps. Die LGMD nehmen meist einen milderen Verlauf als die DMD. jjDiagnose Eine Manifestation im Kleinkindesalter und eine dilatative Kardiomyopathie kennzeichnen die Gruppe der autosomal-rezessiven Sarkoglykanopathien (LGMD2C-F). Eine Manifestation im 2. Lebensjahrzehnt und eine Pseudohypertrophie der Waden sind typisch für die autosomal-rezessive LGMD2A mit Mutation des CAPN3-Gens, das die muskelspezifische Protease Calpain 3 kodiert (. Abb. 9.5b). Ein der DMD ähnliches klinisches Bild in Verbindung mit einer ­Makroglossie, die man bei DMD-Patienten nur selten sieht, sind Leitsymptome einer autosomal-rezessiven LGMD2I, die auf Muta­ tionen des FKRP-Gens beruht. Kardiomyopathien mit atrioventrikulärer Reizleitungsstörung lenken den Verdacht auf eine autosomaldominante LGMD1B. Schmerzhafter Zehenspitzengang oder ­Muskelkrämpfe und (durch den Reflexhammer leicht auslösbare) rasche, wellenartig sich ausbreitende Muskelkontraktionen („rippling“) am M. quadriceps femoris, die von myotonen Reaktionen abzugrenzen sind, sind Leitsymptome einer autosomal-dominanten LGMD1C. In der Regel führt nicht allein der Phänotyp zum zugrundeliegenden Genotyp und damit zur Diagnose, sondern Analysen einer Muskelbiopsie und ggf. eine Kopplungsanalyse, denen sich die Sequenzierung der in Frage kommenden Kandidatengene anschließt.

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A.M. Kaindl et al.

b

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a

j jDifferenzialdiagnose Neben den unter der DMD aufgeführten sind weitere Differenzialdiagnosen die sicher auszuschließenden Dystrophinopathien und kongenitale Muskeldystrophien. 9.7.3

Kongenitale Muskeldystrophien (MDC)

j jEpidemiologie Die geschätzte Prävalenz der MDC in der kaukasischen Bevölkerung unter 16 Jahren beträgt 2–3:100.000. j jPathogenese Die kongenitalen Muskeldystrophien („muscular dystrophy congenital“, MDC) sind eine heterogene Gruppe autosomal-rezessiv ­vererbter Erkrankungen. α- und β-Dystroglycan sind Schlüssel­ elemente im Dystrophin-Glykoprotein-Komplex (. Abb. 9.4). Beide Proteine werden von einem Gen transkribiert, posttranslational modifiziert und ubiquitär exprimiert. Das stark glykosylierte ­ α-Dystroglycan dient als Rezeptor für Basalmembranproteine wie Laminine. Mutationen des Laminin-α2-Gens führen zu der häufigsten MDC in der kaukasischen Bevölkerung (MDC1A; . Abb. 9.6a). Mutationen in Glykosyltransferasen verursachen die „congential disorders of O-glycosylation“ (CDG-Syndrome) oder α-Dystro­gly­ kanopathien (MDC1C, Walker-Warburg-Syndrom, muscle-­eyebrain disease, Fukuyama MDC). Weitere MDC wie z. B. solche mit proximal betonten Kontrakturen beruhen auf Defekten extrazellulärer Proteine. jjKlinik MDC zeichnen sich durch eine in der Regel frühe Manifestation (muskuläre Hypotonie, respiratorische Insuffizienz, Trinkschwierigkeiten, Kardiomyopathie, „floppy infant“) bei Geburt oder in den ersten Lebensmonaten aus. Sowohl eine Arthrogryposis multiplex congenita als auch eine abnorme Überstreckbarkeit der Gelenke werden beobachtet. Nicht selten sind das periphere oder zentrale Nervensystem (demyelinisierende Neuropathien, mentale Retar-

..Abb. 9.6  Typische Verteilungsmuster einer Muskelatrophie bei Muskeldystrophien. a Kongenitale Muskeldystrophie mit Mutation des Lamininα2-Gens (MDC1A): ausgeprägte Muskelatrophie mit konsekutiver Entwicklung einer Trichterbrust. b Aspekt des Schultergürtels eines 15-jährigen Jungen mit einer fazioskapulohumeralen Muskeldystrophie (FSHD), der ­seine Arme kaum bis in die Horizontale heben kann: Scapula alata, ­Schultergürtelmuskelatrophie mit relativer Aussparung des M. deltoideus. (Mit freundl. Genehmigung von Herrn Prof. Dr. C. Hübner)

dierung, Epilepsie, Migrationsstörungen wie Lissenzephalie, Pachyoder Polymikrogyrie, Hydrozephalus, Leukodystrophie, Hirnstammhypotrophie, zerebelläre Zysten) und die vorderen und hinteren Augenabschnitte mitbeteiligt (Kararakt, Glaukom, retinale Dysplasien, Myopie, Optikusatrophie, Megakornea, Nystagmus, Ophthalmoplegie). Es besteht eine ausgeprägte Variabilität des ­Phänotyps, soweit bekannt, zeigen aber alle MDC-Formen einen progredienten Verlauf. jjDiagnose Neben der neurologischen stehen augenärztliche und kardiologische Untersuchungen im Vordergrund. Es folgen eine Bestimmung der CK im Serum, elektrophysiologische Untersuchungen, eine SchädelMRT, die immunhistochemische Analyse einer Muskelbiopsie und eine Sequenzierung der in Frage kommenden Kandidatengene. Die häufige MDC1A (. Abb. 9.6a) ist meist mit einer Leukenzephalopathie vergesellschaftet. Eine ausgeprägte Makroglossie ist ein Leitsymptom der MDC1C, Fehlbildungen des Hirns oder der Augen lassen an eine MDC1C, „muscle eye brain disease“, kongenitale ­Muskeldystrophie Fukuyama oder das Walker-Warburg-Syndrom denken, eine starre Wirbelsäule an eine „Rigid-spine“-Muskeldystrophie, und Kontrakturen der proximalen und Überstreckbarkeit der distalen Gelenke an eine MDC vom Typ Ullrich. 9.7.4

Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie (FSHD)

jjEpidemiologie Die Prävalenz der FSHD beträgt ca. 1:20.000. jjPathogenese Die FSHD wird autosomal-dominant vererbt. Die deutlich höhere Penetranz bei Männern kann innerhalb einer Familie einen X-chromosomalen Erbgang vortäuschen. Ca. 10% der Patienten haben ­De-novo-Mutationen. Zur Erkrankung trägt eine Verkürzung eines extragen gelegenen Tandem-Repeats auf Chromosom 4q35 (D4Z4-

233 Neuromuskuläre Erkrankungen

Repeats) bei, die aber nicht allein für die Pathogenese der FSHD verantwortlich ist. jjKlinik und Verlauf Die FSHD betrifft vorwiegend Jugendliche und Erwachsene. Die klinische Abgrenzung zu anderen Muskeldystrophien gelingt über die typische Verteilung der (oft initial asymmetrischen) Muskelschwäche und -atrophie im Bereich des Gesichts (Facies myopathica), des Schultergürtels (Scapula alata) und der Oberarme (. Abb. 9.6b). Wegen der Schwäche der Gesichtsmuskulatur können die Patienten oft nicht pfeifen und haben Schwierigkeiten beim ­Augenschluss. Im weiteren Verlauf kommt es auch zur Schwäche der Unterarm-, Unterschenkel- und Beckengürtelmuskulatur. Eine Hochtonschwerhörigkeit (bei ⅔ der Patienten) und retinale Teleangiektasien können assoziiert sein, sind aber selten symptomatisch. Die Patienten gehen oft zum Arzt auf Grund ihrer Muskelschmerzen, erheblichen Probleme, die Arme über den Kopf zu heben (. Abb. 9.6b), und einer Fußheberschwäche. Der Verlauf ist mit Ausnahme seltener schwer verlaufender infantiler Formen langsam ­progredient. Ca. 20% aller Patienten werden im fortgeschrittenen Alter rollstuhlabhängig, die Lebenserwartung ist fast normal. jjDiagnose Die klinische Verdachtsdiagnose wird durch den molekulargenetischen Nachweis von Deletionen auf Chromosom 4q35 gesichert. 9.7.5

Emery-Dreifuss-Muskeldystrophien (EDMD)

jjGrundlagen Die Gruppe der heterogenen EDMD werden X-chromosomal, autosomal-dominant oder selten auch autosomal-rezessiv vererbt. Ursache aller EDMD sind Mutationen von Genen (X-chromosomales EMD, autosomale LMNA, SYNE-1/2), deren Proteine alle miteinander interagieren und bei der Verknüpfung des Kern- mit dem Zytoskelett eine Rolle spielen (Emerin, Lamin-A/C, Nesprin-1 und -2). jjKlinik Die heterogenen EDMD sind durch eine langsam progrediente Muskelschwäche, die häufig im Kindesalter beginnt, und durch früh auftretende Kontrakturen und eine Kardiomyopathie gekennzeichnet. Die Muskelschwäche zeigt ein humeroperonäales Verteilungsmuster, d. h. eine proximale Beteiligung im Bereich der oberen und eine distale im Bereich der unteren Extremitäten. Die Gehfähigkeit bleibt meist lange erhalten. Kontrakturen betreffen in erster ­Linie die Ellenbogen, die oberen Sprunggelenke und die Wirbel­säule („rigid spine“). Eine dilatative Kardiomyopathie mit Reizleitungsstörungen und später lebensbedrohlichen ventrikulären Tachyarrhythmien (plötzlicher Herztod) wird meist im frühen Erwachsenenalter, seltener im Kindesalter beobachtet. jjDiagnose Treten zu einem X-chromosomalen oder autosomal-dominanten Erbgang die Symptome humeroperonäale Muskelschwäche und ­kardiale Reizleitungsstörungen, ist die Diagnose suggestiv. Die CK ist oft leicht erhöht. Immunhistochemisch lassen sich das Fehlen einer Emerin-Synthese, nicht aber einer Lamin-A/C-Expression (da dominant vererbt und somit immer auch eine normale Kopie des Gens vorhanden) im Muskelgewebe nachweisen. Die EmerinSynthese kann auch in Zellen der Mundschleimhaut oder an Hautzellen durch Western-Blot-Untersuchungen überprüft werden. Bei

der X-chromosomalen Form können auch die weiblichen, meist klinisch unauffälligen Überträgerinnen an Herzrhythmusstörungen erkranken. jjTherapie Es gibt keine kausale Therapie. Wichtig ist eine stringente Diagnosestellung zur rechtzeitigen Versorgung mit Herzschrittmacher, bei autosomal-dominanten LMNA-Mutationen inkl. implantierbarem Kardioverter-Defibrillator. Schwere dilatative Kardiomyopathien, die insbesondere bei LMNA-Mutationen auftreten, können eine Herztransplantation erfordern. 9.8

Kongenitale Strukturmyopathien

jjGrundlagen Kongenitale Strukturmyopathien sind heterogene Erkrankungen der Muskulatur, die oft kongenital mit autosomal-rezessivem oder dominantem Erbgang auftreten und in der Regel nicht oder nur gering progredient sind. Die X-chromosomale rasch progrediente myotubuläre Myopathie bildet hier eine Ausnahme. jjKlinik Das klinische Spektrum dieser Erkrankungen ist geprägt von dem Bild eines „floppy infant“ mit Atmungs- und Fütterungsproblemen. Manifestationen im späteren Alter sind möglich. Zu einer oft generalisierten Muskelschwäche und -hypotrophie können Symptome wie Kardiomyopathie, respiratorische Insuffizienz, Muskelschmerzen (nach Belastung), Kontrakturen, Skoliose, Skelettdeformitäten, kongenitale Hüftluxation und Ophthalmoplegie hinzutreten. jjDiagnose Die Kreatinkinaseaktivität (CK) im Serum ist nicht oder nur leicht erhöht. Der muskelhistologische Befund ermöglicht eine erste ­Zuordnung (. Abb. 9.7), der sich Elektronenmikroskopie und genetische Diagnostik anschließen. Eine primär molekulargenetische Gen-Panel-Diagnostik kann gerechtfertigt sein. 9.9

Mitochondriopathien und ­Atmungs­kettendefekte

M. Schülke-Gerstenfeld jjGrundlagen In der Atmungskette werden energiereiche Substrate aus dem ­Zitratzyklus oxidiert und die freie Energie zur ATP-Bildung genutzt (oxidative Phosphorylierung). Eine Störung dieser Kopplung beeinträchtigt den aeroben Stoffwechsel, der bei erhöhtem ATP-Bedarf wie Stress, Belastung und Infektionskrankheiten dekompensiert, da sich der erhöhte Energiebedarf nur durch eine Steigerung der anaeroben Glykolyse gewinnen lässt. Als Endprodukt dieses Stoffwechselweges häuft sich Laktat an und führt zu einer metabolischen Azidose. Mitochondrien werden maternal durch die Oozyte vererbt, die bis zu 50.000 Mitochondrien enthalten kann. Eine weitere Besonderheit der mitochondrialen Vererbung besteht darin, dass sich in­ der Oozyte nebeneinander sowohl normale als auch mutierte Mitochondrien befinden können. Dies wird als Heteroplasmie bezeichnet. Der Heteroplasmiegrad bestimmt in der Regel die Schwere­ des Phänotyps. Die matrilineare Vererbung gilt nur für mtDNAMutationen. Der überwiegende Teil der Atmungskettenkomplex-

9

A.M. Kaindl et al.

Patient

Kontrolle

a

b

c

d

Nemaline Rods

..Abb. 9.7  Die Histopathologie der Strukturmyopathien Central Core Disease und Nemaline-Myopathie. a Central cores sind umschriebene Sarkomerläsionen, die infolge fehlender Mitochondrien in oxidativen Enzympräperationen als Substratdefekte sichtbar werden; b Normalbefund (NADH-Reaktion, 20x). ­ c Nemaline rods sind intrazelluläre fadenförmige Stäbchen, die sich in der Gomori-Trichrom-Färbung purpurfarben darstellen; d Normalbefund (GomoriTrichrom-Färbung, 20x; Mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. G. Stoltenburg, Berlin)

Central Cores

234

9 Untereinheiten wird nukleär kodiert, und deren Genmutationen folgen einem Mendelschen Erbgang. j jEpidemiologie Die geschätzte Inzidenz mitochondrialer Erkrankungen beträgt 2:10.000. Unter den mtDNA-Mutationen ist die 3243A>G-Mutation beim MELAS-Syndrom mit etwa 20% die häufigste Ursache eines Atmungskettendefekts. j jKlinik Aufgrund ihrer Schlüsselstellung im aeroben Energiestoffwechsel der Zelle führen funktionelle Störungen der Mitochondrien zu ­einem klinischen Mischbild, bei dem in erster Linie Gewebe mit hohem Energiebedarf betroffen sind. Im Vordergrund stehen meist eine Myopathie und/oder zentralnervöse Störungen. 44 Gehirn: Epilepsie, Ataxie, mentale Retardierung, Schlaganfallähnliche Episoden, septooptische Dysplasie, Kleinhirnhypoplasie, Hirnfehlbildungen (besonders beim Pyruvatdehydrogenasemangel), Hirnstammdysfunktion (Schlucken, Atmung), 44 peripheres Nervensystem: axonale Neuropathie (CMT2A), 44 Sinnesorgane: Retinitis pigmentosa, Optikusatrophie, Innenohrschwerhörigkeit, 44 Muskulatur: Myopathie, Kardiomyopathie, „floppy infant“, Lähmung der äußeren Augenmuskeln 44 Niere: nephrotisches Syndrom, 44 endokrine Organe: Hypothyreose, Wachstumshormonmangel, Hypoparathyreoidismus, Diabetes mellitus, Diabetes insipidus. >> Bei Erkrankung mehrerer Organsysteme mit hohem Energiebedarf ist immer an eine Mitochondriopathie zu denken.

MELAS-Syndrom  Das Akronym MELAS steht für die charakteristischen Symptome: „Mitochondriale Enzephalopathie, Laktatazidose und einem Schlaganfall ähnliche Episoden“. In Abhängigkeit vom Heteroplasmiegrad kann die Symptomatik von migräneartigen Kopfschmerzen und episodischem Erbrechen bis hin zum Vollbild mit Muskelschwäche, Ataxie, Hörverlust, Epilepsie, Demenz und Diabetes mellitus reichen. Die schlaganfallähnlichen Episoden mit Hemiparese, Gesichtsfeldausfällen und bulbären Störungen beruhen

nicht auf einem Gefäßverschluss, sondern auf einer lokalen Gewebsazidose mit konsekutiver Weitstellung der Hirnarterien. Diese ­Episoden können durch Infektionen, körperliche Belastung oder Medikamente ausgelöst werden. Im Gegensatz zum „echten“ Schlaganfall sind die klinischen Symptome und kernspintomographischen Befunde im Hirn meist rückläufig. Das Manifestationsalter liegt ­zwischen 5 und 15 Jahren. Die Prognose wird durch die Schwere der Epilepsie bestimmt. MERRF-Syndrom  Das Akronym MERRF steht für „Myoklonus Epilepsie mit Ragged-Red-Fibers“. Diese „ragged red fibers“ lassen

sich durch eine Gomori-Trichrom-Färbung einer Muskelprobe nachweisen und sind degenerierte, mit geschwollenen Mitochondrien angefüllte Muskelfasern. Sie sind aber nicht MERRF-spezifisch, sondern finden sich bei einer Vielzahl von mtDNA-Mutationen, besonders aber bei Mutationen der mitochondrialen tRNA. Bei hohem Heteroplasmiegrad treten zu der Myoklonusepilepsie weitere Symptome wie Muskelschwäche, Ataxie, spastische Paresen und Innenohrschwerhörigkeit hinzu. Ein großes klinisches Problem ist die häufig therapieresistente Myoklonusepilepsie. Kearns-Sayre-Syndrom  Neben dem Symptomenkomplex einer

Ophthalmoplegie, Retinitis pigmentosa und Kardiomyopathie sind weitere Symptome eine Ptosis, Muskelschwäche und Taubheit. Zu den zahlreichen endokrinologischen Auffälligkeiten zählen Kleinwuchs, Hypothyreose, Hypoparathyreoidismus, Diabetes mellitus I und Hypogonadismus. Wegen häufig auftretender Herzreizleitungsstörungen (AV Block) bedürfen die Patienten zur rechtzeitigen Herzschrittmacherversorgung einer lebenslänglichen regelmäßigen EKG-Kontrolle.

jjPathogenese Ein Großteil mitochondrialer Enzyme wird nukleär und nur 13 der insgesamt etwa 1600 Proteine werden mitochondrial (mtDNA)­ ­ odiert. k 44 mtDNA-Mutationen: Häufigste Ursache eines MELAS-Syndroms ist eine Punktmutation in der mitochondrialen Transfer-RNA (tRNA) für Leuzin. Während der Translation führt dies zu einer erniedrigten Bildungsrate leuzinreicher Proteine,

235 Neuromuskuläre Erkrankungen

..Abb. 9.8  Axiale MRT (T2) eines 4-jährigen Jungen mit Leigh-Syndrom. a Signalintense bilaterale Nekrosen in den Basalganglien (Pallidum) und hufeisen­ förmige Nekrose im dorsalen Hirnstamm (Pfeile). ­ b Normalbefund

a

die biochemisch häufig eine kombinierte Störung der Atmungskettenkomplexe I und IV verursacht. Beim MERRFSyndrom führt – ähnlich wie beim MELAS-Syndrom – eine Punktmutation in der mitochondrialen tRNA-Lysin zu einem kombinierten Komplex-I/IV-Mangel. Beim Kearns-Sayre-Syndrom (KSS) werden mtDNA-Deletionen oder -Duplikationen von 2.000–8.000 Basenpaaren gefunden. Der Heteroplasmiegrad liegt meist bei 45–75% und korreliert mit der Schwere des Krankheitsbilds. Die meisten KSS-Krankheitsfälle sind auf eine Spontanmutation zurückzuführen. Eine zuverlässige genetische Beratung von Eltern mit einem betroffenen Kind ist praktisch unmöglich, da jede Oozyte der Mutter zwischen 0 und 100% mutierte Mitochondrien enthalten kann und das Wiederholungsrisiko daher nicht abschätzbar ist. 44 Mutationen in nukleär kodierten mitochondrialen Proteinen: Der größte Teil der mitochondrialen Proteine sind nukleär kodiert, werden am endoplasmatischen Retikulum translatiert und danach in das Mitochodrium importiert. Mutationen dieser nukleären Gene können auch zu Atmungskettendefekten führen. Dies betrifft sowohl Gene, die für strukturelle Untereinheiten der Atmungskettenkomplexe I, II, III und V kodieren, als auch Gene, die am Import und Zusammenbau ­(„assembly“) hochkomplexer Multiproteinstrukturen (z. B. SURF1 oder BCS1L), am Einbau prosthetischer Gruppen und Metallionen wie Kupfer und Eisen in die Proteinkomplexe (z. B. SCO1/2 und COX10) oder an der Synthese von Kofaktoren der Elektronentransportkette wie z. B. Ubichinon (z. B. COQ2, PDSS1/2) beteiligt sind. Die klinischen Symptome dieser Genmutationen reichen von frühletalen Enzephalomyopathien bis hin zum Leigh-Syndrom. Das Leigh-Syndrom ist durch bilaterale Nekrosen der Basalganglien und des Hirnstamms gekennzeichnet (. Abb. 9.8). Darüber hinaus findet sich oft eine Erhöhung der Liquorlaktatspiegel. Die Patienten w ­ erden klinisch durch Muskelschwäche, Trinkschwäche und periodisches Erbrechen auffällig. In fortgeschrittenen Stadien treten epileptische Anfälle und extrapyramidale Bewegungsstörungen hinzu. Bei Hirnstammnekrosen treten Atemstörungen auf, an denen die Patienten versterben.

b

jjDiagnose Nur wenige Atmungskettendefekte weisen ein idealtypisches Syndrom auf wie das MELAS-, MERRF- und Kearns-Sayre-Syndrom. Besteht der Verdacht auf eine dieser Erkrankungen, sollte man zunächst nach den entsprechenden Punktmutationen oder Deletionen fahnden. In der Regel genügt der Versand einer EDTA-Blutprobe an ein Speziallabor. Aufgrund unterschiedlicher Gewebsheteroplasmie ist der Defekt in peripheren Blutzellen aber manchmal nicht nachweisbar, und die DNA-Präparation sollte dann aus Muskelgewebe erfolgen. Ist das Mutationsscreening negativ und besteht die klinische Verdachtsdiagnose einer Mitochondriopathie fort (Störung mehrerer Organsysteme mit hohem Energiebedarf), muss man sich mit biochemischen Methoden an den molekulargenetischen Defekt herantasten. Ein erhöhter Laktat/Pyruvat-Quotient (>20) und eine erhöhte Alaninkonzentration im Serum erhärten den Verdacht auf einen Atmungskettendefekt. Nur eine Bestimmung der Komplex-I- bis -V-Aktivitäten in einer Muskelprobe kann die Zahl der Kandidatengene einengen. Bei einem isolierten Atmungskettenkomplex-Mangel liegt der Defekt meist in der nukleären DNA der entsprechenden Untereinheiten, bei einem kombinierten Mangel oft in den mitochondrialen tRNA. Mit Hilfe moderner Sequenzierungsverfahren („next generation sequencing“, 7 Kap. 1) können zahlreiche mitochondriale Gene parallel und kostengünstig sequenziert werden. Solch eine Paneldiagnostik findet zunehmend Eingang in die Routinediagnostik genetischer Krankheiten, die mit mehreren Gendefekten assoziiert sind und sich phänotypisch nicht gut unterscheiden lassen. Andere Krankheitsgruppen, bei denen solch eine Paneldiagnostik sinnvoll ist, sind erbliche Neuropathien, familiäre Taubheit oder kongenitale Myopathien. jjTherapie Die Gabe von Koenzym Q10 und Riboflavin scheint den Verlauf von MELAS- und Kearns-Sayre-Syndrom günstig zu beeinflussen. Die supportive und symptomatische Therapie erfolgt nach den Richt­ linien, die in 7 Kap. 3 dargestellt wurden. !! Cave Viele Patienten mit Mitochondriopathie leiden an einer ­Epilepsie. Eine Valproat-Therapie ist bei diesen Patienten aufgrund der Gefahr schweren Leberfunktionsstörungen bis hin zum Reye-Syndrom kontraindiziert.

9

237

Immunsystem Inhaltsverzeichnis Kapitel 10

Immunologie – 239 H. v. Bernuth, J. Roesler

Kapitel 11

Allergologie – 253 R. Urbanek, K. Nemat

Kapitel 12

Rheumatologie – 265 H.-I. Huppertz

V

239

Immunologie H. v. Bernuth, J. Roesler

10.1

Phagozytendefekte  – 240

10.1.1 Septische Granulomatose  – 240 10.1.2 Defekte in der Interferon-γ-Interleukin-­12-Achse ­ und verwandte Störungen  – 241 10.1.3 Seltene Störungen der Phagozyten  – 242

10.2

Störungen der humoralen Immunität  – 243

10.2.1 X-chromosomal vererbte ­Agammaglobulinämie  – 243 10.2.2 Hyper-IgM-Syndrome  – 244 10.2.3 Variables Immundefektsyndrom (CVID)  – 244 10.2.4 Selektiver Mangel von Immunglobulinen  – 245 10.2.5 Transitorischer Antikörpermangel  – 246

10.3

T-Lymphozytendefekte  – 246

10.3.1 Schwere kombinierte Immundefekte  – 246 10.3.2 T-Lymphozytendefekte mit gestörter ­Proliferation  – 247 10.3.3 T-Lymphozytendefekte kombiniert mit ­anderen Störungen  – 248

10.4

Komplementdefekte  – 249

10.4.1 Primäre Komplementdefekte  – 249 10.4.2 Sekundäre Veränderungen ­des Komplementsystems  – 250

10.5

Weitere angeborene Immundefekte  – 250

10.6

Sekundäre Immundefekte  – 250

10.7

Praktische Hinweise bei Immundefekten  – 251

10.7.1 Abklärung rezidivierender Infektionen zum Ausschluss ­ eines Immundefektes  – 251 10.7.2 Impfungen bei Immundefekten  – 252

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_10

10

240

H. v. Bernuth und J. Roesler

10.1

Phagozytendefekte

10.1.1 Septische Granulomatose j jDefinition Diese Erkrankung („chronic granulomatous disease“, CGD) wird durch den Defekt eines in der Phagozytenmembran befindlichen Enzymsystems (NADPH-Oxidase, enthält u. a. gp91-phox) ver­ ursacht. Sie tritt mit einer Häufigkeit von 1:100.000 bis 1:300.000­ auf. j jPathogenese Betroffenen Zellen (besonders Granulozyten und Monozyten, aber auch T-, B- und weiteren Zellen) fehlt die Fähigkeit, reaktive Sauerstoffmetabolite mit Hilfe der NADPH-Oxidase zu bilden. Ihre Produktion ist für die Abwehr bestimmter Bakterien (z. B. S. aureus) und Pilze (Aspergillen) und für normale Entzündungsregulationen wichtig. Aus dem Defekt resultieren schwere, oft abszedierende Infektionen und überschießende, oft granulomatöse Entzündungsreaktionen, häufig auch ohne Infektion. In etwa ⅔ der Fälle ist das auf dem X-Chromosom kodierte gp91-phox betroffen. Bei autosomalen Formen sind p22-phox, p40-phox, p47-phox, oder p67-phox betroffen.

10

..Abb. 10.1  CT-Oberbauch: Leberabszess bei septischer Granulomatose, verursacht durch Staphylococcus aureus

j jKlinik Die Klinik ist sehr komplex und initiale Fehldiagnosen sind häufig. Einerseits treten eitrige, zum Teil abszedierende Infektionen von Lymphknoten, Lunge, Leber (. Abb. 10.1) (und weiteren inneren Organen), Weichteilen, Haut und Knochen (. Abb. 10.2) auf. Andererseits kommen klinische Bilder vor, die mit Mykobakteriosen, ­Sarkoidose, exogen allergischer Alveolitis, idiopathischer Lungenfibrose, Morbus Crohn, „Tumoren“ (in Wirklichkeit Granulome) z. B. der ableitenden Harnwege, rheumatischen Erkrankungen (Fieberschübe) usw. verwechselt werden. !! Cave Besonders gefährliche Keime: Aspergillus nidulans, ­Burkholderia cepacia

Die häufigste Erreger ist S. aureus. Burkholderia cepacia kann eine gramnegative, rasch tödliche Sepsis verursachen. Aspergillusinfektionen der Lunge können bei Inhalation sporenhaltiger Luft sowohl hochakut als auch bei allmählicher Gewebsinfiltration schleichend verlaufen und ebenfalls tödlich verlaufen. Weitere opportunistische Erreger (z. B. S. marcescens, Nocardien) kommen vor, es besteht jedoch keine allgemeine Abwehrschwäche gegenüber Bakterien oder Viren. Autoinflammatorische Entzündungen können zu Organ­ versagen (Lungenfibrose) und schwerer Beeinträchtigung (Kolitis) führen. Fisteln (z. B. perianal) und gestörte Wundheilung sind ­häufig. !! Cave Auch dysregulierte Entzündungen können zu Organversagen führen, z. B. Lungenfibrose.

Erste Symptome können sehr früh im Säuglingsalter („Late-onsetSepsis“) auftreten, aber – besonders bei Restaktivität der NADPHOxidase – auch erst später im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter. Histologisch findet man in betroffenen Organen Granulome mit Epitheloidzellen und Langerhans-Riesenzellen, was häufig zur Fehldiagnose „Tuberkulose“ führt. Andererseits können Patienten mit CGD auch an Tuberkulose erkranken; besonders typisch ist das Vorkommen einer BCG-itis, einer Infektion nach Impfung gegen Tuberkulose mit BCG-Bakterien. Durch Granulome in der Wand

..Abb. 10.2  CT-Thorax bei septischer Granulomatose, verursacht durch Aspergillus nidulans: Sternumosteomyelitis mit entzündlicher Weichteilreaktion, beidseits dorsal pneumatische Infiltrate

von Hohlorganen wie Ureter, Ösophagus, Magen u. a. können ­Stenosierungen auftreten. In Familien mit X-chromosomalem rezessivem Erbgang können Heterozygote bei ungünstiger X-Inaktivierung (Lyonisierung) klinische Auffälligkeiten, wie rezidivierende aphthöse Stomatitiden, einen diskoiden Lupus erythematodes oder schwere CGD-typische Infektionen zeigen. jjDiagnose Die Diagnose ist biochemisch durch die In-vitro-Messung reaktiver Sauerstoffmetabolite zu stellen. Dazu stehen mehrere Testverfahren zur Verfügung, wobei der durchflusszytometrische Dihydrorhodamin-123 (DHR)-Test die meisten Vorteile auf sich vereinigt. Die Diagnose muss durch zwei unabhängige Verfahren aus zwei Blut­ proben bestätigt werden (z. B. DHR-Test zu Messung von H2O2­ und Chemolumineszenz oder Nitroblautetrazoliumreduktion zur Messung von O2-).

241 Immunologie

Eine pränatale Diagnostik ist aus Chorionzottenbiopsat mit molekulargenetischen Techniken möglich. Diese Techniken sind auch für die genetische Beratung und in Zukunft eventuell vor einer Gentherapie wichtig. Genetische oder serologische Analysen erfassen auch, ob durch eine große Deletion eine zusätzliche Anomalie der Erythrozytenmembran (Akanthozytose bei McLeod-Phänotyp) vorliegt. !! Cave Kell-positives Blut darf den Patienten mit McLeod-Phänotyp wegen der Gefahr der Antikörperbildung nicht gegeben werden (vor geplantem Eingriff Einfrieren der eigenen Erythrozyten – Eigenblutspende!).

jjTherapie So komplex die klinische Präsentation ist, so komplex gestaltet sich die Therapie. Grundsätzlich müssen Patienten mit CGD in einem spezialisierten Zentrum bzw. in Zusammenarbeit mit einem solchen behandelt werden. Patienten benötigen eine prophylaktische ­Behandlung (meist Cotrimoxazol und Posaconazol, dazu bei zusätzlicher Notwendigkeit IFN-γ s.c.). Alle 3 Monate sollte eine Kontrolluntersuchung stattfinden, die einen Ultraschall des Abdomen und bei entsprechendem Alter eine Lungenfunktionsprüfung mit einschließt. Entzündliche Infiltrate sollten, wenn immer vertretbar bioptisch und mikrobiologisch evaluiert werden (z. B. durch CTgesteuerte Nadelbiopsie bei Infiltraten der Lunge). Infektionen werden lange und aggressiv mit Antibiotikakombinationen behandelt, wobei mindestens eins besonders gut zell- und gewebegängig sein sollte. Bei unbekanntem Erreger ist an Burkholderia cepacia zu denken, der auf viele häufig verwendete Antibiotika nicht anspricht, aber in wenigen Tagen zum Tode führen kann. Bei Aspergillusinfektionen ist Voriconazol wirksamer und nebenwirkungsärmer als Amphotericin B. Eine solche Therapie ist lange, z. B. über 6 Monate, durchzuführen. In schwerwiegenden Fällen kann die Therapie durch Granulozytentransfusionen ergänzt werden. Bei Autoinflammation mit und ohne Granulombildung ist unter gewissen Vorsichtsmaßnahmen die Therapie mit Kortikosteroiden (in einigen Fällen sogar längerfristig und hochdosiert (2 mg/kgKG Prednisolon)) und anderen Immunsuppressiva notwendig. Ferner können chirurgische Interventionen notwendig sein. Eine kurative Therapieoption ist die Stammzelltransplantation, die von einem wenigstens 9/10-HLA-identischen Spender erfolgen sollte. Diese Option sollte grundsätzlich mit Nachdruck bereits­ bei Diagnosestellung angeboten werden. Die feinere Auflösung­ der HLA-Merkmale und die individualisiert dosierte, reduzierte (nicht-myeloablative) Konditionierung haben die Komplikationen einer Stammzelltransplantation deutlich vermindert. Ebenso ist­ die Stammzelltransplantation vor Eintreten schwerer infektiöser (Aspergillose) und autoinflammatorischer (Colitis) Komplikationen risikoärmer. jjPrognose Bei der klassischen Form der CGD war die Prognose früher sehr schlecht. Sie hat sich aber nach Einführung der Prophylaxe (s. oben) und der intensiven Überwachung deutlich gebessert. 40- bis 50-jährige Patienten sind zwar keine extreme Ausnahme mehr, aber die sich mit fortschreitendem Lebensalter häufenden und dann oft doch noch lebensbegrenzenden Komplikationen sprechen für die frühe Stammzelltherapie.

10

10.1.2 Defekte in der Interferon-γ-Interleukin-­

12-Achse und verwandte Störungen

jjDefinition Bei Defekten in der Interferon-γ-Interleukin-12-Achse handelt es sich um erbliche Störungen der Abwehr von Mykobakterien und weiteren intrazellulären Keimen. Überwiegend liegen dieser Krankheitsgruppe molekular nachweisbare Defekte des γ-Interferon/­ IL-12-Signalwegs in Monozyten/Makrophagen zugrunde, die entweder zu einer verminderten Bildung oder zu einer verminderten Wirkung von IFN-γ führen. jjPathophysiologie Normalerweise stimulieren Makrophagen spezifische T-Zellen parallel zur Antigenpräsentation mit Interleukin-12/23 (IL-12/23). Die T-Zellen antworten u. a. durch Proliferation und Produktion von Interferon-γ (IFN-γ), das wiederum Makrophagen über den Jak/ Stat-Signalweg aktiviert und dadurch die Abtötung von Mykobakterien ermöglicht (. Abb. 10.3). Krankheitsauslösende genetische Veränderungen wurden u. a. in den Genen für die Rezeptoren von IFN-γ und IL-12, für STAT1 und IL-12p40 gefunden. Am häufigsten ist der Interleukin-12-Rezeptor-β1-Defekt, gefolgt vom partiellen Interferon-γ-Rezeptor-1-Defekt. Außerhalb des skizzierten Systems können auch Defekte in NEMO, CYBB, IRF8, GATA2 und ISG15 und weiteren noch unbekannten Genen zu einer erhöhten Anfälligkeit für disseminierte Mykobakteriosen führen. Störungen werden autosomal-dominant oder X-chromosomal-rezessiv autosomal-­ rezessiv vererbt und können partiell oder vollständig sein. Bei partiellen Formen tritt überschießende Granulombildung auf, während bei vollständigen Abwehrschwächen die Granulombildung gestört ist. jjKlinik Wegen der variablen Pathophysiologie sind die klinischen Erscheinungsbilder trotz des relativ einheitlichen und begrenzten Erregerspektrums vielgestaltig, sodass die Erregerisolation wegweisend ist. Im Vordergrund stehen lokale und systemische Infektionen mit nichttuberkulösen Mykobakterien (NTM), und eine BCG-itis nach Impfung. Auch bei disseminiert verlaufender Tuberkulose, invasiven Infektionen durch S. enteritidis und Candidainfektionen muss an

..Abb. 10.3  Für die Abwehr von Mykobakterien entscheidende Signalwege. Es findet eine gegenseitige Aktivierung von Monozyten bzw. dendritischen Zellen und T-Lymphozyten/NK-Zellen über humorale und RezeptorLigand-Interaktionen statt (einige Interaktionen wie die Antigenpräsentation wurden zur Verbesserung der Übersichtlichkeit herausgelassen). Mutationen in den 6 Genen für die rot markierten Strukturen führen zu vermehrter Anfälligkeit gegenüber Mykobakterien. (Mod. nach Casanova)

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H. v. Bernuth und J. Roesler

gesundem Kleinkind selten auf eine erbliche Störung zurückzuführen ist. Partielle Defekte mit erhaltener Granulombildung ähneln anderen Erkrankungen mit Granulombildung wie eosinophiles ­Granulom, chronisch rekurrierende multifokale Osteomyelitis und Morbus Crohn. jjDiagnose Ein funktionelles Screening auf zelluläre Reaktionen nach Rezeptorstimulationen im Vollblutansatz gefolgt von genetischen Analysen ist zu empfehlen.

10 ..Abb. 10.4  Knochenläsionen an den distalen Femora und den proximalen Tibia und Fibula durch atypische Mykobakterien bei IFN-γ-Rezeptor­ defekt

diese Defekte gedacht werden. Listerien und Virusinfektionen (VZV, CMV) wurden nur in Einzelfällen beschrieben. Lokale Infektionen mit vorhandener Granulombildung deuten auf partielle Defekte oder Defekte des IL-12-Rezeptors, ausgedehnte, auch systemische Infektionen mit Fieberschüben, Hepatosplenomegalie, Pneumonie, Knochenläsionen (. Abb. 10.4) und Darmbefall deuten auf vollständige Defekte des IFN-γ-Rezeptors hin. Lymphknotenbefall ist häufig, wobei aber der isolierte, oft anzutreffende einseitige Befall von Halslymphknoten durch NTM bei ansonsten

jjTherapie Die antimikrobielle Therapie muss danach ausgerichtet werden, ob es sich um atypische Mykobakterien oder echte Tuberkulose bzw. andere Erreger handelt. Zusätzliche pharmakologische Dosen von IFN-γ sind außer beim kompletten IFN-γ-Rezeptordefekt wirksam; bei kompletten IFN-γ Rezeptordefekten ist dagegen höchstens IFN-α mäßig effektiv (wegen sich überschneidender Signalwege von IFN-α und -γ; Einzelfallbeobachtungen). Bei kompletten Defekten der IFN-γ-Achse ist eine Knochenmarktransplantation mit myeloablativer Konditionierung ohne ­T-Zelldepletion von einem HLA-identischen Spender (möglichst Geschwister) die einzige therapeutische Option, wobei besondere Komplikationsmöglichkeiten zu beachten sind: gehemmtes Engraftment der Spenderzellen durch hohe IFN-γ-Spiegel im Empfänger, Exazerbation persistierender Mykobakterieninfektionen, überschießende Granulombildung z. B. im ZNS unter Rekonstitution mit Spenderzellen. jjPrognose Bei Defekten, die von einer IFN-γ-Gabe profitieren, ist die Prognose, in Abhängigkeit von der Schwere der Ersterkrankung, meist gut, bei vollständigen IFN-γ Rezeptordefekten nur bei gelungener Knochenmarktransplantation günstig. 10.1.3 Seltene Störungen der Phagozyten Seltene Störungen der Phagozyten sind in . Tab. 10.1 aufgeführt.

..Tab. 10.1  Beispiele für weitere Defekte der Granulozyten und Makrophagen Krankheit

Mutierte Gene

Vererbung

Klinisches Bild

Kostmann-Syndrom und andere angeborene schwere Neutropenien

ELANE, GFl1 CSF3R, WAS HAX1, SLC37A4, G6PC3, MAPBPIP

AD (XL) AR

Schwere Neutropenie Bei jedem Symptom einer Gelenkentzündung (Schwellung, Rötung, Schmerz, Überwärmung) ist eine bakterielle Ursache umgehend auszuschließen!

­ rsten Lebensmonate und bis zum 15. Lebensjahr. Wegen der geringen e ­Eigensynthese in den ersten Lebensmonaten und dem Abbau des mütterlichen IgG entsteht im Alter von 3–5 Monaten eine „physiologische“ Erniedrigung des Immunglobulin G. (Mod. nach Wahn et al. 1999)

jjDiagnose Zur Diagnose trägt die Messung der Immunglobuline bei, deren Konzentration in allen Klassen erniedrigt ist. Durchflusszytometrisch sind im peripheren Blut keine oder nur wenige reife B-Lymphozyten nachweisbar. Im Knochenmark sind Plasmazellen stark vermindert. Spezifische Antikörper, wie Isoagglutinine, Candidaund Impfantikörper fehlen. Impfungen mit totem Impfstoff sind möglich. >> Für Lebendimpfstoffe (z. B. Masern, Mumps, Röteln, Vari­ zella Zoster) muss ausgeschlossen werden, dass dem Immunglobulinmangel ein T-Zelldefekt zugrunde liegt.

Eine Antikörperantwort auf die Impfungen bleibt aus, während eine T-Zell-Antwort möglich ist, sofern die Impfstoffe nicht vollständig durch substituierte Immunglobuline neutralisiert werden. Die ­Wertigkeit der Impfungen bei Immunglobulinmangel wird kontrovers diskutiert. Differenzialdiagnostisch muss bei Fehlen von IgG, IgA und IgM v. a. ein kombinierter T-Zelldefekt ausgeschlossen und bei erniedrigtem IgG, IgA und IgM bei Säuglingen und Kleinkindern an ­einen transitorischen Antikörpermangel (7 Abschn. 10.2.5) gedacht werden.

..Abb. 10.6  CT-Thorax bei Agammaglobulinämie Typ Bruton mit multiplen, z. T. schleimgefüllten Bronchiektasen (Pfeil) und Mittellappenatelek­ tase (MI) rechts

10

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j jTherapie Die Therapie der Wahl ist die Immunglobulinsubstitution entweder mit intravenös zu applizierenden Präparaten (mindestens 400 mg/ kgKG alle 3 Wochen) oder als subkutane Gabe (100 mg/kgKG einmal wöchentlich bzw. mit Hyaluronidase alle 3–4 Wochen). Der Talspiegel im Serum sollte über 7 g/l liegen, da hochdosierte Substitution die Entwicklung von Bronchiektasen hinauszuzögern oder evtl. ganz zu verhindern scheint. Ein höherer Serumtalspiegel kann bei Vorliegen von Bronchiektasen sinnvoll sein. Jedoch können auch unter optimaler Substitution Infektionen im Bereich der Schleimhäute (Sinusitis) oft nicht vermieden werden, da das hier besonders wichtige Immunglobulin A (IgA) nicht ersetzt werden kann. Infektionen müssen ­intensiv antibiotisch behandelt werden.

10

>> Da die Langzeitprognose bei CD40L-Mangel durch gehäufte Gallengangs- und andere Malignome schlechter ist als bei der X-chromosomal vererbten Agammaglobulinämie, wird eine frühzeitige Stammzelltransplantation empfohlen.

Es gibt eine Reihe weiterer genetischer Defekte, die zu einem HyperIgM-Syndrom führen, die sich aber in Klinik und Prognose vom CD40L-Mangel zum Teil unterscheiden können. Dazu gehören ­Mutationen in den Genen für NEMO („NFk-B essential modulator“), CD40, AID („activation-induced cytidine deaminase“), AID C terminal, UNG („uracile DNA glycosylase“), PMS2( „postmeiotic segregation increased 2“) und in weiteren Genen. Auch ­Erkrankungen mit eingeschränkter Reparaturkapazität von DNADoppelsträngen wie Ataxia telangiectatica und Nijmegen-BreakageSyndrom sowie das Aktivierte-PI3K-Delta-Syndrom können mit einer Hyper-IgM-Konstellation einhergehen. Allen gemeinsam ist ein defekter Klassenwechsel von IgM zu anderen Immunglobulinen.

jjPrognose Die Prognose wurde früher durch das Auftreten nicht mehr ­beherrschbarer Infektionen und sekundärer pulmonaler Veränderungen durch die rezidivierenden Entzündungen bestimmt. Mit­ der heute durchführbaren Therapie stehen erhöhte Malignomneigung und chronische Infektionen mit Enteroviren im Vordergrund. 10.2.3 Variables Immundefektsyndrom (CVID) Bronchiektasen, die selbst unter regelrechter Immunglobulinsub­ stitution auftreten können, stellen eine für die Prognose entschei- jjDefinition dende Herausforderung dar. Diese Form eines Immundefektes (Synonym: „common variable ­immunodeficiency“, CVID) ist charakterisiert durch das meist späte Auftreten der Symptome (typisch im jungen Erwachsenenalter, ge10.2.2 Hyper-IgM-Syndrome legentlich bei Schulkindern), die neben den üblichen Zeichen der Agammaglobulinämie beobachteten gastrointestinalen Symptome j jDefinition, Pathogenese (Diarrhö, Malabsorption), die hohe Rate von AutoimmunerkranDie X-chromosomal-rezessiv vererbte Form dieser Erkrankung kungen. Im Gegensatz zur X-chromosomal vererbten Agammaglobu­ ­umfasst etwa 70% der Hyper-IgM-Syndrome und ist durch rezidivierende Infektionen ähnlich denen bei X-chromosomal vererbter linämie sind phänotypisch reife B-Lymphozyten vorhanden. Das Agammaglobulinämie mit einer zusätzlichen Anfälligkeit für In­ variable Immundefektsyndrom gehört mit einer Inzidenz von fektionen durch Cryptosporidium spp. gekennzeichnet. Mit der Aus- 1:10.000–1:50.000 zu den häufigsten Immundefekten. nahme von IgM (normal bis erhöht) finden sich ebenfalls erniedrigte jjÄtiopathogenese Immunglobulinspiegel und erniedrigte Impfantikörpertiter. Ursache sind Mutationen des Gens für den CD-40-Liganden Ätiologie und Pathogenese sind nach wie vor meist unbekannt. (CD40L), ein Membranprotein, das auf aktivierten T-Lymphozyten ­Befunde bei verschiedenen Patienten zeigen ein heterogenes Bild.­ exprimiert wird und mit CD40 auf antigenpräsentierenden Zellen So werden sowohl Störungen der B-Lymphozytendifferenzierung als interagiert. Diese Interaktion ist für die Differenzierung von B-Lym- auch Defekte von T-Lymphozytenfunktionen beobachtet. Eine phozyten und den Isotypen-Klassenwechsel von IgM zu IgG von ­Einteilung des CVID nach Vorhandensein oder Fehlen von CD27+­ IgM-IgG-B-Gedächtniszellen und anderer B-Zellpopulationen im Bedeutung. peripheren Blut, nach In-vitro-Immunglobulinproduktion durch jjKlinik B-Zellen und/oder nach T-Lymphozyten-Zahlen, ist möglich. In Lymphknoten und Tonsillen können spärlich entwickelt, manchmal ­einer Minderzahl von CVID-Patienten wurden inzwischen Muta­ aber auch hyperplastisch sein. Die Patienten leiden an erhöhter tionen gefunden, u. a. in den folgenden Genen: PIK3CD, PIK3R1, ­Anfälligkeit für respiratorische Infekte bakterieller Genese (Otitis, LRBA, CTLA4, NFKB1, NFKB2, ICOS, CD19, CD20, CD21, CD27 Pneumonie), es kommen aber auch Pneumocystis-jiroveci-­ und CD81. Die pathophysiologische Bedeutung heterozygoter Pneumonien, Durchfälle (Kryptosporidien?) und aufsteigende ­Mutationen im Gen für TACI für die Ausbildung eines CVID ist ­Infektionen der Gallenblase vor. Wahrscheinlich durch verstärkte umstritten. Autoantikörperbildung bedingt, beobachtet man Neutrozytopenien jjKlinik (in 50% der Fälle), Thrombozytopenien und Anämien. Neben Bronchitiden, Sinusitiden, Otitiden, Pneumonien und jjDiagnose ­Lamblieninfektionen kommen vor: rheumatoide Arthritis, autoimDie Diagnose wird durch den Nachweis von Mutationen des Gens munhämolytische Anämie, Neutropenie und Thrombozytopenie, für CD40 L oder durch fehlende Expression dieses Proteins auf Hypothyreose (durch Autoantikörper bedingte Thyreoiditis), Vitiligo (Autoantikörper gegen Melanozyten) und perniziöse Anämie. ­aktivierten T-Lymphozyten gestellt. ­Granulome und lymphoide Hyperplasie in Lunge, Milz, Leber und jjTherapie, Prognose Haut ohne fassbare infektiöse Ursache und eine noduläre lymphoide Die Therapie ist zunächst symptomatisch und besteht aus Immun- Hyperplasie des Darms sind mögliche zusätzliche Symptome. globulinsubstitution und der Gabe von Antibiotika. In den ersten Lebensjahren ist eine Prophylaxe gegen Pneumocystis-jiroveci-­ Infektionen mit Trimethoprim/Sulfamethoxazol indiziert.

245 Immunologie

jjDiagnose Die Diagnose CVID bleibt, wenn sie nicht molekulargenetisch durch einen Defekt in den oben genannten Genen abgesichert werden kann, eine Ausschlussdiagnose. Ein CVID ist wahrscheinlich wenn 44 der IgG-Spiegel 2 Standardabweichungen unter der Altersnorm liegt und IgM oder IgA deutlich vermindert sind, 44 die Erkrankung jenseits des 2. Lebensjahres beginnt, 44 schwache oder abwesende Impfantikörper/Isohämagglutinine vorliegen und 44 sekundäre Gründe für einen Antikörpermangel (insbesondere renaler oder enteraler Verlust) ausgeschlossen sind.

rate unter entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen gegeben werden. Der IgA-Mangel allein rechtfertigt keine IgG-Substitution.

jjDifferenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch ist ein transitorisches Antikörpermangelsyndrom des Kleinkindalters definitionsgemäß erst jenseits des 5. Lebensjahres vom CVID abgrenzbar. Ebenso muss ein kombinierter T-B-Zelldefekt ausgeschlossen werden.

jjDefinition Immunglobulin G besteht aus 4 Subklassen, die sich in der Zusammensetzung der schweren Ketten unterscheiden. Die Verteilung der IgG-Subklassen bei gesunden Erwachsenen ist: 44 IgG1 61%, 44 IgG2 30%, 44 IgG3 5%, 44 IgG4 4% des Gesamt-IgG.

jjTherapie, Prognose Die Dauersubstitution mit i.v. oder s.c. zu applizierenden Immunglobulinpräparaten senkt nicht nur die Infektionsrate, sondern scheint auch die autoantikörperbedingten Symptome zu bessern. Die Prognose wird durch chronische Lungenveränderungen und durch später auftretende Lymphome bestimmt. 10.2.4 Selektiver Mangel von Immunglobulinen

IgA-Mangel jjDefinition Der selektive IgA-Mangel ist mit 1:400 bis zu 1:1300 häufig. Ihm kommt nur selten Krankheitswert zu. In fast allen Fällen ist auch das sekretorische IgA vermindert. Andere Störungen des Immunsystems finden sich in der Regel nicht (Kombinationen von IgA-Mangel mit IgG-Subklassendefekten. jjDiagnose Wegen der physiologisch niedrigen Immunglobulinwerte in den ersten Lebensjahren kann eine sichere Diagnose erst später gestellt werden. Der IgA-Mangel kann in einen CVID übergehen und kommt bei der familiären Form des CVID bei einigen Familienmitgliedern als Minimalvariante dieser Erkrankung vor. jjKlinik Personen mit einem selektiven IgA-Mangel sind meist gesund. Man findet in dieser Gruppe aber statistisch gehäuft Patienten mit rezidivierenden respiratorischen Infektionen einschließlich Bronchiektasen, Zeichen von Atopie (allergische Rhinitis, Asthma, Urtikaria und Ekzem), gastrointestinalen Symptomen (Malabsorption, ­Zöliakie, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) und Autoimmunerkrankungen (juvenile rheumatoide Arthritis, systemischer Lupus erythematodes, Thyreoiditis). jjTherapie Patienten mit dem viel selteneren vollständigen IgA-Mangel können gegen zugeführtes IgA, das in Spuren auch in IgG-Präparaten enthalten ist, Antikörper bilden, die zu schweren Unverträglichkeitsreaktionen führen. Dieser Mechanismus erklärt allerdings nur einen Teil der seltenen IgG-Unverträglichkeiten, die fast nur bei i.v.- aber kaum bei s.c.-Gabe auftreten. Liegt ein zusätzlicher IgG-Subklassendefekt vor und besteht eine klinische Indikation, können IgG-Präpa-

!! Cave Da auch durch eine Bluttransfusion und andere Blutprodukte IgA übertragen wird, ist diese Maßnahme bei Patienten, die auf IgA reagieren, nur bei strenger Indikation und unter größtmöglicher Vorsicht statthaft.

Hyperimmunseren oder Antikörperpräparate (z. B. zur Postexpositionsprophylaxe von Varizellen oder Hepatitis A) dürfen nur unter stationärer Beobachtung verabreicht werden.

IgG-Subklassendefekte

Der postnatale Anstieg in der Synthese der einzelnen Immun­ globulin-G-Klassen verläuft mit Ausnahme von IgG4 parallel zum Gesamt-IgG. Ist der Serumspiegel für eine oder mehrere IgG-Subklassen ­erniedrigt, liegt ein Subklassenmangel vor. Die erniedrigten IgGSubklassenkonzentrationen scheinen nicht als solche zur Infektanfälligkeit zu führen, sondern sind eher Zeichen einer gestörten ­Immunregulation. jjKlinik Mangel an verschiedenen Subklassen des Immunglobulins G kann mit rezidivierenden Infektionen verbunden sein. Der häufige IgG4Mangel ist in den ersten Lebensjahren als isolierter Befund klinisch irrelevant. Bei einzelnen Patienten kann ein IgG2-Mangel (evtl. kombiniert mit IgG4-Mangel und ggf. mit einem IgA-Mangel) für rezidivierende respiratorische Infektionen mit bekapselten Erregern verantwortlich gemacht werden. Auch ein isolierter IgG3-Mangel kann mit pulmonalen Infektionen verbunden sein. jjDiagnose Vor dem 2. Lebensjahr können isolierte Subklassendefekte nicht ­diagnostiziert werden. Wichtig ist, dass jenseits des 2. Lebensjahres trotz normaler Gesamt-IgG-Spiegel Subklassendefekte vorliegen können. Zu bedenken ist auch, dass sich bei Kleinkindern diagnostizierte Subklassendefekte z. T. im Schulalter normalisieren können. Eine diagnostische Impfung mit nichtkonjugiertem Pneumokokkenimpfstoff kann die Fähigkeit, Antikörper gegen Kapselpoly­ sacharide zu bilden, überprüfen. Bei der Bewertung der Relevanz eines im Labor gefundenen Subklassendefekts spielt die Klinik, in erster Linie Infektionen der oberen und unteren Atemwege, eine entscheidende Rolle. jjTherapie Wurde ein IgG-Subklassendefekt nachgewiesen, so ist bei entsprechendem klinischem Bild eine Substitution mit einem IgG-Präparat indiziert. Bei begleitendem vollständigem IgA-Mangel ist, wie bereits betont, bei den ersten Gaben eine besondere Überwachung notwendig.

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246

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10.2.5 Transitorischer Antikörpermangel j jDefinition Es handelt sich um einen vorübergehenden Mangel an Immunglobulinen.

10

j jKlinik Das transitorische Antikörpermangelsyndrom dauert gewöhnlich bis in das 2. oder 3. (selten bis zum Ende des 5.) Lebensjahr, ist selten mit vermehrter Infektionsanfälligkeit verbunden und scheint auf einer Verzögerung der eigenen Immunglobulinproduktion zu beruhen. B-Lymphozyten sind nachweisbar. Schon vor Normalisierung der Immunglobulinspiegel sind die Kinder in der Lage Isohämagglutinine und Antikörper gegen Impfstoffe zu bilden. Wahrscheinlich handelt es sich insgesamt um eine Extremvariante der physiologischen Hypogammaglobulinämie des Säuglings. Zu beachten ist, dass trotz vorhandener Impfantikörper die erniedrigten Immunglobulinspiegel sehr selten auf einen T-Zelldefekt oder eine frühe CVIDVariante hindeuten können. Bei sehr niedrigen Immunglobulinspiegeln ist daher initial der Ausschluss eines T-Zelldefekts und die Kontrolle der Immunglobulinspiegel im Verlauf nötig. Während bei reifgeborenen Kindern das Krankheitsbild selten ist, besteht ein transitorischer Antikörpermangel bei fast allen sehr kleinen Frühgeborenen.

a

j jPrognose Die Prognose des transitorischen Antikörpermangelsyndroms ist ausgezeichnet. Die Notwendigkeit einer Immunglobulinsubstitution ist eine Rarität. b

10.3

T-Lymphozytendefekte

10.3.1 Schwere kombinierte Immundefekte j jDefinition, Epidemiologie Unter dem Begriff versteht man kombinierte Störungen, die sowohl B- wie T-Zellfunktionen betreffen und sich im ersten Lebensjahr manifestieren („severe combined immunodeficiency“, SCID). Das Spektrum der möglichen Infektionen ist sehr breit. Ohne adäquate Stammzelltransplantation führen solche Infektionen meist schon innerhalb des ersten Lebensjahres zum Tode. Die Häufigkeit des SCID wird auf 1:50.000 geschätzt, variiert aber geographisch und in Abhängigkeit von Konsanguinität. jjPathogenese Allen SCID gemeinsam ist der schwere T-Zell-Defekt, der abhängig vom molekularen Defekt, in unterschiedlichem Maß T-Zellen, ­B-Zellen und NK-Zellen betrifft. Orientierend können so vier immunologische Phänotypen unterschieden werden: T-B-NK-SCID, T-B+NK-SCID, T-B-NK+SCID und T-B+NK+SCID. Am häufigsten sind Mutationen, die keine normale Expression der γ-Kette der ­Rezeptoren für IL-2, -4, -7, -9, -15 und -21 erlauben („common γ-chain deficiency“, X-chromosomal). Dies verhindert die Ausreifung von T- und NK aber nicht die von B-Zellen (T-B+NK-SCID). Autosomale Vererbung findet man bei Fehlen der Adenosindeaminaseaktivität (ca. 20% aller SCID-Fälle), bei Jak3-Mangel, Il-7-­RαMangel, RAG1- und -2-Mangel, Artemis-Defekt, Cernunos-Defekt, Ligase-IV-Defekt, CD3-Ketten-Defekten, ORAI-Defekt, STIM1Defekt, CD45-Mangel, Coronin-1a- und ZAP70-Defekt.

..Abb. 10.7  Weiblicher Säugling mit schwerem kombiniertem Immun­ defekt. a Dystrophie, Ulkus nach BCG-Impfung am linken Oberschenkel. ­ b Axilläre Lymphknotenschwellung als Ausdruck einer generalisierten BCGInfektion

jjKlinik Häufig ist die Familienanamnese positiv für unklare frühe Todes­fälle und/oder Konsanguinität. Beim Vollbild des SCID sind die Kinder postnatal unauffällig und entwickeln dann innerhalb von Wochen eine charakteristische Trias aus 44 hartnäckigen durchfälligen Stühlen mit zunehmender Gedeihstörung (. Abb. 10.7), 44 schwerer Pneumonie (oft durch Pneumocystis jirovecii), 44 sich ausbreitendem mukokutanem Candida-Befall bzw. aus­ geprägter Bronchitis. Durch Übertritt mütterlicher T-Zellen kommt es nicht selten zu ­einer Graft-versus-Host-Reaktion der Haut, die sich durch ein morbiliformes Exanthem oder eine Erythrodemie vor dem 2. Lebens­ monat unter Beteiligung der Fußsohlen und Handinnenflächen zeigt. Vielfältige polytope und persistierende oder rezidivierende Infektionen sind möglich. Sepsis, Meningitis, Mastoiditis, eitrige Konjunktivitis und Hautabszesse kommen ebenso vor, wie Infektionen mit Viren, insbesondere der Herpesgruppe (CMV, EBV, VSV; . Abb.  10.8). Die Pneumocystis-jiroveci (früher: P. carinii)-Pneumonie ist akut lebensbedrohlich. kkOmmen-Syndrom Zu den Symptomen, die auch sonst beim SCID auftreten, kommen ein generalisiertes schuppiges Ekzem mit Eosinophilie und hohem IgE hinzu. T-Zellen sind vorhanden, aber funktionell inadäquat.

247 Immunologie

..Abb. 10.8  Säugling mit schwerem kombiniertem Immundefekt und multiplen Papeln

Häufig findet man Defekte im RAG1- oder RAG2-Gen (Rekombi­ nase-aktivierendes Gen 1 oder 2). kkWeitere Varianten Mutationen, die eine gewisse Restaktivität der betroffenen Struktur erlauben, können zu seltenen Varianten führen, die diagnostisch schwierig zu erfassen sind. So können SCID-typische Symptome später auftreten (u. a. auch beim Adenosindesaminasemangel) oder das klinische Bild kann sich wandeln: Die Infektanfälligkeit kann zumindest initial in den Hintergrund treten und das Krankheitsbild kann durch diverse Autoimmun- oder autoinflamatorische Phänomene, wie z. B. Granulombildung, gekennzeichnet sein. Sogar Impfantikörper können vorhanden sein und die Erkrankung kann sich erst im Kleinkindsalter oder noch später manifestieren. Hin­ weise geben Veränderungen der Zahl oder Funktion von T-Zellen. jjDiagnose Das lymphatische Gewebe kann vermindert sein. Röntgenologisch und sonographisch erscheint der Thymus stark verkleinert (und ist histopathologisch atrophisch). Parameter wie Temperatur, Akutphaseproteine und Blutbildveränderung der Granulozyten verhalten sich wie bei Gesunden. Eine schwere Lymphopenie ist typisch, fehlt aber bei etwa ⅓ der Fälle. Die Phänotypisierung der Lymphozyten mit Hilfe der Durchflusszytometrie ist fast immer stark auffällig. Wenn Lymphozyten vorhanden sind, muss geprüft werden, ob sie funktionsfähig sind und ob es sich um mütterliche Zellen handelt. Ungeachtet der verschiedenen Formen des SCID findet man eine verminderte Funktion der T-Lymphozyten, d. h. eine in vitro verminderte Proliferation auf Mitogene (Phythämagglutinin, ­Concanavalin A und Pokeweed-Mitogen) und Antigen (Candida) sowie das Fehlen von Antikörpern (Isoagglutinine, Candidaantikörper). Nach Impfung mit z. B. Diphtherie- oder Tetanusantigen kommt es meist nicht zur Antikörperbildung (nur Totimpfstoffe sind erlaubt). Die Impfung mit attenuierten lebenden Rotaviren kann zu persistierenden, tödlichen Durchfällen führen. jjDifferenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch sind pränatale Infektionen und Erkrankungen durch HIV-1 in Erwägung zu ziehen. jjTherapie >> Die einzige kurative Therapie ist die Stammzelltransplantation.

Eine überbrückende intensive antibakterielle, antimykotische und antivirale Therapie ist unerlässlich. Gegen Pneumozystis jirovecii und Candida sollte eine Prophylaxe mit Cotrimoxazol und Fluconazol schon bei Verdacht auf einen schweren kombinierten Immun­

defekt begonnen werden. Weitere prophylaktische Maßnahmen sind: keimarme Umgebung, Immunglobulingabe und Aciclovir. Die schwere Gedeihstörung ist mit parenteraler Ernährung zu be­handeln. Die Transplantation von Stammzellen ist die Therapie der Wahl. Sie darf nicht verzögert werden und sollte bei Fehlen eines HLA-identen Spenders entweder haploident von einem Elternteil oder im Rahmen kontrollierter Studien mittels Gentherapie durchgeführt werden. Trotz Prophylaxe ist jederzeit eine Infektion möglich, die die Prognose dramatisch verschlechtert. Daher wird empfohlen, umgehend Kontakt zu einem transplantierenden Zentrum aufzunehmen. Es ist noch nicht beurteilbar, ob die Gentherapie der haploidenten Stammzelltransplantation bezüglich immunologischer Rekonstitution und Gesamtprognose überlegen ist. Die Leukämiegefahr der Gentherapie war bei den viralen Vektoren der ersten ­Studien erheblich und scheint nur bei ADA-Defizienz mit diesen Vektoren nicht vorhanden. Bei allen anderen SCID-Entitäten werden gentherapeutisch inzwischen modifizierte Vektoren im Rahmen klinischer Studien eingesetzt. Beim ADA-Mangel ist auch die Substitutionsbehandlung mit Adenosindesaminase eine Option. >> Wegen der Gefahr einer Graft-versus-Host-Reaktion müssen Blutpräparate vor Transfusion mit 30 Gy bestrahlt werden. Impfungen mit lebenden Erregern (Rotaviren, VZV) sind kontraindiziert.

10.3.2 T-Lymphozytendefekte mit gestörter

­Proliferation

Autoimmun-lymphoproliferatives Syndrom (ALPS) jjPathophysiologie Dem Krankheitsbild (im eigentlichen Sinne keine Immundefizienz) liegen verschieden verursachte Störungen des programmierten ­Zelltodes (Apoptosedefekte) zu Grunde. Am häufigsten sind ­Mutationen im Gen für Fas/Apo1/CD95 (TNFRSF6). Ist die sog. intrazelluläre „death domain“ betroffen, ergibt sich ein dominant negativer Effekt. Dagegen haben Defekte der extrazellulären und Transmembranregion eine geringere Penetranz und führen bei somatischer Zweitmutation oder aufgrund einer Haploinsuffizienz zur Erkrankung. Die Zellen reagieren vermindert oder gar nicht auf bestimmte Apoptosesignale, sodass unbrauchbare und autoreaktive Lymphozyten überleben. jjKlinik Durch benigne Lymphoproliferation kommt es zu Splenomegalie und zu langsam an- (und ab-) schwellenden, unterschiedlich stark vergrößerten Lymphknoten (. Abb. 10.9). In diesen Lymphknoten und im peripheren Blut finden sich häufig vermehrt sog. doppelt negative T-Zellen (TCRαβ+, CD3+, CD4-, CD8-, die neben erhöhten Serumbiomarkern (sFASL und Vitamin B12) einen diagnostischen Stellenwert haben. Von Autoimmunphänomenen ist am ­häufigsten das hämatopoetische System mit Thrombo- und Neutropenien sowie hämolytischen Anämien betroffen. Auch Glomerulonephritis und andere Organmanifestationen treten auf. Das Risiko für ein malignes Lymphom ist deutlich erhöht. jjTherapie Sirolimus und Mykophenolat-Mofetil sind die effektivsten, steroidsparenden Therapeutika, für die die meiste Erfahrung vorliegen und sollten initial eingesetzt werden. Wegen der Gefahr eines ­nachhaltigen Immunglobulinmangels sollte Rituximab gemieden werden. Die Indikation für eine Splenektomie ist sehr zurückhaltend zu stellen und eine Prophylaxe gegen bekapselte Erreger gründ-

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a ..Abb. 10.9  Massive zervikale Lymphknotenvergrößerung bei Fas-­ Defizienz

lich durchzuführen, da beim ALPS die Splenektomie besonders häufig zu plötzlichen überwältigenden systemischen Infektionen (selbst unter Prophylaxe) geführt hat.

10

Lymphoproliferatives (Purtilo-)Syndrom (XLP1) j jPathophysiologie Dieses X-chromosomal-rezessiv vererbte Syndrom ist gekennzeichnet durch einen selektiven Immundefekt gegen Epstein-Barr-Virusinfektionen. Das für die Erkrankung verantwortliche Gen kodiert ein Protein (SAP), das die Signaltransduktion in T-Lymphozyten und in NK-Zellen reguliert. Auf EBV reagieren die Patienten mit einer unkontrollierten Antwort der zytotoxischen (CD8+) T-Lymphozyten, die zu einer schweren Destruktion des lymphatischen Gewebes, der Leber und des Knochenmarkes führt. jjKlinik Die Patienten versterben an der ersten EBV-Infektion oft durch Leber­nekrose. Daneben sind aplastische Anämien, Hämophagozytose, Hypogammaglobulinämien und B-Zelllymphome beschrieben worden, die in der Regel tödlich verlaufen. Wegen der gestörten ­Antikörperproduktion ist der Nachweis der EBV-Infektion durch serologische Methoden teilweise schwierig aber die PCR wichtig. Anfänglich besteht eine Dysgammaglobulinämie, im weiteren Verlauf kommt es zum Absinken der Immunglobulinkonzentrationen im Serum. Fast immer besteht eine ausgeprägte Lymphozytose mit atypischen Lymphozyten. j jTherapie Als einzige kurative Möglichkeit waren Knochenmarktransplanta­ tionen bei einigen Patienten erfolgreich. Differenzialdiagnostisch müssen lymphohistiozytäre Erkrankungen (7 Kap. 23), z. B. die familiäre Lymphohistiozytose, erwogen werden. 10.3.3 T-Lymphozytendefekte kombiniert mit

­anderen Störungen

Wiskott-Aldrich-Syndrom >> Das X-chromosomal vererbte Wiskott-Aldrich-Syndrom ist charakterisiert durch die Trias Thrombozytopenie, Ekzeme und Infektanfälligkeit aufgrund gestörter B- und T-Lymphozytenfunktionen.

b ..Abb. 10.10 Wiskott-Aldrich-Syndrom. a Blutung nach Bagatelltrauma, b Ekzem

jjPathophysiologie Das bei diesen Patienten defekte Gen kodiert ein Protein (WASP), das bei der Aktinpolymerisierung und bei der Bildung von Mikrovesikeln in Lymphozyten und Megakaryozyten eine regulatorische Rolle spielt. Die meist abnorm kleinen Thrombozyten haben eine verkürzte Überlebenszeit. Die Serumspiegel von IgA und IgE sind deutlich erhöht, wogegen die IgM-Werte erniedrigt sind. Typisch ist ein polysacharidspezifischer Immundefekt. Im Verlauf der Erkrankung entwickeln sich eine Lymphopenie und eine Funktionseinschränkung der T-Lymphozyten. jjKlinik Bei einigen Patienten kommt es durch die Thrombozytopenie zu schweren Blutungen (. Abb. 10.10a). Trotzdem ist die Indikation für eine Splenektomie wie beim ALPS zurückhaltend zu stellen. Infektionen werden u. a. durch bekapselte Erreger, Pneumocystis jirovecii und später durch Viren der Herpesgruppe verursacht. Das Ekzem wird leicht mit Neurodermitis verwechselt (. Abb. 10.10b). Autoimmunphänomene, wie Arthritiden, Vaskulitiden und Kolitis können sehr hartnäckig sein. Die Malignomgefahr wächst mit zunehmendem Alter. jjTherapie Immunglobulingaben und prophylaktische antibiotische und antivirale Therapie können die Rate der Infektionen deutlich senken. Thrombozyten sind vor Transfusion mit 30 Gy zu bestrahlen. Mit einer HLA-identischen Stammzelltransplantation kann ein großer Teil der Patienten geheilt werden. Die haploidentische Transplantation war bisher wenig erfolgreich, wird aber neu evaluiert. Die Leu-

249 Immunologie

Bei der Ataxia teleangiectatica ist Folgendes zu beachten: 44 Graft-versus-Host-Reaktion durch Transfusion unbestrahlter Blutprodukte sind möglich, 44 Lebendimpfungen nur in Abhängigkeit vom Ausprägungsgrad des Immundefekts durchführen, 44 Reaktionen auf i.v.-Immunglobulinsubstitution bei Subklassendefekt mit IgA-Mangel sind möglich, 44 Röntgen nur in absolut zwingenden Fällen durchführen, MRT bevorzugen, 44 gesamte Familie beraten. 10.4

Komplementdefekte

10.4.1 Primäre Komplementdefekte ..Abb. 10.11  Konjunktivale Teleangiektasien bei Ataxia teleangiectatica

kämiegefahr der Gentherapie war bei den erstmalig eingesetzten viralen Vektoren erheblich, eine Gentherapie mit modifizierten Vektoren ist bei fehlendem Stammzellspender in kontrollierten Studien möglich. jjPrognose Die Prognose ohne Transplantation oder Gentherapie wird im ­Wesentlichen durch das erhöhte Risiko (100-fach höher) an lymphoretikulären Tumoren zu erkranken und durch Hirnblutungen bestimmt.

Ataxia telangiectatica (Louis-Bar-Syndrom) jjCharakteristika, Pathophysiologie Dieses autosomal-rezessiv vererbte Syndrom ist durch Ataxie ab etwa dem 2. Lebensjahr, durch meist später hinzutretende Teleangiektasien der Haut und der Konjunktiven (. Abb. 10.11) sowie durch eine zunehmende neurologische Symptomatik gekennzeichnet. Ein B- und T-Zellen betreffender Immundefekt führt nur bei einem Teil der Patienten schon früh zu sinopulmonalen Infektionen. Muta­ tionen im ATM-Gen verursachen die Erkrankung. Die funktionell intakte Version dieses Gens verlangsamt den Zellzyklus bis alle eventuell aufgetretenen DNA-Schäden repariert sind, während die ­mutierte Version die Weitergabe von veränderter DNA auf Tochterzellen zulässt. jjKlinik, Diagnose Neben den aufgeführten Symptomen kann es zu schweren bronchopulmonalen Infektionen, Bronchiektasen, endokrinen Störungen und Störungen der Leberfunktion kommen. Mit zunehmendem ­Alter vermindern sich die intellektuellen Fähigkeiten und es wächst das Malignomrisiko. Auf Grund der erhöhten Strahlenempfindlichkeit sind Röntgenstrahlenexpositionen zu vermeiden. IgG-Mangel ist häufig; Hyper-IgM-Konstellationen und IgA/IgG-Subklassenmangel kommen vor. Ein erhöhtes α-Fetoprotein trägt neben der charakteristischen Klinik zur raschen Diagnose bei. jjTherapie, Prognose Die Therapie ist symptomatisch (Immunglobulingaben, Antibiotika). Blutprodukte sind zu bestrahlen. In einer sehr hohen Rate treten lymphoretikuläre Malignome auf. Mit starken immunologischen Veränderungen korreliert eine besonders schlechte Prognose. Auch Heterozygote (u. a. Eltern) sind gefährdet (z. B. durch Malignome, kardiovaskuläre Erkrankungen), sodass eine Beratung erfolgen muss. Eine Stammzelltransplantation ist nicht indiziert.

jjPathophysiologie Das Komplementsystem besteht aus einer Anzahl von Proteinen, die sich kaskadenartig, ähnlich der Blutgerinnung, aktivieren. Viele Komplementfaktoren sind Proteasen, die von der jeweils nachfolgenden Komponente ein Protein abspalten, das zusätzliche biologische Aktivität entfaltet. Das Komplementsystem kann auf 3 Wegen aktiviert werden, über den klassischen, den alternativen und den MBL-Weg (MBL, Mannose-bindendes Lektin). Biologische Funktionen des Komplementsystems sind u. a. die Veränderungen der Gefäßwandpermeabilität, die Aktivierung von Entzündungszellen (u. a. im Sinne einer gesteigerten Chemotaxis), die Fähigkeit zur Opsonierung (d. h. der Verbesserung der Phago­ zytose von zu eliminierenden Partikeln) und die Zelllyse durch Membranporenbildung. Ebenfalls wichtig sind Funktionen bei der Eliminierung von Immunkomplexen, von apoptotischen Zellen und bei der Regulierung von B-Zellen. Kongenitale Defekte fast aller Komponenten des Komplementsystems sind beschrieben worden. Der Tendenz nach zeigen Patienten mit funktionellem Verlust der in der Nummerierung niedrigen Komplementkomponenten eher autoimmunologische Symptome bis hin zu einem SLE-ähnlichen Krankheitsbild und seltener ­schwere bakterielle Infektionen, während es sich bei Verlust der höheren Komponenten umgekehrt verhält; (rezidivierende) Meningokokkeninfektionen sind hier am Häufigsten. Andere bekapselte Erreger (z. B. Pneumokokken) kommen ebenfalls vor. Patienten mit Fehlen von bestimmten Komplementfaktoren können durchaus gesund sein (z. B. beim C2- oder MBL-Mangel). jjDiagnose Mit dem Test für die totale hämolytische Komplementaktivität CH50 besteht die Möglichkeit, alle 9 Komponenten des klassischen ­Aktivierungswegs funktionell zu messen. Defekte im alternativen Aktivierungsweg können durch eine der CH50-analoge Unter­ suchungsmöglichkeit der AP50 entdeckt werden. Ein Defekt des Mannose-bindenden Lektins ist nur in Kombination mit anderen Störungen klinisch relevant. Bei Verdacht auf hereditäres Angioödem kann die Diagnose nur durch Messung der Konzentration und Funktion des C1-Esteraseinhibitors sicher gestellt werden auch wenn eine C4-Verminderung deutlich hinweisend ist. jjTherapie Die therapeutischen Möglichkeiten sind mit Ausnahme des hereditären Angioödems beschränkt, da die Faktoren kurze Halbwerts­ zeiten haben und bei Serumgabe die Gefahr der Sensibilisierung gegen allogene Komplementkomponenten besteht. Dennoch sollten Komplementdefekte möglichst frühzeitig diagnostiziert werden. Als

10

250

H. v. Bernuth und J. Roesler

Konsequenz sollte dann bei akuten, hochfieberhaften Erkrankungen sofort Meningokokken- bzw. Pneumokokken-wirksam behandelt werden.

Hereditäres Angioödem ­(C1-Esteraseinhibitormangel) 7 Abschn. 30.6.

10.4.2 Sekundäre Veränderungen ­

des Komplementsystems

Manche Komplementkomponenten (z. B. C3) reagieren wie (träge) Akute-Phase-Proteine, was bei systemischen Entzündungen zu ihrer Erhöhung führen kann, aber nicht primär pathologisch ist. Eindeutige Erniedrigungen haben jedoch immer eine gewisse pathologische Bedeutung und deuten meist auf einen Komplementverbrauch hin. Beispiele für Erkrankungen mit einem solchen Verbrauch sind: Lupus erythematodes, bestimmte Formen der Glomerulonephritis, Verbrennungen und Sepsis.

Eine Reihe von Viren induzieren eine verminderte Immunabwehr, wie z. B. konnatale Röteln, Zytomegalie, Masern und natürlich HIV (7 Kap. 14). Erhebliche Eiweißverluste z. B. bei exsudativer Weitere Immundefekte, die kombiniert mit anderen Störungen auf- Enteropathie können zu einem klinisch relevanten Immunglobulintreten, sind in . Tab. 10.2 beispielhaft aufgeführt (. Abb. 10.12 und mangel führen. Lymphangiektasien und Verletzungen des Ductus thoracicus mit ausgeprägtem Verlust an Lymphflüssigkeit können . Abb. 10.13). über den Immunglobulinmangel hinaus einen Abfall der Lymphozytenzahl zur Folge haben und so eine erhebliche Abwehrschwäche verursachen. Sekundäre Schädigungen des Knochenmarks und des 10.6 Sekundäre Immundefekte lymphatischen Systems (z. B. Strahlung, Chemikalien) sowie Auto­ Haben Kinder ein primär intaktes Immunsystem, das durch ein immun- und maligne Erkrankungen induzieren ebenfalls sekundäre ­Ereignis beeinträchtigt wird, spricht man von einem sekundären Immundefekte. Schließlich seien als weitere Beispiele ChemotheraImmundefekt. Sekundäre Immundefekte sind sehr unterschiedlich pie und antientzündliche Therapien einschließlich Steroidtherapie ausgeprägt, polyätiologisch und daher schlechter klassifizierbar­ als iatrogen verursachte Immunsuppression erwähnt. Manche als die primären. Beispiele sind (chronische Unterernährung, z. B. ­Autoimmunstörungen verursachen eine „Phänokopie“ eines angeKwashiorkor; 7 Kap. 2), Verbrennungen und Zustand nach Splenek- borenen Immundefektes, z. B. Infektionen mit Mykobakterien bei Vorliegen von anti-IFNgamma-Autoantikörpern. tomie (7 Kap. 22). 10.5

10

..Abb. 10.12  Typische Fazies bei DiGeorge-Sequenz

Weitere angeborene Immundefekte

..Tab. 10.2  Weitere angeborene Immundefekte Syndrom

Mutierte Gene

Vererbung

Klinisches Bild

Therapie

Chronisch mukokutane Candidiasis

CARD9 STAT1 IL17RA IL17F

AR AD AR AD

Candidainfektionen der Haut, Schleimhäute, Nägel

Symptomatisch Azole (Prophylaxe nur in schweren Fällen)

DiGeorge-Sequenz





Thymushypoplasie Nur in > Die Resultate, ausgedrückt in Einheiten (kU/L) oder Klassen (0–6), spiegeln zwar die allergenspezifische IgE-Bildung ­wider, diese korreliert jedoch nur teilweise mit dem klinischen Sensibilisierungsgrad.

Allergenspezifische IgG-Antikörper  In der Diagnostik von

­ ahrungsmittelallergien haben IgG- oder IgG4-Antikörper – trotz N des häufigen Einsatzes in Laboren – keinen Stellenwert. Der IgGAntikörper-Nachweis spiegelt lediglich den stattgehabten Allergen­ kontakt wider und wird im Rahmen einer klinischen allergologi­ schen Diagnostik nicht durchgeführt. Zelluläre Testverfahren  Allergenspezifische IgE-Antikörper, die an Rezeptoren mediatorhaltiger Zellen gebunden sind, führen zur Degranulation und somit zur Freisetzung präformierter Mediato­ ren.  Zum Nachweis einer IgE-vermittelten Histaminfreisetzung ­werden basophile Granulozyten aus dem Blut verwendet. Im basophilen Degranulationstest werden entweder Vollblut oder isolierte basophile Leukozyten mit unterschiedlichen Allergenmengen in­ kubiert und das freigesetzte Histamin kann aus den Zellüberstän­ den  bio­ logisch, fluorimetrisch oder immunologisch gemessen ­werden. Auch wenn die Sensitivität der zellulären Tests hoch ist, bleibt die Spezifität des Verfahrens für die klinische Anwendung zu niedrig. Tryptase ist eine mastzellspezifische Protease, ihr Serumspiegel reflektiert die Gesamtzahl der Mastzellen im Körper oder deren basale Aktivierung. α-Tryptase wird kontinuierlich sezerniert, ­ β-Tryptase erst nach Mastzellaktivierung, wie bei der anaphylakti­ schen Reaktion, freigesetzt. Dauerhaft erhöhte Tryptasekonzentra­ tionen weisen Patienten mit Mastozytose auf. Bei akuter Anaphy­ laxie steigt Tryptase im Serum an, die höchste Konzentration wird 30 Minuten bis 5 h nach dem Anaphylaxiezwischenfall gemessen. Der Lymphozytentransformationstest (LTT) prüft, inwieweit kultivierte mononukleäre Zellen aus dem peripheren Blut in Gegen­ wart von Allergen vermehrt proliferieren. Eine Aussage über die Ätiologie der allergischen Reaktion ist mit diesem Verfahren nicht möglich, der Test hat daher keine Bedeutung für die klinische Diag­ nostik. Eosinophile Granulozyten  Bei Allergikern werden vermehrt akti­

vierte eosinophile Granulozyten gefunden. Ihre Produkte wie das

eosinophile kationische Protein (ECP), eosinophiles Protein X

(EPX) haben eine zytotoxische Aktivität und können im Serum (ECP, EPX) nachgewiesen werden.

Gewebsuntersuchung  Histologisch kann die allergische Reaktion anhand der vermehrten Gewebsinfiltration von eosinophilen ­Granulozyten, Plasmazellen, Makrophagen und T-Lymphozyten ­diagnostiziert werden. Vor allem die Schleimhaut der Nase, der Bronchien oder des Darms sowie befallene Hautbezirke können für diese Untersuchung herangezogen werden. Exhaliertes Stickoxid (eNO) ist bei verschiedenen entzünd­ lichen Atemwegserkrankungen erhöht und kann durch die anti­ inflammatorische Behandlung mit inhalativen Steroiden gesenkt werden. Die Messung des eNO hat einen Stellenwert beim Monito­ ring des Kindes mit Asthma bronchiale unter oder nach Absetzen der antiinflammatorischen Therapie, um Asthmaexazerbationen frühzeitig zu erkennen. Eine Korrelation zwischen eNO und den Lungenfunktionsparametern oder bronchialer Hyperreagibiliät gibt es nicht. Im Gegensatz zu Kindern mit allergischem Asthma haben Patienten mit angeborener ziliärer Dyskinesie sehr niedrige und Kinder mit zystischer Fibrose erniedrigte eNO-Werte in der Aus­ atemluft.

11.8

Grundsätze der Allergietherapie

Die Grundprinzipien in der Allergologie insgesamt lauten Allergen­ karenz, medikamentöse Therapie und Spezifische Immuntherapie (Drei-Säulen-Modell). Kausale Maßnahmen sind Karenz und ­Hyposensibilisierung. jjAllergenkarenz Der Stellenwert der gezielten Allergenkarenz in der Allergietherapie ist abhängig vom auslösenden Allergen. Bei Nahrungsmittel- und Medikamentenallergien oder bei der Tierschuppenallergie (Verzicht auf Haustiere) bei Kindern im städtischen Bereich reicht die M ­ eidung von Auslösern oft aus, um Beschwerdefreiheit zu erlangen. Ebenso ist bei der Hausstaubmilbenallergie die Karenz die erste Maßnahme in der Behandlung (7 Abschn. 11.6.1, 7 Häusliche Sanierungsmaßnahmen bei Hausstaubmilbenallergie), weitere Therapiemaßnahmen richten sich nach dem Schweregrad. Bei Allergie auf Pollen und ­Alternariasporen eignen sich Klimakuren in einem allergenarmen Milieu, am Meer oder im pollenarmen Hochgebirge. jjMedikamentöse Therapie Es wird unterschieden zwischen einer Akutbehandlung (z. B. bei akuter allergischer Reaktion auf Nahrungsmittel) und einer Dauertherapie (z. B. bei Asthma bronchiale oder chronischer allergischer Rhinopathie). Die Auswahl der Medikation orientiert sich an der Pathogenese und dem betroffenen Organ (Details in den Kapiteln der klinischen Krankheitsbilder), werden aber auch vom Verlauf der Erkrankung bestimmt. Ein wichtiges Therapieziel ist die Ver­ meidung der Chronifizierung. Da die Allergietherapie in der Regel im Alltag der Familien ­stattfindet, ist unbedingt auf Praktikabilität und altersgerechte ­Möglichkeiten der Mitarbeit zu achten (z. B. erhalten Kleinkinder zur Inhalation geeignete Inhalierhilfen). Daher wurden seit den 1990er Jahren interdisziplinäre Schulungsprogramme entwickelt für K ­ inder mit Asthma bronchiale, Neurodermitis und Anaphy­ laxie. Die allergologischen Schulungen bieten nicht nur die Möglich­ keit der ausführlichen Information und Instruktion der Familien. Geschulte Kinder erlangen eine bessere Symptomwahrnehmung und frühzeitige Selbständigkeit in der Therapiedurchführung. Für Eltern und Kinder ist der positive Effekt allergologischer Schu­ lungsmaßnahmen auf Lebensqualität und Krankheitsverarbeitung belegt.

11

262

R. Urbanek und K. Nemat

j jSpezifische Immuntherapie (SIT) mit Allergenen ­ (syn. Hyposensibilisierung) Bereits vor mehr als hundert Jahren hat Noon über eine Hyposensi­ bilisierungsbehandlung bei Pollinosis berichtet. Die spezifische Immuntherapie (SIT) versucht mithilfe von kontinuierlich ansteigen­ den, später unverändert hohen Allergendosen im Immunsystem auf Dauer eine bessere Toleranz zu induzieren. Sie kommt v. a. bei den Allergikern in Betracht, die keinen Nutzen von Allergenkarenzmaß­ nahmen haben oder bei denen eine sichere Karenz nicht möglich ist (z. B. Allergie auf Pollen oder Insektengifte). Kriterien zur SIT-Indikation 55Nachweis einer spezifischen Sensibilisierung (sIgE und/oder HPT) für das Allergen 55Eindeutige Anamnese eines Zusammenhangs zwischen ­Allergenexposition und klinischen Symptomen 55Mindestens mittlerer Schweregrad der Symptomatik (bei ­Insektengiftallergie jede Reaktion, die ein Anaphylaxierisiko bei einem erneuten Stich vermuten lässt) 55Relevanter Medikamentenverbrauch 55Relevante Zeitdauer der Symptomatik (insbesondere bei ­saisonalen Allergien zu prüfen) 55Verfügbarkeit eines qualitativ hochwertigen Allergen­ extrakts

11

Verwendet werden Allergenextrakte, die mithilfe von biologischen sowie gentechnischen, immunchemischen Methoden gewonnen und standardisiert wurden. Der klassische Applikationsweg ist die subkutane Applikation (SCIT), vergleichbar mit einer subkutanen Impfung. Hier existieren für viele Indikationen im Kindesalter Wirksamkeitsnachweise. Nach einer Initialphase mit wöchentlichen Injektionen ansteigender Allergendosen erfolgt die Dauerbehand­ lung mit einer festen Erhaltungsdosis über in der Regel 3 Jahre in Abständen von 4 Wochen. Die besten Erfolge sind bei einer Aller­ genimmuntherapie mit Insektengiften oder Pollen zu erwarten. Ein etwas neuerer Ansatz ist die sublinguale Hyposensibilisierung (SLIT), welche täglich zuhause durchgeführt wird. Hierfür müssen die Tabletten oder Tropfen vor dem Schlucken für 1–2 Mi­ nuten unter der Zunge gehalten werden. Die Behandlung wird ganz­ jährig oder prä- und kosaisonal durchgeführt, meist für insgesamt 3 Jahre. 11.9

Primäre Allergieprävention

Interventionsstudien haben in den letzten Jahrzehnten den Nutzen allergiepräventiver Maßnahmen untersucht. Ziel war dabei meist die primäre Prävention einer Allergieentwicklung beim Kind. In großen Geburtskohortenstudien wurden sowohl Kinder mit posi­ tiver Familienanamnese für atopische Erkrankungen (sog. Risiko­ kinder) als auch Kinder ohne genetische Vorbelastung in der ersten Lebensdekade nachuntersucht. Der Begriff sekundäre Allergie­ prävention bezeichnet die Situation, wenn sich bereits eine Sensi­ bilisierung ­entwickelt hat, allerdings noch keine Symptome beste­ hen und die Manifestation der allergischen Erkrankung verhindert werden soll. Die Interventionen zur Primärprävention fokussieren v. a. auf folgende Bereiche: 44 Lebensführung (z. B. Tabakrauchexposition), 44 Allergenexposition (z. B. Hausstaubmilbenreduktion) und 44 Ernährung (z. B. Meidung nutritiver Allergene).

Insgesamt zeigte sich, dass die Durchführung von Einzelmaß­ nahmen in der Prävention allergischer Sensibilisierungen oder ­Erkrankungen beim Kind nicht effektiv ist. Für multifaktorielle Prä­ ventionsprogramme konnte aber teilweise ein Nutzen belegt werden. Die aktuellen Empfehlungen zur primären Allergieprävention sind in . Tab. 11.4 zusammengefasst. 11.10

Verzögert auftretende allergische ­Reaktionen

Eine Entzündungsreaktion infolge einer Überempfindlichkeit kann auch innerhalb von Stunden bis Tagen zur Symptommanifestation führen. Die im Folgenden beschriebenen Krankheitsbilder sind diesbezüglich von Bedeutung. 11.10.1

Serumkrankheit

jjPathogenese, Klinik Nach Verabreichung eines vom immunisierten Tier gewonnenen Antiserums (z. B. gegen humane Lymphozyten, Botulismus oder Diphtherie) kommt es zur Antikörperbildung, da es sich um ein artfremdes Eiweiß handelt. Die entsprechenden Antigen- (fremdes Protein) Antikörper-Komplexe aktivieren Komplement und lösen dann innerhalb von Stunden bis Tagen Symptome wie Fieber, ­Urtikaria, Lymphadenitis, Arthritis, Nephritis und Vaskulitis aus. Mit dem Abbau der Immunkomplexe kommt es zum Rückgang der Serumkrankheit. jjTherapie Therapeutisch sind Antihistaminika und Antiphlogistika, ein­ schließlich Steroiden, wirksam. jjAllergische Alveolitis 7 Kap. 18. jjKontaktdermatitis 7 Kap. 30.

263 Allergologie

..Tab. 11.4  Aktuelle Empfehlungen zur primären Allergieprävention (Mod. nach S3-Leitlinie Allergieprävention) In Schwangerschaft und Stillzeit: ausgewogene und nährstoffdeckende Ernährung einschl. Fisch

Die Entwicklung von Nahrungsmittelsensibilisierungen beim Kind kann durch eine allergenreduzierte Diät der Mutter nicht vermieden werden, birgt jedoch das Risiko eines Nährstoffmangels für Mutter und Kind.

Im ersten Lebensjahr: - 4 Monate ausschließliches Stillen (falls kein Stillen möglich: kuhmilchbasierte hydrolysierte Säuglingsnahrung, HA-Milch, in ersten 4 Monaten für Kinder mit erhöhtem Allergierisiko - Beikost ab 5. Lebensmonat: variationsreich, inkl. Fisch

Säuglingsnahrungen auf der Basis von Sojaeiweiß, Ziegen-, Stuten- oder anderen Tiermilchen sind zur Allergieprävention nicht geeignet. Der Nutzen einer späten Beikosteinführung oder der Meidung potenter Nahrungsmittelallergene im 1. Lj. konnte nicht belegt werden, vielmehr wird untersucht, inwieweit die bewusst frühzeitige Einführung von Hochrisikoallergenen (v. a. Erdnuss) einen präventiven Effekt bzgl. der Entwicklung der entsprechenden Nahrungsmittelallergie hat.

Übergewicht bei Kindern vermeiden

Ein erhöhter Body-Mass-Index ist ein Risikofaktor für die Entwicklung von Asthma bronchiale.

Rauchen

Keine aktive oder passive Tabakrauchexposition in Schwangerschaft, Stillzeit und der gesamten Kindheit

Passives und aktives Rauchen ist der stärkste fördernde Einflussfaktor auf die Allergieentwicklung.

Innenraumklima

Möglichst geringe Exposition zu Innenraumschadstoffen Schimmelpilzwachstum (durch hohe Luft­ feuchte, mangelnde Ventilation) vermeiden

Die Emission flüchtiger organischer Substanzen und von Formaldehyd sollte bei der Anschaffung neuer Möbel und der Durchführung von Maler- und Renovierungsarbeiten beachtet werden, insbesondere um den Geburtszeitpunkt herum.

Hausstaubmilben

Keine aktiven Maßnahmen der Hausstaubmilbensanierung

Hausstaubmilbensanierungsmaßnahmen sind nur in der sekundären oder tertiären Prävention effektiv z.B. bei Kindern mit manifester perennialer allergischer Rhinitis bei nachgewiesener Sensibilisierung auf Haustaubmilben.

Haustierhaltung

Keine Einschränkung der Haustierhaltung für Kinder ohne erhöhtes Allergierisiko

Der Effekt einer Haustierhaltung als Risikofaktor oder Schutzmaßnahme bezüglich der Allergieentstehung wird nach den bisherigen Erkenntnissen kontrovers diskutiert. Bei Risikokindern wird heute keine zusätzliche Anschaffung von felltragenden Haustieren als Präventionsmaßnahme empfohlen.

Kfz-Emissionen

Dauerhafte Exposition zu hohen Kfz-Emissionen vermeiden

Die Exposition gegenüber Stickoxiden und kleinen Partikeln (PM 2,5) ist mit einem erhöhten Risiko, besonders für Asthma, verbunden.

Geburtsverfahren

Sektio nach medizinischer Indikation

Es gibt Hinweise darauf, dass Kinder, die durch Sektio auf die Welt ­kommen, ein erhöhtes Allergierisiko haben. Dies sollte bei der Wahl des Geburtsverfahrens berücksichtigt werden.

Impfungen

Umsetzung der aktuellen STIKO-Impfempfehlungen für alle Kinder

Impfungen erhöhen das Allergierisiko nicht; vielmehr gibt es Hinweise, dass sie es senken. Atopische Kinder können durch impfpräventable Erkrankungen der Atemwege schwerer betroffen sein. Eine hohe Durchimpfungsrate wird benötigt, um eine ausreichende Herdenimmunität zu erreichen.

Ernährung

11

265

Rheumatologie H.-I. Huppertz

12.1

Juvenile idiopathische Arthritis  – 266

12.2

HLA-B27-assoziierte juvenile ­Spondylarthritiden   – 269

12.3

Infektassoziierte Arthritiden  – 270

12.4

Systemischer Lupus erythematodes (SLE)  – 271

12.5

Juvenile Dermatomyositis  – 272

12.6

Sklerodermie  – 273

12.7

Mischkollagenose  – 274

12.8

Vaskulitissyndrome  – 274

12.8.1 Purpura Schönlein-Henoch  – 274 12.8.2 Kawasaki-Erkrankung  – 274

12.9

Weitere rheumatische Erkrankungen  – 275

12.9.1 12.9.2 12.9.3 12.9.4 12.9.5 12.9.6

Akutes rheumatisches Fieber  – 275 Familiäres Mittelmeerfieber  – 276 Erythema nodosum  – 276 Juveniles Sjögren-Syndrom  – 277 Sarkoidose  – 277 Nichtbakterielle Osteomyelitis  – 277

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_12

12

266

H.-I. Huppertz

12.1

Juvenile idiopathische Arthritis

j jDefinition Unter der Bezeichnung „juvenile idiopathische Arthritis“ (JIA) fasst man eine Gruppe von Gelenkentzündungen zusammen, die vor dem 16. Lebensjahr beginnen, länger als 6 Wochen dauern und für die keine andere Ursache gefunden werden kann. jjEpidemiologie Die Prävalenz beträgt 1 auf 1000 Kinder (bis zum 16. Lebensjahr). Das führende Symptom ist eine Arthritis im Sinne einer chronischen Synovialitis mit möglicher Beteiligung weiterer Gelenkstrukturen (Gelenkknorpel und subchondraler Knochen, . Abb. 12.1). Daneben können bindegewebige Strukturen anderer Organe betroffen sein.

j jKlinik Schon Tage vor Auftreten der Gelenksymptome können die Kinder abgeschlagen, blass und müde wirken – das gilt auch für Rezidive. Andererseits gibt es auch den Beginn der Arthritis aus völligem Wohlbefinden, wobei von den Eltern häufig Bagatelltraumen als vermeintliche Auslöser der Erkrankung angeführt werden. Wichtigstes Symptom ist die Arthritis, eine nicht traumatisch bedingte Schwellung, Erguss oder schmerzhafte Bewegungseinschränkung in mindestens einem Gelenk. Die Schmerzhaftigkeit findet man häufig nur bei der endgradigen Bewegungseinschränkung. Häufig findet sich eine Überwärmung der darüber liegenden Haut. Eine Rötung spricht eher für eine Phlegmone oder eine septische Arthritis. Das Symptom „Arthritis“ ist ausschließlich durch die physikalische Untersuchung definiert und so am Patienten zu fin-

jjSubtypen Eine Unterscheidung von verschiedenen Subtypen der juvenilen idiopathischen Arthritis ist sinnvoll, weil sie sich in Therapie, Komplikationen und Prognose unterscheiden (. Tab. 12.1). Nicht selten ist die Zuordnung eines Patienten zu einem Subtypus der juvenilen idiopathischen Arthritis nicht möglich. Bei den polyartikulären Verlaufsformen (≥5 Gelenke mit Arthritis) wird eine rheumafaktornegative von der selteneren rheumafaktorpositiven Form unterschieden. Die polyartikuläre Form ohne Rheumafaktor kann prinzipiell alle Gelenke außer der lumbalen Wirbelsäule aber einschließlich der Halswirbelsäule, der Krikoarythenoidgelenke (Heiserkeit) und der Kiefergelenke betreffen. Oft ist das Muster symmetrisch und schließt neben großen Gelenken die kleinen Fingergelenke, besonders die Metakarpophalangealgelenke und die proximalen Interphalangealgelenke ein (. Abb. 12.2). Initial kann Fieber auftreten. Da beim Kind und Jugendlichen ein aus­ gesprochener Bewegungsdrang besteht und der Umgang mit ­Gleichaltrigen fast immer eine körperliche Betätigung beinhaltet (Spielplatz, Sportverein, Diskothek), führt die Erkrankung unbehandelt oft zu einer schweren Beeinträchtigung der psychosozialen Entwicklung mit Adaptationsphänomenen. Der Befall der Hand mit schmerzhafter ulnarer Fehlstellung im Handgelenk kann zur verminderten Schreibleistung führen. Unter den Formen mit oligoartikulärem Befall (≤4 betroffene Gelenke) ist die (frühkindliche) Oligoarthritis die häufigste. Meist sind weibliche Kleinkinder betroffen. Die fast immer vorhandene Gonarthritis beeinträchtigt die evtl. gerade erworbene Fähigkeit zu laufen (. Abb. 12.3). Bei Befall eines Kiefergelenks kommt es bei der Mundöffnung zum Abweichen des Unterkiefers zur betroffenen

..Abb. 12.1  Anatomische Strukturen und Gelenkveränderungen bei ­juveniler idiopatischer Arthritis (rechts) und juveniler Spondylarthritis (links). Bei letzter kommt es häufig zur Entzündung extraartikulärer Strukturen wie Sehnen- oder Ligamentansatz (Enthesitis) und Sehnenscheide (Tenosynovitis). Die periphere Arthritis ist selten erosiv

..Abb. 12.2  Polyarthritis bei einem 10-jährigen Mädchen. Arthritis der pro­ ximalen Interphalangealgelenke (spindelförmige Auftreibung, optisch ver­ stärkt durch Atrophie der kleinen Handmuskeln), der Metakarpophalangealgelenke und der Handgelenke (quere Schwellung). Beginnende ulnare Deviation im Handgelenk als typische Fehlstellung der arthritischen kindlichen Hand

j jHistopathologie Histopathologisch finden sich wenige polymorphkernige Zellen ­sowie ein vornehmlich mononukleäres entzündliches Infiltrat, bestehend aus Lymphozyten, Plasmazellen und Makrophagen. Das Synovialgewebe ist hyperplastisch und stark vaskularisiert (→ Gelenk­ erguss). Ein Granulationsgewebe (Pannus) führt zu Erosionen des gesunden Knorpels und Knochens (→ Gelenkzerstörung).

12

den. Die Gelenkuntersuchung mit Inspektion, Palpation, Feststellung der Bewegungseinschränkung nach der Neutral-Null-Methode und Funktionsprüfung muss alle Gelenke umfassen, den unterschiedlichen physiologischen Bewegungsumfang in Abhängigkeit vom Alter berücksichtigen (je jünger desto beweglicher) und bedarf besonders beim Kleinkind der Übung und Erfahrung. Eine Morgensteifigkeit findet sich nicht so regelhaft wie bei der rheumatoiden Arthritis des Erwachsenen.

267 Rheumatologie

..Tab. 12.1  Subtypen der juvenilen idiopathischen Arthritis und zum Vergleich die undifferenzierte juvenile Spondylarthritis Rheumafaktornegative Polyarthritis

Rheumafaktorpositive Polyarthritis

(Frühkindliche) Oligoarthritis

Undifferenzierte juvenile Spondylarthritis

Still-Syndrom

Relative Häufigkeit

20%

m

w >> m

w >> m

m>w

w=m

HLA-Assoziation

DR8

DR4

DR5, DR8

B27

Keine

Uveitis

Selten

Keine

Bis zu 40%

Bis zu 20%

Keine

Sakroileitis

Keine

Keine

Keine

Möglich

Keine

Gelenkprognose

Im Einzelfall ungewiss

Frühe Knorpelerosion möglich

Gut

Gut

Progression ­möglich

Bemerkungen

Kann sich auch aus der frühkindlichen Oligoarthritis entwickeln (extended Oligoarthritis)

Entspricht adulter rheumatoider Arthritis

Bleibende Augenschäden in bis zu 10%

Übergang in ankylosierende Spondylitis möglich

Fieber, Ausschlag, Organomegalie, Lymphknotenschwellung

Die Internationale Klassifikation „juvenile idiopathische Arthritis“ umfasst als weitere Subgruppen die Psoriasisarthritis und die Enthesitis-assoziierte Arthritis und überlappt dadurch mit der juvenilen Spondylarthritis (7 Abschn. 12.2). Zudem wird die aus einer Oligoarthritis hervorgehende Polyarthritis als eigene Subgruppe aufgefasst. Schließlich gibt es die Gruppe der nicht zuzuordnenden oder mehr als einer Gruppe zuzuordnenden Fälle.

S­ eite und mittelfristig zur Mikrogenie. Wichtig ist das häufige Vorkommen einer chronischen Iridozyklitis. Diese lässt sich vor Auftreten von Komplikationen wie Synechien oder Bandkeratopathie nur in der Spaltlampenuntersuchung erkennen, da das Auge unauffällig erscheint und die Kinder bei einseitigem Befall weiterhin lesen können. !! Cave Bei zu später oder unzureichender Behandlung können die Kinder bleibenden Visusverlust erleiden oder erblinden.

Die mit dem HLA-Klasse-I-Antigen B27 assoziierte Enthesitis-verbundene Arthritis wird auch als undifferenzierte juvenile Spondylarthritis (7 Abschn. 12.2) bezeichnet. Weiter wird die Psoriasisarthritis als eigene JIA-Subgruppe abgegrenzt. Die systemische Verlaufsform (M. Still) beginnt mit extraartikulären Manifestationen: 44 über Wochen intermittierendes, hektisches (rasche Temperatursprünge) Fieber, 44 stammbetontes, flüchtiges, nur während des Fiebers sichtbares kleinfleckiges, konfluierendes, blassrosa Exanthem (. Abb. 12.4), 44 Hepatosplenomegalie, 44 generalisierte Lymphadenopathie, 44 Pleuritis, 44 Perikarditis. ..Abb. 12.3  Frühkindliche Oligoarthritis eines 2-jährigen Mädchens mit 7 Befall des linken Kniegelenks (Schwellung, Erguss und Streckhemmung) und des linken Ellenbogengelenks (Erguss und Streckhemmung). Die Bewegungseinschränkung hat zu Beckenschiefstand mit Abkippung nach links, linkskonvexer Skoliose der LWS, Schulterhochstand links, rechtskonvexer Skoliose der HWS und beginnender Gesichtsskoliose geführt. Trotz der deutlichen Symptome kam es unter fachgerechter Behandung zur Ausheilung ohne bleibende Veränderungen

12

268

H.-I. Huppertz

Sonographie  Sonographisch kann ein Erguss im Hüftgelenk oder

anderen Gelenken nachgewiesen werden. Daneben können eine ­Tenosynovitis, Verdickung der Synovialis oder andere Weichteilveränderungen festgestellt werden. Dopplersonographisch kann Entzündung dokumentiert werden.

Röntgen  Röntgenaufnahmen sind in den Hintergrund getreten und werden nicht mehr regelhaft angefertigt, wenn andere bildgebende Methoden die gleiche Information liefern können.

..Abb. 12.4  Exanthem am Oberschenkel eines 9-jährigen Jungens mit seit 2 Wochen bestehendem intermittierenden Fieber bis 40°C, Hepato­ splenomegalie und zervikalen Lymphknotenschwellungen. Das nur während des Fiebers sichtbare Exanthem ist stammbetont. Weitere Befunde: Leukozytose von 20.000/µl mit Granulozytose und Linksverschiebung, CRP 16 mg/dl, BSG 90 mm/h, Blutkulturen steril. Unter dem Verdacht eines M. Still erfolgte die Therapie mit Prednison 2 mg/kgKG, worunter Fieber und Erythem verschwanden. Die Verdachtsdiagnose bestätigte sich 5 Monate später durch das Auftreten einer chronischen Oligoarthritis, die trotz nichtsteroidaler Antiphlogistika rasch in eine Polyarthritis überging

12

Nur wenige Kinder haben initial Gelenksymptome. Nach Wochen oder Monaten und allmählichem Verschwinden der systemischen Manifestationen entwickeln die Kinder eine Oligo- oder Polyar­ thritis. Zunächst handelt es sich um „Fieber ungeklärter Ursache“ und erst nach Auftreten einer Arthritis bestätigt sich die Diagnose JIA mit systemischem Beginn. jjDiagnose Die Diagnose wird klinisch gestellt durch den Nachweis der chronischen Arthritis und den Ausschluss anderer Ursachen. Labor  Es finden sich häufig Entzündungszeichen bei den Labor-

untersuchungen: erhöhtes C-reaktives Protein, erhöhte Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, beim M. Still auch Leukozytose mit Linksverschiebung im Differenzialblutbild.

!! Cave Besonders bei Befall nur eines oder weniger Gelenke können alle Laborwerte unauffällig sein.

Bei länger dauernder Erkrankung kommt es zur Anämie mit hohem Ferritinspiegel. Die Bestimmung des Rheumafaktors ist diagnostisch wenig hilfreich, da er nur bei wenigen Fällen von juveniler idiopathischer Arthritis nachzuweisen ist und meist auf andere Erkrankungen wie Kollagenose oder Infektion hinweist. Niedrigtitrige antinukleäre Antikörper finden sich häufig bei der frühkindlichen Oligoarthritis und sind mit erhöhtem Risiko für eine chronische Iridozyklitis assoziiert. Gelenkpunktion  Bei Beginn der Erkrankung, insbesondere bei

Monarthritis, ist zum Ausschluss einer septischen Arthritis manchmal eine Gelenkpunktion indiziert. Wenn eine Osteomyelitis (mit lokalisiertem metaphysärem Druckschmerz) klinisch nicht ausgeschlossen werden kann, sollte, evtl. unter sonographischer Kontrolle, ein subperiostaler Abszess zur Erregeranzucht in Analgosedierung punktiert werden.

MRT  Mittels Magnetresonanztomographie können alle Gelenkstrukturen dargestellt und das Ausmaß von Entzündung und Pannusbildung in der Gadolinium-Kontrastmittel-Darstellung beurteilt werden. Dadurch ist eine diagnostische Arthroskopie im Kindesalter häufig entbehrlich geworden.

jjDifferenzialdiagnose Im Vordergrund der differenzialdiagnostischen Überlegungen stehen septische (oder tuberkulöse) Arthritis, Osteomyelitis, akute transiente Arthritiden wie die Coxitis fugax, infektassoziierte Arthritiden wie reaktive Arthritis, Lyme-Arthritis, akutes rheumatisches Fieber und virale Arthritiden (7 Kap. 14), familiäres Mittelmeerfieber, Sepsis, akute lymphatische Leukämie, Neuroblastom, Kollagenosen und Schmerzverstärkungssyndrome wie die häufigen sog. „Wachstumsschmerzen“. jjTherapie Der „Erfolg“ einer bestimmten Behandlung, insbesondere das Erreichen einer Remission, ist kritisch zu werten, da dies im individuellen Fall auch dem Spontanverlauf entsprechen kann. Nach längerem Verlauf können bleibende Schäden am Bewegungsapparat mit Behinderung auftreten, die heute aber unter entsprechender rechtzeitiger und konsequenter Therapie meist vermeidbar sind. >> Ziel der Therapie ist die Erhaltung oder Wiedergewinnung der vollständigen Gelenkfunktion, die Unterdrückung der Ent­ zündung sowie die psychosoziale Reintegration des Kindes und der Familie.

Der Erfolg der Behandlung wird durch Symptomlisten und Frage­ bögen zum Ausmaß der Beeinträchtigung am besten beschrieben. Kinder mit chronischer Arthritis sollten an einem darin erfahrenen Zentrum mit betreut werden. Aufklärung  Wichtig ist die ausführliche Aufklärung der Eltern und einsichtsfähiger Jugendlicher, bei denen die Nennung der ­Diagnose „Rheuma“ zunächst Erstaunen und dann Angst auslöst. Es ist eine wichtige ärztliche Aufgabe darzustellen, dass trotz fehlender kausaler Therapie unter den heute verfügbaren Möglichkeiten der Behandlung die Erkrankung ohne bleibende Schäden ausheilen kann. Die Kinder sollen zu einem normalen Leben ermuntert ­werden. Psychologische und soziale Beratung der Eltern und/­ oder strukturierte Schulungen von Eltern und Schulkindern können  sinnvoll sein. Längere Krankenhausaufenthalte oder Maß­ nahmen, die zur Immobilisierung von Gelenken führen, sind zu vermeiden. Pharmakotherapie  Leichte Fälle können mit nichtsteroidalen Antirheumatika(Naproxen, Ibuprofen, Diclofenac, Meloxicam, In-

dometacin) behandelt werden. Nebenwirkungen sind vor der Pubertät selten und betreffen meist den Magen mit Bauchschmerzen, Übelkeit, Bluterbrechen und Teerstühlen. Außerdem sind Nebenwirkungen des Zentralnervensystems (Konzentrationsstörungen)

269 Rheumatologie

und selten der Niere (Papillennekrose bei ungenügender Hydrierung) möglich. Bei Oligoarthritiden sind intraartikuläre Steroide, evtl. in Kombination mit langsam wirkenden Medikamenten wie Methotrexat, Sulfasalazin oder Hydroxychloroquin, Mittel der Wahl. Bei Polyarthritiden ist Methotrexat 10–12 mg/m2 Körperoberfläche, oral 1-mal wöchentlich, wirksam; höhere Dosen können besser wirksam sein, müssen aber subkutan verabreicht werden. Die Applikation intraartikulärer Steroide erfordert besondere Erfahrung und erfolgt häufig in Analgosedierung. Während die intraartikulären Steroide rasch fast immer zur Besserung führen, muss man bei den langsam wirkenden Medikamenten bis zu 3 Monate auf den Wirkungseintritt warten, der auch ausbleiben kann. Nebenwirkungen von Methotrexat betreffen den Gastrointestinaltrakt, die Leber und das blut­ bildende System. Wird bei Hydroxychloroquin eine Tagesdosis­ von 5 mg/kgKG nicht überschritten, ist auch in der Langzeitanwendung nicht mit Nebenwirkungen wie einer Schädigung der Retina zu rechnen. Hochdosierte systemische Kortikosteroide (Prednison, 2 mg/ kgKG) sind aufgrund ihrer hohen Rate an schweren Nebenwirkungen auf wenige Indikationen beschränkt: Systemischer Verlauf, ­symptomatische Peri-/Myokarditis, chronische Iridozyklitis, die­ auf lokale Anwendung von Kortikosteroiden nicht anspricht. In anderen Fällen kommen neben der intraartikulären Gabe Kortikosteroide als hochdosierte i.v.-Pulstherapie mit Methylprednisolon, 20 mg/kgKG/Tag über 3 Tage oder niedrig unterhalb der CushingSchwelle dosiert (Prednison 0,25 mg/kgKG p.o.) zum Einsatz. Da Kortikosteroide rasch wirken, kann man durch ihre Gabe die Zeit bis zum Ansprechen auf langsam wirkende Medikamente überbrücken. Wenn Methotrexat bei Patienten mit Polyarthritis nicht aus­ reichend wirksam ist, werden Biologicals eingesetzt, wie die subkutan zu applizierenden Tumornekrosefaktor-α-Inhibitoren Etanercept oder Adalimumab, der Interleukin (IL)-6-Antagonist Tocilizumab oder der Kostimulationshemmer Abatacept, worunter es oft zur raschen Besserung kommt. Selten treten schwere Infektionen darunter auf. Vor Beginn der Behandlung müssen eine Tuberkulose und eine Hepatitis B ausgeschlossen werden. Beim M. Still ist häufig eine Behandlung mit Tocilizumab indiziert. Alternativ können IL-1-Blocker wie Anakinra oder Canakinumab eingesetzt werden. >> Vor dem Einsatz immunsuppressiver Medikamente sollten möglichst alle von der STIKO empfohlenen Impfungen gegeben worden sein.

Augenuntersuchung  Zu jedem Zeitpunkt der Erkrankung und sogar Jahre nach ausgeheilter Arthritis kann bei Kindern mit frühkindlicher Oligoarthritis eine chronische Iridozyklitis auftreten, ­sodass diese Kinder mindestens für 5 Jahre alle 3 Monate vom Ophthalmologen an der Spaltlampe untersucht werden müssen. Die chronische Iridozyklitis wird zuerst mit topischen Steroiden, Mydriatika und nichtsteroidalen Antirheumatika behandelt. Kommt es innerhalb von 2 Wochen zu keiner Besserung, so sind systemische Steroide einzusetzen, bei langfristiger Behandlung auch Methotrexat oder Adalimumab.

12.2

HLA-B27-assoziierte juvenile ­Spondylarthritiden

jjDefinition Zu den juvenilen Spondylarthritiden gehört eine Gruppe von ­Erkrankungen (. Tab. 12.2), die neben einer peripheren Arthritis Folgendes gemeinsam haben: 44 möglicher Befall des Achsenskeletts einschließlich der Iliosakralgelenke, 44 Entzündung periartikulärer Strukturen wie Sehnenansätze, Sehnenscheiden und Bänder, 44 Assoziation mit dem HLA-B27. Da es im Kindes- und Jugendalter seltener zur klinischen Beteiligung des Achsenskeletts kommt, ist der Name der Erkrankung missverständlich. Undifferenzierte juvenile Spondylarthritis  Bei der undifferen-

zierten juvenilen Spondylarthritis ist die Erkrankung (noch) nicht so weit fortgeschritten, dass eine der anderen juvenilen Spondylarthritiden diagnostiziert werden kann. Sie ist nach der frühkindlichen Oligoarthritis die zweithäufigste chronisch entzündliche Gelenkerkrankung im Kindes- und Jugendalter. Die Arthritis ist meist asymmetrisch, bevorzugt die untere Extremität und verläuft häufig ohne Knorpelerosion. Zusätzliche Symptome sind Fersenschmerzen ­(Enthesitis: Entzündung der Ansatzpunkte von Ligamenten, Sehnen und Faszien am Knochen), Tenosynovitis (. Abb. 12.1), akute vordere Uveitis mit hochrotem Auge und Lichtscheu sowie eine Karditis mit Aorteninsuffizienz. Die Diagnose wird häufig anhand der Kriterien der European Spondyloarthropathy Study Group (ESSG) gestellt. Zum Teil können diese Patienten auch als JIA bzw. Enthesitisassoziierte Arthritis klassifiziert werden.

Physikalische Therapie  Die meisten Kinder mit JIA benötigen zu

bestimmten Zeiten Krankengymnastik. Ziele der Therapie sind: Erhaltung der Gelenkfunktion, wenn möglich Wiederherstellung des Bewegungsumfangs sowie Vermeidung der Osteoporose und der Inaktivitätsatrophie von Muskulatur und Bandapparat. Wiedererlernen von komplexen motorischen Abläufen wie dem Laufen. Die Kinder sollen zur sportlichen Betätigung zunächst ohne Notenstress und in der Freizeit ermuntert werden.

..Tab. 12.2  Formen der juvenilen Spondylarthritis Undifferenzierte juvenile Spondylarthritis

Nicht den anderen Spondylarthritisden zuzuordnen (7 Übersicht)

Reaktive Arthritis

Arthritis nach intestinaler oder uro­ genitaler Infektion

Psoriasisarthritis

Arthritis bei Psoriasis oder psoriasiformem Ausschlag

Arthritis bei chronischentzündlicher Darm­ erkrankung

Arthritis bei Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa

Juvenile ankylosierende Spondylitis

Radiologische Veränderungen der Iliosakralgelenke

Orthopädisch-chirurgische Maßnahmen  Eine Immobilisierung

von Gelenken ist schädlich. Sehr selten ist bei therapieresistenten monarthritischen Formen eine Synovektomie indiziert. Bei Zerstörung des Hüftgelenks kann auch im Wachstumsalter eine Totalendoprothese notwendig werden. Bei Kindern mit Beteiligung des Kiefergelenks sind kieferorthopädische Maßnahmen mit Tragen ­einer den Processus condylaris mobilisierenden Schiene indiziert.

12

270

H.-I. Huppertz

ESSG-Kriterien zur Diagnose einer Spondylarthritis Entzündliche Rückenschmerzen oder periphere Arthritis (asymmetrisch oder überwiegend untere Extremität) und mindestens einer der folgenden Punkte: 55HLA-B27-assoziierte Erkrankung in der Familienanamnese 55Psoriasis 55Entzündliche Darmerkrankung 55Urethritis/Zervizitis oder akuter Durchfall innerhalb eines Monats vor Arthritisbeginn 55Wechselseitige Gesäßschmerzen 55Enthesitis 55Radiologischer Nachweis einer Sakroileitis Diese Kriterien wurden für Erwachsene erarbeitet. Der Beginn der Arthritis soll vor Vollendung des 16. Lebensjahres liegen

12

Reaktive Arthritis  Die reaktive Arthritis tritt nach gastrointestinalen oder urogenitalen Infektionen durch Yersinien, Shigellen, Salmonellen, Campylobacter oder Chlamydien auf. Etwa 1–4 Wochen nach der Infektion kommt es zu einer oligoartikulären, gelegentlich auch polyartikulären asymmetrischen Arthritis. Die reaktive Arthritis kann sehr schmerzhaft sein und mit Fieber einhergehen. Bei Vorliegen von Augenveränderungen, wie Konjunktivitis, Keratitis oder Iritis spricht man auch von Reiter-Syndrom. Meist verschwindet die Erkrankung nach einigen Wochen bis Monaten, nur selten kommt es zu einem langfristigen Verlauf, bei dem die Erkrankung in eine ankylosierende Spondylitis übergehen kann. Psoriasisarthritis  Bei der juvenilen Psoriasisarthritis geht die

­ elenkmanifestation nicht selten den Hauterscheinungen voraus, G oder aber die kutanen Symptome, wie schuppende Erytheme am Haaransatz und Tüpfelnägel, reichen für die Diagnose einer Psoriasis (noch) nicht aus. Die Psoriasisarthritis zeigt eine familiäre Häufung, beginnt als asymmetrische Oligoarthritis und kann auch als ­Polyarthritis auftreten, oft mit Befall der distalen Interphalangealgelenke. Charakteristisch ist der Befall eines einzelnen kleinen Fingergelenks einer Hand und eine Daktylitis (Schwellung und evtl.­ Rötung eines ganzen Strahls mit Entzündung aller Weichteile ­einschließlich der Gelenke; . Abb. 12.5). Die Zuordnung der Psoriasisarthritis zu den Spondylarthritiden ist umstritten, zumal die ­Assoziation mit dem HLA-B27 nur bei Patienten mit Befall der ­Wirbelsäule besteht. Entzündliche Darmerkrankungen  Bei Colitis ulcerosa und beim M. Crohn kommt es in etwa 10% der Fälle zu einer Beteiligung gro-

ßer peripherer Gelenke. Die Stärke der Arthritis korreliert mit der Aktivität der Darmerkrankung. Mit erfolgreicher Therapie der Grunderkrankung wird auch die Arthritis positiv beeinflusst. Nur bei Kindern, die HLA-B27-positiv sind, kann sich eine juvenile ankylosierende Spondylitis entwickeln. Juvenile ankylosierende Spondylitis (JAS)   Bei der JAS­ (M. Bechterew) kommt es zu einer Entzündung der kleinen Wirbelgelenke und der Iliosakralgelenke mit nachfolgender Einsteifung der Wirbelsäule. Die Erkrankung kann in der Kindheit beginnen, gewöhnlich mit Entzündung großer peripherer Gelenke. Oft erst Jahre später kommt es dann zur charakteristischen Beteiligung der Sakroiliakalgelenke und der lumbodorsalen Wirbelsäule, die mit tiefen, oft nächtlichen Rückenschmerzen und einer zunehmenden Versteifung der Wirbelsäule einhergeht.

..Abb. 12.5  Daktylitis der 2. und 3. Zehe mit Schwellung des ganzen Strahls und Rötung insbesondere über den proximalen Interphalangealgelenken eines 10-jährigen Jungen mit undifferenzierter Spondylarthritis und Arthritis von Hüft- und Sprunggelenk

jjDiagnose Die Entzündungszeichen entsprechen denen bei juveniler idiopathischer Arthritis. Der Rheumafaktor ist immer negativ. Nur bei der Psoriasisarthritis können antinukleäre Antikörper vorkommen, einschließlich des Risikos einer chronischen Iridozyklitis. Der Nachweis des HLA-B27 sollte die klinische Diagnose einer juvenilen Spondylarthritis nur bestätigen, sein Fehlen die Diagnose nicht in Zweifel ziehen. Das HLA-B27 ist ein genetischer Marker und kein Krankheitsindikator, der bei 6–10% der deutschen Bevölkerung vorhanden ist, während er bei 60% (reaktive Arthritis) bis 95% (ankylosierende Spondylitis) der Patienten mit juveniler Spondylarthritis gefunden wird. Eine Sakroiliitis kann mittels Kernspintomographie nachgewiesen werden, die Sicherung einer ankylosierenden Spondylitis erfolgt röntgenologisch. jjTherapie Die Behandlung entspricht im Wesentlichen der der juvenilen ­idiopathischen Arthritis (7 Abschn. 12.1). Charakteristischerweise kommt es zu einer raschen Besserung der Schmerzen bei Gabe nichtsteroidaler Antirheumatika. Sulfasalazin beeinflusst häufig die periphere Arthritis großer Gelenke günstig, besonders bei Vorhandensein des HLA-B27. Bei Befall des Achsenskeletts ist intensive krankengymnastische Behandlung der Wirbelsäule indiziert. Schwere Verläufe werden mit Tumornekrosefaktor-α-Inhibitoren behandelt. Die akute vordere Uveitis wird mit topischen Steroiden behandelt und führt selten zu bleibenden Schäden. 12.3

Infektassoziierte Arthritiden

jjDefinition Infektassoziierte Arthritiden haben eine bekannte Ätiologie und führen mit Ausnahme der unbehandelten septischen Arthritis nicht zur raschen Zerstörung des Gelenks. jjPathogenese Die Pathogenese infektassoziierter Arthritiden ist teilweise bekannt. Stoffwechselaktive Chlamydien lassen sich regelmäßig im Gelenk von Patienten mit Chlamydienarthritis nachweisen. Bei der LymeArthritis ist die PCR im Gelenk oft positiv, bei der reaktiven Arthritis finden sich die Lipopolysaccharide der gramnegativen Bakterien im Gelenk, während beim akuten rheumatischen Fieber molekulares

271 Rheumatologie

Mimikry wirksam ist. Es gibt also ein pathogenetisches Spektrum mit abnehmender Erregerpräsenz im Gelenk. jjKlinik Oft handelt es sich um eine selbstbegrenzte Arthritis, die unter dem Bild einer akuten transienten Arthritis (Arthritisdauer unter 6 Wochen) verläuft. Die häufigste akute transiente Arthritis ist die Coxitis fugax (transiente Synovitis), bei der der Erreger allerdings noch unbekannt ist. Akut kommt es zu Humpeln und Schmerzen in Hüfte oder Knie, die nach einigen Tagen spontan verschwinden. Anfangs muss eine septische Koxitis ausgeschlossen werden. Bleibt die Bewegungseinschränkung bestehen, können sich auch eine chronische Arthritis oder ein M. Perthes herausstellen. Die Rötelnvirusarthritis kann auch nach der Impfung, aber seltener als nach der Wildvirusinfektion, auftreten. Nach der Pubertät nimmt die Häufigkeit der Rötelnvirusarthritis beim weiblichen ­Geschlecht stark zu. Bei einer Monarthritis im Rahmen von Windpocken sollte man zunächst an eine septische Arthritis durch Staphylococcus aureus denken. Nach Infektion mit gramnegativen Darmkeimen, wie Yersinien, Salmonellen, Campylobacter oder ­Shigellen und nach einer Infektion mit Chlamydien kann es zur ­reaktiven Arthritis kommen. Die Chlamydienathritis findet sich bei sexuell aktiven Jugendlichen. Die Lyme-Arthritis ist eine späte Manifesta­tion der Lyme-Borreliose und kann Monate bis Jahre nach der Infektion auftreten, meist als episodische Monarthritis des Kniegelenks. jjDiagnose Oft ergibt sich die Diagnose aus typischen Begleiterscheinungen, z. B. Exanthem bei Parvovirus-B19-Arthritis oder vorangehender Durchfall bei reaktiver Arthritis. Im Zweifelsfall muss eine septische Arthritis ausgeschlossen werden. Wegen der Vielzahl möglicher Erreger (. Tab. 12.3) und den entsprechenden Kosten einer kompletten Diagnostik, begnügt man sich bei akuter transienter Arthritis häufig mit der Verdachtsdiagnose einer Infektarthritis. Die entsprechende Diagnostik sollte durchgeführt werden, wenn das Ergebnis eine ­therapeutische Konsequenz hat, wie die antibiotische Therapie bei der Lyme-Arthritis, oder die Prognose beeinflusst, wie bei einer ­juvenilen Spondylarthritis mit Nachweis der Yersinien-Infektion. jjTherapie Die Behandlung ist symptomatisch mit nichtsteroidalen Antirheumatika. Daneben sind bei einigen Arthritiden spezifische Therapien möglich: 44 Reaktive Arthritiden durch gramnegative Darmkeime bessern sich unter antibiotischer Therapie nicht, eine intraartikuläre Steroidtherapie kann jedoch sinnvoll sein. 44 Die Chlamydienarthritis wird ab dem 10. Lebensjahr mit Doxycyclin, 200 mg/Tag behandelt. 44 Nach einer Behandlung mit Ceftriaxon 50 mg/kgKG/Tag i.v. ­ in einer Dosis für 14 Tage und/oder 200 mg Doxycyclin für 4 Wochen verschwindet die Arthritis bei fast 80% der Patienten mit Lyme-Arthritis. jjPrognose Die Prognose ist meist gut. Einige Fälle reaktiver Arthritis können in eine undifferenzierte juvenile Spondylarthritis übergehen. 10% der Patienten mit Lyme-Arthritis sprechen nicht auf antibiotische ­Therapieversuche an.

..Tab. 12.3  Erreger der infektassoziierten Arthritis Erkrankung

Erreger

Chlamydienarthritis

Chlamydien

Lyme-Arthritis

Borrelia burgdorferi

Reaktive

Arthritisa

Yersinien, Salmonellen, Campylobacter, Shigellen

Akutes rheumatisches Fieberb

Streptokokken der Gruppe A

Virusarthritis

Rötelnvirus, Parvovirus B19, Mumpsvirus, Hepatitis-B-Virus, Varicella-Zoster-Virus, Ross-River-Virus, Hepatitis-C-Virus

a Wird auch der Gruppe der HLA-B27-assoziierten juvenilen Spondylarthritiden zugerechnet (7 Abschn. 12.2) b 7 Abschn. 12.9.1

12.4

Systemischer Lupus erythematodes (SLE)

jjDefinition Diese seltene Erkrankung ist charakterisiert durch in Schüben ­auftretende Entzündungsreaktionen in mehreren Organen und die Bildung von Autoantikörpern. Es kommt zur Ablagerung zirkulierender komplementbindender Immunkomplexe z. B. in den Glomerula. Unbehandelt ist der systemische Lupus erythematodes mit ­einer hohen Letalität belastet. Anfangssymptome sind Gewichtsverlust, Abgeschlagenheit, Fieber, Hepatosplenomegalie, generalisierte Lymphknotenvergrößerung und verschiedene Hautausschläge. Die häufigsten Organmanifestationen sind in . Tab. 12.4 dargestellt. jjDiagnose >> Die Diagnose eines systemischen Lupus erythematodes erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit für den wiederkehrenden Befall mehrerer Systeme.

Labor  Die Bestätigung der Diagnose erfolgt durch den Nachweis von hochtitrigen antinukleären Antikörpern (homogenes Muster) und Antikörpern gegen Doppelstrang-DNA, evtl. auch anderen spezifischen Autoantikörpern (Histon, Sm, SS-A, SS-B, Anti­ phospholipid). Die Erniedrigung des Komplementfaktors C3 ist ein Zeichen aktiver Erkrankung, besonders bei Patienten mit Nephritis. Während Entzündungszeichen wie BSG, CRP und Immunglobu­ line erhöht sind, zeigt das Blutbild eine Zytopenie. Weitere Diagnostik  Die weitere Diagnostik richtet sich nach dem Organbefall, z. B. Lumbalpunktion, EEG und Kernspintomographie des Schädels bei Befall des Zentralnervensystems. Bei Verdacht auf Lupus-Nephritis mit Nachweis von Erythrozyten, Eiweiß und Zylindern im Urin kann eine Nierenbiopsie bei der Therapieplanung hilfreich sein.

jjTherapie Angesichts des Fehlens einer spezifischen Therapie kann der Entzündungsprozess nur symptomatisch angegangen werden. Sonnenbestrahlung ist zu vermeiden, Vitamin D ist zu substituieren. Die Intensität der pharmakologischen Behandlung richtet sich nach der Stärke der Erkrankung und soll bleibende Schäden, z. B. an Niere oder Zentralnervensystem verhindern. Alle Patienten erhalten

12

272

H.-I. Huppertz

..Tab. 12.4  Organmanifestationen des systemischen Lupus erythematodes

12

..Abb. 12.6  Schmetterlingsförmiges Gesichtserythem bei 14 Jahre altem Mädchen. In der Vorgeschichte waren seit ½ Jahr Müdigkeit, Schwäche, gelegentliches Fieber und Abnahme der schulischen Leistungen beobachtet worden. Während eines Mallorcaurlaubs trat das Erythem auf unter Verschlechterung des Allgemeinzustands. Bei der Abklärung fielen zusätzlich Haarausfall, orale Ulzera, Perikarderguss sowie im Labor eine Zytopenie und hochtitrige antinukleäre und Anti-Doppelstrang-DNA-Antikörper auf. Unter der Diagnose systemischer Lupus erythematodes zeigten Steroide zunächst eine Besserung, ein akutes Nierenversagen unter Glomerulonephritis machte dann eine erfolgreiche Therapie mit Pulssteroiden und Cyclophosphamid notwendig

­ ydroxychloroquin. Der Erfolg der Behandlung wird an einer H ­Normalisierung des Allgemeinzustands und der Listen bewerteter Symptome sowie am Rückgang der Entzündungszeichen erkannt. Später fällt auch der Titer der Doppelstrang-DNA-Antikörper ab. Sein Wiederanstieg kündigt einen drohenden weiteren Schub der Erkrankung an. Systemische Gaben von Kortikosteroiden mit Prednison oder besser als Puls-Steroide sind häufig initial notwendig. Sobald wie möglich soll die Kortikosteroiddosis reduziert werden. Azathioprin und Mycophenolat-Mofetil werden als steroidsparende Medikamente eingesetzt. Das akute Nierenversagen ist eine lebensbedrohliche Komplikation und erfordert oft die i.v.-Gabe von Cyclophosphamid. In schweren Fällen kann der CD20-Antikörper Rituximab eingesetzt werden.

Organsystem

Art der Schädigung

Haut und Schleimhaut

Schmetterlingsförmiges Erythem*­ (­. Abb. 12.6), Photosensitivität*, Ulzera der Mund- oder Nasenschleimhaut*, RaynaudPhänomen, diskoider Lupus*

Gelenke

Nichterosive Arthritis*

Serosa

Pleuritis oder Perikarditis*, Peritonitis

Herz

Endo-/Myokarditis

Niere

Glomerulonephritis* (Proteinurie oder Zylinder), nephrotisches Syndrom, Urämie, arterielle Hypertension

Zentralnervensystem

Enzephalopathie* (Anfälle oder organisches Psychosyndrom)

Auge

Retinopathie, Papillenödem

Blut bildendes System

Zytopenie* (Anämie, Thrombopenie, Leukopenie), Gerinnungsstörungen

Allgemeines

Fieber, Gewichtsabnahme, Organomegalie

Immunserologie

Hochtitrige antinukleäre Antikörper*, Antikörper gegen Doppelstrang-DNA oder Sm-Kernantigen*

Der Nachweis von 4 der 11 mit * gekennzeichneten Kriterien erlaubt die Diagnose „systemischer Lupus erythematodes“ mit einer Sensitivität und Spezifität von jeweils 96%

transplazentar übertragene Antikörper Symptome eines neonatalen Lupus entwickeln. Die Symptome an der Haut (an einen diskoiden

Lupus erinnernd mit erythematösen, leicht schuppenden Effloreszenzen, die zentral abblassen und so einen ringförmigen Charakter haben) und die Zytopenie bilden sich in den ersten Lebensmonaten zurück. Hingegen können die mütterlichen Anti-Ro-Antikörper am Herzen des Feten zum AV-Block führen, der irreversibel ist und eine Therapie mit α-Sympathikomimetika und Herzschrittmacher ­notwendig machen kann. Gelegentlich führt erst die Erkrankung­ des Neugeborenen zur Diagnose der mütterlichen Kollagenose, die Mutter kann aber auch asymptomatische Trägerin der Anti-Ro-­ Autoantikörper sein. Sie sollte mit Hydroxychloroquin in der Schwangerschaft behandelt werden

Juvenile Dermatomyositis

jjVerlauf, Prognose Die Prognose ist durch den Einsatz der antiinflammatorischen und symptomatischen Therapie deutlich gebessert worden. Ein 5-JahresÜberleben von über 90% ist an größeren Zentren die Regel. Die Langzeitprognose bleibt aber unsicher und wird durch den Befall von Niere, Herz und Zentralnervensystem und Komplikationen der Therapie wie Sepsis infolge Immunsuppression bestimmt.

12.5

jjLupusähnliche Krankheitsbilder Nach der Einnahme verschiedener Medikamente wie Sulfonamide, Hydralazin und Antikonvulsiva wird ein medikamenteninduzierter Lupus beobachtet, der milder verläuft und nach Absetzen der Medikamente reversibel ist. Neugeborene von Müttern mit systemischem Lupus erythematodes oder Sjögren-Syndrom können durch

jjKlinik Die Symptome beginnen schleichend über viele Wochen oder akut, und umfassen allgemeines Krankheitsgefühl, Fieber und Ermüd­ barkeit. Typisch ist die Muskelschwäche mit Bevorzugung der ­proximalen Muskulatur. An den Oberlidern treten bläulich-livide Verfärbungen und im Gesicht Erytheme und ödematöse Schwellun-

jjDefinition Die juvenile Dermatomyositis ist eine entzündliche Erkrankung ­unbekannter Ursache von Muskel und Haut, selten weiterer Organe. Im Gegensatz zur Dermatomyositis des Erwachsenen gibt es keine Assoziation mit Malignomen.

273 Rheumatologie

..Abb. 12.7  Schuppendes Erythem über den Metakarpophalangeal- und Interphalangealgelenken der linken Hand eines 4-jährigen Mädchens mit juveniler Dermatomyositis

gen auf. Über Ellenbogen, Knien und Malleoli und besonders über den Metakarpophalangeal- und proximalen Interphalangealgelenken kommt es zu erythematösen schuppenden Hautveränderungen (. Abb. 12.7). Haut- und Muskelsymptome können mit einer zeitlichen Differenz auftreten, die isolierte Polymyositis ist im Kindesalter aber sehr selten. Subkutane und intermuskuläre Verkalkungen können nach schwerem Verlauf auftreten und prognosebestimmend werden, wenn sie zur Immobilisierung führen. Nekrosen über subkutanen Kalkplatten oder sehr schmerzhafte, Kalk absondernde Hautulzera sind möglich. jjDiagnose Die Muskelkraft muss semiquantitativ mit bewerteten Listen gemessen werden. Als Zeichen der Myositis kommt es zum Anstieg der muskelspezifischen Enzyme (GOT, Kreatinkinase LDH). Muskelantikörper können diagnostische und prognostische Hinweise liefern. Die Myositis kann mittels Kernspintomographie (T2-gewichtetes Bild) und Muskelbiopsie (lymphozytäre Infiltration) gesichert werden. Das EMG erfordert die Mitarbeit des Patienten. Häufig sind antinukleäre Antikörper nachweisbar. Die typischen Hautverän­ derungen zusammen mit den Muskelsymptomen machen die Dia­ gnose leicht. Differenzialdiagnostisch kommen virale Myositiden oder neuromuskuläre Erkrankungen in Betracht. jjTherapie Hautpflege, Mobilisierung und Krankengymnastik sind besonders bei bereits längerem Verlauf wichtig. Kortikosteroide sind effektiv in der Unterdrückung der Entzündung. Die Steroid-Puls-Therapie in Kombination mit niedrigdosierten oralen Steroiden ist wirksam. Hydroxychloroquin wirkt sich günstig auf die Hautveränderungen aus, intravenöse Immunglobuline können steroidsparend wirken. Oft wird frühzeitig Methotrexat gegeben. jjPrognose Unbehandelt hat die Erkrankung eine schlechte Prognose. Durch Beteiligung der Schlund- und Atemmuskulatur oder gastrointestinale Perforation können lebensgefährliche Komplikationen auf­ treten, die Intensivpflege und Respiratorbehandlung erfordern.­ Oft heilt die Erkrankung unter Therapie nach jahrelangem Verlauf aus.

..Abb. 12.8  Bandförmige zirkumskripte Sklerodermie bei einem 4-jährigen Mädchen. Unter Methotrexattherapie kam es zum Stillstand der nach proximal aufsteigenden Läsion und zum Abblassen des narbigen Gewebes. Allerdings blieben die in der Durchblutung eingeschränkten Zehen 3 und ­ 4 größenvermindert. Labor bis auf niedrigtitrige antinukleäre Antikörper unauffällig

12.6

Sklerodermie

jjKlinik Die zirkumskripte/lokalisierte Sklerodermie ist eine chronischentzündliche Erkrankung der Haut und darunter liegender Strukturen mit nachfolgender Atrophie. Die Hautsymptome können asymmetrisch herdförmig (Morphea) oder in einer bandförmigen ­Anordnung (lineare Sklerodermie) vorkommen (. Abb. 12.8). Bei der systemischen Sklerose finden sich neben symmetrischen Haut­ erscheinungen systemische Befunde: 44 Synovitis, 44 Lungenfibrose, 44 pulmonale Hypertonie, 44 ösophageale Dysfunktion, 44 Perikarditis, 44 Raynaud-Phänomen mit akraler Nekrosen, 44 Nephritis mit Hochdruck und eingeschränkter Nierenfunktion. Die häufigere lokalisierte Form kann zur Zerstörung von Extremitäten und zur Entstellung des Gesichts führen, die systemische Skle­ rose kann durch renale, pulmonale oder kardiale Komplikationen tödlich enden. jjDiagnose Typische Laborbefunde existieren nicht, entzündliche Zeichen fehlen. Oft sind die antinukleäre Antikörper, evtl. mit nukleolärem Muster, und Scl-70-Antikörper positiv. jjTherapie Eine spezifische Therapie ist nicht bekannt. Methotrexat scheint aber einen positiven Einfluss zu haben. Wichtig sind intensive Hauptpflege und die Vermeidung von einem Vasospasmus auslösenden Faktoren wie Kälte. Nifedipin wird zur Behandlung des Raynaud-Phänomens und ACE-Hemmer bei Nierenbefall eingesetzt. Eine pulmonale Hypertonie kann mit Endothelin-Antagonisten, Prostaglandinen und Phosphatdiesterase-Inhibitoren therapiert werden. Wichtig ist der Einsatz der Physiotherapie, um Kontrakturen durch die narbigen Veränderungen zu vermeiden.

12

274

H.-I. Huppertz

12.7

Mischkollagenose

Diese Erkrankung, auch „mixed connective tissue disease“ oder Sharp-Syndrom genannt, vereint Symptome des systemischen Lupus erythematodes, der juvenilen idiopathischen Arthritis, der juvenilen Dermatomyositis und/oder der systemischen Sklerose. Das klassische Sharp-Syndrom ist definiert durch den Nachweis von Antikörpern gegen extrahierbares ribonukleäres Protein (AntiRNP-Antikörper) unter den antinukleären Antikörpern. Die Behandlung entspricht der des systemischen Lupus erythematodes. 12.8

12

Vaskulitissyndrome

Eine Vaskulitis, d. h. eine Entzündung in der Wand oder Umgebung der Blutgefäße wird als begleitendes Symptom bei den meisten rheumatischen Erkrankungen gefunden. Eine Gruppe von Erkrankungen zeigt die Vaskulitis als Hauptsymptom. Nach Ausschluss anderer rheumatischer Erkrankungen kann die Diagnose „Vaskulitis“ vermutet werden, wenn mehrere Organsys­ teme auf sonst nicht erklärliche Weise im Verlauf einer Erkrankung befallen werden und wenn Myalgien, Arthralgien, Hauteffloreszenzen, Bauchschmerzen, Nephritis, Hochdruck, neurologische Manifestationen, Lungeninfiltrate, nasale Symptome oder ungewöhnliche kardiale Symptome, wie Erkrankung der Herzkranzgefäße oder unerklärtes Herzversagen auftreten. Die klassischen Vaskulitiden sind Periarteriitis nodosa, Granulomatose mit Polyangiitis (Wegener), eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis (Churg-Strauss) und Takayasu-Arteriitis, die selten auch im Kindesalter vorkommen können. Im Folgenden werden 2 gut definierte, im Kindesalter häufige Vaskulitiden vorgestellt. 12.8.1 Purpura Schönlein-Henoch j jDefinition Diese auch anaphylaktoide Purpura genannte Vaskulitis ist charakterisiert durch Hauterscheinungen mit typischer Lokalisation und einem charakteristischen Muster von Organbeteiligungen. Immunhistologisch lassen sich vorwiegend an Kapillaren, aber auch an ­Arteriolen und Venolen IgA-haltige Immunkomplexe nachweisen. Per definitionem sind die Hauterscheinungen für die Diagnose unerlässlich. j jKlinik Die Hautläsionen sind an den unteren Extremitäten, dem Glutäalbereich, seltener auch an den Streckseiten der oberen Extremitäten und am Stamm lokalisiert. Die Einzeleffloreszenz kann vielgestaltig sein. Meistens beginnt sie als makulopapulöses Erythem mit einem Durchmesser von 1–3 mm, in die es zur petechialen oder flächenhaften Blutung kommt, sodass die charakteristische palpable Pur­ pura entsteht, die zu großen Purpurabezirken konfluieren kann (. Abb. 12.9). Die in der Regel symmetrisch auftretenden Erscheinungen jucken nicht. Angioödeme können im Bereich der Extremitäten, aber auch im Gesicht auftreten. Schmerzhafte transiente ­ elenkschwellungen, besonders der Sprunggelenke, und aus­ G geprägten periartikulären Schwellungen, auch am Fußrücken, entwickeln sich in etwa ⅔ der Fälle. Eine gastrointestinale Beteiligung in Form kolikartiger Bauchschmerzen, Erbrechen und blutiger Stühle kann auf eine gehäuft vorkommende Invagination hinweisen. Eine renale Beteiligung mit Erythrozyturie kommt in etwa ¼ der Fälle vor. Ein kleiner Teil dieser

..Abb. 12.9  Palpable Purpura an Gesäß und Beugeseiten der Beine eines 6-jährigen Jungen mit Purpura Schönlein-Henoch

Patienten entwickelt eine chronische Nierenerkrankung (7 Kap. 25). Sehr selten ist eine Beteiligung des Zentralnervensystems (Anfälle, Paresen). Gelegentlich tritt die Purpura Schönlein-Henoch rezidivierend auf. jjTherapie Eine Therapie mit Kortikosteroiden ist bei schwerer intestinaler Beteiligung indiziert in der Absicht, eine Invagination zu verhindern. Die Glomerulonephritis mit Halbmondbildung nach Purpura Schönlein-Henoch kann durch Pulssteroide günstig beeinflusst ­werden. Die Prognose ist bis auf die wenigen Fälle mit schweren gastrointestinalen Komplikationen oder chronischer Glomerulo­n­ ephritis gut. 12.8.2 Kawasaki-Erkrankung jjDefinition Diese auch mukokutanes Lymphknotensyndrom genannte Vaskulitis ist charakterisiert durch hohes, lang anhaltendes Fieber und weitere typische Befunde (. Tab. 12.5; . Abb. 12.10). jjKlinik Weitere Erscheinungen sind Urethritis, Arthritis, aseptische Meningitis, Durchfall, Gallenblasenhydrops und Verschlussikterus. Während in der Akutphase der Erkrankung Myokarditis, Herzinsuffizienz und Perikarditis vorkommen, sind die im weiteren Verlauf ­auftretenden Folgen der echokardiographisch zu untersuchenden Koronararteriitis (Infarkt, Stenose, Aneurysma) für die Gesamt­ prognose der Erkrankung entscheidend. Bei Säuglingen sind die Befunde häufig wenig charakteristisch ausgebildet und manchmal weist erst der Nachweis von Koronaraneurysmen auf die KawasakiErkrankung hin.

12

275 Rheumatologie

..Tab. 12.5  Kriterien zur Diagnose eines Kawasaki-Syndroms. Die Diagnose kann gestellt werden, wenn 5 der 6 Kriterien vorhanden sind. Bei Koronararterienaneurysmen reichen 4 von 6 Kriterien, bei Säuglingen sogar 3 Kriterien. Fieber ist obligat

..Abb. 12.10  Himbeerzunge eines 3-jährigen Jungen bei Kawasaki-­ Erkrankung

jjDiagnose >> Die Diagnose eines Kawasaki-Syndroms sollte immer erwogen werden, wenn therapieresistentes Fieber bei einem jungen Kind auftritt.

Die klinischen Symptome ermöglichen die Diagnose. Laborauf­ fälligkeiten sind eine Leukozytose mit erhöhter Blutsenkungs­ geschwindigkeit und erhöhtem CRP, eine Thrombozytose (in der 2. Krankheitswoche beginnend) und eine sterile Pyurie. jjTherapie Durch eine hochdosierte i.v.-Immunglobulingabe (2 g/kgKG, einmalig über 8–16 h) und Acetylsalizylsäure (ASS; 30 mg/kgKG) kann der Entzündungsprozess oft rasch unter Kontrolle gebracht und die Rate von kardialen Komplikationen deutlich gesenkt werden. Bei Nichtansprechen werden erneute Immunglobuline, Steroide, Anakinra oder Infliximab gegeben. In der Abklingphase der Erkrankung ist wegen der Gefahr der Koronarthrombose eine Thrombo­ zytenaggregationshemmung mit ASS 3 mg/kgKG/Tag wichtig. Alle Kinder mit Kawasaki-Erkrankung sollen klinisch und echokardiographisch nachuntersucht werden (zeitliches Maximum der Koronarveränderungen 4. Krankheitswoche). Späte Todesfälle aufgrund einer Herzbeteiligung kommen vor. 12.9

Weitere rheumatische Erkrankungen

12.9.1 Akutes rheumatisches Fieber jjGrundlagen Das akute rheumatische Fieber ist eine entzündliche Erkrankung, die sich an Gelenken, Herz, Zentralnervensystem und Haut ­manifestiert. Eine Infektion mit Streptokokken der Gruppe A, z. B. als Tonsillitis, geht den Erkrankungserscheinungen 2–5 Wochen ­voraus.

Symptome

Häufigkeit

Fieber (>4 Tage)

100%

Hautveränderungen der Extremitäten: - Palmar-/Plantarerythem (früh) - Schuppung (spät)

 70%

Exanthem (polymorph)

 80%

Orale Veränderungen: - Trockene rote (Lack)lippen mit vertikaler Fissur - Himbeerzunge - Erythem der Mundschleimhaut

 90%

Konjunktivitis (bilateral ohne Exsudat)

 85%

Lymphknotenvergrößerung (zervikal, evtl. unilateral)

 70%

jjEpidemiologie, Pathophysiologie Es findet sich ein erhöhter oder ansteigender Antistreptolysintiter, der Nachweis der Streptokokken gelingt aufgrund der Latenzperiode zwischen Tonsillitis und akutem rheumatischen Fieber nicht immer. In Europa ist diese Erkrankung sehr selten geworden, unter schlechten sozioökonomischen Bedingungen spielt sie eine wichtige Rolle. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung mit Kreuz­ reaktivität zwischen Streptokokkenantigenen und menschlichen Bindegewebsstrukturen, sodass sich durch die Streptokokkenin­ fektion hervorgerufene Antikörper bei prädisponierten Patienten an Wirtsantigene binden. jjKlinik Die klinischen Erscheinungen sind vielgestaltig und können in verschiedenen Kombinationen auftreten: 44 Neben Fieber sind Gelenkerscheinungen die häufigsten ­Symptome (75%); sie können als Arthralgien oder als Schwellung der Gelenke mit Rötung und Überwärmung auftreten. Die Schmerzen sind häufig schwerer, als der klinische Befund vermuten lässt. Charakteristisch ist das rasche Wechseln der betroffenen großen Gelenke. 44 Eine Herzbeteiligung (40%) kann sich in Tachykardie, Auf­ treten von Geräuschen (holosystolisches Geräusch als Zeichen einer Mitralklappenbeteiligung, Diastolikum bei Aorteninsuffizienz), Herzvergrößerung, Perikarditis oder Herzversagen ­äußern. 44 Die Chorea minor (10–15%) beginnt als psychische Labilität, Verschlechterung der Schulleistungen und geht über in choreatische Bewegungsstörungen der Extremitäten, des Rumpfs und der Gesichtsmuskulatur. 44 Rheumaknötchen sind subkutan gelegene erbsgroße, derbe, schmerzlose Knoten, die bevorzugt über Knochenvorsprüngen liegen. 44 Charakteristisch ist das flüchtige, blassrosa Erythema marginatum (5%). 44 Es finden sich eine erhöhte Konzentration von C-reaktivem Protein (CRP), eine beschleunigte Blutsenkungsgeschwindigkeit und eine Leukozytose.

276

H.-I. Huppertz

..Tab. 12.6 Jones-Kriterien zur Diagnose eines akuten rheumatischen Fiebers Hauptkriterien

Nebenkriterien

Karditis

Fieber

Polyarthritis

Arthralgie

Chorea minor

Vorausgegangenes rheumatisches Fieber

Erythema marginatum

CRP oder BSG entzündlich verändert

Subkutane Knötchen

PR-Verlängerung im EKG

Die Diagnose „akutes rheumatisches Fieber“ erfordert das Vorhandensein von 2 Hauptkriterien oder einem Haupt- und 2 Nebenkriterien und den Nachweis der vorangegangenen Streptokokkeninfektion (Antistreptolysintiter erhöht, Rachenabstrich mit A-Streptokokken, oder Scharlach)

j jDiagnose Die Diagnose ist wahrscheinlich, wenn die in . Tab. 12.6 genannten Kriterien vorhanden sind und der vorangehende Streptokokken­ infekt nachgewiesen wurde.

12

j jTherapie Man gibt ein nichtsteroidales Antirheumatikum und bei schwerer Herzbeteiligung Kortikosteroide. Stark erregten Kindern mit Chorea minor helfen Diazepam oder Tiaprid. Auch wenn keine Streptokokken nachweisbar sind, erfolgt eine orale Penicillintherapie (50.000 E/kgKG für 10 Tage). Um Rezidive zu verhindern, ist anschließend eine Antibiotikaprophylaxe mit i.m.-Gabe von 1,2 Mio. Einheiten Benzathinpenicillin alle 3–4 Wochen indiziert. Die Dauer der Prophylaxe ist umstritten. j jPrognose Die Prognose des akuten rheumatischen Fiebers wird durch die Ausprägung der Karditis und ein nachfolgendes Mitral- oder Aortenvitium bestimmt.

12.9.2 Familiäres Mittelmeerfieber Diese autosomal-rezessiv vererbte Multisystemerkrankung betrifft meist Kinder aus der Türkei, Griechenland oder Israel. Es kommt zu rezidivierenden, wenige Tage anhaltenden Fieberschüben mit starken Bauchschmerzen (sterile Peritonitis), Brustschmerzen (Pleuritis), Arthritiden oder erysipelartigen Hautausschlägen. Während des Fiebers bestehen eine Granulozytose und CRP-Erhöhung. Im Intervall sind die Kinder unauffällig. Häufig wird vor Stellung der richtigen Diagnose eine Appendizitis vermutet, die histologische Untersuchung der Appendix zeigt jedoch bei unauffälliger Mukosa eine Entzündung der Serosa. Die Diagnose kann durch den Nachweis von homozygoten oder compound heterozygoten Mutationen im MEFV-Gen, das in Granulozyten das Pyrin kodiert, bestätigt werden. Durch die Gabe von Kolchizin können die schmerzhaften Fieberschübe unterdrückt und die Entwicklung einer Nierenamyloidose mit nachfolgendem nephrotischem Syndrom verhindert werden. Bei rezidivierenden Fieberschüben ohne Erregernachweis sind neben dem familiären Mittelmeerfieber weitere periodische Fiebererkrankungen in Erwägung zu ziehen (. Tab. 12.7). 12.9.3 Erythema nodosum Das Erythema nodosum ist eine Pannikulitis und zeigt sich als überwärmte, rote, schmerzhafte Hautinduration, 3–5 cm im Durchmesser, häufig symmetrisch angeordnet über den Extensorenseiten der Unterschenkel. Fieber und Arthralgien können die Hauterscheinungen begleiten. Im Verlauf der Erkrankung verändern sie ihre Farbe zu lila bis blau. Sie verschwinden gewöhnlich nach 3 Wochen, ­können aber wieder aufflackern. Auslösende Faktoren sind Infektionen mit Streptokokken, ­Mycobacterium tuberculosis, Yersinien, Pilzen und Medikamente sowie orale Kontrazeptiva oder eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung. Häufig findet sich keine Ursache. Eine­ Therapie ist manchmal nicht notwendig, Glukokortikoide sind ­wirksam.

..Tab. 12.7  Periodische Fiebererkrankungen Syndrom

Besonderheiten

Familiäres Mittelmeerfieber (FMF)

7 Text; Fieberdauer bis 2–3 Tage

Hyper-IgD-Syndrom (HID)

IgD im Serum während Fieber und im Intervall nicht immer erhöht; Fieberdauer 4–6 Tage; autosomal-rezessiv vererbter partieller Defekt der Mevalonatkinase

Familiäre Kälteurtikaria (FCAS)a

Beginn im 1. Lebensjahr, kälteinduziert, nicht juckendes Exanthem, Schüttelfrost, Fieber, Arthralgien, Myalgien, Kopfschmerzen

Muckle-Wells-Syndrom (MWS)a

Kälte triggert Symptome nicht, sensoneurale Schwerhörigkeit, sonst wie FCAS

CINCA- oder NOMID-Syndrom (chronisches infantiles neurologisch-kutan-artikuläres Syndrom)a

Beginn bereits in den ersten Lebensmonaten; aseptische Meningitis, Papillenödem, ­Retardierung, Uveitis, destruktive epiphysäre Veränderungen, sonst wie MWS

Tumornekrosefaktorrezeptor assoziiertes perio­ disches Fiebersyndrom (TRAPS)

Fieberdauer länger 1 Woche; wandernde Myalgien, Erytheme und periorbitales Ödem; autosomal dominant vererbt

Periodisches Fieber – aphthöse Stomatitis-Pharyngitis – Lymphadenitis-colli-Syndrom (PFAPA)

Symptome verschwinden nach einigen Jahren; Abortierung der Attacken mit Steroiden möglich; Behandlungsversuch mit Cimetidin oder Tonsillektomie

Zyklische Neutropenie

Alle 3–4 Wochen Fieber mit oralen Ulzera; mit G-CSF behandelbar

a FCAS, MWS und CINCA stellen ein Spektrum zunehmender Krankheitsschwere dar auf der Basis von Gain-of-function-Mutationen des NLRP3-Gens für Cryopyrin, einem Rezeptor, der das angeborene Immunsystem und Entzündungsmediatoren stimuliert. IL-1-Blocker wie Canakinumab sind wirksam, ebenso wie bei HID, TRAPS und refraktärem FMF

277 Rheumatologie

12.9.4 Juveniles Sjögren-Syndrom

12.9.5 Sarkoidose

Das Sjögren-Syndrom (SjS) ist eine Autoimmunerkrankung, die u. a. durch Autoantikörper gegen die Ro- (SS-A) und La- (SS-B) Anti­gene vermittelt wird und vornehmlich in exokrinen Drüsen und drüsenähnlichen Geweben zu einer chronischen, vorwiegend mononukleären Entzündung führt. Die Autoimmunität kann sich jedoch auch gegen andere Organe (Pankreatitis, Nephritis, Pneumonitis, Thyreoiditis, Vaskulitis, Neuritis N. optici, Myelitis transversa) richten. Vom primären SjS als autoimmune Grunderkrankung wird das ­sekundäre SjS im Rahmen einer anderen Autoimmunerkrankung, wie z. B. SLE oder JIA unterschieden. Das primäre juvenile SjS betrifft Mädchen 7- bis 10-fach häufiger als Jungen.

Die Sarkoidose ist eine chronische granulomatöse Erkrankung unbekannter Genese. Die frühkindliche Form („Vorschulsarkoidose“) besteht oft aus der Trias Exanthem, Uveitis und Arthritis. Im späteren Kindes- und Jugendalter ähnelt die Erkrankung mehr der adulten Verlaufsform, bei welcher hiliäre Lymphadenopathie und eine restriktive Lungenerkrankung im Vordergrund stehen. Als LöfgrenSyndrom bezeichnet man das Zusammentreffen von hilärer Lymphadenopathie mit Erythema nodosum und Polyarthritis. Neben organspezifischen Komplikationen kann es bei Sarkoidose auch zu Hyperkalziämie kommen. Im Serum sind ACE und/oder Lysozym bei 60–75% der Patienten erhöht. Die Behandlung erfolgt primär mit Kortikosteroiden und Methotrexat. Die Prognose ist meist gut, bis zu 80% der pädiatrischen Patienten gehen in permanente Remission.

jjKlinik Das häufigste Leitsymptom ist eine rezidivierende beidseitige Parotitis, oft mit regionaler Lymphknotenschwellung. Das echte SiccaSyndrom ist beim juvenilen SjS jedoch seltener als beim adulten SjS. Starke Karies kann sich bei juvenilem SjS auch ohne schwere SiccaSymptomatik bilden. Renale tubuläre Azidose kann akut durch ­Hypokaliämie zu Schwäche und Lähmung führen und chronisch zu Minderwuchs und Skelettveränderungen. jjDiagnose Die diagnostischen SS-A/SS-B-Autoantikörper liegen bei ca. 70% der pädiatrischen Patienten vor. Häufig, aber weniger spezifisch, sind auch hochtitrige antinukleare Antikörper, positiver Rheumafaktor, und erhöhte Serumspiegel von Immunglobulin G und Amylase. Am objektivsten ist der Nachweis von chronischen mononuklearen Entzündungsinfiltraten in einer Biopsie der kleinen Speicheldrüsen, die an der Innenseite der Unterlippe leicht durchgeführt werden kann. jjTherapie Künstliche Tränen und Mundbefeuchtung sind hilfreich. Auf gute Zahnpflege ist zu achten. Systemische Symptome werden primär mit Kortikosteroiden und Hydroxychloroquin behandelt. Bei schwerem Organbefall erfolgt die Behandlung wie beim SLE.

a

12

12.9.6 Nichtbakterielle Osteomyelitis jjDefinition, Pathophysiologie Die nichtbakterielle Osteomyelitis (NBO), syn. chronisch rezidivierende multifokale Osteomyelitis (CRMO), ist eine oft multifokal verlaufende Osteomyelitis unbekannter Ätiologie und vermutlich autoinflammatorischer Pathogenese. Am Ort der Entzündung ­können keinerlei Krankheitserreger nachgewiesen werden. Bei etwa 10% der Patienten mit CRMO finden sich an Hand- und Fußflächen Hauterscheinungen im Sinne einer palmoplantaren Pustulose­ und bei 3% eine Psoriasis. Außerdem werden in den Familien der Betroffenen gehäuft Autoimmunerkrankungen, wie z. B. M. Crohn, Hashimoto-Thyreoiditis oder Sarkoidose beobachtet. jjKlinik Führendes Symptom sind lokalisierte Schmerzen, auch mit Schwellung und häufig ohne Fieber. An mehreren Stellen des Skelettsystems finden sich entzündliche Herde, überwiegend in den Metaphysen der großen Röhrenknochen und Wirbelkörpern. Prinzipiell kann aber jeder Knochen betroffen sein, so z. B. auch typischerweise die Klavikula (. Abb. 12.11). Auch ein unilokulärer Befall ist möglich.

b

..Abb. 12.11  MRT der linken Klavikula bei CRMO mit pathologischem Kontrastmittel-Enhancement (a) in den transversalen T1-gewichteten Sequenzen und signalreicher Auftreibung in den koronaren TIRM-Sequenzen (b)

278

H.-I. Huppertz

j jDiagnose Die Diagnose wird aufgrund der Klinik, Bildgebung (MRT) und oft Biopsie mit lymphozytärer Infiltration gestellt. Schwierig ist die ­Diagnosestellung bei unilokulären Befall. Hier kann die Abgrenzung zu einer chronisch bakteriellen Osteomyelitis schwierig sein kann. Dies ist auch die häufigste Differenzialdiagnose, zu der auch der Ausschluss maligner Knochenprozesse gehört. j jTherapie Mittel der Wahl sind nichtsteroidale Antirheumatikaund Korti­ koide. Refraktäre Fälle bessern sich unter TNF-α-Antagonisten. Bei Wirbelsinterungsfrakturen werden Bisphosphonate versucht. j jPrognose Die Prognose der NBO ist im Allgemeinen gut. Der Verlauf kann jedoch sehr unterschiedlich sein und reicht von Spontanremission zu immer wieder rezidivierenden Verläufen. Das Knochenwachstum ist nicht beeinträchtigt, Wirbelkörperfrakturen sind möglich.

12

279

Infektiologie Inhaltsverzeichnis Kapitel 13

Das fiebernde Kind – 281 H.-I. Huppertz

Kapitel 14

Virusinfektionen – 287 V. Schuster, H.W. Kreth

Kapitel 15

Bakterielle Infektionen – 327 D. Nadal, C. Berger

Kapitel 16

Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin – 371 R. Bialek und G. Dostal

Kapitel 17

Impfungen – 401 U. Heininger

VI

281

Das fiebernde Kind H.-I. Huppertz

13.1

Definition  – 282

13.2

Diagnose  – 282

13.3

Besondere Hinweise  – 283

13.4

Differenzialdiagnose  – 283

13.5

Vorgehen  – 283

13.6

Therapie  – 284

13.7

Chronisches rezidivierendes Fieber  – 284

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_13

13

282

H.-I. Huppertz

13.1

Definition

Fieber ist eines der wichtigsten und häufigsten Symptome, die zur Vorstellung eines Kindes beim Arzt führen. Fieber ist meist definiert als eine Erhöhung der rektal gemessenen Körpertemperatur auf über 38,0°C. >> Fieber ist keine Diagnose, sondern ein Symptom, das der ­weiteren Abklärung bedarf.

Vom Fieber abgegrenzt werden muss eine physiologische Tempe­ raturerhöhung, die bei Kleinkindern nach altersgemäßer körper­ licher Aktivität, besonders am Nachmittag und abends auftreten und 38,0°C überschreiten kann. Wenn eine solche Messung auftritt, sollte die Temperatur nach einer ½ h körperlicher Ruhe erneut ge­ messen werden. Andere Ursachen einer physiologischen Tempera­ turerhöhung können eine eiweißreiche Mahlzeit und bei postpuber­ tären Mädchen die Ovulation sein. >> Die oral gemessene Temperatur ist 0,3–0,6°C niedriger als die rektal gemessene. Bei korrekter Technik liefert das Ohrthermometer am Trommelfell ähnliche Ergebnisse wie die rektale Messung.

13.2

Diagnose

Bei akut beginnendem, hohem Fieber eines zuvor gesunden Kindes kommt es zunächst darauf an, durch Untersuchung aller Organ­ systeme eine evtl. therapiebedürftige fokale bakterielle Infektion oder sogar eine Sepsis auszuschließen.

13

Anamnese  Abgefragt werden Umgebungsinfekte, Fernreisen, Impfstatus (z. B. Pneumokokken), Zeitpunkt des Beginns des ­Fiebers, Höhe und Art der Messung des Fiebers, begleitenden Sym­ ptomen wie Hautausschlag, Schnupfen, Husten, Erbrechen oder Durchfall und Schmerzangaben. Bei Rückkehr aus einem Endemie­ gebiet müssen sofort ein dicker Tropfen und ein Blutausstrich zum Ausschluss einer Malaria angefertigt werden (7 Abschn. 16.13). Körperliche Untersuchung  Die physikalische Untersuchung be­ ginnt mit der Inspektion der Haut (Exanthem, Petechien), der Suche nach Schonhaltungen und der Einschätzung der Vigilanz. Weitere Maßnahmen sind: 44 Überprüfung auf Nackensteifigkeit als Ausdruck einer Menin­ gitis, 44 Untersuchung der Schleimhäute des Nasen-Rachen-Raums mit Lampe und Spatel, der Konjunktiven und der Trommelfelle mit einem Otoskop. Man sucht nach Rötung der Schleimhäute, ­Sekret oder Eiterproduktion, Tonsillitis oder Paukenerguss. Zusätzlich folgt eine Palpation der Halslymphknoten. 44 Auskultation der Lunge zum Nachweis einer obstruktiven Bronchitis oder einer Pneumonie. 44 Palpation des Abdomens, eine Milzvergrößerung kann auf eine EBV-Infektion hinweisen, Auskultation einer evtl. bereits vor Beginn einer Diarrhö hochgestellten Peristaltik. 44 Orientierendes Durchbewegen der Extremitäten zum Aus­ schluss einer septischen Osteomyelitis oder Arthritis. Weitere Diagnostik  Falls sich keine klare Ursache des Fiebers fin­

det, sind klinisch-chemische und evtl. apparative Untersuchungen notwendig. 44 Untersuchung des Urins auf Leukozyten und Bakterien: Dabei ist es wichtig, Mittelstrahlurin zu gewinnen. Falls dies beim

Säugling oder Kleinkind nicht möglich ist und ein mittels ­Beutel aufgefangener Urin nicht unauffällig ist, muss eine sup­ rapubische Blasenpunktion oder eine Blasenkatheterisierung vorgenommen werden. Dabei ist die suprapubische Blasenpunktion weniger invasiv, da die Katheterisierung zu einer iat­ rogenen bakteriellen Kontamination der Blase führen kann und bei einer Katheterisierung die Gefahr einer mechanischen Schädigung der Harnröhre des jungen männlichen Säuglings besteht. 44 Um die Unterscheidung zwischen einer bakteriellen oder vira­ len Ursache des Fiebers zu erleichtern, können ein Blutbild an­ gefertigt und das C-reaktive Protein bestimmt werden: Leukozytose (>15.000/µl), Erhöhung der Stabkernigen (>5% oder

>500/µl) und hohes CRP (>5 mg/dl) sprechen für eine bakterielle Ursache. Eine Leukopenie (5% des Körpergewichts) auftreten, das oft alleine schon durch die notwendige, meist parenterale Flüssigkeits­ zufuhr sinkt.

Eingeschränkte Abwehrkapazität  Ein abwartendes Verhalten bei

neu auftretendem Fieber ist unter besonderen Situationen nicht er­ laubt. Dies betrifft: 44 Kinder mit angeborenen oder erworbenen Immundefekten, 44 Kinder mit einer malignen Erkrankung mit und ohne Chemo­ therapie, 44 Kinder unter Immunsuppression mit Glukokortikoiden, zyto­ toxischen Medikamenten oder Biologica.

Da diese Kinder häufig nicht in der Lage sind, bakterielle Infekte zu lokalisieren, kommt es bei ihnen häufiger zu Bakteriämie und Sepsis, was jedoch klinisch nicht sofort auffällt. Bei diesen Kindern ist in der Regel bei Auftreten hohen und ungeklärten Fiebers eine stationäre Einweisung erforderlich. Bei Kindern mit Neutropenie (41°C) zur starken Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens oder des Kreislaufs und schwächen über eine metabolische Entkoppelung das Kind. Deshalb sollte bei Temperaturen ab 39,5°C eine sympto­ matische Fiebersenkung durchgeführt werden. Bei Kindern mit der Neigung zu Fieberkrämpfen wird manch­ mal auch schon bei Temperaturen über 38°C eine Fiebersenkung durchgeführt, obwohl dies keine effektive Prophylaxe gegen das Auf­ treten von Fieberkrämpfen darstellt. Antipyretika  Paracetamol ist ein gutes und bewährtes Antipyre­

tikum, das auch schmerzlindernde Eigenschaften aufweist. Es steht als Tablette, Saft oder Suppositorium sowie zur i.v. Gabe zur Ver­ fügung, die Dosierung beträgt 10–15 mg/kgKG bis zu 4-mal pro Tag.

!! Cave

13

Diese Dosierungsempfehlung bei Paracetamol sollte keinesfalls überschritten werden, da Paracetamol eine geringe therapeutische Breite hat und die Paracetamolintoxikation eine wichtige Ursache des akuten Leberversagens im Kindesalter darstellt.

Das Antidot ist Acetylcystein. Bei ambulanter Therapie, unzuverläs­ sigen Eltern, suizidalen Tendenzen oder unsicherer Aufbewahrung des Medikamentes sollte Paracetamol nur zurückhaltend verschrie­ ben werden. Ibuprofen ist Antipyretikum der Wahl und wirkt zudem analge­ tisch und antiinflammatorisch. Es steht als Tablette, Zäpfchen oder als Saft bei einer Dosierung von 7,5–10 mg/kgKG bis zu 4-mal am Tag zur Verfügung. Metamizol steht als Tablette, Tropfen oder als i.v.-Injektionslösung zur Verfügung. Es gilt als Reservemedikament, wenn andere Maß­ nahmen nicht zur Fiebersenkung ausreichend waren. Wenn die i.v.-Injektion nicht langsam vorgenommen wird, können Schock­ zustände auftreten. Physikalische Maßnahmen  Neben der pharmakologischen Fie­

bersenkung ist auch eine physikalische Fiebersenkung möglich. Während der Patient bei Schüttelfrost im Fieberanstieg warm einge­ packt werden sollte, muss bei einer Kontinua oder Fieberabfall ein Wärmestau vermieden werden: der Patient benutzt nur ein Laken als Decke oder kann sogar aufgedeckt werden. Dabei kann man den Wünschen des wachen und orientierten Kindes folgen. Außerdem können Wadenwickel zur raschen Temperatursenkung beitragen (allerdings nicht bei Zentralisierung!). >> Bei Fieber besteht ein erhöhter Flüssigkeitsbedarf, der besonders bei Säuglingen evtl. nur parenteral gedeckt werden kann.

Weitere mögliche Maßnahmen  Antibiotika sind kein Fieberthe­

rapeutikum. Wenn sich aber keine fokale Ursache des Fiebers findet und der Zustand des Patienten sich dramatisch verschlechtert, darf man nach Anlage von Blut-, Liquor- und Urinkulturen eine empirische Antibiotikatherapie beginnen. Dies kann auch beim Fieber ungeklärter Ursache der Fall sein. Wenn dies nach mehreren Tagen zu keiner Besserung führt, kann nach Ausschluss einer malignen Systemerkrankung auch eine systemische Therapie mit Glukokortikoiden erwogen werden. 13.7

Chronisches rezidivierendes Fieber

Fieber unklarer Ursache, FUO  Wenn das Fieber 7 Tage oder länger

besteht, ohne dass eine Ursache gefunden worden ist, spricht man von Fieber unklarer Ursache („fever of unknown origin“, FUO), das eine umfangreiche weitere Abklärung erfordert, die im Allgemei­ nen unter stationären Bedingungen vorgenommen werden sollte. Oft liegt dem Fieber nicht eine seltene Ursache zugrunde, son­ dern eine relativ häufige Ursache, die sich bei dem zu behandelnden Kind nur in ungewöhnlicher Gestalt zeigt. In . Tab. 13.2 sind Erkrankungen aufgeführt, die rasch diagnos­ tiziert oder ausgeschlossen werden müssen, weil sie behandelbar sind und andernfalls zu bleibenden Schäden führen können. Die erweiterte Diagnostik ergibt dann meist doch eine Infektion (. Tab.  13.3), eine Autoimmunerkrankung oder eine maligne Er­ krankung. Vorgehen bei chronischem/rezidivierendem Fieber   Wenn

­Fieber länger als einige Tage besteht, werden meist behandelnder

..Tab. 13.2  Mögliche Ursachen von Fieber ungeklärter Ursache, die rasch untersucht werden müssen, um eine drohende Verschlechterung oder bleibende Schäden zu verhindern Diagnose

Gefahr bei Nichterkennen dieser Diagnose

Septische Erkrankung

Definitive fokale Schäden, Schock, Tod

Endokarditis

Klappenzerstörung

Meningitis

Taubheit, Krampfleiden, Hydrozephalus, Tod

Osteomyelitis

Osteolyse

Arthritis

Knorpelzerstörung, Arthrose

Pyelonephritis

Sepsis, Hypertonie, Verlust von Nierenfunktion

Peritonitis

Ileus, Schock, Tod, Briden

Mastoiditis

Meningitis, Sinusvenenthrombose

Typhus

Intestinale Blutung/Perforation, Endokarditis, Meningitis, Schock, Tod

Tuberkulose

Miliartuberkulose, Hydrozephalus, Tod

Kawasaki-Erkrankung

Koronararterienaneurysmen, Herzinfarkt, Tod

Systemischer Lupus erythematodes

Akutes Nierenversagen, zerebrale Krise, Tod

Leukämie

Schlechtere Prognose

Lymphom

Aussaat

Neuroblastom

Schlechtere Prognose

285 Das fiebernde Kind

..Tab. 13.3  Infektiöse Ursachen von Fieber ungeklärter Ursache Infektionen (Beispiele)

Diagnostik

Viren - Epstein-Barr-Virus, Zytomegalie-Virus

Serologie

- Hepatitis-Viren, humanes Immundefizienzvirus (HIV)

Virennachweis durch Polymerasekettenreaktion bei HCV und HIV

Bakterien - Leptospiren, Brucellen, Yersinien

Anzucht, Serologie

- Borrelia recurrentis

Reiseanamnese, Ausstrich während Fieber

- Salmonella typhi

Blutkultur, Serologie

- Bartonella (Katzenkratzkrankheit)

Serologie

- Tularämie

Tierkontakt, Serologie

- Mycobacterium tuberculosis

Tuberkulin-Hauttest, Interferon-γ-Freisetzungs-Test, Anzucht, Färbung,

- Chlamydien (Psittakose), Rickettsien (Q-Fieber, Coxiella)

Serologie

- Mykoplasmen

Serologie, Kälteagglutinine

Endokarditiserreger (besonders subakut)

Echokardiographie, Anzucht

Adnexitis-, Pyelonephritis-, Mastoiditis-, Sinusitis-, Cholangitiserreger

Bildgebung (MRT, Röntgen, Ultraschall)

Osteomyelitiserreger

MRT, Punktion

Abszesse: Gehirn, Kiefer/Zähne, peritonsillar, subdiaphragmal, intrahepatisch, perinephritisch, retroperitoneal, perityphlitisch

Bildgebung

Arzt und/oder Eltern besorgt und fragen sich nach der Ursache. Das fortbestehende Fieber kann folgende Ursachen haben: 44 Die initial gestellt Diagnose ist richtig, aber die Therapie war falsch. Beispiel: Bei Streptokokkentonsillitis wurde orales ­Penicillin verordnet, die Gabe erfolgte in ml statt in ML (1 Messlöffel entspricht 5 ml), oder der mit Cotrimoxazol ­behandelte Harnwegsinfekt war durch resistente Escherichia coli verursacht. Die Verordnung, die Durchführung der Thera­ pie und die Compliance müssen überprüft werden. 44 Diagnose und Therapie sind richtig, aber die Erkrankung dau­ ert lange. Beispiel: Eine durch Epstein-Barr-Virus-Infektion verursachte Tonsillitis. Gelegentlich besteht beim Säugling oder jungen Kleinkind für einige Tage nach einem Infekt noch eine sog. „postinfektiöse Hyperthermie“. Oder es ist eine Komplika­ tion der richtig diagnostizierten und behandelten Erkrankung aufgetreten, z. B. ein Peritonsillarabszess nach Streptokok­ kenangina. Das komplette Spektrum möglicher Krankheits­ verläufe einschließlich der Komplikationen muss in Erwägung gezogen werden. 44 Die Diagnose ist falsch. Beispiel: Es wurden zwar Streptokok­ ken im Rachen nachgewiesen, dem Fieber liegt jedoch tatsäch­ lich eine Mononukleose zugrunde. Die bisherige Diagnose muss infrage gestellt werden. >> Bei rezidivierendem Fieber ohne Hinweise für entsprechende Erreger müssen auch periodische Fiebererkrankungen in ­Erwägung gezogen werden (7 Kap. 12).

13

287

Virusinfektionen V. Schuster, H.W. Kreth

14.1

Herpes-simplex-Virus-Infektionen  – 289

14.2

Varizella-Zoster-Virus-Infektionen  – 291

14.3

Epstein-Barr-Virus-Infektionen  – 293

14.4

Zytomegalievirusinfektionen  – 296

14.5

Herpesvirus-Typ-6-Infektionen  – 298

14.6

Herpesvirus-Typ-7-Infektionen  – 298

14.7

Herpesvirus-Typ-8-Infektionen  – 299

14.8

Hepatitis A  – 299

14.9

Hepatitis B  – 300

14.10 Hepatitis C  – 302 14.11 Hepatitis D  – 303 14.12 Hepatitis E  – 304 14.13 Infektionen mit weiteren hepatotropen ­Viren  – 304 14.14 Parvovirus-B19-Infektionen  – 304 14.15 Gastrointestinale Virusinfektionen  – 305 14.15.1 Rotavirusinfektionen  – 305 14.15.2 Weitere viral verursachte ­Gastroenteritiden  – 306

14.16 Adenovirusinfektionen  – 307 14.17 Rhinovirusinfektionen  – 309 14.18 Respiratory-Syncytial-Virus-Infektionen  – 309

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_14

14

14.19 Infektionen durch humane ­Papillomaviren (HPV)  – 310 14.20 Masern  – 312 14.21 Röteln  – 314 14.22 Mumps, Parotitis epidemica  – 315 14.23 Slow-Virus-Erkrankungen  – 316 14.23.1 Subakute sklerosierende ­Panenzephalitis  – 316 14.23.2 Progressive Rötelnenzephalitis (PRP)  – 317 14.23.3 Progressive multifokale ­Leukoenzephalopathie  – 317 14.23.4 Übertragbare spongiforme ­Enzephalopathien (Prionerkrankungen)  – 317

14.24 Tollwut (Rabies, Lyssa)   – 318 14.25 Poliomyelitis  – 318 14.26 Enterovirusinfektionen  – 319 14.27 Parechovireninfektion  – 320 14.28 Hantavirusinfektionen  – 320 14.29 Frühsommermeningoenzephalitis  – 321 14.30 HIV-Infektionen  – 321 14.31 Influenza (Grippe)  – 323 14.32 Parainfluenzavirusinfektionen  – 324 14.33 Weitere atemwegsassoziierte Viren  – 325

289 Virusinfektionen

14.1

Herpes-simplex-Virus-Infektionen

jjEpidemiologie Infektionen mit dem Herpes-simplex-Virus (HSV) treten ubiquitär auf. Die Ansteckung erfolgt bei Kindern überwiegend durch virushaltige Körperflüssigkeiten (Speichel) und engen Körperkontakt, seltener auch durch Organtransplantation. Die Durchseuchung von HSV-1 schwankt zwischen 30% (Länder mit höherem Lebensstandard) und 90% (ärmere Länder). Die Häufigkeit von HSV-2-Infek­ tionen korreliert mit der sexuellen Aktivität der jeweils untersuchten Bevölkerungsgruppe. Die Inkubationszeit beträgt 2–12 Tage. jjÄtiopathogenese Es existieren 2 Herpes-simplex-Viren, Typ 1 (HSV-1) und Typ 2 (HSV-2): 44 Infektionen mit HSV-2 sind häufig mit Erkrankungen im Genitalbereich assoziiert. Insbesondere sind Infektionen des Feten oder Neugeborenen meist durch HSV-2 verursacht. 44 HSV-1-Infektionen sind überwiegend im Gesichtsbereich ­lokalisiert. HSV repliziert sich in Mukosazellen (v. a. Rachenraum, Genitalschleimhaut). Anschließend dringt das Virus in die Nervenendigungen von peripheren sensorischen Nerven ein und wandert in ihnen retrograd bis zu den spinalen Hinterstrangganglien (bei HSV-1 meist Ganglion des N. trigeminus, bei HSV-2 häufig Sakralganglien; . Abb. 14.1). An diesem Ort liegt HSV in latenter Form vor (keine Produktion von infektiösem Virus) und persistiert lebenslang im Wirt. Durch verschiedene Faktoren (z. B. Immunsuppression, Stress) kann das Virus jederzeit reaktiviert werden. Nach einer solchen Reaktivierung „wandert“ HSV anterograd über die peripheren sensorischen Nerven zur Mukosaoberfläche des entsprechenden Dermatoms und führt dort zur Bläschenbildung mit aktiver Virusreplikation (Herpes labialis, rekurrierender Herpes genitalis). Entscheidend für die immunologische Bewältigung einer HSV-Infektion ist die zelluläre Immunität. Diaplazentar übertra­ gene HSV-neutralisierende Antikörper können bei exponierten Neugeborenen eine HSV-Infektion u. U. verhindern oder zumindest­ die Schwere der Erkrankung abmildern. Dagegen können HSV-spe­ zifische Antikörper weder rekurrierende HSV-Erkrankungen noch exogene HSV-Infektionen verhindern. Neonatale HSV-Infektionen  Das Risiko einer HSV-Infektion für ein vaginal geborenes Neugeborenes beträgt im Falle einer primären HSV-Infektion der Mutter ca. 30–50%, im Falle einer rekurrierenden HSV-Infektion der Mutter > Bei der HSV-Keratokonjunktivitis ist immer ein Ophthalmologe hinzuzuziehen.

..Abb. 14.3  Ekzema herpeticatum bei einem 5 Monate alten weiblichen Säugling

Die Infektion beginnt mit unspezifischen Symptomen (Fieber, Kopfschmerzen, Krankheitsgefühl). Nach 1–7 Tagen kommt es zu einer progressiven neurologischen Symptomatik (fokale oder generalisierte Krampfanfälle, Verhaltensauffälligkeiten, Vigilanzstörungen) bis hin zum Koma. Unbehandelt versterben 70% der Patienten. Verschiedene genetische Faktoren prädisponieren für eine Herpesenzephalitis (u. a. Mutationen in den Genen STAT1, NEMO, TLR3, TRAF3, TRiF und UNC-93B). Bildgebende Verfahren (kraniales CT oder MR) und EEG ­zeigen im „typischen“ Fall fokale Veränderungen uni- oder bilateral v. a. im Bereich der Temporallappen. Im Liquor findet sich meist eine Pleozytose (überwiegend Lymphozyten) und eine starke Ei­weißerhöhung. In bis zu 85% ist der Liquor als Folge der ausge­dehnten Nekrosen im ZNS hämorrhagisch. Im Frühstadium einer HSV-­Enzephalitis kann der Liquor noch vollkommen unauffällig sein. Die Aciclovirtherapie hat die Letalität auf ca. 29% gesenkt. Eine vollständige Ausheilung ohne Residualfolgen findet sich in 38% der mit Aciclovir behandelten Enzephalitispatienten, bei Kindern liegt der Prozentsatz höher. Bei unbehandelten Patienten mit einer Herpesenzephalitis dagegen kommt es nur in 2,5% der Fälle zu einer Restitutio ad integrum. Chronisch rezidivierende Verläufe, auch bei mit Aciclovir behandelten Patienten, kommen gelegentlich vor. Herpesmeningitis  In seltenen Fällen führt eine HSV-Infektion (meist HSV-2) auch zu einer aseptischen lymphozytären Meningitis

(Mollaret-Meningitis), die rekurrieren kann, meist aber eine gutartige Prognose hat.

Eine primäre symptomatische HSV-Infektion im Genitalbereich (Vulvovaginitis, Balanitis), die klinisch mit Fieber, lokalen Bläschen und Ulzera sowie lokaler Lymphadenopathie einhergeht, betrifft überwiegend ältere Jugendliche und Erwachsene. Die Ansteckung mit dem Virus (meist HSV-2) erfolgt praktisch ausschließlich durch Geschlechtsverkehr.

Rekurrierende HSV-Infektionen  Nach Primärinfektion (Gingivostomatitis, Keratokonjunktivitis, Herpes genitalis) persistiert HSV ­lebenslang in latent infizierten sensiblen Spinalganglien (. Abb. 14.1). Hier kann das Virus jederzeit reaktiviert werden, mit der klinischen Folge eines Herpes labialis (. Abb. 14.4), einer Keratitis dendritica oder eines rekurrierenden Herpes genitalis.

Herpesenzephalitis  Dieses schwerste Krankheitsbild tritt nach

HSV-Infektionen bei immunsupprimierten Patienten  Bei Kin-

einer HSV-Primärinfektion (ca. 30%) oder häufiger nach einer HSVReaktivierung (ca. 70%) auf. In den meisten Fällen handelt es sich um eine Infektion mit HSV-1, bei Neugeborenen auch mit HSV-2.

dern mit eingeschränkter zellulärer Immunität (z. B. immunsuppressive Therapie) können sowohl HSV-Primärinfektionen als auch Reaktivierungen schwer und disseminiert verlaufen. Häufig sind der

291 Virusinfektionen

e­ rfahrenen Augenarzt erfolgen. Bei Patienten >18 Jahren kann ein genitaler Herpes (Primärinfektion, Rezidive) auch mit Famciclovir oder Valaciclovir behandelt werden.

..Abb. 14.4  Herpes labialis bei einem 8 Jahre altem Mädchen

Ösophagus, der Gastrointestinaltrakt, der Respirationstrakt (Pneumonie), das ZNS (Enzephalitis) und andere Organe (Leber, Nieren, Milz, Nebennieren) betroffen. jjDiagnose Häufig kann die Diagnose einer Herpesinfektion der Haut oder der Schleimhäute aufgrund der typischen Herpeseffloreszenzen klinisch gestellt werden. In Zweifelsfällen wird HSV leicht aus Bläschen­ inhalt, Schleimhautabstrichen und bioptischem Material isoliert. Methode der Wahl für die Diagnose einer HSV-Enzephalitis ist der HSV-Genomnachweis im Liquor mittels Polymerasekettenreaktion. Der serologische Nachweis von spezifischen HSV-Antikörpern im Serum oder Liquor spielt in der Frühdiagnostik von HSV-Infektionen nur eine sekundäre Rolle. Bei einer unklaren Enzephalitis kann der Nachweis von intrathekal produzierten HSV-Antikörpern am Tag 7–10 nach Auftreten der Symptome die Ursache der Erkrankung nachträglich beweisen. jjTherapie Mittel der Wahl bei HSV-Infektionen im Kindesalter ist das Nukleosidanalogon Aciclovir. Zur Behandlung von neonatalen HSV-Infektionen sowie der Herpesenzephalitis wird Aciclovir in einer Dosierung von 3-mal 15(–20) mg/kgKG/Tag i.v. (Frühgeborene nur 2-mal 10 mg/kgKG/ Tag i.v.) für mindestens 14, besser 21 Tage eingesetzt. Bei zu kurzer Aciclovirtherapie einer HSV-Enzephalitis (> Bei klinischem Verdacht auf Herpesenzephalitis beginne man sofort mit einer ausreichend hoch dosierten intravenösen Aciclovirtherapie, ohne die endgültige Labordiagnostik abzuwarten.

Eine Stomatitis aphthosa oder ein Herpes labialis beim immunkompetenten Kind wird im Normalfall nur symptomatisch (z. B. mit Bepanthenlösung oder -salbe) behandelt. Bei allen komplizierten HSV-Infektionen einschließlich dem Herpes genitalis ist Aciclovir derzeit das Mittel der Wahl (i.v., oral, topisch). Bei aciclovirresistenten HSV-Stämmen (immunsupprimierte Patienten) kann ein Therapieversuch mit Foscarnet unternommen werden. Für die topische Behandung einer HSV-Keratokonjunktivitis stehen verschiedene wirksame Medikamente zur Verfügung wie Acicloviraugensalbe und Trifluridinaugentropfen. Die Therapie muss immer in enger Zusammenarbeit mit einem diesbezüglich

jjProphylaxe Bei Schwangeren mit aktiver genitaler Herpesinfektion (sowohl HSV-Erstinfektion als auch -Rezidiv) am Geburtstermin sollte die Geburt durch Kaiserschnitt erfolgen, sofern der Blasensprung nicht länger als 4–6 h zurückliegt. Bei Frauen mit rezidivierendem Herpes genitalis in der Spätschwangerschaft senkt eine orale Aciclovir- oder Valganciclovirtherapie die Häufigkeit von HSV-2-Rezidiven zum Zeitpunkt der Geburt. Mütter mit florider HSV-1-Infektion dürfen nur dann stillen, wenn die Brust frei von frischen HSV-Effloreszenzen ist und andere aktive Läsionen abgedeckt sind. Familienange­ hörige mit floridem Herpes labialis müssen beim Besuch eines Neugeborenen immer einen Mundschutz tragen und dürfen das Kind nicht küssen. Die labialen Herpesläsionen müssen außerdem vorher mit Aciclovirsalbe abgedeckt werden. Eine Langzeitchemoprophylaxe mit Aciclovir kann bei immunsupprimierten und transplantierten Patienten die Häufigkeit (und Schwere) von HSV-Infektionen und -Reaktivierungen signifikant senken. 14.2

Varizella-Zoster-Virus-Infektionen

jjEpidemiologie Varizella-Zoster-Virus (VZV) kommt ubiquitär vor und ist hochkontagiös. Eine Krankheitshäufung findet sich in den späten Wintermonaten und im Frühjahr. Varizellen treten vorwiegend im ­Kindesalter auf; bis zum 16. Lebensjahr sind über 90% aller Kinder infiziert. Die Ansteckung mit VZV erfolgt meist durch direkten Kontakt von Mensch zu Mensch, seltener aerogen. Die Infektiosität bei ­Varizellen beginnt 1–2 Tage vor Auftreten des Exanthems und endet ca. 5 Tage nach Exanthemausbruch (immunkompetente Kinder). Der Herpes zoster ist weniger kontagiös als Varizellen. Der Kontakt mit einem Zosterpatienten führt bei einer seronegativen Person zu Windpocken. Die Inkubationszeit bei Varizellen beträgt meist 2 Wochen (10–28 Tage). jjÄtiopathogenese VZV gehört zur Gruppe der Herpesviren. Eintrittspforte für VZV sind die Schleimhäute der oberen Atemwege. Nach initialer Virusvermehrung tritt nach 3–4 Tagen eine erste Virämie auf. Hierbei wird VZV in T-Zellen über den Blutstrom im ganzen Körper verteilt. In Leber und Milz findet anschließend eine massive Virusvermehrung statt. Am Tag 6–7 post infectionem (p. i.) kommt es zur 2. Virämie: hierbei wird VZV auch in die Peripherie zur Haut und zu den Schleimhäuten transportiert. Infizierte Haut- und Schleimhautzellen gehen bei der Infektion zugrunde, es bilden sich die typischen Bläschen mit virushaltigem Inhalt. Nach Abklingen der Varizellen wandert VZV retrograd entlang der peripheren sensorischen Nerven zu den Spinalganglien des Rückenmarks (N. trigeminus, thorakale Ganglien u. a.), wo das ­Virus lebenslang persistiert (. Abb. 14.1). In diesen Spinalganglien liegt eine latente VZV-Infektion vor, d. h. es wird kein komplettes Virus produziert. VZV kann bei nachlassender zellulärer Immunität sowie durch noch unbekannte Mechanismen jederzeit reaktiviert werden: VZV wandert nun entlang der sensorischen peripheren Nerven anterograd an die Hautoberfläche, wo es im Bereich der betroffenen Dermatome zur Virusvermehrung mit Bläschenbildung (Herpes zoster) kommt.

14

292

V. Schuster und H.W. Kreth

a

b

..Abb. 14.5 Varizelleneffloreszenzen. a Bei einem 6-Jährigen; b Bei einem 5-Jährigen

Im Gegensatz zu Varizellen, bei denen es im Rahmen der 2. Virämie zu einem schubweisen Auftreten von Bläschen kommt (Sternenhimmelbild mit verschiedenen Stadien von Effloreszenzen), befinden sich die Bläschen beim Herpes zoster im gleichen Entwicklungsstadium: es liegt ein uniformes Exanthem vor. Für die immunologische Kontrolle einer VZV-Infektion ist das zelluläre Immunsystem entscheidend. VZV-neutralisierende Antikörper können die Schwere des Verlaufs von Varizellen abmildern und u. U. auch eine VZV-Infektion verhindern, insbesondere dann, wenn sie vor Eintritt der primären Virämie verabreicht werden. >> Windpocken treten nur einmal im Leben auf. Zweiterkrankungen sind sehr selten (ca. 1–2%).

14

Varizellen (Windpocken)   Meist manifestieren sich Windpocken als typisches bläschenförmiges Exanthem (. Abb. 14.5) mit nur

leichtem Fieber in den ersten 2–3 Krankheitstagen. Die Effloreszenzen treten zunächst v. a. im Gesicht, am behaarten Kopf, und am Stamm auf, weniger häufig kommt es zu einer zentrifugalen Aus­ breitung auf die Extremitäten. Die Handinnenflächen sind meist ausgespart. Frisch aufgetretene Bläschen, die klare virushaltige Flüssigkeit enthalten, trocken rasch ein und bilden häufig Krusten. Daneben treten immer wieder neue Bläschen auf. Diese Hautveränderungen entwickeln sich schubweise mit einer Dauer von bis zu 8 Tagen und sind oft von einem starken Juckreiz begleitet. Durch Kratzen kann es in betroffenen Hautregionen zu Exkoriationen und späterer Narbenbildung kommen. >> Charakteristisch für Varizellen ist das Nebeneinander von ­alten, eingetrockneten und frischen Effloreszenzen unterschiedlicher Größe („Sternenhimmelmuster“).

Neben der Haut sind auch die Mund- und Genitalschleimhaut sowie die Konjunktiven häufig betroffen. Häufigste Komplikationen bei Varizellen sind: 44 bakterielle Superinfektionen der VZV-Effloreszenzen (v. a. Staphylococcus aureus, Streptococcus pyogenes) 44 Atemwegserkrankungen (Pneumonie, Bronchitis) und Otitis media, 44 neurologische Komplikationen (Meningitis, Zerebellitis, Enzephalitis, zerebrale Insulte). Die Zerebellitis (Häufigkeit ca. 1:4.000) manifestiert sich in Form einer mehr oder weniger ausgeprägten Ataxie am Ende der 1. oder

zu Beginn der 2. Woche nach Auftreten der ersten Varizelleneffloreszenzen. Die Prognose ist gut, die Symptome können u. U. einige Wochen andauern. Bei der Enzephalitis (Häufigkeit ca. 1:10.000), die bereits früher im Verlauf der Varizellen auftritt und die im Allgemeinen eine schlechtere Prognose hat, kommt es zu schweren Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit mit Exitus letalis oder ausgeprägten Defekt­ heilungen. Zerebrale Insulte in Form von akut auftretenden ­Hemiplegien können erst nach monatelanger Latenz nach einer VZV-Infektion auftreten. Andere seltene Komplikationen sind peri-/parainfektiöse thrombozytopenische Purpura (ITP), Purpura fulminans, Myokarditis, Arthritis, Nephritis und Reye-Syndrom. Bei zellulären Immundefekten und Immunsuppression (Or­ gantransplantation, HIV-Infektion, immunsuppressive Therapie, ­maligne Grunderkrankungen) kommt es bei Kindern häufig zu schweren progressiven Varizellen mit viszeraler Beteiligung wie Pneumonie, Meningoenzephalitis, Hepatitis und Pankreatitis. Die Letalität beträgt bis zu 20%. Varizellenembryofetopathie (konnatales Varizellensyndrom)  Vari­zellen im 1. und 2. Schwangerschaftstrimenon (v. a. in der 13.– 20. Schwangerschaftswoche) führen in bis zu 2% zu einem konna­ talen Varizellensyndrom (CVS) mit Hautnarben, Gliedmaßen­ hypoplasien, Dystrophie, Katarakt sowie ZNS-Schädigungen (. Abb. 14.6). Varizellen während der Schwangerschaft (v. a. in der 16.–33. Schwangerschaftswoche) können außerdem (in über 1%) zum Auftreten eines Herpes zoster im ersten Lebensjahr führen. Ein Herpes zoster bei einer immunkompetenten Schwangeren da­ gegen führt nur extrem selten zu einer konnatalen oder neonatalen VZV-Infektion. Neonatale Varizellen  7 Kap. 4. Herpes zoster  Der Herpes zoster (. Abb. 14.7) ist die klinische Manifestation einer VZV-Reaktivierung. Er kommt bei Kindern sehr

viel seltener vor als bei Erwachsenen. In den meisten Fällen tritt der Zoster unilateral in Form von multiplen uniformen Bläschen in ­einem oder mehreren Dermatomen auf. Häufig sind die Ver­ sorgungsgebiete der thorakalen Nerven („Gürtelrose“) oder des N. trigeminus (Zoster ophthalmicus, Zoster oticus) betroffen. Neuralgiforme Schmerzen können dem Exanthem um mehrere Tage vorausgehen. Weitere systemische Manifestationen außer leichtem Fieber sind selten. Der Verlauf ist meist gutartig. Die postzosterische Neuralgie ist bei Kindern selten.

293 Virusinfektionen

..Abb. 14.6  Varizellenembryofetopathie bei einem männlichen Neu­ geborenen: Hautnarben im Bereich abdomineller Dermatome rechts

Ein Herpes zoster wird gehäuft bei seropositiven Kindern mit Leukämien, Lymphomen sowie fortgeschrittener HIV-Infektion beobachtet. Ein disseminierter Herpes zoster (Zoster generalisatus) kann bei immunsupprimierten Patienten auftreten. Gefürchtet ist die viszerale Beteiligung mit Pneumonie, Meningoenzephalitis und Hepatitis. jjDiagnose Die Diagnose von Windpocken oder eines Herpes zoster wird ­ linisch gestellt. VZV kann aus Bläscheninhalt oder virushaltigen k Körperflüssigkeiten (Liquor, Blut) mittels Polymerasekettenreaktion oder durch kulturelle Anzucht nachgewiesen werden. Die serologische Untersuchung auf VZV-spezifische Antikörper erfolgt mittels ELISA oder indirekter Immunfluoreszenz. jjTherapie Gegen den Juckreiz hilft symptomatisch die lokale Anwendung von Lotio alba, falls erforderlich auch die Gabe eines Antihistaminikums. Wirksames Virostatikum bei VZV-Infektionen ist Aciclovir. Aufgrund der geringen Bioverfügbarkeit (15–30%) muss die Substanz immer ausreichend hoch dosiert werden, d. h. 3-mal 10(–15) mg/ kgKG/Tag i.v. (maximal 2,5 g/Tag) oder in Ausnahmefällen 4-mal 20 mg/kgKG/Tag p.o. (maximal 3,2 g/Tag) für 5–10 Tage. Varizellen bei immunkompetenten Kindern werden im Allgemeinen nicht virostatisch behandelt. Bei zu erwartenden schweren Varizellen kann durch frühzeitige Behandlung mit Aciclovir innerhalb der ersten 24 h nach Auftreten des Exanthems die Schwere der Erkrankung deutlich gemildert werden. Durch Aciclovirgabe in der späten Inkubationszeit (Tag 6–10) kann der Ausbruch von Varizellen u. U. unterdrückt werden bzw. es treten nur noch mitigierte Varizellen auf. Indikationen für eine Aciclovirtherapie sind: 44 Varizellen bei Frühgeborenen in den ersten 6 Lebenswochen, 44 neonatale Varizellen mit Exanthembeginn zwischen dem ­ 5. und 12. Lebenstag, 44 floride Varizellen bzw. ein Herpes zoster bei immunsupprimierten Kindern und Jugendlichen. Bei Patienten über 18 Jahren kann ein Herpes zoster auch mit Famciclovir oder Valaciclovir behandelt werden. jjProphylaxe VZV-Immunglobulin kann eine VZV-Infektion entweder verhin-

dern oder abmildern, sofern es innerhalb von 24 h bis maximal 72 h

..Abb. 14.7  Herpes zoster im Versorgungsbereich des N. trigeminus bei einem Kleinkind mit akuter lymphatischer Leukämie

nach Exposition verabreicht wird. Es sollte nach Möglichkeit ein i.v. zu applizierendes Präparat eingesetzt werden. Folgender Personenkreis sollte nach Varizellenexposition eine Prophylaxe erhalten: 44 seronegative Schwangere, 44 Neugeborene von Müttern, bei denen Varizellen um den Geburtszeitpunkt (5 Tage vor bis 2 Tage nach Entbindung) auf­ treten, 44 Frühgeborene seronegativer Mütter sowie alle sehr unreifen Frügeborenen ( Varizellen sind seit 2012 meldepflichtig!

14.3

Epstein-Barr-Virus-Infektionen

jjEpidemiologie Epstein-Barr-Virus (EBV) kommt ubiquitär vor. Abhängig von ­Lebensstandard und Hygieneverhältnissen infiziert sich in ärmeren Ländern ein Großteil der Bevölkerung bereits im frühen Kleinkindesalter, während in reichen Industrieländern eine EBV-Infektion gehäuft erst im Adoleszentenalter („Kusskrankheit“) auftritt. Eine infektiöse Mononukleose tritt nur einmal im Leben auf, Zweitmanifestationen sind extrem selten. Die Ansteckung erfolgt überwiegend durch infektiösen Speichel, selten durch Organtransplantation oder Bluttransfusionen. Die Ausscheidung von infektiösem EBV im Speichel kann auch nach Verschwinden der Krankheitssymptome noch Monate oder Jahre

14

294

V. Schuster und H.W. Kreth

..Abb. 14.8  Aktivierte T-Lymphozyten (Pfeiffer-Zellen, lymphatische Reizformen) im Liquor bei einem Patienten mit schwerer infektiöser Mononukleose und EBV-Meningoenzephalitis

andauern. Diaplazentar übertragene mütterliche Antikörper gegen EBV bilden einen gewissen Nestschutz des Säuglings während des 1. Lebenshalbjahrs. Konnatale EBV-Infektionen nach einer Primärinfektion einer Schwangeren sind eine Rarität.

14

j jÄtiopathogenese EBV gehört zur Gruppe der Herpesviren. Eintrittspforte für EBV ist der Rachenraum (Waldeyer-Rachenring, Tonsillen), wo das Virus­ zu einer sog. lytischen Infektion des lymphoepithelialen Gewebes (B-Zellen, Epithelzellen) mit anschließender Produktion von infektiösem EBV führt (invasive Phase). Im weiteren Verlauf (nach­ ca. 2 Wochen) kommt es zur Virämie oder mehreren virämischen Phasen. Hierbei werden EBV-infizierte B-Zellen über den Blutstrom in andere Organe (Leber, Milz, Knochenmark, Lymphknoten, evtl. ZNS) transportiert, erst nach einer Inkubationszeit von 10–50 Tagen treten die klinische Symptome auf. In den im Blut zirkulierenden B-Zellen kommt es zunächst noch zu einer lytischen EBV-Infektion mit Produktion von infektiösem Virus, später liegt nur noch eine sog. latente Infektion vor, d. h. es werden nur noch wenige Virusantigene (Kernantigene EBNA1-6 und Membranantigene LMP1 und 2) exprimiert. Diese B-Zellen werden hierdurch zu lymphoblastoiden Zellen „transformiert“ und erwerben die Fähigkeit zur unbegrenzten Teilung und Vermehrung (Immortalisation). Beim immunkompetenten Menschen werden nach einer EBVInfektion rasch aktivierte zytotoxische T-Zellen vom CD8+-Typ gebildet, die selektiv nur die EBV-infizierten B-Zellen weitestgehendeliminieren. Diese aktivierten T-Zellen bilden einen großen Anteil der typischen „Pfeiffer-Zellen“ (syn. lymphatische Reizformen, ­Virozyten) und der teilweise extremen Lymphozytose im Blutbild von Patienten mit akuter infektiöser Mononukleose (. Abb. 14.8). Nach durchgemachter EBV-Infektion persistiert EBV lebenslang in ruhenden B-Zellen im Knochenmark. EBV kann in diesen Zellen jederzeit reaktiviert werden. Bei eingeschränkter zellulärer Immunität (z. B. nach medikamentöser Immunsuppression, Aids) können sich diese B-Zellen – abhängig vom Ausmaß der Immunsuppression – expandieren und so zu schweren lymphoproliferativen Krankheitsbildern und B-Zelllymphomen führen. j jKlinik Die Ausprägung und die Dauer der klinischen Symptomatik bei ­infektiöser Mononukleose sowie assoziierter Komplikationen sind

..Abb. 14.9  Zervikale Lymphknotenschwellung bei einem 18 Jahre alten Patienten mit akuter infektiöser Mononukleose

..Abb. 14.10  Tonsillopharyngitis mit Fibrinbelägen bei einem Patienten mit infektiöser Mononukleose

in erster Linie von der Immunreaktion des Wirts abhängig. Bei Patienten mit eingeschränkter Immunität kann die Symptomatik schwächer ausgeprägt sein oder gänzlich fehlen. Weiterhin ist die Symptomatik altersabhängig: bei kleinen Kindern kann eine EBVPrimärinfektion wie ein hochfieberhafter Infekt oder auch völlig inapparent verlaufen. Akute infektiöse Mononukleose (Pfeiffer-Drüsenfieber)  Die in-

fektiöse Mononukleose ist v. a. eine Erkrankung des Adoleszenten und jungen Erwachsenen (Altersgipfel 15–19 Jahre), die das Allgemeinbefinden für Wochen stark beeinträchtigen kann. In dieser A­ltersgruppe manifestiert sich die Erkrankung nach einer häufig­ ca. 2-wöchigen Inkubationszeit typischerweise durch hohes re- oder intermittierendes Fieber für wenige Tage bis 2 Wochen, in seltenen Fällen auch bis zu 6 Wochen. Hinzu kommt immer eine generali­ sierte Lymphknotenschwellung, die im Halsbereich und im Kieferwinkel besonders ausgeprägt ist („Stiernacken“; . Abb. 14.9). Die Lymphadenopathie bildet sich meist nach der 2. Krankheitswoche langsam zurück.

295 Virusinfektionen

..Tab. 14.1  Komplikationen bei infektiöser Mononukleose Blut

Hämolytische und aplastische Anämie, Thrombozytopenie, Granulozytopenie, virusassoziiertes Hämophagozytosesyndrom (VAHS)

ZNS

Meningoenzephalitis, Zerebellitis, Guillain-BarréSyndrom, Hirnnervenparesen, Neuritiden, Querschnittmyelitis, psychotische Krankheitsbilder („Alice-im-Wunderland-Syndrom“)

Herz

Myo- und Perikarditis

Respirationstrakt

Obere Atemwegsobstruktion, lymphozytäre interstitielle Pneumonie (LIP), Pleuritis

Haut

Exanthem (v. a. nach Ampicillingabe), Kälteurtikaria, Vaskulitis, Akrozyanose, Gianotti-Crosti-Syndrom

Nieren

Interstitielle Nephritis, Glomerulonephritis

Leber

Hepatitis, Leberversagen

Milz

Ruptur

Intestinaltrakt

Pankreatitis

Immunsystema

Anergie, Hypo- und Hypergammaglobulinämie, lymphoproliferative Krankheitsbilder, maligne B- und T-Zelllymphome

a

Meist in Verbindung mit einer bereits bestehenden (primären oder sekundären) Immundefizienz

In 70–90% tritt initial eine ausgeprägte Tonsillopharyngitis mit Fibrinbelägen (. Abb. 14.10) auf, die in der 2. Krankheitswoche meist rasch abheilt. Eine Splenomegalie findet sich bei 50–60% der Patienten in der 2. und 3. Krankheitswoche. Seltener (15–25%) ist eine Hepatitis mit und ohne Ikterus. In 5–10% treten meist flüchtige morbilliforme Exantheme auf. !! Cave Werden Patienten mit Mononukleose mit Ampicillin behandelt, tritt in bis zu 100% ein meist sehr ausgeprägtes makulopapulöses Exanthem auf.

jjKomplikationen Komplikationen einer infektiösen Mononukleose können praktisch alle Organsystem betreffen (. Tab. 14.1). Das ZNS ist dabei am häufigsten betroffen (ca. 5%). Akute fatale Mononukleose  In seltenen Fällen verläuft eine in­

fektiöse Mononukleose im Kindesalter fulminant und tödlich. In fast 90% tritt hierbei eine schwere Hepatitis auf, sehr häufig ist auch eine Meningoenzephalitis. Sind Jungen betroffen, kann als Prädisposition für diese schwere Verlaufsform der Immundefekt „X-chromosomale lymphoproliferative Erkrankung“ (XLP) vor­ liegen. Chronisch-aktive EBV-Infektion  Die chronisch-aktive EBV

(CAEBV)-Infektion, die überwiegend im asiatischen Raum beobachtet wird, ist durch eine rezidivierende Mononukleosesymptomatik über viele Monate bzw. Jahre, dem zusätzlichen Auftreten von ungewöhnlichen Komplikationen wie z. B. Koronaraneurysmen, Überempfindlichkeit gegenüber Moskitostichen und einer Hydroa

..Abb. 14.11  Blut Hämolytische und aplastische Anämie, Thrombozytopenie, Granulozytopenie, virusassoziiertes Hämophagozytosesyndrom (VAHS) oder Auftreten spezifischer Antikörper während und nach einer ­unkomplizierten EBV-Primärinfektion

vacciniforme sowie einem stark erhöhten Lymphomrisiko charakterisiert. Die Prognose ist schlecht. Eine etablierte Therapie existiert nicht. Lymphoproliferative Krankheitsbilder  Kinder und Jugendliche mit angeborenen zellulären Immundefekten (X-chromosomale lymphoproliferative Erkrankung, XLP u. a.), aber auch mit erwor­be­ ner Immundefizienz (Organtransplantation, immunsuppressiver Therapie, HIV-Infektion) zeigen eine eingeschränkte Immunkompetenz gegenüber EBV. Hierdurch kommt es zu einer Verschiebung des Virus-Wirt-Gleichgewichts zugunsten des Virus. EBV-infizierte B-Zellen können daher unkontrolliert auswachsen und zu poly­ oligoklonalen B-Zell-Lymphoproliferationen bis hin zu monoklonalen malignen Lymphomen führen. Die Häufigkeit dieser Komplikationen ist direkt abhängig von der Schwere der Immunsuppression. EBV-assoziierte maligne Erkrankungen  EBV findet sich zu 100% in Tumorzellen des endemischen Burkitt-Lymphoms und des

­ asopharynxkarzinoms. Darüber hinaus lässt sich das Virus in N ­geringerer Häufigkeit auch in anderen Malignomen (M. Hodgkin, B- und ­T-Zell-Lymphome) nachweisen. Die Rolle von EBV in der Tumor­entstehung und/oder -progression ist noch weitgehend un­ bekannt.

jjDiagnose Die infektiöse Mononukleose kann meist klinisch diagnostiziert werden. Labor  Im Blutausstrich lassen sich typischerweise zahlreiche ak-

tivierte T-Lymphozyten (Pfeiffer-Zellen) nachweisen (. Abb. 14.8). In Zweifelsfällen wird bei immunkompetenten Patienten die Diagnose serologisch gesichert (. Abb. 14.11). Der Mononukleoseschnelltest zum Nachweis von heterophilen Antikörper ist im ­Kindesalter sehr wenig sensitiv und spielt in der Pädiatrie keine ­Rolle. Die Bestimmung der Viruslast im Blut mittels Polymerasekettenreaktion ist bei immunsupprimierten Patienten mit EBV-assoziierten lymphoproliferativen Krankheitsbildern sinnvoll. jjTherapie, Prävention Eine kausale virostatische Therapie gibt es nicht. Patienten mit ­unkomplizierter infektiöser Mononukleose werden rein symptomatisch behandelt. Eine Isolierung von Kindern mit infektiöser Mononukleose ist nicht erforderlich. Die kurzzeitige Gabe von Kortikosteroiden kann bei bestimmten Komplikationen einer Mononukleose

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V. Schuster und H.W. Kreth

..Abb. 14.12  Eulenaugenzellen in der Niere eines verstorbenen Kindes mit konnataler Zytomegalie

..Abb. 14.13  CMV-Chorioretinitis bei einem 14 Jahre alten Patienen unter immunsuppressiver Therapie (Mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. Handrick, Frankfurt/Oder)

(ausgeprägte Atemwegsobstruktion, Enzephalitis, Myokarditis, Thrombozytopenie etc.) wirksam sein. Bei schwerer EBV-asso­ ziierter Hämophagozytose (VAHS) kann ein frühzeitiger The­ rapieversuch nach dem HLH-2004-Protokoll [u. a. Etoposid (VP-16), Ciclosporin A und Dexametason] zur Remission führen. Bei der sehr seltenen Milzruptur ist häufig eine Splenektomie er­ forderlich.

jjÄtiopathogenese CMV gehört zur Gruppe der Herpesviren. CMV repliziert sich in epithelialen Zellen der Speicheldrüsen und der Nieren, bei schweren generalisierten Infektionen auch in Leber, Genitaltrakt, Lungen und anderen Organen. Die produktive CMV-Infektion führt in diesen Zellen zu typischen intranukleären Einschlüssen („Eulenaugenzellen“; . Abb. 14.12) und zu massiver Vergrößerung der infizierten Zellen („Zytomegalie“). Während der virämischen Phase(n) findet sich CMV überwiegend zellassoziiert in der Fraktion der polymorphkernigen Granulozyten. Nach einer Primärinfektion persistiert CMV lebenslang im Blut in Monozyten/Makrophagen sowie in anderen infizierten ­Organen (Speicheldrüsen, Nieren). Das Virus kann bei Immun­ suppression jederzeit reaktiviert werden. Bei der immunologischen Bewältigung einer CMV-Infektion spielt die zelluläre Immunität (u. a. CMV-spezifische CD8+-T-Zellen) eine entscheidende Rolle. Neutralisierende CMV-spezifische Antikörper können bei einer CMV-Infek­tion die Schwere einer CMV-Erkrankung ab­ mildern.

Immunsupprimierte Patienten  Bei angeborenen Immundefekten (XLP etc.) kann eine frühzeitige Stammzelltransplantation (Nabel-

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schnurblut, Knochenmark) zu einer Immunrekonstitution führen und so spätere Komplikationen durch EBV verhindern. Bei Auftreten von EBV-Lymphomen im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie führt die rechtzeitige Reduktion der Medikamentendosis häufig noch zu einer Rückbildung der Tumoren. Der Einsatz von monoklonalen Anti-B-Zellantikörpern (anti-CD20-Rituximab) führt bei EBV-assoziierten lymphoproliferativen Krankheitsbildern in bis zu 60% zu einer kompletten Remission. Die präsymptomatische Therapie mit Ganciclovir oder Valganciclovir kann bei Kindern nach Organtransplantationen (v. a. ­Lebertransplantation) wahrscheinlich die Häufigkeit von EBV-­ assoziierten lymphoproliferativen Komplikationen reduzieren. Bei organtransplantierten Patienten kann die Infusion von EBV-spezifischen zytotoxischen T-Zellen des Organspenders EBV-positive Lymphome zur Rückbildung bringen oder die Neuentstehung von Lymphomen verhindern (sog. „adoptiver Immuntransfer“). 14.4

Zytomegalievirusinfektionen

j jEpidemiologie Die Durchseuchungsrate mit dem Zytomegalievirus (CMV) in der Bevölkerung ist v. a. abhängig vom Alter und Lebensstandard. In Deutschland sind ungefähr 50% der erwachsenen Gesamtbevölkerung seropositiv für CMV. CMV-Infektionen als Folge von Organtransplantationen treten meist nach 4 Wochen bis 4 Monaten auf, als Folge einer Bluttransfusion bereits nach 3–12 Wochen. CMV wird horizontal über infektiöse Körperflüssigkeiten ­(Speichel, Urin, Muttermilch), Blut, Blutprodukte oder transplantierte Organe, sowie vertikal (konnatale Infektion) übertragen. CMV-positive Säuglinge und Kleinkinder können über Wochen infektiöses CMV ausscheiden.

CMV-Infektionen bei immunkompetenten und -supprimierten Personen  Die meisten CMV-Infektionen verlaufen bei immun-

kompetenten Personen asymptomatisch bzw. subklinisch. In seltenen Fällen (1:1.000) manifestiert sich eine CMV-Infektion als mononukleoseähnliches Krankheitsbild mit ähnlichen klinischen Symptomen und Blutbildveränderungen (Lymphozytose, atypische Lymphozyten). !! Cave Bei Patienten mit eingeschränkter T-Zellreaktivität (Organtransplantation, immunsuppressive Therapie, HIV-Infektion) führt eine CMV-Primärinfektion oder -Reaktivierung gehäuft zu schweren Krankheitsbildern mit Chorioretinitis ­ (. Abb. 14.13), Enzephalitis, interstitieller Pneumonie, ­Hepatitis und gastrointestinalen Komplikationen (Ösophagitis, Kolitis).

Das Risiko und die Schwere einer CMV-Erkrankung korreliert mit dem Ausmaß der Immunsuppression, der Virusmenge im Blut und anderen Faktoren, die eine Reaktivierung von CMV begünstigen (akute Graft-versus-Host-Erkrankung, Infektion mit anderen Herpesviren, CMV-seronegativer Transplantatempfänger eines CMVpositiven Organs).

297 Virusinfektionen

Konnatale CMV-Infektionen  Die Zytomegalie ist die häufigste konnatale Infektion (ca. 0,2–0,4% aller Neugeborenen). Eine CMV-Primärinfektion in der Schwangerschaft führt bei­ ca. 7–10% der infizierten Kinder zu einer schweren generalisierten CMV-Erkrankung. Eine CMV-Reaktivierung oder -Zweitinfektion in der Schwangerschaft führt dagegen nur sehr selten zu einer symptomatischen Zytomegalie beim Kind. Das Risiko für eine symptomatische konnatale Zytomegalie scheint direkt mit der Höhe von maternalen neutralisierenden CMV-spezifischen Antikörpern sowie der CMV-Virusmenge im Blut zu korrelieren. Etwa 90% aller Neugeborenen mit konnataler CMV-Infektion sind bei Geburt klinisch symptomfrei. Ein Teil dieser Kinder (7–15%) kann aber später eine bleibende Hörstörung entwickeln. Aus diesem Grund sollten bei allen Kindern mit konnataler CMV-Infektion wiederholt Hör- und Sehprüfungen veranlasst werden. Eine symptomatische konnatale Zytomegalie (nach CMV-Erstinfektion in der Schwangerschaft) ist eine Multisystemerkrankung mit hoher Morbidität und Letalität. Erkrankte Kinder zeigen eine ausgeprägte intrauterine Wachstumsretardierung, Ikterus, Hepatosplenomegalie, Thrombozytopenie mit Petechien (77%), Pneumonie sowie schwerste ZNS-Schädigungen (bis zu 70%) mit Mikrozephalus (53%), intrazerebralen Verkalkungen, Chorioretinitis, späterer Taub- und Blindheit und geistiger Behinderung. Die Letalität liegt bei bis zu 30%. Für die Einschätzung von späteren neurologischen Defiziten scheint ein Schädel-CT oder MRT die derzeit sensitivste Methode zu sein. Der Nachweis von CMV-DNA sowie eine Eiweißerhöhung im Liquor sind wahrscheinlich mit einer schlechteren Prognose hinsichtlich der neurologischen Entwicklung assoziiert. Die schlechteste Prognose haben konnatale CMV-Infektionen häufig dann, wenn sie im 1. Trimenon auftreten. Peri- und postnatale CMV-Infektionen  Infektionen, die durch

CMV im Zervikal- und Vaginalsekret bzw. durch infektiöse Muttermilch übertragen werden, verlaufen bei reifgeborenen, immunkompetenten Kindern meist asymptomatisch oder mild.

CMV-Infektionen bei Frühgeborenen  Bei sehr kleinen Frühgeborenen kann eine perinatale CMV-Infektion (v. a. via CMV-positive Muttermilch) eine schwere interstitielle Pneumonie, Hepatosplenomegalie und ein sepsisähnliches Krankheitsbild verursachen. Die Letalität liegt bei 24%.

jjDiagnose Sensitive und spezifische Parameter für eine floride CMV-Infektion sind der quantitative Nachweis des CMV-Antigens pp65 oder des CMV-Genoms (PCR) im Blut (oder anderen Körperflüssigkeiten). Beide Methoden erlauben eine Bestimmung der Viruslast und somit auch das Monitoring einer virostatischen Therapie mit Ganciclovir bzw. Valganciclovir. Der „klassische Nachweis“ von CMV besteht­ in der Isolierung aus verschiedenen Körperflüssigkeiten (Urin, ­Speichel etc.). >> Die Diagnose einer CMV-Erkrankung erfordert neben der ­klinischen Symptomatik auch den Nachweis einer aktiven CMV-Infektion (hohe CMV-Antigenämie, hohe Viruslast im Blut mittels PCR) oder den CMV-Nachweis im symptomatischen Organ (bronchoalveoläre Lavage, Liquor).

Mit serologischen Methoden (ELISA, indirekte Immunfluoreszenz) kann eine CMV-Primärinfektion anhand einer Serokonver­ sion dokumentiert werden. Diesbezüglich wäre es wünschenswert, wenn bei allen Frauen im gebährfähigen Alter der CMV-Antikör-

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perstatus untersucht würde: Bei allen CMV-seropositiven Frauen besteht im Falle einer CMV-Infektion/-Reaktivierung in der Schwangerschaft nur ein sehr geringes Risiko für eine symptomatische CMV-Infektion des Feten. !! Cave Bei symptomatischen Frühgeborenen und Neugeborenen kann die Serologie (Anti-CMV-IgM) negativ sein. In diesem Fall ist der Nachweis von CMV im Urin, Blut und/oder Liquor entscheidend.

jjTherapie Konnataler Therapieversuch bei Zytomegalie  Beim Manage-

ment einer symptomatischen konnatalen CMV-Infektion ergeben sich mehrere grundsätzliche Probleme, die z. Zt. noch ungelöst sind: 44 Ein Großteil der Kinder mit konnataler symptomatischer CMV-Infektion zeigen bei Geburt schwere neurologische ­Auffälligkeiten, die zu diesem Zeitpunkt bereits irreversibel sind. 44 Die CMV-Replikation persistiert auch nach Geburt über mehrere Jahre, mögliche neurologische Komplikationen können sich u. U. erst später in den ersten Lebensjahren manifestieren.

Bei symptomatischer pränatal erworbener CMV-Infektion (konnatale Zytomegalie) ist zur Vermeidung einer progredienten Innenohrschwerhörigkeit eine 6-monatigen Behandlung (initial meist mit intravenösem Ganciclovir (2-mal 4–6 mg/kgKG/Tag i.v. über 6 Wochen) mit anschließend oral applizierbarem Valganciclovir, 2×16 mg/kgKG/Tag p.o. über insgesamt bis zu 6 Monate) sinnvoll (evidenzbasierte Empfehlungen). Beide Substanzen sind für Kinder und Jugendliche allerdings nicht zugelassen, der Einsatz ist daher nur als off-label use möglich. Die Gabe von CMV-Immunglobulin kann wahrscheinlich bei Schwangeren das Risiko einer CMV-Primärinfektion einerseits ­sowie die Folgen einer CMV-Infektion für den Feten andererseits reduzieren. Therapie bei immunsupprimierten Patienten  Bei der Therapie der CMV-Retinitis sind Ganciclovir, Valganciclovir, Foscarnet und Cidofovir teilweise wirksam. Die Erfahrungen bei Kindern sind noch sehr begrenzt. Die Prognose einer CMV-Pneumonie oder CMV-Enzephalitis ist trotz Therapie mit Ganciclovir und/oder Foscarnet mit und ohne zusätzliches CMV-Immunglobulin meist sehr schlecht. Bei Infektionen durch ganciclovirresistente CMV-Isolate kann ein Therapieversuch mit Foscarnet unternommen werden.

jjProphylaxe Transfusionspflichtige Früh- und Neugeborene sowie immunsupprimierte Patienten sollten nur leukozytenfreie, gefilterte Blutprodukte erhalten. CMV-seronegative Transplantatempfänger sollten möglichst das Organ eines CMV-negativen Spenders erhalten. Das hohe Infektionsrisiko durch CMV-positive Muttermilch bei sehr kleinen Frühgeborenen kann durch Pasteurisierung der Muttermilch reduziert werden. Durch prophylaktische oder frühzeitige Gabe von wirksamen Virostatika (Ganciclovir, Valganciclovir,­ ggf. Foscarnet oder Cidofovir) kann die Inzidenz von symptoma­ tischen CMV-Erkrankungen bei Patienten mit Aids oder nach Organtransplantationen herabgesetzt werden. Bei knochen­ marktransplantierten Patienten kann die Infusion von CMV-spezifischen zytotoxischen CD8+-T-Zellen des Organspenders zu einem immunologischen Schutz vor späten CMV-Komplikationen führen („adoptiver Immuntransfer“).

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V. Schuster und H.W. Kreth

Durch strikte hygienische Maßnahmen (Händedesinfektion!) muss das Risiko einer CMV-Infektion von seronegativen Schwan­ geren (medizinisches Personal, Patientinnen, Besucherinnen) und immunsupprimierten Personen minimiert werden. Kinder, die CMV ausscheiden, dürfen Kindergarten und Schule besuchen, eine Isolierung im Krankenhaus ist im Allgemeinen nicht gerechtfertigt. >> Bei Schwangeren mit einer primären CMV-Infektion kann die frühzeitige Gabe von CMV-Immunglobulin das Risiko einer schweren konnatalen Zytomegalie beim Feten wahrscheinlich senken.

14.5

Herpesvirus-Typ-6-Infektionen

j jEpidemiologie Herpesvirus Typ 6 (HHV-6) kommt ubiquitär vor. Die Durchseuchung in der Bevölkerung liegt zwischen 80 und 100%. Die meisten HHV-6-Infektionen treten bereits im 1. Lebensjahr auf. Neutralisierende mütterliche Antikörper gegen HHV-6 bieten nur einen unvollständigen Nestschutz. Für die immunologische Bewältigung spielen HHV-6-spezifische CD8+-T-Zellen eine wichtige Rolle. Die Übertragung erfolgt meist über infektiösen Speichel, möglicher­ weise auch aerogen durch Tröpfchen. Die Inkubationszeit beträgt 5–15 Tage.

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j jÄtiopathogenese HHV-6 gehört zur Gruppe der Herpesviren. Es gibt 2 Serotypen (6A und 6B), von denen meist Typ 6B mit Krankheiten assoziiert ist. Während der klinischen Symptomatik (Erythema subitum) kann HHV-6 im Plasma und zellassoziiert (CD4+-T-Zellen) nachgewiesen werden. Später findet sich das Virus nur noch in Makrophagen, wo das Virus lebenslang persistiert. HHV-6 kann jederzeit reaktiviert werden, z. B. durch Immunsuppression oder durch andere Virus­ infektionen. Exanthema subitum  Das Exanthema subitum (Dreitagefieber,

Roseola infantum, „sixth disease“) ist eine Erkrankung des Säuglings- und frühen Kleinkindesalters und wird in den meisten Fällen durch eine HHV-6-Primärinfektion (seltener durch HHV-7) verursacht. Der Verlauf ist charakterisiert durch akut auftretendes Fieber (39,4–41,2°C), welches meist nach 2–5 Tagen abrupt abfällt. Das makulöse oder leicht makulopapulöse Exanthem tritt häufig bei Entfieberung auf. Dies ist überwiegend im Bereich von Stamm und Nacken lokalisiert. Es kann konfluieren und sich auf Extremitäten und Gesicht ausbreiten. Der Hautausschlag blasst normalerweise nach 3 Tagen ab. Zu den Begleitsymptomen und Komplikationen, die meist schon im Frühstadium (Tag 1–4) auftreten, gehören Gastroenteritis (55–70%), Lidödeme (bis 30%), Nagayama-Flecken (Papeln auf dem weichen Gaumen und der Uvula 65%), Husten (50%), zervikale Lymphadenopathie (30–35%), vorgewölbte Fontanelle (26–30%) sowie Fieberkrämpfe (5–35%). Die Angaben über die Häufigkeit ­eines Exanthema subitum nach einer Primärinfektion mit HHV-6 schwanken stark. Primärinfektionen mit HHV-6 stellen insgesamt eine häufige Ursache von hochfieberhaften Infekten (mit und ohne Exanthem) bei Kleinkindern dar. Fieberkrämpfe und andere klinische Manifestationen  Während einer HHV-6-Primärinfektion kommt es nicht selten zu einer Invasion des Virus in das ZNS. Bei bis zu 40% von Kindern mit florider

HHV-6-Infektion kann das Virus im Liquor nachgewiesen werden, wobei entzündliche Liquorveränderungen (Pleozytose, Eiweißvermehrung) fehlen. Fieberkrämpfe treten in bis zu 35% auf. Zu den seltenen neurologischen Komplikationen gehören die Meningoenzephalitis und das Guillain-Barré-Syndrom. In wenigen Fällen kann eine HHV-6-Infektion, v. a. bei älteren Kindern, auch mit einer ­mononukleoseähnlichen Symptomatik, einer fulminanten Hepatitis, einem schwer verlaufenden Hämophagozytosesyndrom sowie mit der Verschlimmerung einer idiopathischen Thrombozytopenie (ITP) assoziiert sein. HHV-6-Infektionen bei immunsupprimierten Patienten  Nach Organtransplantation kommt es häufig (in bis zu 80%) zu einer Reaktivierung von HHV-6, die möglicherweise zu einer vermehrten

Transplantatabstoßung führt. Nach HHV-6-Infektion bzw. -Reaktivierung können folgende klinische Komplikationen auftreten: interstitielle Pneumonie, Graft-versus-Host-Erkrankung (GvHD) mit und ohne Exanthem, Enzephalopathie und Knochenmarksuppression (nach Knochenmarktransplantation). Inwieweit diese Komplikationen tatsächlich ursächlich nur durch HHV-6, oder möglicherweise erst in Verbindung mit zusätzlichen Infektionen (HIV, CMV und andere Herpesviren) hervorgerufen werden, ist derzeit nicht bekannt. jjDiagnose Die Diagnose eines Exanthema subitum kann bei typischer Aus­ prägung klinisch gestellt werden. Labor  Am 3. und 4. Fiebertag fällt im Blutbild häufig eine Leukopenie mit relativer Lymphozytose (bis zu 90%) auf. Eine vermutete

HHV-6-Primärinfektion wird durch den serologischen Nachweis von HHV-6-spezifischen Antikörpern (Anti-HHV-6-IgM und/oder Anstieg von Anti-HHV-6-IgG) bestätigt. Eine HHV-6-Reaktivierung bei immunsupprimierten Kindern kann bei akut ansteigenden ­Anti-HHV-6-Antikörpertitern (bei bekannten Ausgangstitern) vermutet werden. HHV-6-DNA kann mittels PCR nachgewiesen werden (Speichel, Blut, Plasma, Liquor, Urin). !! Cave Die Interpretation einer positiven HHV-6-Serologie und/oder -PCR kann u. U. sehr schwierig sein: sie darf daher immer nur in Verbindung mit dem klinischen Bild gewertet werden.

jjTherapie, Prophylaxe Eine spezifische Therapie existiert nicht. Bei hohem Fieber erfolgt eine adäquate symptomatische Fiebersenkung. Bei (immunsupprimierten) Patienten mit schweren HHV-6-assoziierten Komplika­ tionen (Pneumonie, Enzephalitis) ist ein Therapieversuch mit ­ oscarnet und/oder Ganciclovir, zu erwägen. F 14.6

Herpesvirus-Typ-7-Infektionen

jjEpidemiologie Auch Herpesvirus Typ 7 (HHV-7) kommt ubiquitär vor. Die Durchseuchung in der Bevölkerung liegt z. T. bei über 90%. In den ersten 6 Lebensmonaten ist eine HHV-7-Infektion sehr selten, am Ende des 1. Lebensjahr sind bis zu 30%, am Ende des 6. Lebensjahrs bis zu 86% der Kinder seropositiv. Die Primärinfektion mit HHV-7 erfolgt i. A. deutlich später als die mit HHV-6. Die Übertragung erfolgt über infektiösen Speichel, u. a. innerhalb der Familie, und möglicherweise auch über infizierte Muttermilch.

299 Virusinfektionen

jjÄtiopathogenese HHV-7 gehört zur Gruppe der Herpesviren. Die Pathogenese ist ähnlich wie bei der HHV-6-Infektion. jjKlinik HHV-7 ist (neben HHV-6) der Erreger des Exanthema subitum (Dreitagefieber, Roseola infantum). Im Vergleich zu HHV-6 scheint HHV-7 insgesamt in einer höheren Frequenz zu Fieberkrämpfen zu führen. Das mittlere Alter bei symptomatischen HHV-7-Infektionen liegt bei 26 Monaten, bei HHV-6-Infektionen bei ca. 9 Monaten. Gelegentlich führt eine HHV-7-Infektion bei älteren Kindern auch zu einem mononukleoseähnlichen Krankheitsbild. In den meisten Fällen verlaufen HHV-7-Infektionen allerdings subklinisch oder ­gehen mit einem unspezifischen fieberhaften Infekt einher.

jjDiagnose, Therapie Die Diagnose eines Kaposi-Sarkoms und der HHV-8-assoziierten Lymphome erfolgt klinisch/pathohistologisch. HHV-8 kann ggf. mittels PCR im Speichel, im Blut oder in Tumorgewebe nachge­ wiesen werden. Eine spezifische Therapie existiert nicht. KaposiSarkome sprechen teilweise auf eine Therapie mit Interferon-α oder Chemotherapeutika an. 14.8

Hepatitis A

jjEpidemiologie Die Hepatitis A ist eine weltweit verbreitete Virusinfektion. In ­südlichen Ländern und Ländern der Dritten Welt findet sich eine bis zu 100%ige Durchseuchung bereits im Kindesalter, in IndustrielänjjDiagnose, Therapie dern liegt die Seroprävalenz im Erwachsenenalter bei ca. 10–30%, Die Diagnose eines Exanthema subitum erfolgt bei typischer Symp- bei Jugendlichen unter 18 Jahren bei 5–10%. tomatik klinisch. Nur in Ausnahmefällen scheint eine weitere Die Übertragung erfolgt meist auf fäkal-oralem Weg, selten ­virologische Abklärung gerechtfertigt. HHV-7 kann mittels Polyme- ­parenteral über infizierte Blutprodukte. Infektionsquellen sind u. a. rasekettenreaktion im Speichel, im peripheren Blut, in lymphati- kontaminiertes Wasser und verunreinigte Nahrungsmittel (z. B. schem Gewebe und teilweise auch in der Muttermilch nachgewiesen ­Muscheln, Meeresfrüchte) sowie Kontakt mit infektiösen Personen. werden. Der Nachweis von HHV-7-spezifischen Serumantikörpern Kleinepidemien können v. a. in Kindergärten, Tagesstätten, Schulen erfolgt mittels indirekter Immunfluoreszenz oder ELISA. Zu berück- und anderen Gemeinschaftseinrichtungen auftreten. sichtigen ist hierbei, dass Antikörper gegen HHV-7 teilweise auch Die Virusausscheidung im Stuhl beginnt am Ende der Inkubamit HHV-6 kreuzreagieren können. tionszeit. Sie ist kurz vor Auftreten der klinischen Symptome am Eine spezifische Therapie oder eine Impfung gegen HHV-7­ stärksten und dauert nach Krankheitsausbruch (v. a. Ikterus) meist gibt es nicht. Bei schwerem klinischem Verlauf erfolgt eine entspre- nur noch wenige Tage bis 2 Wochen. Während der Inkubationszeit chende symptomatische Therapie. und der frühen Erkrankungsphase (bis ca. 1 Woche nach Erkrankungsbeginn) ist auch eine Virämie nachweisbar. Die Inkubationszeit beträgt im Durchschnitt 4 Wochen (Streubreite 14–48 Tage). 14.7 Herpesvirus-Typ-8-Infektionen jjÄtiologie jjEpidemiologie Das Hepatitis-A-Virus (HAV) gehört zur Familie der Picornaviren Das Herpesvirus Typ 8 (HHV-8) kommt ebenfalls ubiquitär vor. Die (pico, klein). HAV selbst scheint nur gering zytopathisch zu sein, die Seroprävalenz in der Bevölkerung ist in afrikanischen Ländern und Leberschädigung und die daraus resultierende klinische Hepatitis in Japan (bis zu 100%) deutlich höher als in Europa und in den USA wird wahrscheinlich überwiegend durch die Immunreaktion des (20–30%). Wirts (v. a. zytotoxische T-Zellen) verursacht. >> Praktisch alle Patienten mit Kaposi-Sarkom sowie homo­ sexuelle HIV-positive Männer sind HHV-8-seropositiv.

HHV-8 wird überwiegend (homo)sexuell übertragen. Die An­ steckung von Kindern und Jugendlichen erfolgt wahrscheinlich über infektiösen Speichel. Bei Nierentransplantationen kann eine Transmission von HHV-8 in bis zu 10% erfolgen. jjÄtiologie HHV-8 gehört zur Gruppe der Herpesviren. HHV-8 zeigt in vitro und teilweise auch in vivo einen Tropismus zu CD19+-B-Zellen, zu endothelialen Zellen und Ganglienzellen. Mit HHV-8 assoziierte Krankheitsbilder  HHV-8 ist wahrscheinlich an der Entstehung des Kaposi-Sarkoms beteiligt. Betroffen sind

überwiegend immunsupprimierte Personen (v. a. Patienten mit Aids). In bestimmten Regionen Afrikas kommt das HHV-8-assoziierte Kaposi-Sarkom auch in endemischer Form bei immungesunden Kindern vor. Weiterhin ist HHV-8 mit bestimmten B-Zelllymphomen und der Castleman-Krankheit assoziiert. Diese Erkrankungen treten überwiegend im Erwachsenenalter auf. Bei immunkompetenten Kindern manifestiert sich eine ­HHV-8-Primärinfektion wahrscheinlich durch ein fieberhaftes Krankheitsbild mit makulopapulösem Exanthem oder ein mononukleoseähnliches Krankheitsbild.

jjKlinik Die meisten HAV-Infektionen im Kindesalter verlaufen subklinisch. Die klinisch manifeste Hepatitis A beginnt meist abrupt mit unspezifischen Symptomen wie Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Abgeschlagenheit, Durchfall und Bauchschmerzen. Nach einigen Tagen tritt v. a. bei älteren Kindern der typische Ikterus auf, die Allgemein­ symptome bilden sich zeitgleich schnell zurück. Bei den ikterischen Kindern ist der Stuhl entfärbt, der Urin dunkel. Die Leber ist ver­ größert und druckschmerzhaft. Die Symptomatik bildet sich meist innerhalb von 4 Wochen wieder vollständig zurück. Zwei- und mehrphasige Verläufe über Monate kommen in 4–20% vor. Die Hepatitis heilt aber auch in diesen Fällen praktisch immer folgenlos aus. Chronische Erkrankungen und ein asymptomatischer HAV-Trägerstatus sind nicht bekannt. Extrahepatische klinische Manifestationen bei Hepatitis A wie Arthritis, hämolytische Anämie, Nierenversagen oder Meningoenzephalitis sind in Einzelfällen beschrieben worden. !! Cave Eine fulminante Hepatitis tritt in 0,5–1% aller HAV-Infektionen auf.

Gefährdet sind u. a. Patienten mit gleichzeitig bestehender chronischer Hepatitis C. Das Krankheitsbild ist gekennzeichnet durch ein schnell zunehmendes Leberversagen. Die Letalität ist hoch.

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2 Wochen nach den ersten Krankheitssymptomen dürfen Kinder wieder die Schule oder den Kindergarten besuchen. Zur Ver­meidung von Schmierinfektionen gehören allgemeine Hygienemaßnahmen wie gute Körperhygiene, sorgfältiges Händewaschen und die Desinfektion von kontaminierten Gegenständen. Für alle akuten Virus­ hepatitiden besteht eine Meldepflicht bei Krankheitsverdacht, ­Erkrankung und Tod. 14.9

..Abb. 14.14  Verlauf einer akuten Hepatitis A

j jDiagnose Die Diagnose einer HAV-Infektion sollte immer erwogen werden, wenn bei mehreren Familienangehörigen oder anderen Kontaktpersonen ein Ikterus und gastrointestinale Begleitsymptome auftreten. Labor  Die Diagnose eine HAV-Infektion wird durch den Nachweis von virusspezifischen Antikörpern im Serum (Anti-HAV-IgM po-

sitiv und/oder Anstieg von Anti-HAV-IgG) gesichert (. Abb. 14.14). Mit Ausbruch der Erkrankung werden Anti-HAV-IgM-Antikörper gebildet, die für 3–12 Monate im Blut nachweisbar sein können. Die Anti-HAV-IgG-Antikörper persistieren (wahrscheinlich) lebenslang und sind Ausdruck von Immunität.

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jjTherapie Eine spezifische Therapie gibt es nicht. Bettruhe und spezielle Diäten haben keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf und sind nicht indiziert. Symptomatische Maßnahmen richten sich nach den jeweiligen Beschwerden. Im seltenen Fall einer fulminanten Hepatitis ist eine Lebertransplantation zu erwägen. jjProphylaxe Die Hepatitis-A-Impfung (2 Injektionen im Abstand von 6 Monaten; für Kinder zugelassen ab dem 2. Lebensjahr) kann bei recht­ zeitiger Gabe eine symptomatische Wildvirusinfektion wirksam verhindern. Sie wird allen potenziell gefährdeten immungesunden Personen (u. a. seronegatives Personal in medizinischen Einrichtungen und Kindertagestätten, Reisende in Regionen mit hoher HAV-Prävalenz, Patienten mit chronischer Hepatitis C) empfohlen. Bereits 2 Wochen nach der 1. Impfung sind über 95% der Geimpften geschützt. Diese Impfung schützt z. T. auch dann noch, wenn sie in der frühen Inkubationszeit gegeben wird (sog. Inkubations- oder „Riegelungsimpfung“). Nach einer vorausgegangenen Wildvirusexposition kann durch frühzeitige einmalige Gabe von Immunglobulinen der Ausbruch einer Hepatitis A verhindert oder der Verlauf abgemildert werden (Postexpositionsprophylaxe). Werden die Immunglobuline erst nach einem Intervall von 10(–14) Tagen gegeben, ist keine Wirkung mehr zu erwarten. Im Durchschnitt gelten Patienten in einem Zeitraum von 2 Wochen vor bis 2 Wochen nach Ausbruch der Erkrankung als ansteckend. Hospitalisierte Kinder mit einer Hepatitis A sollten, sofern dies aus medizinischer Sicht vertretbar ist, nach Diagnosestellung schnellstmöglich nach Hause entlassen werden. Ansonsten erfolgt eine Isolierung (Einzelzimmer, Kohortierung) für max. 2 Wochen.

Hepatitis B

jjEpidemiologie Das Hepatitis-B-Virus ist weltweit sehr verbreitet, schätzungsweise 300–500 Mio. Menschen sind HBsAg-Träger und stellen eine fortwährende Infektionsquelle dar. Hinsichtlich der Durchseuchung in der Bevölkerung bestehen große geographische Unterschiede. In Nordeuropa einschließlich Deutschland sowie den USA sind­ ca. 0,1–0,5% der Bevölkerung Träger des HBsAg, in Westafrika sind dies bis zu 20%. Wichtigste Infektionsquelle für Kinder ist die vertikale In­ fektion sub partu. Die Infektionsrate des Neugeborenen liegt bei 70–90%, wenn die Mutter HBeAg-positiv ist. Ist die Mutter HBeAgnegativ, liegt das Infektionsrisiko für das Kind bei 20–25%. Die ­horizontale Übertragung von HBV erfolgt durch Kontakt mit virushaltigem Blut oder Blutprodukten sowie bei sexuell aktiven ­Jugendlichen und Erwachsenen durch Geschlechtsverkehr. >> Für eine HBV-Infektion reichen minimale Blutmengen aus, eine Übertragung ist daher auch über kleine Haut- und Schleimhautläsionen möglich.

HBV findet sich bei infektiösen Patienten in allen Körperflüssigkeiten, Sekreten und Exkreten. Die höchste Viruskonzentration findet sich im Blut. Die Übertragung von HBV durch Bluttransfusionen oder durch Gabe von Plasmafaktoren ist aufgrund der hohen standardisierten Sicherheitsmaßnahmen in Deutschland jedoch sehr selten. Die Inkubationszeit schwankt zwischen 45 und 160 Tagen. jjÄtiopathogenese Das Hepatitis-B-Virus gehört zur Familie der Hepadna-Viren (Abkürzung für Hepatitis und DNA). HBV enthält eine zirkuläre, ­teilweise doppelsträngige DNA sowie 3 wichtige Antigene: 44 das Hepatitis-B-Virus-Oberflächenantigen (HBsAg) in der ­Virushülle, 44 das Hepatitis-B-Virus-Core-Antigen (HBcAg) im ­ Viruskern, 44 das Hepatitis-B-e-Antigen (HBeAg), welches nach proteolytischer Spaltung aus dem HBcAg entsteht. Das Hepatitis-B-Virus infiziert menschliche Hepatozyten, ohne selbst direkt zytopathogen zu sein. Die Leberschädigung (und die daraus resultierende klinische Symptomatik) im Rahmen einer HBV-Infektion wird durch die mehr oder weniger starke Immunreaktion des Wirts (u. a. CD8+-zytotoxische T-Zellen) hervorgerufen. In der Mehrzahl der Fälle führt die humorale und zelluläre Immunität zu einer akuten Hepatitis und zur anschließenden vollständigen Elimination aller Virusantigene und des Virusgenoms. Die pathogenetischen Mechanismen für das Auftreten einer chronischen Hepatitis B oder von asymptomatischen infektiösen HBsAg-Trägern sind allerdings noch weitgehend ungeklärt. Für das Auftreten von Begleiterkrankungen im Rahmen einer Hepatitis B wie z. B. Glomerulonephritis, Polyarthralgien etc. wer-

301 Virusinfektionen

a

b

..Abb. 14.15  Exanthem bei Hepatitis-B-Infektion. a Gianotti-Crosti-Syndrom, b Detail. (Mit freundl.Genehmigung von Prof. Dr. Handrick, Frankfurt/Oder)

..Abb. 14.16  Verlauf der unkomplizierten akuten Hepatitis B

..Abb. 14.17  Virologische Parameter bei chronischer Hepatitis B

den zirkulierende Immunkomplexe, die u. a. das HBsAg enthalten, mitverantwortlich gemacht. Bestimmte Virusmutanten, v. a. PräCore-Mutanten, stehen im Verdacht, gehäuft für das Auftreten von fulminanten oder schweren chronischen Verläufen verantwortlich zu sein.

Chronische Hepatitis B  Persistieren HBsAg und HBV-Genom im Serum länger als 6 Monate, spricht man von einer chronischen

jjKlinik Akute Hepatitis B  In den meisten Fällen (70–75%) verläuft eine HBV-Infektion asymptomatisch oder subklinisch. Klinisch ähnelt die Hepatitis B der Hepatitis A. 44 Vor der klinischen Manifestation einer Hepatitis treten bei ­einem Teil der Patienten ca. 6–7 Wochen nach Infektion unspezifische P ­ rodromalsymptome auf wie tage- und manchmal wochenlanges Abgeschlagensein, große Müdigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall, Arthralgien und ­verschiedene Exantheme (u. a. urtikariell, makulopapulös, ­Gianotti-Crosti-Syndrom; . ­  Abb. 14.15). 44 Etwa 8 Wochen nach Infektion tritt bei ca. 25% ein Ikterus auf, der 4 Wochen lang persistiert (. Abb. 14.16). Die Leber ist ver­ größert vund bei der Palpation von weicher Konsistenz. Häufig ­besteht zusätzlich eine Splenomegalie und Lymphadenopathie. Die Krankheitssymptome dauern meist 6–8 Wochen an. In den meisten Fällen heilt eine akute Hepatitis B vollständig aus.

­Hepatitis  B (. Abb. 14.17). Klinische Symptome können sich, in Abhängigkeit von der Immunreaktion des Wirts, in einer schweren oder nur leichten Hepatitis manifestieren oder aber auch vollkommen fehlen (asymptomatische HBsAg-Träger). Bei Immunsupprimierten verläuft eine HBV-Infektion häufig klinisch milder, allerdings mit einem erhöhten Risiko für einen chronischen Verlauf. >> Das Risiko für eine chronische HBV-Infektion ist insgesamt ­altersabhängig, es ist bei HBV-infizierten Neugeborenen am höchsten (bis zu 90%) und nimmt bis zum Erwachsenenalter (5–10%) kontinuierlich ab.

Pathohistologisch unterscheidet man die chronisch-aktive Hepatitis B mit ausgeprägter Entzündungsaktivität („Mottenfraßnekrosen“) von der meist milderen chronisch-persistierenden Hepatitis B. Im Verlauf kommt es bei einem Teil der Patienten zu einer Serokonversion von HBeAg zu anti-HBe, bei diesen Patienten ist die Viruslast niedrig. Eine komplette Viruselimination (Nachweis von anti-HBs) ist sehr selten. Zu den Langzeitkomplikationen einer chronischen Hepatitis B gehören Leberzirrhose (5–20%) und die Entstehung eines Leberzellkarzinoms.

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302

V. Schuster und H.W. Kreth

j jDiagnose Die Diagnose und der Verlauf einer HBV-Infektion lassen sich meist sehr genau am Erscheinen und Verschwinden der viralen Antigene (HBsAg, HBcAg, HBeAg) und antiviralen Antikörper (anti-HBs, anti-HBc, anti-HBe) überprüfen. Anhand des „Profils“ der im ­Serum nachgewiesenen Virusantigene und -antikörper können Aussagen über den Zeitpunkt der Infektion, Aktivität und mögliche Chronizität der Erkrankung gemacht werden (. Abb. 14.16 und . Abb. 14.17): 44 Die Diagnose einer frischen HBV-Infektion erfolgt durch den Nachweis von HBsAg und IgM-Antikörpern gegen HBc (. Abb. 14.16). 44 Das Auftreten von Anti-HBs-Antikörpern (meist nach ­ 6 Monaten) deutet auf eine komplikationslos ausgeheilte­ ­Infektion hin. 44 Die Persistenz von HBsAg, HBeAg und Virus-DNA z. T. in ­hohen Konzentrationen im Blut sowie das Ausbleiben von antiHBs- und anti-HBe-Antikörpern sind ein indirekter Hinweis für eine chronisch-aktive oder chronisch-persistierende ­Hepatitis  B (. Abb. 14.17) und zeigen außerdem an, dass der Patient infektiös ist.

jjProphylaxe Das Screening aller Blutspender auf HBsAg hat das Risiko der HBVInfektion drastisch gesenkt. Hygienische Maßnahmen können perkutane und mukokutane Infektionen verhindern. Beim Umgang mit Blut und anderem infektiösem Material sind Handschuhe und Einmalgeräte zu verwenden. Eine Isolierung von HBs-Ag-positiven Patienten im Krankenhaus ist nicht erforderlich. Infektiöse Schwangere sollten allerdings in einem separaten Kreißsaal entbinden. HBsAg-positives Krankenhauspersonal stellt für Patienten insgesamt ein geringes Risiko dar. HBsAg-positive Kinder dürfen Gemeinschaftseinrichtungen (Kindergarten, Schule) meist besuchen. Empfohlen wird hierbei, alle übrigen Gruppenmitglieder – falls noch nicht im Rahmen der Grundimmunisierung bereits geschehen – aktiv zu impfen. Die Aktivimpfung mit rekombinantem HBsAg gehört seit 1996 zu den allgemein empfohlenen Impfungen bei Säuglingen, Kleinkindern und Adoleszenten bis zum 18. Lebensjahr (7 Kap. 17). Weitere Indikationen sind seronegative Risikopersonen, z. B. Angestellte im Gesundheitswesen. Die Impfung schützt nicht vor Infektionen mit HBV-Varianten mit Mutationen im HBsAg.

Immuntolerante, asymptomatische HBsAg-positive Kinder weisen im Blut teilweise ebenfalls hohe Konzentrationen von HBeAg und Virus-DNA auf, sie sind in diesen Fällen hochinfektiös.

Bei allen Schwangeren muss ein Screening auf HBsAg durchgeführt werden.

>> Bester Parameter für die Infektiosität bei chronischen symptomatischen und asymptomatischen HBV-Infektionen ist die Viruslast im Blut (und in der Leber).

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j jTherapie Eine etablierte virostatische Therapie für die chronische Hepatitis B bei Kindern existiert noch nicht. Die symptomatische Behandlung richtet sich nach den allgemeinen Beschwerden. Hepatotoxische Medikamente sowie Kortikosteroide (erhöhtes Risiko für Virus­ persistenz) sollten vermieden werden. Interferon-α-Therapie

Die Therapie mit Interferon-α führt bei Erwachsenen und Kindern mit einer chronischen Hepatitis B zu einer – im Vergleich zum Spontanverlauf – höheren Serokonversionsrate von HBeAg zu anti-HBe (30–40%). 6–10% der behandelten Kindern werden im weiteren Verlauf HBsAg-negativ. Dieser Befund entspricht der Viruselimination. Die Hauptargumente für eine Therapie mit (möglichst pegyliertem) Interferon-α im Kindesalter liegen in der zeitlich vorgezogenen ­Anti-HBe-Serokonversion im Erfolgsfall und der damit verbun­ denen deutlich niedrigeren Infektiosität. So könnte die Dauer der pro­gredienten Krankheitsaktivität und damit das Leberzirrhose­ risiko reduziert werden. Langzeitergebnisse werden allerdings erst in ­frühestens 10 Jahren verfügbar sein. Das Wirkungsmaximum des Interferon-α liegt zwischen der 8. und 16. Behandlungswoche.­ ­Prognostisch günstig für eine Interferon-α-Behandlung sind eine niedrige HBV-DNA-Konzentration im Serum, hohe Transaminasenwerte sowie eine histologisch nachgewiesene aktive Hepatitis. Nukleosidanaloga  Eine Monotherapie mit dem Nukleosidanalogon Lamivudin („off label use“) über ein Jahr hat sich auch bei ­Kindern mit chronischer HBV-Infektion als wirksam erwiesen. ­Allerdings kommt es hierunter schnell zu einer Selektion von lamivudinresistenten HBV-Stämmen. Der Einsatz von weiteren Nuk­ leotidanaloga (Adefovir, u. a.) befindet sich noch im Erprobungs­ stadium.

!! Cave

Neugeborene HBsAg-positiver Mütter erhalten am besten noch im

Kreißsaal, ansonsten innerhalb der ersten 12 h post partum simultan 0,5 ml Hepatitis-B-Impfstoff i.m. sowie auf der kontralateralen Seite 0,5 ml/kgKG Hepatitis-B-Immunglobulin i.m. Nach 4 Wochen und 6 Monaten erfolgt eine weitere Impfung. Geimpfte Neugeborene dürfen gestillt werden. Mutter und Kind müssen nach Geburt nicht isoliert oder voneinander getrennt werden. Bei nichtimmunen Personen mit fehlenden oder erniedrigten Anti-HBs-Antikörpern wird nach Kontakt mit virushaltigem Blut oder Sekret schnellstmöglich (spätestens innerhalb von 12 h) Hepatitis-B-Immunglobulin i.m. verabreicht (Postexpositionsprophy­ laxe). Gleichzeitig sollte möglichst auch aktiv geimpft werden.

14.10

Hepatitis C

jjEpidemiologie HCV-Infektionen kommen ubiquitär vor. Die Durchseuchung in der Gesamtbevölkerung liegt in Deutschland bei ca. 0,4%, in den USA bei 1,8%. Ähnlich wie bei Hepatitis-B-Infektionen findet sich auch für HCV-Infektionen eine deutlich erhöhte Seroprävalenz bei Risikogruppen wie Drogenabhängigen, Hämophilie- und Dialysepatienten sowie Personen mit häufig wechselnden Sexualpartnern. Die Übertragung erfolgt überwiegend parenteral durch virushaltige(s) Blutoder Blutprodukte und transplantierte Organe sowie bei Drogenabhängigen durch kontaminierte Spritzen. Selten erfolgt eine Ansteckung durch Geschlechtsverkehr. Kontaktpersonen von HCV-Infizierten haben ebenfalls ein leicht erhöhtes Erkrankungsrisiko. Eine vertikale Infektion erfolgt bei durchschnittlich 5% der Kinder von Müttern mit aktiver HCV-Infektion. Ist die Mutter zusätzlich mit HIV infiziert, steigt das Risiko für eine HCV-Infektion des Kindes auf ca. 15%. Eine Ansteckung des Kindes durch Muttermilch ist bisher nicht beschrieben worden. Die Inkubationszeit liegt im Durchschnitt bei 6–7 Wochen (Streubreite 2 Wochen bis 6 Monate). jjÄtiopathogenese HCV ist ein RNA-Virus aus der Familie der Flaviviren. Anhand der Nukleinsäuresequenzen lassen sich mindestens 6 HCV-Genotypen

303 Virusinfektionen

unterscheiden. Durch eine hohe Mutationsrate während der Virusreplikation kommt es zu einer großen genetischen Heterogenität. Die Leberschädigung bei einer HCV-Infektion wird wahrscheinlich sowohl durch den zytopathischen Effekt des Virus als auch durch die lokale Immunreaktion des Wirts verursacht. jjKlinik Klinisch kann eine Hepatitis C nicht von einer Hepatitis A oder B unterschieden werden. Die meisten Infektionen im Kindesalter verlaufen symptomlos. Symptomatische Infektionen sind meist mild und im Beginn schleichend. Ein Ikterus tritt nur in 25% der Fälle auf. Eine fulminante Hepatitis ist extrem selten. Die Chronifizierungsrate bei Hepatitis C liegt bei mindestens 60%. Die Inzidenz der Leberzirrhose bei längerem Verlauf über 10 Jahre wird zwischen 2 und maximal 10% angegeben. >> Ein Teil der Patienten mit Leberzirrhose entwickelt langfristig ein primäres Leberzellkarzinom.

Bei Patienten mit chronischer Hepatitis C kommt es häufig zur Bildung von Autoantikörpern und zu extrahepatischen Krankheitsmanifestationen (z. B. Arthritis, Polyarteriitis nodosa, Sjögren-Syndrom, membranoproliferative Glomerulonephritis, Kryoglobulinämie). jjDiagnose Die Diagnose einer HCV-Infektion erfolgt üblicherweise durch den Nachweis von virusspezifischen Antikörpern im Blut (. Abb. 14.18). In den ersten 1–3 Monaten einer akuten Hepatitis C kann der Antikörpernachweis noch negativ verlaufen. Die HCV-Serologie ist daher v. a. für die Diagnose von bereits einige Zeit zurückliegenden oder chronischen HCV-Infektionen geeignet. Das HCV-Genom kann mittels PCR im Blut oder in der Leberbiopsie nachgewiesen werden. Die Bestimmung der Viruslast im Blut (und ggf. auch im Leberbioptat) sowie eine Genotypisierung der vorliegenden HCV-Variante sind hinsichtlich der Indikation für eine Interferon-α-Therapie sowie für das anschließende Monitoring wichtig.

..Abb. 14.18  Klinische und serologische Parameter bei akuter und chronischer Hepatitis C

tionen mit HIV und HCV sowie aktiver Drogenkonsum stellen dagegen Kontraindikationen gegen das Stillen dar (S3-Leitlinie, AWMF-Register-Nr.: 021/012). Es gelten die prophylaktischen Sicherheitsmaßnahmen wie bei einer Hepatitis B. Patienten mit chronischer Hepatitis C haben wahrscheinlich insgesamt ein erhöhtes Risiko, an einer fulminanten Hepatitis A zu erkranken. Sie sollten deshalb frühzeitig gegen Hepatitis A geimpft werden. 14.11

Hepatitis D

jjEpidemiologie Das Hepatitis-D-Virus (HDV) kommt weltweit vor. Die Über­ tragungsmechanismen entsprechen denen des HBV und führen entjjTherapie weder zu einer gleichzeitigen Koinfektion oder zu einer Superin­ Für eine antivirale Therapie der akuten Hepatitis C liegen für Kin- fektion von chronischen HBsAg-Trägern. In Deutschland ist im der und Jugendliche bisher keine Daten vor. Da von einer hohen Kindesalter mit einer Durchseuchung von ca. 3% zu rechnen. Die Chronifizierungsrate ausgegangen werden muss, sollte wie bisher bei meisten Infektionen werden horizontal übertragen. Die Inkuba­ Erwachsenen vorgegangen werden. tionszeit bei einer Superinfektion durch HDV beträgt 2–8 Wochen. Die Kombinationstherapie mit normalem oder pegyliertem­ Bei einer Koinfektion liegt die Inkubationszeit wie bei HBV-Infek­ (= retardiertem) Interferon-α (zugelassen bei Kindern ab 3 Jahren) tion bei 45–160. plus ­Ribavirin ist derzeit bei Kindern noch die Standardtherapie der jÄtiopathogenese chronischen Hepatitis C. Prädiktoren für einen Therapieerfolg sind j der HCV-Genotyp (v. a. Typ 2 und 3), die Dauer der Krankheit und Das HDV ist die einzige Art der Gattung Deltavirus. Das defekte möglicherweise die HCV-Konzentration im Serum. RNA-Virus ist zu seiner Replikation auf HBV angewiesen. HDV Bei Erwachsenen mit chronischer Hepatitis C führen neue selbst ist zytopathogen. Die Koinfektion mit HDV ist immer mit ­Virustatika (z. B. Epclusa in Kombination mit Sofosbuvir und Velpa- einer Verstärkung der entzündlichen Aktivität der Hepatitis B vertasvir) zu einer Ausheilung von meist über 90%. Es ist zu hoffen, dass bunden. diese Therapieoptionenn in einigen Jahren auch bei Kindern zugejjKlinik lassen sind. Die insgesamt sehr seltene akute Hepatitis infolge einer HDV-KoinjjProphylaxe fektion verläuft klinisch meist schwerer als eine „normale“ Hepatitis B. Durch eine HDV-Superinfektion kann sich bei HBsAg-Trägern >> Eine Impfung gegen HCV oder eine Immunprophylaxe gibt es relativ schnell eine chronisch-aktive Hepatitis entwickeln, darüber nicht. Blutprodukte sollten möglichst von einem seronegatihinaus kann es auch zu einer fulminanten Hepatitis kommen. ven und HCV-RNA-negativen Spenderpool stammen und ­virusinaktiviert sein.

Mütter mit alleiniger HCV-Infektion dürfen stillen, sofern keine Entzündungen oder Verletzungen der Mamille vorliegen. Koinfek­

>> Langfristig muss mit einer unterschiedlich progredienten ­Lebererkrankung gerechnet werden, die auch das Risiko einer Leberzirrhose birgt.

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V. Schuster und H.W. Kreth

j jDiagnose Die Diagnose einer HDV-Infektion wird meist serologisch durch den Nachweis von Anti-HDV-Antikörpern gesichert. j jTherapie, Prophylaxe Eine wirksame Therapie bzw. Immunprophylaxe gibt es nicht. Die Impfung gegen Hepatitis B schützt auch vor einer Hepatitis D. Die sonstigen prophylaktischen Maßnahmen sind identisch wie bei der Hepatitis B. 14.12

Hepatitis E

j jEpidemiologie Epidemien sind häufig im Mittleren und Fernen Osten, v. a. in Regionen mit schlechten hygienischen Verhältnissen. In Nordeuropa und in den USA treten HEV-Infektionen nur sehr selten nach Einschleppung auf. Die Übertragung erfolgt vorwiegend auf fäkal-oralem Weg. Die Inkubationszeit beträgt 15–64 Tage.

a

j jÄtiologie Das Hepatitis-E-Virus gehört zur Familie der Caliciviren. j jKlinik Das klinische Bild ähnelt dem der Hepatitis A, der Verlauf ist allerdings häufig schwerer, insbesondere bei Schwangeren. Chronische Infektionen kommen nicht vor. Die höchste Inzidenz findet sich im Alter von 15–34 Jahren.

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j jDiagnose, Therapie Der Nachweis von virusspezifischen Antikörpern und des Erregers ist nur in Speziallabors möglich. Eine spezifische Therapie und Immunprophylaxe gibt es nicht. Es gelten die Hygienemaßnahmen wie bei Hepatitis A. Schwangere sollten nicht in endemische Gebiete reisen. 14.13

Infektionen mit weiteren hepatotropen ­Viren

Seit 1995 wurden 3 weitere hepatotrope Viren, nämlich das HepatitisG-Virus, das TT-Virus und das SEN-Virus, identifiziert. Die Pathoge-

nese und die klinische Relevanz von Infektionen mit diesen Erregern sind noch weitgehend ungeklärt. Entsprechend gibt es auch keine Empfehlungen hinsichtlich therapeutischer oder prophylaktischer Maßnahmen. 14.14

Parvovirus-B19-Infektionen

j jEpidemiologie Parvovirus B19 kommt ubiquitär vor. Die Übertragung erfolgt durch Tröpfcheninfektion, durch kontaminierte Hände und (selten) durch virusinfizierte Blutprodukte. Die Infektiosität ist in den ersten 4–10 Tagen nach Inokulation mit Parvovirus B19 am höchsten. Patienten mit Exanthem sind (praktisch) nicht mehr ansteckend. Die Inkubationszeit beträgt 4–14 (max. 21) Tage. Kleinepidemien treten v. a. im Winter und Frühling auf. Die meisten Infektionen verlaufen inapparent, nur in ca. 25% treten klinische Symptome auf. Die Seroprävalenz beträgt bei Kindern und Jugendlichen im ­Alter von 10–15 Jahren 40–50% und bei 20–30 Jährigen 60–70%. Eine Parvovirusinfektion vermittelt beim immunkompetenten Menschen im Allgemeinen eine lebenslange Immunität.

b ..Abb. 14.19 Ringelröteln. a Typisches konfluierendes Exanthem im Bereich beider Wangen („slapped cheek“) mit perioraler Blässe, b girlandenförmige Exantheme

jjÄtiopathogenese Parvovirus B19, das kleinste bekannte humanpathogene Virus, ­gehört zur Familie der Parvoviren (parvus, klein) und zum Genus Erythrovirus. Parvovirus B19 vermehrt sich v. a. in Erythroblasten. Diese gehen dabei zugrunde, wobei die Erythropoese kurzzeitig unterbrochen wird. Eintrittspforte für Parvovirus B19 ist der obere Respirationstrakt. Nach 4–5 Tagen kommt es zu einer Virämie, ­begleitet von einer Retikulozytopenie. Etwa 1 Woche nach der Virämie tritt meist das typische Exanthem auf, möglicherweise hervorgerufen durch Antigen-Antikörper-Komplexe. Die Entstehung eines Hydrops fetalis nach intrauteriner Parvovirus-B19-Infektion wird v. a. mit der Infektion von fetalen Erythroblasten und der daraus resultierenden Anämie erklärt. In bestimmten Fällen kann möglicherweise auch die Infektion des fetalen Myokards mit Parvovirus B19 zu einer eingeschränkten Herzfunktion mit der Folge eines Hydrops fetalis führen. jjKlinik Ringelröteln  Diese typische „Kinderkrankheit“ (syn: Erythema

infectiosum, 5. Krankheit, epidemisches Megalerythem, Großfleckfieber, Kinderrotlauf) wird in 15–20% aller frisch infizierten Personen beobachtet. Nach einem 2–3 Tage andauernden Prodromalstadium mit unspezifischen Symptomen wie Fieber, Kopfschmerzen und Schüttelfrost (zeitgleich mit der Virämie) und einem anschließenden beschwerdefreien Intervall von ca. 1 Woche tritt im Bereich der Wangen ein hochrotes, leicht erhabenes konfluierendes Exanthem auf (. Abb. 14.19a). Gleichzeitig kann eine periorale ­Blässe wie beim Scharlach bestehen. An den folgenden Tagen treten

305 Virusinfektionen

an den Extremitäten und am Rumpf makulopapulöse Effloreszenzen auf, die konfluieren. Durch zentrales Abblassen entstehen die typischen girlanden-netzförmigen Muster (. Abb. 14.19b). In den folgenden Tagen und Wochen können immer wieder neue pleomorphe Exantheme auftreten, teilweise provoziert durch Sonnenlicht oder hohe Temperatur. Das Allgemeinbefinden der P­atienten ist meist nur wenig beeinträchtigt. Andere Begleitsymptome (Juckreiz, Kopfschmerzen, Fieber, Gelenkbeschwerden, Bauchschmerzen) sind bei Kindern eher selten. Bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen kommen auch vaskulitische Exantheme vor mit strenger Begrenzung auf die Hände und Füße („HandschuhSocken-Syndrom“). Die Parvovirus-B19-assoziierte Polyarthritis, die bevorzugt Knie-, Fuß- und die proximalen Interphalangealge­ lenke befällt und häufiger bei Mädchen und jungen Frauen auftritt, ist praktisch immer selbstlimitierend. Hydrops fetalis  Eine Parvovirus-B19-Primärinfektion in der Schwangerschaft führt in bis zu 35% auch zu einer Infektion des Feten. In den allermeisten Fällen ist diese fetale Infektion klinisch stumm, in bis zu 5% der Fälle kommt es zum Abort (meist innerhalb von 3–6 Wochen nach der mütterlichen Infektion). Die Entwicklung eines Hydrops fetalis nach einer mütterlichen (und fetalen) Parvovirus-B19-Infektion ist insgesamt selten, sie liegt bei ca. 4%. Trotzdem ist die Parvovirus-B19-Infektion wahrscheinlich die häufigste Ursache des nicht immunologisch bedingten Hydrops fetalis. Die fetalen Komplikationen sind am höchsten bei einer Parvovirus-B19-Infektion zwischen der 13. und 20. Gestationswoche. Aplastische Krise  Bei Patienten mit hämolytischen Anämien und infolgedessen verkürzter Lebensdauer der Erythrozyten (Sphärozytose, Thalassämie u. a.) führt eine Parvovirus-B19-Infektion u. U. zu einer lebensbedrohlichen aplastischen Krise (Retikulozytopenie). Zum Teil ist auch die Regeneration der weißen Reihe und der Thrombozyten beeinträchtigt: in diesem Fall kommt es bei dem ­Patienten zu einer Panzytopenie (aplastische Anämie). >> Eine aplastische Krise durch Parvovirus B19 ist oft die Erst­ manifestation einer Sphärozytose.

Chronische Anämien  Bei immundefizienten Patienten (Immundefekt, akute lymphatische Leukämie, HIV-Infektion) kann es zu chronisch-persistierenden Parvovirus-B19-Infektionen mit der Folge einer chronisch-rezidivierenden hyporegeneratorischen Anämie kommen, nicht selten auch zu Granulozyto- und Thrombozytopenie. Seltene Parvovirus-B19-assoziierte Erkrankungen  Bei Kindern (> Rotavirusinfektionen sind insgesamt die häufigste Ursache von akuten Gastroenteritiden bei Säuglingen und Kleinkindern.

Infektionen treten gehäuft in den Wintermonaten auf. Nicht selten kommt es zu endemischen Infektionen in Krankenhäusern (v. a. Neugeborene) und Kindergärten. Die Übertragung erfolgt durch Schmierinfektion auf fäkal-oralem Weg. Infektionsquelle sind nicht nur infizierte symptomatische Kinder, sondern häufig auch subklinisch erkrankte Erwachsene. Die Virusausscheidung im Stuhl dauert meist eine, maximal 2 Wochen. Bei Frühgeborenen und immun­ supprimierten Kindern kann Rotavirus über mehrere Wochen und Monate im Stuhl nachgewiesen werden. Rotaviren sind hochinfektiös, bereits wenige Viruspartikel k­önnen zu einer symptomatischen Infektion führen. Die Infektion erfolgt praktisch immer nur von Mensch zu Mensch. Spezifische IgA-Antikörper im Kolostrum geben bei gestillten Kindern einen gewissen Nestschutz in den ersten Lebensmonaten. Die Infektion hinterlässt nur eine Teilimmunität, Reinfektionen kommen regelmäßig vor. Die Inkubationszeit dauert 1–4 Tage. jjÄtiopathogenese Rotaviren fallen im Elektronenmikroskop auf durch ihre charakteristische radspeichenähnliche Struktur (rota, Rad; . Abb. 14.20). Sie enthalten eine doppelsträngige RNA. Rotaviren infizieren praktisch

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306

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jjTherapie Die Behandlung beschränkt sich auf symptomatische Maßnahmen. Im Vordergrund steht der Ausgleich des Flüssigkeits- und Elektrolytverlusts, in leichten Fällen p.o. oder via Magensonde. Bei schwerer Dehydratation erfolgt die Flüssigkeitssubstitution über eine ­Infusion. Nach initialer vollständiger Rehydrierung kann bei den meisten Kindern direkt wieder auf eine normale altersentsprechende Nahrung übergegangen werden. Nur in Ausnahmefällen ist eine laktosearme Nahrung für einige Tage sinnvoll. Vorher gestillte Kinder sollten möglichst weiter gestillt werden.

..Abb. 14.20  Elektronenmikroskopisches Bild von humanen Rotaviren A mit der charakteristischen Radspeichenstruktur (Negativfärbung, 100 nm, Hans R. Gelderblom; Mit freundl. Genehmigung des RKI)

14

nur ausdifferenzierte Enterozyten an der Spitze der Dünndarmzotten. Diese Zellen enthalten Enzyme zur Spaltung von komplexen Kohlenhydraten und spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle in der Homöostase von Sekretion und Resorption von Wasser und Elektrolyten. Nach einer Infektion mit Rotavirus gehen die Enterozyten zugrunde. Dies führt zu einem ausgeprägten Flüssigkeits- und Elektrolytverlust beim infizierten Wirt mit der Folge von Durchfall, ­Exsikkose und u. U. auch einer Elektrolytverschiebung. Histologisch finden sich zu diesem Zeitpunkt im Dünndarm eine Zottenatrophie sowie eine lokale Infiltration von mononukleären Zellen. Nach ­einigen Tagen hat sich die Schleimhaut meist wieder vollständig ­regeneriert. jjKlinik Eine Rotavirusinfektion führt bei kleinen Kindern praktisch immer zu Fieber, Erbrechen sowie Enteritis mit häufigen wässrigen, nicht blutigen Stühlen. Die Durchfälle können bis zu 5–7 Tage andauern. In der Mehrzahl der Fälle kommt es hierbei zu einer unterschiedlich ausgeprägten, meist isotonen, selten einer hypertonen Dehydrata­ tion. Ein Teil der Kinder zeigt zusätzliche klinische Symptome­ wie leichte Vergrößerung der zervikalen Lymphknoten, Otitis und Rhinitis. Bei immunsupprimierten Kindern kann eine Rotavirusinfek­ tion chronisch und teilweise sehr schwer verlaufen. In sehr seltenen Fällen können Rotavirusinfektionen auch zu einer Enzephalitis und zu Krampfanfällen mit und ohne Fieber führen. jjDiagnose Die praktikabelste und schnellste Methode zum Nachweis einer ­Rotavirusinfektion ist der Rotavirusantigennachweis im Stuhl (EIA).

jjProphylaxe Rotaviren sind bereits in geringster Konzentration hochkontagiös. Intensives Händewaschen sowie die Entfernung bzw. Desinfektion von kontaminierten Gegenständen können die Übertragungsrate von Rotavirusinfektionen senken. Im Krankenhaus sollten er­krankte Kinder wie bei anderen infektiösen Gastroenteritiden isoliert werden (Einzel-/Kohortenpflege, Benutzung von Schutzkitteln). Für die Normalpflege ist die hygienische Händedesinfektion ausreichend, beim Wechseln von Windeln sollten möglichst Einmalhandschuhe getragen werden. Die Eltern betroffener Kinder müssen über die notwendigen Hygienemaßnahmen ausreichend informiert werden. Nosokomiale Rotavirusinfektionen auf Neugeborenenstationen werden häufig durch weniger pathogene Virusstämme verursacht, sie bedürfen meist keiner zusätzlichen hygienischen und therapeutischen Maßnahmen. Betroffene Kinder erkranken später seltener an schweren Rotavirusinfektionen. Oral verabreichte Probiotika (Lactobacillus GG) können die Schwere und Dauer einer Rotavirusinfektion abmildern. Seit einigen Jahren stehen zwei wirksame Rotavirus-Schluckimpfstoffe zur Verfügung, die v. a. schwere Komplikationen und Hospitalisationen verhindern können. >> Rotavirusinfektionen sind seit dem 01.01.2001 namentlich meldepflichtig.

14.15.2

Weitere viral verursachte ­Gastroenteritiden

Norovirusinfektionen  Das Norovirus ist ein RNA-Virus aus der

Familie der Caliciviren. Noroviren werden häufig als Erreger von endemisch auftretenden viralen Gastroenteritiden bei älteren Kindern und Erwachsenen gefunden. Nach Rotaviren sind Noroviren die zweithäufigste Ursache von viralen Gastroenteritiden bei Kleinkindern.

Astrovirusinfektionen  Elektronenmikroskopisch fallen diese kleinen RNA-Viren durch ihre zentrale sternförmige Struktur (astro,

Stern) auf. Die klinische Symptomatik bei Astrovirusenteritiden ist im Vergleich zu Rotavirusinfektionen meist sehr viel milder.

Enterische Adenoviren  Sie sind insgesamt der dritthäufigste Erreger von viralen Gastroenteritiden bei Kindern und Kleinkindern

(7 Abschn. 14.16).

Sonstige Viren  Bei endemischen Gastroenteritiden wurden im

Stuhl von betroffenen Patienten z. T. noch andere Viren nachgewiesen, u. a. Coronaviren. Es ist allerdings nicht bekannt, inwieweit diese Viren tatsächlich ursächlich für die klinische Symptomatik verantwortlich sind. Enteroviren (ECHO-, Coxsackieviren) sind insgesamt keine häufigen Erreger bei Gastroenteritiden.

307 Virusinfektionen

14.16

Adenovirusinfektionen

jjEpidemiologie Adenoviren sind ubiquitär und rufen Epidemien (Winter, Frühling, früher Sommer), Endemien und sporadische Infektionen hervor. Die Inzidenz ist am höchsten im Alter von 6 Monaten bis 5 Jahren. Maternale neutralisierende Antikörper scheinen einen relativ guten Nestschutz in den ersten Lebensmonaten zu bieten. Adenovirusinfektionen im Kindesalter werden verantwortlich gemacht für bis zu 11% der oberen Atemwegsinfekte, bis zu 10% der Pharyngitiden, bis zu 9% des Infektkrupps, bis zu 11% aller Bronchitiden, bis zu 10% der Bronchiolitis und bis zu 10% der Pneumonien sowie bis zu 15% der akuten Gastroenteritiden. Adenovirusinfektionen des Respirationstrakts werden meist durch die Serotypen 1–3 und 5 verursacht, bei Gastroenteritiden durch Adenoviren finden sich am häufigsten die Typen 40 und 41. Die Durchseuchung im Kindesalter liegt (je nach Serotyp) bei bis zu 80%. Erwachsene sind praktisch zu 100% seropositiv für die ­Typen 1–7. Die Übertragung erfolgt über Tröpfcheninfektion und direkten Kontakt mit virushaltigem Material (virushaltiger Stuhl, kontaminiertes Wasser, Hände, kontaminierte medizinische Instrumente). Die Inkubationszeit variiert von 2–14 Tagen. jjÄtiopathogenese Adenoviren sind relativ stabile Viren ohne eine lipidhaltige Hülle, die eine doppelsträngige DNA enthalten. Es sind über 51 Stämme (Serotypen) bekannt, die sich u. a. auch in ihrer Virulenz und ihrem Organtropismus unterscheiden. Eintrittspforte für Adenoviren ist meist der obere Respirationstrakt, wo sich das Virus in den Schleimhäuten vermehrt. Abhängig von der Virulenz kann sich das Virus von hier aus in tiefere Regionen des Respirationstrakts ausbreiten und zu einer Laryngotracheitis oder Pneumonie führen. Darüber hinaus kann die Virusausbreitung auch durch virusinfizierte mononukleäre Zellen (wahrscheinlich Lymphozyten) während der virämischen Phase erfolgen und zu ­einer Krankheitsmanifestation an der Haut (Exantheme), Leber ­(Hepatitis), Harnblase (Zystitis) und ZNS (Enzephalitis) führen. Die Infektion des Gastrointestinaltrakts erfolgt wahrscheinlich durch verschlucktes infektiöses Virus. Adenoviren persistieren in lymphatischem Gewebe (Tonsillen). Die Virusinfektion führt zum Zelluntergang der infizierten Zellen, reaktiv kommt es zu einer Infiltration mit mononukleären Zellen (v. a. Lymphozyten). Adenovirale Erkrankungen gehen häufig mit starken Entzündungszeichen einher (Leukozytose, hohe BSG, erhöhtes CRP). jjKlinik Ein Großteil der Adenovirusinfektionen (ca. 50%) verläuft asymptomatisch. Das durch Adenoviren hervorgerufene Krankheitsspektrum ist sehr variabel und vom Lebensalter, Erregertyp und Organmanifestation abhängig . Tab. 14.2). Erkrankungen des Respirationstrakts  Sie stellen die häufigste kli-

nische Manifestation von Adenovirusinfektionen bei Kindern und Erwachsenen dar. Häufig treten diese Infektionen epidemisch auf. Vor allem die Serotypen 1–6 führen zu meist leichten fieberhaften Luftwegsinfektionen, oft begleitet von einer Otitis media. Ein Teil dieser Kinder hat gleichzeitig eine Gastroenteritis. Nasopharyngitis, Pharyngitis und Tonsillitis sind akute fieberhafte Infektionen v. a. durch die Serotypen 1–5 und 7.

>> Eine Pharyngotonsillitis in den ersten 3 Lebensjahren ist fast immer durch Adenoviren und so gut wie nie durch hämolysierende Streptokokken verursacht!

Die regionalen Lymphknoten sind häufig reaktiv angeschwollen. Die Infektion kann sich weiter ausbreiten und zu einer Laryngotracheitis, Bronchitis oder Pneumonie führen. Die Krankheitsdauer beträgt meist ca. 1 Woche. Pneumonien sind insgesamt selten, sie betreffen besonders Säuglinge und Kleinkinder. Besonders schwere Krankheitsbilder werden durch die Serotypen 3, 7 und 21 verursacht. Die Letalität beträgt bis zu 10%, Langzeitkomplikationen sind Bronchiektasen, Bronchiolitis obliterans und Lungenfibrose. Teilweise kommt es zu Spätkomplikationen mit Bronchiektasenbildung. Die akute Laryngotracheitis wird durch die Serotypen 1–3 und 5–7 verursacht. Die klinische Kruppsymptomatik ist meist nicht sehr schwer. Gastrointestinale Infektionen  Adenoviren sind in bis zu 15% der Fälle der ursächliche Erreger einer akuten Gastroenteritis im

­ indesalter. In über 50% finden sich die Serotypen 40 und 41. Als K Begleitsymptome können eine Lymphadenitis mesenterialis, Appendizitis und Hepatitis auftreten. Gelegentlich werden auch Invaginationen beobachtet.

Augeninfektionen  Die akute follikuläre Konjunktivitis tritt nach einer Inkubationszeit von 5–7 Tagen meist einseitig mit vermehrtem Tränenfluss, Brennen, Fremdkörpergefühl und starker Rötung der follikulär und hyperplastisch veränderten Konjunktiven auf. Die ­Erkrankung ist meist nach 10 Tagen ausgeheilt. Das pharyngokonjunktivale Fieber führt zu einer ein- oder beidseitigen follikulären Konjunktivitis und Pharyngitis und geht einher mit ausgeprägtem Krankheitsgefühl, hohem Fieber und ­lokaler oder generalisierter Lymphadenopathie. Die Krankheits­ symptome sind meist nach einer Woche abgeklungen. Epidemische Infektionen (v. a. Serotyp 3) erfolgen durch kontaminierte Gewässer oder Swimmingpools. Die Keratoconjunctivitis epidemica betrifft vorwiegend Erwachsene, seltener Kinder, und wird v. a. durch die Serotypen 8, 19 und 37 verursacht. Die Infektion wird neben Schwimmbadinfektionen häufig iatrogen (Augenkliniken, Arztpraxen) übertragen. Die Inkubationszeit beträgt meist 5–10 Tage, in Ausnahmefällen 2 Tage bis 2 Wochen. Nach initialer häufig beidseitiger Konjunktivitis kommt es häufig zu einer Keratitis. Länger anhaltende Hornhauttrübungen sind möglich. Andere Organmanifestationen  Akute hämorrhagische Zystitiden, Nephritiden und Orchitiden sind insgesamt seltene Manifesta-

tionen einer Adenovirusinfektion. Die klinische Symptomatik ist leicht und selbstlimitierend. Gelegentlich kann es nach einer Adenovirusinfektion zu einer Myo- oder Perikarditis oder einer Meningoenzephalitis kommen. Adenovirusinfektionen bei Immunsuppression  Bei immunsup-

primierten Kindern (angeborene Immundefekte, HIV-Infektion, maligne Erkrankungen, Organtransplantationen) führen Adenovirusinfektionen (v. a. mit den Typen 1–7, 11, 31–35) gehäuft zu schweren, fulminanten Krankheitsbildern, die einer bakteriellen Sepsis ähneln. Zum Teil kommt es zu generalisierten Infektionen mit Pneumonie, Hepatitis, Zystitis und Enzephalitis. Das Risiko für ­lebensbedrohliche systemische Adenovirusinfektionen ist bei Kindern nach T-Zell-depletierter Stammzelltransplantation besonders hoch.

14

308

V. Schuster und H.W. Kreth

..Tab. 14.2  Klinisches Spektrum bei Adenovirusinfektionen Krankheitsbild

Besonderheiten

Virustypen

Nasopharyngitis, Pharyngitis, Tonsillitis

Häufig, Dauer meist 5–7 Tage

1–5, 14, 15

Pneumonie

Dritthäufigste (nach RSV und Parainfluenza) Viruspneumonie bei Kleinkindern

1–7, 21, 35

Schwere Verläufe mit Bronchiektasen und Lungenfibrose (Letalität bis zu 10%)

V. a. 3, 7, 21

Respirationstrakt

Akute Laryngotracheitis

Meist nur leichte Kruppsymptomatik

1–3, 5–7

Pertussisähnliches Krankheitsbild

Selten, meist Kinder > RSV ist in bis zu 75% der Fälle ursächlicher Erreger einer ­Bronchiolitis.

jjKlinik In den meisten Fällen führt eine Rhinovirusinfektion zu einer „Erkältung“ der oberen Luftwege („common cold“) mit einer nur geringen allgemeinen klinischen Beeinträchtigung. Hauptsymptome sind Schnupfen, Husten und Halsschmerzen. Die regionalen zervikalen Lymphknoten sind in ca. 50% vergrößert. Eine meist leichte Otitis media tritt in ca. 20% der Fälle auf. Die klinischen Beschwerden sind in den ersten 3 Tagen am ausgeprägtesten, in den meisten Fällen bilden sie sich innerhalb einer Woche, seltener nach 2 Wochen zurück. Vor allem bei jüngeren Kindern können Rhinovirusinfektionen auch zu schweren Verläufen mit Bronchiolitis, Bronchopneumonie und obstruktiver Bronchitis führen. Todesfälle sind beschrieben worden. >> Neben RS-Viren spielen Rhinoviren möglicherweise eine wichtige Rolle in der Pathogenese eines hyperreagiblen Bronchialsystems und bei der Entstehung des infektionsassoziierten Asthma.

jjDiagnose Die Diagnose kann klinisch vermutet werden. Ähnliche klinische Symptome werden allerdings auch durch andere Respirationstraktviren (RSV, Parainfluenza etc.) verursacht. Ein Erregernachweis ist in den meisten Fällen nicht erforderlich.

jjEpidemiologie Infektionen mit dem Respiratory Syncytial Virus (RSV) treten weltweit auf. In gemäßigten Regionen findet sich eine saisonale Häufung von RSV-Infektionen in den Wintermonaten Oktober bis März. Die meisten primären RSV-Infektionen erfolgen im Alter von 6 Wochen bis 2 Jahren. Spätere Reinfektionen sind häufig, sie verlaufen aber i. A. weniger schwer als Primärinfektionen. Bis zu 2% aller Kinder mit RSV-Infektion müssen aufgrund der Schwere der klinischen Symptomatik hospitalisiert werden. Die Letalität dieser hospitalisierten Kinder liegt bei bis zu 1,5%.

RSV ist hochkontagiös. Die Übertragung erfolgt v. a. durch direkten Kontakt mit RSV-haltigem Sekret aus dem Respirationstrakt (meist Hand-zu-Nase- oder Hand-zu-Auge-Inokulation, selten primär ­aerogene Ausbreitung). Die Virusausscheidung beginnt bereits ­24–48 h vor Auftreten der ersten klinischen Symptome und persistiert für ca. 1 Woche (ältere Kinder und Erwachsene) bis 4 Wochen (Neugeborene). Bei unreifen Frühgeborenen und immunsupprimierten Kindern kann die Virusausscheidung noch länger andauern. Die Inkubationszeit beträgt meist 3–5 Tage. jjÄtiopathogenese RSV ist ein RNA-Virus aus der Familie der Paramyxoviren (Genus Pneumovirus). Zwei Glykoproteine spielen für die Infektiosität von RSV eine wichtige Rolle: 44 Für die Anheftung von RSV an die Wirtszelle ist das G-Protein erforderlich („attachment protein“). 44 Das F-Protein (Fusionsprotein) vermittelt die Viruspenetration in die Wirtszelle und die spätere Zellfusion von benachbarten Zellen (Synzytienbildung). RSV infiziert Flimmerepithelzellen. Es kommt zur Nekrose der infizierten Zellen mit konsekutiver reaktiver peribronchialer Infiltration mit Lymphozyten, Plasmazellen, eosinophilen Granulozyten und Makrophagen sowie einem Schleimhautödem. Dies führt zu einer mehr oder weniger ausgeprägten peripheren Atemwegsobstruktion. Die mukoziliäre Clearance erholt sich meist erst nach 2–3 Wochen. RSV-Infektionen hinterlassen nur eine Teilimmunität (humoral und zellulär). Reinfektionen sind daher häufig. jjKlinik Bei Kindern unter 2 Jahren verläuft die RSV-Primärinfektion in ca. 40% der Fälle symptomatisch, meist mit den klinischen Zeichen einer Infektion der unteren Atemwege. Am häufigsten manifestiert sich die RSV-Primärinfektion als Pneumonie, etwas seltener als

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V. Schuster und H.W. Kreth

..Tab. 14.3  Altersabhängigkeit der klinischen Manifestationen von RSV-Infektionen Neugeborene

Infekte der oberen Luftwege

Säuglinge > Aufgrund mangelnder Durchimpfungsraten treten in Deutschland immer wieder regionale Ausbrüche von Masern auf, wie z. B. 1.243 Fälle in Berlin von Oktober 2014 bis August 2015.

Die Übertragung erfolgt durch direkten Kontakt über Tröpfchen, in seltenen Fällen aerogen durch Luftzug über weitere Entfernungen. Die Patienten sind 3–5 Tage vor Ausbruch des Exanthems bis 4 Tage danach infektiös. Die Inkubationszeit (Intervall zwischen Exposi­ tion und Auftreten der Prodromi) beträgt 8–12 Tage. Überstehen der Erkrankung hinterlässt eine lebenslange Immunität. Die passive Immunität bei Säuglingen, deren Mütter die Erkrankung durchmachten, hält etwa 6 Monate lang an. jjÄtiopathogenese Das Masernvirus ist ein umhülltes RNA-Virus aus der Familie der Paramyxoviren. Das Virus ist lympho- und neurotrop und besitzt einen ausgeprägten immunsuppressiven Effekt. Eintrittspforten des Virus sind der Nasen-Rachen-Raum oder die Konjunktiven. Nach initialer Virusvermehrung im oberen Respirationstrakt kommt es 2–4 Tage p. i. zur primären Virämie. ­Dadurch wird das Virus in entferntere lymphatische Organe abgesiedelt, wie Tonsillen, Thymus, Milz, Knochenmark, Lymphknoten, Peyer-Plaques u. a., wo eine massive Virusvermehrung stattfindet. Etwa 7 Tage p. i. erfolgt von hier aus die sekundäre Virämie mit ­Virusaussaat in Schleimhäute, Haut und kleine Gefäße. Das Masernvirus hat die Fähigkeit, Zellen zu fusionieren, wodurch mehrkernige Riesenzellen (Synzytien) mit häufig >100 Kernen auftreten.

313 Virusinfektionen

..Abb. 14.25 Koplik-Flecken

..Abb. 14.26  Masernexanthem bei einem 8-jährigen Jungen (hinter den Ohren beginnend)

..Abb. 14.27  Generalisiertes Masernexanthem bei einem älteren Säugling

Die Prodromi mit Fieber und katarrhalischen Symptomen (­ 8–12 Tage p. i.) signalisieren den Beginn der immunologischen Abwehrreaktion. So ist auch das Exanthem Folge der explosiven Aus­ einandersetzung zwischen virusspezifischen T-Zellen und virus­ infizierten Epithel- und Endothelzellen. Spezifische Antikörper scheinen bei der Überwindung der akuten Phase keine Rolle zu spielen.

r­ asche Entfieberung und Abblassen des Exanthems. Meist besteht eine generalisierte Lymphadenopathie, wobei auch die hilären, ­paratrachealen und mesenterialen Lymphknoten betroffen sind. Bei ca. 50% der Infizierten treten pathologische EEG-Veränderungen auf, die sich später in den allermeisten Fällen zurückbilden.

>> Masern gehen immer mit einer Immunschwäche einher, die Wochen bis Monate anhalten kann.

maternelle Antikörper besitzen und auch bei Kindern nach Gabe von Immunglobulinen. 44 Bei Patienten mit schweren T-Zelldefekten kann das Exanthem völlig fehlen („weiße Masern“). Es entwickelt sich eine Riesenzellpneumonie, die fast immer zum Tode führt.

Hauttests vom verzögerten Typ (Tuberkulintest!) werden vorübergehend negativ. Außerdem kommt es durch die Immunschwäche zu bakteriellen Zweiterkrankungen oder zur Aktivierung chronischer Krankheitsprozesse. Die Pathogenese der para-(post-)infektiösen Masernenzephalitis ist bisher nicht geklärt. Histopathologisch finden sich im Gehirn perivaskuläre Demyelinisierungen und perivaskuläre Lymphozyteninfiltrate. Virale Antigene oder RNA-Sequenzen lassen sich aber nicht nachweisen. jjKlinik Die Erkrankung beginnt mit hohem Fieber und uncharakteristischen katarrhalischen Symptomen, wie Schnupfen, Halsschmerzen, Heiserkeit und bellendem Husten (Prodromalstadium). Die Patienten sind aufgrund einer Konjunktivitis und einer (milden) Keratitis ausgesprochen lichtscheu. Gleichzeitig oder 1–2 Tage später treten feine, kalkspritzerartige Stippchen, bevorzugt an der Wangenschleimhaut gegenüber den Molaren, auf (Koplik-Flecken; . Abb. 14.25). Außerdem entwickelt sich ein fleckiges, dunkelrotes Enanthem am weichen Gaumen. Nach leichtem Fieberabfall geht das Prodromalstadium 3–4 Tage später unter erneutem hohem Fieberanstieg in das Exanthemsta­ dium über. Das makulopapulöse Exanthem beginnt hinter den ­Ohren (. Abb. 14.27) und im Gesicht und breitet sich weiter zentrifugal über den ganzen Körper bis zu den Füßen aus (. Abb. 14.28). Nach dem 3. Exanthemtag folgt bei unkomplizierten Verläufen

Besondere Verlaufsformen 44 Mitigierte Masern treten bei jungen Säuglingen auf, die noch

jjKomplikationen Am häufigsten sind bakterielle Sekundärinfektionen; und zwar Bronchopneumonien, Otitis media und Diarrhö. Weitere Komplikationen betreffen das zentrale Nervensystem. Im Vordergrund steht die akute Masernenzephalitis mit einer Häufigkeit von 1:500–1:2000. Die Masernenzephalitis tritt bevorzugt am 3.–9. Tag nach Exanthembeginn auf. Typisch sind Bewusstseinsstörungen (Somnolenz, Koma), zerebrale Krampfanfälle, neurologische Herdsymptome (Hemiplegien, Hirnnervenparesen) und gelegentlich auch myelitische Symptome. Die Masernenzephalitis hat auch heute noch eine Letalität von 30% und eine Defektheilungsrate von ca. 20%. Eine weitere seltenere Komplikation ist die sub­ akute sklerosierende Panenzephalitis (7 Abschn. 14.23.1). !! Cave Masern sind immer eine ernste und gefährliche Krankheit.

Todesfälle kommen besonders im Säuglingsalter, bei älteren Probanden und besonders bei immundefizienten Patienten vor. Die Krankheit verläuft besonders schwer in Entwicklungsländern bei unter­ ernährten Kindern.

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V. Schuster und H.W. Kreth

j jDiagnose Im Rahmen einer Epidemie wird die Diagnose meistens klinisch gestellt. Labor  Ein typischer Laborbefund ist die Leukopenie mit Erniedrigung sowohl der Granulozyten als auch der Lymphozyten. Bei Einzelerkrankungen sollte die Diagnose serologisch bestätigt werden. Das masernspezifische IgM ist meist nach den ersten 3 Exanthemtagen mittels Enzymimmunoassay (ELISA) nachweisbar. Bei trotz Impfung an Masern Erkrankten ist nur ein 4-facher Titeranstieg im IgG-ELISA oder im Hämagglutinationshemmtest (HHT) diagnosesichernd (bei Geimpften findet sich oft keine IgM-Antwort). In fraglichen Fällen, z. B. bei immunsupprimierten Patienten oder bei Verdacht auf Riesenzellpneumonie ist zur Diagnosestellung der Virusdirektnachweis (PCR oder Virusisolierung) erforderlich. Die Diagnose einer Masernenzephalitis beruht allein auf dem zeitlichen Zusammenhang der Enzephalitis mit einer akuten Maserninfektion (IgM-Nachweis!), da sich im Liquor in der Regel weder das Virus noch eine intrathekale Antikörpersynthese nachweisen lassen.

jjTherapie Es gibt keine spezifische Therapie. Da das Virostatikum Ribavirin die Virusreplikation in vitro hemmt, wurde in Einzelfällen Ribavirin i. v. zusammen mit Immunglobulinen bei der Masernpneumonie eingesetzt. Es gibt allerdings keine kontrollierten Studien. In den Ländern der Dritten Welt wird Vitamin A bei akuten ­Masern verabreicht (Dosierung: maximal 200.000 IE p. o. über 2 Tage). Dadurch konnte die Letalität beträchtlich gesenkt werden. Bakterielle Zweitinfektionen erfordern den Einsatz von Antibiotika.

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j jProphylaxe Alle Kinder mit Ausnahme von Patienten mit schweren Störungen der T-Zell-Immunität sollen unbedingt 2-mal gegen Masern geimpft werden (7 Kap. 17). Durch den Lebendimpfstoff kann auch der ­Ausbruch von Wildmasern wirksam unterdrückt werden, wenn dieser innerhalb der ersten 3 Tage nach Exposition verabreicht wird (Riegelungs- bzw. Inkubationsimpfung). Bei abwehrgeschwächten Patienten und chronisch kranken Kindern ist die Prophylaxe von Masern auch mit humanen Immunglobulinen möglich. Durch Gabe von 0,25–0,5 ml/kgKG Standardimmunglobulin i.m. (oder 1–2 ml/ kgKG eines i. v. zu verabreichenden normalen Immunglobulins) ­innerhalb von 2–3 Tagen nach Kontakt kann die Erkrankung mit relativ großer Wahrscheinlichkeit verhütet werden. Bei späterer Gabe bis zum 6. Tag ist noch Mitigierung der Erkrankung möglich. Inkubierte Patienten sind im Krankenhaus vom 7. Tag p. i. bis zum 5. Exanthemtag zu isolieren. Seit dem 01.01.2001 sind der Verdacht auf Masern, die Erkrankung und der Tod sowie der Erregernachweis nach dem Infektionsschutzgesetz meldepflichtig. 14.21

Röteln

j jEpidemiologie Die Übertragung erfolgt durch Tröpfchen oder direkten Kontakt (vertikale Übertragung in der Schwangerschaft, 7 Kap. 4). Die Pa­ tienten sind bereits 7 Tage vor Auftreten des Exanthems bis 7 Tage danach infektiös. Der genaue Zeitpunkt der Infektion ist daher bei Rötelnkontaktpersonen oft schwer bestimmbar. Vor der Impfära lag der Altersgipfel der Infektion bei den 5- bis 9-Jährigen. Infolge unzureichender Durchimpfungsraten verschiebt sich der Infektionszeitpunkt ins höhere Lebensalter zu den Adoles-

..Abb. 14.28  Feinfleckiges Rötelnexanthem bei einem 13-jährigen, bisher nicht geimpften Mädchen

zenten und jungen Erwachsenen. In Deutschland besitzen ca. 3% der Frauen im gebärfähigen Alter keine spezifischen Antikörper. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel 14–21 Tage. Röteln hinterlassen eine lebenslange Immunität. Reinfektionen kommen in seltenen Fällen vor. jjÄtiopathogenese Das Rötelnvirus ist ein RNA-Virus aus der Familie der Togaviridae. Das Virus ist lymphotrop, mitunter neurotrop und nur geringfügig oder gar nicht zytopathogen. Im Gegensatz zu Masern kommt es nach Röteln zu keiner vorübergehenden Immunsuppression. Eintrittspforte des Virus ist der obere Respirationstrakt. Nach initialer Virusvermehrung in der Mukosa kommt es lymphogen zur Infek­ tion der zervikalen und okzipitalen Lymphknoten. Infektiöses Virus kann frühestens 7–9 Tage p. i. im Blut und Nasopharyngealsekret nachgewiesen werden. Im Rahmen der Virämie gelangt das Virus auch in die Haut und andere Organe, wie z. B. die Gelenke. Das ­Exanthem ist Ausdruck der immunologischen Interaktion. jjKlinik In 25–50% der Fälle verläuft die Infektion klinisch stumm. Bei symptomatischen Verläufen kommt es ca. 7 Tage p. i. zu einer symmetrischen Schwellung der zervikalen und nuchalen Lymphknoten mit mäßigen Allgemeinerscheinungen (Prodromi) wie leichtem Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, Halsschmerzen und Konjunktivitis. Einige Tage später folgt dann ein zartrosa gefärbtes, kleinfleckiges Exanthem, das hinter den Ohren oder im Gesicht beginnt und sich rasch über den Körper ausbreitet (. Abb. 14.28). Verläufe ohne ­Exanthem, aber mit Fieber und Lymphadenopathie sind möglich. jjBesondere Verlaufsformen und Komplikationen Bei bis zu 60% der älteren Mädchen und jungen Frauen tritt eine transiente Polyarthralgie/Polyarthritis auf. Finger- und Kniege­ lenke sind bevorzugt betroffen. Die Beschwerden, die durch direkte Erregerinvasion und/oder Ablagerung von Immunkomplexen bedingt sind, verschwinden in der Regel nach einigen Wochen. Wei­ tere  Komplikationen sind: Postinfektiöse, thrombozytopenische Purpura und akute Rötelnenzephalitis. In sehr seltenen Fällen wur-

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de auch eine progressive Rötelnpanenzephalitis (PRP) als Folge einer postnatalen oder konnatalen Rötelninfektion beobachtet. Die Hauptkomplikation von Röteln bei Schwangeren ist die Rötelnembryofetopathie 7 Kap. 4). jjDiagnose Wegen der Ähnlichkeit mit anderen viralen und nichtviralen Exanthemen ist die klinische Diagnose oft schwierig. Charakteristische Blutbildveränderungen (Leukopenie mit relativer Lymphozytose und Auftreten von Plasmazellen) können von diagnostischer Be­ deutung sein. Ansonsten muss die Infektion serologisch bestätigt werden. Beweisend sind ein 4-facher Titeranstieg im Hämagglu­ tinationshemmtest (aus 2 Serumproben) oder der Nachweis von rötelnspezifischem IgM mittels Enzymimmunassay (ELISA). Je nach Empfindlichkeit der Testmethode sind spezifische IgM-Antikörper mitunter lange (bis zu einem Jahr) im Serum nachweisbar. Um z­wischen einer primären Infektion und der (seltenen) Reinfektion bei Schwangeren zu unterscheiden, stehen spezielle Tests zur Ver­fügung. Bei der akuten Rötelnenzephalitis findet man im Liquor eine leichte lymphozytäre Pleozytose. Das Liquoreiweiß ist normal. ­Virale RNA und oligoklonale Banden lassen sich in der Regel nicht nachweisen. jjTherapie, Prophylaxe Es gibt keine spezifische Therapie. Alle Kinder (Jungen und Mädchen) sollen 2-mal gegen Röteln geimpft werden. Hinzu kommt die Überprüfung der Rötelnserologie bei allen Frauen im gebärfähigen Alter. !! Cave Bei seronegativen Frauen im gebährfähigen Alter muss die Impfung mit Erfolgskontrolle erfolgen!

Ein Titer von ≥1:32 im HHT gilt als sicherer Schutz. Ob eine Rötelninfektion durch passive Immunisierung (z. B. nach Rötelnkontakt in der Frühschwangerschaft) verhindert werden kann, gilt als unsicher. Kinder mit Röteln werden im Krankenhaus bis zum 7. Tag nach Exanthembeginn isoliert. Säuglinge mit konnatalen Röteln müssen bis zum Ende des 1. Lebensjahrs als infektiös betrachtet werden. Seit 2012 sind Röteln meldepflichtig. 14.22

Mumps, Parotitis epidemica

jjEpidemiologie Mumps ist ubiquitär. Der Mensch ist das einzige Erregerreservoir. Vor der Impfära lag das Prädilektionsalter für Mumps zwischen dem 2. und 15. Lebensjahr. Jungen erkranken häufiger als Mädchen. Nach Einführung der Mumpsvakzine ging die Erkrankungshäufigkeit drastisch zurück. In den letzten Jahren ist es auch in Deutschland wieder zu lokalen Mumpsausbrüchen gekommen, ebenso in europäischen Ländern sowie in Nordamerika. Die Übertragung erfolgt v. a. aerogen durch Tröpfchen und durch direkten Kontakt. Der Speichel ist hochkontagiös. Die Patienten sind 3–5(–7) Tage vor Auftreten der Parotitis bis max. 9 Tage danach infektiös. Die Inkubationszeit variiert von 12–25 Tagen (16–18 Tage). Mumps hinterlässt eine lebenslange Immunität. jjÄtiopathogenese Mumpsvirus ist ein RNA-Virus aus der Familie der Paramyxoviridae. Es sind 12 Genotypen bekannt. Die Eintrittspforte ist der obere ­Respirationstrakt. Nach initialer Virusvermehrung in den Schleim-

..Abb. 14.29  Linksseitige Parotisschwellung bei einem 12-jährigen Jungen mit Mumps

häuten und regionalen Lymphknoten kommt es zu einer Virämie mit sekundärer Infektion von Speicheldrüsen, Tränendrüsen, Schild­ drüse, Brustdrüsen, Pankreas, Testes, Ovarien und Nieren. Auch ­Innenohr, Gelenke, Herz und Leber können betroffen sein. Virale Neuroinvasion ist die Regel! Bis zu 70% der Mumpsfälle zeigen eine Liquorpleozytose ohne die typischen Zeichen der Mumpsmeningitis. In infizierten Organen finden sich diskrete, virusbe­dingte Parenchymschäden. Diese lösen heftige entzündliche Reak­tionen aus. Die Krankheitssymptome werden vermutlich hauptsächlich durch die immunologischen Wirtsreaktionen verursacht, wobei spezifische T-Zellen eine entscheidende Rolle spielen. Sind die immunologischen Abwehrfunktionen gestört, wie bei Patienten unter zytostatischer/ immunsuppressiver Therapie, verläuft die Infektion in den meisten Fällen subklinisch. Mumps ist in den meisten Fällen eine akute, selbstlimitierende Erkrankung. Chronische Erkrankungen wurden nur vereinzelt beschrieben. Nach Mumps können zwar in vereinzelten Fällen transitorische Glukoseverwertungsstörungen und Inselzellantikörper auftreten. Nach heutiger Auffassung besteht dennoch kein direkter, kausaler Zusammenhang zwischen Mumps und Diabetes mellitus Typ 1. jjKlinik Mumps zeigt eine große Variabilität im klinischen Erscheinungsbild und in der Reihenfolge der Organmanifestationen. In bis zu 50% der Fälle verläuft die Infektion entweder klinisch stumm oder unter dem Bild einer grippalen Infektion mit Fieber und leichten katarrhalischen Symptomen. Nur in ca. 30–40% der Fälle tritt 16–18 Tage nach Infektion eine bilaterale oder (weniger häufig) unilaterale Parotitis auf (. Abb. 14.29), begleitet von Fieber über 3–4 Tage. Nicht selten sind auch die anderen Speicheldrüsen betroffen. Eine Pharyngitis fehlt fast immer. Häufig besteht auch eine Pankreatitis. Sie äußert sich klinisch durch Appetitlosigkeit, Erbrechen, Oberbauchschmerzen, Steatorrhö, mitunter transitorische Glykosurie und Azetonurie. Die Serumamylase ist erhöht. In ca. 4–6% der Fälle tritt eine aseptische (se­ röse) Meningitis auf. Sie kann bereits eine Woche vor Ausbruch oder

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bis zu 3 Wochen nach Beginn der Parotitis manifest werden oder nicht selten isoliert auftreten. Die Mumpsorchitis manifestiert sich erst während oder nach der Pubertät in bis zu 30% der mumpsinfizierten Adoleszenten und jungen Männer. Sie beginnt meist am Ende der ersten Krankheitswoche unter erneutem Fieberanstieg mit starker Schwellung und Druckschmerzhaftigkeit (oft nur einseitig). Eine vorangehende ­Parotitis kann auch fehlen. Weitere seltene Manifestationen sind: Mumpsenzephalitis (mit Bewusstseinsstörungen, zerebralen Krampfanfällen, Hirnnervenlähmungen und Hemiplegien), Oophoritis, Thyreoiditis, Uveitis, Myokarditis und Arthritis. >> Bei jeder aseptischen Meningitis sollte auch an eine Mumpsinfektion gedacht werden!

Nach Mumpsmeningitis kann in ca. 1:10.000 Fällen eine Innenohrschwerhörigkeit (oft nur partiell oder unilateral) auftreten. Eine Mumpsinfektion im 1. Drittel der Schwangerschaft kann zum Absterben der Frucht und zum Abort führen. Eine Mumpsembryopathie ist nicht bekannt. jjDiagnose Die akute Infektion kann durch die Bestimmung spezifischer IgMAntikörper mittels ELISA nachgewiesen werden. In besonderen Fällen ist auch die Virusanzucht aus Rachenabstrich, Speichel, ­Liquor, Urin oder Biopsiematerial möglich oder der Nachweis von Mumps-RNA mittels spezieller PCR. Bei Mumpsmeningitis zeigt der Liquor eine mäßige lymphozytäre Pleozytose (10–2.000 Zellen/µl) bei normalem bis leicht erhöhtem Eiweiß und normalem bis leicht erniedrigtem Liquorzucker. Im Liquor treten 2–3 Wochen später virusspezifische oligoklonale Mumpsantikörper auf als Ausdruck einer intrathekalen Immun­ reaktion.

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jjTherapie, Prophylaxe Eine spezifische Therapie existiert nicht. Auch eine symptomatische Behandlung ist selten erforderlich. Bei schweren Verläufen (Mumps­ enzephalitis, Orchitis) sind u. U. Kortikosteroide indiziert. Alle Kinder (und noch seronegative Adoleszenten und Erwachsene) sollten 2-mal gegen Mumps geimpft werden (7 Kap. 17). Spezielle Immunglobuline zur passiven Immunisierung stehen nicht zur Verfügung. Gemeinschaftseinrichtungen dürfen 9 Tage nach Beginn der Parotitis wieder besucht werden. Seit 2012 ist Mumps meldepflichtig. 14.23

Slow-Virus-Erkrankungen

Diese Erkrankungen sind charakterisiert durch: 44 monate- bis jahrelange Inkubationszeit, 44 ein zum Exitus letalis führender, langsam progredienter Krankheitsverlauf, 44 Beschränkung der Infektion auf eine Spezies und ein Organ, bzw. Organsystem. Zu den Slow-Virus-Erkrankungen werden heute folgende Krankheitsbilder gezählt: 44 subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), 44 progressive Rötelnpanenzephalitis (PRP), 44 progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML), 44 klassische und neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK),

44 Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Syndrom (GSS), 44 fatale familiäre Insomnie (FFI). 14.23.1

Subakute sklerosierende P ­ anenzephalitis

jjEpidemiologie Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) kommt weltweit vor. Nach neueren Untersuchungen liegt das Risiko für masernkranke Kinder unter 5 Jahren bei 1:2.000 bis 1:4.000. Säuglinge ­haben ein besonderes Risiko. Jungen sind 3-mal so häufig betroffen wie Mädchen. Zwischen der vorausgegangenen Maserninfektion und dem Erkrankungsbeginn liegen in der Regel 5–10 Jahre. Das durchschnittliche Erkrankungsalter wird mit 8–11 Jahren angegeben. Der jüngste bisher beschriebene Patient erkrankte nach einer perinatalen Infektion im Alter von 4 Monaten. In Ländern mit einer konsequenten Impfpolitik und einem drastischen Rückgang der ­natürlichen Masern ist die SSPE fast verschwunden. jjÄtiopathogenese Wie das Masernwildvirus ursprünglich in das ZNS gelangt und ­wodurch die lange Inkubationszeit zwischen der akuten Masern­ infektion und dem Ausbruch der SSPE bestimmt wird, ist nach wie vor nicht klar. Fast immer lässt sich anamnestisch eine vorausge­ gangene Maserninfektion erfassen. In einem hohen Prozentsatz­ (ca. 50%) der an SSPE Erkrankten erfolgte die Maserninfektion vor dem 2. Lebensjahr. Weitere Risikofaktoren sind nicht bekannt. Es gibt bisher keine Hinweise für einen spezifischen zellulären oder humoralen Immundefekt. Im Gegenteil, Patienten mit SSPE besitzen in der Regel hohe Titer an neutralisierenden Antikörpern, die man sowohl im Serum als auch im Liquor oder Hirngewebe nachweisen kann. Bei dem im Gehirn persistierenden Masernvirus ist die virale Genexpression eingeschränkt. Es werden relativ große Mengen der internen viralen Proteine (Nukleokapsid, Phosphorprotein) pro­ duziert, während das Matrixprotein und die äußeren Proteine ­(Fusionsprotein, Hämagglutinin) entweder gar nicht oder in nur sehr kleinen Mengen exprimiert werden. Vollinfektiöses Virus wird nicht gebildet. jjKlinik Die Krankheit zeigt eine große Variabilität hinsichtlich ihrer klinischen Manifestationen. Der Verlauf wird in 3 Stadien eingeteilt: 44 Das Stadium I ist gekennzeichnet durch Verhaltensauffälligkeiten, Persönlichkeitsveränderungen und ein Nachlassen intellektueller Leistungen. Mitunter finden sich in diesem Stadium charakteristische Augenhintergrundveränderungen als Folge der zentralnervösen Masernvirusinfektion. 44 Im Stadium II treten neurologische Symptome auf, v. a. Myoklonien, abrupt einsetzende rhythmische Zuckungen an einzelnen Gliedern oder am ganzen Körper sowie zerebrale Anfälle. 44 Das Stadium III zeigt eine zunehmende, extrapyramidale ­Tonussteigerung sowie zentrale, vegetative Regulationsstörungen bis hin zu einem Zustand der Dezerebration. In ca. 80% der Fälle finden sich charakteristische EEG-Muster, periodische, hochvoltige Slow-wave-Komplexe („Radermecker-Komplexe“), die nach Intervallen von 3,5–12 s wiederkehren. Die Erkrankung führt meistens innerhalb von 3–5 Jahren nach Krankheitsbeginn zum Tode. Darüber hinaus gibt es auch sehr rasch progrediente und extrem langsame Verläufe. In ca. 5% werden auch Spontanremissionen beobachtet.

317 Virusinfektionen

jjDiagnose Die Diagnose basiert auf der klinischen Symptomatologie, den ­charakteristischen EEG-Veränderungen und dem Nachweis hoher Titer masernvirusspezifischer Antikörper im Serum und Liquor. Der Liquor ist bis auf eine Erhöhung der Immunglobuline normal. Das Liquor-IgG ist oligoklonal und besteht zu 70–80% aus masernvirusspezifischen Antikörpern. Im kranialen MRT lassen sich bei fortgeschrittener Erkrankung hyperintense Läsionen v. a. in den Marklagern nachweisen. jjTherapie, Prophylaxe Es existiert bisher keine spezifische Therapie. Steroide führen meist zu einer Verschlechterung des Krankheitsbilds. In Einzelfällen wurde über eine klinische Besserung unter Therapie mit Interferon α, ­Ribavirin und Isoprinosin berichtet. Die Masernimpfung schützt mit großer Sicherheit vor dem Auftreten einer SSPE. 14.23.2

Progressive Rötelnenzephalitis (PRP)

Diese chronisch progrediente, entzündliche ZNS-Erkrankung tritt als seltene Folge einer konnatalen oder postnatal erworbenen ­Rötelninfektion auf. Die Krankheit ist extrem selten. Die neurologischen Symptome, die in der Regel 8–12 Jahre nach Infektion auftreten, zeigen große Ähnlichkeit mit denen einer SSPE. Im Serum und Liquor lassen sich hohe Titer rötelnvirusspezifischer Antikörper nachweisen. Im Unterschied zur SSPE zeigt der Liquor meistens eine mäßige, lymphozytäre Pleozytose. Die Prognose der Erkrankung ist ungünstig. Es existiert keine spezifische Therapie. 14.23.3

Progressive multifokale ­Leukoenzephalopathie

jjGrundlagen Die progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) ist eine stets tödlich verlaufende, subakute demyelinisierende Erkrankung bei Patienten mit schwerer zellulärer Immuninsuffizienz. Die ­Erkrankung wurde vereinzelt bei Kindern mit angeborenen Immundefekten beschrieben. Vor Einführung der hochaktiven antiretroviralen Therapie trat sie hauptsächlich bei Kindern und Erwachsenen mit fortgeschrittener HIV-Infektion auf. Verantwortlicher Erreger ist Polyomavirus JC. Die Seroprävalenz im Erwachsenenalter liegt bei ca. 80–90%. jjKlinik Die Infektion verläuft bei immunkompetenten Individuen immer asymptomatisch. Bei Patienten mit schwerer Immuninsuffizienz kommt es infolge Primärinfektion (bei Kindern) oder lokaler Reaktivierung (bei Erwachsenen) zur zytolytischen Infektion der Oligodendrozyten mit nachfolgender Demyelinisierung. Die Krankheit beginnt schleichend mit Wesensveränderung, kognitiven Dysfunktionen und motorischen Störungen in Form von Ataxien, Hemiparesen und bulbären Symptomen. Die Krankheit führt meistens ­innerhalb von 12–24 Monaten zum Tode. >> Wenn bei einem Patienten mit schwerer zellulärer Immun­ insuffizienz neurologische Auffälligkeiten auftreten, sollte immer an eine PML gedacht werden!

jjDiagnose Diagnostische Methode der Wahl ist der Nachweis von Polyoma­ virus JC im Liquor mittels PCR.

jjTherapie Es existiert keine spezifische Therapie. 14.23.4

Übertragbare spongiforme ­Enzephalopathien (Prionerkrankungen)

jjDefinition Übertragbare spongiforme Enzephalopathien (sog. Prionkrankheiten) sind infektiöse, neurodegenerative Erkrankungen des ZNS, die nach kurzem klinischem Verlauf innerhalb von 2 Monaten bis 2 Jahren zum Tode führen. Dazu gehören beim Menschen die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, Scrapie beim Schaf und die bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE). jjEpidemiologie Die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) tritt mit einer Häufigkeit von 1:1 Mio. Einwohner weltweit auf. Man unterscheidet zwischen einer sporadischen (ca. 90%) und einer familiären Form (ca. 10%). Bis auf wenige Ausnahmen sind ältere Menschen betroffen (Altersgipfel bei 65 Jahren). Die Inkubationszeit beträgt in der Regel ­10(–30) Jahre. CJK ist keine ansteckende Krankheit im üblichen Sinn. Der Erreger wird von den Erkrankten nicht ausgeschieden. Lediglich nach therapeutischen Eingriffen (Dura mater- oder Hornhauttransplantationen, Verwendung kontaminierter Instrumente, Substitution von erregerhaltigem Wachstumshormon) wurde von einer Übertragung berichtet. Neben der seit langem bekannten klassischen Form wurde 1996 in England erstmalig eine neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beschrieben. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich bei dieser neuen Variante um eine BSE-Infektion beim Menschen handelt (durch Verzehr von prionenverseuchtem Rindfleisch). jjÄtiologie Nach heutiger Auffassung handelt es sich bei den infektiösen Er­ regern um Prionen, infektiöse Eiweißmoleküle mit einem Molekulargewicht von 28 kd und der Fähigkeit zur Selbstreplikation ohne eigenes nukleinsäurehaltiges Genom. Neuropathologie  Durch die Vermehrung des infektiösen Erregers im Gehirn kommt es zum Absterben von Neuronen, zu ausgeprägter astrozytärer Gliose und zur Bildung von Mikrovesikeln. Dadurch entsteht eine schwammartige Auflockerung des Hirnparenchyms. Charakteristisch sind ferner regional unterschiedliche Ablagerungen vom Amyloid. Die neue Variante der CJK geht mit besonders auffälligen und extensiven Amyloidablagerungen einher. Bemerkenswert ist das Fehlen jeglicher lokaler (und systemischer) Entzündungsreaktionen.

jjKlinik Im Frühstadium der klassischen CJK stehen psychopathologische Symptome im Vordergrund, wie Gedächtnis-, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, erhöhte Reizbarkeit und ängstlich agitierte oder depressive Zustandsbilder. Darauf tritt eine progrediente ­Demenz immer mehr in Erscheinung. Hinzu kommen vielfältige neurologische Symptome (Myoklonien, visuelle oder zerebelläre Veränderungen, pyramidale und extrapyramidale Symptome u. a.). Mitunter finden sich typische EEG-Veränderungen in Form von ­periodischen scharfen Wellen. Das Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Syndrom und die tödliche familiäre Insomnie sind besondere klinische Verlaufsformen der CJK.

14

318

V. Schuster und H.W. Kreth

j jDiagnose Die Diagnose wird in der Regel nach klinischen Symptomen und dem EEG-Befund gestellt. Gestützt wird die Diagnose durch den Nachweis von neuronalen Destruktions- und glialen Aktivierungsmarkern im Liquor (neuronenspezifische Enolase, Proteine 14-3-3, S100-β-Protein). Die genannten Marker sind allerdings nicht spezifisch für CJK. Ansonsten ist der Liquor unauffällig. Eine definitive Diagnose kann nur durch die Untersuchung von Hirngewebe gestellt werden. jjTherapie und Prophylaxe Es gibt bisher keine wirksame Therapie. Iatrogene Übertragungen durch chirurgische Instrumente können durch adäquate Dekontaminationsmaßnahmen vermieden werden (z. B. Dampfautoklavieren bei 134°C für 1 h, Behandlung mit 2,5–5%iger Natriumhypochloritlösung oder 1–2 N Natronlauge für 1 h. Prionenverseuchte Nahrungsmittel dürfen auf keinen Fall in den Verkehr gebracht werden. Humane spongiforme Enzephalopathien – außer familiärhereditären Formen – sind meldepflichtig. 14.24

14

Tollwut (Rabies, Lyssa)

j jEpidemiologie Tollwut ist eine weltweit verbreitete Zoonose. Das Tollwutvirus wird durch infektiösen Speichel bei Kratz- und Bisswunden von infizierten Tieren (Füchse, Hunde, Fledermäuse, Katzen u. a.) übertragen. Die jährliche Inzidenz von Tollwut beim Menschen wird weltweit auf 40.000–100.000 Fälle geschätzt. Deutschland gilt derzeit als „tollwutfrei“. Die Inkubationszeit beträgt 5 Tage bis mehrere Jahre. Sie ist ­abhängig von der Lokalisation der Bissstelle (Cave: Gesicht, Augenregion!) und der inokulierten Virusmenge. Bei Kindern ist die Inkubationszeit kürzer. j jÄtiologie Lyssaviren sind RNA-Viren aus der Familie der Rhabdoviridae. j jKlinik Bei ca. 20–50% der von einem mit Tollwutvirus infizierten Tier ­gebissenen Personen kommt es zu einer manifesten Tollwuterkrankung. Die klinische Symptomatik beginnt mit unspezifischen Symptomen am Inokulationsort (lokale Schmerzen, Parästhesien u. a.). Später kommen starke Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Fieber hinzu. Mit fortschreitender Erkrankung treten generalisierte motorische Unruhe, Erregungszustände, Halluzinationen, Muskelkrämpfe und Tremor auf. Tollwutverdächtige Symptome sind Hypersalivation, Hydro- und Aerophobie, Photophobie und aggressive Beißbewegungen. Nach wenigen Tagen stellt sich ein paralytisches Stadium mit schlaffen Paresen ein. Ohne intensivmedizinische Maßnahmen dauert die manifeste klinische Symptomatik meist 2–6 Tage an, Todesursachen sind zentrale oder periphere Ateminsuffizienz oder Herzversagen aufgrund einer Myokarditis. >> Eine manifeste Tollwuterkrankung endet immer letal!

j jDiagnose Die Verdachtsdiagnose einer Tollwutinfektion ergibt sich u. a. aus den Begleitumständen der Infektion (auffälliges Verhalten des beißenden Tiers) und der klinischen Symptomatik. Das Tollwutvirus kann in der Haut (oberhalb des Nackens), im Speichel, im Liquor und (post mortem) im Hirngewebe nachgewiesen werden. Lyssaspe-

zifische Serumantikörper lassen sich erst ab dem 10. Krankheitstag nachweisen. Bei mit Tollwut infizierten Tieren endet die Krankheit innerhalb 4–8 Tagen tödlich. !! Cave Wenn irgend möglich, sollte ein verendetes tollwutverdächtiges Tier veterinärmedizinisch untersucht werden.

jjTherapie, Prophylaxe Mangels einer antiviralen Therapie ist nur eine symptomatische Linderung der neurologischen Beschwerden möglich. Nach jeder potenziellen Tollwutexposition muss die Bisswunde gründlich mit Wasser und Seife gereinigt und mit einem alkohol­ haltigen oder jodhaltigen Desinfektionsmittel desinfiziert werden. Ggf. muss eine Wundexzision durchgeführt werden. Anschließend erfolgt – bei hohem Erkrankungsrisiko – sofort simultan eine pas­ sive und aktive Immunisierung mit: 44 Tollwutimmunglobulin (z. B. Berirab oder Tollwutglobulin Mérieux P), 20 IE/kgKG) 50%, um die Bisswunde infiltrieren, 50% intragluteal injizieren, 44 Tollwutimpfstoff (z. B. Rabipur) je 1 Dosis an den Tagen 0, 3, 7, 14, 28 i.m. in den M. deltoideus (bei Kleinkindern in den M. vastus lateralis). Das beißende Tier sollte – wenn möglich – 10 Tage lang eingesperrt werden. Ein mit Tollwut infiziertes Tier muss nach dieser Zeit typische Tollwutsymptome zeigen und nach einigen Tagen verenden. >> Die Verletzung eines Menschen durch ein tollwutkrankes, -verdächtiges oder -ansteckungsverdächtiges Tier sowie die Berührung eines solchen Tieres oder Tierkörpers ist meldepflichtig.

14.25

Poliomyelitis

jjEpidemiologie Die Poliomyelitis kommt weltweit vor. Durch weltweite Impfprogramme ist die Erkrankung heute in vielen Ländern verschwunden. In Deutschland tritt die Poliomyelitis zurzeit nur noch als „importierte“ Form (letzter gemeldeter Fall: 1992) auf. Die Übertragung des Virus erfolgt meist auf fäkal-oralem Weg. Infektiöses Virus wird im Rachen 1 Woche, im Stuhl 3–6 Wochen lang ausgeschieden. Nach einer Poliowildvirusinfektion besteht in der Regel lebenslange Immunität. Die klinische Symptomatik einer Poliovirusinfektion ist altersabhängig: Je älter ein Patient ist, umso schwerer ist im Allgemeinen die Erkrankung (paralytische Form). Die Inkubationszeit beträgt in der Regel 7–14 Tage (3–35 Tage). jjÄtiologie Polioviren gehören zur Gruppe der Enteroviren (7 Abschn. 14.26) und zur Familie der Picornaviren (Pico-RNA-Viren). Es existieren 3 Serotypen, von denen Typ I am virulentesten ist. jjKlinik In 90–95% der Fälle verläuft eine Poliovirusinfektion asymptomatisch. In 4–8% tritt, v. a. bei Kleinkindern, nach einer Poliovirusinfektion eine abortive Poliomyelitis („minor illness“) mit Fieber von 1–3 Tagen Dauer, Abgeschlagenheit, Halsschmerzen sowie oft Durchfall und Erbrechen auf. Etwa 5–10% dieser Patienten, v. a. ­ältere Kinder und Erwachsene, entwickeln nach einem beschwerdefreien Intervall von ca. 1 Woche eine 2. Krankheitsphase mit folgenden 2 Krankheitsbildern („major illness“):

319 Virusinfektionen

44 nichtparalytische Poliomyelitis in Form einer aseptischen ­Meningitis, 44 paralytische Poliomyelitis (bis zu 1% aller Poliomyelitisinfektionen). Bei der paralytischen Form treten meist einige Tage nach der lymphozytären Meningitis nicht selten abrupt schlaffe Lähmungen, Adynamie und oft erhebliche Schmerzen auf. Die Lähmungen sind meist in den proximalen Muskelgruppen der unteren Extremitäten lokalisiert und asymmetrisch verteilt. Bei Beteiligung der Interkostalmuskulatur, des Zwerchfells und des Hirnstamms (bulbopontine und bulbäre Form) kann es zur Atemlähmung kommen. Bei den bulbopontinen und bulbären Formen treten darüber hinaus Schluckstörungen und vegetative Symptome (Tachykardie, Hypertonie, Schweißausbrüche) auf. Bei Beteiligung weiterer Rückenmarksegmente können auch Blasen- (20%) und Mastdarmfunktion beeinträchtigt sein. jjPrognose Die abortiven und nichtparalytischen Formen der Poliomyelitis heilen innerhalb weniger Tage (bis 2 Wochen) folgenlos aus. Bei der paralytischen Poliomyelitis kommt es in ca. 50% zu einer Restitutio ad integrum. Etwa 25% der Patienten leiden unter milden, ca. 25% unter schweren permanenten Muskelschwächen bzw. Lähmungen. Die Rückbildung der Symptomatik kann bis zu 2 Jahre beanspruchen, die ersten 6 Monate nach Erkrankung sind allerdings prognostisch entscheidend. Die Letalität der paralytischen Poliomyelitis beträgt ca. 1–4%, bei der bulbären Verlaufsform bis zu 10%. Nach 2–3 Jahrzehnten kann es bei einem Teil der Patienten mit durchgemachter paralytischer Poliomyelitis erneut zu Muskelschwund, Ermüdungserscheinungen und Schmerzen in betroffenen und vorher nicht betroffenen Muskelpartien kommen (sog. Postpoliomyelitissyndrom). Die Ursache ist noch nicht geklärt. jjDiagnose Charakteristisch für die schwere paralytische Form ist der doppelgipflige Fieberverlauf („Dromedarkurve“). Die Diagnose wird gesichert durch den serologischen Nachweis von Poliovirusserumantikörpern und den Erregernachweis (Isolierung, RT-PCR) aus Stuhl, Rachenspülwasser und Liquor. Die Liquoruntersuchung ergibt meist eine lymphozytäre Pleozytose (20–300 Zellen/µl) bei leicht erhöhtem Proteingehalt. jjTherapie Eine etablierte antivirale Therapie existiert nicht. Die Behandlung ist rein symptomatisch. Bei Schluck- und Atemstörungen ist eine frühzeitige intensivmedizinische Betreuung erforderlich. Bei der paralytischen Form sollten immer geeignete Rehabilitationsmaßnahmen folgen. Patienten mit Poliomyelitis sowie asymptomatische Poliovirusausscheider sind enterisch zu isolieren.

14.26

Enterovirusinfektionen

jjEpidemiologie Enteroviren sind ubiquitär vorhanden. Enterovirusinfektionen treten in temperierten Klimazonen v. a. in den Sommermonaten auf. Der Mensch stellt das einzige Erregerreservoir dar. Die Ansteckung erfolgt überwiegend auf fäkal-oralem Weg, selten auch oral-oral ­(respiratorisch). Enteroviren können bis zu 6 Wochen nach Beginn der Infektion im Stuhl ausgeschieden werden. Eine Enterovirus­ infektion hinterlässt wahrscheinlich eine lebenslange, (allerdings nur) typenspezifische Immunität. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel 3–6 Tage (2–35 Tage). jjÄtiologie Enteroviren sind kleine, nicht umhüllte RNA-Viren aus der Familie der Picornaviridae. Zum Genus Enterovirus zählen: 44 Poliovirus: (3 Serotypen, 7 Abschn. 14.25), 44 Coxsackievirus A (23 Serotypen), 44 Coxsackievirus B (6 Serotypen), 44 ECHO-Virus (29 Serotypen) und 44 neue Enteroviren 68–71 und 73–78. jjKlinik Infektionen mit nichtpolioviralen Enteroviren (Coxsackie-, ECHOund Enterovirustypen 68–71 und 73–78) sind im Kindesalter sehr häufig. In den meisten Fällen (>95%) verlaufen sie subklinisch. Enterovirusinfektionen manifestieren sich klinisch meist als unspezifische fieberhafte Erkrankungen der oberen Luftwege mit Kopf- und Gliederschmerzen, Pharyngitis, Tonsillitis, Lymphadenopathie und Bronchitis. Weiterhin können Enterovirusinfektionen eine Vielzahl von spezifischen Krankheitsbildern verursachen (. Tab. 14.4, . Abb. 14.30). jjDiagnose Beweisend für eine Enterovirusinfektion ist die Virusisolierung (mit anschließender Typisierung) aus Liquor, Blut, Rachen­spül­ wasser, Bläscheninhalt oder Biopsiematerial. Der Virusnachweis ­allein im Stuhl ist für die Diagnose unzureichend. EnterovirusRNA kann darüber hinaus auch mit molekularbiologischen ­Methoden  nachgewiesen werden. Serologische Untersuchungen sind überhaupt nur dann indiziert, wenn bereits ein gezielter ­Verdacht auf eine Infektion mit einem bestimmten Serotyp vorliegt.  Ein mindestens 4-facher Titeranstieg in der Komplement­ bindungsreaktion oder im Neutralisationstest spricht für eine frische Infek­tion.

jjProphylaxe Eine Poliomyelitis kann durch eine aktive Immunisierung zu 100% verhindert werden. >> Zur aktiven Immunisierung wird in Deutschland nur noch die inaktivierte trivalente Poliovirusimpfung nach Salk empfohlen (7 Kap. 17).

Meldepflichtig bei Poliovirusinfektionen sind Verdacht, Erkran-

kung und Tod.

..Abb. 14.30  Hauteffloreszenzen bei Hand-Fuß-Mund-Krankheit

14

320

V. Schuster und H.W. Kreth

..Tab. 14.4  Erkrankungen durch Enteroviren (Coxsackie- und ECHO-Viren, Enteroviren 68–71)

14

Krankheitsbild

Virustypen

Fieberhafte morbilliforme, rubeoliforme, urtikarielle oder petechiale Exantheme

Coxsackie A4, A9, B5, ECHO 4, 9, 16; Enterovirus Typ 71

Herpangina

Coxsackie A2, A4–A6, A8, A10

Hand-Fuß-Mund-Krankheit

Coxsackie A16, A6, A10 (. Abb. 14.30)

Pleurodynie (BornholmErkrankung)

Coxsackie B1–B6, ECHO 6, 9

Myositis, Polymyositis

Coxsackie A2, A9; ECHO 18

Myokarditis, Perikarditis

Coxsackie B1–B5, A4, A9; ECHO 6, 9

Schlaffe Muskellähmungen

Coxsackie A4, A7, A9, B2, B3; ECHO 9, 11, 20; Enterovirus Typ 68, 70 und 71

Akute hämorrhagische Konjunktivitis

Meist Enterovirus 68, 70 und 71

Meningitis

Coxsackie A7, A9, B2, B4, B5; ECHO 4, 6, 9, 11, 30, 33

Enzephalitis

Coxsackie A9, B2, B4, B5; ECHO 3, 4, 6, 9, 11, 30; Enterovirus Typ 71

Zerebelläre Ataxie

Coxsackie A4, A7, A9; ECHO 9

Orchitis

Coxsackie B2, B4, B5

Schwere Neugeborenen­ erkrankungen

Coxsackie B1–B5, ECHO 9, 11, 17, 19, 31

Chronische Meningoenzephalitis bei Agammaglobulinämie

ECHO 6, 9, 11, 18 u. a.

>> Eine „ungerichtete“ Serodiagnostik auf Enteroviren ist bei der Vielzahl der Erreger sinnlos.

j jTherapie Eine wirksame virusspezifische Therapie steht derzeit nicht zur Verfügung. Bei Patienten mit Agammaglobulinämie, die an einer chronischen ECHO-Virusinfektion leiden, kann ein Behandlungsversuch mit möglichst hochtitrigen typenspezifischen Antikörpern evtl. in Verbindung mit Interferon sinnvoll sein. Bei leichteren Krankheitsverläufen ist die Behandlung rein symptomatisch. Steroide sollten bei einer akuten Enterovirusinfektion, v. a. bei Myokarditis, nicht verabreicht werden. jjProphylaxe Impfstoffe gegen Enteroviren (mit Ausnahme von Polioviren) existieren nicht. Bei Ausbrüchen von schweren Enterovirusinfektionen (Myokarditis, Meningitis) auf Neugeborenenstationen ist eine Prophylaxe mit Immunglobulinen für die gesunden Kindern zu erwägen. Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings, dass man oft nicht weiß, ob überhaupt ausreichende Mengen an spezifischen Anti­ körpern gegen den ursächlichen Serotyp in dem verwendeten ­Immunglobulinpräparat enthalten sind. Zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen ist gründliches Händewaschen äußerst ­wichtig. Patienten mit akuter Enterovirusinfektion sind enterisch zu isolieren.

14.27

Parechovireninfektion

Parechoviren (PeV) gehören zur Familie der Picornaviren. Parechoviren können Gastroenteritiden und Erkrankungen des oberen und unteren Respirationstrakts verursachen (v. a. PeV1 und 2). Daneben werden sie zunehmend als Auslöser von sepsisähnlichen Krankheitsbildern mit neurologischer Beteilung, insbesondere in der Neonatalperiode, identifiziert (v. a. PeV3). Das Parechovirusgenom kann mittels RT-PCR in respiratorischem Sekret, Stuhl oder Liquor nachgewiesen werden. Die Therapie ist rein symptomatisch. 14.28

Hantavirusinfektionen

jjEpidemiologie Hantaviren (aus der Familie der Bunyaviridae) sind in weiten Teilen Eurasiens endemisch, u. a. Skandinavien, Russland, Balkanregion. Die natürlichen Wirte der Hantaviren sind chronisch infizierte ­Mäuse und Ratten. Jeder Virustyp hat seinen ganz speziellen Nager als Wirt. Der in Deutschland vorherrschende Virustyp, das Puumalavirus, wird durch die Rötelmaus übertragen. Die Übertragung auf den Menschen erfolgt wahrscheinlich durch infektiöse Aerosole der Nagerexkremente (staubhaltige Luft in alten Scheunen, Dachböden etc.) oder durch Biss von infizierten Nagern. Es besteht eine saiso­ nale Häufung im Herbst und Winteranfang. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel 12–16 Tage. jjKlinik Hantaviren verursachen, je nach auslösendem Hantavirussubtyp und geographischer Region, folgende Krankheitsbilder: 44 hämorrhagisches Fieber mit renalem Syndrom (Subtypen Hantaan, Seoul), 44 Nephropathia epidemica (Subtyp Puumala; kommt auch in Deutschland vor), 44 hantavirusvermitteltes pulmonales Syndrom (meistens Subtyp Sin Nombre). Es wird vermutet, dass 90% der Hantavirusinfektion (Puumala-­ Subtyp) in Deutschland asymptomatisch verlaufen. Die Letalität beträgt ca. 1%. Bei Kindern mit Nephropathia epidemica stehen unspezifische grippale Symptome, abdominelle Schmerzen (u. a. Nierenlager), Oligurie und Blutdruckerhöhung im Vordergrund. Laborunter­ suchungen ergeben am häufigsten eine Protein- und/oder Häma­ turie, Erhöhung der Nierenretentionswerte sowie eine Thrombo­ zytopenie. Hämorrhagische Symptome mit Petechien oder gastrointestinale Blutungen sind selten. Die Entwicklung eines schweren Nierenversagens mit Dialysepflichtigkeit ist die Ausnahme. jjDiagnose, Therapie Die Verdachtsdiagnose einer Hantavirusinfektion (Epidemiologie, Klinik) kann durch den serologischen Nachweis von virusspezifischen Antikörpern (v. a. IgM) erhärtet werden. Die Therapie von leichter verlaufenden Hantavirusinfektionen ist rein symptomatisch. Bei schweren Verläufen kann ein Therapieversuch mit Ribavirin erwogen werden. Impfstoffe oder spezielle Immunglobuline stehen bisher nicht zur Verfügung. Bei allen Formen des viral bedingten hämorrhagischen Fiebers sind Verdacht, Erkrankung und Tod meldepflichtig.

321 Virusinfektionen

14.29

Frühsommermeningoenzephalitis

jjEpidemiologie Die Frühsommermeningoenzephalitis (FSME, Zeckenenzephalitis, zentraleuropäische Enzephalitis) kommt europaweit, v. a. in Russland, im Balkan sowie in Zentral- und Nordeuropa vor. Die Endemiegebiete in Deutschland liegen hauptsächlich in Bayern, BadenWürttemberg und im Saarland. FSME-Erkrankungen treten v. a. in den Monaten April bis November auf. Das FSME-Virus wird überwiegend durch Zeckenstiche übertragen. Wichtigster Überträger ist Ixodes ricinus, der „Gemeine Holzbock“. >> In Endemiegebieten sind ca. 0,1–1% der Zecken durchseucht.

Etwa 12–15% aller FSME-Erkrankungen betreffen das Kindesalter. Die Inkubationszeit beträgt ca. 10 Tage (3–28 Tage). Nach einer FSME-Infektion besteht lebenslange Immunität. jjÄtiopathogenese Das FSME-Virus gehört zur Familie der Flaviviren. Über die Pathogenese ist relativ wenig bekannt. Nach der Infektion kommt es zu einer starken Virusvermehrung im retikuloendothelialen System und in Gefäßendothelien. Während der Virämie (3–14 Tage nach Zeckenstich) können bei dem Patienten grippeähnliche Symptome auftreten. Nach ZNS-Invasion des FSME-Virus und anschließender lokaler Virusreplikation kann es in einer 2. Krankheitsphase zum Auftreten neurologischer Symptome kommen. jjKlinik In 70–90% verläuft eine FSME-Infektion asymptomatisch. Bei ­10–30% der Infizierten kommt es nach meist ca. 10 Tagen zu einem grippeähnlichem Krankheitsbild für ca. 3–7 Tage („Sommer­ grippe“). Bei ca. 10% dieser Personen tritt nach einem kurzen beschwerdefreien Intervall eine 2. Krankheitsphase mit Fieberanstieg und folgender neurologischer Symptomatik auf: 44 Meningitis (60%), 44 Meningoenzephalitis (30%), 44 Meningoenzephalomyelitis (10%). Die Restitutionsphase beginnt nach etwa 3 Tagen mit kontinuier­ licher klinischer Besserung im Verlauf von 1–3 Wochen. Eine ­Defektheilung (Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, motorische Lähmungen, Muskelschwäche) tritt v. a. bei älteren Menschen in ca. 10% auf. Die Letalität beträgt ca. 1% (beim östlichen FSMEVirussubtyp ca. 20%). Kinder und Jugendliche haben in der Regel leichtere (meningitische) Krankheitsverläufe. jjDiagnose Bereits anhand der Anamnese (Zeckenstich, Endemiegebiet, Jahreszeit) und der klinischen Symptomatik (biphasischer Krankheits­ verlauf) ergibt sich der Verdacht auf eine FSME-Erkrankung. Die Diagnose wird durch den serologischen Nachweis von FSME-spezifischen Serumantikörpern gesichert. Die Liquoruntersuchung in der 2. Krankheitsphase ergibt typischerweise eine lymphozytäre Pleozytose (> Zielgruppe für eine FSME-Impfung sind alle Personen, die sich in Endemiegebieten vermehrt im Freien aufhalten.

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Meldepflichtig sind Erkrankung und Tod nach einer FSME-­

Infektion. 14.30

HIV-Infektionen

jjEpidemiologie Die Zahl der HIV-Infizierten in Deutschland seit 1982 wird auf 88.400 (Stand: 2016) geschätzt, darunter befinden sich weniger als 708 Kinder (Stand: 2005). Insgesamt machen vertikale HIV-Infektionen (Mutter-Kind) weniger als 1% aller HIV-Infektionen aus. Adoleszenten, die sich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr oder bei Drogenabusus durch kontaminierte Nadeln infizieren sowie Kinder und Jugend­ liche mit einer Hämophilie, die nach 1985 Gerinnungsprodukte ­erhielten, spielen heute bei Neuerkrankungen zahlenmäßig keine große Rolle mehr. Die vertikale Transmissionsrate bei HIV-infizierten Schwangeren lag in Deutschland ursprünglich bei ca. 19%. Die Transmissionsrate kann durch eine Entbindung per elektiver Sektio (vor Blasensprung und Einsetzen der Wehen) und einer antiviralen Therapie mit Zidovudin für Mutter und Kind auf > Eine vertikale HIV-Übertragung durch Muttermilch spielt in Europa praktisch keine Rolle, da HIV-infizierten Müttern vom Stillen abgeraten werden muss.

jjÄtiopathogenese Das „human immunodeficiency virus“ (HIV) gehört zur Gruppe der Retroviren. Es existieren 2 Haupttypen (HIV-1 und HIV-2). In ­Europa und Nordamerika kommen praktisch nur HIV-1-Varianten vor, in Teilen Afrikas findet sich auch HIV-2 bei einem großen Teil der Bevölkerung. HIV benutzt zur Infektion einer Zelle das Hüllprotein gp120, mit dem es sich an den CD4-Rezeptor und Korezeptor (CCR5 oder CXCR4) der Zielzelle (T-Helferzellen, Makrophagen, Monozyten, Gliazellen u. a.) anheftet. Anschließend fusioniert die HIV-Hülle mit der Zellmembran, 2 RNA-Stränge und mehrere Virusenzyme ­werden in das Zytoplasma freigesetzt. Mittels des viralen Enzyms reverse Transkriptase (RT) wird die RNA in doppelsträngige DNA „übersetzt“ (Provirus). Diese DNA wird anschließend durch das ­viral kodierte Enzym Integrase in das Wirtsgenom im Zellkern eingebaut (Viruslatenz). Durch verschiedene aktivierende Faktoren kommt es zu einer ausgeprägten Virusreplikation mit Freisetzung von neuen HIV-Partikeln in die Blutbahn. Der Verlust der T-Zellfunktion führt zu einem zunehmenden zellulären und humoralen Immundefekt mit der Folge von schweren opportunistischen Infektionen und dem Auftreten von Lymphomen. jjKlinik Die klinische Symptomatik bei horizontal HIV-infizierten Jugendlichen (Infektion durch Geschlechtsverkehr oder durch kontaminierte Blutprodukte) entspricht im Wesentlichen dem Bild bei ­Erwachsenen. Der natürliche Verlauf bei vertikal HIV-infizierten Kindern variiert sehr stark. Ohne Therapie erkranken bereits 25–30% dieser Kinder sehr früh, meist schon innerhalb des­ ­

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V. Schuster und H.W. Kreth

1. Lebensjahrs, an Aids-definierenden Krankheiten (Kategorie C). Sie haben eine schlechte Prognose. Dagegen tritt bei einem großen Teil der Kinder die klinische Verschlechterung erst im Grundschuloder Schulalter auf. Prädiktive Parameter für eine schlechte Pro­ gnose sind u. a. eine hohe Viruslast im Blut und ein schneller Abfall der CD4+-T-Zellen. Die Schwere einer HIV-Infektion bei Kindern wird anhand klinischer Symptome und eines immunologischen Parameters (CD4+Zellen im Blut) klassifiziert (CDC-Klassifikation). Klinische Frühsymptome einer vertikalen HIV-Infektion sind meist noch unspezifisch (Kategorie A). Bei fortschreitender Infektion und Störung im Immunsystem treten klinische Zeichen hinzu, die schon eher an einen Immundefekt denken lassen (Kategorie B). Bei den Aids-definierenden Erkrankungen (Kategorie C) dominieren im Kindesalter Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie und lymphoide interstitielle Pneumonie (LIP), gefolgt von Candidose und schweren rezidivierenden bakteriellen Infektionen (Pneumonie, Meningitis, Osteomyelitis, Sepsis u. a.). Frühsymptome der kindlichen HIV-Infektion (Kategorie A der CDC-Klassifikation) 55Lymphadenopathie 55Hepatosplenomegalie 55Dermatitis 55Bilaterale Parotisschwellungen 55Rezidivierende oder persistierende Infektionen der oberen Luftwege

Mäßig schwere Symptome der kindlichen HIV-Infektion (Kategorie B der CDC-Klassifikation)

14

55Persistierendes Fieber, Dauer >1 Monat 55Einzelne schwere bakterielle Infektionen 55Mundsoor > 2 Monate Dauer bei Kindern älter als 6 Monate 55Nokardiose 55CMV-Infektion, Beginn im 1. Lebensmonat 55HSV-Stomatitis (>2 Episoden/Jahr) 55HSV-Bronchitis, Pneumonitis, Ösophagitis, Beginn im ­ 1. Lebensmonat 55Herpes zoster (>2 Episoden an >1 Dermatom) 55Disseminierte Varizellen 55Lymphoide interstitielle Pneumonie (LIP) 55Toxoplasmose, Beginn im 1. Lebensmonat 55Anämie, Neutropenie, Thrombozytopenie 55Kardiomyopathie, Karditis 55Diarrhö (rezidivierend oder chronisch) 55Hepatitis 55Nephropathie 55Leiomyosarkom

Aids-definierende Erkrankungen bei Kindern unter ­ 13 Jahren, Kategorie C der CDC-Klassifikation 55Bakterielle Infektionen –– >1 schwere kulturell nachgewiesene Infektion mit ­gewöhnlichen Bakterien innerhalb von 2 Jahren –– Tuberkulose –– Atypische Mykobakteriosen (extrapulmonal, disseminiert)

55Pilzinfektionen –– Candidiasis (Ösophagus, Trachea, Bronchien, Lunge) –– Extrapulmonale Kryptokokkose –– Disseminierte oder extrapulmonale Histoplasmose –– Pneumozystis-jirovecii-Pneumonie 55Virusinfektionen –– Herpesviren –– HSV-bedingte mukokutane Ulzera (Dauer >1 Monat) oder –– Bronchitis, Pneumonie, Ösophagitis bei Kindern >1 Monat –– EBV-assoziierte lymphoide interstitielle Pneumonie –– CMV: Retinitis, Ösophagitis, Kolitis bei Kindern ­ >1 Monat –– HIV –– Enzephalopathie –– Kachexie (Wasting-Syndrom) –– JC-Viren –– Progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) 55Parasitäre Infektionen –– ZNS-Toxoplasmose bei Kindern >1 Monat alt –– Kryptosporidiose, chronisch intestinal (Durchfälle dauern >1 Monat) –– Isosporidiasis, chronisch intestinal (Durchfälle dauern >1 Monat) 55Maligne Tumoren –– Lymphome (einschließlich ZNS) –– Kaposi-Sarkom (HHV-8-assoziiert)

jjDiagnostik Virologische Diagnostik  Als sicherer Nachweis einer Infektion ­gelten wiederholt positive HIV-Kulturen, wiederholte Nachweise des p24-Antigens oder der HIV-RNA (RT-PCR). Die letztere Me­thode

erlaubt die Bestimmung der Viruslast und hilft mit bei der Indika­ tionsstellung für eine antiretrovirale Therapie und beim Therapie­ monitoring. Erst der wiederholte Nachweis von HIV-Antikörpern (ELISA, Immunoblot) nach dem 18. Lebensmonat beweist eine HIV-Infek­ tion. Bereits vorher nachgewiesene HIV-Antikörper können von der Mutter diaplazentar übertragen worden sein.

Immunologische Diagnostik  Im Rahmen einer HIV-Infektion

kommt es im Verlauf zu einem zunehmend schweren kombinierten (zellulären und humoralen) Immundefekt. Im Rahmen der initialen Statusdiagnostik und späterer Verlaufskontrollen sollten bei allen HIV-infizierten oder -exponierten Kindern u. a. folgende Parameter im Blut bestimmt werden: 44 quantitative Bestimmung der CD4+-Zellen, 44 Serumimmunglobuline (IgG, IgA und IgM), 44 Impfantikörper nach erfolgter Grundimmunisierung (DTP, Hib, HBV, Polio-Salk), 44 Antikörper gegen verschiedene Herpesviren (nach stattge­ habter Infektion)! Diese Untersuchungen sollten möglichst immer nur am selben immunologisch ausgewiesenen Speziallabor durchgeführt werden. Die Viruslast eines Patienten muss immer mit derselben Bestimmungsmethode quantifiziert werden!

323 Virusinfektionen

Eine nachlassende Immunkompetenz (Abfall der CD4+-Zellen im peripheren Blut, fehlende Produktion oder Verlust von spezifischen Antikörpern, Hypergammaglobulinämie) sind relativ frühe Indikatoren für eine Progression der HIV-Infektion.

helfen meist auch bei der HIV-assoziierten Autoimmunthrombo­ zytopenie.

jjTherapie Derzeit sind eine Heilung von Aids und die Eliminierung des HIV bei Kindern und Erwachsenen noch nicht möglich.

Gabe von Cotrimoxazol (Trimethoprim 150 mg/m2 KOF an 3 aneinander folgenden Tagen pro Woche) zu fast 100% vermeiden.

>> Therapieziel ist eine Lebensverlängerung und eine Verbesserung der Lebensqualität.

Für eine antiretrovirale Therapie stehen z. Z. folgende Substanzklassen zur Verfügung, einige der Substanzen sind bei Kleinkindern allerdings noch nicht zugelassen: 44 nukleosidische Reverse-Transkriptase-Hemmer (NRTI): Zidovudin (AZT), Stavudin (D4T), Zalcitabin (DDC), Didanosin (DDI), Lamivudin (3TC), Abacavir, Tenofovir (TDF), Emtricitabin (FTC) 44 nichtnukleosidische Reverse-Transkriptase-Hemmer ­(NNRTI): Efavirenz, Nevirapin, Etravirin, 44 Proteasehemmer: Indinavir, u. a. 44 Fusionsinhibitoren: Enfuvirtide 44 Integraseinhibitoren: Raltegravir, Elvitegravir 44 Entryinhibitoren: Maraviroc u. a. Die Betreuung sowie die antivirale Therapie von HIV-infizierten Kindern erfordert viel Erfahrung und Kenntnisse und sollte nur in einem spezialisierten Zentrum durchgeführt werden. Bei der Auswahl und Kombination der Medikamente richte man sich unbedingt nach den Empfehlungen der entsprechenden Arbeitsgemeinschaften: Pädiatrische Arbeitsgemeinschaft Aids (PAAD), Pediatric European Network for Treatment of Aids (PENTA). Vertikale HIV-Infektionen  Zur Senkung der vertikalen Transmissionsrate sollten nach den derzeitigen Empfehlungen alle bisher nicht behandelten HIV-positiven Schwangeren ab der 32. SSW mit Zidovudin (AZT, 500 mg/Tag p.o.) oder einer Kombinationstherapie behandelt werden. In der 36. SSW sollte die Geburt durch eine elektive Sektio erfolgen. Unter der Geburt erhält die Mutter Zidovudin per infusionem (2 mg/kgKG über 1 h, anschließend 1 mg/kgKG/h bis zur Geburt. Die postnatale Chemoprophylaxe des Neugeborenen erfolgt je nach Transmissionsrisiko entweder mit Zidovudin allein oder in Kombination mit anderen antiretroviralen Medikamenten (Lamivudin, Nevirapin). Die aktuellen Empfehlungen können unter http://www.rki.de/ abgerufen werden. Hygienemaßnahmen  Eine Isolierung im Krankenhaus ist im

­ llgemeinen nicht erforderlich (Ausnahmen: kontagiöse Sekun­ A därinfektionen, wie z. B. eine offene Tbc). Bei der Pflege sollten bei Kontakt mit Blut Handschuhe getragen werden. Blutspritzer lassen sich durch alkoholische Desinfektionsmittel desinfizieren. Nach Stich-/Schnittverletzungen mit HIV-haltigem Material liegt das ­Infektionsrisiko bei ca. 0,5%. In einem solchen Fall wird allgemein eine antiretrovirale Prophylaxe (z. B. mit 2 Nukleosidanaloga und einem Proteasehemmer) für 4 Wochen empfohlen. Die aktuellen Empfehlungen können beim Robert-Koch-Institut in Berlin abgerufen werden: http://www.rki.de. Immunglobuline  Bei nachgewiesenem B-Zelldefekt sollten HIVinfizierte Kinder alle 3–4 Wochen Immunglobuline (400 mg/kgKG) i.v. erhalten. Hierdurch lässt sich die Rate von bakteriellen und viralen Infektionen signifikant senken. Immunglobuline (1 g/kgKG i.v.)

Chemoprophylaxe  Die früher häufigste opportunistische Infek­ tion, die Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie, lässt sich durch orale

Allgemeine Schutzimpfungen  Nur bei einer noch asymptomatischen HIV-Infektion wird eine Masern- oder MMR-Impfung

e­ mpfohlen. Auch gegen Varizellen kann geimpft werden, sofern die relative CD4-Zellzahl ≥25% liegt. Ansonsten sollten keine Lebend­ impfungen erfolgen. Im Übrigen sollten HIV-infizierte Kinder ­entsprechend dem Impfkalender mit inaktivierten Impfstoffen/ Toxoiden (Polio-Salk-Impfstoff, Hepatitis B, Hib, DPT) und zusätzlich gegen Pneumokokken, Meningokokken und Influenza geimpft werden. Bei Kindern, die regelmäßig mit Immunglobulinen behandelt werden, sind Aktivimpfungen dagegen nicht mehr sinnvoll.

Sexuelle Übertragung  Kondome schützen vor einer Infektion

durch Geschlechtsverkehr mit einem HIV-positiven Partner. Eine HIV-Infektion ist namentlich nicht meldepflichtig. Es besteht nur eine anonyme Labormeldepflicht.

14.31

Influenza (Grippe)

jjEpidemiologie Influenzainfektionen sind ubiquitär. Alle 3–5 Jahre treten Influenzaepidemien durch Antigendrift der zirkulierenden Influenzasub­ typen bei nachlassender Immunität der exponierten Bevölkerung auf. In größeren Zeitabständen (10–20 Jahre) treten durch Rekombination zwischen humanen und animalen Influenza-A-Virusstämmen neue Subtypen auf (Antigenshift), die zu schweren Pandemien führen können. In unseren Breiten tritt die Influenzagrippe üblicherweise in den Monaten Dezember bis April auf. Die Übertragung erfolgt überwiegend durch Tröpfcheninfektion (Niesen, Husten), seltener durch Kontaktinfektion. Die Kontagiosität ist kurz vor Ausbruch der klinischen Symptome am höchsten, sie dauert bis zu 1 Woche an. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel 2–3 Tage (1–7 Tage). jjÄtiopathogenese Influenzaviren gehören zur Familie der Orthomyxoviren. Es existieren 3 Typen (A, B, C). Influenzaviren enthalten 8 RNA-Segmente, die von einer Hülle von Strukturproteinen umgeben sind. Diese enthält Spikes aus Hämagglutinin (H) und Neuraminidase (N). Gegenwärtig zirkulieren die Influenza-A-Subtypen H3N2 und H1N1 sowie zwei verschiedene Influenza-B-Virusstämme. Influenzaviren führen zu einer lytischen Infektion des respiratorischen Epithels. Hierdurch kommt es zu einem Verlust der Zilienfunktion, zu einer verminderten Schleimproduktion sowie zur Nekrose der Epithelschicht. Es folgt eine Entzündungsreaktion mit Infiltration von Lymphozyten, Histiozyten und Granulozyten. In den folgenden 2 Wochen kommt es wieder zur Regeneration und Erholung der Epithelzellschicht. Die klinische Symptomatik wie Fieber, Abgeschlagenheit, Kopf- und Gliederschmerzen ist immunologisch bedingt (u. a. durch Freisetzung von Zytokinen). jjKlinik Bei älteren Kindern und Erwachsenen führt eine Influenzainfek­ tion typischerweise zur klassischen Virusgrippe mit hohem Fieber,

14

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V. Schuster und H.W. Kreth

Kopf- und Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit, trockenem Husten, Pharyngitis und Konjunktivitis. Nach einigen Tagen tritt meist Entfieberung ein, gefolgt von einer bis zu wochenlangen Rekonvaleszenzphase. Bei 10% der Patienten finden sich klinische und radiologische Zeichen einer pulmonalen Beteiligung. Bei kleinen Kindern manifestiert sich eine Influenzainfektion klinisch meist nicht unterscheidbar von Infektionen durch andere Respirationstraktviren (RSV, Adenoviren, Parainfluenzaviren u. a.), unter dem Bild einer Bronchiolitis, einer obstruktiven Bronchitis, einer Pneumonie, einer akuten subglottischen Laryngotracheobronchitis (Infektkrupp) oder einer unspezifischen Atemweginfektion. Darüber hinaus können bei kleinen Kindern gastrointestinale Symptome (Durchfall, Erbrechen) auftreten. Häufig kommt es auch zu Fieberkrämpfen.

der geeignet (intranasale Anwendung, höhere Immunogenität). Alle zugelassenen Influenzaimpfstoffe werden jedes Jahr den aktuell vorliegenden epidemischen Subtypen angepasst. Der Impfschutz beginnt 2 Wochen post vaccinationem 7 Kap. 17). Bei ungeimpften oder zu spät geimpften Risikopersonen ist während einer InfluenzaA- oder -B-Epidemie auch eine Chemoprophylaxe mit Neuraminidasehemmern möglich. Hospitalisierte Patienten mit Influenza sollten mindestens 1 Woche lang isoliert (einzeln, kohortiert) werden. Bei engem Kontakt mit Influenzapatienten wird das Tragen eines Mundschutzes empfohlen. Auf ausreichende Händedesinfektion ist zu achten. Der direkte Nachweis von Influenzaviren ist namentlich meldepflichtig.

>> Bei Neugeborenen kann sich eine Influenzavirusinfektion in Form eines sepsisähnlichen Krankheitsbilds manifestieren.

14.32

Bei Kindern mit chronischen Grunderkrankungen (z. B. zystische Fibrose, Immunsuppression) können Influenzainfektionen sehr schwer verlaufen.

jjEpidemiologie, Ätiologie Bis zu einem Alter von 3 Jahren haben fast alle Kinder eine Infektion mit Parainfluenzaviren (Typ 1–3) durchgemacht. Die Übertragung erfolgt durch virushaltige Aerosole und Tröpfchen (Niesen, Husten) oder durch Kontakt mit virushaltigem Sekret. Die Virusausscheidung dauert meist 4–7 Tage, in seltenen Fällen auch länger, v. a. bei immunsupprimierten Patienten. Die Inkubationszeit beträgt 2–4 Tage. Parainfluenzaviren gehören zur Familie der Paramyxoviren. Sie sind im Gegensatz zu den Influenzaviren genetisch stabil. Man unterscheidet 4 Typen.

j jKomplikationen Zu den Komplikationen einer Influenzainfektion gehören: 44 Pneumonie (primär viral und/oder durch bakterielle Super­ infektion bedingt), 44 Myokarditis, 44 Myositis, 44 Enzephalopathie, 44 Reye-Syndrom (v. a. in Verbindung mit der Einnahme von ­ alizylaten). S 44 Meningitis, Guillain-Barré-Syndrom (selten).

14

j jDiagnose Sie ergibt sich häufig bereits aus dem Kontext einer bestehenden Grippeepidemie und der aktuellen klinischen Symptomatik. Labor  Eine Virusisolierung ist in den ersten 3 Krankheitstagen möglich. Influenza-A-Schnelltests (ELISA) haben eine Sensitivität

von ca. 80%. Eine Influenzainfektion kann darüber hinaus anhand eines signifikanten Anstiegs influenzavirusspezifischer Serumantikörper diagnostiziert werden.

j jTherapie Wirksam gegen Influenza A und B sind 2 Neuraminidasehemmer: Oseltamivir (zugelassen ab einem Alter von 1 Jahr, Anwendung p. o.) und Zanamivir (zugelassen ab einem Alter von 5 Jahren, Anwendung per inhalationem). Beide Substanzen sollten sofort bei Auftreten der ersten Krankheitszeichen für 5 Tage gegeben werden. Über den Einsatz dieser neuen Substanzen bei Kindern liegen bisher nur wenige Erfahrungen vor. Ansonsten wird eine Grippeerkrankung rein symptomatisch behandelt. Besonders bei Kindern ist auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten. Zur medikamentösen Fiebersenkung sollten immer nur salizylatfreie Antipyretika (z. B. Paracetamol, Ibuprofen) verwendet werden. Bei Hinweisen für eine bakterielle Superinfek­ tion (erneute klinische Verschlechterung nach 2 Tagen, prolongiertes Fieber) ist eine adäquate staphylokokkenwirksame antibiotische Behandlung indiziert. jjProphylaxe Die wirksamste Prophylaxe ist die Impfung mit inaktivierter oder lebend attenuierter Influenzavakzine. Letztere ist besonders für Kin-

Parainfluenzavirusinfektionen

jjKlinik Parainfluenzavirusinfektionen betreffen fast ausschließlich die Atemwege. Folgende Krankheitsbilder können auftreten: 44 akute Laryngotracheobronchitis (Infektkrupp). Bei Säuglingen und Kleinkindern ist Parainfluenzavirus Typ 1 in ca. 75% für dieses Krankheitsbild verantwortlich. 44 Bronchiolitis, Pneumonie (v. a. bei Kindern Die Inzidenz der Sepsis scheint im Rahmen intensivierter ­medizinischer Therapien (z. B. Onkologie) eher zu- als abzunehmen.

Sie zeigt ihren Häufigkeitsgipfel bei Neugeborenen (0,8%) und Säuglingen. Wenn auch seltener nach dem 1. Lebensjahr, ist die Sepsis in den USA bei Kindern im Alter von 1–14 Jahren dennoch an zweiter Stelle der Todesursachen. In der Hälfte der Fälle ist sie vergesellschaftet mit einer schweren Grundkrankheit. Ihre Letalität konnte durch frühe Erkennung und Therapie gesenkt werden und liegt bei früher Therapieeinleitung bei 5–10%, beträgt aber bis zu 30% bei verzögertem Management und manifestem septischem Schock. jjÄtiologie Bakteriämie oder Sepsis verursachende Bakterien sind je nach Alter, Immunabwehrfunktion und mikrobieller Umgebung des Kindes

verschieden (. Tab. 15.2). Bei abnehmendem mütterlichem Schutz (diaplazentar übertragene Antikörper) und je nach Impfstatus sind es nach dem 3. Lebensmonat v. a. bekapselte Bakterien (Pneumo-, Meningo-, Streptokokken), Staphylococcus aureus (Staph. aureus), seltener Escherichia coli (E. coli) oder Salmonellen. Haemophilus influenzae Typ b (H. influenzae b; Hib) kommt praktisch nur noch beim ungeimpften Kind vor. Die in den 1970er Jahren beschriebene okkulte Bakteriämie wurde meist durch S. pneumoniae, seltener durch Hib oder Neisseria meningitidis verursacht. In Populationen mit Konjugatimpfstoffen gegen S. pneumoniae und Hib geimpften Kleinkindern (3 Punkten in Glasgow-Koma-Skala Rekapillarisation ↓, Oligurie (38,0°C) oder speziell beim jungen Säugling auch Hypothermie (2 s) ist das wichtigste klinische Zeichen. Weitere unspezifische Warnzeichen sind kalte Extremitäten, marmorierte Haut sowie Bein- Muskel- und Gelenkschmerzen. Zur Früherkennung des Kindes im noch kompensierten (kalten) septischen Schock sollen die Vitalparameter kurzfristig überwacht und neben der verminderten Rekapillarisation, Tachykardie, Tachypnoe oder ungenügende Diurese früh erfasst werden. Diese Maßnahmen sollen eine Stabilisierung ermöglichen: am besten bevor oder sofort wenn als weitere Zeichen eine arterielle Hypotension oder Bewusstseinseintrübung eintreten und möglichst die Dekompensation bzw. den septischen Schock verhindern. jjDiagnose Erregernachweis  Direktpräparate (Färbungen nach Gram,

­ iemsa, Acridin-Orange), Antigenschnelltests und Kulturen von G Blut, Liquor, Urin und potenziell infiziertem Gewebe oder Flüssigkeiten decken die bakterielle Ätiologie weitestgehend auf. Sie können durch molekularbiologische Tests wie z. B. die Polymerasenkettenreaktion (PCR) ergänzt werden. Labor  Leukozytose, Linksverschiebung, erhöhte Akutphasenproteine wie C-reaktives Protein (CRP) oder Procalcitonin und Blutsenkungsreaktion spiegeln Ausmaß und Verlauf der Sepsis wider. Thrombozytopenie, Verlängerung von Quick-Wert und PTT sowie der Nachweis von Fibrinspaltprodukten dokumentieren eine disseminierte intravasale Gerinnung. Metabolische Azidose, Anstieg von Laktat, Leber- und Nierenwerten geben das Ausmaß der Hypoperfusion an.

jjDifferenzialdiagnose Beim Kind mit Fieber ohne Fokus stehen selbstlimitierende Infektionskrankheiten viraler Ätiologie im Vordergrund.

Bei Kindern mit Sichelzellanämie muss an ein Chest-Syndrom gedacht werden: Fieber, Thoraxschmerz, Leukozytose und Verschattung im Thorax-Röntgenbild bessern sich schon innerhalb von 24 h. Die Ätiopathogenese bleibt oft unklar, kann infektiös sein oder einer pulmonalen Embolie oder Sequestration entsprechen. SIRS und Schock sind unspezifische aber charakteristische Zeichen und Folgen einer systemischen Reaktion des Körpers auf eine Schädigung, die auch immunologischer, allergischer, traumatischer, endokrinologischer oder toxischer Natur sein kann. jjTherapie Bei Kindern mit Risiko für eine Bakteriämie sollen Blutkulturen ­abgenommen werden; ist es bei gutem Allgemeinzustand nicht hospitalisiert, soll es am folgenden Tag oder aber sicher bei Erhalt des Blutkulturresultats klinisch neu beurteilt werden. Bei klinischer Persistenz oder Verschlechterung, muss der mögliche Fokus der Infektion, sei es eine Meningitis, eine Pneumonie, Arthritis, Osteomyelitis oder Harnwegsinfektion gesucht bzw. ausgeschlossen und eine stationäre antimikrobielle Therapie begonnen werden (. Tab. 15.4). Lokalisiert sich die Infektion im Verlauf, bestimmt die Organmanifestation die Therapie. Die Therapie der Sepsis folgt 3 Prinzipien: 44 frühe Erkennung und früher Therapiebeginn bei drohendem septischem Schock, 44 Stabilisierung von Kreislauf und Gewebeoxygenierung, 44 Eradikation des Erregers und Sanierung des Infektfokus. Die frühe Erkennung eines drohenden septischen Schocks erlaubt die rasche Therapieeinleitung. Diese besteht in der Anlage eines guten Gefäßzugangs und der Hospitalisation, wenn möglich auf einer Intensivstation. Der Gefäßzugang erlaubt die sofortige Volumentherapie zu beginnen. Die Schocktherapie und Kreislaufstabilisierung muss früh einsetzen und hat absolute Priorität. Ziel ist es, das ­Verhältnis von O2-Transport zu O2-Bedarf zu verbessern. Der O2Transport ist eine Funktion von Herzminutenvolumen, Hämoglobin und arterieller O2-Sättigung. Im Sinne der „goal-directed therapy“ umfasst dies Volumengabe, Einsatz von Katecholaminen bei fehlendem Ansprechen, Aufrechterhalten einer Hämoglobinkonzentra­ tion initial von 100 g/l, und großzügige Intubation und Beatmung, insbesondere bei erhöhter Atemarbeit (Reduktion des O2-Verbrauchs). Die antimikrobielle Therapie erfolgt empirisch nach Abnahmen von Blutkulturen möglichst früh. Die Wahl der Antibiotika hängt ab vom Alter des Patienten, Lokalisation der Infektion (Ge­ webegängigkeit, Toxizität), und Art wie diese erworben wurde (zuhause oder nosokomial).

15

332

D. Nadal und C. Berger

..Tab. 15.4  Empirische Antibiotikatherapie bei Bakteriämie/Sepsis Erste Wahl

Alternative/Spezialfälle

Säuglinge > Der Nachweis von TSST-1 bildenden Staph. aureus genügt ­daher nicht zur Diagnose von TSS.

Streptokokken-TSS  Die Diagnose des Streptokokken-TSS wird aufgrund klinischer Kriterien und ergänzender Laborbefunde gestellt (7 Übersicht). 44 Eindeutiger Fall: Kriterien 1A und 2 (A und B) erfüllt. 44 Möglicher Fall: Kriterien 1B und 2 (A und B) erfüllt, ohne andere Ätiologie. 44 Laborbefunde: Linksverschiebung mit 40–50% unreifen ­Formen im weißen Blutbild, Thrombozytopenie, Azotämie, Hypokalzämie, Hypalbuminämie, Hämaturie und erhöhte ­Serumkreatinkinase. 44 Blutkulturen: steril oder Wachstum von S. pyogenes. Falldefinition des toxischen Schocksyndroms durch ­Streptokokken 1. Isolation von Gruppe-A-Streptokokken A. Von sonst sterilem Ort (z. B. Blut, Liquor, Peritonealflüssigkeit, Gewebebiopsie, chirurgische Wunde usw.) B. Von einer nicht sterilen Stelle (z. B. Rachen, oberflächliche Hautläsion usw.) 2. Klinische Zeichen des Schweregrads A. Hypotension: systolischer Blutdruck ≤90 mmHg oder > Antibiotika und Fokussanierung bilden die Eckpfeiler der ­Therapie bei toxischem Schocksyndrom.

Antibiotika  Gegen Staph. aureus bzw. S. pyogenes wirksame Betalaktame wie Flucloxacillin bzw. Amoxicillin (jeweils 50 mg/kgKG/

Gabe i.v. 3- bis 4-mal) zur Elimination des toxinbildenden Staph. aureus und Verminderung des Risikos für ein Rezidiv. Clindamycin (25–40 mg/kgKG/Tag i.v.) ist wirksamer als Betalaktamantibiotika, Rund 10–30% aller Gesunden tragen Staph. aureus in Nase oder möglicherweise wegen Hemmung der bakteriellen Protein- und daauch Vagina, wiederum rund 30% dieser Träger zeigen TSST-1-­ mit der Toxinsynthese sowie Hemmung der Synthese von M-Pro­ Bildung. tein und dadurch Erleichterung der Phagozytose von S. pyogenes,

15

334

D. Nadal und C. Berger

Aufgrund der beteiligten Toxine und der Entstehung werden

3 Formen unterschieden:

44 Nahrungsmittelbotulismus (Toxine A, B, E und F), 44 Säuglingsbotulismus (Toxine A, B und G), 44 Wundbotulismus (Toxine A und B). Nahrungsmittelbotulismus  Hier stehen anfangs abrupt innerhalb

..Abb. 15.2  Disseminierte intravasale Gerinnung bei toxischem Schocksyndrom durch Staph. aureus bei einem 14 Jahre alten Mädchen: ausgedehnte Hämatome am linken Arm

Unterdrückung der Synthese von am Auf- und Abbau der Bakterienzellwand beteiligten penicillinbindenden Proteine und möglicherweise Unterdrückung der Synthese von TNF-α durch Monozyten. Diese Hemmung erfolgt unabhängig von Inokulumgröße oder Wachstumsstadium der Bakterien. Im Falle einer nekrotisierenden Fasziitis empfiehlt sich – solange die Ätiologie noch unklar ist – die Kombination eines Breitspektrumpenicillins oder Cephalosporins mit Clindamycin und einem Aminoglykosid. Elimination des Infektfokus  Entfernung eines liegenden vagina-

len Tampons oder prompte und aggressive Exploration und Débridement verdächtigter Infektionen der tiefen Weichteile.

>> Das Bewusstsein bleibt bei Patienten mit Botulismus klar!

Säuglingsbotulismus  Der Säuglingsbotulismus tritt vorwiegend im Alter > Bei Patienten mit Botulismus besteht kein Fieber.

Intravenöse Immunglobuline  Immunglobuline (0,5 g/kgKG/Tag

Wundbotulismus  Der Wundbotulismus tritt 4–14 Tage nach einer

jjKomplikationen, Prognose Störungen wie Schock und Multiorganversagen, prolongierter Schock, disseminierte intravasale Gerinnung (. Abb. 15.2) oder „adult respiratory distress syndrome“ (ARDS) können relativ fulminant eintreten. Die Letalität des Staphylokokken-TSS beträgt bei prompter aggressiver Therapie 70%.

jjDiagnose Bei Nahrungsmittelbotulismus erkranken oft mehrere Personen gleichzeitig. Das Botulismustoxin lässt sich im Serum, Magensaft, Stuhl oder verdächtigen Nahrungsmitteln (Toxin-NeutralisationsBioassay bei Mäusen) nachweisen. Die Kultur von C. botulinum aus Magensaft, Erbrochenem, Stuhl oder Speiseresten auf Selektivme­ dien sollte unbedingt angestrebt werden. Die Elektromyographie kann hilfreich sein. Evozierte Muskelpotenziale mit über 20 Zyklen/s bei hochfrequenter Nervenstimulation sind möglich. Beim Säuglingsbotulismus findet man oft kurze, kleine, häufige motorische Aktionspotenziale.

i.v. für 5 Tage) können in schweren Fällen hilfreich sein und bei Streptokokken-TSS die Letalität senken.

15

von Stunden oder graduell über mehrere Tage nach Einnahme der kontaminierten Speise gastrointestinale Symptome im Vordergrund: Übelkeit, Völlegefühl, Erbrechen, Obstipation oder auch Durchfall. Es folgen charakteristische neurologische Symptome: 44 symmetrische, deszendierende schlaffe Lähmung der bulbären und später der somatischen Muskeln, 44 generalisierte Schwäche und Hypotonie (bei raschem Verlauf), 44 Doppelbilder, verschwommenes Sehen (ältere Kinder), 44 trockener Mund, quälender Durst, 44 Dysphagie, Dysphonie und Dysarthrie.

15.1.3

Botulismus

D. Nadal j jGrundlagen Botulismus wird durch kontaminierte Speisen und nicht von Mensch zu Mensch übertragen. Von Clostridium botulinum sezernierte Toxine induzieren eine Neuroparalyse. j jPathogenese Der sporenbildende, grampositive anaerobe Bazillus Clostridium botulinum synthetisiert die an der Pathogenese beteiligten Neurotoxine A, B, E und F. Die Neurotoxine gelangen auf enteralem oder parenteralem Weg via Blutbahn an die Wirkungsorte (motorische Endplatten und parasympathische Synapsen), wo sie die Freisetzung von Azetylcholin blockieren. Sowohl stimulusabhängige als auch spontane Erregungen der ganglionären und postganglionären Synapsen sowie anderer neuromuskulärer Endplatten werden gehemmt.

Verletzung auf. Die Klinik ähnelt jener des Nahrungsmittelbotulismus. Gastrointestinale Symptome fehlen jedoch.

>> Die Diagnose Botulismus wird (zu) häufig spät gestellt. Der Verdacht auf Botulismus beruht in erster Linie auf der Anamnese.

Der Nachweis von Toxin im Serum gelingt bei 1% der Fälle und nur in den ersten 3 Tagen nach Symptombeginn. Später sind Magensaft und Stuhl ergiebiger. Bei Obstipation gewinnt man Stuhl mithilfe eines sterilen, nicht bakteriostatischen Einlaufs. jjDifferenzialdiagnose Wenige andere Erkrankungen kommen in Betracht: primäre neuromuskuläre Störungen (Familienanamnese), Myasthenia gravis oder ein Guillain-Barré-Syndrom. jjTherapie Sofortmaßnahmen bestehen in der sofortigen Entleerung von ­Magen und Darm, in der Sicherung und Überwachung der Vital-

335 Bakterielle Infektionen

funktionen, speziell der Atmung und in der Gabe von Antitoxin (sobald als möglich). !! Cave Antiserum kann schwere Überempfindlichkeitsreaktionen verursachen (Quelle: Pferd). Deshalb muss vorgängig immer eine Testdosis verabreicht werden.

Nach der Testdosis werden 250 ml unter Beachtung der Kreislauf­ situation langsam i.v. infundiert, anschließend weitere 250 ml als Dauertropfinfusion. Je nach klinischem Bild folgen 4–6 h nach erster Gabe weitere 250 ml Antitoxin. Bei Säuglings- und Nahrungsmittelbotulismus verwendet man Antibiotika nur zur Therapie sekundärer bakterieller Infektionen, da die Lyse von intraluminalem C. botulinum die Abgabe von absorbierbarem Toxin begünstigt. Aminoglykoside können die Wirkungen des Toxins verstärken. Nur beim Wundbotulismus wird Penicillin G, 500.000 IE/kgKG/Tag i.v. für 10–14 Tage verabreicht. Chirurgische Behandlung  Wundtoilette mit Abtragung oberflächlicher Nekrosen ist beim Wundbotulismus indiziert.

jjKomplikationen, Prognose Komplikationen betreffen die Atmung und allergische Reaktionen: Atemlähmung und Aspirationspneumonie, allergische und anaphylaktische Reaktionen auf das Antitoxin und sekundäre Infektionen. Die autonome Dysfunktion ist selten lebensgefährlich (Letalität Sobald klinisch die Verdachtsdiagnose besteht, sollte Anti­ toxin zur möglichst raschen Neutralisation des Toxins ohne Abwarten der Kulturresultate verabreicht werden ­ (. Tab. 15.6).

Wegen möglicher anaphylaktischer Reaktion auf equines Antiserum sollte vorher intrakutan eine Testdosis von 0,1 ml des 1:10 verdünnten Antitoxins injiziert werden. Eine Antitoxingabe für die Hautdiphtherie wird i.d.R. nicht empfohlen, da eine für systemische Symptome ausreichende Toxinabsorption in großem Umfang sehr unwahrscheinlich ist. Antibiotika zur Elimination des C. diphtheriae: Penicillin G i.v. (100.000–150.000 IE/kgKG/Tag in 4 Einzelgaben) oder bei Allergie Erythromycin p.o. oder i.v. (40–50 mg/kgKG/Tag, maximal 2 g/Tag) für 14 Tage.

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!! Cave Antibiotika ersetzen die Gabe von Antitoxin nicht!

In den ersten 3–4 Wochen oder nach Bedarf länger sind Bettruhe und das Vermeiden von Aufregung und Anstrengung anzuordnen. Das Baden oder das Aufsetzen zum Essen sind auf ein Minimum­ zu reduzieren. Hautwunden sind mit Seife und Wasser gut zu ­reinigen. Patienten mit Rachendiphtherie müssen strikt isoliert ­werden, Pa­tienten mit Hautdiphtherie bedürfen nur einer Kontakt­ isolation. Die Elimination von C. diphtheriae wird anhand von 2 negativen Kulturen nach Therapieende dokumentiert. Zur Verhütung ­sekundärer Fälle sind Haushalt und enge Kontakte zu untersuchen sowie prophylaktische Maßnahmen einzuleiten. j jKomplikationen Sie sind vielfältig und beinhalten 44 Obstruktion der oberen Atemwege durch ausgeprägte Membranbildung, 44 Myokarditis, vasomotorischer Schock, Arrhythmie und Stauungsleber, 44 Nierenbeteiligung mit Albuminurie und Ausscheidung hyaliner Zylinder und Tubulusepithelien, 44 neurologische Affektionen: Stimmbandparese, aszendierende Paralyse wie bei Guillain-Barré-Syndrom mit Parästhesien (Landrysche Paralyse), Schluck- und Zwerchfelllähmung.

jjPrognose Sie hängt von der Virulenz des beteiligten C.-diphtheriae-Stamms, von Alter und Impfstatus des Patienten, von der Lokalisation der Infektion und der Latenz bis zur Antitoxingabe ab. Die Letalität bei Befall der Atemwege beträgt rund 10% und bei Herzbeteiligung bis 100%. Falls die Wirkungen des Toxins überstanden werden, ist die Prognose gut. !! Cave Nicht alle Patienten entwickeln nach der Erkrankung Immunität. Deshalb muss diese getestet und je bei negativem Resultat mittels Impfung induziert werden.

15.1.5

Tetanus

D. Nadal jjGrundlagen Wundstarrkrampf (Tetanus) ist eine durch Tetanospasmin hervorgerufene, peinigende neuromuskuläre Erkrankung.

jjEpidemiologie Tetanus kommt bei uns dank der aktiven Impfung selten vor, ist aber in Entwicklungsländern noch gefürchtet und eine häufige Ursache der neonatalen Letalität. Ursache ist das ubiquitäre sporenbildende, anaerobe grampositive Bakterium Clostridium tetani. jjPathogenese Voraussetzung ist die Kontamination einer Wunde oder beim ­Neugeborenen der Nabelschnur mit C. tetani. Dieses sezerniert das Exotoxin Tetanospasmin, welches über die Blutbahn und entlang der peripheren Nervenaxone ins Rückenmark und Gehirn gelangt. An den neuromuskulären Endplatten der Skelettmuskulatur und den neuronalen Membranen des Rückenmarks hemmt das Toxin die motorischen Impulse an die Motoneuronen. Die reflektorische ­Erregbarkeit wird erhöht. Es treten keine Gewebeschaden oder entzündliche Reaktionen auf. jjKlinik Vier Formen werden unterschieden: 44 Generalisierte Form: Sie manifestiert sich 2 Tage bis 2 Monate (im Schnitt 10 Tage) nach Wundinfekt mit graduellem Beginn (1–7 Tage) von Trismus, Dysphagie und schweren tonischen Muskelspasmen und paroxysmalen Kontraktionen. Die Spasmen, oft durch exogene Stimuli verschlimmert, persistieren eine und mehr und bei Überlebenden sogar mehrere Wochen. 44 Lokalisierte Form: Sie kann der generalisierten vorausgehen und zeigt Spasmen der Muskeln nahe der Wunde. 44 Zerebrale Form: Falls die Wunde am Kopf oder Hals liegt, ist eine Dysfunktion der Hirnnerven möglich. 44 Neugeborenentetanus: Er tritt 5–14 Tage nach Geburt auf mit Schwierigkeiten beim Saugen und Schlucken, anhaltendem Schreien, tonischer Starre und Spasmen der Muskulatur ­(Beugehaltung der Extremitäten und Faustbildung). jjKomplikationen Sie spielen sich an folgenden Organen ab: 44 Atemwege: Obstruktion, Sekretstau, Pneumonie, Atelektase, Ateminsuffizienz, 44 Autonomes Nervensystem: Blutdruckschwankungen, periphere Durchblutungsstörungen und Schweißausbrüche,

337 Bakterielle Infektionen

44 Bewegungsapparat: Frakturen der Thoraxwirbel bei ­simultanen Spasmen von Flexoren und Extensoren, Rhabdomyolyse. jjDiagnose Sie wird klinisch nach Ausschluss von hypokalzämischer Tetanie, Phenothiazinreaktion, Strychninvergiftung und Hysterie gestellt. Die Kultur eines Abstrichs der Wunde ergibt Nachweis von­ C. tetani in ⅓ der Fälle.

jjEpidemiologie Im Gegensatz zu nicht typhoiden Salmonellen ist nur der Mensch Wirt für Salmonella typhi. Die Übertragung geschieht fäkal-oral oder über kontaminierte Nahrungsmittel. Salmonelleninfektionen sind häufiger in den ersten 5 Lebensjahren mit dem Maximum im 1. Lebensjahr.

jjPathogenese Salmonellen sind bewegliche gramnegative Bazillen, die keine Laktose spalten. Sie dringen in die Lamina propria des Dünndarms ein, jjDifferenzialdiagnose wo sie eine Entzündung, aber keine größeren SchleimhautulzeratioHypokalzämische Tetanie, Meningitis und Krämpfe, Stiffman-­ nen auslösen. Salmonella typhi führt zu einer monozytären EntzünSyndrom (progressive fluktuierende Muskelspasmen) sowie dung und immer zur Bakteriämie. Die phagozytierten Bakterien Strychninvergiftung und dystone Reaktion auf Medikamente. widerstehen der intrazellulären Abtötung und werden so in die Peyer-Plaques und mesenterialen Lymphknoten, allenfalls Leber jjTherapie und Myokard transportiert, wo sie monozytäre Infiltrate und später Wunden müssen gründlich gesäubert und débridiert werden. Beim Nekrosen bewirken. Neugeborenen ist eine breite Exzision des Nabelstumpfes jedoch jjKlinik nicht nötig. Humanes Tetanushyperimmunglobulin wird i.m. und ein Teil Nach einer Inkubationszeit von 8–14 Tagen beginnt die Krankheit der Dosis lokal um die Wunde injiziert (Neugeborene 500 E, ältere allmählich mit Fieber, Kopfschmerzen, Husten, Appetitlosigkeit, Kinder 3.000–6.000 E). Ist solches nicht erhältlich, soll equines Nausea, selten Diarrhö. Nach einer Woche tritt eine Fieberkontinua Hyperimmunglobulin nach Ausschluss von Hypersensitivität (39°C) auf, die persistiert, zusammen mit einer relativen Bradykar­ (50.000–100.000 E), ein Teil davon (20.000 E) i.v. verabreicht wer- die, einer Wesensveränderung (Somnolenz, Halluzinationen), den. Falls beide nicht zur Hand, verwendet man i.v.-Gammaglobulin Bauchschmerzen, Hepatosplenomegalie und typischerweise am (0,4 g/kgKG). Da die Infektion keine Immunität hinterlässt, sollte Stamm kleinen Roseolen (1–6 mm große Makulae). simultan aktiv gegen Tetanus geimpft werden. Orales (oder i.v.) ­ etronidazol (30 mg/kgKG/Tag in 4 Einzelgaben für 10–14 Tage) jjKomplikationen M ist das Antibiotikum der Wahl zur Reduktion vegetativer Formen Bereits Ende der ersten Woche können intestinale Blutungen (1– von C. tetani. Alternativ bietet sich Penicillin G (100.000 E/kgKG/ 10%) und Dünndarmperforationen (0,5–3%) auftreten. Die Aussaat Tag in 4–6 Einzelgaben) an. der Bakteriämie kann zu Lokalinfektionen wie Osteomyelitis, Arthritis oder Meningitis führen. Ein Rückfall nach Absetzen der antibioSymptomatische Therapie  Essenziell zur Kontrolle der Spasmen tischen Therapie ist nicht selten, verläuft aber meist milder. Die Aussind die supportiven Maßnahmen wie Isolation in reizarme Um­ scheidung von Salmonellen kann nach der Infektion persistieren gebung mit Abdunkelung, Prophylaxe von Dekubitus, Lungeninfek- und zu asymptomatischen Dauerausscheidern führen. Die Gallentionen etc., Sedierung mit Diazepam und/oder Barbituraten und evt. blase ist oft das Erregerreservoir. Ein Eradikationsversuch kann mit Muskelrelaxation. Bei beginnender Ateminsuffizienz müssen Intu- Ampicillin (6 Wochen), Amoxicillin plus Probenezid oder eher Chibation und mechanische Beatmung erfolgen. Die parenterale Flüs- nolonen versucht werden (Antibiogramm beachten). sigkeitszufuhr und Ernährung sind zu sichern. jjDiagnose jjPrognose Kulturen aus Blut, Stuhl und Urin. Die Erreger können auch in den Die Letalität, v. a. jene durch respiratorische Insuffizienz und kardio- Roseolen und noch nach der Bakteriämie im Knochenmark nachgevaskuläre Komplikationen, hängt von der Inkubationsdauer ab und wiesen werden (. Abb. 15.3). beträgt 25–60%. jjDifferenzialdiagnose !! Cave In der Initialphase grippeähnliche virale Infektionen, Bronchitis, je Die Krankheit hinterlässt keine bleibende Immunität! nach Symptomatik auch Gastroenteritis. Ohne Diarrhö kommen andere Infektionen mit intrazellulären Erregern (Brucellen, Tuberkulose, Malaria, Pilze) infrage. 15.1.6 Typhus jjTherapie Neben Ampicillin oder Cotrimoxazol für 2 Wochen sind heute je C. Berger nach Resistenzlage Fluoroquinolone (Ofloxacin, Ciprofloxacin) für jjDefinition 7 Tage auch für Kinder Mittel erster Wahl für unkomplizierten Typhus ist eine systemische Erkrankung durch Infektion mit Salmo- ­Typhus. Gegen multiresistente Salmonellen sind Fluoroquinolone, nella typhi oder selten andere Salmonellen. Typhus („enteric fever“) Cefixime (14 Tage) oder Azithromycin (7 Tage) erforderlich, bei ist die häufigste Salmonelleninfektion in Entwicklungsländern mit ­Nalidixinsäureresistenz die letzteren beiden. Die Therapie erfolgt in einer Inzidenz von 0,5% und hoher Letalität bei Malnutrition, den meisten Fällen, wenn es der Zustand des Patienten erlaubt, oral. Schwere Fälle mit Hospitalisation werden 14 Tage parenteral mit Grundleiden oder Komplikationen. Ceftriaxon oder Fluoroquinolonen behandelt. Metastatische In­ fektfoci erfordern eine längere Therapiedauer (4–6 Wochen). Bei kritisch kranken Patienten mit Delirium oder Schock zeigte die

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D. Nadal und C. Berger

..Abb. 15.3  Klinischer Verlauf bei Typhus

prompte Gabe von Dexamethason (3 mg/kgKG) einen günstigen Effekt. !! Cave Antipyretika können zu Temperaturabfall und Schock führen und sollten deswegen vermieden werden.

j jPrognose Unter adäquater Therapie liegt die Letalität 8 Jahre); C Ceftriaxon; P Penicillin

44 Bei Disseminierung der Borrelien können unspezifische grippale Symptome mit Fieber, Malaise, Muskel- und Gelenkschmerzen auftreten. 44 Die Lymphadenosis cutis benigna (. Abb. 15.4) lokalisiert sich typischerweise am Ohrläppchen oder an der Mamille. ­Histologisch handelt es sich um lymphohistiozytäre Infiltrate. 44 Acrodermatitis chronica atrophicans (. Abb. 15.4) ist eigentlich eine Spätmanifestation. Die Haut zeigt Pigmentverschiebungen, atrophiert und wird dünn wie Zigarettenpapier. Die darunter liegende Muskulatur kann ebenfalls atrophieren. 44 Die Neuroborreliose manifestiert sich meist als Meningitis oder isolierte periphere Fazialisparese mit Befall aller 3 Äste. 44 Arthritiden manifestieren sich meist als Monarthritis, vorwiegend des Knies oder der Hüfte. 44 Die seltene Karditis bewirkt Rhythmusstörungen (AV-Block 1. Grades oder komplett) oder Zeichen der Myokarditis (7 Kap. 20). jjKomplikationen Unbehandelt und bei gewisser genetischer Konstitution kann es zur Chronifizierung der Manifestationen an Haut, Zentralnervensystem, Herz und Gelenken kommen. jjDiagnose >> Ein Zeckenstich in der Anamnese ist nicht obligat, da er häufig nicht bemerkt wird.

Die kutanen Manifestationen lassen sich gut klinisch diagnostizieren. Eine serologische Bestätigung ist höchstens bei der Acrodermatitis chronica atrophicans notwendig (sehr hohe Antikörpertiter!). Die Verdachtsdiagnose muss auch bei den anderen Manifestationen klinisch gestellt werden. Der Nachweis von Antikörpern bestätigt sie. !! Cave Die Interpretation von Antikörpertests ist nicht einfach, da oft eine von einer früheren Infektion stammende Seronarbe nicht ausgeschlossen werden kann.

Bei der Neuroborreliose beweist der Nachweis spezifischer intra­ thekaler Antikörper die aktive Infektion im zentralen Nerven­ system. Im Liquor findet sich in diesen Fällen immer eine Pleozy­ tose. Ebenfalls beweisend für die aktive Infektion ist der Nachweis des Erregers selbst. Er ist v. a. bei Arthritiden von Nutzen. Hierzu bewährt sich die Polymerasekettenreaktion an Synoviabiopsien oder an der Haut, jedoch nicht im Liquor cerebrospinalis (Sensitivität > Beim Erythema chronicum migrans kann die Serologie noch negativ sein, da die Antikörperantwort erst 4–6 Wochen nach Infektion aufgebaut wird.

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D. Nadal und C. Berger

j jDifferenzialdiagnose Jene der Fazialisparese beinhaltet Virusinfektion (Herpes-simplexVirus, Paramyxovirus, etc.), idiopathische (Bell-Parese) und Tumoren. Für die Differenzialdiagnose der Meningitis, Arthritis und Karditis vergleiche: 7 Abschn. 15.7.1, 7 Abschn. 15.7.2, 7 Abschn. 15.6.2, 7 Kap. 12 und 7 Kap. 20). jjTherapie, Prognose Die Wahl des Antibiotikums und die Therapiedauer richten sich nach der Klinik (. Tab. 15.9). Bei korrekter Antibiotikatherapie ist die Prognose gut. Chronische Arthritiden entwickeln sich trotz antimikrobieller Behandlung in 3% der Fälle. 15.2

Oberer Respirationstrakt und Hals

D. Nadal Die Schleimhäute des oberen Respirationstrakts und der Augen bieten sich als Eintrittspforten für aerogen oder durch Kontakt übertragene Erreger an. Obwohl der Respirationstrakt von der Nase bis zu den Alveolen ein Kontinuum darstellt, bevorzugen gewisse ­Pathogene ausgesprochen ganz bestimmte anatomische Abschnitte. Rhinitis 7 Kap. 14 und 7 Kap. 18. 15.2.1

Pharyngitis, Tonsillitis

j jDefinition Eine Pharyngitis ist die Entzündung irgendeiner Struktur des Pharynx. Die Tonsillen – falls vorhanden – sind am häufigsten betroffen. Führende Ursache ist eine Virusinfektion (>70%). >> Wichtig ist dabei die Erkennung einer Infektion durch β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A (S. pyogenes), da deren Therapie eitrige und gewisse nichteitrige Komplikationen verhindert.

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j jEpidemiologie Eine Pharyngitis durch Streptokokken der Gruppe A kommt in jedem Alter, jedoch mit 5–11 Jahren gehäuft vor. Enge Kontakte wie in

der Familie oder Schule begünstigen die Ausbreitung von S. pyogenes, das aerogen in großen Tropfen oder durch Kontakt mit kontaminiertem Sekret übertragen wird. Die Inkubationszeit beträgt 2–5 Tage. Unbehandelte sind in den ersten 2 Wochen nach Infektion kontagiös. Streptokokken der Gruppen C und G werden vorwiegend via Nahrungsmittel übertragen und lösen wie der grampositive Bazillus Arcanobacterium haemolyticum Erkrankungen v. a. bei älteren Kindern und Jugendlichen aus. Die durch toxigene Stämme von ­Corynebacterium diphtheriae verursachte und bei uns praktisch eliminierte Diphtherie ist anfangs der 1990er Jahre in Russland wieder aufgetaucht. Pharyngitis durch Neisseria gonorrhoeae wird nur nach Sexualkontakten beobachtet. jjÄtiologie Nur gewisse Bakterien verursachen eine Pharyngitis (. Tab. 15.10). Gruppe-A-Streptokokken bedingen 15–20% der Tonsillopharyngitiden. jjPathogenese Bei der Infektion mit Gruppe-A-Streptokokken spielt das M-Pro­ tein (>80 Serotypen bekannt) der Bakterienzellwand eine entscheidende Rolle. Es wirkt antiphagozytär und beeinflusst zusammen­ mit bakteriellen Enzymen die Invasivität des Erregers. Lipoteichonsäure (Adhäsin) und Hyaluronsäure stellen zusätzliche Virulenz­ faktoren dar. Erythrogene (oder pyrogene) exotoxinbildende Stämme können Scharlach verursachen. Die zytotoxischen Störungen bei Infektion mit C. diphtheriae werden durch sezerniertes Exotoxin induziert. jjKlinik Der Patient mit Streptokokkenpharyngitis präsentiert sich typischerweise im Spätwinter oder Frühling mit plötzlich einsetzendem Fieber, Halsschmerzen, häufig zusätzlich Kopfschmerzen, Unwohlsein, Nausea und Erbrechen. Charakteristisch, jedoch nicht spezifisch sind hochroter Pharynx, Gaumen und Tonsillen, flächenhafte Exsudate an der Oberfläche der Tonsillen, Petechien am Gaumen (nicht immer), Erdbeerzunge, bedingt durch Rötung und Schwellung der Zungenpapillen sowie schmerzhaft vergrößerte zervikale Lymphknoten.

..Tab. 15.10  Ätiologie und Befunde der akuten bakteriellen Pharyngitis Erreger

Alter

Bemerkungen

> Von Scharlach darf nur gesprochen werden, wenn bei Streptokokken-A-Pharyngitis zusätzlich ein feinfleckiges diffuses, rötliches Exanthem axillar und inguinal vorliegt.

Dieses beginnt am Gesicht, spart das Munddreieck aus (zirkum­ orale  Blässe kontrastiert die ausgesprochen roten Wangen) und ­generalisiert innerhalb 24 h. Das an den Beugefalten (Axilla, Leiste) besonders akzentuierte Exanthem fühlt sich samtig an und verschwindet auf Druck. Nach 2 Tagen beginnt es abzublassen. Eine Woche später setzt am Gesicht eine sich kaudalwärts ausbreitende, an Fingerspitzen und Händen oft lamelläre Desquamation ein. Eine Infektion mit Arcanobacterium haemolyticum sieht ähnlich wie Scharlach aus. Die klinischen Hauptmerkmale der Diphtherie sind unspezifische Zeichen wie Anorexie, Unwohlsein, geringes Fieber, Halsschmerzen und klassische Zeichen wie gräuliche Membranen an Tonsillen und Rachen. In 1–2 Tagen bilden sich Membranen, die sich auf Larynx und Trachea ausdehnen. Vergrößerte Zervikallymphknoten ergeben den Aspekt eines Zäsarenhalses. jjDiagnose Die ätiologische Diagnose gestaltet sich dann schwierig, wenn kein spezifisches Syndrom vorliegt (. Tab. 15.10). Die Erkennung einer Infektion mit Gruppe-A-Streptokokken oder einer Diphtherie ist vorrangig. Die Bestätigung der Ätiologie durch Laboruntersuchungen ist auch bei typischen Zeichen wie Scharlachexanthem anzu­ streben. Goldstandard zum Nachweis von Gruppe-A-, -C- und -G-Streptokokken sowie von A. haemolyticum aus dem Rachenund Tonsillenabstrich ist die Kultur. Sie dauert 18–48 h. Gruppe-AStreptokokken können auch mittels Antigenschnelltests in 95%, Sensitivität 70–85%). Falsch-negative Resultate von Gruppe-A-StreptokokkenSchnelltests sind häufig. Bei deren Anwendung empfiehlt sich die Abnahme zweier Abstriche. Der zweite dient bei negativem Test zur Inokulation der Kultur. !! Cave Ein positiver Antigentest bei einem asymptomatischen ­Pa­tienten unter Antibiotikatherapie unterscheidet nicht ­zwischen toten und lebensfähigen Bakterien.

Die Bestimmung von Antikörpern gegen extrazelluläre Produkte von S. pyogenes (z. B. Streptolysin O) ist während der akuten Erkrankung wertlos, da der Antikörperanstieg erst nach 3–4 Wochen erfolgt. Blutsenkungsreaktion (oft >30 mm in der 1. Stunde) und C-reaktives Protein sind meist erhöht. Das Blutbild hilft trotz bestehender Leukozytose nicht für die ätiologische Zuordnung. Die Diagnose der Diphtherie erfordert die Kultur von Material unterhalb der Membran auf Spezialmedien und den Nachweis von Toxinproduktion durch den isolierten C.-diphtheriae-Stamm. jjDifferenzialdiagnose Epidemiologische und klinische Kriterien helfen zur Unterscheidung der Gruppe-A-Streptokokken-Pharyngitis gegenüber einer Pharyngitis anderer Ätiologie (. Tab. 15.10 und . Tab. 15.11). Scharlach muss vom Kawasaki-Syndrom, von Masern und vom Staphylokokken-toxisches-Schock-Syndrom unterschieden werden. jjTherapie Die kausale Behandlung ist bei Infektion mit Gruppe-A-Streptokokken zur Verhinderung des rheumatischen Fiebers immer indiziert. Dies gelingt auch bei Beginn 9 Tage nach Einsetzen der Klinik. Antibiotika mindern die Rate an Glomerulonephritis nicht, reduzieren aber jene eitriger Komplikationen und beenden innerhalb von 24 h die Kontagiosität. Mittel der Wahl ist orales Penicillin V für 10 Tage (. Tab. 15.12). Intramuskuläre Penicillininjektionen sind schmerzhaft und sollten nur bei schlechter Compliance angewendet werden. Bei Infektion mit Gruppe-C- oder -G-Streptokokken gehen die Meinungen zur Notwendigkeit von Antibiotika auseinander. Erythromycin bewährt sich bei Infektion mit A. haemolyticum besser als Penicillin. Die Therapie der Diphtherie besteht in Penicillin oder Erythromycin und equines Antitoxin, das in Verdachtsfällen vor der Bestätigung der Diagnose durch das Labor verabreicht werden muss 7 Abschn. 15.1.4). Zur Therapie der Gonorrhö werden Ceftriaxon oder Ciprofloxacin empfohlen. kkTherapiekontrolle Trotz Empfindlichkeit der Gruppe-A-Streptokokken auf Penicillin beträgt die Rate bakteriologischer Versager (Bakterien im Rachen nach Therapie) bis zu 25%. Sie entsprechen nicht unbedingt „klinischen Versagern“. Manche Patienten wurden durch einen anderen

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D. Nadal und C. Berger

..Tab. 15.12  Therapie der akuten Streptokokkenpharyngitis

..Tab. 15.13  Komplikationen der Streptokokkenpharyngitis

Antibiotikum

Eitrige

Nichteitrige

Retropharyngealabszess Peritonsillarabszess und ­Zellulitis Zervikale Adenitis Otitis media Sinusitis Mastoiditis Bakteriämie mit septischen ­Metastasen

Akutes rheumatisches Fieber Akute Glomerulonephritis Reaktive Arthritis Toxinvermitteltes Streptokokken-­toxischesSchock-Syndrom

Dosis

Dauer

Standard Penicillin V

6 Wochen anhaltende Drainage durch perforiertes Trommelfell

a

Cephalosporine der 1. Generation (z. B. Cephalexin, Cefadroxil) sind zu bevorzugen und die Kreuzallergierate zu Penicillinen von 6% zu beachten (keine Anwendung bei anaphylaktischer Reaktion auf Penicillin) b Maximaldosis 1.000 mg/Tag c Maximaldosis 500 mg/Tag d Maximaldosis am 1. Tag 500 mg, danach 250 mg e Maximaldosis 450 mg/Tag

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M-Typ infiziert oder sind chronische Träger. Oft liegt aber eine virale Infektion vor. Da viele bakteriologische Versager am Ende der Therapie asymptomatisch sind, sollten zur Vermeidung von Unsicherheiten Abstriche am Ende der Therapie unterlassen werden. Bei rheumatischem Fieber sind sie aber indiziert, da hier der rheumatogene Stamm zur Verhinderung von dessen Ausbreitung eradiziert werden muss. j jKomplikationen Bei der Gruppe-A-Streptokokken-Pharyngitis unterscheidet man eitrige und nicht eitrige Komplikationen (. Tab. 15.13). Die Eradikation kann bei Familien mit einem „Ping-Pong-­ Effekt“ der Gruppe-A-Streptokokken-Ausbreitung erwogen werden. Empfohlen werden Benzathinpenicillin i.m. und Rifampicin p.o. [20 mg/kgKG/Tag in 2 Gaben (maximal 600 mg/Tag) für 4 Tage oder Clindamycin 20 mg/kgKG/Tag (maximal 450 mg) in 3 Gaben für 10 Tage]. Die Ursache für das häufige chronische Trägertum von S. pyogenes (bis 20%) ist unklar. Das Risiko für rheumatisches Fieber ist hier zu vernachlässigen. Manche Kinder neigen zu rezidivierender Pharyngitis. Die Therapie von durch Gruppe-A-Streptokokken bedingten Episoden mindert die Symptome und eradiziert das Bakterium. Der Wert der Tonsillektomie ist umstritten. Die Komplikationen der Diphtherie werden in 7 Abschn. 15.1.4 beschrieben. j jPrognose Echte Rückfälle der Pharyngitis durch Gruppe-A-Streptokokken sind selten. Sie unterscheiden sich nicht von Neuinfektionen. Rheumatisches Fieber kommt in Mitteleuropa zurzeit sehr selten vor.

Epidemien können jedoch erneut aufflackern. Erkrankungen mit

Streptokokken der Gruppen C und G heilen von selbst und verursachen wie A. haemolyticum kein rheumatisches Fieber. 15.2.2

Otitis media

jjGrundlagen Rund 40% der Konsultationen beim Kinderarzt erfolgen wegen Otitis media. Dieser Begriff fasst verschiedene entzündliche Prozesse des Mittelohrs zusammen. Beginn, Symptome, Eigenschaft des Mittelohrergusses und Dauer erlauben die Einteilung der Otitis media in verschiedene Stadien (Abkürzungen . Tab. 15.14). jjEpidemiologie Kinder im Alter von 6–18 Monaten zeigen die höchste Inzidenz. Im 1. Lebensjahr rechnet man mit 1,1–1,2 Episoden, im Alter von 5 Jahren mit 0,7 Episoden pro Jahr. Kinder mit ≥6 AOME bis zum Alter von 6 Jahren gelten als „Otitis prone“. Die AOME kommt im Winter häufiger als im Sommer vor. jjÄtiologie Die akute Otitis media mit Erguss (AOME) wird meist durch Bakterien aus den oberen Atemwegen verursacht (. Tab. 15.15). Aus ­10–40% der Mittelohrergüsse bei AOME werden keine Bakterien isoliert. Die COME wird durch die gleichen Bakterien wie die AOME verursacht, jedoch in geringeren Raten (maximal 12%) und mit

343 Bakterielle Infektionen

..Tab. 15.15  Relative Häufigkeit der einzelnen Bakterien bei Otitis media Bakterienspezies

Häufigkeit in %

S. pneumoniae

35–48

Nicht typisierbarer Haemophilus influenzae

20–29

Moraxella catarrhalis

12–23

S. pyogenes

4–5

Staph. aureus

Rund 43% aller penicillinresistenten Isolate von S. pneumo­ niae verhalten sich kombiniert resistent gegenüber Erythomycin und Cotrimoxazol.

Der Vorteil einer Antibiotikatherapie bei OME sowie die Einlage von Röhrchen werden kontrovers beurteilt. Die Initialtherapie der CEOM besteht in topischen, gegen die im ausfließenden Sekret isolierten Erreger gerichteten, Antibiotika. Hartnäckige Fälle bedürfen oft einer täglichen Ohrtoilette. Parenterale Antibiotika gegen Pseudomonas spp., andere gramnegative Bazillen oder resistente Staph. aureus können notwendig sein.

..Tab. 15.16  Antibiotikatherapie der akuten Otitis media und der Otitis media mit Erguss Antibiotikum

Dosierung

Akute Otitis media 1. Wahl

Amoxicillin

50 mg/kgKG/Tag in 2–3 Gaben für 5 Tageb

Akute Otitis media 2. Wahl

Amoxicillin-Clavulansäure Cefpodoximproxetil Cefuroximaxetil Clarithromycina Azithromycina Trimethoprim-Sulfamethoxazol

50 mg/kgKG/Tag in 2–3 Gaben für 5 Tageb 5 mg/kgKG/Tag in 2 Gaben für 5 Tageb 30 mg/kgKG/Tag in 2–3 Gaben für 5 Tageb 15 mg/kgKG/Tag in 2 Gaben für 5 Tageb 10 mg/kgKG/Tag in 1 Gabe für 3 Tage 6 mg Trimethoprim und 30 mg Sulfamethoxazol/kgKG/Tag in 2 Gaben für 5 Tage

Rezidivierende Otitis media

Amoxicillin Sulfisoxazole

20 mg/kgKG/Tag in 1–2 Gaben für 3–6 Monate 75 mg/kgKG/Tag in 1–2 Gaben für 3–6 Monate

Otitis media mit Erguss

Antibiotikum

Gleiche Dosierung wie für akute Otitis media, aber für 14–21 Tage

a

Alternative bei Penicillinallergie. b Bei Alter > Bei Verdacht auf vaskuläre Komplikationen sind Computer­ tomographie mit Kontrastmittel oder Magnetresonanz mit Gadolinium indiziert.

Eine Knochenszintigraphie ist bei unklaren Knochenprozessen zu erwägen. Erregernachweis  Proben sollten durch Tympanozentese oder durch bestehende Öffnungen (Paukenröhrchen, Perforation) nach sorgfältiger Sterilisation umliegender Strukturen gewonnen werden. Der Abszess sollte perkutan aspiriert werden, wenn keine Operation vorgesehen ist. Die Proben müssen aerob und anaerob kultiviert werden. Eine Lumbalpunktion ist nur bei Meningitis indiziert. Blutkulturen bleiben meist steril.

347 Bakterielle Infektionen

Die Diagnose der chronischen Mastoiditis beruht auf der t­ ypisch schmerzlosen, auf konventionelle Antibiotika nicht bessernden Otorrhö. Otoskopisch gewinnt man Proben für mikrobiologische und mögliche histologische Untersuchungen. jjDifferenzialdiagnose Sie hängt vom Stadium und Ausbreitung ab. 44 Akute Mastoiditis: Meningitis (bei meningealen Zeichen) und Hirnabszess, subdurales Empyem (bei fokalen neurologischen Zeichen). 44 Chronische Mastoiditis: Otitis externa mit Otorrhö (Tragus druckschmerzhaft, Trommelfell intakt) und Neoplasien ­(Rhabdomyosarkom oder Neuroblastom). Akute Mastoiditis  Unkomplizierte Fälle behandelt man mit i.v.Antibiotika und Myringotomie mit Einlage von Paukenröhrchen.

Dies gilt auch bei Vorliegen einer Fazialisparese als einziger Komplikation. Initial eignen sich Amoxicillin-Clavulansäure oder Cephalosporine wie Cefuroxim. Bei Penicillinallergie kann auf Cephalosporine oder Clindamycin ausgewichen werden. Letzteres ist gegen H. influenzae nicht optimal. Je nach Resultat der mikrobiologischen Untersuchung muss die Therapie modifiziert werden. Die i.v.-­ Therapie sollte mindestens 7–10 Tage oder bis zur eindeutigen ­klinischen Besserung erfolgen und für 3 Wochen mittels oraler Medikation fortgeführt werden. Tritt innerhalb von 48 h keine Besserung der systemischen und lokalen Symptome und Zeichen ein, ist die Mastoidektomie indiziert. Ein subperiostaler Abszess erfordert neben Antibiotika eine einfache Mastoidektomie und Tympanozentese mit Einlage von Röhrchen. Die radikale Mastoidektomie ist obligat bei trotz ein­ facher Mastoidektomie ausbleibender Besserung (persistierende Otorrhö). Chronische Mastoiditis  Den Grundstein der Therapie der chronische Mastoiditis bilden die gründliche tägliche Ohrtoilette und topische Antibiotika (Polymyxin B, Neomycin oder Gentamicin). Die

Otorrhö verebbt in der Regel nach wenigen Tagen. Versagt die topische Therapie, ist eine i.v.-Therapie bis 7 Tage nach Beendigung der Otorrhö indiziert. Dafür eignen sich gegen Pseudomonas wirksame Betalaktamase mit oder ohne Betalaktamasehemmer (z. B. Ticarcillin und Clavulansäure 4-mal 240 mg/kgKG/Tag) oder Cephalosporine der 3. Generation wie Ceftazidim (3-mal 150 mg/kgKG/Tag). Die tägliche Ohrtoilette zum Debridement und zur Erfassung der beendeten Otorrhö muss fortgeführt werden. Danach wird eine Prophylaxe mit Amoxicillin oder Cotrimoxazol für mehrere Monate empfohlen. Wenn die Otorrhö trotz parenteraler antibiotischer ­Therapie persistiert oder in Kürze rezidiviert, muss eine einfache Mastoidektomie durchgeführt werden. 15.2.5

Sinusitis

jjGrundlagen Die Infektion der Paranasalsinus stellt meist eine Komplikation ­eines viralen Infekts der oberen Atemwege dar. Die Diagnose ist nicht einfach. jjEpidemiologie Eine akute Sinusitis kompliziert 5–10% der Infektionen der oberen Atemwege beim Kind. Da Kinder pro Jahr 6–8 solcher Infektionen erfahren, stellt die akute Sinusitis ein häufiges Problem in der Kinderarztpraxis dar.

..Abb. 15.9  Anatomische Beziehungen der oberen Atemwege, Lokalisation der Flora und Entstehung der Sinusitis

jjÄtiologie Die wichtigsten bakteriellen Erreger der akuten Sinusitis sind S. pneumoniae (30–40%), H. influenzae und M. catarrhalis (je 20%). Einzig bei schweren Symptomen oder subakuter/chronischer Sinusitis werden Staph. aureus, Anaerobier und andere vergrünende Streptokokken als S. pneumoniae häufiger isoliert. jjPathogenese Eine Virusinfektion der oberen Atemwege zieht die Mukosa der Nase (Rhinitis) sowie der angrenzenden Sinus in Mitleidenschaft und führt zu 44 Obstruktion der Sinusostien, 44 Dysfunktion des mukoziliären Apparats, 44 Änderung von Quantität und Qualität des Sekrets. Der Druck in den Sinus steigt an. Die Mukosa resorbiert rasch den Sauerstoff der Luft im Sinus. Ein gegenüber dem normalen atmosphärischen Druck der Nase negativer Druck entsteht. Mit Bakte­ rien beladener Mukus wird aus Nase und Nasopharynx aspiriert (. Abb. 15.9). Auch Niesen, Schnieben, Schnäuzen begünstigen durch Änderung des intrasinusoidalen Drucks die bakterielle Kontamination der Paranasalhöhlen. Der gestörte mukoziliäre Apparat befördert die Bakterien nicht heraus. Eine starke Entzündungsreaktion wird angeregt. Die Verlegung der Ostien begünstigende Faktoren werden eingeteilt in Mukosa anschwellende (als Folge systemischer oder lokaler Erkrankungen) und mechanisch obstruierende (. Tab. 15.17). jjKlinik Respiratorische Symptome sind am häufigsten. Das Nasensekret ist dünn oder dick, serös oder eitrig; der Husten ist am Tage trocken oder produktiv und verstärkt sich meist nachts. Foetor ex ore, Gesichts- und Kopfschmerzen sind selten. Schmerzlose morgendliche

15

348

D. Nadal und C. Berger

..Tab. 15.17  Risikofaktoren für die Obstruktion der Sinusostien Schwellung der Mukosa

Mechanische B­ehinderung

System­ erkrankung

Viraler Atemwegsinfekt Allergische Entzündung Zystische Fibrose Immundefekt Ziliendyskinesie

Choanalatresie Septumdeviation Nasenpolypen Fremdkörper Tumor

Lokale Störung

Gesichtstrauma Schwimmen, Tauchen Medikamentöse Rhinitis

Ethmoidbullae

..Tab. 15.18  Klinik der akuten Sinusitis Persistierende Symptome

Nasale Sekretion und/oder Husten >10 Tage ohne Besserung

Schwere Symptome

Hohes Fieber (>39°C) und eitriges Nasensekret >3 Tage

jjDiagnose Die Verdachtsdiagnose wird klinisch gestellt. Bildgebende Verfahren  Konventionelle Röntgenaufnahmen (anterioposterior, seitlich und halbaxial okzipitomental) zeigen diffuse Verschattung, Verdickung der Mukosa (>4 mm) oder einen Luft-Flüssigkeits-Spiegel. Diese Zeichen sind nicht spezifisch für die akute Sinusitis. Bei chronischer Sinusitis wird eine osteoblastische Reaktion in betroffenen Sinuswänden beobachtet. !! Cave Sinusaufnahmen sind bei 88% der Kinder > Auf eine akute Sinusitis deutet eine Infektion der oberen Atemwege >10 Tage ohne Besserung hin.

15

Weniger häufig manifestiert sich die Sinusitis als eine schwerer als üblich verlaufende Erkältung (. Tab. 15.18). Hohes Fieber (>39,0°C) und eitrige Rhinorrhö für >3 Tage deuten auf sekundäre bakterielle Infektion der Paranasalsinus hin. Dauer der Symptome >30 Tage weist auf eine subakute oder chronische Sinusitis hin. Halsschmerzen gesellen sich häufig als Folge von Mundatmung bei nasaler Obstruktion hinzu. Rhinorrhö, Kopfschmerzen und Fieber sind selten. Eiterstraßen an der Rachenhinterwand, eine gerötete oder blasse Nasenschleimhaut und eine geringe Entzündung des Rachens finden sich vor. Zuweilen besteht zusätzlich eine akute Otitis media mit oder ohne Erguss. j jKomplikationen Die häufigsten Komplikationen sind subperiostale Abszesse der ­Orbita und intrakranielle Abszesse. Wichtigste Komplikationen der Sinusitis 55Orbitale Komplikationen –– Entzündliches (präseptales) Lidödem –– Subperiostaler Abszess –– Orbitazellulitis –– Orbitaabszess –– Optikusneuritis –– Apex-orbitae-Syndrom –– Frontale oder maxilläre Osteomyelitis 55Intrakranielle Komplikationen –– Epiduralabszess –– Subduralempyem –– Thrombose des Sinus cavernosus –– Meningitis –– Hirnabszess

sinus kann in Lokalanästhesie oder Kurznarkose durch einen geübten Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten ambulant durchgeführt werden. Indikationen sind: 44 keine Besserung auf mehrere Antibiotikatherapien, 44 schwere Gesichtsschmerzen, 44 Orbita- oder intrakranielle Komplikationen, 44 Evaluation bei immunkompromittiertem Kind. Aspiriertes Material sollte nach Gram gefärbt sowie quantitativ ­aerob und anaerob kultiviert werden. Nachweis von >104 Keimen/ml spricht für eine echte Infektion. jjDifferenzialdiagnose Erkrankungen der Nasennebenhöhlen im Zusammenhang mit allergischer Rhinitis, zystischer Fibrose, Adenoidhyperplasie, Fremdkörper oder Ziliendyskinesie. jjTherapie Obschon die Spontanheilungsrate rund 40% beträgt, bilden Anti­ biotika den Hauptpfeiler der Therapie (. Tab. 15.19). Bei unkomplizierter Sinusitis ist Amoxicillin das Antibiotikum erster Wahl. Antibiotika mit breiterem Wirkungsspektrum sind indiziert bei 44 ausbleibender Besserung auf Amoxicillin, 44 lokal epidemiologisch hohe Rate an Betalaktamase bildenden H. influenzae, 44 frontaler oder sphenoidaler Sinusitis, 44 komplizierte Ethmoiditis, 44 Symptome >30 Tage. Ein zunehmendes Problem sind penicillinresistente S. pneumo­ niae, da sie oft auch gegen andere Antibiotika wie Cotrimoxazol oder Makrolide resistent sind. Therapeutische Optionen sind Clindamycin, Chloramphenicol und Rifampicin. Cephalosporine können nur bei moderater Resistenz verwendet werden. Verabreichung eines geeigneten Antibiotikums führt zu promptem klinischem Ansprechen. Fieber (falls vorhanden), Husten und Rhinorrhö bessern sich innerhalb von 48 h. Bleibt die Besserung aus, empfehlen sich wegen möglicher Betalaktamasebildung oder Penicillinresistenz ein Wechsel des Antibiotikums oder eine Sinusaspi-

15

349 Bakterielle Infektionen

..Tab. 15.20  Altersabhängige relative Frequenz der häufigsten bei Lymphadenitis colli ursächlichen Bakterien

..Tab. 15.19  Therapie der akuten Sinusitis beim Kind Dosierung

Erreger Total mg/kgKG/Tag

Einzelgaben

Amoxicillin

50

2–3

Amoxicillin-Clavulansäure

50

2–3

Cefpodoximproxetil

5–12

2

Cefuroximaxetil

30

2–3

Azithromycin

12

1

Clarithromycin

15

2

Gruppe-A-Streptokokken

Alter des Patienten 0–1 Monat

2–12 Monate

1–4 Jahre

5–18 ­ Jahre



+

+

++

Gruppe-B-Streptokokken

++

+





Staphy. aureus

+

++

++

++

Nicht tuberkulöse ­Mykobakterien



+

++

+

Anaerobier





Bartonella henselae





++ +

+

..Tab. 15.21  Klinische Merkmale und Diagnostik der bakteriellen unilateralen Lymphadenitis colli Bakterienspezies

Klinik

Diagnostik

Staph. aureus und S. pyogenes

Alter 1–4 Jahre Akut, Größe 2–6 cm Zellulitis, Fluktuation in bis zu 33%

Rachenabstrich für S. pyogenes, Kultur des Aspirats oder Eiters

Gruppe-B-Streptokokken

Alter 2–6 Wochen Zellulitis-Adenitis-Syndrom Ipsilaterale Otitis media

Blutkultur oder Kultur von Aspirat des Knotens oder der Haut

Anaerobier

Ältere Kinder Karies, Periodontitis

Kultur von Aspirat oder Blutkultur

Bartonella henselae

Katzenkontakt Inokulationspapel Okuloglanduläres Syndrom

Serologie

Nichttuberkulöse Mykobakterien

Alter 1–5 Jahre Keine systemischen Symptome

Kultur oder molekularbiologischer Nachweis aus Exstirpat

Mycobacterium tuberculosis

Alter >5 Jahre Tuberkuloseexposition Thoraxröntgen meist pathologisch

Ziehl-Neelsen-Färbung und Kultur von Magensaft (und Sputum) Tuberkulinhauttest Interferon-γ-in-vitro-Test erst nach Alter >4 Jahre aussagekräftige Resultate, unterscheidet wie Tuberkulinhauttest nicht zwischen aktiver und latenter Tuberkulose

ration zur bakteriologischen Diagnostik. Die Dauer der Therapie wird bei raschem Ansprechen auf 10 Tage beschränkt, bei langsamem auf 7 Tage nach Beschwerdefreiheit ausgedehnt. >> Bei rezidivierenden Sinusitiden sollten Grunderkrankungen bedacht werden.

Chirurgische Behandlung  Sie ist nur bei orbitalen oder zentralnervösen Komplikationen nötig. Bleibt eine maximale Antibiotikatherapie erfolglos, sollte ein endoskopischer Eingriff (z. B. Schaffung eines nasoantralen Fensters) erfolgen. Adenotonsillektomie ist nur bei Obstruktion mit Sekretstau indiziert.

15.2.6

Lymphadenitis colli

jjGrundlagen Die Vergrößerung von Halslymphknoten erzeugt bei Eltern, Patient und Arzt oft Angst vor einem malignen Prozess. Die Ursache ist

aber in >95% der Fälle infektiös, die sich meist in akute bilaterale, akute unilaterale und subakute oder chronische Lymphadenitis einteilen lassen. Eine Lymphadenitis colli kann in jedem Alter auftreten. jjÄtiologie Sie variiert je nach Alter des Patienten (. Tab. 15.20). In 40–80% der akut unilateral entzündeten Lymphknoten finden sich Staph. aureus oder S. pyogenes. Andere Streptokokken, Anaero­bier, Francisella ­tularensis, Pasteurella multocida, Yersinien und ­Nokardien werden weit seltener isoliert. Als bakterielle Erreger der akuten bilateralen Lymphadenitis lassen sich Mycoplasma pneumoniae und Corynebacterium diphtheriae nachweisen. Eine subakute oder chronische unilaterale Lymphadenitis verursachen Bartonella henselae, nicht tuberkulöse Mykobakterien und viel seltener Mycobacterium tuberculosis, Actinomyces israelii, Nocardia spp. und Bacille-CalmetteGuérin.

350

D. Nadal und C. Berger

..Abb. 15.10  Subakute Lymphadenitis bei einem 18 Monate alten ­Jungen mit Infektion durch nichttuberkulöse Mykobakterien

j jPathogenese Die Vergrößerung von Lymphknoten kommt durch Invasion des Erregers und nachfolgende entzündliche Reaktion oder indirekt durch reaktive Vermehrung von Lymphozyten zustande. Bakterien dringen auf hämatogenem oder viel häufiger von einem regionären Fokus auf lymphogenem Weg in die Lymphknoten ein. Je nach ­Erreger bilden sich Abszesse oder Granulome. jjKlinik Lokale Beschwerden und Lokalbefund prägen meist das klinische Bild (. Tab. 15.21). >> Die gründliche körperliche Untersuchung mit besonderer Beurteilung aller Lymphknotenstationen sowie von Leber- und Milzgröße ist essenziell.

15

Akute Lymphadenitis  Die akute unilaterale Lymphadenitis zeigt teigige, ödematöse, prallelastische, feste bis harte oder fluktuierende Schwellung von in der Regel 2–10 cm Durchmesser, Schmerzen, Rötung und Überwärmung unterschiedlichen Ausmaßes und ­Fieber, Dysphagie und Tortikollis in variierender Ausprägung. Die akute bilaterale Lymphadenitis stellt vorwiegend eine lokalisierte Reaktion auf eine akute Pharyngitis (S. pyogenes) dar oder ist Teil einer generalisierten lymphoretikulären Antwort auf eine systemische Infektion (Mykoplasmen). Die Lymphknoten präsentieren sich oft klein, weich, wenig oder nicht schmerzhaft und ohne Überwärmung und Rötung der darüberliegenden Haut. Subakute und chronische Lymphadenitis  Die subakute oder

chronische Lymphadenitis (. Abb. 15.10 und . Abb. 15.11) manifestiert sich als nicht oder kaum schmerzhafte Schwellung mit rosa bis livid verfärbter, dünner darüber liegender Haut, im fortgeschrittenen Stadium mit den Lymphknoten verbackene Haut, und mit Fluktuation und evtl. spontaner Perforation. jjKomplikationen Spontanperforation und Fistelbildung mit kosmetisch störender Narbenbildung oder Rezidive können auftreten. jjDiagnose Genaue Anamnese mit Angaben zur Dauer der Schwellung, zu Voroder Grunderkrankung, zu Fieber, Exanthem, Gewichtsverlust, Nachtschweiß, Kontakt mit Tieren und zum klinischen Befund bil-

..Abb. 15.11  Chronische Lymphadenitis am Hals bei einem 13-Jährigen mit Katzenkratzkrankheit: Beachte die initiale Verletzung durch die Katze (unten)

den die Grundlage. Routineuntersuchungen wie Differenzialblutbild, C-reaktives Protein, Blutsenkungsreaktion sowie in unklaren Fällen gezielte Laboruntersuchungen wie Rachenabstrich bei Verdacht auf S.-pyogenes-Infektion, Serologien, Tuberkulinhauttest, Ultraschall (Frage nach Ausdehnung und Liquefizierung) und ­Thoraxröntgenbild können ätiologisch weiterführen. Biopsie oder besser diagnostische Exstirpation sind manchmal bei fehlender Regredienz für geeignete mikrobiologische und histopathologische Untersuchungen indiziert (. Tab. 15.21). jjDifferenzialdiagnose Sie umfasst andere infektiöse Ursachen: 44 Viren (bilateral), 44 Parasiten, Pilze (unilateral), 44 PFAPA-Syndrom (periodisches Fieber, Aphthen, Stomatitis, Pharyngitis, zervikale Lymphadenitis), 44 Kawasaki-Syndrom (mukokutanes Lymphknotensyndrom) sowie die viel selteneren (primär) nichtinfektiösen Ursachen: 44 kongenitale Zysten (sekundär infizierte), 44 Malformationen der (Lymph)gefäße, Speicheldrüsen, Schilddrüse, 44 benigne Lymphoproliferationen (Rosai-Dorfman, Kikuchi-­ Fujimoto), 44 Autoimmunprozesse, 44 Malignome (Hodgkin-, Non-Hodgkin-Lymphome, Sarkome, Karzinome). jjTherapie Bei der akuten unilateralen Lymphadenitis zielt die antibiotische Therapie auf Staphylokokken, Streptokokken und Anaerobier. Dazu eignen sich Amoxicillin-Clavulansäure, betalaktamasefeste Cephalosporine oder Clindamycin. Inzision und Drainage drängen sich bei Fluktuation, Spontanperforation oder schlechtem Ansprechen auf Antibiotika auf.

351 Bakterielle Infektionen

..Tab. 15.22  Toxine und andere Virulenzfaktoren von Bordetella pertussis Komponente

Lokalisation

Biologische Aktivität

Pertussistoxin

Extrazellulär

Begünstigt die Bindung an respiratorisches Epithel Sensibilisiert auf Histamin Induziert Lymphozytose Verursacht Proliferation von T-Lymphozyten Stimuliert die Bildung von Interleukin 4 und IgE Hemmt die Phagozytosefunk­ tion von Leukozyten

Filamentöses Hämagglutinin (FHA)

Zellober­ fläche

Begünstigt die Bindung an respiratorisches Epithel

Pertactin

Äußere Zellmembran

Begünstigt die Bindung an respiratorisches Epithel

Agglutinogen

Zell­ oberfläche

Begünstigt die Bindung an respiratorisches Epithel

AdenylatzyklaseToxin

Extrazytoplasmatisch

Hemmt die Phagozytosefunk­ tion von Leukozyten Verursacht Hämolyse in vitro

Endotoxin

Intrazellulär

Assoziiert mit Fieber und Lokalreaktionen (im Mausmodell)

Tracheal­ zytotoxin

Extrazellulär

Verursacht Stase der Zilien

Hitzelabiles Toxin

Intrazellulär

Verursacht ischämische Nekrosen (im Mausmodell)

Die akute bilaterale Lymphadenitis bei Pharyngitis mit ­ ruppe-A-Streptokokken wird mit Penicillin (7 Abschn. 15.2.1) und G jene bei Infektion mit Mykoplasmen mit einem Makrolid behandelt. Bei der subakuten oder chronischen unilateralen Lymphadenitis richtet sich die Therapie nach dem nachgewiesenen oder höchst wahrscheinlichen Erreger. Die Infektion mit Bartonella henselae (Katzenkratzkrankheit) bedarf in der Regel keiner Antibiotika, jene mit nicht tuberkulösen Mykobakterien nur falls keine totale Ex­ stirpation erfolgt. Hier hat sich die Kombination von Rifabutin und einem Makrolid wie Clarithromycin über 3–6 Monate ausgezeichnet bewährt. Symptomatische Therapie  Je nach Ausprägung der Symptomatik

sollte die Gabe von Antiphlogistika, Antipyretika oder Analgetika erwogen werden. 15.3

Unterer Respirationstrakt

D. Nadal 15.3.1

Keuchhusten

jjGrundlagen Keuchhusten (Pertussis) erzeugt beim Säugling und Kleinkind oft qualvolle und schwächende respiratorische Symptome. Sie wirken auf Eltern beängstigend.

..Abb. 15.12  Tropismus von Bordetella pertussis für zilientragendes ­Epithel

jjEpidemiologie Die Erkrankung kann in jedem Alter auftreten, befällt in der klassischen Form aber vorwiegend nichtimmune Säuglinge. Da die Infektion keine lang anhaltende Immunität hinterlässt, sind im Laufe des Lebens wiederholte, jeweils immer weniger typische Episoden möglich. Erwachsene und vor allem ältere Personen spielen eine wichtige Rolle bei der Übertragung. Diese erfolgt durch Tröpfchen bei engem Kontakt. jjÄtiopathogenese Das kleine, unbewegliche gramnegative, mehrere Toxine bildende Stäbchen Bordetella pertussis verursacht das klassische Bild des Keuchhustens. Die mit B. pertussis verwandten B. parapertussis und seltener B. bronchiseptica induzieren keuchhustenähnliche ­Erkrankungen. Bordetella pertussis produziert eine Reihe von Toxinen und ­Virulenzfaktoren (. Tab. 15.22) und zeigt einen Tropismus zu Zilien tragenden Epithelzellen des Respirationstrakts (. Abb. 15.12). Die Bindung an Zilien wird vorwiegend durch filamentöses Hämag­ glutinin, gewisse Agglutinogene, Pertaktin und möglicherweise auch Pertussistoxin bedingt. Die auf die Vermehrung des Pathogens folgenden Prozesse sind in ihren Einzelheiten nicht bekannt. jjKlinik Die klassische Erkrankung dauert relativ lange und läßt sich in 3 Stadien einteilen: 44 Stadium catarrhale: Setzt nach 7–14 Tagen Inkubation mit Zeichen einer Infektion der oberen Atemwege ein und dauert 1–2 Wochen. Fieber fehlt. 44 Stadium convulsivum: Charakterisiert durch an Häufigkeit zunehmende, in Serie auftretende Hustenstöße (Stakkatohusten) mit anschließendem inspiratorischen Ziehen und häufigem terminalem Erbrechen. Äußere Reize wie die Berührung des Rachens mit dem Zungenspatel können Attacken provozieren. Zäher Schleim kann sich während des Hustens entleeren. Auch hier fehlt das Fieber. Die Dauer beträgt 4–6 Wochen. 44 Stadium decrementi: Die Hustenanfälle klingen über mehrere Wochen ab. Infektionen mit B. parapertussis oder B. bronchiseptica verlaufen ähnlich, jedoch in der Regel milder.

15

352

D. Nadal und C. Berger

>> Ältere Kinder und Erwachsene präsentieren meist nicht das klassische Bild, sondern eher einen chronischen Husten.

15.3.2

Tuberkulose

jjEpidemiologie Weltweit betrachtet verursacht die Tuberkulose mehr Todesfälle als jede andere einzelne Infektionskrankheit. Über eine Million Kinder 95% der Fälle stellt die Lunge die Eintrittspforte dar. TuberkelbaIm frühen Stadium convulsivum ist die Serologie noch negativ. zillen enthaltende inhalierte Tröpfchen von > Pulmonale und extrapulmonale Herde sind aktiv oder latent; tika bei Zeichen eines Infekts der oberen Atemwege die Beendigung die Reaktivierung latenter Herde ist auch nach Jahren bei der Epidemie. j jKomplikationen Die Pneumonie ist die häufigste Komplikation. Sie tritt in 10–15% der stationär behandelten Patienten auf. Eine andere häufige Komplikation stellt die Otitis media bei sekundärer Infektion mit Mittelohrpathogenen dar. Am gefürchtetsten ist die hypoxisch bedingte Enzephalopathie mit Krämpfen. Die wiederholten Hustenanfälle können subkonjunktivale Blutungen verursachen.

15

Schwächung der Abwehrlage möglich.

Symptomatische Therapie  In einigen Studien haben sich Salbutamol oder Kortikosteroide bei Säuglingen mit schwerem Verlauf bewährt. Antitussiva dagegen bleiben wirkungslos. Neuroleptika und Sedativa sind sehr umstritten.

jjPrognose Sie ist in der Regel gut. Bei verspäteter Diagnose können jedoch insbesondere bei Säuglingen letale Verläufe beobachtet werden.

Brechen vergrößerte Hiluslymphknoten in einen Bronchus ein, ­entstehen als Folge der bronchogenen Streuung Lungeninfiltrate (Tuberkulosepneumonie), Atelektasen und im Extremfall Kavernen (bei Kindern selten). Diese Patienten sind besonders kontagiös, da die Tuberkulose „offen“ ist und die Bazillen über die Bronchien ausgehustet werden. Vergrößerte Lymphknoten brechen selten auch direkt in benachbarte Organe des Mediastinums ein. Herde nahe an der Pleura verursachen eine Pleuritis.

353 Bakterielle Infektionen

..Abb. 15.14  Röntgenthoraxbild bei Tuberkulose: rechtsseitig vergrößerter Hilus mit pleuraler Reaktion des Mittellappens rechts (Pfeil)

Bildgebende Verfahren  Die Verdachtsdiagnose wird meistens aufgrund eines pathologischen Befundes in der Röntgenaufnahme des Thorax gestellt (. Abb. 15.14). Charakteristisch ist die überwie..Abb. 15.13  Pathogenese der Tuberkulose

jjKlinik Die pulmonale Infektion verläuft asymptomatisch. Entwickelt sich eine Primärtuberkulose, sind die charakteristischen Symptome s­ ubfebrile Temperaturen (Nachtschweiß), Müdigkeit, Inappetenz, Gewichtsverlust. !! Cave Bei jungen Kindern können alle Symptome fehlen. Husten ist selten!

Die Symptomatik der bei Säuglingen und Kleinkindern häufiger auftretenden Miliartuberkulose ist völlig unspezifisch und besteht meist in hohem Fieber und Schwäche. Die Vergrößerung der Hilus- oder Bronchiallymphknoten kann hartnäckigen Husten, Stridor oder Bronchospasmen auslösen. Eine Tuberkulosepneumonie manifestiert sich ähnlich wie eine Pneumonie anderer Ätiologie. jjKomplikationen Die schwerste Komplikation stellt die hämatogene Disseminierung dar: Miliartuberkulose, extrapulmonale Tuberkulose (Zentralnervensystem, Knochen, Gelenke, Lymphknoten, innere Organe wie Darm und Niere). Ebenfalls schwerwiegend sind lokale Komplikationen wie Bronchusobstruktion, Kavernenbildung, Pneumothorax, Empyem und Schwarten- oder Fistelbildung. jjDiagnose Wichtige Hinweise können sich aus der Anamnese bei bekanntem Kontakt mit einem Tuberkulosekranken ergeben. Da diese aber häufig wegen der unspezifischen, geringen oder fehlenden klinischen Symptome (oft lange) unerkannt bleiben, hilft die Anamnese selten.

gend einseitige Vergrößerung der Hilus- oder Mediastinallymphknoten. Verkalkungen zeigen sich frühestens 6 Monate nach der Infektion. Andere radiologische Bilder sind miliare Infiltrate in ­beiden Lungen, Pneumonie, Atelektasen, Pleuraerguss und selten Kavernen.

>> Der Primärkomplex bleibt in der Regel radiologisch inapparent.

Die Computertomographie hilft bei der Evaluation vergrößerter Lymphknoten. Es bestehen nun erste Erfahrungen mit Magnetspinspektrometrie: Der Nachweis von Lipidspektren in Flüssigkeiten von Raumforderungen im Zentralnervensystem, aber auch in anderen Organen, scheint ein spezifischer Hinweis für das Vorliegen einer aktiven Tuberkulose zu sein. Die Lipidspektren erlauben auch eine Abgrenzung gegenüber bakteriellen Abszessen, die Acetat- oder Succinatspektren (Stoffwechelsprodukte der Bakterien) zeigen. Tuberkulinhauttest  Ausgenommen bei der miliaren Tuberkulose

und bei tuberkulösen Kavernen mit großer Anzahl von Bazillen fällt der Tuberkulinhauttest positiv aus. Der Tuberkulinhauttest beruht auf einer allergischen Reaktion vom verzögerten Typ auf streng intrakutan injizierte 0,1 ml gereinigten Tuberkulins (PPD). Die applizierte Menge an PPD beträgt in der Regel 2 Tuberkulineinheiten. Eine Induration (zelluläre Infiltration) der Haut von >10 mm Durchmesser nach >72 h gilt als positives Resultat. Bei BCG-geimpften deutet eine Induration >15 mm auf eine Infektion mit M. tuberculosis hin (. Abb. 15.15). Ein positiver Tuberkulinhauttest erlaubt keine Unterscheidung zwischen Infektion und Erkrankung. Er fällt auch bei erfolgreicher Impfung mit BCG (Bacille-Calmette-Guérin) positiv aus.

Interferon-γ-in-vitro-Test  Ist wie der Tuberkulinhauttest ein indi-

rektes Diagnostikum, ist aber spezifischer, weil keine Kreuzreaktion mit nichttuberkulösen Mykobakterien und nach BCG-Impfung be-

15

354

D. Nadal und C. Berger

..Tab. 15.23  Antituberkulöse Therapie

..Abb. 15.15  Tuberkulinhauttest (Mantoux): die Induration >20 mm ist eindeutig positiv

Substanz

Tagesdosis (mg/kgKG)

Maximaldosis

Isoniazid (INH)a

10–15 p.o.

300 mg

Rifampicina

10–20 p.o./i.v.

600 mg

Pyrazinamidb

30–40 p.o.

2g

Streptomycinc, d

20–40 i.m.

1g

Ethambutolc, e

15–25 p.o.

2,5 g

a

Für 6 Monate. Für 2 Monate. c Eines davon bei unbekannter Resistenzlage dazugeben. d Dringt nur bei entzündeten Meningen in das ZNS ein. e Dringt nicht ins ZNS ein, kann Retrobulbärneuritis auslösen! b

steht. Die Sensitivität ist aber bei Kindern unter 4 Jahren nicht gut, sodass der Test in dieser Altersstufe keine Vorteile gegenüber dem Tuberkulinhauttest bringt. Erregernachweis  Der Beweis einer Infektion mit M. tuberculosis

wird mit dem Nachweis des Erregers erbracht. Als Untersuchungsmaterial eignen sich Sputum, Magensaft, Aspirate oder bronchoalveoläre Spülflüssigkeit. Sputum kann allenfalls bei Adoleszenten gewonnen werden. Der mikroskopische Nachweis säurefester Stäbchen im Sputum definiert die Tuberkulose epidemiologisch als ­„offen“. Da Kinder Sputum statt zu expektorieren schlucken, hat sich bei ihnen Magensaft für die mikrobiologische Diagnostik etabliert. An 3 aufeinander folgenden Tagen morgendlich aspirierte Proben ergeben die höchste diagnostische Ausbeute. Die Mikroskopie ist wenig sensitiv. Kulturen des säureneutralisierten Magensafts zeigen frühestens nach 7–10 Tagen Wachstum von M. tuberculosis. Dieses kann bei Anwendung von DNA-Sonden schneller (innerhalb von 2 Tagen) detektiert werden.

15

j jDifferenzialdiagnose In Betracht müssen andere Formen der Bronchitis, Pneumonie oder Pleuraergüsse, Fremdkörperaspiration, Neoplasien, Sarkoidose (sehr selten!) gezogen werden. j jTherapie Die in der Regel ambulante Standardtherapie besteht in der Kombination von Isoniazid, Rifampicin und Pyrazinamid für 2 und von Isoniazid und Rifampicin für weitere 4 Monate (. Tab. 15.23). Die Dauer der Therapie begründet sich auf die relativ langsame Replikation der Bazillen (20 h/Generation). Bei Verdacht auf Vorliegen ­einer Resistenz wird eine 4. Substanz hinzugefügt. Die Therapie wird gemäß dem Resultat des Antibiogramms angepasst. Die miliare ­Tuberkulose erfordert eine Therapie von 12 Monaten. jjPrognose Früherfassung und Therapie verhüten Komplikationen. Ohne deren Auftreten ist die Prognose gut. Sonst wird sie von der Komplikation diktiert. 15.4

Bakterielle Infektionen des ­Urogenitaltrakts

D. Nadal Infektionen der ableitenden Harnwege gehören zu den häufigsten bakteriellen Infektionen im Kindesalter und sind das häufigste ­nephrologische Problem in der pädiatrischen Praxis.

..Tab. 15.24  Klinik der Urethritis durch Gonokokken oder andere Bakterien Parameter

Gonokokken

Nicht-Gonokokken

Inkubationszeit

2–6 Tage

2–3 Wochen

Beginn

Abrupt

Allmählich

Dysurie

Ausgeprägt, dauernd

Mild, wechselnd

Ausfluss

Profus, fehlt in > Urethritis und Vulvovaginitis weisen vor und nach der Pubertät verschiedene Erregerspektren auf und können ein Alarmzeichen sein.

15.4.1

Urethritis, Vulvovaginitis, Zervizitis

jjGrundlagen Eine Vulvovaginitis ist vor und nach der Pubertät häufig. Ätiologie, Pathogenese und Therapie unterscheiden sich in beiden Alters­ gruppen. Vaginitis und Vulvitis stellen vor der Pubertät eine Einheit, später aber getrennte Krankheitsbilder dar. jjEpidemiologie Die isolierte Urethritis findet sich fast nur bei sexuell aktiven Adoleszenten und ist häufigstes sexuell übertragenes Syndrom. Vulvovaginitis ist vor und nach der Pubertät ein häufiges gynäkologisches Problem. jjÄtiologie Im Vordergrund der sexuell übertragenen Bakterien stehen Chlamydia trachomatis und Neisseria gonorrhoeae. Andere Erreger wie gramnegative Bazillen sind seltener. Die Vaginosis bei Adoleszenten verursachen Gardnerella vaginalis, genitale Mykoplasmen und Anaerobier, die präpubertale ­Vulvovaginitis Gruppe-A-Streptokokken oder Darmbakterien. jjPathogenese Prädisponierend für eine präpubertale Vulvovaginitis sind die Nähe zum Rektum, schlechte Hygiene, Fehlen von schützendem ­Labialfett und Pubes sowie das Vorhandensein von undifferenzier-

355 Bakterielle Infektionen

tem kubischem Epithel. Der Mangel an Östrogen bewirkt einen neutralen pH, der das Wachstum potenzieller Pathogene aus dem Darm oder der Umgebung begünstigt.

..Tab. 15.25  Unterscheidung von Urethritis, akuter bakterieller Zystitis und Vulvovaginitis beim adoleszenten Mädchen Urethritis

Bakterielle Zystitis

Vulvovaginitis

Anamnese

Neuer Sexualpartner

Frühere Episode, Symptome innerhalb 24 h nach Sexualverkehr

Frühere Episode, Antibiotikathe­ rapie, Sexualpartner mit Genital­ erkrankung

Symptome

Dysurie

Innere Dysurie, Harndrang, Pollakisurie, Hämaturie

Äußere Dysurie, Vaginalausfluss, vulväres Brennen und Jucken

Symptomdauer

Meist >7 Tage

Meist > Sexuell übertragbare Infektionen verursachen nicht immer Symptome.

..Tab. 15.26  Symptome und Befunde der präpubertalen Vulvovaginitis

jjKlinik Nur die Hälfte der Mädchen manifestiert bei Urethritis Symptome. Bei adoleszenten Knaben finden sich Dysurie, urethraler Ausfluss und urethraler Pruritus. Die Urethritis durch N. gonorrhoeae unterscheidet sich klinisch von jener anderer Genese (. Tab. 15.24). Die Symptome und Befunde von Urethritis, Zystitis und Vulvovaginitis bei adoleszenten Mädchen finden sich in . Tab. 15.25 und jene für die präpubertale Vulvovaginitis in . Tab. 15.26. jjKomplikationen Infektionen mit sexuell übertragbaren Pathogenen können bei Mädchen zu Adnexitis und „pelvic inflammatory disease“ mit sekundä­ rer Sterilität, bei Jungen zu Epididymitis und Orchitis führen.

jjDifferenzialdiagnose Sie ist je nach vorliegender Störung verschieden. Die Vaginitis bei adoleszenten Mädchen kann auch verursacht sein durch Candida und Trichomonaden. Nicht primär bakterielle Ursachen der präpubertalen Vulvovaginitis sind Fremdkörper, Kontaktdermatitis und allergische Reaktionen. !! Cave Werden sexuell übertragbare Pathogene bei Kindern vor der Pubertät nachgewiesen, muss aktiv nach sexuellem Missbrauch gesucht werden.

jjTherapie, Prophylaxe Sie richtet sich nach dem (vermuteten) Pathogen: 44 N. gonorhoeae: Ceftriaxon i.m., allenfalls kombiniert mit ­Azithromycin p.o., 44 C. trachomatis :≥8 Jahre: Doxycyclin p.o. für 7 Tage; > Bei Nachweis sexuell übertragbarer Keime müssen die Sexualpartner zur Vermeidung eines Ping-Pong-Effekts gleichzeitig behandelt werden.

Bei Schmerzen sind Analgetika angebracht. Hygiene trägt zur r­ ascheren Heilung der präpubertalen Vulvovaginitis bei. jjProphylaxe Je nach der vorliegenden Störung sind Aufklärung über Risiken des ungeschützten Sexualverkehrs, Instruktion über Schutzmöglichkei-

Symptome

Befunde

Vaginalausfluss

Entzündung des Genitale

Vulvabrennen/-reizung

Sichtbarer Ausfluss

Pruritus, Dysurie

Perianale Verschmutzung

Blutung

Fauliger Geruch

Abdominalschmerzen

Warzen am Genitale

ten bzw. Erziehung zu verbesserter Hygiene und Vermeidung physikalischer Reize. 15.4.2

Epididymitis, Orchitis, Prostatitis

jjGrundlagen Bakterielle Epididymitis und Orchitis sind vor der Pubertät selten. Sie werden meist bei sexuell aktiven Adoleszenten beobachtet. Eine Prostatitis ist sehr rar. jjÄtiologie Beteiligt sind Enterobakterien, Pseudomonas, bekapselte Bakterien und bei sexueller Aktivität C. trachomatis und N. gonorhoeae (. Tab. 15.27). jjPathogenese Die Krankheitsbilder entstehen als Komplikation einer urethralen Infektion oder nach hämatogener Aussaat von Bakterien aus einem Fokus (. Tab. 15.27).

15

356

D. Nadal und C. Berger

Prädisponierende Faktoren

Ätiologie

jjPrognose Bei rechtzeitiger Antibiotikatherapie sind Drainage eines skrotalen Abszesses oder Orchidektomie selten nötig. Infertilität ist äußerst selten.

Präpubertale Jungen

Strukturelle oder neurologische Abnormitäten des Urogenitale

Koliforme Bakterien, ­Pseudomonas aeruginosa

15.5

Hämatogene Aussaat von einem primären Fokus

H. influenzae b, ­ S. pneumoniae, ­Meningokokken, ­Salmonellen, andere

Die Haut bildet nebst den Schleimhäuten die größte Grenzfläche des Menschen zur Umwelt und dadurch eine wichtige potenzielle Eintrittspforte für Bakterien.

Urethritis

Chlamydia trachomatis, Gonokokken, koliforme Bakterien, Pseudomonaden

15.5.1

..Tab. 15.27  Prädisposition für und Ätiologie der bakteriellen ­Epididymitis und Orchitis

Adoleszente

Hämatogene Aussaat von einem primären Fokus

D. Nadal

Pathologie des Urogenitale

j jKlinik Die Manifestationen der meist unilateralen Epididymitis und ­Orchitis sind sehr ähnlich: 44 schmerzhaftes Erythem und Schwellung des Skrotums, 44 Dysurie und zuweilen urethraler Ausfluss, 44 evtl. Fieber, 44 Prehn-Zeichen: Schmerzlinderung bei Entlastung des Hodens, 44 Pyurie und eventuelle periphere Leukozytose. j jKomplikationen Hodenabszesse, chronische Epididymitis und testikuläre Infarzierung können auftreten.

15

Haut- und Weichteile

j jDiagnose Sie wird anhand der mikroskopischen (Gram, Immunfluoreszenz) und kulturellen Untersuchung des Urins sowie eines Urethralabstrichs gestellt. j jDifferenzialdiagnose Hodentorsion und virale Orchitiden müssen ausgeschlossen werden. Bei Hodentorsion sind die Schmerzen ausgeprägter und urethraler Ausfluss, Leukozytose, Pyurie und Kremasterreflex fehlen. Die Dopplersonographie zeigt einen verminderten Blutfluss. !! Cave Eine Hodentorsion ist ein chirurgischer Notfall!

j jTherapie Wenn sexuell übertragbare Bakterien vermutet werden, ist die empirische Therapie mit einer Einzelgabe von Ceftriaxon i.m. (125 mg) und Azithromycin p.o. (1 g) bis Vorliegen der Laborresultate angebracht. Schlägt sie innerhalb von 3 Tagen fehl, empfehlen sich die Reevaluation und evtl. eine Hospitalisation. Werden andere als sexuell übertragbare Bakterien vermutet, richtet sich die Therapie gegen koliforme Bakterien und Pseudomonaden. Weitere Untersuchungen zum Ausschluss anatomischer oder neurologischer Abnormitäten drängen sich auf. Die symptomatische Therapie ist äußerst wichtig und beinhaltet Bettruhe, Analgetika und Antiphlogistika.

Oberflächliche Hautinfektionen ­ und Zellulitis

jjGrundlagen Oberflächliche Hautinfektionen beschränken sich auf die Epidermis und/oder Dermis. Die entzündliche Reaktion kann sich bis in die Subkutis ausdehnen. Die Läsionen an der Oberfläche sind in der Regel klein, die vorhandene Rötung lokalisiert und Gewebsnekrose, Gangräne oder Abszessbildung minimal oder fehlend. Es entwickeln sich wenig oder keine systemischen Manifestationen. Die Hautflora besteht aus ansässiger und transienter Flora. ­Letztere stammt von der Umgebung und haftet an nicht integerer Haut. Wichtigste Bakterien der transienten Flora sind S. pyogenes und Staph. aureus. jjÄtiopathogenese . Abb. 15.16 gibt die Anatomie der Haut, die Lokalisation der bakteriellen Infektionen und die ursächlichen Erregerspezies wieder. Letztere und die resultierenden Läsionen sind in . Tab. 15.28 zusammengefasst. Das Gleichgewicht zwischen Wirtsabwehr und Virulenz der ­Organismen ist die Hauptdeterminante. Temperatur, Feuchtigkeit, Haut- oder systemische Erkrankung, junges Alter und Antibiotikatherapie verändern die ansässige Flora und begünstigen die tran­ siente Kolonisierung durch pathogene Keime wie S. pyogenes und Staph. aureus. Die Kolonisierung des Epithels beinhaltet die irre­ versible Bindung an einen spezifischen Rezeptor auf der Wirtszelle. Auf der normalen Haut finden sich keine Rezeptoren. Dies ist ­möglicherweise der Grund, warum S. pyogenes und Staph. aureus intakte Haut nicht kolonisieren. S. pyogenes bindet mit dem ­M-Protein an Keratinozyten und mit dem F-Protein an LangerhansZellen. Nach erfolgreicher Kolonisierung müssen die Schutzmechanismen der Haut durchbrochen werden, bevor eine Infektion ent­ stehen kann. 15.5.2

Blasenbildende distale Daktylitis

jjKlinik, Diagnose Im Vordergrund steht die Blasenbildung an der volaren Oberfläche der distalen Fingerphalanx. Mehrere Phalangen sowie Zehen und die Handfläche können betroffen sein. Die Diagnose wird aufgrund der Klinik gestellt. Die Punktion der Blasen zeigt purulente Flüssigkeit und Mikroorganismen in Mikroskopie und Kultur.

357 Bakterielle Infektionen

..Abb. 15.16  Anatomie der Haut und Erreger bakterieller Infektionen

..Tab. 15.28  Bakterielle oberflächliche Hautinfektionen Erkrankung

Erregerspezies

Hautläsionen

Anthrax

Bacillus anthracis

Papel, Vesikel, Bulla

Blasenbildende distale Daktylitis

S. pyogenes, ­ Staph. aureus

Vesikel

Diphtherie

Corynebacterium diphtheriae

Papel, Vesikel, Ulkus

Ecthyma

S. pyogenes

Pustel, Plaque, Ulkus

Erysipel

S. pyogenes

Plaque, Vesikel, Bulla

Erysipeloid

Erysipelothrix rusopathiae

Makula

Erythrasma

Corynebacterium minutissimum

Makula

Follikulitis

Staph. aureus, Pseudomonas aeruginosa

Papel

Furunkel, ­Karbunkel

Staph. aureus

Knötchen

Impetigo

Staph. aureus, ­ S. pyogenes

Vesikel, Bulla, Pustel, Makula

Paronychie

Gemischt aerob und anaerob

Papel

Perianale ­Dermatitis

S. pyogenes

Makula, Papel

Schweißdrüsenabszess

Staph. aureus, Streptococcus milleri, E. coli und anaerobe Streptokokken

Knötchen

Zellulitis

Staph. aureus, ­ S. pyogenes

Makula

jjTherapie Therapie der Wahl sind Inzision und systemische Therapie mit ­einem penicillinasefesten Penicillin oder einem Cephalosporin­ der 1. Generation oder bei Allergie Makrolide oder Clindamycin über 10 Tage. Ohne Behandlung kann das Paronychium miterfasst werden.

15.5.3

Ecthyma

jjKlinik Die initiale Läsion besteht in einer Vesikel oder einer Pustel mit rotem Grund, die bald durch die Epidermis zur Dermis erodiert und zu einer verkrusteten Ulzeration mit erhöhtem Rand (bis 4 cm Durchmesser) und damit zur chronischen Infektion anwächst. ­Läsionen entstehen vorwiegend an den Beinen, an Orten mit Pruritus und Kratzern. jjTherapie, Komplikationen Wie bei Impetigo (7 Abschn. 15.5.7). Die Ecthyma gangraenosum ist eine nekrotische Ulzeration. Sie ist meist durch Pseudomonas aeruginosa oder seltener andere Bakterien oder Pilze bei aplastischer Anämie oder Leukämie mit Neutropenie bedingt. 15.5.4

Erysipel

Die Streptokokken dringen durch eine Eintrittspforte wie traumatische Läsionen, Ulzera, Fissuren und Dermatosen ein. Lymphgefäße sind mitbetroffen. jjKlinik Der Beginn ist abrupt mit Fieber, Schüttelfrost und Unwohlsein. Nach 1–2 Tagen folgen die Hautsymptome. Ein kleines brennendes und rotes Hautareal entwickelt sich zur überwärmten, hellroten ­Makula mit bräunlichem und verrunzeltem Aussehen. Der scharfe Rand ist leicht erhaben (. Abb. 15.17). Vesikel, hämorrhagische ­Blasen, Ecchymosen an der Makula, regionäre Lymphadenitis sowie bei Abheilung Desquamation können auftreten. jjKomplikationen Bakteriämie, Abszesse, Gangrän, Thrombophlebitis und bei Streptokokken, die pyrogenes Toxin bilden, Septikämie und toxischer Schock. jjDiagnose, Therapie Die Diagnose wird vorwiegend klinisch gestellt. Die Kultur des Abstrichs aus der Eintrittspforte hilft, den Erreger zu identifizieren. Die Hautbiopsie zeigt Ödem und erweiterte Gefäße in der Dermis und der oberen Subkutis sowie zuweilen Mikroorganismen in Lymphgefäßen. Mittel der Wahl ist Penicillin für 10 Tage, in schweren Fällen in den ersten 3 Tagen parenteral und danach peroral.

15

358

D. Nadal und C. Berger

jjPathogenese Feuchtigkeit, Mazeration, schlechte Hygiene und Drainage nah ­gelegener Wunden oder Abszesse begünstigen die Entstehung. Das Haar wirkt als Hebel und verletzt die Epidermis im Bereich des ­Ostiums. Dringen Bakterien ein, entwickelt sich eine Follikulitis. Gelangen sie tiefer in den Follikel, nekrotisiert dieser bei schwerer Entzündung, es entsteht ein Furunkel. Sind mehrere Follikel nebeneinander befallen, ergibt sich ein Karbunkel. jjKlinik, Diagnose Die oberflächliche Follikulitis manifestiert sich als rundliche erhabene Pustel auf rotem Grund am Ostium des Talgdrüsenkanals. Typische Lokalisationen sind Kopfhaut, Gesäß und Extremitäten. Der ursächliche Erreger kann anhand des Grampräparats und der Kultur aus dem purulenten Material vom Ostium der Drüse identifiziert werden.

..Abb. 15.17  Erysipel des Gesichts

15.5.5

Erysipeloid

j jPathogenese Inokulation von Erysipelothrix rusopathiae durch kontaminierte Tiere, Vögel, Fische und deren Produkte.

15

jjKlinik Man unterscheidet 3 Formen: 44 Lokalisierte kutane Form (am häufigsten): gut abgegrenzte rötliche bis livide Läsionen in Diamantenform an der Eintrittspforte. Nach einigen Wochen können die Läsionen spontan verschwinden und Wochen bis Monate später an anderen Stellen rezidivieren. 44 Diffuse kutane Form: zusätzlich zur ursprünglichen Läsion mehrere andere auf den ganzen Körper verteilte Läsionen. 44 Systemische Form: sie entsteht nach hämatogener Streuung, Allgemeinsyptome sind möglich. 55Komplikationen bei der systemischen Form sind Endokarditis, pyogene Arthritis, zerebrale Infarkte und Abszesse, Meningitis und Pleuraergüsse. jjDiagnose, Therapie Hautbiopsie und Kultur mit Nachweis des Erregers bestätigen die Diagnose. Die Therapie der Wahl ist Penicillin, Clindamycin oder ein Makrolid. 15.5.6

Follikulitiden

Bei den Infektionen des Haarfollikelostiums unterscheidet man oberflächliche (Follikulitis) und tiefe Formen (Furunkel, Karbunkel).

jjTherapie In milden Fällen genügen topische antimikrobielle Lösungen (Chlorhexidin, Hexachlorophen). Schwere Fälle bedürfen einer systemischen Therapie mit penicillinasefesten Penicillinen oder bei Allergie einem Makrolid oder Clindamycin. Bei Nachweis gramnegativer Erreger richtet sich die Therapie nach deren Empfindlichkeit. Zusätzlich topisches Neomycin oder Bacitracin kann hilfreich sein. Tiefere und größere Zysten müssen inzidiert und drainiert werden. Das Trägertum von Staph. aureus in den Nares kann mit Mupirocinsalbe während 5 Tagen eliminiert werden. Hygieneinstruktion und Verwendung antibakterieller Seifen können helfen, Rezidive zu verhüten. 15.5.7

Impetigo

jjPathogenese Von Staph. aureus sezerniertes Epidermolysin proteolysiert die Desmosomen der Keratinozyten; dies führt zur Akantholyse. Flüssigkeit sammelt sich in den Zwischenräumen der sich trennenden Zellen und bildet eine Blase (bullöse Form). Breitet sich der Prozess aus, entsteht das Syndrom der verbrühten Haut (Syn. „staphylococcal scalded skin syndrome“). jjKlinik Man unterscheidet eine nichtbullöse (70%) von einer bullösen Impetigo (30%) (. Abb. 15.18). Erste wird hauptsächlich durch Staph. aureus verursacht. Klinisch kann nicht unterschieden werden, ob Staph. aureus oder S. pyogenes der Erreger ist. Während Staph. aureus Impetigo in allen Altersstufen bedingt, tut es S. pyogenes häufiger im Vorschul- und vor allem im Kleinkindesalter. Die Stämme von S. pyogenes bei Impetigo und bei Pharyngitis sind unterschiedlich. Die bullöse Form kann bei ausgeprägter Ausdehnung das Syndrom der verbrühten Haut hervorrufen. jjKomplikationen Bei der nichtbullösen Form tritt in 10% der Fälle und bei der bullösen Form seltener eine Zellulitis auf. S. pyogenes kann zu Lymphangitis, eitriger Lymphadenitis, Psoriasis guttata sowie Scharlach und, falls die Stämme nephritogen sind, nach 18–21 Tagen zu Glomerulonephritis führen.

jjÄtiologie Sie werden in den meisten Fällen durch Staph. aureus verursacht. Gramnegative Erreger findet man bei Akne und Vortherapie­ jjTherapie mit Breitspektrumantibiotika, Pseudomonaden nach Exposition in Topisches Mupirocin 3-mal täglich während 7–10 Tagen eignet­ heißen Bädern. sich für einfache Fälle. Alternativ kann systemisch Clarithromycin

359 Bakterielle Infektionen

b

a

..Abb. 15.18  Impetigo contagiosa. a Im Gesicht, b am Kinn

Perianaldermatitis

(2-mal 7,5 mg/kgKG/Tag während 8–10 Tagen) verabreicht werden. Resistenz gegenüber Clarithromycin kommt in 10–20% von Staph. aureus und sporadisch bei S. pyogenes vor. Die Indikation für eine systemische Therapie stellen schwere Fälle, ausgedehnte Ausbreitung, periorale Läsionen, vorherige Zellulitis, Furunkulose, ­Abszessbildung oder eitrige Lymphadenitis. Alternativen zu Clari­ thromycin sind Azithromycin, Clindamycin, Flucloxacillin, Amo­ xicillin-Clavulansäure oder Cephalosporine der 1. Generation.

15.5.9

>> Patienten mit rezidivierender Impetigo sollten auf Trägertum von Staph. aureus in der Nase untersucht werden (Eradikation mit Mupirocinnasensalbe für 5 Tage).

Perianales Erythem (90%) und Pruritus (80%) sind typisch. Etwa 50% der Patienten gibt rektale Schmerzen (Brennen im Anus bei

15.5.8

Paronychie

jjPathogenese In der Regel geht eine Verletzung des Nagelfalzes voraus. Deshalb ist die Läsion besonders häufig bei Kindern, welche an ihren Fingern saugen oder ihren Nägeln oder Cuticula beißen oder bei schlechter Hygiene. jjKlinik, Diagnose Der laterale Nagelfalz zeigt die klassischen Entzündungszeichen Überwärmung, Rötung, Schwellung und Schmerzen. Die charakteristische Klinik erlaubt die Diagnose und die Kultur bei Inzision die Ermittlung des Erregers. jjDifferenzialdiagnose Ein durch Herpes-simplex-Virus verursachter Umlauf kann bei Fehlen von Bläschen sehr ähnlich aussehen. jjTherapie In leichten Fällen genügen warme Umschläge. Tiefere Läsionen ­erfordern Inzision, Drainage und eine Therapie mit AmoxicillinClavulansäure oder Clindamycin.

jjEpidemiologie Die Inzidenz beträgt 1:2.000–1:200 ambulant konsultierter Kinder. Jungen (70%) im Alter von 6 Monaten bis 10 Jahren sind vorwiegend betroffen. Familiäre Häufung wird bei Benützung des gleichen Badewassers beobachtet. jjKlinik, Diagnose

Defäkation) an, ⅓ zeigt Blutauflagerungen im Stuhl. Der oberfläch­ liche Ausschlag ist gerötet, gut umschrieben, nicht induriert und ­konfluiert vom Anus gegen außen. Schmerzhafte Fissuren, schlei­ mige Sekretion und psoriasiforme Plaques mit gelben peripheren Krusten entstehen. Die Rötung blasst ab. Bei Mädchen bestehen oft Vulvovaginitis, gerötete Vulva und vaginaler Ausfluss. Der Nachweis von S. pyogenes im Perianalabstrich (~90%) bestätigt die Diagnose. jjDifferenzialdiagnose Sie umfasst Psoriasis, seborrhoische Dermatitis, Candidose, Oxyureninfestation, sexueller Missbrauch und entzündliche Darmerkrankung. jjTherapie Eine Behandlung mit Penicillin oder bei Allergie mit einem Makrolid oder Clindamycin für 10 Tage genügt in den meisten Fällen. ­ ezidive treten in bis 50% der Fälle auf. Sie erfordern hygienische R Beratung. 15.5.10

Schweißdrüsenabszesse (Hidradenitis suppurativa)

Schweißdrüsenabszesse treten meist in der Pubertät oder beim jungen Erwachsen auf.

15

360

D. Nadal und C. Berger

j jÄtiologie, Pathogenese Wichtigste Erreger sind Staph. aureus, Streptococcus milleri, E. coli und anaerobe Streptokokken. Man nimmt an, dass die chronische eitrige Entzündung der apokrinen Drüsen durch Verstopfung des Ausführungsgangs mit keratinösem Debris eingeleitet wird. Entzündung und Gewebszerstörung der Drüsen folgen. jjKlinik Sie manifestieren sich als einzelne oder multiple schmerzhafte, weiche, fluktuierende, gerötete Knoten, die auf die Areale mit apokrinen Drüsen (axillär, anogenital, kranial und seltener retroaurikulär, mammillär, periumbilikal) begrenzt sind. Oberflächlich bildet sich eine Kruste. jjTherapie Die empirische systemische Therapie beim Kind >8 Jahre beginnt mit Tetrazyklinen und beim jüngeren Kind mit Clindamycin oder Cephalosporinen. Danach sollte sich die antimikrobielle Therapie nach dem Resultat der Kultur und des Antibiogramms richten. Früh im Verlauf kann die intraläsionale Applikation von Triamcinolon acetonid (5–10 mg/ml) hilfreich sein. Oft sind eine Langzeitbehandlung und chirurgische Maßnahmen nötig. jjKomplikationen Sie beinhalten Phlegmone, Ulzeration, Abszessbildung mit Gefahr der Fistelentstehung. 15.5.11

15

Zellulitis

j jÄtiopathogenese Häufigste Erreger sind Staph. aureus und S. pyogenes. Bei immungeschwächten Kindern können auch andere Bakterien nachgewiesen werden. Verletzung der Haut durch Trauma oder Dermatose prädestiniert zur Zellulitis. Jene durch H. influenzae b, S. pneumoniae oder Salmonellen können auch ohne Verletzung entstehen. Die tieferen Lagen der Haut (Dermis und subkutanes Gewebe) werden in den infektiösen Prozess miteinbezogen. jjKlinik Typisch sind ein unscharf begrenztes Areal mit Ödem, Überwärmung, Rötung und Schmerz (. Abb. 15.16). Regionäre Lymphknotenschwellung und Allgemeinsymptome wie Fieber, Schüttelfrost und Unwohlsein sind häufig. jjKomplikationen Die Infektion mit S. pyogenes kann eine Lymphangitis, Arthritis, Osteomyelitis, Thrombophlebitis, Bakteriämie und Fasziitis verursachen. j jDiagnose, Therapie Die Diagnose wird klinisch gestellt. Der Erreger kann in 25% der Fälle durch Aspiration, Hautbiopsie oder Blutkulturen ermittelt werden. Die empirische Therapie richtet sich gegen Staph. aureus und S. pyogenes und erfolgt ambulant mit Flucloxacillin oder einem ­Cephalosporin der 1. Generation. Eine parenterale Therapie drängt sich bei Fieber und Komplikationen auf. Eine Therapie über 10 Tage reicht meist aus. >> Zellulitis bei Immunschwäche, Verbrennung, Trauma oder Insektenstich muss mit Antibiotika breiteren Wirkungspektrums behandelt werden.

..Abb. 15.19  Zellulitis des Unterschenkels: die Rötung ist weniger scharf begrenzt als bei Erysipel

15.5.12

Bakterielle Myositis

jjGrundlagen Skelettmuskeln sind relativ resistent gegenüber Infektionen durch Bakterien. Die Einteilung in transiente akute Myositis, Pyomyositis und chronisch entzündliche Myositis erleichtert Management und Diagnose. jjEpidemiologie, Ätiologie Bakterielle Myositiden sind beim Kind recht selten. Die eitrige ­Myositis ist in den Tropen („tropische Pyomyositis“) häufiger als bei uns. Erreger sind hierzulande meist Staph. aureus gefolgt von Streptokokken und seltener anderen Bakterien (. Tab. 15.29). jjPathogenese Bei der transienten akuten Myositis scheinen autoimmune Phä­ nome eine Rolle zu spielen. Pyomyositiden stellen sehr wahrscheinlich eine Komplikation einer transienten Bakteriämie dar. Nur in 25% der Fälle geht ein als Eintrittspforte dienendes Trauma voraus. Die Häufung in den Tropen scheint mit Malnutrition oder Parasi­ tosen zusammenzuhängen. Bilden beteiligte S. pyogenes pyrogene Exotoxine, kann sich ein toxisches Schocksyndrom entwickeln. Die ­ asgangrän durch Clostridium perfringens entsteht durch die G ­zytolytische Wirkung der zwei durch dieses Bakterium produzierten Toxine. Bei der chronisch-entzündlichen Myositis regen in den Muskel eingedrungene Borrelia burgdorferi die Einwanderung ­mononukleärer Entzündungszellen an. jjKlinik Die wichtigsten Charakteristika sind in . Tab. 15.29 aufgeführt. Bei der Pyomyositis ist der Quadrizepsmuskel am häufigsten befallen. Einzelne Abszesse überwiegen. Muskelschmerzen gehen dem ­ ieber und der Schwellung um mehrere Tage bis Wochen voraus. F Der Muskel fühlt sich hart wie Holz an. Später folgt Fluktuation. Wegen der in der Regel tiefen Lage des Prozesses werden klassische Entzündungszeichen selten beobachtet. jjKomplikationen Ohne Therapie können septische Metastasen entstehen. jjDiagnose Laborbefunde   Leukozytenzahl, Blutsenkungsreaktion und

­C-reaktives Protein sind erhöht. Blutkulturen zeigen nur in 5%

361 Bakterielle Infektionen

..Tab. 15.29  Bakterielle Infektionen der Skelettmuskeln Form

Erreger

Klinik

Transiente akute Myositis

Mycoplasma pneumoniae

Muskelschmerzen, meist in Begleitung eines Atemwegsinfekts

Abszedierende Pyomyositis

Staph. aureus (95%), Gruppe-A-Streptokokken, gramnegative Bakterien

Endemisch in den Tropen, sonst sporadisch; große Muskeln von Stamm und Extremitäten

Nekrotisierende Myositis

Gruppe-A-Streptokokken, seltener anaerobe Streptokokken oder polymikrobielle Infektion

Fieber, Schmerzen, Schwellung, Spasmus

Myonekrose

Clostridium perfringens, seltener Clostridium septicum, Borrelia burgdorferi

Fulminante Infektion im Rahmen eines toxischen Schocksyndroms; Fieber, Schmerzen, Verwirrung; manchmal Varizellen vorausgehend Komplikation bei kontaminierter Wunde, rasche Degeneration des ­Muskels, Krepitationen aufgrund von Gasbildung

Chronisch-entzündliche Myositis

Wachstum. Trotz der Muskelnekrose ist die Kreatinkinase außer beim toxischen Schock durch Streptokokken normal. Bildgebung  Ultraschall und Computertomographie zeigen Abs-

zesse auf, schließen andere Ursachen aus und dienen der gesteuerten Nadelaspiration für Grampräparat und Kulturen. jjDifferenzialdiagnose Im Vordergrund stehen Hämatome, Thrombophlebitis und Weichteilsarkome. jjTherapie

Transiente akute Myositis: Behandlung der Mykoplasmeninfektion

mit Makroliden oder Tetrazyklinen (Kinder >8 Jahre). Pyomyositis: Drainage des Abszesses und systemische Therapie mit einem penicillinasefesten Penicillin. Antibiotikatherapie reicht für nicht fluktuierende Läsionen meist aus. Beim toxischem Schocksyndrom bringen zusätzliches Clindamycin und die Gabe von i.v.-Immunglobulinen sehr wahrscheinlich Vorteile. Promptes und radikales Débridement der beteiligten Muskulatur bilden bei der Gasgangrän neben systemischem Penicillin G und Clindamycin die Eckpfeiler der Therapie. Hyperbarer Sauerstoff kann das Wachstum von C. perfringens und damit die Bildung von Toxin verzögern. Die Therapie der chronisch-entzündlichen Myositis durch B. burgdorferi entspricht jener der LymeBorreliose im Stadium der Generalisierung. 15.6

Knochen und Gelenke

D. Nadal 15.6.1

Osteomyelitis

jjGrundlagen Eine Osteomyelitis ist eine meist unifokale Infektion des Knochens. Sie verläuft akut (Anamnese 2 Wochen), subakut (3–4 Wochen) oder chronisch (1–6 Monate). jjEpidemiologie Eins von 5.000 Kindern erfährt bis zum Alter von 13 Jahren eine akute Osteomyelitis. Die Hälfte der Fälle tritt in den ersten 5 Lebens-

Selten, jedoch meist nur bei Generalisierung; in der Nähe betroffener Haut, Gelenke oder Nerven lokalisiert

jahren auf. Jungen sind 2-mal häufiger betroffen als Mädchen. Die viel seltenere chronische multifokale Osteomyelitis wird häufiger bei Mädchen beobachtet. jjÄtiologie Staph. aureus bedingt >95% der Osteomyelitiden. Seltener werden Gruppe-A-Streptokokken, S. pneumoniae, Kingella kingae oder

Bartonella henselae nachgewiesen. Koagulasenegative Staphylokokken findet man fast nur als Komplikation medizinischer Eingriffe, Pseudomonaden nach penetrierender Verletzung der Fußknochen und Hib bei nicht gegen diesen Erreger geimpften Kindern unter 3 Jahren. Befall des Knochens durch Mycobacterium tuberculosis erfolgt in > Altersbedingte Unterschiede in Anatomie und Blutversorgung bestimmen die Klinik.

Bei Kindern > Die Punktion betroffener Knochen und Gelenke muss für die Isolierung und Identifizierung des Erregers, die Erstellung eines Antibiogramms und die Wahl der adäquaten Therapie unbedingt angestrebt werden!

Bildgebende Verfahren  Radiologische Veränderungen des Kno-

chens treten meist 10–14 Tage nach Beginn der Infektion auf. Sie reflektieren Entzündung, Destruktion und Bildung neuen Knochens. Dennoch helfen Leeraufnahmen auch in der Frühphase. Schon in den ersten 3 Tagen nach Beginn der Symptome zeigen sich Veränderungen der tiefen, am Knochen anliegenden Weichteile wie die Verwischung normaler Fettstrukturen. Osteopenie oder Osteolyse ergeben sich bei Demineralisierung von >50%. Abhebung des Periosts stellt ein untrügliches Zeichen dar. Die Magnetresonanztomographie verfügt über eine Sensitivität von 92–100%. Infiziertes Knochenmark ergibt geringere Signalintensität in T1- und höhere in T2-gewichteten Aufnahmen. Diese Zeichen sind nicht spezifisch. Sie entstehen auch bei Tumor, Infarkt und Fraktur. Osteomyelitis und Zellulitis lassen sich jedoch eindeutig voneinander unterschieden. !! Cave Die 99Technetium-Knochenszintigraphie ist nicht absolut spezifisch für Osteomyelitis. Ähnliche Befunde manifestieren sich auch bei pyogener Arthritis, Infarzierung, Trauma, Fraktur und Tumor.

jjDifferenzialdiagnose Bei Fieber und Schmerzen an Extremitäten umfasst sie Infektionen (Sepsis, pyogene Arthritis und Zellulitis), entzündliche Geschehen (rheumatisches Fieber und Thrombophlebitis), Neoplasien (EwingSarkom, Neuroblastom, Leukämie), Knocheninfarkte bei Sichel­ zellanämie und toxische Synovitis. Bei subakuter/chronischer ­Osteomyelitis stehen differenzialdiagnostisch Neoplasien im Vordergrund. jjTherapie Antibiotikatherapie  Optimale Behandlungsschemata liegen nicht vor. Die Wahl des geeigneten Antibiotikums ist kritisch und muss

363 Bakterielle Infektionen

..Tab. 15.30  Antibiotische Therapie der Osteomyelitis

..Tab. 15.31  Häufigste Ätiologie der bakteriellen Arthritis und Prädilektionen

Patienten

Ätiologie

Standard Erreger

Prädilektionsalter

Grund für hohes Risiko

Kleinkinder (2 Monate

Staphylokokken (>95%), Streptokokken

Flucloxacillin oder ­Clindamycin

Neisseria ­meningitidis

15 Jahre

Kingella kingae

2 Jahre

Pseudomonaden

Ceftazidim oder ­Ciprofloxacin

Mycoplasma ­pneumoniae

>10 Jahre

Ureaplasma

>5 Jahre

Ältere Kinder

Alter des Kindes, Grunderkrankung, wahrscheinlichstes oder nachgewiesenes Pathogen und dessen Resistenz berücksichtigen. Die meisten Betalaktamantibiotika und Clindamycin erzielen therapeutische Konzentrationen im Knochen. Zu empfehlende initiale parenterale Behandlungen sind in . Tab. 15.30 zusammengefasst. Die initiale Antibiotikatherapie sollte immer parenteral erfolgen. Die Gründe sind Verhütung von bakterieller Aussaat und Unabhängigkeit von der enteralen Resorption zur Sicherung genügend hoher Medikamentenspiegel im Gewebe. Bei Kindern unter 5 Jahren an Kingella kingae denken. Sie sprechen auf Amoxicillin-Clavulan­säure an. Die minimale Dauer der Antibiotikatherapie beträgt bei Staphylokokken 3 und bei anderen Bakterien 2 Wochen. Bessern sich Klinik und Laborwerte (C-reaktives Protein) nicht rasch, verlängert sich die Therapiedauer. Eine chirurgische Intervention ist zu erwägen. Subakute und chronische Osteomyelitis erfordern eine Therapie von mindestens 6 Wochen. Symptomatische Therapie  Über die Notwendigkeit einer Immo-

bilisierung oder Gipsschienung der Extremität muss von Fall zu Fall entschieden werden. Die Indikation für einen chirurgischen Eingriff ergibt sich bei Versagen der konservativen Therapie, bei Abszess, Sequester oder Pseudomonasinfektion. >> Eine adäquate und frühzeitige Therapie sichert eine gute ­Prognose.

15.6.2

Pyogene Arthritis

jjGrundlagen Die Entzündung eines Gelenks gleicht einem Alarmzeichen für eine lokale oder systemische Erkrankung. Die akute pyogene Arthritis ist ein orthopädischer Notfall und eine gründliche Abklärung ist angesagt, da der Knorpel auf dem Spiel steht. jjEpidemiologie Der Häufigkeitsgipfel der pyogenen Arthritis liegt in den ersten­ 3 Lebensjahren. Sie tritt doppelt so häufig als die Osteomyelitis auf. Immundefekt, Hämoglobinopathie, Diabetes oder rheumatoide ­Arthritis erhöhen das Risiko. jjÄtiologie, Pathogenese Ähnlich wie bei der Osteomyelitis bestimmen Alter und Grundleiden des Patienten die Prädilektion für gewisse Bakterien (. Tab. 15.31).

Komplementdefekt

Zeckenexposition

Salmonella spp.

Sichelzellanämie

Pseudomonas spp.

Neutropenie

Mycobacterium tuberculosis

90% der Fälle. Blut-

15

364

D. Nadal und C. Berger

..Tab. 15.32  Empirische Therapie der pyogenen Arthritis Alter

Wahrscheinlicher Erreger

Antibiotikum

≤5 Jahren

Staph. aureus H. influenzae b Kingella kingae Gruppe-A-Streptokokken S. pneumoniae

Amoxicillin-Clavulansäure oder Cefuroxim oder Ceftriaxon

>5 Jahren

Staph. aureus Gruppe-A-Streptokokken

Flucloxacillin

Adoleszente

Neisseria gonorrhoeae möglich

Ceftriaxon

kulturen weisen in 40% Kulturen von, Gelenkpunktate in 40–60% Wachstum auf. Bildgebende Verfahren  Das Röntgenbild zeigt eine Verbreiterung des Gelenkspalts, Schwellung der Weichteile, Verwischung der Fettstrukturen und evtl. Osteomyelitis. Die Indikation zur Sonographie zum Nachweis eines Ergusses ergibt sich bei tief liegenden Gelenken wie Hüfte und Schulter. Situationen ohne eindeutig ausschließbare Osteomyelitis erfordern eine Szintigraphie. Gelenkpunktion  Nur die Punktion des Gelenks kann eine pyo­

gene Arthritis ausschließen. Die Punktion sollte wegen möglicher ­Induktion von Anreicherung nach einer geplanten Szintigraphie erfolgen. Bei der pyogenen Arthritis beträgt die Zahl der Leukozyten 25.000–250.000/µl Punktat. Davon sind 90% polynukleär. Die Blutserologie erhärtet die Vermutung einer Infektion mit Borrelia burgdorferi. Bewiesen wird sie durch Erregernachweis in der Synoviabiopsie mittels molekularbiologischer Methoden. Bei Verdacht auf Tuberkulose sollten entsprechende Kulturen angeordnet werden.

15

jjDifferenzialdiagnose Sie hängt auch vom Gelenk und Alter des Kindes ab: Trauma (beim Säugling und Kleinkind schwieriger abzugrenzen), Gelenkschnupfen (insbesondere bei der Hüfte), aseptische Knochennekrose, Epiphysiolyse, reaktive, rheumatoide oder juvenile chronische Arthritis, Purpura Schoenlein-Henoch, Hämarthrose bei Hämophilie, Sichelzellkrise und Leukämie. jjTherapie, Prognose Die klassische Behandlung beinhaltet die Entleerung des Eiters und Spülung des Gelenks sowie die parenterale Verabreichung adäquater Antibiotika (. Tab. 15.32). Die Ruhigstellung des Gelenks ist erforderlich. Bei adäquater und rechtzeitiger Therapie sind keine Folgeschäden zu erwarten. 15.6.3

Spondylitis, Diszitis

j jGrundlagen Unter Spondylitis versteht man die Entzündung eines Wirbels, unter Diszitis jene von Zwischenwirbelscheiben und/oder von Wirbelendplatten und unter Spondylodiszitis die Kombination beider Entitäten. Sie können rein entzündlich oder bakteriell bedingt sein und mit bleibender Deformität oder Invalidität enden.

..Abb. 15.23  Blutzufuhr der Endplatten

jjEpidemiologie Spondylitis macht 1–3% aller Fälle von akuter Osteomyelitis aus. Die Inzidenz der Diszitis ist gering und wird auf 1–2 Fälle pro 30.000 Klinikkonsultationen geschätzt. Es handelt sich vorwiegend um ­Kinder 75

1,0–5,0

> Bei intestinalen Parasitosen sollte der Therapieerfolg auch bei Symptomfreiheit durch neuerliche parasitologische Stuhluntersuchungen 6 Wochen später kontrolliert werden.

16.1.4 Cyclosporiasis, Kryptosporidiose,

­Zystoisosporidiose, Mikrosporidiose

Die fäkal-oral übertragenen Darminfektionen mit den zu den Kokzidien zählenden Cyclospora cayetanensis, Cryptosporidium hominis/C. parvum und Cystoisospora (ehemals: Isospora) belli verursachen bei Immungesunden üblicherweise eine selbstlimitierende Diarrhö. Bei Immunsupprimierten können sie für eine chronische Diarrhö mit Gewichtsverlust ursächlich sein.

375 Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin

..Abb. 16.1  Entwicklungszyklus intestinaler Nematoden

Die einfachen, obligat intrazellulär lebenden und Sporen bildenden Mikrosporidien, wie Septata intestinalis und Enterocytozoon bieneusi verursachen bei Patienten mit Immunsuppression u. a. persistierende Enteritiden. Basierend auf genetischen Analysen werden die Mikrosporidien taxonomisch zugeordnet.

16.2

Intestinale Nematodeninfektionen

R. Bialek

jjEpidemiologie Intestinale Infektionen mit Fadenwürmern (Nematoden) werden jjDiagnose fäkal-oral oder fäkal-transkutan übertragen. Bei der SpulwurminWährend Cystoisospora belli in Duodenalsaft oder angereicherten fektion (Askariasis) kommt es nach Ingestion infektiöser Eier im Stuhlproben mit Jod angefärbt und dargestellt werden kann, sind oberen Dünndarm zur Freisetzung von Larven (. Abb. 16.1), die die zum Nachweis von Cyclosporen und Kryptosporidien eine modifi- Darmwand durchwandern und mit dem Blutstrom in die Lunge gezierte Ziehl-Neelsen-Färbung des Stuhls oder andere Spezialfärbun- langen. Beim Peitschenwurm und Madenwurm findet der gesamte gen erforderlich. Alternativ kann für Kryptosporidien ein Antigen- Entwicklungszyklus im Darm statt (. Abb. 16.1). nachweis im Stuhl versucht werden. Der Nachweis von MikrosporiEin wesentlicher Aspekt für die erfolgreiche Übertragung intesdien im Stuhl gelingt mithilfe von Trichrom- oder Fluoreszenzfär- tinaler Helmintheninfektionen ist die in tropischen Gebieten weit bungen oder mittels Elektronenmikroskopie von Darmbiopsien. verbreitete Geophagie. Dieses bereits im Kindesalter beobachtete Sehr sensitiv und daher als Alternative für alle genannten Erreger Essen von bestimmten Erdsorten ist möglicherweise ein archaischer anzusehen ist der Nachweis ihrer spezifischen DNA mittels PCR im Reflex, der durch Mangelzustände ausgelöst wird. Insbesondere Stuhl. ­Spurenelemente, wie Zink, aber auch hohe Eisenkonzentrationen werden in den bevorzugten Erdmaterialien gefunden, bei unzu­ jjTherapie reichender Hygiene jedoch auch Wurmeier. Die Zystoisosporidiose und die Cyclosporiasis können bei ausbleiLarven sind das infektiöse Stadium bei Hakenwürmern und bender Spontanheilung mit Cotrimoxazol (Trimethoprim/Sulfame- beim Zwergfadenwurm (. Abb. 16.1). Sie leben auf dem Erdboden, thoxazol 10/50 mg/kgKG/Tag in 2 Dosen) therapiert werden. Bei penetrieren die intakte Haut und gelangen über Blut- und Lymphe persistierender Zystoisosporidiose sollte eine Therapie mit Pyrime- in die Lunge, wo sie, wie bei der Askariasis, die Alveolenwand durchthamin (plus Folinsäure) für mindestens 6 Wochen versucht­ brechen. Dann wandern sie retrograd den Bronchialbaum hinauf, werden. Zur Therapie der Mikrosporidiose wurden Albendazol, um in den Darm zu gelangen, wo sie geschlechtsreif werden und sich ­Nitazoxanid und Fumagillin mit unterschiedlicher Effektivität ein- paaren. gesetzt. Eine kausale Therapie der Kryptosporidiose ist bisher nicht bekannt.

16

376

R. Bialek und G. Dostal

j jKlinik Die Mehrzahl der intestinalen Wurminfektionen verursacht keine Symptome. Bei den transkutan übertragenen Hakenwurminfektionen und der Strongyloidiasis kann es am Ort der Penetration zu ­einer selbstlimitierenden pruriginösen und erythematösen Dermatitis kommen und selten zu Sekundärinfektionen. Einige Tage nach der Infektion kann die Larvenwanderung in der Lunge zu Hustenreiz mit Auswurf, asthmoiden Beschwerden, Dyspnoe und Fieber führen. Gelegentlich ist im Röntgenbild ein flüchtiges, wanderndes Infiltrat (Löffler-Syndrom) erkennbar. Die adulten Würmer können abdominale Beschwerden, evtl. Obstipation, selten Diarrhö ver­ ursachen. jjDiagnose Die Diagnose wird über den mikroskopischen Nachweis von Eiern oder Larven in angereicherten Stuhlproben gestellt. Bei den Hakenwurm- und Zwergfadenwurminfektionen sind Kulturen zum Larvennachweis erforderlich. Aufgrund der nur wenigen pro Tag ausgeschiedenen Larven ist der Nachweis der spezifischen DNA mittels PCR die sensitivste diagnostische Methode einer Strongyloidiasis. jjTherapie Die Therapieoptionen für die intestinalen Nematodeninfektionen sind: 44 Pyrantelembonat 10 mg/kgKG als Einmaldosis ohne Alters­ beschränkung, 44 bei schwerem Befall Pyrantelembonat 10 mg/kgKG an 3 auf­ einander folgenden Tagen oder 44 bei Kindern über 2 Jahren Mebendazol 2-mal 100 mg/Tag für 3 Tage. >> Parasitäre Darminfektionen hinterlassen keine protektive Immunität, sodass Reinfektionen nur durch verbesserte Hygiene verhindert werden können.

zu monate- bis jahrelang infektiösen, embryonierten Eiern heran, die über kontaminierte Nahrungsmittel aufgenommen werden. Im oberen Dünndarm wird eine Larve freigesetzt, die die Darmmukosa durchdringt und mit dem Blutstrom in die Lunge gelangt, wo sie die Alveolenwand durchbricht, um retrograd über das Bronchialsystem in den Darm zu wandern. Auch adulte Spulwürmer können durch retrograde Wanderung aus dem Darm in den Rachenraum gelangen oder, insbesondere nach Therapie, peranal abgehen. Molekulare Analysen zeigten, dass die ursprünglich als eigene, bei Schweinen vorkommende Art A. suum mit A. lumbricoides identisch ist. Beide ursprünglichen Arten wurden sowohl bei Schweinen als auch beim Menschen nachgewiesen, sodass auch infizierte Hausschweine als Infektionsquelle für die Askariasis in Betracht kommen. Neben der o. a. klinischen Symptomatik können folgende Komplikationen auftreten: 44 bei massivem Befall Ileus, 44 Volvulus, 44 Invagination, 44 Appendizitis, 44 biliäre Askariasis: retrograd eingewanderte Larven und adulte Würmer verursachen eine Cholangitis oder Leberabszesse und die abgelegten Eier eine granulomatöse Hepatitis. jjDiagnose Die Diagnose wird über den lichtmikroskopischen Nachweis von Wurmeiern in angereicherten Stuhlproben gestellt. Bei Expektora­ tion, Regurgitation oder Defäkation von Würmern kann die Diagnose anhand der Morphologie gestellt werden. Gelegentlich gelingt der sonographische Nachweis eines Spulwurms im Dünndarm als Zufallsbefund (. Abb. 16.2). Der Nachweis sog. spezifischer Antikörper hat für die individuelle Diagnose keine Bedeutung, zumal

16.2.1 Ankylostomiasis (Hakenwurminfektion)

16

j jEpidemiologie, Pathophysiologie Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind weltweit etwa 450 Mio. Menschen mit Hakenwürmern infiziert. Ancylostoma duodenale ist in Europa, Nordafrika, Indien sowie Südostasien verbreitet, Necator americanus in Amerika, Zentral- und Westafrika, Ozeanien und Südostasien. Die erwachsenen Hakenwürmer heften sich an der Dünndarmmukosa fest und nehmen Blut auf (0,1–0,3 ml Blut pro Tag pro Wurm). Ein adultes Weibchen kann bis zu 30.000 Eier pro Tag ablegen. Aus den mit dem Stuhl ausgeschiedenen Eiern entwickeln sich innerhalb von 5–10 Tagen über mehrere Stadien bewegliche 600 µm lange Larven, die monatelang infektiös bleiben. Sie komplettieren den Infektionszyklus durch die Penetra­ tion intakter menschlicher Haut, sodass Barfußgehen auf kotkontaminiertem Boden die Infektion begünstigt. Bei ausgeprägtem Befall können enterale Blut- und Eiweißverluste zu Ödemen, Apathie und Herzinsuffizienz führen.

a

16.2.2 Askariasis j jEpidemiologie, Pathophysiologie Geschätzte 820 Millionen Menschen weltweit tragen den Spulwurm Ascaris lumbricoides im Darm. Die mit dem Stuhl eines Infizierten ausgeschiedenen Eier reifen nach etwa 2 Wochen in der Außenwelt

b ..Abb. 16.2 Spulwurm. a Zufälliger sonographischer Nachweis eines Spulwurms im Dünndarmlumen. b Derselbe Wurm nach Ausscheidung ­unter Therapie

377 Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin

16

kreuzreagierende Antikörper gegen andere Nematodenarten häufig sind. Studien zufolge dauert es bis zu 10 Tage bis nach Einnahme von Anthelminthika alle Würmer ausgeschieden worden sind – erst ­danach ist eine Therapiekontrolle sinnvoll. jjDifferenzialdiagnose Die pulmonale Symptomatik zu Beginn der Infektion und die ab­ dominellen Beschwerden sind uncharakteristisch. Bei der biliären Askariasis müssen Bakterien-, Protozoeninfektionen und insbesondere eine invasive Amöbiasis mit Auftreten eines Leberabszesses differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden. ..Abb. 16.3  Adulte Madenwürmer (Enterobius vermicularis)

16.2.3 Enterobiasis (Oxyuriasis) jjEpidemiologie Die Madenwurminfektion (Enterobiasis) ist die häufigste Helmintheninfektion in Westeuropa und in den USA. Sie tritt bei Kindern im Kindergarten- und Schulalter auf. Gruppen- und insbesondere Familieninfektionen sind häufig. Der gesamte Entwicklungszyklus von Enterobius vermicularis findet im Darm statt. Die Weibchen wandern vom Hauptaufenthaltsort Zökum aus dem Anus, wo die bis zu 15.000 unreifen Eier auf der perianalen Haut abgelegt oder durch Zerstörung des Wurms freigesetzt werden. Durch atmosphärischen Sauerstoff angeregt, reifen die Larven in den Eiern bei Körpertemperatur innerhalb von 6 h heran. Bei geringen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit bleiben sie tagelang infektiös, verlieren ihre Infektiösität hingegen im warmen und trockenen Klima innerhalb von 2 Tagen. Die Eier werden im wesentlichen durch kontaminierte Finger übertragen, Zur Autoinfektion kommt es fäkal-oral über die eigenen Hände oder durch eine retrograde Wanderung von Larven, die als Eier perianal abgelegt wurden. Bevorzugt sind Kinder im Alter von 6–9 Jahren befallen. Aufgrund der hohen Kontagiösität ist aber eine Infektion weiterer im Haushalt lebender Personen, inkl. Eltern nicht selten. In Studien korrelierte die Prävalenz der Enterobiasis positiv mit der Anzahl der Geschwister. Symptomlose Haushaltsangehörige können daher Infektionsquelle von hartnäckigen, sog. therapieresistenten Fällen sein. In mehreren Studien waren Risikofaktoren für einen Madenwurmbefall: Kauen von Fingernägeln, Daumenlutschen und das Kauen auf Stiften. Die Prävalenz korrelierte ebenfalls positiv mit fehlendem Händewaschen vor dem Essen und nach dem Toilettengang. Es gab hingegen keine Korrelation mit der Länge der Fingernägel, mit einem Geschlecht oder mit dem Besitz von Haustieren. Haustiere werden von dem ausschließlich humanpathogenen Enterobius vermicularis auch nicht befallen. Sie kommen daher als Infektionsquelle nicht in Betracht! jjKlinik Die Infektion ist entweder asymptomatisch oder es steht ein analer Pruritus im Vordergrund, der insbesondere nachts auftritt. In Stu­ dien war dies jedoch kein spezifisches Symptom, da es in vergleichbarer Häufigkeit bei Gleichaltrigen ohne Wurmnachweis beobachtet wurde. Mit dem Pruritus können Unruhe, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen sowie Gewichtsverlust und Enuresis verbunden sein. In einigen Arbeiten werden aber auch chronische Bauchschmerzen, chronische Diarrhöen und sogar rezidivierende Ab­ gänge von Blut bei der Oxyuriasis beschrieben. Histologisch zeigt sich häufig eine unspezifische Kolitis. Sekundär können bakterielle ­Infektionen und ekzematöse Veränderungen der perianalen Haut auftreten.

Oxyuren können durch retrograde Wanderung in die Vagina zu einer pruriginösen Vulvovaginitis führen. Erst nach der Me­ narche können sie in Einzelfällen bis in die Peritonealhöhle­ ge­langen. Letzteres ist auch über Darmperforationen, z. B. im Rahmen einer A ­ ppendizitis möglich. Abgestorbene Würmer und Eier rufen eine granulomatöse Entzündung im weiblichen Genitaltrakt, retroperitoneal und in seltenen Fällen bei Kindern auch perianal hervor. jjDiagnose Da die Eier perianal abgelegt werden, sind die üblichen parasitologischen Stuhluntersuchungen zum Nachweis ungeeignet. Vor dem morgendlichen Aufstehen und Waschen sollte ein durchsichtiger Klebestreifen mit der klebenden Seite auf die Haut um den Anus gedrückt, abgezogen und erneut mit der Klebeseite nach unten­ auf einen Objektträger geklebt werden, um ihn anschließend zu ­mikroskopieren. Die wiederholte Untersuchung erhöht die Sensitivität. Häufiger berichten die Eltern über die Beobachtung von ­kleinen weißlichen sich bewegenden Würmern im Stuhl der Kinder (. Abb. 16.3). jjTherapie Zur Therapie werden 10 mg Pyrantelembonat/kgKG oder 100 mg Mebendazol oder 5 mg Pyrviniumembonat/kgKG als Einzeldosis gegeben. Bei persistierender Infektion sollte eine o. a. Dosis an den Tagen 1, 14 und 28 gegeben werden und eine Reduktion des AnusFinger-Mund-Kontakts durch z. B. Onychophagie sowie eine Intensivierung der Händehygiene angemahnt werden. Nach asymptomatischen Infektionen bei anderen Familienmitgliedern sollte gezielt gesucht und diese dann therapiert werden, um mögliche Infektionsquellen zu stoppen. Sollte erneut eine Madenwurminfektion beim Indexpatienten auftreten wird eines der o. a. Therapeutika im Abstand von 2 Wochen für insgesamt 16 Wochen gegeben, um den Autoinfektionszyklus anhaltend zu unterbrechen. Die Anthelminthika wirken nicht auf die Eier. >> Für eine erfolgreiche Bekämpfung der rezidivierenden ­Oxyuriasis ist nicht selten eine antiparasitäre Therapie 3-mal im Abstand von je 2 Wochen zeitgleich bei allen im Haushalt lebenden Personen erforderlich.

Die Rezidivprophylaxe umfasst mehrere Maßnahmen: 44 Die Bettwäsche und die Kleidung, insbesondere Nachtwäsche, sollten im Anschluss an die Therapie gewechselt und mit ­gewöhnlichen Waschmitteln gewaschen werden. 44 Unterbinden des Anus-Finger-Mund-Kontakts bei Onychophagie, Daumenlutschen oder Kauen an Stiften. 44 Intensivierung der Händehygiene nach dem Toilettengang und vor dem Essen.

378

R. Bialek und G. Dostal

..Tab. 16.1  Charakteristika intestinaler Nematodeninfektionen Erkrankung

Ankylostomiasis

Askariasis

Enterobiasis (Oxyuriasis)

Strongyloidiasis

Trichuriasis

Erreger

Necator americanus und Ancylostoma duodenale (A. d., Hakenwurm)

Ascaris lumbricoides (Spulwurm)

Enterobius vermicularis (Madenwurm)

Strongyloides stercoralis, S. fuelleborni (Zwergfadenwurm)

Trichuris trichiura (Peitschenwurm)

Wurmlänge ­(Durchmesser)

8–13 mm (0,5 mm)

15–35 cm (0,2–0,6 cm)

2–13 mm (0,5 mm)

2,5 mm (40–45 µm)

30–50 mm (0,5 mm)

Übertragungsweg

Fäkal-transkutan (bei A. d. selten auch fäkal-oral)

Fäkal-oral

Fäkal-oral

Fäkal-transkutan

Fäkal-oral

Präpatenz ­(Reifungszeit im Menschen)

50 Tage

60 Tage

15–26 Tage

10–28 Tage

60–90 Tage

Reifungsorte

Lunge und Darm

Lunge und Darm

Darm

Lunge und Darm

Darm

Lebensspanne adulter Würmer

Bis 5 Jahre

Bis 2 Jahre

Bis 3 Monate

Jahre (Jahrzehnte?)

Bis 3 Jahre

Ausgeschiedenes Parasitenstadium

Eier, aus denen nach 7–8 Tagen infektiöse Larven schlüpfen, selten bei A. d. Reifung der Larven im Darm

Eier, die nach 1–2 Wochen infektiös werden

Eier, die innerhalb von Stunden infektiös werden

Larven, die innerhalb von Stunden infektiös werden oder bereits infektiös sind

Eier, die nach 3–5 Wochen infek­ tiös werden

Autoinfektion

Bei A. d. möglich

Nein

Häufig

Vermutlich regelhaft

Nein

In . Tab. 16.1 sind die Charakteristika verschiedener Nematoden­ infektionen aufgeführt. 16.2.4 Strongyloidiasis

16

j jGrundlagen Die Infektion mit dem Zwergfadenwurm Strongyloides stercoralis (oder S. fuelleborni) ist vorwiegend in den Tropen und Subtropen verbreitet. Auf dem Boden lebende infektiöse Larven penetrieren die intakte Haut, gelangen in die Lunge, reifen heran und wandern retrograd über die Atemwege in den Darm. Die Weibchen bohren sich in die Darmwand, um Eier abzulegen, aus denen rhabditiforme Larven schlüpfen. Diese wandern in das Darmlumen und werden mit dem Kot ausgeschieden. Diese Larven können zu infektiösen filariformen Larven oder adulten frei lebenden Würmern heranreifen. Diese paaren sich, setzen Eier ab, aus denen Larven schlüpfen. Da die Reifung zu infektiösen filariformen Larven auch bereits im menschlichen Darm stattfinden kann, sind Autoinfektionen vermutlich regelhaft und fäkal-orale Übertragungen von Mensch zu Mensch möglich. Ebenso können die filariformen Larven sowohl Haut als auch Schleimhaut penetrieren, sodass es zu einer disseminierten Erkrankung mit ektopen Larven kommen kann, was ins­ besondere bei Immunsupprimierten beobachtet wird. Dieses als Hyperinfektionssyndrom bezeichnete allergische Krankheitsbild kann tödlich verlaufen. Die typische Symptomatik der intestinalen Strongyloidiasis besteht aus Urtikaria, Diarrhö und Bauchschmerzen. Die initiale Hautpenetration kann zu einer lokalen Dermatitis führen, ebenso wie die perianale Hautinvasion ausgeschiedener Larven (Larva currens). Die Lungendurchwanderung kann das klinische Bild einer eosinophilen Pneumonie verursachen und gelegentlich führen aberrante Larven in anderen Organen zu einer klinischen Sympto-

matik. Das invasive Stadium kann eine generalisierte allergische Reaktion mit ausgeprägter Eosinophilie verursachen. jjDiagnose Die Diagnose der intestinalen Strongyloidiasis wird über den Nachweis von Larven im Duodenalsaft, in angereicherten Stuhlproben oder in der Stuhlkultur geführt. Da nur wenige Larven pro Tag ausgeschieden werden, ist der Nachweis spezifischer DNA mittels PCR sensitiver als die Mikroskopie. Typisch ist eine ausgeprägte Eosinophilie. Beim Hyperinfektionssyndrom gelingt der Larvennachweis häufig auch aus dem Sputum oder bei ZNS-Befall aus dem Liquor. jjTherapie Die Therapie wird mit Albendazol in einer Dosierung von 2-mal 7,5 mg/kgKG/Tag (max. 2×400 mg/Tag) für 7 Tage durchgeführt. Die Anwendung bei Kindern unter 6 Jahren ist wegen fehlender Erfahrung beschränkt. Alternativ werden 150–200 µg Ivermectin/ kgKG als Einzeldosis für 1–2 Tage gegeben. 16.2.5 Trichuriasis jjEpidemiologie, Pathophysiologie Der Peitschenwurm Trichuris trichiura ist mit geschätzten 460 Mio. Infizierten weltweit ein häufiger Darmparasit, der bevorzugt das Mukosaepithel im Zökumbereich invadiert. Bei ausgeprägtem Befall sind Jejunum und Kolon ebenfalls besiedelt. Ein Weibchen produziert pro Tag bis zu 20.000 Eier, die erst 3–5 Wochen nach Ausscheidung infektiös werden. jjKlinik Die Symptomatik ist abhängig von der Anzahl der Parasiten. Bei starkem Befall werden Bauchschmerzen, blutig schleimige Diarrhö

379 Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin

..Abb. 16.4  Entwicklungszyklen humanpathogener Zestoden (Bandwürmer)

und häufig ein Analprolaps beobachtet. Bevorzugt tritt dieses „Trichuris-Dysenterie-Syndrom“ bei 2- bis 10-Jährigen auf. Die Kolitis und Jejunitis können zur Eisenmangelanämie, Hypoproteinämie und Wachstumsretardierung führen.

jjTherapie Eine Therapie mit 2×100 mg Mebendazol für 3 Tage erzielt in Studien nur mäßige Heilungsraten von unter 50%. Effektiver ist das bisher nur in Studien verwendete, aus der Veterinärmedizin stammende Oxantel-Pamoat. 16.3

Taeniasis und Hymenolepiasis

R. Bialek jjEpidemiologie, Pathophysiologie Der Mensch ist Endwirt und Reservoir der weltweit verbreiteten Rinder- (Taenia saginata) und Schweinebandwürmer (T. solium). Nach Ingestion von finnenhaltigem Schweine- oder Rindfleisch stülpt sich die Kopfanlage aus der Zyste und saugt sich an der jejunalen Mukosa fest (. Abb. 16.4). In 8–12 Wochen reift der Bandwurm heran, der aus dem Skolex (Kopf), wenigen Halssegmenten und hunderten identischen, einige Zentimeter langen Gliedern, den Proglot-

tiden, besteht. Diese beinhalten Uteri mit bis zu 60.000 infektiösen Eiern. Die aus 800–1.000 Proglottiden bestehenden Schweinebandwürmer werden bis zu 3 m, der Rinderbandwurm mit 1.000– 2.000 Gliedern bis zu 12 m lang. Ihre Lebensspanne kann bis zu 25 Jahre betragen. Mit Fäzes ausgeschieden werden Eier und bewegliche Proglottiden, aus denen dann infektiöse Eier freigesetzt werden. Nach Ingestion durch Rinder oder Schweine wird aus den Eiern ein Embryo freigesetzt, der die Darmwand penetriert und mit dem Blutstrom bevorzugt in die Muskulatur transportiert wird. Dort bildet er eine Zyste mit Kopfanlagen aus, die als Finne bezeichnet wird. Der Zwergbandwurm Hymenolepis nana wird fäkal-oral als Schmierinfektion von Mensch zu Mensch oder über kontaminierte Nahrungsmittel übertragen, selten durch das Verschlucken infizierter Zwischenträger (Flöhe, Käfer). Im Gegensatz zur Taeniasis läuft der gesamte Entwicklungszyklus in einem Wirt ab. Die aus den Eiern schlüpfende Hakenlarve (Onkosphäre) reift in der Darmmukosa zu einem Zystizerkoid, das nach 5–6 Tagen wieder ins Darmlumen wandert. Der Skolex stülpt sich dann hervor. In 2–3 Wochen wächst der adulte 2–6 cm lange, 0,8 mm durchmessende und aus bis zu 200 Proglottiden bestehende Wurm heran. Jede reife Proglottide beinhaltet 80–200 infektiöse Eier. Wie bei der Taenia-solium-Infektion kann es durch die Ausscheidung infektiöser Eier zur Autoinfektion kommen. Betroffen sind insbesondere Kinder in tropischen und subtropischen Ländern.

16

380

R. Bialek und G. Dostal

j jKlinik Die Mehrheit der Bandwurmträger ist asymptomatisch. Unspezifische Symptome wie abdominale Beschwerden, Übelkeit, Schwächegefühl, Gewichtsverlust, selten gesteigerter Appetit, Obstipation und Diarrhö oder analer Pruritus können auftreten. Eine hohe Parasitenzahl kann durch die Gewebsinvasion bei der Hymenolepiasis zu ­einer ausgeprägten Enteritis führen. j jKomplikationen Eine Komplikation der Taenia-solium-Infektion ist die Autoinfek­ tion oder Schmierinfektion von Mensch zu Mensch mit infektiösen Eiern, aus denen gewebsinvasive Hakenlarven im oberen Dünndarm freigesetzt werden. Diese führen, wie sonst beim Zwischenwirt, zu Finnen in der Haut und im Gehirn, seltener in anderen Organen. Diese durch die Larven (Zystizerken) verursachte Zystizerkose führt am häufigsten zu subkutanen Knoten ohne wesentlichen Krankheitswert. Der Befall des ZNS, die Neurozystizerkose, verursacht in Abhängigkeit von der Lokalisation neurologische Ausfälle und insbesondere Krampfanfälle. Ursache für die neurologische Symptomatik ist die durch das Absterben der Larven verursachte ausgeprägte Entzündungsreaktion. j jDiagnose Die Diagnose des intestinalen Befalls wird über den Nachweis von Eiern oder Proglottiden im Stuhl gestellt oder durch Nachweis der spezifischen DNA mittels PCR. Die Zystizerkose wird über den Nachweis spezifischer Antikörper diagnostiziert, jedoch kommt es insbesondere bei verkalkten Zysten im ZNS auch zu negativen immundiagnostischen Befunden. In der Computer- und Kernspintomographie kommen die Zysten zur Darstellung. Bei etwa der Hälfte der Patienten ist im Liquor eine geringe lymphozytäre Pleozytose nachweisbar.

16

j jTherapie Zur Therapie wird die jeweils einmalige Gabe von 10 mg Praziquantel/kgKG bei der Taeniasis und 25 mg/kgKG bei der Hymenolepiasis empfohlen. Alternativ kommt Niclosamid in Betracht, das jedoch nur auf die adulten Würmer wirkt, sodass die Therapie bei der ­Hymenolepiasis über 7 Tage durchgeführt und nach 3 Wochen ­wiederholt werden muss. Bei Kindern mit Obstipation sollten vor Therapiebeginn Laxanzien gegeben werden, um ein längeres Verweilen abgestorbener Schweinebandwürmer, das Freisetzen infek­ tiöser Eier und damit eine mögliche Zystizerkose zu verhindern. Zur Therapie der Neurozystizerkose wird in erster Linie Albendazol (15 mg/kgKG/Tag verteilt auf 2 Dosen) für 7–14 Tage empfohlen, alternativ 50 mg Praziquantel/kgKG/Tag in 3 Einzeldosen für 7–14 Tage. Da die erfolgreiche Therapie zur Exazerbation der Entzündung und damit der Symptomatik führen kann, wird die gleichzeitige Kortisontherapie angeraten. >> Bei bereits beobachteten Krampfanfällen ist eine antikonvulsive Prophylaxe erforderlich.

16.4

Echinokokkose

R. Bialek j jEpidemiologie, Pathophysiologie Die Infektion mit Larven des nur 3–6 mm langen Hundebandwurms, Echinococcus granulosus, führt beim Menschen zur Hydatidenkrankheit, die auch als zystische Echinokokkose bezeichnet wird und weltweit verbreitet ist.

Die Larven des 3 mm langen Fuchsbandwurms Echinococcus multilocularis verursachen beim Menschen die alveoläre Echinokokkose, die in Mitteleuropa (Süddeutschland, Tirol), Asien (GUS-

Staaten, China) und Nordamerika (Kanada, Alaska) endemisch ist. Der Mensch ist ein Fehlwirt, der durch die zufällige orale Aufnahme von Wurmeiern infiziert wird (. Abb. 16.4). Nach Monaten bis Jahren bilden sich bei nur wenigen der infizierten Menschen Zysten bevorzugt in der Leber aus, bei der zystischen Echinokokkose auch in der Lunge, seltener in Niere, Gehirn und Knochen. Die Larven des Hundebandwurms induzieren eine einzelne nach innen wachsende, das gesunde Gewebe verdrängende Zyste mit vielen Kopfanlagen (endogene Sprossung). Bei der alveolären Echinokokkose kommt es zur exogenen Sprossung, d. h. die aus dem Keimepithel der Larve wachsenden Tochterzysten lagern sich außen an, sodass ein infiltrierender, destruierender Prozess mit multiplen kleinen Zysten entsteht. jjKlinik Die klinische Symptomatik ist abhängig von der Lokalisation und Größe der Zysten. Leberzysten sind häufig ein sonographischer Zufallsbefund. Nur etwa die Hälfte der Patienten beklagt abdominale Symptome, Leberschmerzen oder entwickelt sogar einen Verschluss­ ikterus. Knochenzysten führen frühzeitig durch eine Reizung des Periost zu Beschwerden, während Lungenzysten meist symptomlos sind. Differenzialdiagnostisch kommen dysontogenetische Zysten und Tumoren in Betracht. jjDiagnose Die Diagnose wird über den Nachweis spezifischer Antikörper im Serum gestellt. Bei etwa 6–10% der Infizierten, insbesondere bei ausgeprägter Verkalkung der Zysten, ist die Immundiagnostik negativ. Die Diagnose kann über die Zystenpunktion mit mikroskopischem Nachweis von Kopfanlagen (Skolices) gesichert werden. !! Cave Eine Punktion von Leberzysten ist ohne Medikamentenschutz kontraindiziert, da es zur Zystenruptur und Aussaat des Keimepithels mit nachfolgender Metastasierung und Anaphylaxie kommen kann.

Bei der zystischen Echinokokkose werden Skolices häufig nachgewiesen, bei der alveolären Echinokokkose fast nie. jjTherapie Zur Therapie wird in erster Linie Albendazol in einer Dosierung von 2-mal 7,5 mg/kgKG/Tag (bis 2-mal 400 mg/Tag) oder Mebendazol 3-mal 20 mg/kgKG/Tag (Kontrollen der Serumkonzentration erforderlich) eingesetzt. Bei der zystischen Echinokokkose kommt je nach Aktivitätsstadium und Lokalisation der Zyste eine Operation unter Albendazolgabe oder zunächst die alleinige medikamentöse 3- bis 6-monatige Therapie in Betracht, die erst bei fehlenden ­Zeichen der Rückbildung ggf. durch eine Operation ergänzt wird. Zystenpunktion  Unter bestimmten Voraussetzungen kann bei der zystischen Echinokokkose das sog. PAIR-Verfahren erwogen werden, bei dem die Zyste unter sonographischer Kontrolle punktiert, der Inhalt aspiriert, ⅓ des Volumens in Form von Alkohol oder hochprozentiger Natriumchloridlösung instilliert und etwa 30 min belassen wird, um dann reaspiriert zu werden. Bei der alveolären Echinokokkose ist eine lebenslange Therapie mit Albendazol oder Mebendazol erforderlich. Sofern von der Lokalisation möglich, stellt die radikale Operation die Therapie der Wahl dar. Die kumulative Letalität der unbehandelten Erkrankung beträgt 40–70% nach 5 Jahren.

381 Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin

jjKlinik Die serpiginöse, erhabene, rötliche und insbesondere stark juckende Hauteffloreszenz kennzeichnet den Irrweg der Larve, die nicht in tiefere Hautschichten vordringen kann (. Abb. 16.5). Nach Kontakt mit Katzen- oder Hundekot kontaminierten Böden, bevorzugt Sandstrand, kommt es nach Tagen bis Wochen zu diesem Krankheitsbild, das spontan nach Monaten ausheilt. Die Diagnose kann meist anhand der Anamnese und des Befunds gestellt werden.

..Abb. 16.5  Larva migrans cutanea am Fußrücken eines 2-Jährigen nach Strandurlaub in der Karibik

jjProphylaxe Die regelmäßige Entwurmung der Hunde ist eine geeignete Prophylaxe der zystischen Echinokokkose. Risikofaktoren für eine ­alveoläre Echinokokkose sind landwirtschaftliche Aktivitäten, wie Heuen, insbesondere entlang von Wasserläufen. Hingegen stellte in allen epidemiologischen Studien in Europa der gezielt erfragte Verzehr von Waldbeeren kein Risiko dar! 16.5

Kutane Larva migrans

R. Bialek Die Infektion mit den Larven der bei Katzen und Hunden verbreiteten Hakenwürmer Ancylostoma brasiliensis und A. caninum führt bei Menschen zum Hautmaulwurf.

a

jjTherapie Zur Therapie wird die 2-mal tägliche Applikation von 10–15% ­Albendazolsalbe für 1 Woche empfohlen. Alternativ und vor allem bei ausgeprägtem Befall werden einmalig 150–200 µg Ivermectin/ kgKG p.o. gegeben. In der Literatur wird eine lokale Therapie mit Kältesprays angegeben, die jedoch die Gefahr von Erfrierungen insbesondere bei Kleinkindern birgt. Operative Extraktionsversuche sind obsolet, da die mikroskopisch kleinen Larven meist nicht gefunden und extrahiert werden können. Da differenzialdiagnostisch, insbesondere bei Lokalisation am Gesäß, eine Larva currens (. Abb. 16.6), verursacht durch Strongyloidiasis-Arten, und eine Infektion mit humanpathogenen Hakenwurmlarven in Betracht kommen, sollten vorsorglich parasitolo­ gische Stuhluntersuchungen durchgeführt werden. 16.6

Toxokariasis (Larva migrans visceralis)

R. Bialek jjEpidemiologie Nach Ingestion von Eiern der Hunde- und Katzenspulwürmer Toxocara canis und T. cati durch kontaminierte Nahrung, Erde oder ­Wasser kommt es zur Freisetzung der Larven, die die Darmwand durchwandern. Im Gegensatz zu den Larven von A. lumbricoides gelangen sie nicht in die Lunge, sondern „wandern in den Eingeweiden“, können sich in jedem Organ, u. a. auch im Auge festsetzen und zu einem eosinophilen Granulom führen.

b

..Abb. 16.6  Perianale Larva currens bei kulturell nachgewiesener intestinaler Strongyloidiasis. a Bei einem 3-Jährigen zeigen sich nach Aufenthalt in Ghana strichförmige erhabene Effloreszenzen (Pfeile), initial besteht häu-

fig ein Bläschen, aus dem sich dann seröse Flüssigkeit entleert (dicker Pfeil). b Bei einem 18 Monate alten ­nepalesischen Mädchen finden sich multiple erythematöse erhabene Läsionen (Pfeile)

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R. Bialek und G. Dostal

j jKlinik Die Symptomatik ist abhängig von der Lokalisation und reicht von unspezifischen Allgemeinsymptomen und Bauchschmerzen bis­ zur Sehbeeinträchtigung bei Augenbefall und zentralnervösen Störungen. jjDiagnose Typisch für die Toxokariasis sind eine Eosinophilie und nachweisbare spezifische Antikörper. Aufgrund möglicher kreuzreagierender Antikörper gegen andere Nematodenantigene und gelegentlich fehlender Eosinophilie ist der sichere Nachweis selten möglich. j jTherapie Eine Therapie der überwiegend asymptomatischen, spontan sistierenden Toxokariasis ist meist nicht erforderlich. Bei okulärem und ZNS-Befall ist eine antiinflammatorische Therapie mit Steroiden wesentlich. Ergänzend wird Albendazol in einer Dosierung von 15 mg/kgKG/Tag für 2-4 Wochen empfohlen. Dies wird bei Augenbefall jedoch kontrovers diskutiert, da abgetötete Larven die Entzündungsreaktion verstärken könnten, so dass einige Autoren nur bei fehlender Wirksamkeit der Steroidtherapie die Gabe von Albendazol empfehlen. !! Cave Ein Augenbefall sollte stets vor Therapiebeginn ausgeschlossen werden, da andernfalls Kortison zur Vermeidung einer ausgeprägten Entzündungsreaktion allein oder ergänzend zu geben ist.

16.7

Toxoplasmose

R. Bialek

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j jEpidemiologie Die durch das Protozoon Toxoplasma gondii verursachte Toxoplasmose ist weltweit verbreitet. Endwirt ist die nichtimmune Katze, in deren Darm die geschlechtliche Vermehrung stattfindet. Die Katze scheidet für mehrere Wochen Oozysten aus, die erst nach 1–2 Tagen an der Außenwelt infektiös werden und es monatelang bleiben. Nach Ingestion werden Sporozysten freigesetzt, die die Darmwand durchwandern und in jeglichem Gewebe Zysten hervorbringen können. Der Mensch infiziert sich durch die Ingestion, möglicherweise auch Inhalation der Oozysten über mit Katzenkot kontaminierte Erde, Nahrungsmittel oder auch Wasser. Die Infektion kann auch durch Ingestion von Zysten in unzureichend erhitztem Fleisch von Pflanzenfressern (Schweine-, Schaf-, selten Rindfleisch) oder diaplazentar übertragen werden. Die Infektionsrate Erwachsener variiert zwischen 10–90% in Abhängigkeit von Ernährungsgewohnheiten und Katzenkontakt. In Deutschland entspricht die Prävalenz in etwa dem Alter, d. h. etwa 10% der 10-Jährigen sind infiziert. jjKlinik Die Mehrzahl der erworbenen Infektionen verläuft asymptomatisch. Selten tritt ein mononukleoseartiges Krankheitsbild mit Fieber, Abgeschlagenheit, Myalgien, zervikaler oder generalisierter Lymphadenopathie und Hepatosplenomegalie auf. Es wird von einer lebenslangen Persistenz des Erregers in Zysten ausgegangen, die bei Immunsuppression zu einem Rezidiv oder zu einer Reaktivierung führen können. Bei der HIV-Infektion kommt es typischerweise zu einer Toxoplasma-gondii-Enzephalitis, verursacht durch eine intrazerebral gelegene Zyste, während bei Immun-

supprimierten anderer Genese eine disseminierte Infektion durch die Reaktivierung von Zysten in Muskulatur, Niere oder anderen Körpergeweben entsteht. Symptome sind Krampfanfälle und neurologische Störungen bei der Enzephalitis, während Fieber und eine generalisierte Erkrankung bei der disseminierten Toxoplasmose im Vordergrund stehen. jjDiagnose Die Diagnose der postnatal erworbenen Toxoplasmose gelingt über den Nachweis spezifischer Antikörper. Beim HIV-Infizierten ist der Nachweis einer oder weniger intrazerebraler hypodenser Areale mit Kontrastmittelenhancement im Computertomogramm verdächtig, insbesondere wenn eine ausgeprägte Immunsuppression von typischerweise weniger als 100 CD4positiven T-Lymphozyten vorliegt. Die Besserung unter Therapie bestätigt retrospektiv die Diagnose. Bei anderen Immunsupprimierten kann der Erregernachweis mittels Mikroskopie, Kultur oder Tierversuch sowie der DNA-Nachweis mittels PCR aus Gewebe, Blut oder Bronchiallavageflüssigkeit bei Pneumonie versucht werden. jjTherapie Eine Therapie ist bei der erworbenen Toxoplasmose meist nicht erforderlich. Zur Therapie der reaktivierten Toxoplasmose wird eine Kombination aus Pyrimethamin und Sulfadiazin für 6 Wochen empfohlen sowie zusätzlich die Gabe von Folinsäure. Bei Immunsupprimierten schließt sich eine lebenslange Prophylaxe mit Pyrimethamin oder Cotrimoxazol an. 16.7.1 Konnatale Toxoplasmose jjEpidemiologie Die Häufigkeit der konnatalen Toxoplasmose korreliert mit dem Schwangerschaftsalter bei Infektion, während die Schwere der kindlichen Erkrankung damit negativ korreliert. Es werden weniger als 10% der Embryos bei Erstinfektion der Schwangeren in den ersten 8 Schwangerschaftswochen (SSW), aber etwa 50% der Feten bei Infektion ab der 30. SSW und mehr als 80% bei Infektion ab der 36. SSW infiziert. Intrakranielle Läsionen (typischerweise Verkalkungen) werden bei 40% der Kinder von Müttern mit Erstinfektion im ersten Trimenon beobachtet, aber bei weniger als 10% bei Infektion ab der 30. SSW mit sinkendem Prozentsatz bei noch späterer maternaler Infektion. Das Risiko für Augenveränderungen beträgt unabhängig vom Zeitpunkt der Infektion gleichbleibend 20–30%. Diese können auch erst nach Jahren auftreten, bestehen meist aus narbigen Veränderungen in der Netzhautperipherie und führen nur selten zu einer deutlichen Visusbeeinträchtigung. Pro Jahr werden etwa 20 Fälle von konnataler Toxoplasmose dem Robert-Koch-Institut gemeldet. jjKlinik Die Infektion in der frühen Schwangerschaft führt zu der klassischen Trias der konnatalen Toxoplasmose bestehend aus 44 Hydrozephalus, 44 intrazerebrale Verkalkungen, 44 Chorioretinitis. Weitere Symptome sind intrauterine Wachstumsverzögerung, Anoph­ thalmie, Mikrozephalus, Hepatosplenomegalie, Thrombozytopenie und ein sepsisartiges Krankheitsbild mit Purpura und Ikterus bei ­Geburt. Insbesondere bei Infektion im letzten Schwangerschafts­ trimenon sind bei Geburt häufig keinerlei Symptome nachweisbar.

383 Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin

jjDiagnose Die intrauterine Infektion wird über den Nachweis spezifischer IgAoder IgM-Antikörper im Serum des Kindes diagnostiziert. Ebenfalls versucht werden kann der Erregernachweis mittels Kultur und/oder Tierversuch sowie indirekt über die Amplifikation spezifischer DNA (PCR) aus dem (fetalen) Blut und ggf. Liquor. jjTherapie Bei symptomatischer Infektion bei Geburt wird vorsorglich eine Therapie mit Pyrimethamin, 1 mg/kgKG/Tag und Sulfadiazin (50–)100 mg/kgKG aufgeteilt in 2 Gaben pro Tag für mindestens 6 und bis zu 12 Monaten durchgeführt. Bei Nebenwirkungen wird ein Wechsel von 4 Wochen Therapie und 4 Wochen Therapiepause für 12 Monate durchgeführt. Zur Prävention eines Folsäuremangels werden zusätzlich 2-mal pro Woche 5 mg Folinsäure während der Therapie gegeben. In mehreren europäischen Studien konnte nicht nachgewiesen werden, dass diese Therapie unabhängig von der Dauer (4 Wochen bis zu 12 Monate) einen Einfluss auf die Aus­ bildung von Symptomen der konnatalen Toxoplasmose hatte. Die Gabe von Antiparasitika wirkt auf die schnell proliferierenden ­Tachyzoiten, die sich bei Erstinfektion innerhalb von 14 Tagen in lebenslang persistierende bradyzoitenhaltige Zysten umwandeln. Aus letzteren können bei Abwehrschwäche jederzeit Tachyzoiten entstehen, die an anderer Stelle eine Entzündung verursachen. Die Bradyzoiten können jedoch nicht eliminiert werden. Daher kann bei asymptomatischer konnataler Toxoplasmose auch auf die Medikamentengabe verzichtet werden. Unabhängig davon sollten augenärztliche Kontrollen durchgeführt werden. Bei Auftreten von Augen­ veränderungen im Sinne einer reaktivierten Toxoplasmose ist ebenso wie bei Auftreten von Symptomen eine antiparasitäre Therapie in o. a. D ­ osierung für 4–6 Wochen durchzuführen. 16.8

Trichinellose

R. Bialek jjGrundlagen Durch die Fleischbeschau, in Europa abgelöst von der Untersuchung der (Zwerchfell)muskulatur auf Trichinen, ist die weltweit vorkommende Infektion mit dem Fadenwurm Trichinella spiralis, auch Trichinose genannt, selten geworden. Beim Verzehr von rohem oder unzureichend gegartem (Wild)schweinfleisch werden die Larven der Trichinen aufgenommen, die im Dünndarm heranreifen. Etwa 4–7 Tage später beginnen die Weibchen des nur 4 mm langen Wurms mit der Ablage von Larven. Dazu durchbohren sie die Darmmukosa und setzen Larven frei, die über den Blutstrom in alle ­Gewebe gelangen, aber nur in der quer gestreiften Muskulatur ­enzystieren. Sie bleiben jahrelang vital, obwohl es zur Fibrose und Verkalkung der Larven in der Muskulatur kommt. jjKlinik Die Symptomatik ist insbesondere von der Anzahl aufgenommener Parasiten abhängig. Die adulten Würmer und die Larvenfreisetzung führen zu einer eosinophilen Darmentzündung und zu Diarrhö. Die etwa 1 bis 3 Wochen nach Infektion auftretende Larvenwanderung verursacht eine ausgeprägte Entzündungsreaktion und eine Eosinophilie. Die enzystierenden Larven verursachen durch die Entzündungsreaktion starke Muskelschmerzen. Dazu können F ­ ieber, Gesichtsödeme, Konjunktivitis, Exantheme und in Ab­hängigkeit von dem Ausmaß der pulmonalen, kardialen und zentralnervösen Be­ teiligung auch weitere organspezifische Störungen auftreten.

jjDiagnose Die Diagnose wird über den seltenen Nachweis von Larven im gefilterten peripheren Blut versucht. Sie kann durch Muskelbiopsien gesichert werden. Die Eosinophilie und der Anstieg der Kreatininkinase geben Hinweise. In der 2.–3. Krankheitswoche werden spezifische Antikörper nachweisbar. Typischerweise werden Gruppenerkrankungen beobachtet. jjTherapie Zur Therapie werden Albendazol 2-mal 7,5 mg/kgKG/Tag oder ­Mebendazol 3-mal 20 mg/kgKG für 14 Tage eingesetzt. Bei schwerer Erkrankung wird initial zusätzlich Kortison empfohlen. jjProphylaxe Eine Prophylaxe ist durch die ehemalige Trichinenschau, jetzt gesetzliche Trichinenuntersuchung und durch mindestens 3-wöchiges Einfrieren bei mindestens –15°C möglich. 16.9

Malaria

R. Bialek jjEpidemiologie, Pathophysiologie Mit jährlich 216 Mio. Neuerkrankungen (Daten aus 2016) ist die ­Malaria die weltweit häufigste Infektionskrankheit. Am stärksten betroffen ist das tropische Afrika südlich der Sahara. Pro Jahr sterben schätzungsweise 460.000 Menschen an der Malaria, ¾ davon sind Kinder unter 5 Jahren. Aus Deutschland werden dem Robert-KochInstitut in Berlin pro Jahr 60–80 Malariafälle bei Kindern unter 14 Jahren gemeldet. Etwa 75% der Kinder stammen aus Endemiegebieten oder erwerben die Erkrankung im Rahmen von Verwandtenbesuchen. Die Ergebnisse einer ESPED-Studie zu parasitären Tropenkrankheiten bei Kindern in Deutschland zeigten, dass weniger als 10% der importierten Malaria tropica im Rahmen touristischer Unter­ nehmungen erworben wurden. Die Malaria ist in tropischen und subtropischen Gebieten Afrikas, Süd- und Zentralamerikas sowie auf dem indischen Subkontinent, in China und Südostasien endemisch. jjPathogenese Die 5 humanpathogenen ursächlichen Plasmodienarten werden durch Stechmücken der Gattung Anopheles übertragen. Es verursachen 44 Plasmodium falciparum die Malaria tropica, 44 P. vivax und P. ovale die Malaria tertiana, 44 P. malariae die Malaria quartana, 44 P. knowlesii die knowlesii-Malaria. Letztere ist eine, bei Affen in Südostasien vorkommende, Spezies. In den Mücken findet die geschlechtliche Vermehrung der Plasmodien statt. Beim Saugakt gelangen mit dem Speichel infektiöse Sporozoiten in den menschlichen Blutkreislauf. Diese werden innerhalb von Stunden in der Leber aufgenommen, wo sie Gewebsschizonten bilden. Nach frühestens 5, im Mittel 7–10 Tagen, gelegentlich auch erst nach Jahren werden Merozoiten aus rupturierenden Gewebsschizonten frei. Sie befallen Erythrozyten, in denen sie über Trophozoiten (Ringformen) zu Schizonten heranreifen. Diese teilen sich in Merozoiten, die nach Lyse des parasitierten Erythrozyten erneut rote Blutkörperchen invadieren. Bei Infektionen mit P. ovale und P. vivax werden in der Leber sog. Hypnozoiten gebildet. Diese Gewebsschizonten komplettieren nach unterschiedlich langen Ruhephasen den extraerythrozytären

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Entwicklungszyklus, setzen Merozoiten frei und beginnen die erythrozytäre Entwicklung neu.

j jKlinik Typischerweise treten Fieberschübe bei der Malaria tertiana alle 48 h und bei der Malaria quartana alle 72 h auf. Bei der Malaria tropica weist das Fieber keinen Rhythmus auf, da es nicht zu einer Synchronisation der Parasitenvermehrung kommt. Die Dauer des erythrozytären Zyklus beträgt bei P. knowlesii nur 24 h, sodass ­Fieber täglich oder unregelmäßig auftritt. Typische, aber unspezifische Symptome sind Kopf-, starke ­Nacken- und Gliederschmerzen, seltener abdominale Beschwerden, u. a. auch Diarrhö. jjVerlauf Bei der Malaria wird nach wiederholten Erkrankungen eine Teilimmunität aufgebaut, die gegen schwere Verläufe schützt. Dieser während der Kindheit in einem Endemiegebiet erworbene Schutz vermindert sich bei längerem Aufenthalt außerhalb dieser Regionen, sodass insbesondere nach Besuchen in Heimatländern schwerere Verläufe der Malaria wieder beobachtet werden. Einen gewissen Schutz stellen Thalassämien und Sichelzellkrankheit dar, jedoch kommen schwere Verläufe auch bei Kindern mit diesen angeborenen Hämoglobinopathien vor.

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j jKomplikationen Die Milz kann vergrößert sein und rupturieren. Im Gegensatz zur Malaria quartana können die Malaria tropica und die P.-knowlesiiInfektion rasch tödlich verlaufen. Bei der Malaria tertiana sind letale Verläufe durch z. B. Milzruptur selten. Die Malaria tropica und die Knowlesii-Malria sind als lebensbedrohlich anzusehen, sodass der Patient umgehend intensivmedizinisch zu betreuen und eine supportive Therapie einzuleiten ist, bei Vorliegen mindestens einer der folgenden Befunde: 44 Bewusstseinseintrübung, 44 zerebraler Krampfanfall, 44 respiratorische Insuffizienz, unregelmäßige Atmung, Hypoxie, 44 Hypoglykämie (BZ 5,5 mmol/l), 44 klinische Zeichen einer relevanten Dehydratation. Eine Malaria tropica bzw. Knowlesii-Malaria ist als bedrohlich anzusehen, sodass der Patient engmaschig zu überwachen ist, bei Vorliegen mindestens einer der folgenden Befunde: 44 schwere Anämie (Hb 2,5 mg/dl bzw. im Verlauf rasch ansteigende Kreatinin- oder Cystatin-C-Werte), 44 Transaminasenerhöhung (>3-fache der oberen Normgrenze), 44 Ikterus (Bilirubin >3 mg/dl bzw. >50 µmol/l), 44 Hyperparasitämie (>5% der Erythrozyten von Plasmodien ­befallen oder >100.000 Plasmodien/µl), 44 Malaria tropica bei einem Kind mit Sichelzellanämie. Ist die Malaria als lebensbedrohlich oder bedrohlich anzusehen, wird sie als komplizierte Malaria tropica bzw. Knowlesii-Malaria eingestuft. Eine Sonderform der komplizierten ist die zerebrale Malaria tropica, die durch ein nicht erweckbares Koma gekennzeichnet ist (Pediatric Glasgow Coma Scale > Da die neonatale Parasitämie spontan sistieren kann, ist der alleinige Nachweis von Plasmodien im Nabelschnurblut nicht behandlungsbedürftig. Der fehlende Nachweis von Plasmo­ dien im Nabelschnurblut schließt jedoch die konnatale Infektion nicht aus.

Die Therapie wird oral oder i.v. mit einem der o. a. Medikamente nach Leitlinie der DTG (www.dtg.org) durchgeführt. 16.10

Schistosomiasis

R. Bialek jjEpidemiologie Die mit geschätzen 240 Mio. infizierten Menschen häufigste Trematodeninfektion ist in Nordafrika, im tropischen Afrika, auf der arabischen Halbinsel, in Südostasien, China, im Osten Brasiliens sowie in Venezuela und auf einigen Karibikinseln endemisch. Als humanpathogen gelten Schistosoma haematobium, S. guineensis, S. mansoni, S. intercalatum, S. japonicum und S. mekongi. jjPathogenese Aus den mit Urin oder Fäzes vom Menschen ausgeschiedenen Wurmeiern schlüpfen Wimpernlarven (Mirazidien), die in Schnecken als Zwischenwirten über mehrere Larvenstadien zu infektiösen Gabelschwanzlarven (Zerkarien) heranreifen. Diese schwimmen frei im oberflächennahen Wasser und durchbohren bei Kontakt die intakte menschliche Haut. Über die Blutbahn gelangen sie in die Lunge und andere Organe. In den Mesenterialvenen und im Venengeflecht der Harnblase reifen sie zu adulten Würmern heran, paaren sich und verbleiben als Paar gemeinsam 3–10 und in Einzelfällen bis zu 40 Jahre im Gefäß liegen. Pro Tag gibt ein Weibchen bis zu 3.500 Eier ab, die aktiv durch das Gewebe ins Organlumen wandern, um ausgeschieden zu werden. Die im Gewebe verbleibenden Eier verursachen eine eosinophile, granulomatöse Entzündung. kkZerkariendermatitis Innerhalb von 24 h nach Kontakt mit Zerkarien kann an der Eintrittspforte eine juckende Dermatitis auftreten, die nach wenigen Tagen spontan sistiert. Bei Kontakt mit Zerkarien tierpathogener Schistosomen, die auch in Deutschland verbreitet sind, kann es ebenfalls zu dieser auch als Badedermatitis bezeichneten, spontan heilenden Hautreizung kommen. kkKatayama-Fieber 2–10 Wochen nach Infektion können hohes Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen und Husten sowie Urtikaria, Ödeme, Arthralgien, Übelkeit oder Diarrhö auftreten, die labortechnisch häufig von einer Eosinophilie aber nur gering auffälligen Entzündungsparametern begleitet wird. Diese durch wandernde Larven verursachte allergische Reaktion persistiert meist innerhalb von Tagen bis Wochen, kann jedoch in Einzelfällen tödlich verlaufen.

kkAkute Schistosomiasis Frühestens 8–10 Wochen nach der Infektion beginnt die Eiausscheidung. Damit können abdominale Beschwerden, eine Diarrhö und eine Makrohämaturie verbunden sein, die meist spontan sistieren. kkChronische Schistosomiasis Diese Krankheitsphase kann über Jahre anhalten mit relativ geringen Beschwerden, die jedoch jederzeit exazerbieren können. Bei Infektionen mit S. mansoni, S. guineensis, S. japonicum, S. mekongi und S. intercalatum kann es zu einer hepatolienalen Schistosomiasis mit portaler Hypertension und Splenomegalie kommen, die durch die granulomatösen und fibrotischen Veränderungen in der Leber, insbesondere im Hilusbereich entstehen. Die urogenitale Schistosomiasis insbesondere durch S. haematobium verursacht, kann zur Infertilität führen. Der bevorzugte Sitz der Granulome im Blasentrigonum kann Ureterstenosen und eine Hydronephrose verursachen. Bei der Blasenbilharziose ist das Karzinomrisiko signifikant erhöht. Aberrante Eier jeglicher Spezies können zur zentralnervösen Schistosomiasis führen, deren Symptomatik von der Lokalisation der Eigranulome abhängig ist. jjDiagnose Die Diagnose des Katayama-Fiebers wird anhand der Exposition, der Eosinophilie und dem Nachweis spezifischer Antikörper vermutet und kann über den Nachweis spezifischer DNA im Serum mittels PCR bestätigt werden. Erst später werden Parasitenstadien in Stuhlund/oder Urinproben nachweisbar. Bei der akuten Schistosomiasis gelingt meistens der mikroskopische Einachweis in angereicherten Stuhlproben oder im Filtrat des 24-h-Sammelurins. Zusätzlich kann ein Mirazidienschlüpfversuch aus Stuhlproben versucht werden. Die chronische Schistosomiasis wird über den Nachweis von spezifischen Antikörpern und von Parasitenstadien diagnostiziert. Antigennachweise in Stuhl- und Urinproben können versucht werden, sind aber überwiegend für Endemiegebiete bei Patienten mit ausgeprägten Infektionen evaluiert worden. jjTherapie Die Zerkariendermatitis und das Katayama-Fieber werden symptomatisch mit Antihistaminika und ggf. mit Kortison behandelt. !! Cave Eine antiparasitäre Therapie des Katayama-Fiebers kann durch Parasitenzerfall und Antigenfreisetzung die Symptomatik verschlechtern.

Die akute und die chronische Schistosomiasis werden mit Praziquantel, in einer Dosierung von 40 mg/kgKG/Tag, für 1–3 Tage behandelt. Während bei einmaliger Praziquantelgabe die Heilungsrate bei etwa 75–90% liegt, wird sie mit über 90% bei der 3-tägigen Therapie angegeben. In jedem Fall ist eine Kontrolle nach 6 Monaten und dann jährlich erforderlich, um eine persistierende Infektion nicht zu übersehen. jjProphylaxe Süßwasserkontakt in Endemiegebieten, insbesondere Baden in Seen und Waten in der Uferzone von Flüssen unabhängig von deren Fließgeschwindigkeit sollten vermieden werden. Eine serologische Kontrolle nach entsprechender Exposition wird angeraten.

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16.11

Leishmaniasis

R. Bialek j jEpidemiologie Protozoen der Gattung Leishmania werden durch Schmetterlingsmücken (Phlebotomus und Lutzomya spp.) übertragen. Die verschiedenen humanpathogenen Leishmanien sind rund um das ­Mittelmeer, im Mittleren Osten, in Indien, im Nordosten Chinas, in Afrika südlich der Sahara sowie in Zentral- und Südamerika ­verbreitet. Neben Menschen stellen Hunde, Schakale, Füchse und Nage­tiere, in Südamerika auch Faultiere und Ameisenbären, Reservoire dar. Die Erkrankung ist histologisch durch chronisch-entzündliche Infiltrationen, fokale Nekrosen und eine Fibrose charakterisiert. Das Ausmaß der Erkrankung wird von der Leishmanienart und von der Immunität des Wirtes bestimmt. j jKlinik k kKutane Leishmaniasis (Aleppo- oder Orientbeule) 2–4 Wochen nach dem Insektenstich kommt es lokal zu einer meist juckenden Papel, die sich in ein indolentes Ulkus von 2–4 cm Größe mit erhabenen Randwall umwandelt (. Abb. 16.7). Ohne Therapie kommt es innerhalb von 1–2 Jahren zur spontanen Heilung mit ­Narbenbildung dieser meist einzelnen, gelegentlich an mehreren Körperstellen auftretenden Ulzera. Bevorzugt sind exponierte Körperteile, wie Gesicht, Arme und Beine. Alle humanpathogenen Leishmanien kommen als Ätiologie in Betracht. Etwa 5% der durch Leishmania tropica verursachten Läsionen rezidivieren und persistieren als Leishmaniasis recidivans, die in Abhängigkeit von der Lokalisation auch zu erheblichen Entstellungen durch die Narbenbildung führen kann. Bei Infektionen mit L. aethiopica in Äthiopien und Kenia und bei Infektionen mit Arten des L.-mexicana-Komplexes in Zentralund Südamerika kann es zu einer diffusen kutanen Leishmaniasis kommen, die durch eine progrediente, diffuse, generalisierte lepraartige Hautverdickung charakterisiert ist.

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k kMukokutane Leishmaniasis (Espundia) Bei Infektionen mit Leishmanienarten, die in Südamerika verbreitet sind, v. a. die des L.-brasiliensis-Komplexes, kann es Monate bis Jahre nach Abheilung der kutanen Läsion zu einer Gewebedestruktion des Nasenknorpels und Ulzerationen der Nasen- und Mundschleimhaut kommen. Die Protozoen gelangen hämatogen oder lymphogen in den Nasopharynx, von wo aus sich die Läsionen bis in die Trachea fortsetzen können. Die mukokutane Verlaufsform wird selten auch bei Infektionen mit Leishmanienarten im Mittelmeerraum und in Indien beobachtet. k kViszerale Leishmaniasis (Kala-Azar) Bei Infektionen mit Leishmania donovani, L. infantum, L. chagasi, aber auch viszerotropen Formen von L. amazonensis, L. mexicana und L. tropica kann es zu einer generalisierten Ausbreitung der Leishmanien im Monozyten-Makrophagen-System kommen. Es kann wochen- bis monatelanges, im Tagesverlauf sattelförmiges Fieber auftreten. Durch Befall des Knochenmarks und Verdrängung kommt es zur Panzytopenie und damit zu Sekundärinfektionen, Blutungsneigung und Anämie bedingten Allgemeinsymptomen. Typisch sind eine Hepatosplenomegalie und laborchemisch neben der Panzytopenie eine Hypergammaglobulinämie durch unspezifische B-Zellstimulation. Unbehandelt verlaufen mehr als 90% der manifesten Infektionen tödlich. Es muss jedoch von einer großen Anzahl

..Abb. 16.7  Kutane Leishmaniasis bei einem afghanischen Jungen

klinisch inapparenter Infektionen ausgegangen werden, die erst bei Immunsuppression klinisch manifest werden, wie die zunehmende Zahl von viszeraler Leishmaniasis bei HIV-Infizierten in Südeuropa zeigt. kkKonnatale Leishmaniasis Unabhängig von der klinischen Symptomatik bei der Schwangeren, also auch bei klinisch inapparenter Infektion, kommt es sehr selten zur intrauterinen Übertragung von Leishmanien. Die infizierten Säuglinge entwickeln erst im Laufe des 1. Lebensjahres Allgemeinsymptome wie Trinkschwäche, Gedeihstörungen, evtl. Fieber, eine Panzytopenie und Hypergammaglobulinämie sowie eine Hepatosplenomegalie. jjDiagnostik Die Diagnose wird über den Nachweis von Leishmanien, typischerweise in Makrophagen gelegen, im histologischen Präparat gestellt. Geeignet sind Abstriche oder besser Biopsien von Hautulzera oder Schleimhautläsionen sowie von Hautknoten bei der diffusen kutanen Leishmaniasis. Bei der viszeralen Leishmaniasis gelingt der Erregernachweis im Knochenmark sowie in Milz- und Leberbiopsien. Neben histologischen Untersuchungen kann die Anzucht in spezialisierten Labors versucht werden. Die PCR wird zum Nachweis ergänzend oder alternativ eingesetzt. Sie ist v. a. bei kutanen und mukokutanen Verlaufsformen zur Erregeridentifikation unabdingbar, da sich die Therapie an der ursächlichen Leishmanienart orientiert. >> Der Nachweis von spezifischen Antikörpern kann bei Verdacht auf eine viszerale Leishmaniasis hilfreich sein, ist jedoch bei den kutanen Formen meist negativ.

jjTherapie Die Therapie der kutanen Leishmaniasis richtet sich nach der verursachenden Leishmanienspezies. Neben wiederholten intraläsionalen Injektionen von fünfwertigen Antimonpräparaten kommt in einigen Fällen eine Kryotherapie oder das wiederholte Auftragen von 15% Paromomycin und 12% Methylbenzethoniumchlorid in ­Salbenpräparation als Therapie in Betracht, ebenso wie eine orale Therapie mit Miltefosin. Die viszerale Leishmaniasis, die mukokutane Leishmaniasis und die südamerikanische kutane Leishmaniasis werden systemisch mit

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liposomalem Amphotericin B, 2–3 mg/kgKG/Tag, für 10 Tage behandelt. Alternativ kommt das nebenwirkungsreichere und weniger gut wirksame fünfwertige Antimon in einer Dosierung von 2-mal 10 mg/kgKG/Tag für wenigstens 30 Tage in Betracht. Eine weitere Therapieoption für die viszerale Leishmaniasis und abhängig von der verursachenden Leishmanienart auch für mukokutane und kutane Verlaufsformen ist das oral applizierbare Miltefosin. Es ist zur Therapie ab 3 Jahre zugelassen. Die Dosis von 2,5 mg/kgKG/Tag ist auf volle 10 mg auf- oder abzurunden und sollte nicht überschritten werden. Die Behandlungsdauer beträgt 28 Tage.

16.12

Die durch extraintestinal lebende Nematoden (Fadenwürmer) hervorgerufenen Infektionen werden unter dem Begriff Filariasis zusammengefasst (. Tab. 16.2). jjDiagnose Die Diagnose wird über den Nachweis von Mikrofilarien im filtrierten peripheren Blut bei der lymphatischen Filariasis, aus kleinen dermalen Biopsien („skin snips“) bei der Onchozerkose versucht und durch Wurmnachweis in subkutanen Knoten. Richtungweisend ist eine Eosinophilie und der Nachweis von Antikörpern gegen Nematodenantigene. Nach Ausschluss einer okulären Onchozerkose kann ein Provokationstest mit Diethylcarbamazin (DEC) versucht werden. Die Gabe von DEC führt zum Absterben von Mikrofilarien und zur Freisetzung von Antigenen, was einen Pruritus, Ödeme und allergische Exantheme verursacht (Mazzotti-Reaktion). jjTherapie Zur Therapie werden Diethylcarbamazin, Ivermectin und Albendazol einzeln oder in Kombinationen eingesetzt.

Epizoonosen

R. Bialek >> Das typische Symptom aller Epizoonosen (syn. Ektoparasitosen), mit Ausnahme des Zeckenbefalls, ist der Juckreiz. Durch Kratzen eingebrachte Bakterien können zu Sekundärinfektionen führen.

16.13.1

Onchozerkose (Flussblindheit)

Lymphatische ­Filariasis

Erreger

Onchocerca ­volvulus

Wuchereria bancrofti, Brugia malayi, ­ B. timori

Endemiegebiet

Tropisches Afrika südlich der Sahara, Jemen, Zentralund Südamerika

Tropisches Afrika, Indien, Südostasien, Lateinamerika

Weltweite Prävalenz (Schätzungen WHO, 2016)

30–40 Millionen

60 Millionen

Lokalisation der adulten Würmer

Subkutane Knoten

Lymphbahnen der unteren Extremitäten und der Bauchhöhle

Lokalisation der Mikrofilarien

Haut

Blut

Klinik

Dermatitis mit ausgeprägtem Pruritus, Seh­ beeinträchtigung bis Blindheit

Fieberhafte Lymph­ angitis und -adenitis, Lymphödeme der Genitalien und unteren Extremitäten, Elephantiasis

Filariasis

R. Bialek

16.13

..Tab. 16.2  Charakteristika einiger unter Filariasis zusammengefassten invasiven Nematodeninfektionen

Flöhe

Nach Stichen von Katzen-, Hunde- oder Menschenflöhen (Pulex irritans) kommt es zu pruriginösen, urtikariellen Papeln oder Blasen, die typischerweise in Gruppen angeordnet sind oder dem Verlauf eines Blutgefäßes folgen. Zur symptomatischen Therapie werden lokal oder systemisch Kortison eingesetzt. Sekundärinfektionen müssen ausgeschlossen oder mit Antibiotika behandelt werden. Je nach Ursprung ist die Behandlung der Haustiere oder das Sprühen von Insektiziden im Haushalt erforderlich. Die Weibchen des in warmen Ländern weit verbreiteten Sandflohs (Tunga penetrans, Tungiasis) graben sich nach der Befruchtung in die weiche Haut, insbesondere der Zehenzwischenräume und unter den Nägeln, ein, um Blut zu saugen. Das Hinterende mit Genital- und Atemöffnung ragt heraus, erkennbar an einer zentralen

Öffnung des prall-elastischen, erbsgroßen, meist juckenden und druckschmerzhaften Hautknötchens. Eine Entfernung unter aseptischen Bedingungen ist erforderlich. 16.13.2

Läuse (Pedikulose)

44 Die Kopflaus (Pediculus capitis) saugt nur im Kopfbereich und klebt ihre 1 mm langen grauweißen Eier (Nissen) an die Haare unmittelbar an der Kopfhaut. Die Pediculosis capitis wird durch Kontakt von Haar zu Haar übertragen. Eine Übertragung durch Gegenstände wie Kopfkissen, Mützen und Kämme kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, ist in Studien jedoch eine Rarität und hat epidemiologisch für die Ausbreitung keinerlei Bedeutung. 44 Die Kleiderlaus (Pediculus humanus) sitzt der Kleidung an und spart Kopf- und Genitalregion aus. Zur Übertragung kommt es durch engen Körperkontakt oder gemeinsame Benutzung von Kleidung. 44 Die Filzlaus (Pthirus pubis) befällt ausschließlich die Anogenitalregion und wird v. a. beim Geschlechtsverkehr, aber auch durch gemeinsame Benutzung von Bettwäsche, Kleidung und Badetüchern übertragen. Die Therapie wird mit Permethrin- oder anderen Pyrethroidlösungen, alternativ mit dimetico-haltigen Präparaten durchgeführt. Letztere verursachen über eine Störung der Lipidhülle der Insekten eine letale Störung des Wasserhaushalts. Zur Entfernung von Nissen und Läusen werden die Haare mit Wasser oder Haarspülung angefeuchtet und dann mit einem metallenen Kamm mit engstehenden Zähnen ausgekämmt. Bei Kleider- und Filzlausbefall ist eine Reinigung der Wäsche durch Auskochen oder Desinfektion erforderlich.

16

388

R. Bialek und G. Dostal

16.13.3

Milben

Der Befall mit Tier- oder Grasmilben kann zu ausgeprägtem Juckreiz führen und eine symptomatische Therapie erforderlich machen, jedoch ist eine antiparasitäre Therapie nicht erforderlich. Diese ist jedoch bei der Skabies, dem Befall mit der nur beim Menschen vorkommenden Krätzemilbe (Sarcoptis scabiei), erforderlich. Enger Kontakt führt zur Übertragung, seltener gemeinsame Benutzung von Kleidung und Bettwäsche, da die Milben nur 2 Tage ohne Menschenkontakt überleben. Die weiblichen 0,3–0,4 mm langen Krätzemilben graben bis zu 10 mm lange Gänge in die Hornschicht der Haut, um ihre Eier abzulegen. Aus ihnen schlüpfen nach 3–5 Tagen Larven, die sich innerhalb von 20 Tagen zu geschlechtsreifen Adulten entwickeln. Typisches Symptom sind die juckenden gelegentlich serpiginösen Gänge in Interdigitalräumen, im Bauch- und Anogenitalbereich sowie in den Achseln und den Ellenbeugen. Durch Kratzen kommt es zu Exkoriationen, Schorfbildung und Sekundärinfektionen. Bei intensiver Körperpflege und spärlichem Befall kann die klinische Diagnose schwierig sein (gepflegte Skabies), dagegen kann der Befall bei Immunsuppression generalisiert sein (Skabies scabiosa, ehemals Skabies norvegica). Zur Therapie werden u. a. antiparasitäre Substanzen, wie Permethrin eingesetzt. Bei ausgeprägtem Befall wird die orale Gabe von Ivermectin 150–200 µg/kgKG empfohlen – einmalig oder bei Immunsuppression und bei Scabies scabiosa 2-mal im Abstand von 7–14 Tagen. Ivermectinhaltige Dermatika sind als sehr wirksam in der Literatur beschrieben, aber bisher nicht erhältlich. 16.13.4

16

Zecken

Von der 0,6 mm großen Nymphe bis zur geschlechtsreifen 5 mm großen erwachsenen Zecken muss jedes Stadium zur Weiterentwicklung einmal Blut saugen. Schildzecken, wie Ixodes ricinus, sind Überträger von Borrelien und dem FSME-Virus. Sie leben auf Gräsern und Sträuchern, von denen sie bei Berührung abgestreift werden und auf die Haut gelangen. Der für den Menschen schmerzlose Saugakt verläuft meist unbemerkt. Während der besonders aktiven Zeit im Frühling und Herbst wird daher die genaue Inspektion nach einem Waldaufenthalt empfohlen. Zecken finden sich bevorzugt im Bereich des behaarten Kopfs, der Ohren, in Arm- und Kniebeugen, inguinal sowie im Bereich der Unterschenkel, Füße und Hände. >> Da die Transmissionsrate der Borreliose von der Dauer des Saugakts abhängig ist, wird eine sofortige Entfernung der ­Zecke empfohlen.

Dazu wird die Zecke so nah wie möglich am Ansatzpunkt in der Haut, also im Schildbereich mit einer Pinzette gefasst. Eine Kompression des weichen Körpers am Hinterende ist zu vermeiden, da es zum Ausdrücken von Darminhalt und damit zur Infektionsübertragung führt. Die Zecke kann ohne Drehbewegung einfach herausgezogen werden. Eventuell verbleibende Mundwerkzeuge oder Kopfteile haben für die Infektionsübertragung keine Bedeutung. Die Applikation von Klebern, Alkohol oder ähnlichen Substanzen hat auf die Extraktion keinen Einfluss (7 Kap. 15).

16.14

Mykosen

R. Bialek Mit über 100.000 bekannten Arten stellen die Pilze neben Pflanzen und Tieren ein eigenes Reich dar. Es gelten zwar etwa 300 Arten als humanpathogen, aber für nur wenige von ihnen stellt der Mensch überhaupt einen geeigneten Lebensraum dar. Keratinophile Pilze nutzen das Keratin von Haut, Haaren und Nägel als Stickstoffquelle, während lipophile Pilze Fettbestandteile der menschlichen Haut als Kohlenstoffquelle verwenden. Da sie die Nährstoffe auf der Oberfläche finden, invadieren diese Pilze typischerweise nicht, sondern verursachen Infektionen der Haut- und Hautanhangsgebilde. Iatrogen oder akzidentell können sie jedoch in die Blutbahn gelangen und bei Immunsuppression zur invasiven Mykose führen. Die ubiquitäre Hefe Malassezia furfur, verursacht typischerweise bei Jugendlichen eine harmlose Hauterkrankung, die Pityriasis versicolor. Bei akzidenteller i.v.-Inokulation zusammen mit Fett­ emulsionen kann dieser Erreger bei Frühgeborenen eine schwere systemische Mykose verursachen. Saprophytisch lebende Pilze sind Fäulniserreger, die keine Substanzen lebender Organismen nutzen. Sie gelangen meist über eine traumatische Inokulation in die Haut oder durch Inhalation in die Atemwege. Wenn sie der Abwehrreaktion des Wirts erfolgreich ­widerstehen, wachsen sie, indem sie den durch die Entzündung entstandenen Detritus als Nahrungsquelle nutzen. Typisch sind sich langsam entwickelnde, chronische, überwiegend lokale Erkrankungen oder generalisierte Infektionen bei Immunsuppression. Nach klinischen Gesichtspunkten können unterschieden werden: 44 oberflächliche Mykosen, 44 subkutane Mykosen, 44 systemische Mykosen. Die Dermatophytosen, Dermato- und Onychomykosen gehören zu den Hauterkrankungen. Die subkutanen Mykosen werden typischerweise durch traumatische Inokulation von verschiedenen, auf Pflanzenteilen lebenden Pilzspezies verursacht. Sie sind zwar weltweit verbreitet, treten aber bevorzugt bei barfuß laufenden Bevölkerungsteilen in tropischen und subtropischen Regionen auf. Die granulomatösen oder eiternden, fibrosierenden und nekrotisierenden Infektionen bleiben meist auf die Eintrittspforte und das umliegende Gewebe beschränkt. Die Madura-, Chromoblasto- und Phaeohyphomykosen werden jeweils von mehreren Pilzspezies verursacht. Sie verlaufen chronisch über Monate bis Jahre und sind bei Kindern eine Rarität. Bei nicht heilenden Hautulzerationen, -granulomen und Hyperkeratosen müssen sie bei entsprechender Exposition differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden. 16.14.1

Opportunistische Mykosen

Einige Pilze leben als Kommensalen des Menschen ohne Krankheitserscheinungen hervorzurufen. Eine Verminderung der lokalen oder systemischen Abwehrkraft ist die Voraussetzung für die ungehemmte Vermehrung oder den Wechsel der Wuchsform, die zur Erkrankung führen. Die Zunahme opportunistischer Mykosen wird zurückgeführt auf aggressivere Therapieformen, die mit ausgeprägter Immunsuppression einhergehen, und auf verbesserte Über­ lebenschancen immunschwacher Kinder, wie sehr unreife Frühgeborene und Patienten mit angeborenen Immundefekten.

389 Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin

Aspergillose jjGrundlagen Schimmelpilze der Gattung Aspergillus sind ubiquitär im Erdboden verbreitet. Die Infektion wird durch Inhalation von Sporen erworben. Mehr als 95% der Aspergillosen werden durch A. fumigatus, A. niger und A. flavus verursacht. Neben der asymptomatischen Besiedelung werden verschiedene Krankheitsbilder beschrieben, die vom Immunstatus und Grunderkrankungen abhängig sind. jjKlinik, Diagnostik Allergische bronchopulmonale Aspergillose  Die allergische bronchopulmonale Aspergillose wird insbesondere bei vorgeschädigter Lunge, z. B. bei Mukoviszidose- und Asthmapatienten beob-

achtet. Sie verursacht Fieber, Husten, Atemwegsobstruktion sowie Husten mit bräunlichem, meist zähem Auswurf. Die Erreger können aus dem Sputum kultiviert werden. Charakteristisch sind eine Eosinophilie und eine IgE-Vermehrung. Im Röntgenbild sind wan­ dernde Infiltrate und zentrale Bronchiektasen typisch. Invasive Aspergillose  Die invasive Aspergillose mit Befall der Lunge und sekundärer Dissemination tritt typischerweise bei neutropenischen Patienten auf. Disponierende Faktoren sind Immunsuppression nach Organtransplantationen, akute Leukämie und die septische Granulomatose. Verdächtig ist anhaltendes Fieber trotz Antibiotikatherapie, Dyspnoe und evtl. Husten mit Auswurf. Die negative Kultur von Sputum und Bronchiallavageflüssigkeit schließt die Diagnose keineswegs aus. Ebenso wenig ist der Nachweis von Aspergillus im Sputum beweisend, da Kontaminationen möglich sind. Der Nachweis von spezifischen Antikörpern versagt bei Immunsupprimierten. Die Sensitivität und Spezifität von Antigennachweisen im Blut sind unzureichend. Die radiologischen Lungenveränderungen, singuläre oder multiple, evtl. konfluierende Verschattungen sind bei mehr als 10% der postmortal diagnostizierten Aspergillosen nicht nachweisbar. >> Bei der schwer zu stellenden Diagnose kann die hohe Letalität (je nach Patientengruppe über 80%), derzeit nur durch eine frühzeitige Antimykotikagabe und Beseitigung der Neutropenie verbessert werden.

Weitere Organmanifestationen durch Dissemination im Rahmen der invasiven Erkrankung sind die zerebrale Aspergillose, Leberund Milzherde. Seltenere Formen der Aspergillose sind die Osteomyelitis bei Kindern mit septischer Granulomatose, sowie die­ Endo- und Myokarditis nach Herzoperationen, die Endophthalmitis nach Dissemination bei invasiver Aspergillose oder fortgeleitet bei Sinusitis. jjTherapie Zur Therapie werden Amphotericin B, ggf. in liposomaler Form, Azolderivate, wie Itraconazol und Voriconazol, sowie Echinocan­ dine, wie Caspofungin, eingesetzt. Bei der allergischen broncho­ pulmonalen Aspergillose werden Steroide und Bronchodilatatoren verwendet.

Candidiasis jjPathogenese Hefepilze der Gattung Candida sind ubiquitär verbreitet und gehören beim Gesunden zur Darm- und Hautflora. Erst bei Immunsuppression können verschiedene invasive Erkrankungen auftreten, die ohne Therapie letal verlaufen können.

16

jjKlinik Die erste Auseinandersetzung mit Hefepilzen, typischerweise­ C. albicans führt zur Windeldermatitis oder bzw. gleichzeitig zum oropharyngealen Soor. Klinisch eindrucksvoll sind die weißlichbeigen Beläge im Mund und Pharynx und die rötlichen, zunächst einzelnen, später konfluierenden Effloreszenzen mit Schuppung perianal, meist auch in der Genital- und Inguinalregion, die zudem noch Satelliteneffloreszenzen aufweisen. Die Diagnose wird meist klinisch gestellt und eine Therapie mit Miconazol eingeleitet. Die oropharyngeale Candidiasis bei Kindern mit zellulärem Immundefekt, Diabetes mellitus oder Antibiotikatherapie kann ­typische weißliche Beläge aufweisen oder aber auf eine Rötung beschränkt sein. Klinisch stehen Schmerzen und Schluckbeschwerden bzw. Kauunlust mit Nahrungsverweigerung im Vordergrund. Eine orale Therapie mit Miconazol kann versucht werden, bei ausgeprägter oder anhaltender Symptomatik kann eine systemische Therapie mit Fluconazol erforderlich werden. Die ösophageale Candidiasis führt ebenfalls zu ausgeprägten Schluckbeschwerden und Nahrungsverweigerung. Da in etwa 30% keine oropharyngealen Veränderungen nachweisbar sind, muss bei Verdacht eine Endoskopie durchgeführt werden. Diese erlaubt ­Abstriche und Biopsien, um andere Ätiologien nachzuweisen. Die Therapie wird mit Fluconazol, Itraconazol, Caspofungin oder Amphotericin B durchgeführt. Die disseminierte Candidiasis kann bei Neutropenie als akute oder chronische fieberhafte Erkrankung auftreten. Die Erste geht mit einer persistierenden Fungämie, multiplen kutanen und viszeralen Läsionen sowie einem sepsisartigem Krankheitsbild einher. Die chronische Form ist durch hepatolienale Pilzherde ohne nach­ weisbare Fungämie gekennzeichnet. Die Organherde werden sonographisch meist erst bei Wiederanstieg der Neutrophilenkonzentrationen sichtbar. Die Prognose ist eher günstig. Beide Erkrankungen werden mit Amphotericin B in Kombination mit Flucytosin oder Fluconazol behandelt. Endophthalmitis, Meningitis, Osteomyelitis, Arthritis, Endo­ karditis, Nephritis, urogenitale und vulvovaginale Candidiasis sind weitere mögliche, insbesondere bei Neutropenie beobachtete Organmanifestationen der Infektion mit Candida spp. jjDiagnose Die Diagnose wird über den mikroskopischen oder kulturellen Nachweis versucht. Verfahren zum Antigen-, Antikörper oder DNANachweis werden je nach Krankheitsbild und Untersuchungsmaterial mit unterschiedlichem Erfolg eingesetzt. jjTherapie Die Beseitigung des Immundefektes ist neben der Gabe von Amphotericin B, Flucytosin, Caspofungin oder Azolderivaten, wie ­Itra-,Vori- und Fluconazol, ein wesentlicher Bestandteil der erfolgreichen Therapie.

Pneumocystis-jirovecii-Infektion jjGrundlagen Der Erreger galt lange Zeit als Einzeller, musste jedoch aufgrund seiner DNA-Homologie den Pilzen zugeordnet werden. Da er keine ergosterolhaltige Zellmembran besitzt, wie bei Pilzen üblich, ist Amphotericin B in der Therapie unwirksam. Pneumocystis spp. sind bei vielen Tierarten nachgewiesen worden. DNA-Analysen und Tierexperimente zeigen, dass es sich um verschiedene Spezies handelt. Die humanpathogenen Pneumozysten, die früher als P. carinii f. s. humanus bezeichnet wurden, werden ihrem Entdecker­ O. Jirovec zu Ehren P. jirovecii genannt. Als Reservoir gilt insbeson-

390

R. Bialek und G. Dostal

16.14.2

..Abb. 16.8  Ungewöhnliche Manifestation einer bioptisch gesicherten Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie in Form eines linksseitigen hilusnahen Rundherds. Spontanpneumothorax rechts als typische Komplikation

dere und möglicherweise ausschließlich der Mensch. Es wird davon ausgegangen, dass es bereits im Säuglingsalter zu einer meist inapparenten Infektion kommt, die ausheilt – aber lebenslang bei Reinfektion und Immunsuppression zu einer Infektionskrankheit führen kann. Lebenszyklus, Ort der Persistenz und Übertragungswege sind noch immer ungeklärt. Die häufigste Manifestation ist die Pneumocystis-Pneumonie (PcP), die durch Husten, Belastungsdyspnoe und evtl. Fieber gekennzeichnet ist. Extrapulmonale Infektionen, z. B. Sinusitiden, kommen selten vor. Voraussetzung ist eine Störung der zellulären Immunität, die durch eine Therapie oder eine HIV-Infektion erworben oder wie beim Hyper-IgM-Syndrom angeboren sein kann.

16

j jDiagnose Die Diagnose wird über den mikroskopischen Nachweis mittels Giemsa-, Grocott-Färbung oder Immunfluoreszenz, oder sensitiver übder den Nacwheis spezifischer DNA mittels PCR aus der Bronchiallavageflüssigkeit gestellt. Das Röntgenbild kann eine typische, basal betonte streifige Zeichnung aufweisen, rundliche Infiltrate bieten oder komplett unauffällig sein (. Abb. 16.8). j jTherapie Die Therapie der Wahl ist Cotrimoxazol in einer Dosierung von 120 mg/kgKG/Tag für 21 Tage. Initial ist bei schwerem Krankheitsbild und zur Vermeidung allergischer Reaktionen eine Kombination mit Kortison sinnvoll. Alternativ zum Cotrimoxazol können Primaquin und Clindamycin, Pentamidin oder bei mäßig schwerem Krankheitsbild Atovaquon eingesetzt werden. Bei anhaltendem Immundefekt ist eine Prophylaxe mit Cotrimoxazol, 25 mg/kgKG als Einmaldosis an 3 Tagen der Woche durchzuführen. Alternativ kommen andere Sulfonamide oder Pyrimethamin in Betracht. Ein Pneumothorax als Komplikation der PcP wird insbeson­ dere bei Aids-Patienten beobachtet. Als Therapie kann neben konservativen Maßnahmen eine Pleurodese durch Instillation von Medikamenten, z. B. Tetrazykline, erforderlich werden.

Systemische Mykosen

jjGrundlagen Erreger systemischer Mykosen sind dimorphe Pilze, die bei Um­ gebungstemperaturen als Myzel wachsen und als Mikrokonidien bezeichnete Sporen ausbilden. Diese werden durch den Wind verbreitet und vom Wirt inhaliert. Die Lunge ist die natürliche Eintrittspforte fast aller dimorphen, humanpathogenen Pilzarten. Aufgrund der höheren Temperatur im Körper wachsen sie als Hefezellen. Sie verursachen beim Menschen Lungenerkrankungen und nach Dissemination Haut-, Knochen- sowie andere Organerkrankungen, aber auch generalisierte Erkrankungen bei Immunsuppression. Die Krankheitsbilder der verschiedenen Pilzarten ähneln sich, wenngleich die einzelnen Arten bevorzugte Organmanifestationen und bestimmte Endemiegebiete haben. Die systemischen Mykosen sind vor allem von der Tuberkulose abzugrenzen. Die vorwiegend in Nordamerika und Afrika endemischen Histoplasmose (Histoplasma capsulatum, H. duboisii) und Blastomykose (Blastomyces dermatitides), die in Kalifornien und Südamerika endemische Kokzidioidomykose (Coccidioides immitis, C. posadasii), die in Südamerika endemische Parakokzidioidomykose (Paracoccidioides brasiliensis) und die weltweit verbreitete Kryptokokkose (Cryptococcus neoformans) können asymptomatisch oder als spontan heilende Pneumonie verlaufen. Selten, aber insbesondere bei Kindern, auch ohne Immundefekt, kommt es zur generalisierten Erkrankung mit Hepatosplenomegalie und Lymphadenopathie. Durch Immunsuppressionen kann es wie bei der ­Tuberkulose zur Reaktivierung und Disseminierung kommen. ­Organmanifestationen betreffen die Haut und Knochen bei der ­Histo- und Blastomykose, die Meningen bei Kryptokokkose und Kokzidioidomykose sowie Haut und Schleimhäute bei der Parakokzidioidomykose. Auch die vorwiegend als kutane Infektion mit lymphogener Aussaat verlaufende Sporotrichose kann generalisieren. Deren Erreger Sporothrix schenckii zählt ebenfalls zu den dimorphen Pilzen. jjDiagnose Die Diagnose wird über den mikroskopischen, histologischen oder kulturellen Nachweis der Hefezellen gestellt. Verfahren zum Antigen-, Antikörper- oder DNA-Nachweis sind bis auf die Kryptokokkosediagnostik Speziallabors vorbehalten. jjTherapie Bei lebensbedrohlicher Infektion wird Amphotericin B, auch in ­liposomaler Form, eingesetzt, andernfalls, zur Fortsetzung der Therapie und zur Prophylaxe bei Immunsupprimierten Azolderivate, wie Fluconazol und Itraconazol. 16.15

Reisemedizin

R. Bialek Immer mehr Familien unternehmen Urlaubsreisen in tropische und subtropische Regionen oder leben dort berufsbedingt für längere Zeit. Nach Klärung der sog. Tropentauglichkeit sind spezielle ­ esundheitsrisiken und Vorsorgemaßnahmen zu erläutern. Es ist G davon auszugehen, dass ein gesundes Kind aus gemäßigten Klimazonen auch in den Tropen leben kann. Dennoch sollte Eltern vor Urlaubsreisen das Infektionsrisiko, die Belastungen durch erforderliche Impfungen, Chemoprophylaxe der Malaria, Zeitumstellungen und Flugreisen dargestellt werden.

391 Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin

!! Cave Die Weltgesundheitsorganisation rät von Urlaubsreisen mit Kindern unter 5 Jahren in Malaria-Endemiegebiete ab.

16.15.1

Vorsorgeuntersuchungen

Vor und nach Urlaubsreisen in tropische Länder sind bei gesunden Kindern generell keine Vorsorgeuntersuchungen erforderlich. >> Bei Erkrankungen nach dem Urlaub ist eine symptomorientierte Diagnostik unter Berücksichtigung möglicher Exposi­ tionen erforderlich.

16.15.2

Tropentauglichkeit

Im Rahmen von arbeitsbedingten Auslandsaufenthalten der gesamten Familie wird häufig eine Bescheinigung der sog. Tropentauglichkeit der mitreisenden Kinder verlangt. Auf der Grundlage der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbmedVV) gibt die Deutsche gesetzliche Unfallversicherung (http://publikationen. dguv.de/dguv/pdf/10002/240-350.pdf) Durchführungsempfehlungen ab (DGUV-Grundsatz G 35: Arbeitsaufenthalt im Ausland unter besonderen klimatischen und gesundheitlichen Belastungen), die eine Untersuchung vor einem mehr als dreimonatigen sowie nach einem mehr als einjährigen Auslandsaufenthalt vorsieht. Diese Untersuchungen werden zwar auch für die mitreisenden Kinder empfohlen, sind aber nicht mehr explizit erwähnt. Da der Abschluss des Arbeitsvertrags von der Tropentauglichkeit aller mitreisenden Familienmitglieder abhängig gemacht wird, trägt der Arbeitgeber häufig die Untersuchungs- und Impfkosten, jedoch ist er dazu nicht wie beim Arbeitnehmer verpflichtet. Die Frage nach der Tropentauglichkeit kann bei einem regelmäßig untersuchten, gesunden Kind ohne weitere Labordiagnostik bejaht werden. Einschränkungen der Tropentauglichkeit könnten sich bei Krampfleiden ergeben, da die Mehrzahl der zur Malariaprophylaxe verwendeten Präparate die Krampfbereitschaft erhöht. Da die Familien häufig in Großstädten ohne Malariarisiko leben, verhindert die Epilepsie eines Familienmitglieds nicht zwangsläufig den Arbeitsvertrag. Andere chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Nierenerkrankungen, Mukoviszidose und Immundefekte können aufgrund der notwendigen ärztlichen Überwachung oder der erhöhten Infektionsgefahr die Tropentauglichkeit einschränken. 16.15.3

Untersuchung nach Heimkehr

Nach dem Auslandsaufenthalt sollte eine ausführliche Anamnese zu den Aufenthaltsorten, den damit verbundenen Expositionen, zu ­Erkrankungen während des Aufenthaltes und dem aktuellem Impfstatus erhoben werden. Eine ausführliche körperliche Unter­ suchung ist erforderlich und ggf. mit einer anstehenden Vorsorgeuntersuchung zu kombinieren. Zum Ausschluss von Gesundheitsstörungen wird die folgende Labordiagnostik empfohlen: Blutbild, BSG, γ-GT, GPT, Blutglukose und Kreatinin. In Abhängigkeit von der Anamnese können immundiagnostische Tests bezüglich invasiver Nematoden- und Trematodeninfektionen, insbesondere einer Schistosomiasis, HIV-Infektionen, Lues, Hepatitis A und B erforderlich sein. Zusätzlich sollten 3 Stuhlproben parasitologisch untersucht und ein Urinstatus erhoben werden. Ergeben sich aufgrund der Anamnese und Untersuchungsergebnisse Hinweise auf weitere

Erkrankungen sind weitere Untersuchungen im Ermessen des Arztes, ggf. in Rücksprache mit dem Unternehmen zwecks Kostenübernahme, durchzuführen. Die Familie ist auf die Möglichkeit von Spätsymptomen hinzuweisen. 16.15.4

Malariaprophylaxe

>> Die Malariavorbeugung besteht aus der Chemoprophylaxe, die vor dem Ausbruch der Malaria schützt und der Expositionsprophylaxe, die vor einer Plasmodieninfektion schützt. Sie sind daher keine Alternativen sondern sich ergänzende Maßnahmen.

jjExpositionsprophylaxe Da die weiblichen Anophelesmücken das menschliche Hämoglobin ausschließlich für ihre Nachkommenschaft benötigen und für die Larvenentwicklung Wasser erforderlich ist, stechen die Mücken insbesondere während und nach Regenzeiten. Zu diesen Jahreszeiten besteht daher das höchste Malariarisiko. Da die Anophelesmücke dämmerungs- und nachtaktiv ist, schützen körperbedeckende Kleidung ab den Abendstunden und Bettnetze vor Stichen. Insektizide, vornehmlich Pyrethroide, werden als Sprays mit geringer Wirkdauer oder besser als sog. „moscito-coils“ verwendet. Letztere verdampfen langsam über Nacht. Da sie häufig Nebenprodukte, wie Schwermetalle, Phenole und Kresole in unterschiedlicher Menge beinhalten, können sie zu Reizungen der Atemwege führen. Auf den Philippinen z. B. steigert die regelmäßige Anwendung das Asthmarisiko für Kinder vergleichbar mit der Anwesenheit eines rauchenden Erwachsenen im Haushalt. Auf die Haut aufzutragende Repellents beinhalten als Wirkstoff Picaridin (Bayrepel), DEET (N,N-diethyl-3-methylbenzamid) oder Naturöle. Im Zusammenhang mit DEET wurden in 40 Jahren Anwendung etwa ein Dutzend Fälle von Enzephalopathien beschrieben. Intoxikationen treten bei Ingestion oder Injektion auf, hervorgerufen durch die zur Lösung des DEET erforderlichen Alkohole. Bei Kleinkindern sollten daher vorsorglich Körperteile, die abgeleckt werden könnten, nicht oder nicht zu häufig eingerieben werden. Naturöle haben eine geringere Wirksamkeitsdauer und eine vergleichbare Toxizität bei Ingestion. jjChemoprophylaxe Das Ziel der kontinuierlichen Chemoprophylaxe ist es durch eine ausreichende Wirkstoffkonzentration das Auftreten einer Malaria während des Aufenthalts im Endemiegebiet zu verhindern – sie schützt nicht wie die Expositionsprophylaxe vor einer Infektion. Die Chemoprophylaxe wird in Abhängigkeit vom Endemiegebiet durchgeführt. In Anbetracht der Änderungen von Resistenzen und Zulassungen von Medikamenten wird auf die jährlich aktualisierten Empfehlungen der DTG verwiesen (www.dtg.org). jjNotfallmedikation Ist das Risiko einer Malaria geringer als das Auftreten von Nebenwirkungen einer kontinuierlichen Chemoprophylaxe, dann wird wie bei Erwachsenen eine Notfallmedikation, die sog. Stand-by-Medikation empfohlen. Sie entspricht der sonst üblichen oralen Malariatherapie. Die Einnahme der Notfallmedikation wird empfohlen, wenn typische Symptome einer Malaria, wie Schüttelfrost, Fieber, Nackenund Kopfschmerzen auftreten und innerhalb von 24 h kein Arzt erreichbar ist, der eine Diagnose stellen kann. Der Beginn der Malariatherapie ersetzt aber nicht den Arztbesuch, damit die Therapie

16

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R. Bialek und G. Dostal

anderer in Betracht kommender Erkrankungen, wie etwa einer ­Meningitis, nicht verzögert wird. !! Cave Bei Fieber nach Tropenaufenthalt müssen eine Malaria, eine invasive Amöbiasis und ein Typhus abdominalis als Erstes ­differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden, da diese Erkrankungen unbehandelt schnell tödlich verlaufen können.

16.15.5

Unfälle durch Gifttiere in Reiseländern

G. Dostal Urlaub wird in den entlegensten Winkeln der Erde gemacht. Oft sind dies Rückzugsorte und Lebensräume für viele Gifttiere, wie Schlangen, Spinnen, Skorpione etc. In Unkenntnis über deren Existenz und Lebensgewohnheiten kann es unbeabsichtigt zu Kontakt mit diesen Tieren kommen. Es wird ein Überblick über die relevanten Gifttiere, über die Wirkung der Gifte, die Symptome, die möglichen ErsteHilfe-Maßnahmen und die weitere Therapie gegeben.

Schlangen Das Gift der Schlangen mit seinen verschiedenen Funktionen dient dem Erlegen von Beutetieren. Die Schlangengifte wirken schnell und führen auch beim Menschen zu Vergiftungssymptomen. Bei den giftigen Schlangen unterscheidet man zwischen Elapiden (z. B. Kobra, Korallenschlagen, Taipan) und Viperiden (z. B. Kreuzotter, Klapperschlange, Hornviper). Die Gifte dieser Schlangenfamilien haben unterschiedliche Zusammensetzungen, damit verschiedene Eigenschaften und erfordern unterschiedliche Therapiemaßnahmen. Nicht alle Bisse führen zu einer Vergiftung. Abwehrbisse sind häufig Trockenbisse. Der relativ langsame Verlauf bei einer tatsächlichen Vergiftung (Stunden bei Elapidenbissen und Tage bei Vipernbissen bis zum Symptombeginn), die Effizienz der Notfallmedizin und die verfügbaren Antiseren, sorgen in ernsten Fällen für gute Überlebenschancen.

16

>> Gutes Schuhwerk und die Beine schützende Kleidung (weite lange Hosen) sind bei Gefährdung durch Schlangen auf jeden Fall sinnvoll.

Leichtsinniges Einfangen oder Spielen mit den Tieren soll in jedem Fall unterbleiben. Eine Tetanusimmunisierung sollte vor Reiseantritt gewährleistet sein. Der Vollständigkeit halber sei noch die Schlangenfamilie der Nattern (Colubriden) erwähnt, deren Arten zum größten Teil zwar ungiftig sind, mit Ausnahme der sog. Trugnattern. Die gefährlichste Art ist hier die afrikanische Baumschlange (Boomslang). Ihr Gift ist hämatotoxisch, aber aufgrund ihres überwiegenden Aufenthalts im Kronenbereich der Bäume und ihrer Scheu sind sie medizinisch nicht relevant. In Afrika sind Erdvipern anzutreffen, deren Gift gefäßaktive Peptide enthält. Diese Atractaspis-Arten haben Zähne, die seitlich aus dem geschlossenen Maul herausgeklappt werden können. Fünf Minuten nach einem Biss können sich starke Symptome bis hin zu Kreislaufproblemen entwickeln, die dringend ärztlicher Behandlung bedürfen. kkElapiden Die Elapiden (Giftnattern) sind in tropischen und subtropischen Breitengraden zu Hause. Zu ihnen zählen sehr giftige Schlangen, wie

Mamba, Kobra, Krait, Korallenschlange sowie Seeschlangen, die v. a. im Indopazifik vorkommen. In Europa gibt es in zoologischen ­Gärten und bei privaten Haltern Elapiden. jjVorkommen Die Kobras (Naja spp. und weitere) sind mit ihren verschiedenen Arten in ganz Afrika und im südlichen Asien bis China verbreitet. Es sind in der Regel große und kräftige Schlangen. Sie schüchtern ihre Feinde ein, indem sie den Kopf hoch aufrichten und ihren­ Hals zu einem Schild auseinanderspreizen. Die Königskobra ist die größte Giftschlange. Sie wird bis zu 6 m lang und kann ihren Kopf bis 1,3 m über den Boden heben. Die Mambas (Dendroaspis spp.) treten nur in Afrika südlich der Sahara, in Ostafrika entlang der Küste bis Südafrika und in Westafrika auf. Sie leben überwiegend in Zweigen von Bäumen und Sträuchern trockener Savannen und Bergwälder. Werden sie von einem Menschen erschreckt, versuchen sie ihn zu vertreiben, indem sie mit offenem Maul drohen. Es gilt Ruhe zu bewahren, bis sich das Tier zurückgezogen hat, denn provoziert durch Bewegung können sie zubeißen. Dies erfolgt dann ins Gesicht oder in den Oberkörper und führt u. U. zu einem letalen Ausgang. Die Tiere sind je nach Art entweder einfarbig grün (Dendroaspis angusticeps, D. viridis, D. jamesoni) oder grau bis oliv (Dendroaspis polylepis). Letztere ist als Schwarze Mamba bekannt. Kraits (Bungarus spp.) sind im tropischen Südostasien mit Ausnahme der Philippinen verbreitet. Sie verursachen jährlich zahlreiche Todesfälle. Die Tiere sind bodenlebend und bevorzugen lichte Wälder, buschiges Gelände und Reisfelder. Bissunfälle geschehen v. a. in der Dämmerung und nachts, wenn auf die zu dieser Zeit aktiven Tiere versehentlich getreten wird. Häufig erfolgt der Biss auch im Schlaf, wenn die Tiere nachts in die Häuser kommen. Wie für Elapiden typisch, wird der Biss dabei oft nicht bemerkt. Ein Biss der Korallenschlange (Micrurus spp.), die im tropischen und subtropischen Amerika vorkommt, kann innerhalb von 24 h tödlich ver­ laufen. Der australische Taipan zählt zu den gefährlichsten Schlangen. Sein Gift hat die höchste Toxizität (LD50 beträgt 0,025 mg/kg) unter den Schlangen. Er beißt nur zu, wenn er sich bedroht fühlt. Die Mortalitätsrate liegt bei vier Todesfällen im Jahr. Weitere Elapiden in Australien sind Todesotter, Tigerschlange, Schwarzotter, Mulga­ schlange und Braunschlange. >> Letale Verläufe ereignen sich in 3% der Bisse mit Todeseintritt nach 2,5–24 h.

80% der Bisse sind harmlos. Sind nach 12 h noch keine Symptome aufgetreten, wie z. B. Lähmung, Muskelschmerz und Myolyse, so ist keine Gefährdung mehr zu erwarten. jjGiftzusammensetzung und -wirkung Das Gift der Elapiden besteht aus einer Anzahl von Neurotoxinen. Diese sind u. a. Phospholipasen A2 (Enzyme), die Phospholipide in unterschiedlicher Zusammensetzung hydrolysieren. Sie greifen an der prä- und postsynaptischen Membran der Nervenendplatte an und bewirken eine neuromuskuläre Blockade. Dies führt u. a. zu einer Lähmung der Muskulatur. Daneben besitzt das Gift myotoxische und hämatotoxische Eigenschaften. Die Myotoxine greifen ­direkt an der quergestreiften Muskulatur an und lösen diese im ­Sinne einer Vorverdauung auf. Die Hämatotoxine bewirken hin­ gegen eine Störung des Gerinnungssystems bis hin zur Verbrauchskoagulopathie. Das Gift der Speikobras enthält einen besonders hohen Anteil gewebezerstörender Substanzen, die bei Augenkontakt zur Erblindung führen können.

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jjKlinik Häufig wird der Biss nicht bemerkt, lokale Reaktionen, wie Schmerz und Schwellung fehlen, und Bissmarken sind schwer zu entdecken. 5–15 Minuten nach Biss treten die ersten Symptome wie Benommenheit, Übelkeit und Erbrechen auf. Darauf folgen Kopfschmerzen, druckschmerzhafte Lymphknoten in der Umgebung der Bissstelle sowie Bauchschmerzen. Zudem ist v. a. bei Kindern mit plötzlicher Bewusstlosigkeit und Krämpfen, bis zu 15 Minuten anhaltend, zu rechnen. Ohne adäquate Erstversorgung folgen Lähmungserscheinungen, die sich durch Doppeltsehen, schwere Zunge, Artikulationsschwierigkeiten, Ptosis, starrer Blick, Schluck- und Atembeschwerden bemerkbar machen. Die Lähmung der Atemmuskulatur führt dann meist zum Tod. Bei den Krait-Arten kann dieser Ablauf deutlich verzögert sein. Nach teilweise mehreren Stunden Symptomfreiheit treten sehr rasch heftigste Beschwerden auf. Das Gift vieler Elapiden enthält einen Prothrombinaktivator, der die Umwandlung von Prothrombin in Thrombin katalysiert und rasch zu einer Verbrauchskoagulopathie führt. Die Störung der Blutgerinnung zeigt sich in unstillbaren Blutungen aus Wunden und Zahnfleisch und als Nasenbluten. Es kann auch zu Bluterbrechen und blutigem Urin kommen. Plötzliche Krämpfe und Bewusstlosigkeit können die Folge von intrazerebralen Blutungen sein. Braunschwarzer Urin ist auf ausgeschiedenes Hämoglobin zurückzuführen. Muskelschwäche kann einerseits durch die oben beschriebene Lähmung, aber auch durch die Myotoxine, d. h. die Zerstörung von Muskelfasern bedingt sein. Mit dem Nachweis von Kalium und ­Kreatinkinase als Indikator kann die Myolyse überprüft werden. Freies Myoglobin schädigt die Tubuluszellen der Nieren, was ein Nierenversagen zur Folge haben kann.

kkViperiden Die Viperiden sind über alle Kontinente, mit Ausnahme Australiens, verbreitet. Die gefährlichsten Vertreter dieser Schlangenfamilie sind die Sandrasselottern (Echis spp.) und die Puffottern (Bitis spp.), die in Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten vorkommen. Weitere bekannte und auch sehr gefährliche Vertreter dieser Familie sind die Klapperschlangen (Amerika), die Hornvipern (Nordafrika und mittlerer Osten) und im südlichen Asien die Kettenviper. Der Biss der europäischen Vipern (z. B. Kreuzotter, Aspisviper) erscheint im Vergleich zu diesen relativ harmlos.

jjVorkommen Die europäischen Giftschlangen zählen alle zu den Viperiden. Nach Kreuzotterbissen können beim Menschen durchaus ernsthafte Komplikationen, wie z. B. chronisches Lymphödem und langanhaltende Sensibilitätsstörungen in der betroffenen Extremität auftreten. Die sehr seltenen Todesfälle treten bei Kindern auf. Die Aspisviper (Vipera aspis), die Sandviper (Vipera ammodytes), die Stülpnasenotter (Vipera latasti), die Levanteotter (Macrovipera lebetina), die Palästinaviper (Vipera palestinae), die Wiesenotter (Vipera ursinii), die Kleinasiatische Bergotter (Vipera xanthina) können teilweise stärkere Reaktionen als die Kreuzotter auslösen, sind aber in Symptomen und Therapie gleich. Afrika, die arabische Halbinsel und der Mittlere Osten be­ heimaten eine Reihe sehr gefährlicher Vipernarten. Die Hornvipern (Cerastes spp.), die bis Pakistan verbreitet sind, werden ca. 70 cm lang. Ihr Lebensraum sind trockene, steinige Gebiete. Die Sandrasselottern (Echis spp.) in Indien und Sri Lanka verbreitet, werden 50–80 cm lang. In Afrika gelten sie als die gefährlichsten Schlangen. Sie leben bevorzugt in trockenen Regionen und auch in landwirtschaftlich genutzten Gebieten. Gefährdet sind bei diesen Schlangen jjTherapie hauptsächlich auf den Feldern arbeitende Personen. Sowohl die Nach erfolgtem Biss ist körperliche Schonung einzuhalten. Bis zum Hornvipern als auch die Sandrasselottern können mit den stark geEintreffen des Rettungsdienstes kann ein Immobilisations-­ kielten Schuppen ein rasselndes Geräusch erzeugen. Kompressions-Verband proximal der Bissstelle angelegt werden. Die Puffottern (Bitis spp.), die sich bei Bedrohung aufblasen und Dadurch soll der Vergiftungsverlauf bis zum Eintreffen ärztlicher zischend die Luft ausstoßen, gehören zu den größten Vipern Afrikas. Hilfe und bis zur Antiserumgabe verzögert werden. Bei den­ Sie erreichen eine Länge von 1,5 m, haben einen kräftigen Körper Giften der Elapiden ist diese Methode probat, da sie kaum lokale (bis zu 30 cm Umfang) und können blitzschnell zubeißen. Sie leben Reak­tionen (Ödem) hervorrufen. Die Bissstelle sollte nicht ge­ je nach Art in Trockengebieten, Flussniederungen, im Gebirge reinigt  werden, da Giftspuren auf der Haut eine Identifizierung der ­(gewöhnliche Puffotter) und in den Wäldern West-, Zentral- und ­Schlange ermöglichen können. Auf die Vitalparameter ist zu achten Ostafrikas (Gabunviper, Nashornviper). und rechtzeitig mit einer Beatmung zu beginnen, v. a. wenn AnzeiDie Kettenviper (Daboia russelli), die als die gefährlichste chen einer beginnenden Lähmung der Atemmuskulatur erkennbar Schlange Asiens gilt, ist verbreitet auf den indischen Subkontinent, sind. Myanmar, Thailand, Südchina, Taiwan und vereinzelt in Indonesien. Jeder Elapidenbiss ist in den ersten 4–12 h als potenziell lebensKlapperschlangen (Crotalus spp.), Zwergklapperschlangen bedrohlich zu betrachten. Sind nach 12–24 h noch keine Symptome (Sistrurus spp.), Mokassinschlangen und Kupferköpfe (Agkistroaufgetreten, wie z. B. verlängerte Prothrombinzeit, erhöhte Kreatin- don spp.) sind v. a. in Nord- und Zentralamerika verbreitet. Sie bekinasewerte, Lähmungserscheinungen (starrer Gesichtsausdruck), vorzugen trockene steinige Gebiete und ziehen sich in Steinspalten brauner Urin und Muskelschmerzen, kann ein Patient entlassen und Höhlen zurück. Ihre Bisse können sehr gefährlich werden und werden. Kommt es aber zu Symptomen, die rasch fortschreiten, ist tödlichen Ausgang haben. die Gabe eines Antiserums angezeigt. In Australien steht zur Identifizierung der Schlange ein „Venom Detection Kit“ zur Verfügung, jjGiftzusammensetzung und -wirkung das Giftspuren an der Bissstelle, in Blut und Urin nachweisen kann. Das Gift der Vipern enthält Hämato- und Neurotoxine. Bei der WirDies ermöglicht die korrekte Gabe eines monovalenten Antiserums. kung des Gifts steht die Hämatotoxizität im Vordergrund. Das Gift In schweren Fällen werden mehrere Ampullen benötigt. Ist der enthält in hoher Aktivität Gerinnungsenzyme, die Einfluss auf die ­Patient mit einem Immobilisations-Kompressions-Verband vor­ Blutgerinnung nehmen. Als thrombinähnliche Enzyme spalten sie versorgt, so soll dieser erst nach der i.v.-Antiserumgabe entfernt von Fibrinogen ein Peptid ab und bewirken die Polymerisation zum werden. Die chirurgische Versorgung eines Kompartmentsyndroms Fibrin. Andere Enzyme aktivieren Faktor V und X und führen zur wird nötig bei Fällen, die verspätet einer medizinischen Behandlung Gerinnung des Blutes. Als Reaktion auf die vermehrte Fibrinbildung zugeführt werden. Nekrotisches Gewebe sollte erst nach Tagen ab- wird das körpereigene fibrinolytische System aktiviert und die sich getragen werden. 8–10 Tage nach Gabe eines Antiserums kann eine bildenden Gerinnsel werden umgehend aufgelöst. Dadurch wird allergische Reaktion (Serumkrankheit) auftreten. ­Fibrinogen aufgebraucht, es resultiert daraus eine Verbrauchskoagu-

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lopathie und eine unstillbaren Blutung aus den Wunden oder ins Gewebe. Fibrinogenasen führen zu einem Fibrinogenverbrauch. Die hochspezifischen Proteasen im Schlangengift provozieren zusätzlich Blutungen ins Gewebe, indem sie durch Hydrolyse die Basalmembran der Gefäßwände in den Kapillaren für Erythrozyten durchlässig werden lassen. Die Gabe von Antiserum ist die einzig wirksame Maßnahme, um diese Reaktionen zu stoppen. Disintegrine fördern ebenso die Blutung ins umliegende Gewebe, da sie verhindern, dass Blutplättchen die Löcher in den Kapillaren verschließen. Kininogenasen setzen Bradykinin frei, das einen raschen Blutdruckabfall bewirkt. Das Schlangengift der Viperiden enthält ein hochkonzentriertes Verdauungssekret, das Symptome wie Einblutungen, Aufplatzen der Haut sowie eine Auflösung der Muskulatur bewirkt.

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j jKlinik Ist 1–2 h nach Biss keine Schwellung um die Bissstelle zu erkennen, so ist entweder kein Gift appliziert worden (Trockenbiss), oder es handelt sich dabei um den Biss einer ungiftigen Schlange. Lokal zu sehen sind zwei symmetrische ca. 1 cm voneinander entfernte Bissstellen. Ein initialer Schmerz wird nicht immer bemerkt, ist er allerdings vorhanden, so hält er Minuten an. Ein Ödem tritt in der Regel rasch auf und erreicht sein Maximum am dritten Tag. Die Schwellung an der Bissstelle kann im weiteren Verlauf eine hämorrhagische Verfärbung annehmen, die in eine lokale Nekrose unterschiedlicher Größe übergehen kann. Die gesamte betroffene Extremität kann bis zum Rumpf anschwellen, einschließlich einer schmerzhaften Lymphknotenschwellung, Lymphangitis, Parästhesien, Thrombo­ phlebitis und Nekrosen an der Bissstelle. Als Folge der Gerinnungs­ störung treten Proteinurie und Hämaturie auf. Bei den gefährlicheren Viperiden, wie z. B. der Klapperschlange, kann sich mitunter ein Kompartmentsyndrom entwickeln, während dies bei den europäischen Vipern, wie z. B. der Kreuzotter, sehr selten ist. An Allgemeinsymptomen können Übelkeit, Erbrechen, Diarrhöen, Bauchschmerzen und Schweißausbrüche beobachtet werden. Die systemische Giftwirkung im Herz-Kreislauf-System manifestiert sich in Form von Tachykardie, Hypotonie, Schock und Dyspnoe. Bei Kindern kann ein hypovolämischer Schock auftreten. Manche Patienten reagieren zudem allergisch auf Schlangengifte, was zu Bronchospasmus oder Quincke-Ödem führen kann. Als Spätfolge eines Vipernbisses kann es zu einer über Wochen persistierenden venösen Insuffizienz mit Schwellung und Verfärbung der betroffenen Extremität kommen. Eine hämorrhagische Diathese mit Thrombozytopenie oder eine Hämolyse wird bei den europäischen Arten selten beobachtet. Bei Bissen durch Echis- und Bitis-Spezies werden Somnolenz, Schwindel, Arrhythmien, Krampfanfälle, Hirnnervenausfälle und Paräs­thesien beobachtet. Nach Daboia-Biss führt eine Aktivierung des ReninAngiotensin-Systems zur Ischämie und Funktionsstörung der Niere. Bei Echis-Bissen zeigen sich unstillbare Blutungen aus Biss­ wunde und Schleimhäuten. Lokale hämorrhagische Reaktionen mit der Folge von Gewebsnekrosen werden auch durch eine optimal durchgeführte Antiserumtherapie nicht entscheidend beeinflusst. Eine lokale Applikation um die Bissstelle bleibt erfolglos. Expe­ rimentelle Befunde bestätigen, dass erste Schäden schon wenige ­Minuten nach einem Echis-Biss eintreten und in der Folge kaum mehr zu beeinflussen sind. j jTherapie !! Cave Der Patient soll sich nach dem Schlangenbiss möglichst ruhig verhalten. Die betroffene Extremität soll nicht bewegt werden, um die Verteilung des Gifts im Körper zu verlangsamen.

Eine Manipulation der Bissstelle durch Aussaugen, Ausschneiden bzw. Ausbrennen sollte unterbleiben, da Gefahr einer Superinfektion besteht oder das Gift rascher in ein größeres Blutgefäß gelangen kann. Am besten lässt man den Patienten vor Ort vom Rettungsdienst abholen. Eine milde Sedierung durch Benzodiazepine und eine Analgesie ist sinnvoll. Eine stationäre Überwachung ist nach jedem Vipernbiss angezeigt. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche. Tritt innerhalb von 8 h keine Schwellung oder sonstige lokale Reaktion auf, kann der Patient entlassen werden. Bei Symptomen muss der Patient mindestens 24 h in der Klinik verbleiben. Eine Schwellung kann über einen Zeitraum von 3 Tagen zunehmen. Tritt eine rasch zunehmende Schwellung der gesamten Extremität auf, ist rechtzeitig mit der Gabe eines Antiserums zu beginnen, um ein mögliches Kompartmentsyndrom zu verhindern. Wegen der besseren Verträglichkeit sollte bei den europäischen Vipern bevorzugt ein Antiserum mit antigenbindenden Fragment mit Antikörper verabreicht werden.

Skorpione Die Skorpione zählen zu der Klasse der Spinnentiere. Es gibt­ ca. 1.500 Skorpionarten, von denen etwa 20–25 Arten, die zu der Familie der Buthiden zählen, in der Lage sind genügend Gift zu produzieren, um beim Menschen ernsthafte Beschwerden zu verursachen. Die meisten Skorpione können nur leichte lokale Reaktionen hervorrufen. Ernsthafte Unfälle durch Skorpionstiche, auch mit Todesfolge, ereignen sich im Nahen Osten, in Indien, in Nord-, Zentral- und Südafrika und in Amerika in Brasilien, Mexiko und in den Süd­ staaten der USA. Zu Stichen kommt es, wenn sich die Tiere bedroht fühlen. Skorpione sind nachtaktiv und begeben sich gerne in abgelegte Schuhe oder Kleidung. >> In den genannten Regionen sind vor dem Anziehen Schuhe und Kleidung zu untersuchen oder kräftig auszuschütteln.

Tagsüber vergraben sie sich im Sand und sind mit einer dünnen Schicht Sand bedeckt. Mit nackten Füßen laufen kann hier gefährlich werden, festes Schuhwerk ist bei Safaris und Wanderungen unerlässlich. jjVorkommen Buthus occitanus (Feldskorpion) in Europa verursacht bei Stich

leichte lokale Symptome, vergleichbar einem Wespenstich. In Afrika, Naher und Mittlerer Osten können sich Stiche von Mesobuthus, Androctonus, Leiurus quinquestriatus und Parabuthus ereignen. In Asien können Mesobuthus und Buthus angetroffen werden. Die Centruroiden und Tityiden sind in Amerika vom 40. nördlichen Breitengrad (südliche USA) bis zum Äquator verbreitet. ­Todesfälle ereignen sich zwischen April bis Juli. Weniger als 1% aller Stichunfälle verlaufen tödlich und dies ausschließlich bei Kindern, die erst 3 h oder später nach einem Stich ärztlich versorgt werden. jjGiftzusammensetzung und -wirkung Das Gift der Skorpione ist ein Gemisch lokal wirksamer Polypeptidtoxine mit kardio- und neurotoxischen Eigenschaften. Der Hauptangriffspunkt ist der Natriumkanal. Die Interaktionen weiterer Giftkomponenten verursachen eine Ausschüttung von Katecholaminen und Acetylcholin. jjKlinik Die Freisetzung von Acetylcholin führt zu Hypotonie, Erbrechen, Speichelfluss, Schweißausbruch, Bradykardie und Priapismus. Die

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Katecholaminfreisetzung verursacht Hypertonie, Tachykardie und Hyperglykämie. Kinder unter 10 Jahren werden häufiger gestochen und zeigen ein heftiges Beschwerdebild. Der Schweregrad der Vergiftung hängt auch von Skorpionart, Alter und Größe des Tieres ab. Oft ergeben sich nur lokale Reaktionen in Form von Parästhesien und Schmerzen um die Stichstelle. Im EKG können Ischämiezeichen sichtbar werden. Labor-chemisch kann ein erhöhtes C-reaktives Protein, Troponin T und CKMB vorliegen. Bei Kindern fällt Ruhelosigkeit und Hyperaktivität auf. jjTherapie Nach einem Stich muss die betroffene Extremität ruhig gestellt und der Patient beruhigt werden. Erwachsene mit leichten Symptomen und Kinder sollen auf jeden Fall 24 h stationär überwacht werden. Bei erstem Auftreten von systemischen Beschwerden sollte ein ­Antiserum rasch gegeben werden, da das Antiserum bereits ein­ getretene Symptome nicht mehr beeinflussen kann.

Spinnen Spinnen sind Räuber und ihre großen Kieferwerkzeuge (Chelizeren) dienen zum Ergreifen der Beutetiere. Die Chelizeren enden mit einer Klaue, an deren Spitze Gift austritt. Sie immobilisieren und töten damit ihre Beute. Die wenigsten sind in der Lage, mit ihren Chelizeren die menschliche Haut zu durchdringen. In manchen ­Regionen stellen Spinnenbisse ein schmerzhaftes und gefährliches Ereignis dar. Nach Bissen der australischen Trichternetzspinne („funnel-web spider“, lat.: Atrax spp.) treten gelegentlich Todesfälle auf. Die Wolfsspinnen (z. B. die Tarantel) und die Vogelspinnen werden als relativ harmlos eingestuft, da ihre Bisse Symptome vom Schweregrad eines Bienenstichs hervorrufen können. jjGiftzusammensetzung und -wirkung Das Spinnengift ist eine komplexe Mischung aus toxischen Peptiden und Proteinen. Von einer Spinne zur anderen besteht ein großer Unterschied bezüglich der Toxizität. Einige Spinnengifte enthalten starke Neurotoxine, die eine kontinuierliche Stimulation der Muskulatur und der Schmerzrezeptoren bewirken. Das Gift mancher Gattungen enthält starke Nekrotoxine und hämolytisch wirksame Substanzen. kkEchte Witwen (Latrodectus spp.) Vertreter der Echten Witwen finden sich auf allen Kontinenten zwischen 50º Nord und 45º Süd. Von den ca. 50 Arten sind neun von medizinischer Bedeutung. Diese Spinnen sind von Natur aus nicht aggressiv, beißen aber, sobald sie sich bedroht fühlen. Die ersten Symptome stellen sich dann nach 10–15 Minuten ein. Eine statio­ näre Beobachtung v. a. bei Kindern ist angezeigt. Treten systemische Beschwerden auf, ist an eine Antiserumgabe zu denken. Bekannte Vertreter sind, die Schwarze Witwe (Latrodectus ­mactans) in den USA, Mexiko, Mittel- und Südamerika, die Redback spider (Latrodectus hasselti) in Australien und Indien, die L­ atrodectus tredecimguttatus (Malmignatte bzw. Karakurte) in Südeuropa rund ums Mittelmeer, auf den atlantischen Inseln, in Südosteuropa, Nordafrika, Klein- und Zentralasien und in großen Teilen Afrikas und Asiens. Die Braune Witwe (Latrodectus geo­ metricus) ist weltweit verbreitet. jjKlinik Der Biss wird kaum wahrgenommen und führt zu einer lokalen ­Reaktion. Nach 10 Minuten setzt ein Schmerz ein, der sich über den ganzen Körper ausdehnen kann. In schweren Fällen treten Muskel-

krämpfe, Hypertonie und Ruhelosigkeit auf. Das Gesicht ist gerötet und durch Grimassen verzerrt (Facies latrodectissima). jjTherapie Die Behandlung des Spinnenbisses hängt von der Schwere der Symptome ab. Sind die Patienten nach 6 h stationärer Beobachtung ohne Symptome, können sie entlassen werden. Treten Symptome auf, ist meist eine Behandlung mit Analgetika und Benzodiazepine im Vordergrund. Die meisten Bisse verlaufen schmerzhaft, bleiben aber komplikationslos und klingen innerhalb von 12 h ab. Die Indikation für das Latrodectus-Antiserum ist gegeben, wenn die symptomatische Behandlung von Hypertonie und Schmerzes nicht ausreichend ist. kkSpeispinnen (Loxosceles spp.) jjVorkommen Speispinnen sind in Nord, Zentral- und Südamerika heimisch. Loxos­celes reclusa kommt in den zentralen und südlichen Staaten der USA und in Teilen Mexikos vor. Die Loxosceles laeta ist in unzusammenhängenden begrenzten Gebieten über ganz Südamerika verteilt. Sie sind die giftigsten Vertreter ihrer Gattung. Ihr Gift hat nekrotoxische und hämolytische Komponenten und ruft neben ausgedehnten, lokalen Hautnekrosen auch systemische Reaktionen wie hämolytische Anämie, mit Hämoglobinurie und Hämaturie, sowie nachfolgendem Nierenversagen hervor. Es wird von Fällen berichtet, bei denen die Spinnen sich in ­Kleider verkrochen hatten und es beim Anziehen zu Bissen kam. Die Tiere halten sich gerne in dunklen Ecken und trockenen Abflussrohren von Duschen und Waschbecken auf. Nach einem Biss der Loxosceles werden erst Stunden später Symptome bemerkt. Von Amerika wurden sie nach Australien, Asien und Afrika verschleppt. Die im Mittelmeerraum heimisch vorkommende Loxosceles rufescens gilt als harmlos. Allerdings wird aus Israel von Bissen dieser Art berichtet, die mit nekrotischen Hautveränderungen einher gingen. jjKlinik Die Reaktionen auf einen Biss der medizinisch relevanten amerikanischen Arten können in drei Schweregrade eingeteilt werden: 44 Wird nur wenig Gift injiziert, tritt um die Bissstelle eine kleine erythematöse Papel, verbunden mit einer urtikariellen Reak­ tion, auf. 44 Nach einem zunächst trivial wirkenden Biss, tritt nach 2–8 h Blasenbildung, lokale Blutung und Ulzerationen auf. Es ent­ wickelt sich eine violette Nekrose umgeben von einer ischämischen Blässe mit einem äußeren Erythem. Wenn Fettgewebe betroffen ist, entwickelt sich eine ausgeprägte Narbe. Die Patienten leiden an Brechreiz, Kopfschmerzen, Benommenheit, verschwommenes Sehen und Gelenkschmerzen. 44 Eine systemische Manifestation mit Fieber, generalisierten Ödemen, Arthralgie, petechiale Blutungen, Rhabdomyolyse, Gerinnungsstörungen (speziell DIC) und Nierenversagen hat bei Kindern zu Todesfällen geführt. jjTherapie Bei Grad 1 bedarf es einer symptomatischen Behandlung mit Abklärung des Tetanusstatus. Bei Grad 2 ist eine allgemeine Wundversorgung und symptomatische Therapie angezeigt. Zur Behandlung systemischer Symptome (Grad 3) steht ein Antiserum zur Verfügung.

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k kSackspinnen (Cheiracanthium spp.) j jVorkommen Sackspinnen kommen weltweit in 150 Arten vor, die ein unterschiedliches Beschwerdebild auslösen können. Auch aus Asien (östlich des Kaspischen Meeres, China, Korea und Japan) und den USA (Neuengland und Hawaii) wird von Fällen berichtet. Sie verstecken sich in den Kleidern und beißen sofort, wenn sie sich gestört fühlen. Die meisten Zwischenfälle ereignen sich während des Schlafs oder beim Anziehen. Die Dornfingerspinne (C. punctorium) ist in Europa neben der schwarzen Witwe die einzige Spinne, die für Vergiftungen beim Menschen in Frage kommt.

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jjGiftzusammensetzung und -wirkung Das Gift der Trichternetzspinnen setzt sich aus Proteinen und Polypeptiden, mit Hauptbestandteil Robustoxin, zusammen. Letzteres führt an den motorischen Synapsen zur spontanen Transmitterfreisetzung.

jjKlinik Der Biss verursacht starke Schmerzen, die mindestens 30 Minuten anhalten. Schwitzen, Piloerektion und Muskelfaszikulieren werden sichtbar als Zeichen der cholinergen Erregung mit nachfolgender Parästhesie. Zehn Minuten bis eine Stunde nach dem Biss treten periorale Parästhesien mit Schwitzen, Speichelfluss, Zungenspasmen, ÜbeljjKlinik keit, Erbrechen und Bauchkrämpfe. Unbehandelt folgt eine ReflexAn der Bissstelle tritt sofort ein heftig brennender Schmerz auf. Die steigerung, Krämpfe, Angst, Verwirrtheit, Delir, Koma und MuskelHaut um die Bissstelle wird erythematös und bleibt gelegentlich­ faszikulieren an Kiefer- und Nackenmuskulatur, aber keine Muskelüber mehrere Tage gefühllos. An der Bissstelle kann sich eine Haut- lähmung. Anfangs zeigt sich am Auge Miosis, später Mydriasis mit nekrose bilden. Die Wunde heilt innerhalb von 2–3 Wochen. Allge- nachfolgender Dyspnoe, Lungenödem und Bronchorrhö. Im Verlauf meinreaktionen in Form von Schüttelfrost, Übelkeit, Erbrechen, kommt es zu Verbrauchskoagulopathie mit Azidose und CK-Anstieg Kopfschmerzen und Beklemmungsgefühl (v. a. bei Kindern) klingen und nachfolgendem Nierenversagen. innerhalb eines Tages ab. jjTherapie jjTherapie Nach eingetretenem Biss muss der Patient die betroffene Extremität Bei der Therapie ist es wichtig durch sorgfältige Wundtoilette Sekun- ruhig halten. Der Patient muss auf jeden Fall 24 h stationär überdärinfektionen vorzubeugen. Auch auf Tetanusimmunisierung ist zu wacht werden. Die Behandlung von kardialen und parasympathischen Symptomen und Muskelspasmen erfolgt symptomatisch, achten. Ein Antiserum steht nicht zur Verfügung. wenn nötig steht das „Funnel-web spider antivenom“ zur Verfügung. kkBananenspinnen (Phoneutria spp.) Die Dosierung ist für Kinder und Erwachsene identisch, eine jjVorkommen ­Wiederholung nach 15 Minuten bis zur Besserung kann evtl. bis zu Diese Spinnenarten, auch brasilianische Wanderspinnen genannt, 8–18 Ampullen nötig machen. Selbst bei einem komatösen Zusind in Südamerika beheimatet und gelten als sehr aggressiv. Meist standsbild bessern sich die Symptome nach Antiveningabe rasch. werden Arbeiter von den Spinnen gebissen, wenn sie Bananenstauden ernten und transportieren. Gelegentlich gelangen die Tiere mit Nesseltiere Bananentransporten in die Abnehmerländer. Eine ernste Gefahr stellen die freischwimmenden Nesseltiere, d. h. Quallen und Galeeren dar. Die Tentakel dieser Tiere sind mit NesjjKlinik selzellen (Nematozysten) besetzt. Bei Berührung einer Nesselzelle Von der Bissstelle breitet sich ein starker Schmerz über den ganzen wird der darin enthaltene Nesselschlauch mit seiner harpunen­ Körper aus. Zudem tritt an der Bissstelle eine Schwellung auf. Hy- artigen Spitze in die Haut des Opfers gestoßen und darüber Toxine pertonie, Hyperthermie, Tachykardie, Tränen- und Speichelfluss injiziert. und allgemeine Müdigkeit sind Symptome, die verschwinden, wenn !! Cave der Schmerz innerhalb von 24–48 h abklingt. Schwere Vergiftungen, Auch tote Tiere bzw. abgetrennte Tentakeln sind gefährlich, bei denen es zu Schock, Lungenödem und Kreislaufversagen kommt, da sie trotz Eintrocknen noch aktive Nesselkapseln enthalten sind sehr selten. Seit 1926 sind in Brasilien acht Todesfälle beschriekönnen. ben, in den meisten Fällen waren Kinder betroffen. Wieder befeuchtet, können sie sich entladen und sogar chirurgische jjTherapie Gummihandschuhe durchdringen. Kinder sind beim Spielen besonBehandlung mit Lokalanästhetika oder Analgetika sind meist aus- ders gefährdet. Jedes Jahr stirbt mindestens ein Kind an den Folgen reichend. Das verfügbare Antiserum wird in Brasilien bei Kindern einer Nesselverletzung. unter sieben Jahren angewendet. In allen Fällen ist als Erstmaßnahme das sofortige Verlassen des Wassers angezeigt. kkTrichternetzspinnen (Atrax spp., Hadronyche spp.) jjVorkommen kkWürfelqualle (Box-Jellyfish) Atrax- und Hadronychearten (Funnel Web Spiders) kommen in Die Gifte in den Nesselzellen der Würfelquallen gehören zu den Australien, Neuguinea und den Südpazifischen Inseln vor. In Aust- stärksten Giften bei den Tieren. Bei Kontakt mit den Tentakeln der ralien treten sie an der Ostküste zwischen Sydney und Brisbane auf, australischen Würfelqualle (Chironex fleckeri) kann ein Kind in sind aber an vereinzelten Stellen auf dem ganzen Kontinent und auf ­weniger als einer Stunde sterben. Die Tentakel können bis zu 3 m lang sein. Stinger suits und Stoffbekleidung können vor NesselverTasmanien anzutreffen. Beide gelten als sehr gefährlich für den Menschen. Einzelne letzungen schützen. ­Todesfälle sind aus früheren Jahren bekannt. Ihre Chelizeren sind mit kräftigen Klauen versehen, die leicht die menschliche Haut jjGiftzusammensetzung und -wirkung Die Nesselzellen enthalten ein komplexes Gemisch toxischer Protedurchdringen können. ine. Diese enthalten zytotoxische, die Zellmembran schädigende,

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hämolytisch und kardiotoxisch wirkende Proteine. Die kardiotoxische Wirkung des Gifts führt in den schwerwiegenderen Fällen zu einem raschen tödlichen Verlauf durch Herz-Kreislauf-Versagen. jjKlinik Nach Hautkontakt mit den Tentakeln wird ein starker brennender Schmerz bemerkt, der sich über die nächsten 15 Minuten in Wellen verstärkt. Die betreffende Hautregion zeigt striemenartige bläulichbraune Verletzungen oder abgesetzte leiterähnliche Hauteruptionen. Ödeme, Hautrötung und Blasenbildung treten in schwereren Fällen auf. Entlang der Verletzungen können sich Nekrosen bilden, die langsam unter Narbenbildung abheilen. Eine Hautreaktion kann zwei Wochen anhalten und über Monate wiederkehrend auftreten. Die Ausprägung der Symptome hängt von der Größe der Qualle ab. Bei ausgedehnter Vernesselung (Länge der Striemen über 6 m, bei Kindern bereits 2–4 m) kann Bewusstlosigkeit innerhalb von Minuten eintreten. Ist keine adäquate Hilfe zur Stelle, tritt der Tod durch Herz-Kreislauf-Versagen rasch ein. jjTherapie >> Nach Kontakt muss das Wasser sofort verlassen werden, um ein Ertrinken zu verhindern.

Die noch aktiven Nesselkapseln an den anhaftenden Tentakeln werden durch Spülen mit Haushaltsessig oder Auftragen von Sand inaktiviert und mit einem scharfkantigen Gegenstand oder Stöckchen vorsichtig von der Haut abgelöst. Bei Kindern dürfen selbst kleinste Verletzungen nicht unterschätzt werden, sie können lebensbedrohlich werden. Atmung und Kreislauf müssen engmaschig kontrolliert werden, um noch vor Eintreffen der Rettungskräfte sofort eine Reanimation durchführen zu können. Eine stationäre Überwachung ist notwendig. Bei Bewusstlosigkeit, Atem- oder Herz-Kreislaufprobleme kann ein Antiserum, das „Box Jellyfish Antivenom“, verabreicht werden. kkPortugiesische Galeere (Physalia spp.) Physaliae treiben an der Wasseroberfläche und ziehen ihre viele ­Meter langen Tentakeln hinter sich her. Auch Taucher können v. a. beim Auftauchen mit dem ungeschützten Kopf mit ihnen in Kontakt kommen. Akutes Herz-Kreislauf-Versagen war Ursache der wenigen bisher beschriebenen Todesfälle. jjGiftzusammensetzung und -wirkung Das Gift enthält toxische Proteine, die eine starke Schmerzwirkung und Hautreaktionen hervorrufen und den Herzmuskel direkt angreifen. jjKlinik Unmittelbar bei Kontakt tritt ein starker Schmerz ein. An den betroffenen Stellen bilden sich Urtikarien, die sich je nach Kontraktionszustand der Tentakel entweder als ovale aneinandergereihte Male oder als Striemen zeigen. Es kann zum Anschwellen der Lymphknoten kommen. Allgemeinsymptome, wie Übelkeit, Erbrechen, Fieber, Bewusstseinstrübung, schockähnliche Zustände und v. a. Kreislaufbeschwerden, bis hin zum Herzstillstand können auftreten. In leichten Fällen verschwinden diese Symptome innerhalb von 24 h. In seltenen Fällen treten geringfügige Nekrosen auf. In schwereren Fällen kann es zur Blasenbildung kommen. Ein wiederkehrendes Auftreten von Urtikarien an den betroffenen Stellen kann sich über mehrere Wochen hinziehen.

jjTherapie Nach Verlassen des Wassers ist die nächste Maßnahme die Entfernung von Tentakelresten durch Abzupfen oder Abheben. Anschließend die Haut großzügig mit Meerwasser spülen. Zur Linderung der lokalen Symptome können Kühlpackungen und Analgetika verwendet werden. Falls die Augen betroffen sind, so sind diese großzügig mit temperiertem Leitungswasser über mindestens 15 Minuten zu spülen.

Fische Es wird hier exemplarisch auf zwei Fische mit Knochenstacheln und Giftdrüsen eingegangen. Verletzungen mit dem Petermännchen kommen relativ häufig im europäischen Raum vor. Der Steinfisch gilt als der giftigste Fisch. Daneben sind noch einige Fische, die nicht unerwähnt bleiben sollen wie z. B. der Rotfeuerfisch, Welse, Skorpionfisch, Himmelsgucker und Doktorfisch. Sie alle besitzen Stacheln mit Giftdrüsen und können schmerzhafte Verletzungen mit lange anhaltenden Beschwerden zufügen, die wie eine Verletzung nach einem Petermännchenstich versorgt werden. Nur in Ausnahmefällen kommt es zu lebensbedrohlichen Situationen. kkPetermännchen (Echiichthys spp.) jjVorkommen Petermännchen kommen in der Nordsee, an der Atlantikküste, im Mittelmeer, im Schwarzen Meer und entlang der Westküste Afrikas vor. In Europa gelten sie als die giftigsten Fische. Zur Laichzeit im Frühjahr und Sommer suchen sie flache Gewässer und Küsten auf und graben sich in den Sand ein. !! Cave Tritt man bei einem Spaziergang versehentlich auf einen eingegrabenen Fisch, kann sich dessen Rückenstachel durch die Haut bohren und Gift in den Körper injizieren.

Im Allgemeinen ist hier nach einem Stich mit lokalen, aber lang anhaltenden Symptomen zu rechnen. Deshalb ist es gerade für Kinder empfehlenswert, Strandschuhe zu tragen. jjGiftzusammensetzung und -wirkung Das Gift enthält hitzelabile, großmolekulare Proteine, die offenbar auch die Träger der Toxizität sind. Desweiteren ist Serotonin enthalten und es wird Histamin freigesetzt. Die toxischen Proteine werden bei ca. 40°C denaturiert. jjKlinik Die betroffene Extremität ist sofort schmerzhaft, wobei das Schmerzmaximum nach einem Tag erreicht wird. Ein für Tage anhaltendes Taubheitsgefühl kommt hinzu. Die Stichumgebung ist anfangs ödematös und blass oder zyanotisch mit geringer Blutung. Innerhalb von 6–12 h treten Rötung und Ekchymosen ein. Eine Ödemzu­ nahme an der Extremität ist über 7–10 Tage möglich. Schmerzen und Taubheitsgefühl bestehen in seltenen Fällen bis zu einem Jahr. Akut treten Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Hypotonie bis hin zum Kollaps auf. jjTherapie In der Wunde steckende Stacheln und Gewebereste müssen entfernt werden. Die Wunde kann mit mildem Seifenwasser gereinigt werden. Da das Gift hitzelabil ist, kann eine Überwärmungstherapie, d. h. das Eintauchen der betroffenen Extremität in heißes Wasser, an­ gewendet werden. Einige offizielle Stellen empfehlen dies, um die

16

398

R. Bialek und G. Dostal

Schmerzen zu lindern. Die klinische Erfahrung zeigt, dass diese ­Methode bei Schmerzen hilfreich ist, wenn sie richtig angewendet wird. Bei weiter andauerndem starkem Schmerz sind Analgetika oder auch leichte Sedativa anzuwenden. Zur weiteren Beobachtung bei systemischen Beschwerden ist eine stationäre Überwachung angezeigt. k kSteinfisch (Synanceia spp.) Der Steinfisch, vorkommend im Indopazifik, besitzt eine kompakte plumpe Körperform. Er ist oft nur schwer vor dem Untergrund zu erkennen und passt sich seiner Umgebung hervorragend an. j jGiftzusammensetzung und -wirkung Das Steinfischgift verursacht Arryhthmien, Hypotonie und Lähmung der quergestreiften Muskulatur. Dies wird durch eine massive Freisetzung von Neurotransmittern, aber auch durch eine direkte Schädigung von Nerven und Muskulatur verursacht. Das Gift des Steinfischs enthält eine aktive Hyaluronidase, die als sog. Spreading factor die Zellzwischenräume erweitert und so die Ausbreitung des Gifts erleichtert. j jKlinik Die Verletzung ist sofort extrem schmerzhaft. Um die Stichstelle bildet sich ein Ödem, das auf die gesamte Extremität übergeht. An der geröteten Haut bilden sich Hautblasen und kleine Wundnekrosen. Als Symptome treten Kopfschmerzen, gastrointestinale Beschwerden, Arrhythmien und Hypotonie, bis hin zum Kollaps auf. Der ­­Heilungsprozess kann durch Sekundärinfektion verzögert werden. j jTherapie Bei der ersten Hilfe nach einem Unfall ist zunächst wie beim Petermännchen (Heißwassermethode, Analgetika und Sedativa) vorzugehen. Bei Exazerbierung der Symptomatik kann hier das verfüg­ bare Antiserum eingesetzt werden. Dies führt in der Regel zu einer raschen und deutlichen Besserung der Symptome.

..Tab. 16.3  Gifttiere in Europa und die Behandlungsoption mit einem Antiserum

16

Gifttier

Antiserum

Schlangen

Kreuzotter, Aspisviper, Levanteotter, Sandviper, Stülpnasenotter

Viperatab, European Viper Venom Anti­ serum

Skorpion

Feldskorpion

Nicht erforderlich

Spinnen

Dornfingerspinne, Wolfsspinnen, Vogelspinnen

Nicht erforderlich

Nesseltiere

Portugiesische Galeere, Feuerqualle

Nicht erforderlich

Fische

Petermännchen

Nicht erforderlich

Echsen

Feuersalamander

Nicht erforderlich

Echsen Von den über 2.000 Echsenarten sind nur die Krustenechsen (Gilamonster) giftig. Sie kommen im Süden des nordamerikanischen Kontinents und in Nordmexiko vor. jjGiftzusammensetzung und -wirkung Das Gift des Gilamonsters ist ein Gemisch aus Proteinen und enthält ein Enzym, das Hyaluronsäure polymerisiert und als Spreadingfactor das Vordringen des Gifts im Gewebe erleichtert. Ein weiteres Enzym setzt Bradykinin frei, das stark blutdrucksenkend und schmerzauslösend wirkt. jjKlinik Um die Bissstelle entwickelt sich meist ein massives Ödem. Zugleich breitet sich über die betroffene Extremität ein starker, pochender Schmerz aus. Kurz nach dem Biss kommt es zu plötzlich eintretenden schockähnlichen Symptomen wie Blutdruckabfall, Schweißausbruch, Blässe, Übelkeit, Durchfall, und Erbrechen. jjTherapie Aufgrund eines möglichen schweren Beschwerdebildes sollte eine stationäre Überwachung für mindestens 6 h Fall erfolgen und bei Symptomen bis zum Abklingen der Beschwerden. Die Vergiftung ist symptomatisch gut zu versorgen. Auf eine ausreichende Tetanusimmunisierung ist zu achten. Sollte sich das Gilamonster nach Biss nicht vom Opfer lösen, sollte zuerst die gebissene Extremität mit Gilamonster in kaltes Wasser getaucht werden. Zeigt dies nicht die gewünschte Wirkung, so sollte vorsichtig ein Keil ins Gebiss geführt werden, der das Gebiss so weit aufspreizt, bis das Gilamonster von der Extremität abfällt. Da die Zähne des Gilamonsters leicht abbrechen, muss die Wunde sorgfältig inspiziert und gereinigt werden. Die . Tab. 16.3, . Tab. 16.4, . Tab. 16.5 . Tab. 16.7 und . Tab. 16.7 geben einen Überblick über die Gifttiere der verschiedenen Kontinente und mögliche Antiseren.

..Tab. 16.4  Gifttiere in Afrika und ihre Behandlungsoption mit einem Antiserum Gifttier

Antiserum

Schlangen

Mamba, Kobra, Sandrassel­ otter, Puffotter Hornviper, Krötenotter, Buschviper, Erdviper

Polyvalente Antiseren

Skorpione

Buthus occitanus, Mesobuthus, Androctonus Leiurus quinquestriatus, Parabuthus

Polyvalente Antiseren

Spinnen

Braune Witwe, Wolfsspinne, Vogelspinne

Antiserum für braune Witwe vorhanden

Fische

Süßwassersstechrochen, Skorpionfisch

Nicht vorhanden

399 Parasitosen, Mykosen, Tropen- und Reisemedizin

..Tab. 16.5  Gifttiere Asiens und ihre Behandlungsoption Gifttiere

Antiserum

Krait, Kobra, Kettenviper, Sandrasselotter, asiatische Lanzenotter, malayische Grubenotter

Polivalentes ­Antiserum Monovalentes ­Antiserum

Androctonus, Mesobuthus, Buthus

Monovalentes ­Antiserum

Spinnen

Schwarze Witwe, ­Loxosceles, Wolfsspinne, Vogelspinne

Für schwarze Witwe und Loxosceles monovalentes Antiserum

Fische

Skorpionfisch

Nicht vorhanden

Schlangen

Skorpion

..Tab. 16.7  Gifttiere in Amerika und die Behandlungsoption mit einem Antiserum Vertreter

Antiserum

Schlangen

Klapperschlange, Lanzenotter, Buschmeister Kupferköpfe, Korallenschlange

Polyvalentes ­Antiserum

Fische

Drachenkopf

Evtl. StonefishAntiserum

Spinnen

Wolfsspinne, Vogelspinne, Schwarze Witwe Loxosceles, Bananenspinne

Monovalentes Antiserum

Skorpion

Centruroides, Tityus

Monovalentes Antiserum

Echsen

Gilamonster

Nicht erforderlich

Nesseltiere

Portugiesische Galeere

Nicht vorhanden

..Tab. 16.6  Gifttiere in Australien und die Behandlungsoption mit einem Antiserum Vertreter

Antiserum

Schlangen

Taipan, Todesotter, Tigerschlange, Braunschlange, Schwarzotter

Polyvalentes ­Antiserum Monovalentes ­Antiserum

Spinnen

Trichternetzspinne

Funnel-web antivenin

Nesseltiere

Würfelqualle, Portugisische Galeere

Chironex-Antiserum

Fische

Steinfisch, Rotfeuerfisch

Stonefish- Antivenin

16

401

Impfungen U. Heininger

17.1

Grundlagen  – 402

17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5 17.1.6 17.1.7

Immunität  – 402 Passive Immunisierung  – 402 Aktive Immunisierung  – 402 Zeitabstände zwischen Impfungen  – 403 Applikation von Impfstoffen  – 403 Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Impfstoffen  – 403 Formale Grundlagen  – 404

17.2

Allgemein empfohlene Impfungen  – 405

17.2.1 Hepatitis B  – 405 17.2.2 Haemophilus influenzae Typ b (Hib)  – 406 17.2.3 Diphtherie  – 406 17.2.4 Tetanus  – 406 17.2.5 Pertussis (Keuchhusten)  – 407 17.2.6 Poliomyelitis (Kinderlähmung)  – 407 17.2.7 Pneumokokken und Meningokokken  – 407 17.2.8 Masern, Mumps und Röteln (MMR)  – 407 17.2.9 Varizellen (Windpocken)  – 408 17.2.10 Humanpathogene Papillomaviren ­(HPV)  – 408 17.2.11 Rotavirus  – 409

17.3

Indikationsimpfungen  – 409

17.3.1 Influenza (Virusgrippe)  – 409 17.3.2 Hepatitis A  – 409 17.3.3 Rabies (Tollwut)  – 409

17.4

Reiseimpfungen  – 410

17.4.1 Frühsommermeningoenzephalitis (FSME)  – 410 17.4.2 Typhus  – 410 17.4.3 Gelbfieber  – 410

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_17

17

402

U. Heininger

17.1

Grundlagen

17.1.1

Immunität

j jDefinition Immunität ist definiert als Schutz vor einer Infektionskrankheit. Man unterscheidet die angeborene von der erworbenen Immunität. Angeborene, unspezifische Immunität  Intakte Haut und

Schleimhäute sind eine Barriere gegen viele Krankheitserreger und schützen so den Organismus vor Infektionen. Darüber hinaus neutralisieren lösliche Substanzen wie das Lysozym in Körpersekreten und phagozytierende Zellen wie Monozyten und neutrophile ­Granulozyten die meisten eingedrungenen pathogenen Mikroorganismen.

Erworbene, spezifische Immunität  Sie richtet sich gegen einen bestimmten, spezifischen Erreger, welcher eine Infektion induziert hat, unabhängig davon, ob diese symptomatisch oder asymptomatisch verlief. Bei Erstkontakt mit dem Erreger bzw. seinen Antigenen werden im zeitlichen Ablauf von wenigen Wochen zunächst Antikörper (Immunglobuline) der Klasse M, später der Klasse G gebildet (primäre Immunantwort). Die IgG-Antikörper persistieren oft lebenslang und verleihen Schutz vor erneuter Infektion und/oder Erkrankung. Die IgM-­ Antikörper sind dagegen nach wenigen Wochen bis Monaten nicht mehr nachweisbar. Bei erneutem Kontakt mit dem gleichen Infektionserreger ist ein ausgeprägter IgG-Antikörperanstieg als Ausdruck der erworbenen Immunität nachweisbar (sekundäre Immunantwort). Infektionserreger lösen neben der humoralen auch eine zelluläre Immunantwort aus, indem sie u. a. T-Helferzellen (CD4+) oder zytotoxische T-Lymphozyten (CD8+) stimulieren. Die Induk­ tion von B- und T-Memory-Zellen ist die Basis einer anhaltenden Immunität.

17.1.2

17

Passive Immunisierung

Die Gabe von Immunglobulinen bewirkt einen sofortigen, aber nur wenige Wochen andauernden Schutz. Sie wird deshalb als Notfallmaßnahme bei fehlendem eigenem Schutz eingesetzt. Ferner werden Immunglobuline zur Immunmodulation z. B. bei bestimmten Autoimmunkrankheiten, Rhesus-Inkompatibilität des Neugeborenen und Kawasaki-Syndrom verwendet. Immunglobuline  In den meisten Fällen handelt es sich um Immunglobuline menschlicher Spender (vorwiegend vom IgG-Typ). 44 Standardimmunglobuline richten sich gegen zahlreiche verschiedene Infektionserreger und finden Verwendung zur Substitution bei Hypo- oder Agammaglobulinämie. 44 Hyperimmunglobuline sind hochtitrig gegen spezifische Erreger gerichtet. Sie werden präexpositionell (z. B. CMV-Immunglobulin vor Transplantation bei Patienten ohne nachweisbare eigene CMV-Antikörper) oder postexpositionell (z. B. Hepatitis-B-Immunglobulin) angewendet. Applikation  Immunglobuline werden in Abhängigkeit vom Pro-

duktionsverfahren i.m. (wegen des oft erheblichen Volumens, 5 ml und mehr, bevorzugt in die Gesäßmuskulatur) oder i.v. appliziert.

!! Cave Patienten mit IgA-Mangel dürfen nur Präparate erhalten, die frei von IgA sind. Anderenfalls kann es zu einer Sensibilisierung und späteren anaphylaktischen Reaktionen kommen.

Obwohl alle Immunglobulinpräparate von klinisch gesunden, gut untersuchten Spendern stammen, kann es in seltenen Fällen zur unerwünschten Übertragung von Infektionserregern kommen. >> Die Indikation zum Einsatz von Immunglobulinen ist streng zu stellen!

17.1.3

Aktive Immunisierung

Sie führt zum Aufbau einer anhaltenden Immunität. Dazu werden spezifische Antigene verabreicht, die das Immunsystem wie bei einer Infektion stimulieren, jedoch ohne dass es zur Erkrankung kommt. Lebendimpfstoffe  Sie bestehen aus abgeschwächten (attenuierten) Infektionserregern. Nach Applikation findet eine Vermehrung

der Erreger statt, auf die eine Immunantwort folgt, die qualitativ der nach Wildinfektion entspricht. Sie führt zu einer langen, oft lebenslang anhaltenden Immunität (z. B. Masern-Mumps-Röteln-Impfung). Impfschutz besteht nach Ablauf der primären Immunantwort, d. h. nach ca. 2 Wochen. >> Da diaplazentar auf den Säugling übertragene Serumantikörper vom IgG-Typ attenuierte, vermehrungsfähige Impferreger neutralisieren können, sind Lebendimpfungen im 1. Lebenshalbjahr i. d. R. erfolglos.

Totimpfstoffe (inaktivierte Impfstoffe)  Sie bestehen aus abgetöteten, kompletten Infektionserregern oder aus einem oder mehreren spezifischen Antigenen. Auch wenn Totimpfstoffen Hilfsstoffe zugesetzt werden, welche die Immunantwort steigern (sog. Adjuvan­ zien), sind zum Aufbau eines tragfähigen Impfschutzes meist 2 oder 3 Impfungen notwendig. Ferner sind nach dieser Grundimmunisierung oftmals Auffrischimpfungen zur Aufrechterhaltung des Schutzes erforderlich. Die meisten Impfantigene sind hochimmunogenen Proteine. Polysaccharidantigene (Virulenzfaktoren bekapselter Bakterien wie Meningo- und Pneumokokken oder Haemophilus influenzae) hingegen sind unzureichend immunogen, insbesondere bei Kindern unter 2 Jahren. Durch Koppelung an ein Trägerprotein („Konjugatimpfstoff “) wird eine adäquate Immunogenität erreicht. Simultanimpfungen  Darunter versteht man die zeitgleiche Gabe

von Immunglobulinen und Antigenen an unterschiedlichen Körperstellen. Der Vorteil liegt in der Vermittlung eines sofortigen passiven Schutzes bei gleichzeitigem Beginn oder Vervollständigung des aktiven, eigenen Schutzes. Dabei darf jedoch aus o. g. Gründen zur aktiven Immunisierung kein Lebendimpfstoff verwendet werden. Simultanimpfungen sind nur in besonderen Situationen indiziert (. Tab. 17.3).

Kombinationsimpfungen  Grundsätzlich können zu einem Impf-

termin beliebig viele Impfungen gemeinsam durchgeführt werden (Koadministration), wobei anzumerken ist, dass mehr als 2 oder 3 Injektionen für den Impfling bzw. die Begleitperson emotional belastend sein können. Kombinationsimpfstoffe erlauben eine Reduktion von Einzelinjektionen und führen dadurch insgesamt zu weniger Nebenwirkungen, und geringeren Kosten und Abfallmengen.

403 Impfungen

17.1.4

Zeitabstände zwischen Impfungen

Im Rahmen einer Grundimmunisierung mit Totimpfstoffen sind die vom jeweiligen Hersteller empfohlenen Zeitabstände als Mindestabstände zu beachten. Eine Verlängerung des empfohlenen Intervalls ist aus immunologischer Sicht unbedenklich, sodass die Impfserie nicht von Neuem begonnen werden muss! Die Verzögerung ist dennoch von Nachteil, da der Impfschutz verspätet einsetzt. Wenn verschiedene Impfstoffe nicht am selben Tag verabreicht werden können, so gelten folgende Regeln: 44 Zwischen verschiedenen Totimpfstoffen ist kein Mindestabstand notwendig. 44 Zwischen Lebend- und Totimpfstoff ist ebenfalls kein Mindestabstand notwendig. 44 Zwischen Lebendimpfstoffen sind die in . Tab. 17.1 angeführten Mindestabstände einzuhalten, da ansonsten der Erfolg der nachfolgenden Impfung durch immunologische Interferenz gefährdet ist. 17.1.5

Applikation von Impfstoffen

Impfstoffe werden gemäß den Angaben des Herstellers entweder oral („Schluckimpfstoff “) verabreicht oder intramuskulär (i.m.) bzw. subkutan (s.c.) injiziert. Subkutane Injektionen können an nahezu jeder beliebigen Körperstelle durchgeführt werden. In der Praxis bewährt haben sich Oberarm und -schenkel. Nach dem Aufziehen des flüssigen Impfstoffs bzw. Auflösen ­eines lyophilisierten Impfstoffs muss vor der Injektion die Kanüle gewechselt werden, da ansonsten Impfstoffbestandteile an der Außen­seite der Kanüle zu Reaktionen im Stichkanal (sterile Abszesse, Fremdkörpergranulome) führen können. Eine kleine Kanüle (Luer Nr. 18) ist für s.c.-Injektionen immer ausreichend, ebenso für i.m.-Injektionen bei schlanken Kindern und Jugendlichen. Für i.m.-Injektionen eignen sich folgende Lokalisationen: 44 anterolateraler Oberschenkel bei Säuglingen (. Abb. 17.1), 44 M. deltoideus am Oberarm, ab dem gehfähigen Alter (. Abb. 17.2). !! Cave Impfungen ins Gesäß sind wegen der Verletzungsgefahr des N. ischiadicus zu vermeiden!

17.1.6

..Abb. 17.1  Impfstelle für i.m.-Injektionen im Säuglingsalter

Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Impfstoffen

Wirksamkeit  Sie lässt sich auf verschiedene Weisen bestimmen

und wird in Prozent angegeben. Kann für ein bestimmtes Vakzin ein

..Abb. 17.2  Impfstelle für i.m.-Injektionen jenseits des Säuglingsalters

serologisches Schutzkorrelat angegeben werden (d. h. ab einer bestimmten Antikörperhöhe im Serum des Impflings besteht Schutz), so ist durch Bestimmung der postvakzinalen Serumantikörper bei einer genügend großen Stichprobe die Wirksamkeit eines Impfstoffs einfach nachzuweisen. In allen anderen Fällen muss er klinisch ermittelt werden. Dies geschieht, indem man die Inzidenz der Erkrankung bei Geimpften mit der bei ungeimpften Kontrollen vergleicht. Die prozentuale Verringerung der Erkrankungshäufigkeit bei den Geimpften ergibt die Wirksamkeit des Impfstoffs. Lokale Nebenwirkungen  Oral oder nasal verabreichte Vakzine z­ eigen in geringem Ausmaß lokale Nebenwirkungen. Gelegentlich treten vorübergehend Beschwerden im Respirations- bzw. Gastrointestinaltrakt auf. Injektionsimpfungen führen an der Impfstelle in unterschiedlicher Häufigkeit vorübergehend zu geringgradiger Rötung, Schwellung oder Schmerzen. Ausgeprägtere Reaktionen sind selten (> Keine Kontraindikationen für Impfungen sind banale Infektionen, Frühgeburtlichkeit, Zustand nach peripartalen Komplikationen, chronische Grundkrankheiten und medikamentös gut eingestellte zerebrale Anfallsleiden.

Aufklärung und Einverständniserhebung  Vor jeder Impfung müssen der Impfling bzw. seine Sorgeberechtigten über Nutzen und Risiken aufgeklärt werden. Obwohl ein mündliches Einverständnis (am besten in Gegenwart eines Zeugen) ausreichend ist, ist es in schriftlicher Form vorzuziehen. Jugendliche, spätestens ab dem ­Alter von 16 Jahren, gelten als allein einwilligungsfähig. Impfdokumentation  Jede(r) Ärztin/Arzt ist verpflichtet, durchge-

führte Impfungen in den eigenen Unterlagen sowie in einem Impfdokument („Impfpass“) für den Impfling zu bescheinigen: Name, Chargennummer und Dosis des Impfstoffs sowie Datum und Applikationsart.

17

405 Impfungen

..Tab. 17.2  Allgemein empfohlene Impfungen im Kindes- und Jugendalter (Stand August 2017) Impfung

Geburt

2 Monate

3 Monate

4 Monate

1

2

(3)

1

2

3

4

DTPa (Dosen 1–4) bzw. Tdap (Dosen 5 und 6)

1

2

3

4

Hib

1

2

3

4

IPVd

1

2

3

4

Pneumokokken Frühgeborene

1 1

2

2 3

3 4

Rotavirusa Hepatitis B

1b

Ab 11 Monaten

MenCe

1

MMR/VZV

1+2

HPVf

5–6 Jahre

9–17 Jahre

1–2–3c 5

6

5

1–2(–3)

a

Die 1. Impfung sollte bereits ab dem Alter von 6 Wochen erfolgen, je nach verwendetem Impfstoff sind 2 bzw. 3 Dosen im Abstand von mindestens 4 Wochen erforderlich. b Bei HBs-Ag-positiven Müttern 1. aktive Impfung in den ersten 12 h nach Geburt gemeinsam mit HB-Immunglobulin. Bei unbekanntem HBs-Status der Mutter ebenfalls 1. aktive Impfung in den ersten 12 h nach Geburt. 1 und 6 Monate später folgen 2. und 3. aktive Impfung. c Bei bislang nicht geimpften Jugendlichen: 3 Impfungen im Abstand von 1 und 6 Monaten. d 4 Impfungen nur bei Verwendung von DTPa-IPV (Hib)-Kombinationsimpfstoffen. Bei Verwendung von IPV-Einzelimpfstoffen 2 oder 3 Impfungen (7 entsprechende Fachinformationen). e Ab 12 Monaten. f Bei Mädchen, vorzugsweise im 2-Dosen-Schema im Alter von 9–14 Jahren.

17.2

Allgemein empfohlene Impfungen

In Deutschland sprechen die obersten Gesundheitsbehörden der einzelnen Bundesländer Empfehlungen zur Durchführung von Impfungen aus. Diese beruhen i. d. R. auf den regelmäßig aktualisierten Empfehlungen der sog. Ständigen Impfkommission (STIKO). >> Hält sich die Ärztin/der Arzt an die Empfehlungen der STIKO, so übernimmt der Staat im Falle eines Impfschadens die dadurch entstehenden Kosten.

In Österreich werden die Impfempfehlungen vom Nationalen Impfgremium ausgesprochen, in der Schweiz von der „Eidgenössischen Kommission für Impffragen“. Impfplan für Deutschland  Der derzeit in Deutschland gültige

Impfkalender (Stand August 2016) ist in . Tab. 17.2 dargestellt. Bei den Altersangaben handelt es sich um den jeweils frühestmöglichen Zeitpunkt, der für die jeweilige Impfung angestrebt werden sollte. Impfplan für Österreich  Der Österreichische Impfplan ist dem in Deutschland sehr ähnlich (Impfplan-Osterreich-2017.pdf als kostenloser Download von https://www.bmgf.gv.at/home/Service/Broschueren/). Impfplan für die Schweiz  Der Schweizer Impfplan unterscheidet sich ebenfalls nur geringfügig von dem der Bundesrepublik Deutschland (https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/menschgesundheit/uebertragbare-krankheiten/impfungen-prophylaxe/informationen-rund-ums-impfen/schweizerischer-impfplan.html). >> Frühgeborene erhalten alle Impfungen in gleicher Menge pro Dosis und im gleichen chronologischen Alter wie Reifgeborene!

In der Schweiz erhalten Frühgeborene ( Auffrischimpfungen sowie postvakzinale Titerkontrollen sind nur für bestimmte Risikogruppen empfohlen.

Vermutlich hält der Schutz nach einer erfolgreichen Grundimmunisierung lebenslang an: selbst wenn die Serumantikörper im Laufe der Zeit wieder absinken, bleibt im Falle einer Wildvirusinfektion wegen der langen Inkubationszeit (2–6 Monate) ausreichend Zeit für die erneute Antikörperproduktion durch B-Gedächtniszellen und die dadurch erzielte Verhinderung einer chronischen Hepatitis B, dem eigentlichen Impfziel.

406

U. Heininger

!! Cave

reicht, gefolgt von einer weiteren im 2. Lebensjahr (. Tab. 17.2). Weitere Auffrischimpfungen sind vor Einschulung und danach in 10-Jahres-Abständen jeweils in Kombination mit Tetanustoxoid (und ggf. Pertussis) als „Td(ap)-Impfung“ notwendig.

Wirksamkeit und Verträglichkeit  Nach 2 Impfungen beträgt die

Wirksamkeit und Verträglichkeit  Nach der Grundimmunisierung

Schutzrate etwa 50–70%, nach der 3. Impfung >95%. Die Verträglichkeit der Hepatitis-B-Impfung ist ausgezeichnet. 17.2.2

Haemophilus influenzae Typ b (Hib)

Impfstoffe  Sie enthalten das Kapselpolysaccharid des Bakteriums

(Polyribosylphosphat, PRP) sowie ein Trägerprotein. Das Polysaccharid allein ist – insbesondere in den ersten beiden Lebensjahren – nur unzureichend immunogen. Die Bindung von PRP an das Trägerprotein („Konjugatimpfstoff “) vermittelt eine T-zellabhängige Immunantwort.

Impfschema  Im 1. Lebensjahr werden 2 (bei Verwendung von

Kombinationsimpfstoffen: 3) Injektionen i.m. verabreicht, gefolgt von einer weiteren im 2. Lebensjahr (. Tab. 17.2). Weitere Auf­ frischimpfungen sind nicht notwendig, da offenbar natürliche Kontakte mit dem Bakterium diese Funktion übernehmen. Wirksamkeit und Verträglichkeit  Nach den Impfungen im Säug-

lingsalter beträgt die Schutzrate vor invasiven Hib-Infektionen (Meningitis, Sepsis, Epiglottitis u. a.) etwa 90%, nach der Impfung im 2. Lebensjahr nahezu 100%. Die Verträglichkeit der Hib-Impfung ist ausgezeichnet. 17.2.3

Diphtherie

Impfstoffe  Diphtherieimpfstoffe bestehen aus inaktiviertem Diphtherietoxin (=  Toxoid). Diphtherieimpfstoffe sind in Kombina-

17

Impfschema  Im 1. Lebensjahr werden 3 Injektionen i.m. verab-

Neugeborene von HBs-Ag-positiven Müttern bzw. Müttern mit unklarem HBs-Ag-Status erhalten die 1. Hepatitis-B-Impfung in den ersten 12 h nach Geburt simultan mit Hepatitis-BImmunglobulin.

tion mit Tetanustoxoid und darüber hinaus mit weiteren Antigenen (Pertussis, inaktivierte Poliomyelitis = IPV, Hib und Hepatitis B) erhältlich. Sie enthalten 20–30 I.E. Diphtherietoxoid („D“). Ab dem Alter von 5–6 Jahren sind aufgrund der besseren Verträglichkeit Diphtherieimpfstoffe mit reduziertem Toxoidgehalt (2–4 I.E.) zu verwenden („d“).

liegt die Schutzrate bei ca. 90–95%. Impfschutz besteht, wenn der Impfling im Serum einen Antidiphtherietoxingehalt von mindestens 0,01 I.U./ml, besser 0,1 I.U./ml (= 100 I.U./l) aufweist. Da in unseren Regionen gegenwärtig kaum toxinbildende Corynebakterien zirkulieren, ist der Infektionsdruck gering und die wenigen von Zeit zu Zeit auftretenden Erkrankungsfälle betreffen praktisch ausschließlich ungeimpfte oder unzureichend geimpfte Personen bzw. werden von dem verwandten Bakterium Corynebacterium ulcerans ausgelöst. Die Verträglichkeit von Diphtherieimpfstoffen ist gut. 17.2.4

Tetanus

Impfstoffe  Sie enthalten inaktiviertes Tetanustoxin (= Toxoid) des Bakteriums Clostridium tetani und sind einzeln oder in Kombina-

tion mit anderen Impfstoffen erhältlich. Eine Impfdosis enthält ­20–40 I.E. Tetanustoxoid.

Impfschema  . Tab. 17.2. Wirksamkeit und Verträglichkeit  Der Impfschutz richtet sich ge-

gen das Tetanustoxin. Er beträgt nach den ersten Impfungen praktisch 100%. Vor der ersten Impfung im Alter von 2 Monaten besteht i. d. R. eine zuverlässige maternale Leihimmunität („Nestschutz“). Das Vorgehen im Falle einer möglichen Tetanusinfektion nach Verletzung bei unvollständigem bzw. nicht aktuellem Impfschutz ist in . Tab. 17.3 dargestellt. Die Verträglichkeit ist relativ gut, vorübergehende Lokalreak­ tionen treten gelegentlich auf. !! Cave Bei häufiger als empfohlen verabreichten Tetanusimpfungen (meist wegen mangelhafter Dokumentation) kann es zu heftigen Lokalreaktionen mit starker Rötung und Schwellung der betroffenen Extremität (meist Oberarm) kommen. Ursache ist eine Typ-III-Allergie (Arthus-Reaktion).

..Tab. 17.3  Vorgehensweise bei unzureichendem Tetanusimpfschutz nach Verletzung Saubere, geringfügige Wundena

Alle anderen Wunden

DTP bzw. Tdapb

Tetanusimmunglobulin

DTP bzw. Tdapb

Tetanusimmunglobulin

Unbekannt

Ja

Nein

Ja

Jad

≤1

Ja

Nein

Ja

Jad

2

Ja

Nein

Ja

Neine

≥3

Neinc

Nein

Neinc

Neinf

Zahl bisheriger aktiver Impfungen

a Oberflächlich,

nicht verschmutzt. (altersabhängig, ggf. weitere Komponenten!). c Vorausgesetzt, die letzte Immunisierung liegt ≤5 Jahre zurück. d Simultan mit DTP bzw. Tdap. e Vorausgesetzt, die Verletzung liegt 85%) vor typischer Erkrankung. Die Schutzrate gegenüber weniger typischen Krankheitsformen (Husten von weniger als 3 Wochen Dauer, fehlende Begleitsymptome) ist geringer (um 70%). Azelluläre Pertussisimpfstoffe sind sehr gut verträglich. Eine seltene, Eltern und unwissende Ärztinnen und Ärzte stark beunruhigende Nebenwirkung nach Kombinationsimpfstoffen mit oder ohne Pertussiskomponenten ist die hypoton-hyporesponsive Episode. Sie tritt einige Minuten bis wenige Stunden nach Impfung in Erscheinung. Der Impfling ist blass und apathisch in einem schockähnlichen Zustand. Nach wenigen Minuten bis Stunden kommt es zur vollständigen Erholung ohne Residuen. Die Ursache ist ungeklärt, das Wiederholungsrisiko bei nachfolgenden Impfungen ist sehr gering. >> Für die Existenz der früher postulierten „Pertussisimpfenzephalopathie“ gibt es keine Evidenz. Keinem Patienten sollte deshalb die Pertussisimpfung vorenthalten werden!

17.2.6

Poliomyelitis (Kinderlähmung)

Impfstoffe  Es gibt 2 Arten von Poliomyelitisimpfstoffen: die bivalente, oral anzuwendende, welche aus attenuierten Poliomyelitis­

viren der Typen 1, (Typ 2 wurde 2016 eliminiert) und 3 besteht (= OPV nach Sabin) sowie die trivalente, parenteral anzuwen­ dende,  welche aus inaktivierten Poliomyelitisviren der Typen 1, 2 und 3 besteht (= IPV nach Salk). Wegen der nach Gabe von OPV (nicht aber von IPV!) auftretenden „vakzineassoziierten paralytischen Poliomyelitis“ (VAPP) beim Impfling selbst (ca. 1:5 Mio. Impfungen) oder einer Kontaktperson (ca. 1:15 Mio. Impfungen) wird dieser Impfstoff heute in den meisten Ländern nicht mehr verwendet. IPV wird in Kombination mit DTPa-Kombinationsimpfstoffen verwendet: 3 Dosen im 1. Lebensjahr und eine 4. im 2. Lebensjahr (. Tab. 17.3). Im Alter von 9–17 Jahren ist eine Auffrischung indiziert. Wirksamkeit und Verträglichkeit  Sowohl OPV als auch IPV

f­ ühren zu einem Schutz vor Poliomyelitis in nahezu 100% aller Impflinge nach 2–3 Immunisierungen. OPV und IPV werden im Allgemeinen sehr gut vertragen.

17.2.7

17

Pneumokokken und Meningokokken

Impfstoffe  Wesentlicher Virulenzfaktor beider Bakterien ist das

Kapselpolysaccharid (PS). Es stehen eine 10- und eine 13-valente Pneumokokkenkonjugatvakzine zur Verfügung, die gemäß Serotypenverteilung in Deutschland bis zu ca. 80% der invasiven Infektionen in den ersten 5 Lebensjahren verhindern können. Eine ­PS-Pneumokokken-Vakzine (23 verschiedenen Serotypen) kann ab dem Alter von 2 Jahren verwendet werden und wird bestimmten Risikogruppen empfohlen. Meningokokken-Gruppe-C-Konjugatimpfstoffe sind für alle Altersgruppen ab 2 Monaten zugelassen. Ferner stehen ab dem Alter von 1 Jahr quadrivalente Meningokokkenkonjugatimpfstoffe (Serogruppen A, C, Y und W 135) zur Verfügung. Damit lassen sich bis zu 30% der invasiven Meningokokkeninfektionen in Deutschland verhindern. Ein erster Meningokokken-Gruppe-B-Proteinimpfstoff wird von der STIKO gegenwärtig nur für ausgewählte Risikogruppen empfohlen.

Impfschemata  Siehe Fachinformationen. Wirksamkeit und Verträglichkeit  Die Schutzraten gegenüber invasiven Infektionen durch die in den Konjugatvakzinen enthaltenen

Subtypen bzw. -gruppen sind gut (Pneumokokken: 97%, Meningokokken 90–95%). Ferner können mit dem Pneumokokkenkonjugatimpfstoff akute Otitis media und Pneumonien durch die im Impfstoff enthaltenen Serotypen verhindert werden. Die genaue Schutzdauer ist nicht bekannt. Die Pneumokokken-PS-Vakzine schützt vor Pneumonien mit begleitender Bakteriämie. Die Schutzdauer beträgt nur wenige Jahre; Auffrischimpfungen sind nur eingeschränkt immunogen. Die Verträglichkeit der Impfstoffe ist gut. Zu frühe Auffrischungen führen zu ausgeprägten Lokalreaktionen. Seit Sommer 2006 sind die Pneumokokken- (Alter: 2 Monate bis 2 Jahre) und Meningokokkenimpfung Gruppe C (ab 1 Jahr) mit Konjugatimpfstoffen allgemein empfohlen. Beide Impfungen sind zudem für Personen mit bestimmten chronischen Krankheiten und dadurch erhöhter Gefährdung empfohlen (. Tab. 17.4). 17.2.8

Masern, Mumps und Röteln (MMR)

Impfstoffe  Masern-, Mumps- und Rötelnimpfstoffe sind ausschließlich als Kombinationsimpfstoffe (MMR mit oder ohne Varicella-Zoster-Virus, VZV) verfügbar. Es sind Lebendimpfstoffe, die bei Immundefizienz und in der Schwangerschaft kontraindiziert sind. Nicht geimpften Patienten kann im Falle einer Exposition bei Bedarf ein Standardimmunglobulin verabreicht werden. !! Cave Da die Impfviren auf Hühnerfibroblasten gezüchtet weden, können bei Patienten, die auf Hühnereiweiß anaphylaktisch reagieren, nach Gabe von MMR selten allergische Reaktionen auftreten. Daher sind bei diesen Patienten Vorsichtsmaßnahmen (z. B. Notfallmedikation vorbereiten) begleitend zur Impfung ratsam.

Impfschema  Die 1. MMR-Impfung ist ab dem Alter von 11 Monaten, in Zeiten von Epidemien ab 9 Monaten, indiziert. Die 2. MMRImpfung (vorzugsweise im Alter von 15–23 Monaten) soll bei­ den Impflingen, die nach der 1. MMR-Impfung gegen eine oder

408

U. Heininger

..Tab. 17.4  Indikationen zur Impfung gegen Pneumokokken (P) und Meningokokken (M) Indikationen

Beispiele

Angeborene oder erworbene Immundefekte mit T- und/oder B-zellulärer Restfunktion

Hypogammaglobulinämie, Komplement- und Properdindefekte (P, M) Funktionelle oder anatomische Asplenie (P, M) Sichelzellenanämie (P) Krankheiten der blutbildenden Organe (P) Neoplasien (P) HIV-Infektion (P) Nach Knochenmarktransplantation (P) Eculizumabtherapie (M)

Chronische Krankheiten

Herz-Kreislauf-Krankheiten (P) Krankheiten der Atmungsorgane (P) Diabetes mellitus oder andere Stoffwechselkrankheiten (P) Chronische Nierenkrankheiten, nephrotisches Syndrom (P) Neurologische Krankheiten (P) Liquorfistel (P) Vor Organtransplantation und vor Beginn einer immunsuppressiven Therapie (P)

Schüler und Studenten vor Langzeitaufenthalten in Ländern mit allgemein empfohlener Impfung für diese Altersgruppen (M) Gefährdetes Laborpersonal (M) Für bisher ungeimpfte enge Kontaktpersonen (Haushaltskontakte oder enge Kontakte mit haushaltsähnlichem Charakter) eines Erkrankten mit einer impfpräventablen invasiven Infektion (M)

mehrere der Impfkomponenten nicht reagierten, diese Lücke(n) schließen. Wirksamkeit und Verträglichkeit  Nach der 1. MMR-Impfung be-

sitzen jeweils etwa 95–98% der Impflinge Schutz vor Masern und Röteln, gegen Mumps sind es 80–85%. Nach der 2. Impfung sind es >99% (Mumps: 85–90%). Der Schutz hält vermutlich lebenslang an. Die MMR-Impfung wird gut vertragen. Lokalreaktionen sind selten. Etwa ab dem 5. postvakzinalen Tag kann es zu Fieber (10–15%), bei prädisponierten Kindern auch zum Fieberkrampf (ca. 1:3.000) kommen. Bei 5% der Impflinge können nach etwa einer Woche milde, 1–2 Tage andauernde „Impfmasern“, „Impfmumps“ oder „Impf­ röteln“ auftreten. Diese sind nicht kontagiös.

17

17.2.9

Varizellen (Windpocken)

Impfstoffe und -schemata  Die Impfstoffe enthalten attenuierte

Varicella-Zoster-Viren. Es sind 2 monovalente und 2 Kombinationsvakzine mit Masern-, Mumps-, und Rötelnkomponenten (MMRV) (ab dem Alter von 9 bzw. 12 Monaten; 0,5 ml s.c.). Die Impfserie umfasst 2 Dosen im Abstand von mindestens 4 Wochen. Die­ 2. Dosis führt, anders als bei den MMR-Impfviren, zu einem ­deut­lichen (ca. 40-fach!) Anstieg der VZV-IgG Antikörper und führt dadurch auch zu einem höheren und besseren Schutz vor ­Varizellen.

Wirksamkeit und Verträglichkeit  Die Wirksamkeit beträgt gegen-

über jeglichen Varizellen ca. 80% (1 Dosis) bzw. >95% (2 Dosen) und gegenüber schwer verlaufenden Varizellen schon nach einer Dosis >95%; die genaue Schutzdauer nach 2 Impfdosen ist noch nicht bekannt. Die Verträglichkeit ist gut. Fieberreaktionen kommen gelegentlich vor, ebenso abgeschwächte „Impfvarizellen“. Diese sind potenziell kontagiös, was aber klinisch nicht bedeutsam ist (attenu-

ierte Viren!). Die etwas höhere Fieberrate nach MMRV- im Vergleich zu MMR- und Varizellenimpfung separat und dadurch auch höhere Rate an Fieberkrämpfen (ca. 1:2.000 statt 1:3.000) hat dazu geführt, dass die STIKO beim 1. Impftermin vorzugsweise die separate Gabe von MMR und Varizellen empfiehlt. Indikation  Seit 2004 ist die Varizellenimpfung ab dem Alter von

11 Monaten Bestandteil des Standardimpfprogramms in Deutschland. Ferner ist sie für empfängliche (= nichtimmune) Angehörige von Risikopatienten und medizinisches Personal empfohlen.

>> Alle bislang ungeimpften Kinder und Jugendlichen sollen mit 2 Dosen gegen Varizellen geimpft werden!

17.2.10

Humanpathogene Papillomaviren ­ (HPV)

Impfstoff und -schema  Es stehen 2 Vakzinen zur Verfügung (­ Cervarix und Gardasil); sie enthalten virusähnliche Partikel (VLP) aus den gentechnisch hergestellten L1-Proteinen der beiden häu­ figsten (ca. 70%) onkogenen HPV-Typen 16 und 18, Gardasil von noch 5 weiteren onkogenen Typen und die 90% aller Genital­ warzen verursachenden Typen 6 und 11. Das Impfschema umfasst 2 (9–14 Jahre) bzw. 3 Dosen (ab 15 Jahren) zu je 0,5 ml i.m. im ­Abstand von 4 Wochen (Cervarix) bzw. 2 Monaten (Gardasil); die 3. Dosis folgt 6 Monate nach Dosis 1. >> Die STIKO empfiehlt die HPV-Impfung für alle Mädchen vorzugsweise im Alter von 9–14 Jahren, d. h. idealerweise (aber nicht zwingend) vor Beginn der sexuellen Aktivität.

Durch die HPV-Impfung lässt sich zukünftig ein Großteil der etwa 6.500 jährlichen Zervixkarzinome und 2.000 Todesfälle in Deutschland verhindern.

409 Impfungen

Wirksamkeit und Verträglichkeit  Mit beiden Impfstoffen können sowohl persistierende Infektionen als auch Krebsvorstufen (CIN, zervikale intraepitheliale Neoplasien) der Zervix (bzw. Genital­ warzen durch HPV-6 und -11) wie auch anderer HPV-assoziierter Neoplasien durch die im Impfstoff enthaltenen HPV-Genotypen zu fast 100% verhindert werden. Bislang ungeklärt sind Notwendigkeit und ggf. Zeitpunkt von Auffrischimpfung(en). Die Impfstoffe sind sehr immunogen; für beide Impfstoffe lassen sich kurz nach der 3. Dosis bis zu 100-fach höhere Serumantikör­ perwerte als nach natürlicher Infektion nachweisen, die auch 3–10 Jahre nach der Impfung noch bis zu 17-fach höher sind. Klinische Langzeitdaten zeigen einen anhaltenden Impfschutz analog zur Antikörperpersistenz. Die Impfung wird gut vertragen. Leichte Schmerzen an der Injektionsstelle waren in den Zulassungsstudien die häufigste ­ ­lokale und Kopfschmerzen die häufigsten systemischen Beschwerden, ­jedoch nicht häufiger als in den Kontrollgruppen. Es handelt­ sich demnach eher um koinzidierende Ereignisse als Nebenwir­ kungen.

17.2.11

Rotavirus

Impfstoffe und -schema  Es gibt diverse Totimpfstoffe, die jährlich den epidemiologischen Entwicklungen angepasste Influenza­ virusantigene enthalten. Sie stammen von 2 Influenza-A-Subtypen (H1N1 und H3N2) und 1-2 Influenza-B-Virustypen. Seit Januar 2018 empfiehlt die STIKO ausschließlich quadrivalente Impfstoffe zu verwenden. Bei erstmaliger Impfung vor dem 9. Geburtstag sind 2 Dosen im Abstand von 4 Wochen für einen optimalen Impfschutz notwendig. In den darauf folgenden Jahren genügt jeweils eine Dosis, vorzugsweise im Herbst. Kinder im Alter von 6 Monaten bis 3 Jahren erhalten jeweils eine halbe Impfdosis (0,25 ml) i.m., Personen im Alter über 3 Jahren erhalten 0,5 ml. Neben den Injektionsimpfstoffen ist seit Herbst 2012 auch ein nasaler Lebendimpfstoff im Alter von 2–17 Jahren zugelassen und verfügbar. Wirksamkeit und Verträglichkeit  Die Schutzrate gegenüber den in den Impfstoffen enthaltenen Influenzavirustypen beträgt je nach klinischem Endpunkt, Alter und immunologischer Kompetenz­ bei Kindern und Jugendlichen bis zu ca. 70–90%. Die Verträglichkeit ist gut. Bei Patienten mit anaphylaktischer Reaktion auf Hühner­ eiweiß ist die Impfung mit Impfstoffen auf Hühnereibasis kontraindiziert.

Hepatitis A

Impfstoff und -schema  Es stehen 2 Vakzinen zur Verfügung: 44 Rotarix, ein monovalenter, oraler Lebendimpfstoff, der im ­Alter von 6–24 Wochen in 2 Dosen zu 1 ml oral im Abstand von mindestens 4 Wochen gegeben wird, und 44 Rotateq, ein pentavalenter, oraler Lebendimpfstoff, der im ­Alter von 6–32 Wochen in 3 Dosen zu 2 ml oral im Abstand von mindestens 4 Wochen gegeben wird.

17.3.2

>> Die STIKO empfiehlt seit 2013 die Rotavirusimpfung für alle Säuglinge im Alter bis zu 6 Monaten.

vierte Viren. Das Impfschema ist vom Alter des Impflings und dem gewählten Impfstoff abhängig (7 Fachinformationen). Es besteht ferner die Möglichkeit, eine kombinierte Hepatitis-A- und -B-Impfung durchzuführen.

Wirksamkeit und Verträglichkeit  Mit beiden Impfstoffen können mit einer Wirksamkeit von bis zu ca. 85% gegen alle Rotavirusinfektionen sowie von bis zu 100% gegen schwere Infektionen in den ersten beiden Lebensjahren Gastroenteritiden durch Rotavirus ­relativ zuverlässig verhindert werden. Die Impfungen werden gut vertragen. Ereignisse wie Erbrechen, Durchfall, und Fieber nach der Impfung treten kaum häufiger auf als es die spontane Auftretenswahrscheinlichkeit erwarten ließe. Es handelt sich auch hier demnach eher um koinzidierende Ereignisse als Nebenwirkungen.

17.3

Indikationsimpfungen

Manche Impfungen für Kinder und Jugendliche sind nicht allgemein, sondern nur für bestimmte Risikopersonen, Patienten bzw. deren Angehörige, oder vor Reisen in Regionen mit erhöhter Krankheitsgefährdung indiziert. Während Indikationsimpfungen wie allgemein empfohlene Impfungen eine Kassenleistung darstellen, müssen die Kosten für Reiseimpfungen von den Impflingen im Allgemeinen selbst getragen werden. 17.3.1

Influenza (Virusgrippe)

Indikation  Alle Personen mit chronischen Krankheiten und dadurch erhöhter gesundheitlicher Gefährdung oder mit erhöhter Expositionsgefahr (medizinisches Personal!) sollten sich jährlich gegen Grippe impfen lassen.

17

Indikation  Die aktive Immunisierung ist für Personen mit erhöh-

ter Gefährdung bzw. Expositionsgefahr (z. B. Heimunterbringung, chronische Leberkrankheit, Hämophilie sowie vor Reisen in Hepatitis-A-Endemiegebiete) ab dem Alter von 1 Jahr indiziert.

Impfstoffe und -schema  Hepatitis-A-Impfstoffe enthalten inakti-

Wirksamkeit und Verträglichkeit  Die Wirksamkeit beträgt nahe-

zu 100%. Der Schutz beginnt bereits 1–2 Wochen nach der 1. Impfdosis. Er hält nach kompletter Grundimmunisierung mindestens 20–25 Jahre an. Die Verträglichkeit ist sehr gut. 17.3.3

Rabies (Tollwut)

Indikation  Eine Tollwutimpfung ist nach Kontakt mit bzw. Ver­ letzung durch ein tollwutverdächtiges Tier indiziert und vor Reisen in Risikogebiete, z. B. in Asien oder Afrika. Impfstoffe und -schema  Tollwutimpfstoffe enthalten abgetötete Lyssa-Viren, die auf Hühnerfibroblasten bzw. anderen Zellkulturen

gezüchtet wurden. Postexpositionell ist so bald wie möglich die 1. aktive Impfung (1,0 ml i.m.) und simultan die Gabe von spezifischem Immunglobulin (20 I.E./kg KG) notwendig. Weitere aktive Immunisierungen folgen an den Tagen 3, 7, 14 und – falls der Tollwutverdacht des Tiers nicht ausgeräumt wurde – 28. Präexpositionell umfasst das Impfschema 3 Impfdosen an den Tagen 0, 7 und­ 21 oder 28. Nach Exposition muss dann zusätzlich an den Tagen 0 und 3 mit 2 weiteren Impfdosen der Impfschutz optimiert werden. Wirksamkeit und Verträglichkeit  Die Wirksamkeit beträgt post-

expositionell praktisch 100%, wenn die erste Impfung innerhalb von wenigen Tagen nach Exposition erfolgt und die empfohlenen nach-

410

U. Heininger

folgenden Impfdosen ebenfalls zeitgerecht erfolgen. Die Verträglichkeit der Impfung ist gut. 17.4

Reiseimpfungen

17.4.1

Frühsommermeningoenzephalitis (FSME)

Indikation  Alle Personen, die sich vorübergehend oder dauerhaft

in einem FSME-Endemiegebiet aufhalten (Süddeutschland, Österreich, Südosteuropa u. a.), sollten Impfschutz besitzen.

Impfstoffe und -schema  Die aktive Immunisierung (ab dem Alter von 12 Monaten) besteht aus inaktivierten FSME-Viren. Es sind 3 Impfdosen (Zeitpunkte 0, 1, 5–12 bzw. 9–12 Monate) erforderlich; Auffrischungen sind alle 3–5 Jahre indiziert. Für dringende Indikationen gibt es eine Schnellimmunisierung (7 Fachinformationen). Wirksamkeit und Verträglichkeit  Die Wirksamkeit beträgt vermutlich >90%. Die Verträglichkeit ist gut; allerdings werden bei der 1. Impfdosis vor dem Alter von 3 Jahren häufig (um 20–30%) vorübergehende Fieberreaktionen berichtet. Vereinzelt gemeldete postvakzinale neurologische Erkrankungen (selten im Kindesalter) wie z. B. periphere Neuritiden, Guillain-Barré-Syndrom u. a. sind nicht ursächlich der vorausgegangenen FSME-Impfung zuzuordnen.

17.4.2

Typhus

Indikation  Die Impfung ist vor Reisen in Endemiegebiete für Salmonella-typhi-Infektionen indiziert. Dazu zählen Asien, weite Tei-

le Afrikas und Südamerika. Das Infektionsrisiko ist von der Art der Reise, den Ernährungsgewohnheiten und der Dauer des Aufenthalts abhängig. Impfstoffe und -schema  Es gibt 2 Arten von Typhusimpfstoffen:

17

die oral anzuwendenden Kapseln, welche attenuierte Typhussalmonellen enthalten sowie die Injektionsvakzine, welche das Kapselpolysaccharid „Vi“ des Erregers enthält. Die Lebendvakzine, ab dem Alter von 1 Jahr zugelassen, wird als Kapsel an 3 Tagen mit jeweils einem Tag Abstand eingenommen. Bei Immundefizienz ist sie kontraindiziert. Die Totvakzine wird ab dem Alter von 2 Jahren ein­ malig i.m. injiziert (0,5 ml).

Wirksamkeit und Verträglichkeit  Die Wirksamkeit der Lebend-

vakzine beträgt 50–90%, beginnt 10 Tage nach der 3. Dosis und hält etwa 1 Jahr an. Danach ist bei erneuter Expositionsgefahr die Serie zu wiederholen. Die Schutzrate der Totvakzine beginnt ebenfalls nach etwa 10 Tagen, beträgt 60–70% und hält 3 Jahre an. Die Verträglichkeit beider Vakzine ist gut. 17.4.3

Gelbfieber

Indikation  Die Impfung ist vor Reisen in Endemiegebiete Afrikas

und Südamerikas empfohlen.

Impfstoff und -schema  Es handelt sich um einen Lebendimpfstoff, der attenuierte Gelbfieberviren enthält. Er ist ab dem Alter von 6 Monaten zugelassen und darf nur von zugelassenen Impfstellen (Auskunft: örtliches Gesundheitsamt) verabreicht werden. Eine

Impfdosis (0,5 ml s.c.) ist ausreichend. Bei Patienten mit Immundefizienz oder Hühnereiweißallergie ist die Impfung kontraindiziert. Wirksamkeit und Verträglichkeit   Die Wirksamkeit beträgt

9­ 0–95% und beginnt 5–10 Tage postvakzinal. Sie hält vermutlich lebenslang an. Lokale Nebenwirkungen sind selten, gelegentlich tritt nach einigen Tagen kurz anhaltendes Fieber auf.

411

Pneumologie Inhaltsverzeichnis Kapitel 18

Pneumologie interdisziplinär – 413 M. Kopp, C. Vogelberg, M. Dübbers, E. Paditz

Kapitel 19

Zystische Fibrose – 445 H. Hebestreit, A. Hebestreit

VII

413

Pneumologie interdisziplinär M. Kopp, C. Vogelberg, M. Dübbers, E. Paditz

18.1

Anatomische und physiologische entwicklungsabhängige ­Besonderheiten  – 415

18.2

Angeborene Fehlbildungen  – 415

18.2.1 Angeborene Fehlbildungen von Larynx, Trachea und Bronchien  – 415 18.2.2 Angeborene Fehlbildungen der Lunge  – 416 18.2.3 Fehlbildungen der Thoraxwand  – 417

18.3

Angeborene Lungenerkrankungen  – 418

18.3.1 Primäre ziliäre Dyskinesie  – 418 18.3.2 Alpha-1-Antitrypsin  – 419

18.4

Akute und chronische Entzündung ­der oberen Luftwege  – 419

18.4.1 Akute Rhinitis  – 419 18.4.2 Chronische Rhinitis  – 419

18.5

Akute und chronische Entzündung ­ der Trachea und des Bronchialsystems  – 420

18.5.1 18.5.2 18.5.3 18.5.4 18.5.5 18.5.6

Stenosierende Laryngotracheitis ­(Pseudokrupp)  – 420 Epiglottitis  – 420 Akute Bronchitis  – 421 Chronische Bronchitis  – 422 Bronchiolitis und obstruktive Bronchitis  – 422 Rezidivierende Infekte der Atemwege – Infektanfälligkeit  – 423

18.6

Akute und chronische Entzündung ­der Lunge  – 424

18.6.1 Pneumonie  – 424 18.6.2 Asthma bronchiale  – 426 18.6.3 Exogen-allergische Alveolitis  – 431

18.7

Bronchiolitis obliterans  – 432

18.8

Bronchiektasen  – 433

18.9

Interstitielle Lungenerkrankungen  – 434

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_18

18

18.10 Systemkrankheiten mit Beteiligung d ­ er Lunge  – 434 18.10.1 Sarkoidose  – 434 18.10.2 Neuromuskuläre Erkrankungen ­und Ateminsuffizienz  – 435

18.11 Aspiration  – 436 18.11.1 Fremdkörperaspiration  – 436

18.12 Thoraxtrauma und Erkrankungen ­der Pleura  – 437 18.12.1 Pneumothorax  – 437 18.12.2 Pleuritis  – 437

18.13 Tumoren der Lunge und der Pleura  – 439 18.13.1 Gutartige Neoplasien  – 439 18.13.2 Maligne Tumoren  – 439

18.14 Schlafmedizin  – 439 18.14.1 Schlafbezogene Atmungsstörungen  – 440 18.14.2 Neurologisch und psychosomatisch ­bedingte Schlafstörungen  – 442

415 Pneumologie interdisziplinär

18.1

Anatomische und physiologische entwicklungsabhängige Besonderheiten

C. Vogelberg Die Atemfrequenz eines Kindes ist von seinem Alter abhängig: Neugeborene atmen 35- bis 55-mal pro Minute, 6-Jährige hingegen etwa 25-mal. Der horizontale Verlauf der Rippen beim Säugling lässt eine wirksame Erweiterung des Thorax nicht zu, sodass diese auf eine Zwerchfellatmung angewiesen sind und eine Atemregulation im Wesentlichen nur über die Frequenz möglich ist. Einziehungen beim Neugeborenen mit Atemnot entstehen, wenn die Lungen weniger beweglich als die Brustwand werden. Während der Inspiration entwickelt das Kind kräftige diaphragmatische Kontraktionen, um die Lunge mit Luft zu füllen. Dies lässt einen starken negativen in­ trapleuralen Druck entstehen; als Folge kollabiert die Brustwand nach innen an Punkten kleinsten Widerstandes: Einziehungen interkostal, subkostal, substernal und jugulär resultieren. >> Neugeborene und Säuglinge sind obligate Nasenatmer, daher kann ein Schnupfen im Säuglingsalter zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Kindes bis hin zur notwendigen Krankenhausaufnahme führen.

Stöhnen entsteht, wenn das Neugeborene zur Steigerung des en-

dobronchialen Drucks zum Beginn der Ausatmung kurz die Glottis verschließt und nach deren Öffnung die Luft mit einem „stöhnenden“ Geräusch entweicht. In Abhängigkeit vom Entwicklungsstand der luftleitenden Atemwege ergeben sich bei Kindern altersspezifische physiologische Besonderheiten der Lungenfunktion, die auch für die weitere Entstehung und den Verlauf von Erkrankungen von besonderer Bedeutung sind. Bis etwa zum 5. Lebensjahr sind die peripheren Atemwege (ab 15. Generation) disproportional eng und dementsprechend ihre Durchlassfähigkeit gegenüber den zentralen Atemwegen unerwartet niedrig. Sie tragen in diesem Alter noch zu ca. 50% des gesamten Atemwegswiderstands bei. Erst nach dem 4. Lebensjahr kommt es zu einer raschen Größenzunahme der Atemwege und daraus resultierend zu einer Abnahme des Widerstands der peripheren Atemwege. Auf der Basis dieser Besonderheit wird jeder Infekt der Atem­ wege bei Säuglingen und Kleinkindern einen größeren Einfluss auf die Durchlassfähigkeit der peripheren Atemwege haben als im ­späteren Leben. Es kommt zu erheblichen Störungen hinsichtlich Belüftung (Giemen!) und Gasaustausch. Beim größeren Kind bzw. beim Erwachsenen werden Störungen mit gleicher Lokalisation (z. B. im Rahmen von Bronchitis, Bronchiektasen oder Mukoviszidose) dagegen oft „stumm“ bleiben. Die Tendenz der jungen Kinder zur schnellen Obstruktion der kleinen Atemwege ist ursächlich dafür, dass in diesem Altersbereich Atelektasen und rezidivierende Infektionen häufiger zu beobachten sind. Als weitere, entwicklungsabhängige Besonderheiten und Risikofaktoren für die Entstehung und den Verlauf von bronchopulmonalen Erkrankungen im frühen Kindesalter sind zu nennen: 44 Weichheit des Knorpels von Larynx und großen Bronchien, sodass bei größeren Druckschwankungen in den Atemwegen eine Kollapsneigung besteht. 44 Die Bronchien junger Kinder besitzen relativ viele Schleimdrüsen. Entzündungen oder Irritationen führen deshalb zu ­einer stärkeren sekretbedingten Obstruktion. 44 Ein inadäquater Hustenmechanismus (schwacher Reflex, ­horizontale Rippenstellung) und die beschriebene Kollaps­ neigung verhindern eine optimale Bronchialreinigung.

18.2

Angeborene Fehlbildungen

M. Kopp 18.2.1

Angeborene Fehlbildungen von Larynx, Trachea und Bronchien

Stridor congenitus jjPathogenese Kongenitale Fehlbildungen, die den Kehlkopfeingang, das Kehlkopf­ lumen oder die Trachea einengen, führen postnatal – bei geringerer Ausprägung auch erst im Rahmen des ersten Luftwegsinfekts – zu einem ziehenden, juchzenden oder schnarchenden Atemgeräusch. >> Dieser Stridor tritt bei extrathorakal gelegenen Hindernissen (häufigste Lokalisation) bei der Inspiration, bei unterhalb der oberen Thoraxapertur liegenden Stenosen (unteres Drittel der Trachea, Hauptbronchien) exspiratorisch auf.

Prinzipiell kann es sich um dynamische (Malazie) und fixierte Stenosen handeln. Weitere Ursachen eines kongenitalen Stridors, die differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden müssen, sind in . Tab. 18.1 dargestellt. jjKlinik Neben dem meist inspiratorischen Stridor kann es in Abhängigkeit vom Grad der Einengung zu tiefen jugulären, sternalen und epigastrischen Einziehungen kommen. Ein hinzukommender Luftwegs­ infekt verschlimmert in der Regel die Situation. Der Stridor ist oft lageabhängig mit Besserung in Bauchlage oder beim Überstrecken des Halses. jjDiagnose Bei einer leichten Form des Stridor congenitus mit Beginn in den ersten Lebenswochen, der nicht mit einer Gedeihstörung einhergeht, ist keine weitere Diagnostik indiziert. Gibt es Zweifel an der Diagnose oder persistiert der Stridor über das erste Lebensjahr hinaus, so muss mittels flexibler Bronchoskopie, Echokardiographie und ggf. Schnittbildgebung die Ätiologie eines persistierenden Stridors zweifelsfrei geklärt werden.

..Tab. 18.1  Differenzialdiagnose des Stridors Pharynxbereich

Trachea – ­Bronchien

Andere

Angeboren

Laryngomalazie Laryngozele oder -zyste Hämangiom, Lymphangiom

Erworben

Krupp Epiglotittis Rekurrensparese

Angeboren

Tracheomalazie Bronchomalazie Hämangiom, Lymphangiom Gefäßfehlbildung

Erworben

Fremdkörper Tumoren

Angeboren

Makroglossie, Glossoptose Mikrognathie

Erworben

Tonsillenhyperplasie

18

416

M. Kopp et al.

j jTherapie Leichte bis mittelschwere Verläufe auf der Basis einer Malazie von Epiglottis, Kehlkopf oder Trachea bedürfen keiner besonderen Therapie. Verschlechterungen im Rahmen akuter Infekte müssen u. U. stationär überwacht werden. Sehr schwere Verläufe machen eine Beatmung oder in seltenen Fällen eine Tracheotomie nötig. Eine nichtinvasive nächtliche CPAP-Atemunterstützung („continuous positive airway pressure“) kann in Einzelfällen die Tracheotomie umgehen. Andere Ursachen (z. B. primäre und sekundäre Stenosen, Tumoren, Zysten) können operativ beseitigt werden. Bei Hämangiomen kann eine Behandlung mit Betablockern erfolgen (7 Kap. 30). !! Cave Bei der Bronchoskopie müssen Hämangiome aufgrund der Blutungsgefahr mit äußerster Vorsicht inspiziert werden.

j jPrognose Die Weichheit des Knorpels von Kehlkopf oder Trachea nimmt mit zunehmendem Lebensalter ab, sodass der Stridor bei den meisten Kindern nach 6–18 Monaten abklingt.

Stenosen durch Fehlbildungen von großen ­Gefäßen 7 Kap. 20.

18.2.2

Angeborene Fehlbildungen der Lunge

Angeborene Lungenfehlbildungen sind selten Erkrankungen. Hierzu zählen u. a. folgende Krankheitsbilder: Agenesie bzw. Aplasie  Die Agenesie/Aplasie einer Lunge (meist

links) ist mit dem Leben vereinbar, geht aber oft mit gehäuften bronchopulmonalen Infekten einher. Die Kinder sind vermindert belastbar. Begleitende Fehlbildungen (besonders Herz, Ösophagus u. a.) finden sich in 50–75% der Fälle. Die Therapie beschränkt sich auf die Bekämpfung der rezidivierenden Infektionen in dem fehlgebildeten Lungenabschnitt.

18

Hypoplasie  Eine Hypoplasie (7 Kap. 4.7) der Lunge kann sowohl durch primäre teratogene Schädigungen, eine Hypo- oder Aplasie der A. pulmonalis wie aber auch durch Einwirkungen von außen entstehen, die die weitere Entwicklung einer primär normal angelegten Lunge behindern (z. B. Zysten, Zwerchfellhernien). Fast immer wird die Hypoplasie des Lungengewebes von einer Hypoplasie der zuständigen Arterie begleitet und oft bestehen Fehlbildungen in anderen Organen (Herz, Zwerchfell, Niere). Zystische Lungenfehlbildungen sind seltene Anomalien. Durch die pränatalen Sonographie werden sie zunehmend häufiger diagnostiziert. Die meisten Kinder bleiben zunächst symptomfrei. Selten treten Symptome bereits in den ersten Lebensmonaten auf (z. B. Atemnotzustände, pulmonale Infektionen). Zu den angeborenen parenchymatösen Lungenfehlbildungen zählen primär die kongenitalen pulmonalen Atemwegsmalformationen (CPAM), bronchogene Zysten, das lobäre kongenitale Lungenemphysem und die bronchopulmonalen Sequester (BPS). Kongenitale pulmonale Atemwegsmalformation (CPAM)  Die CPAM (früher: kongenitale zystisch-adenomatoide Malformation, CCAM), ist eine angeborene, hamartöse, gutartige Veränderung ­eines Teils der Lunge mit einer Inzidenz von etwa 1/10.000–1/30.000. Der betroffene Lungenabschnitt zeigt dabei solide und v. a. zysti-

sche Veränderungen des Lungengewebes. Die Pathogenese der

CPAM ist nicht endgültig geklärt. Die Einteilung der CPAM erfolgt in 5 Typen basierend auf der Zystengröße und der Zellcharakteris­ tika nach Stocker. Da der Verlauf bereits intrauterin sehr variabel sein kann, ist für die Beurteilung ein erfahrener Kinderpneumologe notwendig. Die CPAM kann bis etwa zur 28. Schwangerschafts­ woche an Größe zunehmen und danach an Größe wieder abnehmen. Die Indikation und der Zeitpunkt einer möglichen Operation ­müssen vor dem Hintergrund der aktuellen Beschwerden, eines mög­lichen Entartungsrisikos sowie dem Risiko der rezidivierenden pulmonalen Infekte individuell abgewogen werden. Bronchogene Zysten  Vom Bronchialsystem ausgehende Zysten

sind intra- oder extrapulmonal gelegene, kugelförmige Hohlräume von wechselnder Größe. Sie können Luft oder Flüssigkeit enthalten und haben primär eine Verbindung zum Bronchialbaum, die meist aber obliteriert ist. Bronchogene Zysten machen etwa die Hälfte aller Lungenfehlbildungen aus. Die extrapulmonalen Zysten (meist solitär) entstehen in der 4.–5., die intrapulmonalen (meist multipel) in der 8. Embryonalwoche wohl durch vermehrte Ausknospung oder Wachstum von versprengten Zellen. Bronchogene Zysten können lange Zeit symptomlos bleiben und werden teilweise auch zufällig bei einer Röntgenaufnahme entdeckt. Bedeutung erlangen sie durch Kompression von Bronchien oder Lungenparenchym (Reizhusten, Stridor, chronische Bronchitis) bzw. durch rezidivierende Infektionen (Pneumonie). Die Therapie erfolgt durch chirurgische Entfernung aller extrapulmonalen Zysten. Bei intrapulmonaler Lage ohne Zeichen für Kompression und Infektion kann unter Beobachtung abgewartet werden. Kongenitales lobäres Emphysem  Unter einem lobären Emphysem versteht man eine Überblähung eines oder auch mehrerer Lun-

genlappen. Dies kommt durch einen Ventilmechanismus zustande: Bei der Inspiration tritt Luft in den betroffenen Bereich ein, die bei der Exspiration nicht mehr entweichen kann. Ursachen hierfür können u. a. eine Knorpeldysplasie, Gefäßanomalien oder Stenosierungen von außen z. B. durch eine bronchogene Zyste oder ein Teratom sein. Histologisch findet man eine normale Lungenarchitektur mit überblähten Alveolen. Im Unterschied dazu findet man bei dem sog. lobulären Emphysem alveoläre Strukturanomalien. Die klinische Symptomatik beginnt fast immer direkt in der Neonatalzeit, wenn die Kinder mit einer progredienten Tachypnoe und Dyspnoe auf­ fallen. Lungensequestration  Bei der Lungensequestration besitzt der

vom normalen Lungengewebe anatomisch und funktionell völlig getrennte Teil eine amorphe histologische Struktur. Besteht keine Verbindung zur gleichseitigen Lunge und ist eine eigene Pleura ­vorhanden, spricht man von extralobärer – im Gegensatz zur intra­ lobären – Sequestration.

>> Bedeutsam ist für Diagnose und Operation, dass die versorgende Arterie immer direkt aus der Aorta entspringt (in 25% dabei aus der Aorta abdominalis)!

Klinisch machen sich diese Fehlbildungen durch rezidivierende Pneumonien, Lungenabszesse oder unter dem Bild von Bronchiektasen bemerkbar, die meist im Unterlappen (links > rechts) ablaufen (. Abb. 18.1). Die Behandlung ist chirurgisch, wobei meist chronisch entzündetes umgebendes Lungengewebe mit entfernt werden muss. Angeborene Fehlbildungen des Zwerchfells  7 Kap. 22.

417 Pneumologie interdisziplinär

a

b

..Abb. 18.1  Rundliche Verschattungen beidseits der Wirbelsäule (Pfeile) bei doppelseitiger Lungensequestration: a posterior-anteriorer, b schräger Strahlengang

18.2.3

Fehlbildungen der Thoraxwand

M. Dübbers

Trichterbrust (Pectus excavatum) Die Trichterbrust ist mit fast 90% der Fälle die häufigste Form der Thoraxwanddeformität und tritt mit einer Inzidenz von etwa 1:400 Lebendgeburten auf. Jungen sind etwa 3-mal häufiger betroffen. Hinsichtlich der Entstehung werden Fehlbildungen der knorpeligen Rippenanteile sowie ungleiche Zugwirkungen der Muskulatur diskutiert. Zumeist tritt die Trichterbrust als isolierte Fehlbildung auf. Die familiäre Häufung sowie eine Assoziation mit dem Marfan- oder Ehlers-Danlos-Syndrom ist beschrieben. Eine spontane Rückbildung ist selten und nach dem 6. Lebensjahr nicht mehr zu erwarten. jjKlinik und Diagnose Klinisch imponiert die trichterförmige Einziehung der vorderen Thoraxwand zumeist bereits im frühen Kindesalter (. Abb. 18.2).

a

b

Die Ausprägung und Symmetrie ist variabel und kann insbesondere während der Phase des raschen Wachstums in der Pubertät weiter progredient sein. Häufig begleitend findet sich eine Kyphoskoliose. Die charakteristische Körperhaltung ist geprägt durch einen nach vorne gebeugten Oberkörper mit hängenden Schultern. Die körperliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen ist meist nicht beeinträchtigt, ebenso sind kardiopulmonale Einschränkungen zumeist nicht nachweisbar. Neben dem typischen klinischen Erscheinungsbild zeigt die Thoraxröntgenaufnahme in 2 Ebenen das Ausmaß des Trichters sowie evtl. Veränderungen des Herzschattens oder eine Skoliose. Die CT-Untersuchung des Thorax wird zur Objektivierung der Trichterkonfiguration und Planung der Operation favorisiert. Als Maß für die Quantifizierung des Befunds dient der CT-Index nach Haller (Querdurchmesser des Thorax dividiert durch den ­Abstand Sternum-Wirbelsäule an der tiefsten Stelle des Sternums), wobei ein Wert von 2,5 als normal gilt. EKG, Echokardiographie und Spirographie komplettieren die Diagnostik.

c

..Abb. 18.2  Minimal-invasive Behandlung der Trichterbrust. a Trichterbrust präoperativ, b Röntgendarstellung des substernal implantierten Metall­ bügels, c postoperativer Aspekt

18

418

M. Kopp et al.

j jTherapie Mit zunehmendem Alter empfindet ein Großteil der Betroffenen das Erscheinungsbild des Brustkorbs als störend und im Alltagsleben beeinträchtigend. Das Entblößen des Oberkörpers bereitet vielen Patienten v. a. in der Pubertätsphase Scham, sodass ein nicht unerheblicher Leidensdruck entstehen kann. Subjektiv werden dann auch häufig Atemnot oder eine körperliche Leistungseinschränkung beklagt. Haltungsübungen sowie gezielte Maßnahmen zum Muskelaufbau der Brustwand sind stets hilfreich und bei milden Formen womöglich ausreichend. Konservative Methoden wie die Saugglocken-Applikation werden an einigen Zentren eingesetzt, haben sich jedoch nicht flächendeckend durchgesetzt. Allgemein akzeptierte Faktoren für die OP-Indikation sind ein Haller-Index >3,25, die Kompression oder Verdrängung des Herzens oder der Nachweis einer restriktiven respiratorischen Störung in der Diagnostik. Im Kleinkindesalter operierte Patienten neigen zu häufigeren Rezidiven während der Pubertät. Allgemein wird daher ein Operationszeitpunkt frühestens ab dem 8. Lebensjahr und rechtzeitig vor Ende der Adoleszenz empfohlen. Die minimalinvasive Trichterbrustkorrektur nach Nuss (MIRPE) stellt mittlerweile die wohl am häufigsten angewendete Technik insbesondere bei jüngeren Patienten dar. Unter thorakoskopischer Kontrolle erfolgt hier die Implantation eines oder mehrerer Metallbügel unter das Brustbein ohne Notwendigkeit zusätzlicher Osteotomien (. Abb. 18.2). Der Trichter wird hierbei durch Drehung des Bügels nach oben gedrückt. Die Entfernung des Bügels erfolgt meist nach 2–3 Jahren. Offene Operationsverfahren mit Aufrichtung des Sternums z. B. durch quere Sternotomie und Rippenosteotomien mit oder ohne Implantation von Brustwandstabilisatoren (OP nach Ravitch oder Rehbein) werden bei komplexen Deformitäten sowie älteren Patienten weiterhin durchgeführt. jjPrognose Die Ergebnisse der operativen Therapie der Trichterbrust sind überwiegend sehr gut. Komplikationen sind u. a. intraoperative Verletzungen und ­Blutungen der Brustwand oder der Brustorgane, die postoperative Dislokation des Bügels oder das Rezidiv.

Kielbrust (Pectus carinatum) Die Kielbrust ist im Vergleich zur Trichterbrust mit einem Anteil von 5–10% der Patienten mit Brustwanddeformität deutlich seltener. Auch hier werden Störungen der sternocostalen Knorpelstrukturen diskutiert, letztendlich ist die Ätiologie jedoch unklar. Es besteht eine familiäre Häufung.

18

j jKlinik und Diagnose Die Diagnose wird häufig erst nach dem 10. Lebensjahr gestellt, da sich meist erst unter dem Wachstumsschub eine unterschiedlich stark ausgeprägte symmetrische oder asymmetrische Vorwölbung im Bereich des Sternums und/oder parasternal ausbildet. Nur wenige Patienten zeigen diese Veränderungen bereits im Kleinkindalter. Spinale Anomalien oder eine Skoliose sind bei 15–30% der Patienten beschrieben. Physiologische Beschwerden bereitet die Kielbrust-Deformität meist nicht, sodass eine Korrektur überwiegend aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes erfolgt. Eine Röntgenthoraxunter­ suchung kann begleitende Wirbelsäulenveränderungen oder den zeitlichen Verlauf der Deformität dokumentieren. Die Computertomographie des Thorax dient insbesondere der präoperativen Planung. j jTherapie Der Versuch einer konservativen Therapie mittels Druckpelotte (Bracing) ist bei jüngeren Patienten möglich, der Vorteil dieser Be-

handlung jedoch insgesamt umstritten. Die operative Korrektur ­erfolgt ähnlich den Prinzipien der bei Trichterbrust eingesetzten Verfahren (minimal-invasiv/offene Thorakoplastik) und zeigt insgesamt gute Ergebnisse.

Seltene Thoraxdeformitäten Das Poland-Syndrom beschreibt eine Aplasie oder Hypoplasie des M. pectoralis major mit assozierten Fehlbildungen der ipsilateralen Rippen, des Arms und der Hand. Das Jeune-Syndrom ist durch ­einen glockenförmigen, zu kleinen und rigiden Thorax charakterisiert, was zumeist frühzeitig im Säuglingsalter zur respiratorischen Insuffizienz führt. Sternumdefekte sind seltene angeborene Mittelliniendefekte, welche sich in unterschiedlicher Ausprägung bis hin zur Ectopia cordis zeigen. Die Prognose richtet sich hier zumeist nach den kardialen Begleitfehlbildungen. Die offene operative Korrektur seltener Thoraxdeformitäten sollte Zentren mit entsprechender Expertise vorbehalten bleiben. 18.3

Angeborene Lungenerkrankungen

M. Kopp Zystische Fibrose 7 Kap. 19. 18.3.1

Primäre ziliäre Dyskinesie

jjDefinition Die primäre Ziliendyskinesie („primary ciliary dyskinesia“, PCD) ist eine phänotypisch und genetisch heterogene Erkrankung, die überwiegend autosomal-rezessiv vererbt wird. Die Erkrankung ist ­charakterisiert durch eine Fehlfunktion respiratorischer Flimmerhärchen (Zilien), embryonaler Zilien und Spermienschwänze. Im Respirationstrakt kommt es hierdurch zu einer gestörten Mukus­ clearance und rezidivierenden bzw. chronischen Infektionen der oberen und unteren Atemwege. Männliche Infertilität auf Grund einer Spermiendysmotilität ist bei einer PCD häufig (~ 60%). Die embryonale Ziliendysfunktion ist dafür verantwortlich, dass die Hälfte der PCD-Patienten einen Situs inversus (Kartagener-Syndrom) aufgrund einer zufälligen Anordnung der Links-RechtsKörpera­ symmetrie aufweist. Neben den angeborenen Formen kann es im Rahmen von chronisch-entzündlichen Erkrankungen der Atemwege auch zu einer sekundären Fehlfunktion der Zilien kommen. Die Inzidenz liegt zwischen 1:15.000 und 1: 20.000 in der weißen Bevölkerung. jjKlinik Der individuelle Krankheitsverlauf der PCD ist sehr heterogen. Die pulmonalen Beschwerden bei PCD-Patienten sind durch die gestörte mukoziliäre Clearance erklärbar, die zu einer bakteriellen Besiedelung führt. So kommt es zu rezidivierenden bzw. chronischen Infektionen wie Otitis media, Sinusitis, Bronchitiden und Pneumonien mit chronischem, oft produktivem Husten. Die pulmonalen Beschwerden und Veränderungen sind ähnlich wie bei der zystischen Fibrose. Im fortgeschrittenen Stadium kann es zur Bronchiektasenbildung kommen. Die klassische Trias des Kartagener-Syndroms besteht aus Situs inversus, chronische Sinusitis und Bronchiektasen. jjDiagnose Rezidivierende oder chronische Erkrankungen der Atemwege wie Rhinitis, Otitis, Sinusitis oder Bronchitis sowie das Vorliegen eines

419 Pneumologie interdisziplinär

Situs inversus können hinweisend auf eine PCD sein. Hinweisend kann insbesondere eine Rhinitis sein, die bereits in der Neonatalperiode auftritt. Die Diagnose einer PCD kann nicht durch eine isolierte Untersuchung gesichert werden. Sie stützt sich neben der Anamnese auf die Befunde des erniedrigten nasalen NO, der Videomikroskopie nach einfachem Bürstenabstrich des Nasenepithels, der Elektronen- und Immunfluoreszenzmoikroskopie und der Genetik. Differenzialdiagnostisch müssen andere schwere Lungenerkrankungen wie z. B. die zystische Fibrose ausgeschlossen werden. jjTherapie Eine kausale Therapie der PCD gibt es nicht. Ziel von symptomatischen Therapiemaßnahmen muss die Vermeidung von pulmonalen Komplikationen sein. Zu den zur Verfügung stehenden symptomatischen Maßnahmen zählen u. a. die Physiotherapie, Sekretolytika, Inhalationstherapie mit hypertoner Kochsalzlösung und antiinflammatorischen sowie antiobstruktiven Medikamenten, Impfungen und eine gezielte antibiotische Therapie bei Infektionen. Patienten mit einer Zilienfunktionsstörung sollten in einer spezialisierten Ambulanz in regelmäßigen Abständen von einem Kinderpneumologen betreut werden. 18.3.2

Alpha-1-Antitrypsin

jjDefinition Alpha-1-Antitrypsin (A1-AT) ist ein Akute-Phase-Protein, das in der Leber synthetisiert wird und verschiedene Proteinasen hemmt. Ein Mangel an Proteaseinhibitoren führt zur Leberzirrhose und zum Lungenemphysem. Das Strukturgen ist auf Chromosom 14q31–32.2 lokalisiert. Von dem Glykoprotein sind mehr als 75 Allele bekannt. Der Austausch von wenigen Aminosäuren führt zu einer veränderten Tertiärstruktur des Proteins; hierdurch wird offenbar die Ausschleusung aus den Hepatozyten gehemmt. Die genotypischen Varianten wurden nach ihrer elektrophoretischen Mobilität benannt (Pi-Typisierung). Der homozygote Pi-Typ ZZ hat in der mitteleuropäischen Bevölkerung eine Häufigkeit von etwa 1:2.000–1:5.000. Er geht mit einer Serumrestaktivität von 10–20% der Norm einher (. Tab. 18.2). jjPathogenese A1-AT inaktiviert Proteasen aus aktivierten Neutrophilen. Ein Überschuss an Proteasen, insbesondere der neutrophilen Elastase, führt zur Zerstörung extrazellulärer Strukturproteine wie dem Elastin. Ein Ungleichgewicht zwischen Proteasen und A1-AT führt daher zur Destruktion von Lungengewebe mit irreversiblem Verlust der elastischen Rückstellkraft, Überdehnung der Alveolarwände und Ausbildung eines Emphysems. ..Tab. 18.2  A1-AT-Phänotyp, A1-AT-Serumspiegel und Emphysemrisiko Phänotyp

Serumspiegel in mg/dl

Emphysemrisiko

MM

150–350

Nicht erhöht

SS

100–140

Nicht erhöht

MZ

90–150

Nicht erhöht

SZ

45–80

20–50%

ZZ

15–50

80–100%

Null-Null

0

100%

jjKlinik Die emphysematischen Veränderungen der Lunge führen erst zu Symptomen, wenn ca. 25% der Lunge umgebaut sind. Dies ist l erst nach dem 12. Lebensjahr zu erwarten. Dann können Atemnot, eine chronische Bronchitis, ein unproduktiver Husten sowie bronchiale Hyperreaktivität und rezidivierende Pneumonien auftreten. >> Bei einem Icterus gravis bzw. prolongatus oder einer unklaren pulmonalen Symptomatik sollte der A1-AT-Serumspiegel ­bestimmt werden.

jjDiagnose Diagnoseweisend ist die Bestimmung von A1-AT im Serum. Bei Serumspiegeln > Im Gegensatz zur Epiglottitis ist beim Pseudokrupp der Allgemeinzustand oft nur wenig beeinträchtigt, das begleitende Fieber nur mäßig hoch, es bestehen keine Schluckbeschwerden und kein Speichelfluss.

j jDiagnose Neben der Anamnese (Impfstatus Diphtherie und HiB!) ist die klinische Untersuchung entscheidend. Hier werden die Vitalparameter inklusive der transkutanen O2-Sättigung und der Temperatur

jjTherapie Die Therapie richtet sich nach der Ausprägung der Symptomatik (. Tab. 18.3). Der positive Effekt einer Steroidgabe bei stenosierender Laryngotracheitis ist klar belegt. Bei rektaler Anwendung ist die Resorption mit 20–80% jedoch sehr variabel, weshalb eine orale Gabe nach Möglichkeit zu bevorzugen ist. Im Stadium IV ist die frühzeitige und ggf. wiederholte Gabe von i.v.-Steroiden die am besten abgesicherte Therapieform. Die Inhalation von Adrenalin wirkt über eine α-sympathomimetisch bedingte Schleimhautabschwellung innerhalb von wenigen Minuten für die Dauer von etwa 2 h. Der mittelfristige Verlauf wird durch die Adrenalininhalation nicht beeinflusst, sodass die gleichzeitige Steroidgabe sinnvoll ist. Wiederholte Inhalationen, maximal 1- bis 2-stündlich, sind möglich. Wichtig ist die Überwachung der Nebenwirkungen (Tachykardie >180/min in Ruhe, Übelkeit, Blässe, Unruhe). Bei einem ­viralen Krupp besteht keine Indikation zu einer antibiotischen ­Therapie. jjPrognose Rund 15% aller Kinder erkranken einmalig an einem Krupp, bis 15% der Kinder benötigen eine stationäre Behandlung. 18.5.2

Epiglottitis

jjDefinition Bei der Epiglottitis handelt es sich um eine Entzündung der Epiglottis meist durch Haemophilus influenzae Typ b (HiB), selten durch andere Bakterien. Aufgrund der einsetzenden Bakteriämie kommt es zu einer generalisierten Erkrankung, die immer ein medizinischer Notfall ist. jjKlinik und Diagnose Die Entzündung und damit das Anschwellen der Epiglottis nach bakterieller Infektion ist die Hauptursache dieses sehr akuten Krankheitsbilds. Die entzündlich vergrößerte Epiglottis verlagert sich nach hinten und verlegt so den Larynxeingang und die Atemwege. Der akute Atemwegsverschluss kann zur Erstickung führen. Meist binnen Stunden entwickeln sich hohes Fieber, Schluckschmerzen, deutlich reduzierter Allgemeinzustand, heisere Stimme mit inspiratorischem Stridor, Speichelfluss, kloßige Sprache („hot potatoe voice“), karchelnde Atmung. Das Kind wird ruhig, will v. a. Sitzen mit Abstützen der Arme nach vorne („tripode position“) als Ausdruck des Einsatzes der Atemhilfsmuskulatur, und verhindert ­jegliches Sprechen (Schmerzen). Die Untersuchung ergibt sofortige Druckdolenz über dem Kehlkopf bei leichter Berührung, hohes ­Fieber und blass-graues Hautkolorit. Die Diagnose wird anhand der typischen Anamnese und Klinik gestellt (IDifferenzialdiagnose: . Tab. 18.4).

421 Pneumologie interdisziplinär

..Tab. 18.3  Symptomatik der stenosierenden Laryngotracheitis Stadium

Symptomatik

Therapie

I

Bellender Husten, Heiserkeit, leiser Stridor bei Erregung

Kühle Luft, aufrechte Körperposition Beruhigung 2 mg/kgKG Prednisolon oder 0,15 mg/kgKG Dexamethason p.o. (bei ungünstiger oraler Applikationsmöglichkeit 100 mg Prednisolon oder Prednison Supp.) Ausreichend Flüssigkeit

II

Stridor in Ruhe, beginnende Dyspnoe, leichte juguläre Einziehungen

Inhalation mit Adrenalin (z. B. Infectokrupp 1-2 ml der gebrauchsfertigen Lösung, bei HF >180/min beenden) 2 mg/kgKG Prednisolon oder 0,15 mg/kgKG Dexamethason p.o. (bei ungünstiger oraler Applikationsmöglichkeit 100 mg Prednisolon oder Prednison Supp.) Ab diesem Stadium in der Regel stationäre Aufnahme

III

Ruhe-Dyspnoe, deutliche thorakale Einziehungen, Blässe, Tachykardie ­ >160/min

Stets stationäre Aufnahme Inhalation mit Adrenalin (s. o.), ggf. Inhalation wiederholen 2 mg/kgKG Prednisolon oder 0,15  mg/kgKG Dexamethason p.o. oder i.v., ggf. Steroidgabe wiederholen BGA und Überwachung des Blutdruckes

IV

Hochgradige Dyspnoe mit zunehmender Ateminsuffizienz, Zyanose, Erstickungsgefahr, Bradykardie, Somnolenz

Intensivmedizinische Überwachung Venöser Zugang, O2-Gabe, evtl. Sedierung Ggf. Intubation, Tracheotomiebereitschaft Inhalation mit Adrenalin (s. o.), ggf. Inhalation wiederholen 0,6 mg/kgKG Dexamethason oder 2–5 mg/kgKG Prednisolon i.v., ggf. Steroidgabe wiederholen

..Tab. 18.4  Differenzialdiagnosen der Epiglottitis mit zugehörigen Symptomen Symptomkomplex

Mögliche Ursache

Mundgeruch, Halslymphknoten, Anginaanamnese

Retropharyngealer Abszess

Schluckbeschwerden, reduzierter Allgemeinzustand, hohes Fieber, kloßige Sprache, Speicheln

Epiglottitis (HiB-Impfung?)

Süßlicher Mundgeruch

Diphtherie (Diphtherie-­ Impfung?)

Allergieanamnese

Glottisödem

Älteres Kind, Epiglottitissymptome, grobblasige Rasselgeräusche

Tracheitis mit Pus

Chronisch rezidivierender Verlauf

Fremdkörper im Larynx, Reflux

Bellender Husten

Pseudokrupp

!! Cave Jede Manipulation oder Inspektion ohne Intubations- und Narkosebereitschaft ist strikt zu unterlassen! Das Kind muss mit ärztlicher Begleitung unter dauernder O2-Gabe in die ­Klinik eingewiesen werden. Die Epiglottitis ist viel seltener als die stenosierende Laryngotracheitis; wegen der Bedrohlichkeit darf die Diagnose jedoch nicht verpasst werden.

jjTherapie und Prognose Die Inspektion des Rachens darf nur von einem erfahrenen Intensivmediziner in Intubationsbereitschaft erfolgen. Eine unkontrollierte Racheninspektion kann zu einer kritischen Atemwegsobstruktion führen. Neben der Sicherung der Atemwege ist eine i.v.-Antibiose meist mit einem Cephalosporin über 4–7 Tage indiziert.

Bei rechtzeitiger Therapie ist die Prognose sehr gut. Die Immunisierung gegen HiB im Rahmen des Grundimmunisierungsprogramms ist die beste Prophylaxe. Rezidive sind selten. Die Krankheit kann auch im Erwachsenenalter (sehr viel seltener) auftreten. 18.5.3

Akute Bronchitis

jjDefinition Die akute Bronchitis ist eine Erkrankung der Bronchialmukosa mit einer Symptomdauer von weniger als 4–6 Wochen. jjPathogenese Überwiegend findet eine primäre Infektion mit Viren (>90%), seltener mit Bakterien statt; letztere wird häufiger im Rahmen von Grunderkrankungen beobachtet. Toxische akute Bronchitis, z. B. nach Exposition von Rauch in Brandherden, ist anamnestisch einfach zu erfassen. jjPathophysiologie Die Grundlage bildet eine Entzündung mit Schwellung der Mukosa, Abschilferung und Zerstörung des Bronchialepithels, Hypersekre­ tion der Becherzellen, interstitiellem Ödem sowie leukozytärer und lymphozytärer Infiltration des Stromas. jjKlinik Eine akute banale Bronchitis sieht man meist im Zusammenhang mit einem viralen Infekt der oberen und mittleren Atemwege. Die häufigsten Erreger sind RSV, Adeno-, Rhino-, Influenza- und ­Parainfluenzaviren. Husten ist das vorherrschende Symptom, meist in Kombination mit seröser Rhinitis und leichtem Fieber. Der Husten ist zunächst eher trocken und löst sich dann in einer Phase von Hypersekretion (feuchter Husten). Das Allgemeinbefinden ist nur wenig beeinträchtigt, die Dauer der Erkrankung beträgt in der Regel 7–14 Tage.

18

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M. Kopp et al.

j jDiagnose Diese ist anhand der Klinik und Anamnese einfach. Der Rachenraum kann etwas gerötet sein, über den Lungenfeldern hört man mittel- bis grobblasige Rasselgeräusche. Weitergehende Unter­ suchungen erübrigen sich. j jDifferenzialdiagnose In der Differenzialdiagnose muss an die beginnende, protrahiert chronisch verlaufende Bronchitis, das Asthma, die toxische akute Bronchitis nach Inhalation von Gasen oder Flüssigkeit (Aspiration), eine Fremdkörperaspiration oder auch an eine Pertussiserkrankung gedacht werden. j jTherapie, Prognose Diese ist meist symptomatisch und besteht aus fiebersenkenden Maßnahmen, ausreichender Flüssigkeitszufuhr und Inhalation von isotoner Kochsalzlösung ggf. unter Zusatz von β-Sympatomimetika. Antitussiva sollten nicht eingesetzt werden. Antihistaminika sind nicht indiziert, für Mukolytika gibt es nur für wenige pflanzliche und synthetische Substanzen eine Wirksamkeitsevidenz. Bei Verdacht auf bakterielle Superinfektion kann eine antibiotische Therapie in Einzelfällen gerechtfertigt sein. Die Prognose ist bei unkompliziertem Verlauf sehr gut. Ein Übergang in eine chronisch verlaufende Bronchitis ist möglich (z. B. bei weiterbestehender Irritation und Rauchen). Die Entstehung von Bronchiektasien nach akuter unkomplizierter Bronchitis wird kaum beobachtet. 18.5.4

Chronische Bronchitis

Der bakterielle Superinfekt als Komplikation bei akuter viraler Bronchitis kann Ursache einer prolongierten Bronchitis mit Übergang in ein chronisches Stadium sein. >> Von chronischer Bronchitis spricht man dann, wenn die Symptome der Bronchitis, v. a. Husten und Auswurf, über mehr als 3 Monate anhalten.

18

j jEpidemiologie Chronische Bronchitis sehen wir im Kindesalter v. a. bei ständiger Exposition von Luftschadstoffen (v. a. Zigarettenrauch). Eine chronische Bronchitis kann aber Zeichen einer anderen zugrunde liegenden Krankheit sein und bedarf daher immer der erweiterten diagnostischen Abklärung. j jPathophysiologie Das durch die Wegbereiter (Viren, toxische Substanzen, Allergene) verletzte Bronchialepithel kann die lokalen Abwehrmechanismen wie Zilienschlag und Immunabwehr (z. B. sekretorisches IgA) nicht aufrechterhalten. Es erfolgt eine bakterielle Invasion mit leukozytärem Infiltrat, Ödem und Hypersekretion und Bildung von fibrinösen Ablagerungen. Dabei kommen v. a. Staphylokokken, Pneumokokken, HiB und Moraxella catharralis infrage Die Reparation erfolgt über Fibroblasten, was zu einer signifikanten Narbenbildung führen kann. Der Aufbau des Bronchialepithels mit zilienschlagenden Zellen ist damit beeinträchtigt, ein Circulus vitiosus beginnt. j jKlinik Der chronische, meist gegen Morgen akzentuierte, z. T. auch anfallsartige Husten mit Schleimproduktion ist das vorherrschende Symptom. Das vorerst noch bestehende Fieber verschwindet nach einigen

Tagen, der Auswurf wird gelb, gelb-grün oder grün-bräunlich. Meist besteht wenig Atemnot. Über den Lungenfeldern auskultiert man grob- bis mittelblasige Rasselgeräusche, Giemen und Pfeifen. Akute Komplikationen können u. a. eine Pneumonie oder Pleuraerguss in Folge der Ausdehnung eines Infekts, Hämoptoe, Atelektasen, Pneumothorax oder eine akute Ateminsuffizienz sein. jjDiagnose Diese beruht v. a. auf der Anamnese und der auffallenden Klinik des lange andauernden Hustens. Die radiologische Untersuchung ergibt meist Transparenzminderungen im Hilusbereich mit Doppelkonturen entlang der mittleren und größeren Bronchien („Peribronchitis“). Die erweiterte Diagnostik umfassen Blutbild, Blutsenkungsreaktion, CRP, Tuberkulinhauttest, Serumimmunglobulinbestimmung evtl. mit Subklassenbestimmung (Ausschluss Immundefekt), Bestimmung von Alpha-1-Antitrypsin, Schweißtest (Ausschluss CF) und ggf. Bronchoskopie und Schnittbildgebung (MRT oder CT der Lunge, Ausschluss Bronchiektasen, idiopathische Lungenfibrose, exogen allergische Alveolitis). Diese Analysen sind entsprechend der klinischanamnestischen Wahrscheinlichkeit in einem zeitlichen Stufenverfahren vorzunehmen. Eine Pertussisinfektion ist auszuschließen. >> Das Entfernen von toxischen Quellen (Zigarettenrauch) oder Allergenen ist von entscheidender Bedeutung.

Bei fehlender Grundkrankheit ist meist eine Antibiotikatherapie über 10–14 Tage, am besten entsprechend einem bakteriellen Antibiogramm aus dem Bronchialsekret (Auswurf, angehusteter Rachenabstrich) durchzuführen. In einzelnen Fällen kann auch eine längerfristige Antibiotikabehandlung notwendig sein. Eine Inhalationstherapie mit β2-Agonisten oder Ipatropiumbromid in NaCl hilft meist, die Symptomatik zu lindern. Ohne klare Indikation ist die Verabreichung von inhalativen Steroiden sinnlos. Mukolytika sind von fraglicher Wirksamkeit. 18.5.5

Bronchiolitis und obstruktive Bronchitis

jjDefinition Die Bronchiolitis ist eine Entzündung der Bronchiolen, die typischerweise im ersten Lebensjahr auftritt. Die obstruktive Bronchitis ist eine entzündliche Erkrankung der Schleimhäute der Bronchien mit z. T. erheblicher Schleimhautschwellung, Hypersekretion und mit unterschiedlich ausgeprägtem Bronchospasmus, der besonders im zweiten und dritten Lebensjahr bedeutsam ist. Die Ursachen der Bronchiolitis und obstruktiven Bronchitis sind in über 90% der Erkrankungen eine Virusinfektion. In den ersten 2–9 Monaten liegt der Bronchiolitis sehr häufig eine Infektion mit RS-Viren zu Grunde. Bei 2–3% dieser Säuglinge kommt es zu einer besonders schweren Entzündung v. a. der kleinen Bronchien und Bronchiolen mit erheblicher Schleimhautschwellung und intraluminaler Zelldesquamation. Mit zunehmendem Alter spielen insbesondere Rhinoviren neben Parainfluenza Typ III, Adenoviren und selten Mykoplasmen als Erreger eine Rolle. Die Übergänge zwischen obstruktiver Bronchitis und Bronchiolitis sind fließend. Eine Unterscheidung wird im deutschen (anders als im angloamerikanischen) Sprachraum aufgrund des klinischen Hauptbefunds getroffen: 44 Bronchiolitis: Charakteristisches Knisterrasseln (feinblasiges Rasselgeräusch), das am Ende der Inspiration in den distalen, sekretgefüllten Atemwegen entsteht (crackles). 44 Obstruktive Bronchitis: Überblähung und deutliches exspiratorisches Giemen („wheezing“).

18

423 Pneumologie interdisziplinär

jjPathogenese Wie der Terminus beschreibt, werden bei der Bronchiolitis v. a. die Bronchioli terminales betroffen. Immerhin können viral bedingte histologische Veränderungen auch in den größeren Bronchien und in der Trachea und nicht nur in den Bronchioli gesehen werden. Meist handelt es sich um lymphoplasmazelluläre Infiltrationen mit Bronchialnekrose, Zelldesquamation und Ödembildung. >> Kinder aus atopischen Familien scheinen für eine Bronchiolitis und obstruktive Bronchitiden anfälliger zu sein. Man nimmt an, dass eine Bronchiolitis und rezidivierende obstruktive Bronchitiden für späteres Asthma prädisponieren.

jjKlinik Das Krankheitsbild beginnt meist langsam als banaler Schnupfen über 2–3 Tage. Dann beherrschen zunehmende Atemnot, Dyspnoe, Tachypnoe, Husten, in- und exspiratorisches Stöhnen, inspiratorisch beobachtbare interkostale, subkostale und suprasternale Einziehungen, Nasenflügeln und wechselnde Zyanose das klinische Ausdrucksbild. Fieber kann vorhanden sein. Die Säuglinge können sich sehr rasch pulmonal erschöpfen und brauchen u. U. Atemhilfe inkl. Intubation. Durch die Anoxie des Gehirns kommt es unter Umständen zu einer Bewusstseinstrübung. jjKomplikationen Akute Komplikationen sind v. a. durch die sich entwickelnde Ateminsuffizienz programmiert: Intubation, Beatmung, Pneumothorax, Herzinsuffizienz. jjDiagnose Das klinische Bild, das Alter, der Zeitpunkt der Präsentation (Wintermonate) und die Anamnese sind wegweisend für die Diagnose. Es besteht eine deutliche Atemnot, auskultatorisch imponieren Giemen und verlängertes Exspirium z. T. mit Knisterrasseln, durch die Überblähung der Lungen wird häufig die Leber palpabel. Das Blutbild ist meist normal oder „viral“. Im Röntgenbild finden sich die auffallenden Zeichen der Lungenüberblähung (tief liegendes Zwerchfell, horizontal gestellte Rippen, interkostale Vorwölbungen), multiple kleinere subsegmentale Dys- oder Atelektasen und eine peribronchiale Strukturvermehrung. Die kompromittierte O2-Aufnahme wird durch Tachypnoe kompensiert und führt damit zu einem Absinken des kapillären pCO2. Steigt dieser an, muss an die beginnende globale Ateminsuffizienz gedacht werden. jjDifferenzialdiagnose Alle zu einer akuten Atemsymptomatik im Säuglingsalter führenden Ursachen können eine obstruktive Bronchitis/Bronchiolitis vortäuschen: erster Asthmaanfall, beginnende virale oder bakterielle Pneumonie, zystische Fibrose, Aspiration, Keuchhusten, Fremdkörper­ aspiration etc. jjTherapie Säuglinge mit Zyanose, Tachydyspnoe (>60/min), arteriellem (kapillärem) pCO2 >45 mmHg oder pO2 92% als Grenze) gelten. Auf eine genügende Flüssigkeitszufuhr (Magensonde oder i.v.) und freie obere Atemwege (Nasentropfen, Nasenspülung) ist zu achten. Bei der Bronchiolitis verschafft eine Inhalation mit Bronchodilatatoren meist wenig Linderung. Die Inhalation mit hypertoner

Kochsalzlösung (3–6%) kann in Einzelfällen ebenso wie die Inhalation mit Adrenalin effektiv sein. Für die obstruktive Bronchitis ist eine Inhalation mit Bronchodilatatoren (Betamimetika, Parasympatolytika) die Therapie­ der Wahl. Die Inhalation mit Steroiden ist sehr wahrscheinlich­ nicht entscheidend für den Verlauf. Die i.v.-Gabe von Steroiden (2 mg/kgKG/Tag Prednisolonäquivalent als Einzeldosis) hingegen lässt positive Effekte erwarten. Eine antivirale Therapie mit Ribavirin, Anti-RSV-Antikörpern etc. ist bedingt wirksam. Bei schweren Verlaufsformen kann die Anwendung einer Atemhilfe (z. B. CPAP, Highflow-Therapie) hilfreich sein. Besonders gefährdete Säuglinge (z. B. Frühgeborene > Der wichtigste Rat an die Eltern ist, einem Kind mit rezidivierenden Atemwegsinfektionen genügend Zeit zur Erholung zu lassen. Antibiotika sind nur in Ausnahmefällen indiziert.

18.6

Akute und chronische Entzündung ­ der Lunge

M. Kopp, C. Vogelberg 18.6.1

Pneumonie

j jDefinition Die Pneumonie ist definiert als eine Entzündung des Lungengewebes, die auf eine Infektion mit Krankheitserregern zurückgeht. Die meisten Pneumonien im Kindesalter, insbesondere in der Altersgruppe von 6 Monaten bis 3 Jahre, werden durch Viren (RSV, Parainfluenza-, Adeno-, und Influenza-Viren) verursacht. Bei den bakteriellen Pneumonien gibt es für die unterschiedlichen Altersgruppen ein charakteristisches Erregerspektrum (. Tab. 18.6).

18

jjEinteilung Neben den in . Tab. 18.6 aufgeführten Einteilungen nach Verlauf (akut/chronisch) oder Erreger (viral/bakteriell) berücksichtigt die pathologisch-anatomische Einteilung die Lokalisation. In . Abb. 18.3 sind klassische Befunde einer Bronchopneumonie, einer intersti­ tiellen Pneumonie und einer Lobär- oder Segmentpneumonie dar­ gestellt. Für das Säuglings- und Kleinkindesalter ist die Bronchopneumonie typisch, während ältere Kinder häufiger an einer meist durch Pneumokokken verursachten Lobär- oder Segmentpneumonie erkranken. Primär abszedierende Pneumonien werden oft durch S. aureus verursacht. Schließlich wird eine primäre, meist ambulant erworbene Pneumonie, bei der ein gesundes Individuum erkrankt, von einer sekundären Pneumonie aufgrund eines Immundefekts oder einer Grundkrankheit (CF, PCD) unterschieden. Je nach Art der Grundkrankheit findet sich ein charakteristisches Keimmuster, z. B. bekapselte Erreger bei humoralen Immundefekten, und Pilze, Viren oder Parasiten (Pneumocystis jirovecii) bei T-Zelldefekten. jjEpidemiologie Im Kindes- und Vorschulalter beträgt die Inzidenz ca. 40 Pneumonien/1.000 Kinder pro Jahr, im Schulkindesalter etwa 10–15 Pneumonien/1.000 Kinder pro Jahr. Prädisponierende Erkrankungen für bakterielle Pneumonien sind u. a. eine gestörte mukoziliäre Clearance (CF, PCD), neuromuskuläre Erkrankungen sowie Herzfehler, bei denen ein Links-rechtsShunt mit vermehrter Lungendurchblutung besteht. Schließlich können virale Infektionen (Influenza, Masern) eine bakterielle Pneumonie bahnen. j jKlinik Bei Neugeborenen und jungen Säuglingen stehen unspezifische Allgemeinsymptome im Vordergrund: u. a. Trinkunlust oder Trinkverweigerung, Erbrechen, Apathie, Temperaturinstabilität mit Hypothermie oder Fieber, kühle Akren oder ein geblähtes Abdomen.

..Tab. 18.6  Häufigste Erreger der Pneumonie im Kindesalter in den einzelnen Altersgruppen. (Mod. nach: DGPI-Handbuch, 4. Aufl.) Viren

Bakterien

Neugeborenenpneumonie

RSV Parainfluenzaviren Adenoviren CMV, HSV, VZV

B-Streptokokken E. coli Klebsiellen L. monozytogenes S. aureus Chlamydia trachomatis

Ambulant erworbene Pneumonie

RSV Parainfluenza-, Influenzaviren Adenoviren

S. pneumoniae H. influenzae M. pneumoniae B. pertussis

Nosokomial erworbene Pneumonie

RSV Parainfluenza-, Influenzaviren Adenoviren CMV, HSV, VZV

E. coli Klebsiellen S. aureus H. influenzae

Aspirationspneumonie

Pneumonie bei Immundefizienz

Pilze

Candida albicans Aspergillus

Gramnegative Bakterien und Anaerobier (z. B. Bacteroides, Peptostreptococcus) CMV, VZV, HSV, HHV-6

S. aureus P. aeruginosa „Opportunisten“

Candida albicans Aspergillus

Im Kleinkind- und Schulkindesalter ist die klinische Präsentation anders: Zu den Allgemeinsymptomen zählen in dieser Altersgruppe Fieber, z. T. mit Schüttelfrost, allgemeines Krankheitsgefühl, Unruhe, Brust- und/oder Bauchschmerzen. So kann z. B. eine basale Pneumonie mit Erguss von der Symptomatik wie eine akute Appendizitis imponieren. Bei den organspezifischen Symptomen besteht in beiden Altersgruppen fast immer eine Tachypnoe, Dyspnoe (Nasenflügeln, juguläre und/oder interkostale Einziehungen), eine Tachykardie, Husten und ggf. eine Zyanose. >> Der Auskultationsbefund kann bei zentralen Pneumonien ­unauffällig sein. Die klinischen Beschwerden gehen den ­radiologischen Veränderungen einige Tage voran.

jjDiagnose Körperliche Untersuchung  Die Diagnose einer Pneumonie ergibt sich aus dem klinischen Befund. Neben den oben dargestellten Symp­tomen treten bei der körperlichen Untersuchung klassischerweise eine Tachypnoe, Dyspnoe sowie feinblasige, ohrnahe, hoch­ frequente Rasselgeräusche, ein abgeschwächtes Atemgeräusch und bei lobärem Befall eine Klopfschalldämpfung auf. An eine Mykoplasmeninfektion muss bei begleitendem Exanthem, Krämpfen oder Bewusstseinstrübung sowie einer milder ­Begleithepatitis oder Arthritis gedacht werden. Umgekehrt ist bei Kindern unter 3 Jahren und einer Fieberdauer von ≤2 Tagen eine Mykoplasmeninfektion sehr unwahrscheinlich. Thoraxröntgenaufnahme  Die Thoraxröntgenaufnahme im sagittalen Strahlengang ist nach wie vor der Goldstandard in der Diagnostik der Pneumonie. Eine Seitaufnahme ist nur in Ausnahmefällen

425 Pneumologie interdisziplinär

notwendig, wenn die Übersichtsaufnahme nicht ausreichend beurteilbar ist. Die radiologischen Veränderungen hinken der Klinik um einige Tage hinterher. Umgekehrt bilden sich die radiologischen Veränderungen erheblich langsamer zurück als die Beschwerden. Eine abschließende Röntgenkontrolle ist meist nicht indiziert. In den Fällen, in denen eine Kontrollaufnahme gemacht werden muss, sollte diese erst nach 4–6 Wochen erfolgen. Die verschiedenen radiologischen Charakteristika der Pneumonie sind in . Abb. 18.3 dargestellt. Labor  Im Blutbild findet sich je nach Ätiologie eine Leukozytose mit Linksverschiebung oder eine Lymphozytose. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit und das CRP sind in der Regel erhöht. Weiterhin sind eine Blutkultur und eine kapilläre Blutgasanalyse abzunehmen.

a

Erregerdiagnostik  Zum Nachweis einer bakteriellen Pneumonie kann neben der Blutkultur, die nur bei einem kleinen Teil der Patienten positiv ist, ein Rachenabstrich, ein Nasopharyngealsekret oder bei älteren Kindern auch ein induziertes Sputum gewonnen werden. Zum Erregernachweis kann bei viralen Pneumonien für RS-, Adenooder Influenzaviren der Antigennachweis aus dem Nasopharyngealsekret hilfreich sein. Die Polymerasekettenreaktion (PCR) als ­Genamplifikationsverfahren gewinnt in der molekularbiologischen Diagnostik v. a. für die Mikroorganismen an Bedeutung, die nur schwer oder gar nicht anzüchtbar sind, wie z. B. Mykoplasmen oder Aspergillen. Eine serologische Diagnostik ist meist wenig aussagekräftig. Bei allen persistierenden Verschattungen, bei Patienten mit zusätzlichen Symptomen (Gewichtsverlust, Nachtschweiß) muss eine Tuberkulose ausgeschlossen werden. !! Cave Trockener, quälender Reizhusten und septisches Fieber müssen bei immunsupprimierten Kindern an eine Pneumocystisjirovecii-Pneumonie denken lassen.

b

jjDifferenzialdiagnose Differenzialdiagnosen der bakteriellen Pneumonie sind zunächst virale bzw. durch Pilze verursachte Pneumonien. Nichtinfektiöse Ursachen, die radiologisch wie eine Pneumonie imponieren, lassen sich meist durch die Anamnese und Laborparameter von einer Pneumonie abgrenzen. Ursachen hierfür können u. a. sein: 44 Fremdkörperaspiration, 44 Atelektase, 44 Asthma bronchiale, 44 Inhalation toxischer Substanzen („Pneumonitis“), 44 Raumforderungen (Thymus, Tumoren), 44 interstitielle Lungenerkrankungen. jjTherapie Stationäre versus ambulante Therapie  Unkomplizierte Pneumo-

nien können ambulant zu Hause behandelt werden. Die Indikation zu einer primären stationären Aufnahme ist in der Regel gegeben, wenn eines der folgenden Kriterien erfüllt ist: 44 Säugling 9 Jahre

Supportive Therapie  Hierzu zählen folgende Maßnahmen:

44 Gabe von angefeuchtetem Sauerstoff bei einer transkutanen Sättigung 39°C, 44 reichlich Flüssigkeitszufuhr (1,5-mal den Tagesbedarf), 44 rasche Mobilisierung, ggf. Physiotherapie, 44 Inhalation mit 0,9% NaCl, oder bei Indikation mit β2-Sympathomimetikum. jjKomplikationen Der parapneumonische Erguss und das parapneumonische Empyem haben eine Inzidenz zwischen 0,5–5 pro 100.000 Kinder. Die meisten parapneumonischen Ergüsse sind durch S. pneumoniae und S. aureus bedingt. Dabei wird zwischen einem Transsudat und einem Exsudat unterschieden (7 Abschn. 18.12). Etwa ⅓ der Kinder klagen über Thorax- und/oder Bauchschmerzen. Kleine Ergüsse können mit einer symptomatischen Therapie und durch Gabe von Anti­phlogistika rein konservativ therapiert werden. Größere Er­ güsse erfordern meist ein interdisziplinäres Vorgehen mit Punktion des Ergusses und ggf. thoraxchirurgischer Intervention. Die Pro­ gnose ist im Kindesalter gut, in der Regel haben die Kinder keine funktionellen Beeinträchtigungen.

18

j jPrognose Ambulant erworbene Pneumonien heilen bei einer adäquaten Therapie ohne Residuen aus. Während in Entwicklungsländern Pneumonien bei den Haupttodesursachen sind, liegt die Letalität in Deutschland weit unter 1%. 18.6.2

Asthma bronchiale

j jDefinition Asthma bronchiale ist definiert als eine chronisch entzündliche Erkrankung der Atemwege mit reversibler Obstruktion wechselnder Intensität ausgelöst durch unterschiedliche Stimuli auf dem Boden einer bronchialen Hyperreagibilität. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass für die Therapie v. a. inhalative Steoride eine zentrale Bedeutung haben und dass die Lungenfunktion in Ruhe oder im symptomfreien Intervall völlig unauffällig sein kann. Erst eine Provokationstestung führt bei diesen Patienten zu einer messbaren Verengung der Atemwege mit Abfall der Fluss-Volumen-Parameter, wodurch die als bronchiale Hyperreaktivität bezeichnete Überempfindlichkeit der Atemwegsschleimhaut quantifiziert werden kann.

Kinder ≤9 Jahre

1. Wahl

Ampicillin

2. Wahl

Doxycyclin

1. Wahl

Erythromycin

Bei Pleuraempyem oder abszendierender Pneumonie Kinder >9 Jahre

Altersunabhängig

1. Wahl

Doxycyclin

2. Wahl

Erythromycin

1. Wahl

Cefotiam

Von einer Reversibilität der Obstruktion spricht man, wenn es nach Inhalation mit einem Bronchodilatator zu einer Verbesserung eines Obstruktionsparameters, z. B. der Ein-Sekunden-Kapazität FEV1 oder des Atemwegswiderstands kommt. Mit dem Definitionsmerkmal „reversible Obstruktion“ ist das Asthma bronchiale von anderen Atemwegserkrankungen differenzialdiagnostisch abzugrenzen, bei denen eine fixierte Verengung der Atemwege vorliegt. Bei Kindern liegt bei etwa 85% eine allergische Mitbeteiligung vor. Die anamnestische Erfassung „exogener Stimuli“ beinhalten daher Fragen nach dem tageszeitlichen Höhepunkt der Beschwerden, saisonalen Schwankungen und der Haustierhaltung. Neben den ­Allergien spielen überwiegend virale Atemwegsinfektionen als Auslöser eine Rolle. jjEpidemiologie Die Häufigkeit von Asthma bronchiale schwankt weltweit ganz erheblich zwischen 2% und 20%. Sie ist besonders gering in Ländern mit niedrigem sozioökonomischem Lebensstandard. Es zeigt sich eine deutliche Abhängigkeit von Faktoren des „westlichen Lebensstils“, sodass mit dessen Verbreitung in den letzten 40 Jahren auch eine Zunahme der Erkrankung zu verzeichnen ist. In Deutschland liegt die Asthmaprävalenz bei Kindern- und Jugendlichen etwa bei 8%. Dabei sind bis zum Ende der Pubertät doppelt so viel Jungen wie Mädchen betroffen. Nach der Pubertät sind beide Geschlechter annähernd gleich betroffen. jjÄtiologie Eine genetische Steuerung für das Auftreten des Asthma bronchiale ist wahrscheinlich. Dabei können 2 zumindest primär voneinander unabhängige Faktoren zur Erkrankung führen, die sich sekundär jedoch gegenseitig verstärken. Ein Faktor ist die bronchiale Hyperreaktivität, der andere die allergische Disposition (Atopie). Bis zu 16% aller Menschen (je nach Alter und Nachweismethode) lassen Hinweise für eine bronchiale Überempfindlichkeit erkennen. Allerdings nur die Hälfte dieser Personen erkrankt manifest. Im Rahmen

427 Pneumologie interdisziplinär

..Abb. 18.4  Pathogenese der Atemwegsobstruktion bei Asthma bronchiale

einer chronischen Entzündung der Bronchialschleimhaut kann die Hyperreaktivität auch neu erworben werden. Die allergische Disposition in Form einer überschießenden Immunantwort des IgE-Systems (Typ-I-Allergie) ist ebenfalls genetisch verankert. Aber auch hier gilt, dass nur ein Teil der sensibilisierten, d. h. spezifisches-IgE-bildenden Individuen manifest erkrankt. Die familiäre und eigene Atopiebelastung scheint auch der entscheidende Faktor zu sein, ob aus einer obstruktiven Bronchitis im frühen Kindesalter („wheezy babys“) ein Asthma bronchiale wird. Asthma bronchiale wird heute zunehmend als ein Oberbegriff für eine reversible Atemwegsobstruktion mit ganz unterschiedlichen Auslösern, klinischen Verläufen und pathophysiologischen Veränderungen verstanden („Asthmasyndrom“).

..Abb. 18.5  Auslösung und Pathophysiologie eines Asthmaanfalls

jjPathogenese, Pathophysiologie Die Atemnot eines Asthmapatienten kommt über eine Strömungsbehinderung durch Obstruktion in den Atemwegen zustande. Diese wird verursacht durch (. Abb. 18.4): 44 Kontraktion der glatten Bronchialmuskulatur, 44 Hyperämie, Ödem und entzündliche Infiltration der Schleimhaut, 44 Verstopfung des Atemwegslumen durch Schleim (Hyperkrinie) und abgelöste Bronchialepithelzellen. Basis der Obstruktion ist die bronchiale Hyperreaktivität, über die verschiedene Auslösungsfaktoren zur Wirkung kommen (. Abb. 18.5). Für den kindlichen Asthmatiker sind dabei von besonderer Bedeutung: 44 Allergenkontakt (z. B. Pollen, Hausstaubmilben, Tierhaare), 44 Infekte der Atemwege, 44 körperliche Belastungen. Durch diese Triggermechanismen kommt es zu einer Stimulation von intraepithelial gelegenen Mastzellen, Basophilen und alveolä-

ren Makrophagen, die über immunologische Prozesse (Brücken­ bildung zwischen 2 IgE-Antikörpern auf einer Mastzelle) oder ­rezeptorgesteuerte Mechanismen (adrenerg, cholinerg) Mediatoren freisetzen. Diese Mediatoren (z. B. Histamin) führen nach einem Allergenkontakt innerhalb von wenigen Minuten zu einer bronchialen Sofortreaktion unter dem Bild einer akuten Bronchialobstruktion (. Abb. 18.6). Parallel zum Degranulationsvorgang der Mastzellen kommt es auch zur Neugenerierung von Lipidmediatoren, die in ihrer biologischen Wirkung die des Histamins um ein Vielfaches übertreffen und

..Abb. 18.6  Schematische Darstellung des Reaktionsablaufs einer asthmatischen Reaktion am Bronchus mit Akut- und Spätreaktion

18

428

M. Kopp et al.

zu einer länger anhaltenden Bronchokonstriktion führen. Es sind dies insbesondere die Leukotriene C4, D4, E4 (= „slow reacting substance of anaphylaxis“) sowie Prostaglandin D2 und der plättchenaktivierende Faktor (PAF). Gleichzeitig setzen Mastzellen und auch andere Zellen, wie Eosinophile, Makrophagen und Thrombozyten, chemotaktisch wirkende Mediatoren frei, die eine 2. Phase, nämlich die Spätreaktion einleiten. Durch die chemotaktisch wirkenden Mediatoren – in erster ­Linie Leukotrien  B4, neutrophiler-chemotaktischer Faktor (NCF), eosinophiler-chemotaktischer Faktor (ECF) und plättchenaktivierender Faktor (PAF) – werden Entzündungszellen, wie Neutrophile, Eosinophile und Makrophagen, angelockt. Sie wandern in die Bronchialschleimhaut ein, setzen eigene Mediatoren frei und halten dadurch den Entzündungsprozess aufrecht. Die chronische asthmatische Entzündung wird zu einem weiteren Anstieg der bronchialen Hyperreaktivität führen. jjKlinik Die Leitsymptome sind anfallsartige, vorwiegend exspiratorische Atemnot mit Husten, Kurzatmigkeit und Giemen. Gelegentlich können anstrengungsinduzierte Beschwerden oder ein persistierender, oft nächtlicher Husten das einzige Symptom sein. Im klinischen Alltag begegnen uns dabei unterschiedliche Erscheinungsformen: 44 rezidivierende Bronchitis, 44 chronischer Husten, 44 Asthmaanfall und 44 Status asthmaticus. Rezidivierende Bronchitis  Die rezidivierende Bronchitis ist eine

18

besondere Verlaufsform und häufig die erste klinische Asthmamanifestation bei jungen Kindern. Allerdings wird nicht aus jeder rezidivierenden (obstruktiven) Bronchitis in den 3 ersten Lebensjahren ein Bronchialasthma. Die relative Neigung zur Atemwegsobstruk­ tion bei Infekten ist in dieser Altersgruppe vorwiegend durch anatomische und funktionelle Besonderheiten bedingt und verliert sich bei einem Großteil der Kinder wieder. Der Übergang in ein Asthma – bei 15–30% zu beobachten – ist besonders zu erwarten bei familiärer Atopiebelastung, eigener Disposition (atopische Dermatitis, erhöhtes IgE und positive Allergietests in den ersten Lebensjahren) und über das 3./4. Lebensjahr hinaus anhaltenden Beschwerden. Das klinische Erscheinungsbild ist gekennzeichnet durch eine Verlängerung des Exspiriums und, exspiratorische Atemnebengeräusche (Giemen, Brummen), die teilweise schon auf Distanz, auf jeden Fall aber bei der Auskultation des meist überblähten Thorax zu hören sind. Die Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens kann sehr unterschiedlich sein und reicht vom „fröhlichen Giemer“ bis zum schwer kranken Kind.

Rezidivierender Husten  An die Möglichkeit, dass ein anfallsweise auftretender, schwer stillbarer Reizhusten die alleinige klinische Erscheinungsform des Asthma bronchiale darstellen kann, wird nicht immer gedacht. Typischerweise tritt er dann in besonderen Situa­ tionen auf: nachts im Schlaf, bei körperlichen Belastungen, bei ­Wetter- oder Temperaturwechsel sowie bei Nebel und hoher Luftverschmutzung. Asthmaanfall  Der Asthmaanfall beginnt in der Regel ebenfalls mit

Husten (die Kinder „husten sich in die Atemnot hinein“) und ist v. a. durch eine plötzlich einsetzende und sich vielfach bis zur bedrohlichen Atemnot steigernde exspiratorische Dyspnoe gekennzeichnet. Die Patienten reduzieren ihre körperliche Aktivität und stützen oft zur Fixierung des Schultergürtels die Arme auf, um damit den Ein-

satz der Atemhilfsmuskulatur zu ermöglichen (Orthopnoe). Der Thorax ist überbläht und die heftigen Atemanstrengungen führen zu Einziehungen (interkostal, jugulär, epigastrisch) bei der Einatmung. Die Kinder haben einen ängstlichen Gesichtsausdruck, sehen blass, im fortgeschrittenen Stadium zyanotisch aus. Auskultatorisch hört man ein raues, oft aber auch ein sehr leises und von Giemen überdecktes Vesikuläratmen. Zeitweise ist über einzelnen Lungenabschnitten das Atemgeräusch völlig aufgehoben, bedingt durch die regional unterschiedliche Ausprägung der bronchialen Obstruktion (ventilatorische Verteilungsstörung). Die Exspirationsphase ist verlängert. Pfeifende, giemende und brummende Geräusche können zu hören sein, sowie infolge der starken Überblähung der hypersonore bis tympanitische Klopfschall. Status asthmaticus  Der Status asthmaticus ist definiert als schwerer Anfall, der über mehr als 24 h anhält und in dieser Zeit nicht auf

adäquate Therapiemaßnahmen anspricht. Der Status asthmaticus ist ein intensivmedizinischer Notfall.

!! Cave Das Leiserwerden von Atem- und Nebengeräuschen im Rahmen eines schweren Asthmaanfalls ist ein Alarmsignal für die weitere Verschlechterung.

jjKomplikationen Durch den Einriss überblähter Alveolen kann es zum Pneumomediastinum und/oder Pneumothorax kommen. Gelegentlich bilden sich bei starker Schleimhautschwellung und Sekretverlegung auch Atelektasen aus. Bei einem chronischen Asthmaverlauf – insbesondere durch nicht ausreichende Therapie – bedingt die Flussbehinderung eine erhöhte Zwerchfellaktivität mit verstärktem Zug auf das Thoraxskelett (Glocken- oder Fassthorax). jjDiagnose Zur Einschätzung eines akuten Asthmaanfalls sind erforderlich: 44 kurze Anamnese (Asthmatyp?, Auslöser?, bisherige Therapie?, Einsatz von Betamimetika?), 44 klinische Untersuchung (Tachy-/Dyspnoe?, Zyanose, seitengleiches Atemgeräusch?, endexspiratorisches Giemen?, transkutane Sättigung?), 44 Bestimmung der Blutgase, des Blutbildes und CRP, 44 Thoraxröntgenbild (Überblähung? Pneumothorax? Pneumonie? Fremdkörper?). Die Basisdiagnostik bei Verdacht auf Asthma bronchiale sollte ­folgende Schritte enthalten: 44 Differenzierte Anamnese: Bei der Anamnese sind drei ­Themenkomplexe zu erfragen: 55„Beeinträchtigung im Alltag“: Besteht nächtlicher Husten? Besteht morgendlicher Husten? Kann das Kind durchschlafen? Schnarcht das Kind nachts? 55„Beeinträchtigung bei körperlicher Anstrengung“: Besteht Husten bei Anstrengung? Muss das Kind beim Sport pausieren? Wie belastet sich das Kind beim Sport? 55„Umgebungsanamnese“: Wer ist in der Familie von atopischen Erkrankungen betroffen? Gibt es zu Hause Tiere? Besteht eine Passivrauchexposition? Wie oft werden Medikamente genommen (β2-Mimetika)? Gibt es Hinweise für das Vorliegen einer atopischen Dermatitis oder einer allergischen Rhinitis? 44 Bei der körperlichen Untersuchung sollten auch die oberen Atemwege mit im Fokus sein. Hier ist z. B. auf die Behinderung

429 Pneumologie interdisziplinär

der Nasenatmung bei Kindern mit allergischer Sensibilisierung gegen Hausstaubmilben, Tierhaare und Pollen zu achten. 44 Lungenfunktionsprüfung zur Einschätzung der Obstruktion und Überblähung der Atemwege. Die Lungenfunktion bietet sich zur Überprüfung des Therapieerfolgs im Verlauf an. Die Reversibilität einer vorhandenen Obstruktion kann mit dem Bronchospasmolysetest (Inhalation eines schnell wirkenden β2-Sympathomimetikums) geprüft werden. Ist die Lungenfunktion in Ruhe normal, kann das Verhalten der Werte nach einer Laufbelastung oder einer inhalativen Provokation mit Histamin oder Metacholin Auskunft über die bronchiale Reaktivität geben. 44 Exhaliertes Stickstoffmonoxid zur Einschätzung der bronchialen Inflammation. Diese Methode macht aber nur bei einem allergischen Asthma Sinn und ist auch nicht bei jedem Patienten aussagekräftig. 44 Allergologische Laboruntersuchungen: Sie umfasst Hauttestungen (Prick-, selten Intrakutantest), Serumuntersuchungen (spezifische IgE-Antikörper) sowie u. U. Provokationstests an bestimmten Organen (Auge, Nase, Bronchien). Dabei sollte möglichst klar werden, ob erkannte Sensibilisierungen auch klinisch bedeutsam sind. 44 Röntgenuntersuchung: Röntgenaufnahmen von Thorax und Nasennebenhöhlen sind nur bei der initialen Untersuchung bzw. ganz konkreten Fragestellungen (z. B. Pneumothorax?) ­indiziert. 44 Differenzialdiagnostische Untersuchungen: Schweißtest, ­Alpha-1-Antitrypsin, bei spezieller Fragestellung ggf. Immunglobuline mit Subklassen und Impfantikörper (Immundefekt). jjDifferenzialdiagnose 44 Chronische Bronchitis, Bronchiolitis obliterans, 44 exogen allergische Alveolitis, 44 zystische Fibrose, 44 primäre ziliäre Dyskinesie, 44 Fremdkörperaspiration, 44 rezidivierende Entzündungen bei Immundefekt, 44 exogene Kompression der Atemwege (Lymphome, Lymph­ knoten, Gefäße), 44 strukturelle Atemwegsdefekte (z. B. Bronchomalazie) 44 funktionelle Atemstörungen (z. B. Stimmlippendysfunktion). jjTherapie Um langfristig ein therapeutisches Bündnis mit den Patienten und den Eltern einzugehen, ist es wichtig, dass Asthma bronchiale als eine chronische Erkrankung der Atemwege verstanden wird. Eine kurzzeitige, rein symptomatische Therapie ist daher auf lange Sicht unwirksam. Ziele der Asthmatherapie sind: 44 Symptomfreiheit, ohne dass ein Notfallmedikament eingenommen werden muss (Betamimetikum), 44 altersentsprechende Belastbarkeit, 44 normale Lungenfunktion, 44 keine notfallmäßigen Arztvorstellungen, 44 keine Medikamentennebenwirkungen, 44 normale psychische und psychosoziale Entwicklung Die Grundsätze der Therapie umfassen drei Säulen: 44 Meidung von Triggerfaktoren, 44 medikamentöse Therapie, bestehend aus 55antiobstruktiver Bedarfsmedikation für den Notfall und 55antiinflammatorischer Basismedikation, 44 spezifische Immuntherapie (SIT).

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Meidung von Triggerfaktoren  Bei Kindern mit einem allergischen Asthma ist die Allergenmeidung eine wichtige Therapiesäule. Bei einer Sensibilisierung gegen Katzen- oder Hundeepithelien­ sollte der Kontakt mit den entsprechenden Tieren vermieden werden. Eine Hausstaubmilbensanierung umfasst u. a. die Umhüllung der Matratze mit einem milbendichten Überzug und das Waschen von Kuscheltieren, Kissen und Decken alle 3–4 Monate sowie das wöchentliche Wechseln der Bettwäsche. Unspezifische Triggerfak­ toren wie Tabakrauch sind ebenfalls zu meiden. Medikamentöse Therapie  Mit der medikamentösen Therapie

werden 2 grundlegende Strategien verfolgt. Unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung soll bei akut auftretenden Beschwerden eine schnelle und sichere Beseitigung der Bronchialobstruktion erzielt werden. Geeignet und empfohlen sind dafür kurz wirksame inhalative β-Mimetika (Bedarfsmedikation). Die Dauermedikation (Basistherapie) besteht in der regelmäßigen Anwendung von Medikamenten mit dem Ziel, die asthmatische Entzündungsreaktion zu unterdrücken und dadurch langfristig eine Kontrolle der Symptome und einen günstigen Krankheitsverlauf zu erreichen. Beginn und Umfang der Basistherapie hängen vom Schweregrad der Erkrankung ab. Hier werden folgende Schwere­ grade unterschieden: 44 Intermittierendem Asthma: Intermittierend Husten, leichte Atemnot, symptomfreies Intervall >2 Monate; Lungenfunktion: Nur intermittierend obstruktiv, Lungenfunktion dann oft noch normal. Im Intervall ohne pathologischen Befund). 44 Geringgradig persistierendes Asthma: Intervall zwischen Episoden > Ziel ist es, mit der geringstmöglichen Zahl von Asthmamedikamenten in der niedrigstmöglichen Dosis eine optimale Krankheitskontrolle zu erreichen.

Die Behandlung sollte auf der Stufe einsetzen, die dem augenblick­ lichen Schweregrad des Krankheitsbildes entspricht. Der entscheidende Schritt im Schema ist, ab Stufe 2 konsequent Entzündungshemmer einzusetzen. Dafür eignen sich in erster Linie niedrig ­dosierte inhalative Kortikosteroide. Deren Einsatz hat eine neue Qualität der Asthmatherapie eingeleitet. Um mögliche Neben­ wirkungen (v. a. bei Dosierungen >400 µg/Tag Beclometasonäquivalent) zu vermeiden bzw. frühzeitig zu erkennen, ist es erforderlich, folgende Grundsätze zu beachten: 44 Anwendung 1- bis 2-mal pro Tag, 44 Benutzung einer Vorschaltkammer (Spacer) bei Verwendung eines Dosieraerosols (. Abb. 18.8), 44 Ausspülen des Mundes (oder Zähneputzen) nach der Inhala­ tion, 44 Kontrolle der jährlichen Wachstumsrate,

M. Kopp et al.

Stufe 6 Stufe 5 Stufe 4

Bedarfstherapie

..Abb. 18.7  Stufenschema zur Asthmakontrolle. ICS inhalative Kortikosteroide; LTRA Leukotrienantagonist; LABA langwirksames β2-Sympathomimetikum; LAMA langwirksames Anticholinergikum; OCS orale Kortikosteroide; NW Nebenwirkungen; SABA kurzwirksames β2-Sympa­ thomimetikum

Langzeittherapie

430

Stufe 3 Stufe 2 Stufe 1

− ICS mitteldosiert

− ICS niedrigdosiert (bevorzugt) oder − LTRA

− ICS mitteldosiert + LABA oder − ICS mitteldosiert + LTRA oder − ICS mitteldosiert + LABA + LTRA Bei unzureichender Kontrolle: − ICS mitteldosiert + LABA + LTRA + LAMA*

− ICS hochdosiert + LABA oder − ICS hochdosiert + LTRA oder − ICS hochdosiert + LABA + LTRA oder − ICS hochdosiert + LABA + LAMA* oder − ICS hochdosiert + LABA + LTRA + LAMA*

zusätzlich zu Stufe 5 −Anti-IgEAntikörper*

Alternative in begründeten Fällen: − OCS (zusätzlich oder alternativ)

− SABA Alternative in begründeten Fällen: − Zusätzlich oder alternativ Ipratropiumbromid − bei Jugendlichen ab 12 Jahren: Fixkombination aus ICS und Formoterol, wenn diese auch die Langzeittherapie darstellt

Asthmaschulung, Allergie-/Umweltkontrolle, Beachtung von Komorbiditäten Spezifische Immuntherapie (bei gegebener Indikation)

..Tab. 18.8  Dosisbereich inhalativer Kortikoide für Kinder (Tagesdosis in µg)

18

..Abb. 18.8  Inhalation mittels Dosieraerosol und großvolumiger Vorratskammer (Spacer) zur Überbrückung der Koordinationsschwierigkeiten bei der Inhalation. Das in die Vorratskammer versprühte Medikament wird mit einigen tiefen Atemzügen von dort aus inhaliert

44 Einhaltung der niedrigsten, noch wirksamen Dosis (. Tab. 18.8), 44 regelmäßige Schulung des Patienten für das verwendete Inhalationsdevice. Auch ein primärer Therapieversuch mit dem Leukotrienantagonisten Montelukast ist v. a. bei Kindern möglich, sollte aber nach

4–8 Wochen hinsichtlich seiner Effektivität kritisch beurteilt werden. Bei ungenügendem Therapieerfolg muss dann auf ein inhalierbares Kortikosteroid umgestellt werden. Wurde dieses primär eingesetzt und wird darunter keine adäquate Kontrolle erreicht bzw. lag gleich ein höherer Schweregrad vor, können zusätzlich lang wirkende β2-Sympathomimetika (LABA), langwirksame Anticholinergika (LAMA) und/oder Leukotrienantagonisten (Montelukast) gegeben werden, bevor die ­Dosis des topischen Steroids weiter angehoben wird. Orale Steroide als Dauertherapie (Stufe 5) sind als letzte Option zu betrachten und

Wirkstoff

Niedrige Dosis

Mittlere ­Dosis

Hohe Dosis

Beclometasonpulver

400

Beclometason-HFA

200

Budesonid

400

Fluticason

200

beim kindlichen Asthma glücklicherweise nur noch extrem selten erforderlich. Seit einigen Jahren ist ein monoklonaler Anti-IgE-Antikörper (Omalizumab) für die Therapie des schweren allergischen Asthma bronchiale (Stufe 6) ab 6 Jahren zugelassen. Dieses hochwirksame Therapieprinzip reduziert die Anzahl der Asthmaexazerbationen und den Bedarf von Steroiden. Bei der zu bevorzugenden inhalativen Applikation der Asthmamedikamente müssen in Abhängigkeit von Alter und Kooperationsbereitschaft der einzelnen Patienten geeignete Inhalationssysteme ausgesucht werden. . Tab. 18.9 gibt dazu einen Überblick. >> Die Inhalationstechnik des Patienten muss kontinuierlich überprüft werden.

Kausale Therapieoption  Die spezifische Immuntherapie (Hypo-

sensibilisierung, „Allergieimpfung“) ist die einzige kausale Behandlungsmöglichkeit bei einem allergischen Asthma. Die spezifische Hyposensibilisierung ist dann indiziert, wenn ein als krankheitsauslösend erkanntes Allergen nicht gemieden werden kann und die übliche Therapie einen ungenügenden Therapieerfolg zeigt. Sie kann auch erwogen werden, wenn eine „Etagenerweiterung“ (z. B. Entwicklung eines Asthmas aus einer allergischen Rhinitis) oder mögliche Sensibilisierungen durch weitere Allergene vermieden werden sollen. Geeignete Allergene sind in erster Linie Pollen (Gräser, Roggen Birke etc.) und Hausstaubmilben. Die Wirksamkeit jedes einge-

431 Pneumologie interdisziplinär

..Tab. 18.9  Altersentsprechende Auswahl der Inhalationssysteme Alter [Jahre]

Inhalationssystem

Akutbehandlung

Dauerbehandlung

4

DA mit Spacer Pulverinhalatoren (meist ab Schulalter) Düsenvernebler mit Kompressor (bestimmte Indikationen, z. B. Exazerbation)

Inhalierbare Steroide und langwirkende β2-Sympa­ thomimetika

..Tab. 18.10  Therapie des akuten Asthmaanfalls Symptome

Therapie

Mittelschwerer Anfall Unvermögen einen längeren Satz während eines Atemzugs zu vollenden, Gebrauch der akzessorischen Atemmuskulatur, Atemfrequenz 30/min, 2–5 Jahre >40/min Herzfrequenz über 5 Jahre >120/min, 2–5 Jahre >130/min SaO2 > Der Verdacht auf eine Bronchiolitis obliterans muss gestellt werden, wenn sich nach einer akuten Bronchitis/Bronchiolitis eine auf Bronchodilatatoren resistente fixierte Obstruktion mit O2-Abhängigkeit entwickelt.

jjKlinik und Diagnose Eine „nicht ausheilende obstruktive Bronchitis“ mit Beschwerden wie einem überwiegend expiratorisches Giemen („wheezing“), ­rascher Erschöpfbarkeit mit Anstrengungsdyspnoe und ggf. begleitender Zyanose oder O2-Bedarf können Ausdruck einer Bronchiolitis obliterans sein. Initial sind die Symptome oft unspezifisch. Der Verlauf der Erkrankung kann schleichend oder rasch progredient sein. Bei der klinischen Untersuchung können folgende Befunde auffallen: leises Atemgeräusch, obstruktiver Auskultationsbefund, Tachypnoe, Dyspnoe, verminderte transkutane O2-Sättigung. In der Lungenfunktionsprüfung zeigt sich eine Reduktion der exspiratorischen Flussraten, in der Blutgasanalyse sieht man eine Hypoxie und ggf. Hyperkapnie. In der konventionellen Thoraxröntgenaufnahme können Dys- oder Atelektasen oder eine Überblähung auffallen. Wegweisend ist ein Thorax-CT: Hier zeigt sich ein charakteristisches mosaikartiges Verteilungsmuster mit z. T. konsolidierten und z. T. überblähten Lungenarealen. Die definitive Diagnose kann mit Hilfe einer Lungenbiopsie erfolgen, die bei Kindern offenen erfolgen ­sollte. Differenzialdiagnostisch kommen eine protrahierte bakterielle Superinfektion nach akuter Bronchiolitis sowie andere seltene chronische Lungenerkrankungen wie z. B. die idiopathische Lungenfibrose in Betracht. jjTherapie Initial muss versucht werden, den Auslöser der Erkrankung zu identifizieren und ggf. zu beseitigen. Hierunter fallen v. a. die exogen ausgelösten Formen der Erkrankung (Medikamente, Noxen, Aspirationen). Meist wird nach Sicherung der Diagnose ein initialer Therapieversuch mit systemischen Steroiden (Prednison 2–4 mg/kgKG/ Tag) über 4–6 Wochen vorgenommen. Therapeutische Alternativen stellen z. B. der Einsatz von Cyclophosphamid oder Ciclosporin dar. Im Management der Bronchiolitis obliterans nach Lungentrans­ plantation wird dem Makrolid Azithromycin eine therapeutische Wirkung zugeschrieben. Die Prognose einer Bronchiolitis obliterans als Ausdruck einer chronischen Abstoßungsreaktion nach Lungentransplantation ist ernst. Günstiger sind Verläufe nach viral bedingter akuter Bronchiolitis. 18.8

Bronchiektasen

C. Vogelberg jjDefinition Bronchiektasen sind irreversible Erweiterungen der Bronchien, die entsprechend ihrer Morphologie als zylindrisch, sackförmig oder varikös beschrieben werden. Sie sind von Bronchialdilatationen und der deformierenden Bronchitis (Wandunregelmäßigkeiten der Bronchien) abzugrenzen, da diese reversibel sein können. Ursache der Erweiterung ist eine angeborene (selten!) oder erworbene Destruktion der Bronchialwand, die mit einer chronischen Bronchitis und dem Verlust der

..Tab. 18.11  Ursachen für Sekretstau und Entzündung bei der Entstehung von Bronchiektasen Angeborene Erkrankungen der Bronchialwand

Bronchusstenosen/-malazien Mukoviszidose Kartagener-Syndrom/Syndrom der immotilen Zilien

Erworbene Störungen der Bronchialwand

Pertussis, Masern Infektion mit Adenoviren, Herpesviren, Mykoplasmen, Aspergillus fumigatus

Erworbene Bronchusstenosen

Tuberkulose Fremdkörper Tumoren

Andere Grund­ erkrankungen

Asthma bronchiale (intrinsic) Immundefekte Persistierende Atelektasen Intoxikationen (Lampenöl, Heroin)

bronchoziliären Clearance verbunden ist. Bronchiektasen können lokalisiert oder generalisiert auftreten. jjPathogenese Der wesentliche Grundmechanismus scheint das Wechselspiel zwischen Infektion und Obstruktion zu sein, wobei deren Ausgangspunkt auf unterschiedlichen Ebenen liegen kann (. Tab. 18.11). ­Beide Faktoren beeinflussen sich gegenseitig und münden schließlich in einen Circulus vitiosus mit chronischer Entzündung und ­Destruktion der Bronchialwand, exspiratorischem Kollaps, erhöhtem mechanischen Zug des Lungenparenchyms, Ausbildung von Atelektasen und Pneumonien. Im weiteren Verlauf kommt es zum peribronchialen fibrotischen Umbau mit Schrumpfung und Funk­ tionsverlust der befallenen Lungenareale. Angeborene Bronchiektasen sind sehr selten und scheinen im Rahmen einer Entwicklungsabnormalität mit zystischer Deformierung der Atemwege zu entstehen. jjKlinik Bis auf einzelne Patienten mit symptomlosen Bronchiektasen sind folgende Symptome typisch: 44 Husten (besonders morgens), 44 Auswurf, 44 giemende/pfeifende Atmung, 44 Thoraxschmerz, 44 Hämoptysis, 44 Dyspnoe. jjDiagnose Bei der klinischen Untersuchung findet man meist konstant Rasselgeräusche über der betroffenen Region, die auch nach Husten­ manövern nicht verschwinden. Bei ausgeprägten Bronchiektasen leiden Gewichts- und Größenentwicklung und es sind Zeichen der Hypoxämie (Zyanose, Uhrglasnägel, Trommelschlegelfinger) zu ­beobachten. Die Thoraxübersichtsaufnahme trägt meist nur wenig zur ­Aufklärung bei. Eine vermehrte Streifenzeichnung und sog. Doppelkonturierungen (Darstellung der verdickten Bronchialwände) sind indirekte Hinweise. Der Nachweis von Bronchiektasen gelingt meist mit der HR-Computertomographie.

18

434

M. Kopp et al.

j jDifferenzialdiagnose Das Leitsymptom „chronisch produktiver Husten“ wird häufig als chronische Bronchitis gedeutet. Diese beruht im Kindesalter auf ­einer Grunderkrankung, nach der mit entsprechenden Methoden gefahndet werden muss. Erkrankungen mit dem Symptom „chronischer, ­produktiver Husten“ bei Kindern 55Entzündliche Lungenerkrankungen –– Bronchiektasen –– Tuberkulose –– Lungenabszess –– Bronchopulmonale Aspergillose –– Chronischer Fremdkörper 55Angeborene Lungenerkrankungen –– Mukoviszidose –– Ziliendyskinesie –– Bronchiektasen –– Lungenzysten

j jTherapie Bei lokalisierten, poststenotischen Prozessen (z. B. nach Fremd­ körperaspiration) wird man sich schneller zu einer Segment- oder Lappenresektion entschließen, da die übrige Lunge in der Regel gesund ist. Bei generalisierten Bronchiektasen ist eine konservative ­Therapie mit Sekretolytika, NaCl (auch hyperton) und β-Sympa­ thomimetika angezeigt mit dem Ziel, die Bronchien möglichst frei von Sekret und bakteriellen Infektionen zu halten. Ebenso be­ deutsam ist die kontinuierliche Durchführung einer Physiotherapie (autogene Drainage, Flutter, Vibrationsmassage). Antibiotika sollten gezielt – nach Antibiogramm – oder kalkuliert bei akuten Exazerbationen eingesetzt werden. Vorliegende Grunderkrankungen müssen zusätzlich behandelt werden (z. B. Immundefekte). 18.9

Interstitielle Lungenerkrankungen

M. Kopp

18

j jGrundlagen Interstitielle Lungenerkrankungen fassen eine heterogene Gruppe von Lungenerkrankungen unterschiedlicher Ursachen zusammen, die im Kindesalter insgesamt jedoch selten sind. Gemeinsam ist diesen Erkrankungen eine Lungenfibrose im Endstadium. In der Übersicht sind die Erkrankungen mit interstitieller Lungenbeteiligung aufgeführt. Epidemiologische Daten über die exakte Prävalenz im Kindesalter fehlen. Interstitielle Lungenerkrankungen (Erkrankungen mit ­interstitieller Beteiligung der Lunge) 55Idiopathische Formen –– Idiopathische, diffuse Lungenfibrose (Hamman-Rich-­ Syndrom) –– Idiopathische Lungenhämosiderose mit Lungenfibrose inkl. Herz- oder Nierenbeteiligung (Goodpasture-­Syndrom) –– Interstitielle lymphoplasmazelluläre Pneumonie Liebow

55Begleitformen bei –– Allergischer Alveolitis (exogen allergische Alveolitis) –– Zystischer Fibrose –– Nach Lipidaspiration (Ölaspirationspneumonie) –– Sarkoidose –– Phakomatosen (tuberöse Hirnsklerose, Sturge-Weber) –– Xanthomatosen (Hand-Schüller-Christian, Gaucher, ­Niemann-Pick, Abt-Letterer-Siwe, Amyloidose) –– Kollagenosen/rheumatische Erkrankungen: Skleroder­ mien, LE, Periarteriitis nodosa, Dermatomyositis, rheumathoide Arthritis –– Pneumonien mit interstitieller Beteiligung: Viren (Masern, Varizellen, Zytomegalie, kong. Röteln), Mykoplasmen, Chlamydien, Toxoplasmose, Treponemen, Listerien

jjKlinik Akuter oder langsamer Beginn mit Dyspnoe, die v. a. bei Anstrengung zuerst auffällt, Husten, Schwächezustände, evtl. Fieber und Thoraxschmerzen herrschen vor. Dies sind zwar unspezifische Symptome, müssen aber in der Differenzialdiagnose an eine interstitielle Lungenerkrankung denken lassen, insbesondere bei länger andauernder und progredienter Symptomatik. In späteren Stadien besteht dann auch Sauerstoffbedarf, zuerst bei Belastung, dann auch in Ruhe. jjDiagnose Die Diagnose wird durch Ausschluss häufigerer pulmonaler Erkrankungen gestellt. Wegweisend können neben der protrahierten Beschwerdesymptomatik Veränderungen im Thoraxröntgenbild sein. Charakteristisch sind hier eine interstitielle Zeichnungsvermehrung und später das Auftreten der „Wabenlunge“ („honey comb lung“). Spezifischer ist das Lungen-CT, das retikuläre Verdichtungen und zystische Aufhellungen zeigt. In der Lungenfunktionsprüfung sind die Vital- und Totalkapazität sowie die Compliance deutlich vermindert. Die Blutgasanalyse zeigt insbesondere nach Anstrengung einen verminderten pO2 mit metabolisch kompensierter respiratorischer Alkalose und initial tiefem pCO2. Im terminalen Krankheitsstadium kommt es zur Hyperkapnie. Die definitive Diagnose wird an Hand des charakteristischen histologischen Befunds nach offener Lungenbiopsie gestellt. jjTherapie und Prognose Therapie und Prognose richten sich nach der spezifischen Diagnose der diagnostizierten interstitiellen Lungenerkrankung. 18.10

Systemkrankheiten mit Beteiligung ­ der Lunge

M. Kopp, C. Vogelberg 18.10.1

Sarkoidose

Bei der Sarkoidose handelt es sich um eine chronische, mehrere Organsysteme betreffende, granulomatöse Systemerkrankung unbekannter Ätiologie. Im Kleinkindalter sind v. a. Haut, Gelenke und Augen befallen, selten findet sich eine Lungenbeteiligung. Bei Adoleszenten und Erwachsene sind Lunge, Lymphknoten und Augen

435 Pneumologie interdisziplinär

..Tab. 18.12  Ursachen der Ateminsuffizienz

a

Respiratorische ­Kontrolle (Atemantrieb, Ventilation)

Mechanik ­( Ventilation)

Lunge ­(Oxygenierung)

Intoxikationen (Medikamente)

Kyphoskoliose

Asthma

ZNS-Läsion (Medulla)

Rippenserienfraktur

Pneumonie

Adipositas (Apnoe)

Adipositas

Zystische Fibrose

Metabolische Störungen

Poliomyelitis

Interstitielle Fibrose

Schädel-Hirn-Trauma

Muskeldystrophien

Lungenödem

Hirndruck (Tumoren)

Guillain-BarréSyndrom

Aspiration

Tetanus

(Para)tetraplegie

Hyaline Membranen, Ards

jjÄtiologie Eine Ateminsuffizienz kann bei fast allen krankhaften Zuständen vorkommen; sie kann auftreten wegen: 44 des Versagens der respiratorischen Kontrolle (Atemantrieb und Ventilation), 44 der Insuffizienz der Mechanik (Ventilation), 44 der Beeinträchtigung der Lunge selbst (Oxygenierung). b

c

..Abb. 18.10  Hiläre Adenopathie mit Verkalkungen links bei Primärkomplex einer pulmonalen Tuberkulose. a Im Röntgenbild kaum sichtbar links retrokardial. b, c Im CT Nachweis von verkalkten Lymphknoten (b) und Primärherd (c) in linken Unterlappen

involviert. Eine kardiale Beteiligung ist wegen möglicher Reizleitungsstörungen besonders ernst zu nehmen. Die Inzidenz beträgt etwa 0,29/100.000 Personenjahre. !! Cave Im Kleinkindesalter ist bei der Sarkoidose selten die Lunge betroffen. Wichtig ist es, frühzeitig eine mögliche kardiale ­Beteiligung zu erkennen (Rhythmusstörungen!).

jjKlinik Neben Allgemeinbeschwerden wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust (45%) und Fieber (35%) sind organspezifische Beschwerden an der Lunge Husten, eine überwiegend restriktive Ventilationsstörung sowie ein charakteristisches Thoraxröntgenbild mit bilateraler hilärer Lymphknotenvergrößerung charakteristisch (. Abb. 18.10). 18.10.2

Neuromuskuläre Erkrankungen ­ und Ateminsuffizienz

jjDefinition Von respiratorischer Globalinsuffizienz spricht man, wenn paO2 erniedrigt und paCO2 erhöht ist. Bei einer Partialinsuffizienz findet sich eine Hypoxämie, aber noch keine Hyperkapnie.

Die häufigen Ursachen einer Ateminsuffizienz sind in . Tab. 18.12 aufgeführt. jjPathogenese, Pathophysiologie Allen Formen der Ateminsuffizienz ist terminal eine schwere alveoläre Hypoventilation gemeinsam. Diese entsteht entweder auf direktem Weg durch eine Lähmung der Atemmuskulatur oder durch eine zentrale Störung des Atemantriebs oder auf indirektem Weg über eine konsumierende Grundkrankheit mit progredienter Einschränkung der Funktion der Atemhilfsmuskulatur (z. B. bei schwerer Kyphoskoliose mit Atelektase und Belüftungsstörung). Damit wird zwischen einer Hypoventilation mit mechanischer Behinderung oder mit neuromuskulärer Behinderung differenziert. Da die alveoläre Hypoventilation nicht schlagartig auftritt, sondern sich über Jahre entwickelt (z. B. bei Muskeldystrophie, Polio, Skoliosen etc.), kann sich der Körper an die sich langsam entwickelnde Hypoxämie und Hyperkapnie gewöhnen. Das Zusammenspiel von Atemkontrolle über die Chemorezeptoren und das Atemzentrum, die Aufrechterhaltung der Thoraxbeweglichkeit über die mechanische Pumpe (Muskeln, Zwerchfell, Skelett) und die Funktionstüchtigkeit des Gasaustauschapparats (Ventilation, Diffusion, Perfusion) sind komplex und von entscheidender Bedeutung zum Überleben. Nicht zu vergessen ist, dass sich fast immer auch eine Herzinsuffizienz einstellt, die mit der Ateminsuffizienz parallel entsteht. jjKlinik Bei langsam sich einstellender Insuffizienz der Atmung sind zuerst v. a. bei Anstrengung Symptome zu erwarten, die sich in einem Leistungsabfall oder -knick, Müdigkeit, vermehrtem Schlafbedürfnis am Tag, Unruhe, Schwitzen, Zittern, Angstgefühl und Depression, Tachy- und Dyspnoe äußern. Später kommen Ruhedyspnoe,

18

436

M. Kopp et al.

Gewichtsverlust, rezidivierende (Stress)ulzera des Magen-DarmKanals, Zyanose, Ödeme, Kopfschmerzen, Schwindelanfälle und Bewusstlosigkeit dazu. !! Cave Jede Art einer akuten Komplikation, sei diese infektiöser, pulmonaler, kardialer oder neurogener Ursache, können für den Patienten lebensbedrohlich werden.

j jDiagnose Die Werte der Blutgase, evtl. tags und nachts, geben Auskunft über den Schweregrad der Hypoventilation. Die Lungenfunktion kann Auskunft geben über die Restkapazität der Lunge, wobei v. a. die statischen Lungenvolumina interessieren. Im EKG zeigen sich die Zeichen des Cor pulmonale, das Röntgenbild gibt z. B. Auskunft über das Ausmaß einer Minder- oder Unterbelüftung (Atelektasen, Infiltration). j jDifferenzialdiagnose Diese ist sehr breit und in . Tab. 18.12 in reduzierter Form dargestellt. Nicht eingeschlossen sind Formen der angeborenen und neonatalen Fehlbildungen, die schon sehr früh zur Ateminsuffizienz und zum Tod führen können. j jTherapie Die therapeutischen Optionen orientieren sich an der Grunderkrankung. Generell ist die Sicherstellung der Atmung „per se“ mit Gabe von Sauerstoff, Atemhilfe mit Ventilation (Maskenbeatmung, Intubation) und Sicherstellung genügender O2-Träger (Erythrozyten) zu garantieren. Heute kommen verschiedene Methoden der Atemhilfe wie z. B. nasaler CPAP („continuous positive airway pressure“), eine High-Flow-Therapie oder eine Heimbeatmung infrage. jjPrognose Diese richtet sich nach der Grundkrankheit und deren Progres­ sion.  Die akute Ateminsuffizienz z. B. als Folge eines Unfallge­ schehens ist anders zu beurteilen als diejenige bei progressiver Muskeldystrophie, bei hoher Querschnittslähmung oder bei zystischer Fibrose. 18.11

18

Aspiration

M. Kopp Aspiriert werden können Flüssigkeiten und Fremdkörper. Die Schwere der Beeinträchtigung der Lungenfunktion und damit auch des klinischen Zustandsbildes wird entscheidend geprägt durch: 44 die Art des aspirierten Materials (z. B. Mageninhalt, infiziertes Fruchtwasser, Nahrung), 44 die Menge, Größe und Beschaffenheit des aspirierten Materials (z. B. fest, flüssig, obstruierend), 44 das Alter und eine eventuelle Vorschädigung des Kindes. 18.11.1

Fremdkörperaspiration

j jDefinition Als Fremdkörperaspiration wird jede unbeabsichtigte Inhalation fester Gegenstände in den Tracheobronchialbaum bezeichnet.

..Abb. 18.11  Die Aspiration eines Tannenzweiges in den rechten Unterlappenbronchus hat bei einer 4-jährigen Patientin zu einer protrahierten Symptomatik mit Husten und rezidivierenden, hochfieberhaften Pneumonien geführt. Bronchoskopisch konnte dieser organische Fremdkörper aufgrund seiner Mazeration nur partiell entfernt werden, so dass in diesem Fall schließlich eine Operation mit Lobektomie notwendig wurde

jjEpidemiologie Die Aspiration von Fremdkörpern ist bei Kindern im Alter von 6 Monaten bis zu 4 Jahren kein allzu seltenes Ereignis. Bevorzugtes Alter ist das 2. und 3. Lebensjahr (ca. 50% der Ereignisse). Etwa 85% der Ereignisse treten bis zum 5. Lebensjahr auf. Häufig werden­ z. B. Nüsse, Gegenstände aus Kunststoff (Spielzeugteile), Gummi oder metallische Fremdkörper (Schrauben) aspiriert (. Abb. 18.11). jjPathophysiologie Obwohl kleinere Partikel bis in die Subsegmentbronchien gelangen können, liegen die allermeisten Gegenstände doch in den Hauptund Zwischenbronchien, wobei die rechte Seite etwas häufiger betroffen ist (Abgang steiler!). Meist kommt es durch den Fremdkörper zu einer Obstruktion der Atemwege, wobei unterschiedliche Mechanismen zu beobachten sind. Wird das Lumen nicht vollständig ­verschlossen, bildet sich meist eine Ventilstenose aus, die zu einer distalen Überblähung führt. Bei vollständigem Verschluss (primär oder allmählich durch entzündliche Anschwellung der Schleimhaut) kommt es zu einer distalen Minderbelüftung bzw. Atelektase. >> Bei einer akuten Hustensymptomatik muss immer auch an die Möglichkeit einer Fremdkörperaspiration gedacht werden!

jjKlinik Es gibt kein verlässliches klinisches oder radiologisches Zeichen, dass eine Aspiration beweisen oder sicher ausschließen kann! Oft tritt unmittelbar nach der Aspiration ein akuter, anfallsartiger Reizhusten auf. Daneben können Stridor, Dyspnoe und ggf. auch eine Zyanose beobachtet werden (. Tab. 18.13). Akut kann es durch eine Verlegung von Larynx oder Trachea zu einer zum Tode führenden Asphyxie kommen. Nach der oft dramatischen Initialsymptomatik folgt z. T. ein symptomarmes oder sogar symptomfreies Intervall. Wird der Fremdkörper nicht unmittelbar entfernt, bilden sich ­Symptome einer chronischen Fremdkörperaspiration aus: durch Granulombildung und Infektion kommt es zu rezidivierenden Pneumonien mit Fieber und letztendlich zu einer Destruktion des betroffenen Lungensegments. jjDiagnose Bei der klinischen Untersuchung kann ein abgeschwächtes Atemgeräusch, ein hypersonorer Klopfschall bei bestehendem Ventil­ mechanismus bzw. ein gedämpfter Klopfschall bei einer Atelektase auffallen. Ggf. kann ein meist einseitiges Giemen auskultierbar sein. Bei Verdacht auf Fremdkörperaspiration muss eine Röntgenaufnahme von der Zahnleiste bis zum Abdomen veranlasst werden. Bei laryngealer oder trachealer Lage ist ein Seitbild hilfreich, um eine

437 Pneumologie interdisziplinär

..Tab. 18.13  Die häufigsten Symptome und radiologischen Befunde bei Kindern mit einer gesicherten Fremdkörperaspiration Klinische ­Symptome

Häufigkeit

Radiologische Befunde

Häufigkeit

Husten

50%

Atelektase

14%

Fieber

30%

Air trapping

64%

Kurzatmigkeit

26%

Pneumonie

13%

„Wheezing“

26%

Sichtbarer Fremdkörper

 4%

Ohne initiale Beschwerden

 2%

Unauffälliger Befund

12%

Lage im Ösophagus auszuschließen. Da nur die wenigsten aspirierten Fremdkörper schattengebend sind, muss man auf indirekte ­radiologische Veränderungen achten wie einseitige Überblähung, Dys- oder Atelektase. !! Cave Ein unauffälliger klinischer Befund und ein (initial) normales Röntgenbild schließen eine Fremdkörperaspiration nicht aus. Daher muss bei jedem begründeten Verdacht auf ein Aspira­ tionsereignis eine Bronchoskopie durchgeführt werden!

jjTherapie und Prognose Jeder Verdacht auf eine Fremdkörperaspiration sollte zur umgehenden Bronchoskopie Anlass geben. Bei Kindern beginnt man meist mit einer flexiblen Bronchoskopie zur Lokalisation des Fremdkörpers. Größere und feste Fremdkörper werden häufig unter Sicht mit Hilfe der starren Bronchoskopie mit der Zange gefasst und extrahiert. Kleine Partikel können nach Spülung abgesaugt werden. Sehr selten sind chirurgische Maßnahmen zur Fremdkörperentfernung nötig. Bei zeitgerechter Extraktion des Fremdkörpers ist die Pro­gnose gut. 18.12

Thoraxtrauma und Erkrankungen ­ der Pleura

C. Vogelberg Thoraxtraumata sind im Kindesalter selten und kommen bei ­Verkehrsunfällen, direktem Schlag oder iatrogen (Reanimation, Pleuradrainage, diagnostische Eingriffe) vor. Meist sind kombi­nierte Verletzungen der intrathorakalen Strukturen vorhanden. 18.12.1

Pneumothorax

jjPathogenese, Klinik Aufgrund des Entstehungsmechanismus unterscheidet man einen inneren und einen äußeren Pneumothorax: 44 Defekt der Pleura visceralis → innerer Pneumothorax, 44 Defekt der Pleura parietalis → äußerer Pneumothorax. Ein Pneumothorax kann traumatisch bedingt sein (dabei oft auch ein Hämatothorax vorliegend), aber auch Punktionen und Biopsien an Pleura und Lunge oder Beatmng mit hohen Drücken führen gelegentlich zum iatrogenen Pneumothorax.

18

Ein primärer Spontanpneumothorax hat seine Ursache meistens in bisher unbekannten, apikal gelegenen, subpleuralen Zysten oder Bullae, wobei Beziehungen zu Schwankungen des atmosphärischen Drucks bestehen. Der Pneumothorax entwickelt sich meistens unter Ruhebedingungen bzw. im Rahmen von Hustenattacken. Die Patienten spüren gelegentlich einen leichten Schmerz und sind ­vielleicht etwas dyspnoisch. Bei der klinischen Untersuchung beobachtet man lediglich eine mäßige Tachykardie und die Atembeweglichkeit auf der befallenen Seite ist geringer. Perkutorisch hört man hypersonoren Klopfschall, die Atemgeräusche sind vermindert oder aufgehoben. Bei primärem Spontanpneumothorax besteht ein deutlich erhöhtes Rezidivrisiko. Ein sekundärer Spontanpneumothorax kann im Rahmen chronischer Lungenerkrankungen (Asthma bronchiale, Mukoviszidose) oder bei einer akuten Infektion im Sinne einer (Pleuro)pneumonie auftreten. Eine Sonderform ist der Spannungspneumothorax, bei dem aufgrund eines Ventilverschlusses im Bereich der Fistel zwar jeweils Luft bei der Einatmung in den Pleuraraum einströmt, diese aber bei der Ausatmung nicht mehr entweichen kann. Der zunehmende Überdruck verdrängt Herz und Mediastinum nach der Gegenseite, sodass die Blutzirkulation in den großen Gefäßen und die Ventila­ tion der gesunden Seite erheblich beeinträchtigt werden. jjDiagnose Die Thoraxröntgenaufnahme – möglichst in voller Exspiration – lässt in der Regel Art und Ausdehnung des Pneumothorax erkennen. Im Zweifelsfalle sollte eine Computertomographie erfolgen, die v. a. zur Suche von Zysten und Bullae wichtig ist. Bei Säuglingen und jungen Kindern kann auch die Durchleuchtung mit einer zentrierten starken Lichtquelle (Diaphanoskopie) diagnostisch hilfreich sein. jjTherapie Bei geringer Ausdehnung des Pneumothorax (20–25% der Lunge betroffen), normaler Atemfrequenz und fehlender Zunahme kann eine abwartende Haltung eingenommen werden. Durch kontinuierliche O2-Applikation (Nasensonde) kann der Stickstoffpartialdruck in der Lunge gesenkt und damit die N2-Absorption aus der pleuralen Luftansammlung verbessert werden. >> Bei symptomatischen Patienten, bei ausgedehnterem Pneumothorax und natürlich sofort beim Spannungspneumothorax muss eine Saugdrainage gelegt werden.

Führt diese innerhalb von 7 Tagen nicht zum gewünschten Effekt oder kommt es zu rezidivierenden Spontanpneumothoraces (>2  Ereignisse), sind invasivere Methoden indiziert (Thorakoskopie,­ u. U. mit Verklebung der Fistel oder Entfernung weiterer Bullae). 18.12.2

Pleuritis

Im Kindesalter dominieren sekundäre Miterkrankungen der Pleura bei Prozessen an anderen Organen (Lunge, Herz, Abdominalorgane) bzw. im Rahmen von Systemerkrankungen (z. B. Lupus erythematodes visceralis). Pleuritis sicca  Diese Form der Entzündung ist gekennzeichnet

durch eine geschwollene, mit Fibrinauflagerungen bedeckte Pleura, die bei den Atembewegungen aneinander reibt und typische Symptome hervorruft: 44 Schmerzen bei der Atmung (einseitig), 44 verminderte Atemexkursion der betroffenen Seite,

438

M. Kopp et al.

44 typisches in- und exspiratorisches Reibegeräusch (Verstärkung durch Druck auf Thoraxwand, keine Beeinflussung durch Husten). Der Befund kann sich zurückbilden, aber auch in eine exsudative Pleuritis übergehen. Pleurareiben und Schmerz verschwinden dann oft. Pleuritis exsudativa  Zu einer Flüssigkeitsansammlung im Pleuraraum ohne Trauma kann es entweder durch eine Erhöhung des hydrostatischen Drucks, durch eine Erniedrigung des onkotischen Drucks oder durch beide Mechanismen kommen. Flüssigkeit, die so entsteht, heißt Transsudat. Veränderungen der Pleuraoberfläche durch Entzündung, Tumor oder Infiltrationen können ohne Mitbeteiligung des onkotischen oder hydrostatischen Drucks zu einem Erguss – Exsudat – führen. Die größte Bedeutung haben infektiös hervorgerufene Exsu­ date. Dabei können die Erreger sich primär direkt an der Pleura ansiedeln und – wie bei der tuberkulösen Pleuritis – unter Vermittlung einer hyperergen Reaktion zu einem serösen Erguss führen. Häufiger liegt aber ein parapneumonischer Erguss vor, eine pleurale Flüssigkeitsansammlung, die topographisch und zeitlich mit einer Pneumonie, einem Lungenabszess oder Bronchiektasen assoziiert ist. Dabei kann die einfachste Form als steriler pleuraler Begleiterguss auftreten. Der komplizierte parapneumonische Erguss (Anzüchtung eines pathogenen Keimes aus der Pleuraflüssigkeit) und das Pleuraempyem (Nachweis von Eiter im Pleuraraum) gehen auf eine Invasion des Pleuraraums durch Bakterien oder andere Erreger zurück.

jjKlinik Typische Symptome und Befunde sind: 44 atemabhängige, einseitige Schmerzen, 44 Atemnot (inspiratorisches Stöhnen), 44 Fieber, 44 verminderte Atemexkursion der betroffenen Seite (Schonhaltung), 44 Pleuritis sicca: atemsynchrones Reibegeräusch, 44 Pleuritis exsudativa: Klopfschalldämpfung. Atemgeräusch aufgehoben oder abgeschwächtes bronchovesikuläres („Kompressions“)atemgeräusch. Abschwächung der Schallleitung (Bronchophonie und Stimmfremitus).

18

..Abb. 18.12  Pleuropneumonie im rechten Unterfeld mit Pleuraerguss bei einem Patienten mit Muskeldystrophie, Fieber, Husten, Dyspnoe

jjDiagnose Im Vordergrund steht die Thoraxröntgenaufnahme (. Abb. 18.12). Beim frischen, nicht abgekapselten Erguss findet man meist eine seitlich ansteigende Verschattung des Lungenfelds, die von unten nach oben abnimmt und fließend in die normale Lungenzeichnung übergeht. Aber auch nur ein kleiner Winkelerguss (bei dann meist gut sichtbarer pneumonischer Infiltration) oder aber eine homogene Totalverschattung einer Seite sind mögliche Befunde. Ein horizontaler Ergussspiegel mit darüber liegender Luftblase zeigt eine Fistel zum Bronchialsystem an. Abgekapselte Ergüsse lassen sich mit Hilfe eines Computertomogramms besser darstellen. Dabei gelingt auch eine Abgrenzung pleuraler von pulmonalen Prozessen. Mit der Pleurasonographie kann die Ausdehnung des Ergusses und der Zustand (gekammert, organisiert, Fibrinfäden) – beliebig oft – kontrolliert und damit die güns­ tigste Stelle für die Einlage der Pleuradrainage festgelegt werden.

..Tab. 18.14  Differenzialdiagnose der Flüssigkeitsansammlung im Thorax Hydrothorax

Hämatothorax

Chylothorax

Transsudat

Exsudat

Farbe

Durchsichtig

Trüb

Blutig

Milchig

Zellzahl

1.000/mm3

Viele

Lymphozyten

Gesamteiweiß

3 g/dl

4–8 g/dl

2–6 g/dl

Spezifisches Gewicht

1.016

>1.016

>1.016

Eiweißquotienta

0,5

>0,5

>0,5

LDH

200 IU

Serumwert

Serumwert

LDH-Quotientb

0,6

>0,6

>0,6

a Gesamteiweiß b LDH

Pleuraerguss/Gesamteiweiß Serum im Pleuraerguss/LDH im Serum

439 Pneumologie interdisziplinär

Die Pleurozentese (diagnostisch oder im Rahmen der Therapie) dient der differenzialdiagnostischen Exploration des Ergusses. Zuerst muss entschieden werden, ob es sich um ein Transsudat oder Exsudat handelt (. Tab. 18.14). Parallel dazu müssen Erreger­ diagnostik (Gramfärbung und Kultur), laborchemische Analyse (pH-Wert, Glukose, LDH, Eiweißgehalt, spezifisches Gewicht, Zellzahl und Differenzierung) veranlasst werden. jjDifferenzialdiagnose Durch die Analyse der Punktionsflüssigkeit sind ein Hämatothorax und ein Chylothorax auszuschließen (. Tab. 18.14). Die Abgrenzung eines Lungenabszesses von einem Empyem gelingt meist durch das Computertomogramm. jjTherapie Kleinere parapneumonische Ergüsse bedürfen keiner Punktion oder Drainage. Über einen Randwinkelerguss hinausgehende Flüssigkeitsansammlungen sollten zur weiteren Diagnostik punktiert werden. Die Entscheidung zur Anlage einer Thoraxdauerdrainage kann dann anhand des makroskopischen Bildes (Eiter?), der mikrobiellen sowie der laborchemischen Analyse der Ergussflüssigkeit gefällt werden. Bei kompliziertem parapneumonischem Erguss bzw. Empyem liegt eine entsprechende Indikation vor. Dabei kann auch eine Spül-Saug-Drainage sinnvoll sein. Die antibiotische Grundbehandlung richtet sich nach dem nachgewiesenen oder vermuteten Erreger des pleuropneumonischen Prozesses. jjPrognose Die Prognose – selbst des Pleuraempyems – ist im Kindesalter meist gut, wenn die Grundkrankheit behandelbar ist. Pleuraschwarten, die anfangs durchaus zu Skoliosen führen können, bilden sich in der Regel sehr gut zurück. Dekortikationen sind praktisch nicht mehr nötig. 18.13

Tumoren der Lunge und der Pleura

M. Kopp Primäre Tumoren der Lunge und der Pleura sind im Kindesalter sehr selten. 18.13.1

Gutartige Neoplasien

Das Fibroxanthom ist ein entzündlicher Pseudotumor. Der Altersgipfel liegt zwischen 8 und 12 Jahren. Nur etwa 50% der Kinder entwickelt Symptome wie Husten, Fieber, Anämie und Thrombozytose. Auf dem Röntgenbild sieht man einen solitären Tumor, der oft Verkalkungen zeigt. Die Pathogenese der Erkrankung ist bislang nicht geklärt. Die Therapie besteht in einer chirurgischen Exzision, die Prognose ist nach der Operation sehr gut. 18.13.2

Maligne Tumoren

Bei den malignen Tumoren der Lunge handelt es sich überwiegend um Metastasen (. Abb. 18.13), z. B. bei Wilms-Tumor, dem Hepatoblastom, Osteosarkom, Ewing-Sarkom und Rhabdomyosarkom. In der Regel werden die Lungenmetastasen im Rahmen der Primär­ diagnostik entdeckt, selten sind sie klinisch symptomatisch.

..Abb. 18.13  Metastase eines Lymphoms in der Lunge im Thoraxröntgenbild, rechtsseitig anliegend

Auch Tumoren der Pleura sind vorwiegend Metastasen im Rahmen der oben aufgeführten Tumorerkrankungen. Hier kommt es öfter zur Ausbildung eines Pleuraergusses mit atemabhängigen Schmerzen, Dyspnoe und Husten. Sehr selten im Kindesalter ist das maligne Pleuramesotheliom. >> Nicht selten werden Raumforderungen im Thoraxbereich als Zufallsbefund einer Thoraxröntgenuntersuchung gefunden. Sie müssen mit allen zur Verfügung stehenden bildgebenden Verfahren bis hin zur offenen operativen Exploration abgeklärt werden.

18.14

Schlafmedizin

E. Paditz jjDiagnostik Die Anamnese ist richtungsweisend. Der klinische Status kann Hinweise für die Differenzierung zwischen organisch und nichtorganisch bedingten Schlafstörungen geben. Erst danach – ggf. ergänzt durch validierte Fragebögen sowie bei Jugendlichen ggf. unter zusätzlicher Einbeziehung einer ambulanten Polygraphie – ist über die Notwendigkeit einer Untersuchung im Kinderschlaflabor zu entscheiden (Polysomnographie). jjAnamnese Hinweise auf unzureichend erholsamen Schlaf können sein: Tages-

müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Hypermotilität („Zappelphillipp“), erschwerte morgendliche Weckbarkeit („Morgenmuffel“), Verhaltensänderungen, Leistungsknick. Bei der Beurteilung der Schlafqualität und -effizienz sollten Fragen zu folgenden Bereichen gestellt werden: Einschlafzeit, mehrfaches nächtliches Aufwachen, Nachtwandeln, unruhige Beine/nächtliche Schmerzen in den Beinen, Krämpfe im Schlaf, Enuresis, Albträume, Mundatmung, Schnarchen, Schwitzen, Schlaf mit rekliniertem Kopf, morgendliche Kopfschmerzen und Mundtrockenheit, Einschlafattacken am Tage, Dauer der Mittagsruhe, Dauer der Handy-, TV- und Videonutzung pro 24 h.

18

440

M. Kopp et al.

Bei Diskrepanzen zwischen Anamnese und Schlaflaborbefund sollten zwei Konsequenzen gezogen werden: Polysomnographie möglichst in zwei aufeinanderfolgenden Nächten sowie ggf. weitere Differenzialdiagnosen in Betracht ziehen. jjErgänzende Untersuchungen In das diagnostische Stufenprogramm sollten je nach Fragestellung die in . Tab. 18.15 aufgeführten Untersuchungen einbezogen werden. 18.14.1

Schlafbezogene Atmungsstörungen

Obstruktive Schlafapnoe

..Abb. 18.14  Kontakttonsillen als Ursache obstruktiver Schlafapnoen mit zahlreichen Infekten der oberen Atemwege, Gedeihstörung und lautem nächtlichem Schnarchen. Komplette Rückbildung der Symptomatik nach Tonsillektomie (heute wird die Tonsillotomie bevorzugt; die Tonsillektomie wird nur noch bei speziellen Indikationen in Erwägung gezogen)

Nachtwandeln (Somnambulismus) sollte nicht bagatellisiert werden. Türen und Fenster sollten bei Vorliegen von Nachtwandeln nachts von innen gesichert werden, um gefährliche Sturzunfälle zu vermeiden.

jjKlinik Kopf-, Hals- und HNO-Bereich  Hinweise für Obstruktion der obe-

ren Atemwege: Mundatmung, Tonsillenhypertrophie (. Abb. 18.14), Retrognathie, Makroglossie, Nasenschleimhautschwellung, Mundatmung, nuchale Lymphknotenschwellungen als Hinweis für adenoide Vegetationen, Mittelgesichtshypoplasie, Struma, zervikale Lymphangiome, Fehlbildungen der Uvula und des weichen Gaumens. Thorax  Trichterbrust, interkostale Einziehungen als mögliche

­ olge der vermehrten Atemanstrengungen bei obstruktiver Schlaf­ F apnoe; Systolikum infolge Trikuspidalinsuffizienz bei sekundärer pulmonaler Hypertension. Abdomen  Hepatomegalie/Rechtsherzinsuffizienz bei Cor pulmo-

nale (selten).

18

jjPolysomnographie Die Polysomnographie gilt als Goldstandard zur Erfassung sowie zum Ausschluss somatisch bedingter Störungen im Schlaf. Die pädiatrische Polysomnographie erfasst in der Regel nur nichtinvasiv messbare Parameter (. Abb. 18.15). Zusätzlich können nächtliche Atemgeräusche kontinuierlich erfasst werden. !! Cave Ein Normalbefund in der Polysomnographie schließt eine schlafbezogene Atmungsstörung, Herzrhythmusstörung, ­ ein schlafgebundenes Anfallsleiden oder eine Störung der Schlafarchitektur nicht aus (First-night-Effekt). Der Nachweis zentraler Apnoen kann den Verdacht auf ein Schütteltrauma stützen; fehlende Apnoen können den Verdacht auf ein Schütteltrauma im Gesamtkontext in Frage stellen. Bei arterieller Hypertonie sowie bei Minderwuchs kommen differenzial­ diagnostisch auch schlafbezogene Atmungsstörungen bzw. Störungen der Schlafarchitektur in Betracht, die nur polysomnographisch erfasst werden können.

jjDefinition, Epidemiologie Bei Verengung der oberen Atemwege kommt es zur Mundatmung, zum Austrocknen der Mundschleimhaut und zum nächtlichen Schnarchen. 7,1% aller Kleinkinder schnarchen ständig, d. h. in nahezu jeder Nacht. Bei Grundschülern und bei 10- bis 14-jährigen Schülern wird nächtliches Schnarchen in ca. 10% der Fälle angegeben. Etwa 0,7–1,0% aller Kinder haben obstruktive Apnoen. Bei Menschen mit Down-Syndrom wird ständiges nächtliches Schnarchen in 68% der Fälle beobachtet, davon bei 21% in fast jeder Nacht. jjKlinik Schnarcher und Nichtschnarcher unterscheiden sich im Kindesalter in allen Altersgruppen signifikant hinsichtlich der Merkmale Tagesmüdigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Infekthäufigkeit, nächtlichem Schwitzen und morgendlicher Weckbarkeit voneinander. >> Ob das nächtliche Schnarchen mit obstruktiven Apnoen, ­Hypoxämien und/oder mit Störungen der Schlafarchitektur (gehäufte Arousals) verbunden ist, kann nur polysomno­ graphisch erfasst werden.

jjÄtiologie Im Kindes- und Jugendalter sind mehr als 50 Grunderkrankungen als Ursache obstruktiver Schlafapnoen beschrieben worden: 44 Bei Neugeborenen und Säuglingen: Pierre-Robin-Sequenz, Choanalatresie sowie alle weiteren Syndrome mit erheblicher Mittelgesichtshypoplasie, Gaumenspalten, Retro- und Mikro­ gnathie, Makroglossie, Struma oder kongenitale zervikale ­Lymphangiome, 44 im Kleinkindesalter: überwiegend adenoide Vegetationen, ­ aber auch Tonsillenhypertrophie; auch an nasale Fremdkörper denken, 44 im Schulalter: Tonsillenhypertrophie, allergische Rhinitis, ­Septumdeviation der Nase; sehr selten auch retropharyngale Tumore. jjDiagnose Anamnese, Status, HNO-Untersuchung sind obligat (. Tab. 18.15), falls seitens des HNO-Arztes keine eindeutige therapeutische Konsequenz gezogen werden kann, besteht die Indikation zur Polysomnographie. >> Schlafmedizinische Untersuchungen können in Zweifelsfällen wesentlich zur Indikationsstellung für oder gegen eine ­Adenotomie, Tonsillotomie oder Tonsillektomie beitragen.

jjTherapie Die Therapie richtet sich nach der Ursache, d. h. in der Regel nach der HNO-ärztlich lokalisierten „engen Stelle“. Bei Kleinkindern

441 Pneumologie interdisziplinär

..Abb. 18.15  Polysomnographischer Befund einer 16-jährigen Patientin mit Meningomyelozele und Arnold-Chiari-Fehlbildung: zentrale Apnoe von 37 s Dauer mit Abfall der Sauerstoffsättigung auf 76% und kurzzeitiger Asystolie von 6 s Dauer. Ableitungen: REOG, LEOG Elektrookulogramm rechtsund linksseitig; F4T4, F3T3, C4T4, C3T3 EEG-Ableitungen; EMG Kinn-EMG;

­ ICRO Schnarchmikrofon; FLOW nasaler Flow (Messung hier mittels Ther­ M mistor, neuerdings besser mittels Drucksensor); THO, ABD thorakale und abdominelle Atembewegungen; EKG Elektrokardiogramm, SAO2 O2-Sättigung, pulsoxymetrische Messung; TcCO2 transkutaner pCO2; TcO2 transkutaner pO2; Lage Lagesensor (hier: Rückenlage)

..Tab. 18.15  Ergänzende Untersuchungen bei Schlafstörungen Parameter

Fragestellung

Bemerkungen

HNO-Status

Ausschluss Obstruktion der oberen Atemwege

Obligat bei jeder schlafbezogenen Atmungsstörung

Augenarzt

Visus, Fundusbeurteilung

Bei Tagesmüdigkeit auch an Fehlsichtigkeit denken; Augenhintergrund zum Ausschluss Hirndruckzeichen obligat

Zentrale Bildgebung inkl. Darstellung des Hirnstamms

Ausschluss einer zentralen Raumforderung oder eines Hydrozephalus

Oligat bei polysomnographischem Nachweis einer zentralen schlafbezogenen Atmungsstörung, eines schlafgebundenen Anfallsleidens sowie bei obstruktiven Apnoen mit neurologischen Auffälligkeiten

TSH, T3, T4 im Serum

Ausschluss Hypothyreose

Bei obstruktiver Schlafapnoe ohne eindeutige Ursache im HNOBereich auch an eine Hypothyreose denken; bei Patienten mit DownSyndrom obligat kontrollieren

Fe und Ferritin im Serum

Ausschluss Eisenmangel

Bei Verdacht auf Restless-Legs-Syndrom obligat

Echokardiographie

Ausschluss pulmonale Hypertension; Herzinsuffizienz bzw. dilatative Kardiomyopathie

Cor pulmonale bei obstruktiver Schlafapnoe möglich; dilatative Kardiomyopathien und Ateminsuffizienz bei neuromuskulären Erkrankungen können mit Cheyne-Stokes-Atmung einhergehen

MSLT (multipler ­Schlaflatenztest)

Standardisierter ganztägiger Test zur Prüfung der Einschlaflatenz (= Zeit bis zum Einschlafen) und der REM-Latenz (= Zeit zwischen Einschlafen und erster REM-Schlafphase)

Wichtig innerhalb der quantitativen und qualitativen Beschreibung der Tagesmüdigkeit, insbesondere zur Erkennung der Narkolepsie

Epworth-SleepinessScale

Einfacher quantitativer Fragebogen zur Beurteilung der Tagesmüdigkeit

7 MSLT

Psychologische ­Untersuchung

Nach Ausschluss organischer Ursachen sowie nach weitgehendem Ausschluss unzureichender Schlafhygiene

Hinweise für Depression, Teilleistungsstörung, Beziehungsstörung oder auch Drogenkonsum als Ursache der Tagesmüdigkeit bzw. der Schlafstörung

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442

M. Kopp et al.

meistens Adenotomie, bei größeren Kindern mit Tonsillenhypertrophie und obstruktiven Apnoen Tonsillotomie. Vor oder anstelle der Adenotomie kann ein Behandlungsversuch mit einem nasalen Kortikoidspray in Betracht gezogen werden. Alle weiteren Syndrome erfordern meistens eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Kieferorthopäden und ggf. auch mit Kieferchirurgen (z. B. individuell angepasste Gaumenplatten mit Sporn – sog. Tübinger-Gaumen­ platte). Falls sich keine einfachen operativen oder apparativen Behandlungsmöglichkeiten ergeben, sollte mit dem Beginn einer na­ salen CPAP-Therapie nicht gezögert werden. Eine Intubation oder Tracheotomie ist heute auf Grund obstruktiver Apnoen kaum noch erforderlich, kann in schwierigen Einzelfällen aber in Betracht gezogen werden.

Zentrale Hypoventilation j jDefinition, Ätiologie, Epidemiologie Zentrale Hypoventilationssyndrome sind sehr selten. Sie können angeboren (z. B. Undine-Syndrom, ca. 120 Fälle in Deutschland) oder erworben sein (zentrale Atemantriebsstörungen infolge von Verletzungen oder Raumforderungen verschiedenster Art). Im Schlaf nimmt die zentrale CO2-Sensitivität dieser Patienten extrem ab, sodass CO2-Anstiege nicht mehr mit normaler Inspiration be­ antwortet werden. Für das Undine-Syndrom sind Mutationen im Bereich des PHOX-2B-Genes gefunden worden, die mit der frühembryonalen Entstehung von Neurokristopathien in Verbindung ­gebracht werden. Dafür spricht auch, dass ca. 30% der Patienten­ mit Undine-Syndrom eine Fehlinnervation des Darms aufweisen (Morbus Hirschsprung). j jKlinik Durch ein Aussetzen der Atmung im Schlaf mit sekundärer Hyperkapnie und Hypoxämie kommt es zu pulmonaler Hypertension, Cor pulmonale und der Gefahr der akuten letalen Rechtsherzdekompensation. j jTherapie Kontrollierte Beatmung im Schlaf ist lebenslang erforderlich. Oft kann die Beatmung nichtinvasiv realisiert werden (nasale Maske, selten oronasale Maske oder externe Unterdruckbeatmung via ­Kürass oder „eiserne Lunge“). Falls die nichtinvasive Beatmung nicht toleriert wird, darf nicht mit der Intubation gezögert werden. In dieser Situation ist alternativ über die Beatmung via Tracheos­ toma oder über einen Zwerchfellschrittmacher zu entscheiden.

18

Periphere Hypoventilation Die Überbeanspruchung der Atemmuskulatur kann zur „Insuffizienz der Atempumpe“ führen z. B. bei: 44 neurologischen Erkrankungen: Muskeldystrophie Duchenne, spinale Muskelatrophie, 44 Thoraxdeformitäten: Skoliose, McCune-Albright-Syndrom u. a., 44 Lungenerkrankungen: Mukoviszidose, bronchopulmonaler Dysplasie, 44 angeborenen Speichererkrankungen: Glykogenosen, z. B. Typ Pompe. Morgendliche Kopfschmerzen, nächtliches Schwitzen, Nykturie und vermehrte Infektanfälligkeit können Hinweise auf eine Insuffizienz der Atempumpe darstellen. Weitere Symptome und Therapie 7 Abschn. 18.14.1.2. Therapeutisch kommt nur eine Entlastung der Atemmuskulatur durch intermittierende Beatmung in Frage. Eine Ver-

besserung der subjektiv empfundenen Lebensqualität konnte auch für Kinder und Jugendliche unter Außerklinischer Beatmung nachgewiesen werden.

Obesitas-Hypoventilation Adipositas kann zur Obstruktion der oberen Atemwege, zur vermehrten Atemarbeit (infolge der Obstruktion sowie infolge der zu bewegenden Thoraxwand) und damit zur Insuffizienz der Atempumpe mit sekundärer Hyperkapnie und Verschiebung der zentralen CO2-Sensitivität führen. Kurzfristig ist nur die nächtliche Maskenbeatmung wirksam, CPAP allein kann das Krankheitsbild verschlechtern. Langfristig sollte eine erhebliche Gewichtsreduktion angestrebt werden, deren Eintreten und deren Wirkung auf die Störung der Atmung allerdings nicht garantiert werden können. 18.14.2

Neurologisch und psychosomatisch ­bedingte Schlafstörungen

Narkolepsie Bei imperativen Einschlafattacken am Tage sollte neben einem Schlafdefizit sowie neben Hinweisen für eine schlafbezogene ­Atmungsstörung unbedingt auch an eine Narkolepsie gedacht ­werden. Oft weisen diese Patienten auch Kataplexien auf. Darunter versteht man plötzliche unwillkürliche Zustände von Tonusverlust der Extremitätenmuskulatur, insbesondere nach Affekten, z. B. beim Lachen. Hinzu kommen oft Durchschlafstörungen, Schlaflähmungen mit Halluzinationen und nächtliche „Heißhungerattacken“. Die Diagnose kann im Schlaflabor gesichert werden (sog. ­SOREM-Phasen, d. h. sehr schnell einsetzender REM-Schlaf). ­Genetische und/oder autoimmunologische Ursachen der Narkolepsie gelten inzwischen als gesichert. Bei positiver HLA-Typisierung, Einschlafattacken und Kataplexien sowie Nachweis von SOREMPhasen kann auf eine Liquoruntersuchung (Orexin) nach dem ­derzeitigen Kenntnisstand meist verzichtet werden. Hirntumoren können (auch postoperativ) mit einer sekundären Narkolepsie verbunden sein. Die derzeitige medikamentöse Therapie richtet sich gegen die Einschlafattacken, gegen die Kataplexien sowie gegen die Durchschlafstörung. Es bleibt abzuwarten, ob sich auch antientzündliche Behandlungen durchsetzen. Zusätzlich ist eine psychologische Beratung sinnvoll.

Schlafgebundene Anfallsleiden Verhaltensänderungen und Leistungseinbrüche sollten u. a. auch an schlafgebundene Anfallsleiden denken lassen. !! Cave Ein normales EEG im Wachzustand schließt eine schlafgebundene Epilepsie nicht aus!

Kleine-Levin-Syndrom Hierbei handelt es sich um eine Erkrankung mit periodischer ­Hypersomnie, Polyphagie und Wesensveränderung ohne weitere

neurologische Störungen in Phasen von jeweils 8–21 Tagen Dauer, die insbesondere bei Jungen im Alter von 13–16 Jahren erstmals auftritt. EEG, Schädel-MRT, Drogenscreening und Polysomnographie sind erforderlich. Die Therapie erfolgt mit Lithium, in vielen Fällen ist eine langfristige Rezidivprophylaxe erforderlich. Hinweise zur Schlafhygiene sowie insbesondere zu einem möglichst regelmäßigen Tagesablauf sind erforderlich.

443 Pneumologie interdisziplinär

>> Lithium ist das bei Kleine-Levin-Syndrom am häufigsten eingesetzte und entsprechend wirksame Medikament. Kontrollen des Lithiumspiegels im Serum sind erforderlich.

Lithium darf nur langsam ausschleichend abgesetzt werden, falls der Eindruck besteht, dass die Erkrankung abgeklungen ist. Sollten dennoch Rezidive auftreten, ist zur erneuten medikamentösen Therapie zu raten.

Restless-Legs-Syndrom (Willi-Ekbom-Erkrankung) Unwillkürliche rhythmische motorische Entäußerungen im Schlaf, die sich insbesondere in schmerzhaften Beinbewegungen äußern können, sollten durch schlafmedizinisch erfahrene Kinderärzte und Kinderneurologen abgeklärt werden. Videodokumentationen können die Diagnostik unterstützen. Bei Ferritinspiegeln im Serum > Albträume lassen sich oft mit einfach erlernbaren psychologischen Strategien beseitigen.

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445

Zystische Fibrose H. Hebestreit, A. Hebestreit

19.1 Pathophysiologie  – 446 19.2 Manifestationen der zystischen Fibrose  – 446 19.3 Diagnostik  – 449 19.4 Therapie  – 449 19.5 Zentrumsversorgung bei zystischer ­Fibrose  – 450

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_19

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H. Hebestreit und A. Hebestreit

Die zystische Fibrose („cystic fibrosis“ = CF), die im deutschen Sprachraum oft auch als Mukoviszidose bezeichnet wird, ist eine autosomal-rezessiv vererbte Multiorganerkrankung mit einer Inzidenz in Deutschland von ca. 1:2.500 bis 1:4.000. Damit gehört die CF zu der Gruppe der sog. seltenen Erkrankungen. Trotz großer Fortschritte in der Behandlung und Betreuung in hochspezialisierten Zentren ist die CF auch heute noch nicht heilbar. Die Lebens­ erwartung der ca. 7.500 Betroffenen in Deutschland ist deutlich ­reduziert, wobei es sehr große interindividuelle Unterschiede gibt. So versterben immer noch einzelne an CF Erkrankte vor dem 18. Geburtstag, während andere das 70. Lebensjahr erreichen. Der Median der Überlebenswahrscheinlichkeit lag 2018 in Deutschland bei mindestens 45 Jahren. 19.1

Pathophysiologie

Der CF liegt ein Defekt im sog. „Cystic-Fibrosis-TransmembraneRegulator“-(CFTR)-Chloridkanal zugrunde. Dieser Kanal findet sich

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beim Gesunden u. a. apikal in der Zellmembran von Epithelien verschiedener Gangsysteme wie Bronchien, Darm, Pankreas- und ­Gallengängen sowie Vasa deferentia. Ein Fehlen bzw. Funktionsverlust des CFTR-Kanals resultiert in einer eingeschränkten bzw. fehlenden transepithelialen Sekretion von Chlorid und damit Wasser in die jeweiligen Gangsysteme (. Abb. 19.1). Dadurch kommt es zu zähflüssigen Sekreten, zur Störung des Sekrettransports und durch Inflammationsvorgänge zur Zerstörung der Gänge. In den Schweißdrüsen dient der CFTR-Chloridkanal nicht der Abgabe von Chlorid in den Schweiß sondern der Rückresorption von Chlorid aus dem Primärschweiß, um Elektrolytverluste beim Schwitzen gering zu halten. Bei eingeschränkter oder fehlender CFTR-Funktion findet sich daher ein salzhaltiger Schweiß. Das CFTR-Protein hat neben seiner Bedeutung als Chloridkanal noch eine Reihe weiterer Funktionen. So ist bei CF u. a. auch die pankreatische Bikarbonatsekretion gestört. Das für das CFTR-Protein kodierende Gen ist eines der größten im menschlichen Genom und liegt auf Chromosom 7. Mittlerweile sind über 2.000 Mutationen beschrieben, wobei in Deutschland­ die sog. ΔF508-Mutation – eine Deletion von Phenylalanin an ­Position 508 des Proteins – mit einer Frequenz von fast 70% aller Mutationen mit Abstand am häufigsten vorkommt. Damit sind fast 50% aller Patienten mit CF in Deutschland homozygot für diese Mutation. Die verschiedenen Mutationen im CFTR-Gen werden auf der Basis ihrer Auswirkungen zu unterschiedlichen Mutationsklassen zusammen gefasst (. Abb. 19.2). Diese Klassifizierung ist hilfreich für das Verständnis mutations(klassen-)spezifischer Medikamente. 19.2

Manifestationen der zystischen Fibrose

Bei der CF können multiple Organsysteme betroffen sein: 44 Atemwege (von der Nase und den Nasennebenhöhlen bis hin zu den Bronchien), 44 Pankreas, 44 Darm, 44 Leber und Gallenwege, 44 Schweißdrüsen, 44 Vasa deferentia. Bei CF besteht wohl auch eine primäre Störung von Muskeln und Knochen.

Atemwege  Die Erkrankung der unteren Atemwege beginnt direkt nach Geburt und äußert sich klinisch oft bereits im ersten Lebensjahr durch eine bronchiale Obstruktion und zum Teil produktiven Husten. Es gibt jedoch auch Betroffene, bei denen eine pulmonale Symptomatik erst sehr spät im Laufe der Erkrankung einsetzt. >> Insgesamt ist die bronchopulmonale Erkrankung bei CF ­ heute die Hauptursache für Morbidität und Mortalität der ­Erkrankung.

Ursächlich für die bronchopulmonale Erkrankung bei CF ist die eingeschränkte mukoziliäre Clearance mit Sekretretention in den Atemwegen. Bei einer kompletten Verlegung eines Atemwegs mit Sekret („mucoid impaction“) entstehen Atelektasen (. Abb. 19.3). Zusammen mit Infektionen und Inflammationsvorgängen führt die Sekretretention zur bronchialen Obstruktion, meist zunächst besonders der kleinen Atemwege. Dies verursacht im Verlauf eine zunehmende pulmonale Überblähung, die sich klinisch durch einen Fassthorax mit Brustkyphose und nach vorne gezogenen Schultern äußert. Die Überblähung lässt sich auch radiologisch (. Abb. 19.3) und mittels Bodyplethysmographie (. Abb. 19.4) nachweisen. Infektionen und Inflammationsvorgänge führen im Verlauf zur progredienten Zerstörung der Bronchialwände, zur Ausbildung von Bronchiektasen und, durch Instabilität der Bronchien, zum Bronchialkollaps. Eine Hämoptoe bzw. ein Pneumothorax werden als lebensbedrohliche Komplikationen bei fortgeschrittener Lungenerkrankung beobachtet. Neben den unteren Atemwegen sind bei CF oft auch die Nase und die Nasennebenhöhlen betroffen. Nicht selten kommt es durch Sekretverhalt zur chronischen Sinusitis und durch die chronische Inflammation zur Ausbildung von Nasenpolypen, die die Nasengänge verlegen. Auch sind die oberen Atemwege mit den Nasen­ nebenhöhlen ein Keimreservoir. Pankreas und Darm  Die früheste klinisch erkennbare Manifestation einer CF ist der Mekoniumileus, der bei ca. 15% der Betroffenen

vorliegt und in den ersten Lebenstagen mit den klassischen Symptomen eines Ileus wie distendiertem Abdomen und (galligem) Erbrechen auffällt. Pränatal kann ein sonographisch hyperechogener Dünndarm auf einen Mekoniumileus hinweisen. Die Genese des Mekoniumileus ist multifaktoriell, meist liegt eine Pankreasinsuffizienz vor. Dazu kommen aber wohl noch ein auffälliger Proteingehalt des Mekoniums sowie abnorme Sekretionsvorgänge in der Darmmukosa, die zu einem Mekoniumpfropf im distalen Ileum vor der Bauhin-Klappe führen. Therapeutisch muss oft eine chirurgische Intervention erfolgen. Auch jenseits der Neugeborenenperiode kann bei Nahrungsumstellung oder geringer Flüssigkeitszufuhr ein mekoniumileusähnliches Bild entstehen, das sog. distale intestinale Obstruktionssyndrom (= DIOS). Diese Situation lässt sich meist durch konservative Maßnahmen beherrschen. Bei mehr als 80% aller Betroffenen mit CF liegt eine exokrine Pankreasinsuffizienz vor. Diese fällt klinisch durch eine Gedeihstörung, oft trotz relativ hoher Kalorienzufuhr, und voluminöse, fettglänzende und übelriechende Stühle auf. Neben der reduzierten Aufnahme von Nahrungsfett werden auch die fettlöslichen Vita­ mine A, D, E und K nicht ausreichend resorbiert. Dies fällt klinisch oft nicht auf, kann jedoch in Einzelfällen zu massiven Mangelzu­ ständen bis hin zu Nachtblindheit und Gerinnungsproblemen führen. Das mit der Verdauungsstörung häufig einhergehende Unter­ gewicht sowie ein Vitaminmangel können sich zudem negativ auf den Verlauf der Lungenerkrankung auswirken, sodass die Ernährung in der Therapie der CF eine große Rolle spielt.

447 Zystische Fibrose

Gesund Na

+

Cl

-

Cl

-

CF

H 2O

Na

+

Cl -

H 2O

-

ENaC

K+

C F TR

ENaC

CaCC

K+

K+

~ Na

C F TR

CaCC

K+

~ +

Na +

K+

2Cl -

Na

+

Na + Na + periziliäre Flüssigkeit

K+

2Cl -

Cl -

dehydrierter Mukus

Mukus Zilien Atemwegsepithel ..Abb. 19.1  Regulation der transepithelialen Flüssigkeitssekretion am Beispiel des Atemwegsepithels. In einer Zelle des respiratorischen Epithels eines Gesunden finden sich apikal funktionsfähige CFTR-Chloridkanäle, ­alternative, kalziumaktivierte Chloridkanäle (CaCC) und epitheliale Natriumkanäle (ENaC). Die ENaC-Känale werden durch CFTR-Kanäle inhibiert. Der Chloridausstrom über die CFTR- und CaCC-Kanäle sowie eine relativ moderate Natriumaufnahme über den ENaC führen zu einer Elektrolyt- und damit Wassersekretion. Die Sekretion von Wasser in den periziliären Raum unterhält eine periziliäre Flüssigkeitsschicht, die den Zilien einen Sekrettransport

nach oral erlaubt. Das Sekret ist gut hydriert und damit nicht zäh. Bei CF kann über den fehlenden bzw. funktionslosen CFTR-Chloridkanal keine Chloridsekretion stattfinden. Gleichzeitig fällt die Hemmung der ENaC-­ Kanäle weg. Insgesamt kommt es dadurch zur Elektrolyt- und damit Wasserresorption aus den Atemwegen. Durch die schmalere periziliäre Flüssigkeitsschicht kommt der Sekrettransport zum Erliegen. Die Sekrete akkumulieren und werden aufgrund der Dehydratation zäh. Sie stellen einen guten Nährboden für Keime dar und verhindern eine Elimination durch Zellen und Faktoren der „innate immunity“

CFTR-Mutationen (> 1800)

CFTR-Kanal

Zellkern

Normal

I

II

III

IV

V

VI

Keine Bildung

Block in der Bildung

Block in der Regulation

Veränderte Leitfähigkeit

Reduzierte Bildung

Vermehrter Abbau

..Abb. 19.2  Klassifizierung der CFTR-Mutationen nach ihren Auswirkungen auf die Bildung, Prozessierung, Regulation und Leitfähigkeit sowie Zahl der in der apikalen Zellmembran verfügbaren CFTR-Kanäle. MutationsKlasse I: Es wird keine messenger-RNA gebildet (z. B. Stop-Mutationen wie G542X). Mutationsklasse II: Das Protein wird falsch gefaltet und daher in ­ der Zelle gleich wieder abgebaut (z. B. bei der Mutation ΔF508). Mutationsklasse III: Die CFTR-Kanäle in der apikalen Zellmembran haben aufgrund

­ iner Störung der Kanalregulation eine geringe Öffnungswahrscheinliche keit (z. B. bei der Mutation G551D). Mutationsklasse IV: Die Leitfähigkeit der einzelnen Kanäle ist reduziert (z. B. bei der Mutation R117H). Mutationsklasse V: Aufgrund einer reduzierten Bildung vollfunktionsfähiger Kanäle gibt es weniger CFTR-Kanäle in der Zellmembran (z. B. bei Splicing-Muta­ tionen wie 3849+10kb C→T). Mutationsklasse VI: Der Abbau normal funk­ tionierender Kanäle ist gesteigert (z. B. bei der Mutation Q1412X)

Aufgrund von Ablagerungen und Umbauvorgängen im Pan­ kreas entwickelt sich bei vielen Betroffenen im Laufe der Jugend oder des Erwachsenenalters eine verzögerte und reduzierte Insulinsekretion, die zusammen mit einer wohl sekundären inflammationsassoziierten Insulinresistenz zunächst als pathologische Glukosetoleranz und später als Diabetes mellitus imponiert. Die konsequente Behandlung des Diabetes kann die Gewichtsentwicklung und die Lungenfunktion positiv beeinflussen. Rezidivierende Pankreatitiden werden fast ausschließlich bei Personen mit erhaltener Pankreasfunktion beobachtet.

Leber und Gallenwege  Eine Behinderung des Galletransports, die sich durch Bildung von Gallensteinen und Erhöhung von γGT, AP

und Transaminasen im Serum äußert, ist bei CF häufig. Langfristig kommt es zum Leberumbau mit Fibrosierung. Die Lebererkrankung bei CF ist jedoch nur bei einzelnen Betroffenen so gravierend, dass eine Lebertransplantation erforderlich wird.

Schweißdrüsen  Die Sekretion eines auffällig salzhaltigen Schweißes ist ein Kardinalsymptom der CF, das sich bei ca. 98% aller ­Betroffenen nachweisen lässt. Bei den wenigen Fällen einer CF mit

19

448

19

H. Hebestreit und A. Hebestreit

a

b

c

d

e

f

..Abb. 19.3  Radiologische Thoraxbefunde bei zystischer Fibrose. a Thoraxröntgenbild bei einem 18 Monate alten Mädchen mit tiefstehenden Zwerchfellen als Zeichen der Überblähung und streifiger Zeichnungsvermehrung v. a. rechts parakardial. b Plattenatelektase (Pfeile) des Mittellappens bei einem 5-jährigen Mädchen. c, d Fortgeschrittene Lungenerkrankung mit deutlicher Überblähung, Fassthorax und Brustkyphose sowie

streifig-fleckigen Verdichtungen im Lungenparenchym. e Low-dose-CT des Thorax (Lungenfenster) bei moderater Lungenerkrankung mit deutlichen, z. T. sackförmigen Bronchiektasen. f Low-dose-CT des Thorax (Lungenfens­ ter) bei deutlich fortgeschrittener Lungenerkrankung und massiver Bronchiektasie

relativ normalem Schweißelektrolytgehalt liegt in der Regel eine leichtere Verlaufsform mit erhaltener exokriner Pankreasfunktion vor. Der hohe Chloridgehalt im Schweiß wird heute diagnostisch genutzt (7 Abschn. 19.3, 7 Schweißtest). Im Mittelalter sollen Hebammen am salzigen Geschmack eines Kindes beim Kuss auf die Stirn auf eine sehr geringe Lebenserwartung geschlossen haben.

Vasa deferentia  Beim Mann mit CF sind meist die Samenleiter verklebt, sodass eine Azoospermie vorliegt. Bei Kinderwunsch können Spermien durch eine Hodenpunktion gewonnen werden. Die Befruchtung erfolgt dann in vitro durch intrazytoplasmatische Injektion der Spermien (ICSI) in zuvor gewonnene Eizellen.

449 Zystische Fibrose

2

Fluss [L/s] 0 2

4

Auch gibt es aktuell Entwicklungen hin zu Medikamenten, die ­spezifisch bei bestimmten Mutationen wirken, sodass die molekulargenetische Diagnostik eine direkte klinische Relevanz besitzt und daher heute durchgeführt werden sollte.

6 VC VC

Ergänzende elektrophysiologische Methoden  Bei diagnostisch

VC

4

RV RV RV RV

TLC 2

RV RV

Vol [L]

Patient Kontrolle vor/nach = Salbutamol Soll

0 Inspiration

Expiration

..Abb. 19.4  Mittels Bodyplethysmographie und Spirometrie bestimmte Lungenvolumina und Fluss-Volumen-Kurven eines Betroffenen mit CF und fortgeschrittener Lungenerkrankung. Die Sollwerte sind in schwarz dargestellt, die Messwerte des Patienten ohne vorherige Inhalation in blau und nach Inhalation mit dem β2-Mimetikum Salbutamol in rot. Das Residual­ volumen (RV) als Maß für die Überblähung ist auf ca. 230% des Sollwerts gesteigert. Dadurch wird die Vitalkapazität (VC) trotz Zunahme der Gesamtlungenkapazität (TLC) auf 75% des Sollwerts reduziert. In der exspiratorischen Fluss-Volumen-Kurve besteht ein deutlich reduzierter Fluss, der sich auch auf die Inhalation eines β2-Mimetikums nicht bessert

19.3

Diagnostik

In Deutschland führte der typische Weg zur Diagnose einer CF bis vor kurzem typischerweise über den klinischen Verdacht, der sich meist aufgrund einer gastrointestinalen Symptomatik (Mekoniumileus, Gedeihstörung, Fettstühle, Analprolaps), rezidivierender (obstruktiver) Bronchitiden, einer Leberaffektion oder Elektrolytentgleisung in der Hitze ergab. >> Zur Sicherung bzw. zum Ausschluss der (Verdachts-)Diagnose CF wird als Goldstandard ein Schweißtest durchgeführt.

Schweißtest Durch Pilocarpin-Iontophrorese am Unterarm wird zunächst die Schweißproduktion lokal angeregt. Anschließend wird über 30 min der Schweiß gesammelt und dann auf seinen Chloridgehalt hin untersucht. Bei Gesunden liegt der Chloridgehalt in der Regel unter 30 mmol/l; ein Wert bis 60 mmol/l gilt als auffällig, ein Wert von 60 mmol/l und darüber als pathognomonisch für CF. ­Allerdings können einzelne CF-Betroffene einen unauffälligen Schweißtest haben. Umgekehrt gibt es eine Reihe von klinischen Bedingungen wie Dehydratation, Unterernährung oder Ekzem, bei denen der Schweißtest auffällig oder pathologisch sein kann, ohne dass eine CF vorliegt. Ebenso ist die Chloridkonzentration im Schweiß bei einigen Krankheitsbildern wie z. B. Pseudohypoaldosteronismus, nephrotischem Syndrom oder Fucosidose erhöht. Diese Erkrankungen lassen sich aber in der Regel einfach von der CF abgrenzen. Molekulargenetische Untersuchung  Genetische Untersuchun-

gen spielten in der Vergangenheit zur Sicherung der Diagnose CF nur eine untergeordnete Rolle, da mittels der verfügbaren Screeningverfahren nur eine begrenzte Zahl von Mutationen erfasst wurde. Folglich ließ sich die Diagnose nur bei einem Teil der Patienten genetisch sichern. Mittels Gensequenzierung können heute jedoch fast alle Betroffene auch molekulargenetisch diagnostiziert werden.

unklaren Fällen kann die Funktion der CFTR-Chloridkanäle in vivo an der Nasenschleimhaut durch Messung der transepithelialen ­nasalen Potenzialdifferenz untersucht werden. Hier wird die Änderung der elektrischen Potenzialdifferenz zwischen der Zellober­ fläche und dem Gewebe bei Applikation von Substanzen auf die Nasenschleimhaut gemessen, die die Ionenkanäle einschließlich der CFTR-Kanäle hemmen oder stimulieren. Weiterhin kann eine Messung der Aktivität bzw. Aktivierbarkeit der Ionenkanäle und insbesondere des CFTR-Kanals in vitro an Rektumschleimhautbiopsaten erfolgen. Neugeborenenscreening  Seit 2016 gibt es in Deutschland ein

Neugeborenenscreening auf CF. Aus Kapillarblut wird zunächst die Konzentration des immunreaktiven Trypsinogens (IRT), einem Pankreasprotein, bestimmt. Liegt diese über der 99,9. Perzentile, gilt das Screening als auffällig. Liegt der Wert über der 99. Perzentile, wird in einem nächsten Schritt die Konzentration des pankreatitisassoziierten Proteins (PAP) bestimmt und – bei hohen Werten – molekulargenetisch nach den 31 in Deutschland häufigsten Mutationen gesucht. Liegt wenigstens eine dieser Mutationen vor, gilt das Screening ebenfalls als auffällig. Kinder mit auffälligem Screeninger­ gebnis werden über den das Screening einsendenden Arzt rasch in einem Zentrum zum Schweißtest vorgestellt. Durch die Besonderheiten im deutschen Screeningablauf leiden nur ca. 20–25% der im Screening aufgefallenen Kinder an einer CF. Das Screening ist damit wenig spezifisch. Umgekehrt ist das Screening zwar sehr sensitiv, es werden jedoch nicht 100% aller Kinder entdeckt.

CFTR-assoziierte Erkrankungen  Es gibt eine Reihe von Krank-

heitsbildern wie z. B. das kongenitale beidseitige Fehlen der Vasa deferentia, isolierte Bronchiektasen oder rezidivierende Pankreatitiden, bei denen sich Veränderungen im CFTR-Gen auf beiden Chromosomen 7 nachweisen lassen. Diese früher teilweise unter dem Begriff der „atypischen“ CF geführten Krankheitsbilder werden heute als „CFTR-assoziierte Erkrankungen“ (CFTR-related disorders) bezeichnet, wenn die Schweißchloridkonzentration > Die medikamentöse Therapie bei exokriner Pankreasinsuffizienz erfolgt mit Pankreasenzymen, die nach ihrem Lipasegehalt dosiert werden.

19

450

H. Hebestreit und A. Hebestreit

In der Regel werden pro Gramm Nahrungsfett 2000–3000 Einheiten Lipase zusammen mit der Mahlzeit eingenommen. Die Enzyme werden heute durch eine Mikroverkapselung vor der Zerstörung im Magen geschützt. Für die Freisetzung ist ein alkalisches Milieu im Dünndarm erforderlich. Bei zu geringer pankreatischer Bikarbonatsekretion kann daher manchmal eine Therapie mit Protonenpumpeninhibitoren erforderlich sein. >> Die fettlöslichen Vitamine A, D, E und K müssen auch bei suffizienter Einnahme von Pankreasenzymen substituiert werden.

Behandlung der Lungenerkrankung  Die Behandlung der Atemwege hat das Ziel, die gestörte mukoziliäre Clearance möglichst wieder herzustellen und Infektionen sowie Inflammationsreaktionen in den Atemwegen möglichst gering zu halten. Verbesserung der mukoziliären Clearance  Zur Stärkung des pe-

riziliaren Flüssigkeitsfilms auf den Atemwegsepithelien sowie zur Steigerung der Hydratation der Sekrete und damit Reduktion der Viskosität wird die Inhalation hypertoner Kochsalzlösung (meist NaCl 6% oder 7%) eingesetzt. Aktuell steht weiterhin die Inhalation von speziell aufbereitetem Mannitolpulver zur Verfügung, das wie die hypertone NaCl-Lösung auf osmotischem Wege Wasser in die Atemwege zieht. Ein weiterer therapeutischer Ansatz ist die Inha­ lation von Dornase alpha, die die DNA zugrunde gegangener Leukozyten in den Atemwegen spaltet und damit die Viskosität der ­Sekrete reduziert.

Hygiene und antibiotische Therapie  Infektionen der Atemwege u. a. mit Staphylococcus aureus, Pseudomonas aeruginosa, Burkholderia-cepacia-Komplex und atypischen Mykobakterien sind

mit einem schnelleren Verlust von Lungenfunktion assoziiert. Daher wird bei Betroffenen mit CF versucht, durch eine gute Handhygiene und Trennung der Betroffenen voneinander (Segregation), eine Kolonisation mit Risikokeimen zu vermeiden. Weiterhin wird empfohlen, den Kontakt zu Problemkeimen in der Umwelt zu meiden. So sollen die Betroffenen z. B. nicht in Seen baden, da in diesen Pseudomonas aeruginosa vorkommt. Auch wird alle 1–3 Monate gezielt nach einer Kolonisation mit pathogenen Keimen mittels Sputumuntersuchung oder Rachenabstrich gesucht und bei Nachweis behandelt. >> Grundsätzlich werden für die antibiotische Therapie bei CF meist höhere Dosierungen und längere Behandlungszyklen gewählt. Auch wird nicht erst behandelt, wenn klare Symp­ tome einer Infektion vorliegen.

19

Bei einer frühzeitigen und konsequenten Therapie gelingt oft die Eradikation eines Problemkeims. Bei chronischer Kolonisation mit Problemkeimen wie Pseudomonas aeruginosa ist eine dauerhafte inhalative antibiotische Therapie sowie oft eine intermittierende intravenöse Therapie nach Antibiogramm erforderlich. Therapeutisch stehen zur Behandlung einer bakteriellen Kolonisation bzw. Infektion der Atemwege neben den üblichen oralen und intravenös zu gebenden Antibiotika auch inhalative Darreichungsformen von Tobramycin, Colistin, Aztreonam und Levofloxacin zur Verfügung. Diese lassen sich über Vernebler gezielt in die Bronchien oder auch die oberen Atemwege inkl. der Nasennebenhöhlen bringen, sodass relativ hohe lokale Wirkspiegel bei geringer systemischer Wirkung erreicht werden. Durch Entwicklung von inhalierbaren Antibiotikapulvern steht für die Betroffenen weiterhin eine leichter zu handhabende Darreichungsform zur Verfügung.

Auch Infektionen mit Pilzen wie Aspergillus fumigatus und Candida albicans können ein Problem bei CF darstellen. Besonders

bedeutsam ist eine allergische Reaktion auf Aspergillus fumigatus, die allergische bronchopulmonale Aspergillose. Diese Erkrankung macht den Einsatz systemischer Steroide und Antimykotika, oft über einen längeren Zeitraum, erforderlich.

Physiotherapie und Sport  Physikalische Maßnahmen zur Reinigung der Atemwege von Sekreten gehören heute zur Standardtherapie bei CF. Neben besonderen Atemtechniken, die Sekrettransport und Expektoration fördern wie u. a. der autogenen Drainage, werden auch Geräte zur Erzeugung von Vibrationen in den Atemwegen eingesetzt. Weiterhin gibt es Hilfsmittel zur Erhöhung des endobronchialen Drucks bei der Exspiration zur Erweiterung der Atemwege. Sportliche Aktivität hat ebenfalls eine Reihe nachweislicher ­positiver Effekte auf die Lungenerkrankung bei CF. Hierzu tragen neben der mechanischen Reinigung der Atemwege durch verstärkte Ventilation und Erschütterungen wohl auch direkte Effekte der Belastung auf den transepithelialen Flüssigkeitstransport bei. Neue Therapieansätze  Die Gentherapie zur Behandlung der CF konnte bislang trotz großer Hoffnungen nach der Entdeckung des Genlokus auf Chromosom 7 nicht etabliert werden. Vielversprechender ist die Suche nach Substanzen, die bei bestimmten Mutationen oder Mutationsklassen der CF die Zahl funktionstüchtiger Kanäle in der apikalen Zellmembran von Epithelzellen erhöht oder aber die Öffnungswahrscheinlichkeit der Kanäle steigert. Die erste zur Behandlung zugelassene Substanz aus dieser Klasse ist Ivacaftor, das bei der Mutation G551D die Chloridleitfähigkeit der in der Zellmembran vorhandenen, aber „geschlossenen“ CFTR-Kanäle steigert. In einer Phase-III-Studie konnte Ivacaftor den Chloridgehalt im Schweiß bei Betroffenen mit G551D-Mutation von ca. 100 mmol/l auf unter 60 mmol/l senken. Gleichzeitig stieg die 1-Sekunden-­ Kapazität der Betroffenen um 10% des Vorhersagewerts an. Weiterhin steht für F508del-homozygote Patienten eine Substanzkombination aus Lumacaftor und Ivacaftor zur Verfügung. Viele weitere solche Substanzen für andere Mutationen bzw. Mutationsklassen befinden sich in klinischen Prüfungen. Maßnahmen bei fortgeschrittener Lungenerkrankung  Weitere therapeutische Optionen bei fortgeschrittener Lungenerkrankung sind die Gabe zusätzlichen Sauerstoffs, eine nichtinvasive Beatmung über eine Gesichtsmaske sowie die Lungentransplantation.

19.5

Zentrumsversorgung bei zystischer ­Fibrose

Die Versorgung von Betroffenen mit zystischer Fibrose erfolgt heute neben der Betreuung durch Kinder- und Jugendärzte sowie Physiotherapeuten vor Ort meist in spezialisierten Zentren, in denen sich ein Team aus Ärzten, Ernährungsberatern, Physiotherapeuten, Sporttherapeuten, Pflegekräften, Sozialpädagogen und Psychologen gemeinsam um den Betroffenen und seine Angehörigen kümmern. >> Diese hochspezialisierte Betreuung hat nachweislich einen positiven Effekt auf den Gesundheitszustand der Betroffenen.

Eine Vorstellung im Zentrum sollte wenigstens alle 3 Monate er­ folgen. Im Rahmen der Vorstellungen wird jeweils die Ernährungssituation erfasst, die Lungenfunktion und das Erregerspektrum in den Atemwegen untersucht und die gesamte Therapie auf Optimierungsmöglichkeiten hin überprüft.

451

Herz-Kreislauf-System Inhaltsverzeichnis Kapitel 20

Herz und Gefäße – 453 M. Khalil

Kapitel 21

Hypertonie – 485 D. Haffner, M. Khalil

VIII

453

Herz und Gefäße M. Khalil

20.1

Angeborene Herzfehler  – 454

20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.1.4 20.1.5

Epidemiologie und Ätiologie  – 454 Klinische Evaluation  – 454 Herzinsuffizienz  – 456 Fetaler und neonataler Kreislauf  – 457 Kritische Herzfehler  – 459

20.2

Primär azyanotische Herzfehler  – 460

20.2.1 Herzfehler mit Links-rechts-Shunt  – 460 20.2.2 Azyanotische Herzfehler ­ohne Shunt  – 465

20.3

Zyanotische Herzfehler  – 469

20.3.1 Zyanotische Herzfehler mit verminderter Lungenperfusion  – 469 20.3.2 Zyanotische Herzfehler mit vermehrter Lungendurchblutung  – 471

20.4

Entzündliche Herzerkrankungen  – 477

20.4.1 Myokarditis  – 477 20.4.2 Infektiöse Endokarditis  – 478

20.5

Kardiomyopathien  – 479

20.5.1 Dilatative Kardiomyopathie  – 479 20.5.2 Hypertrophe bzw. hypertroph ­obstruktive Kardiomyopathie  – 479

20.6

Herzrhythmusstörungen  – 480

20.6.1 20.6.2 20.6.3 20.6.4 20.6.5

AV-Block  – 480 Extrasystolen  – 480 Schmalkomplextachykardie  – 481 Ventrikuläre Tachykardie (VT)  – 482 Long-QT-Syndrom  – 482

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_20

20

454

M. Khalil

20.1

Angeborene Herzfehler

20.1.1

Epidemiologie und Ätiologie

j jEpidemiologie Die Prävalenz angeborener Herzfehlern beträgt etwa 0,8% aller ­Lebendgeborenen und gehört damit zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen (. Tab. 20.1). Die Prognose der betroffenen Kinder hat sich in den letzten 50 Jahren kontinuierlich verbessert. So erle­ ben heute fast 90% der Kinder das Erwachsenenalter. Viele Herzfeh­ ler können heute pränatal diagnostiziert werden. Dies ermöglicht neben einer optimalen medizinischen Versorgung des Neugebore­ nen auch den betroffenen Eltern sich auf die Situation einzustellen. Nichtsdestotrotz gehören angeborene Herzfehler weiterhin zu den Fehlbildungen, die mit einer hohen Morbidität und Mortalität vergesellschaftet sind. In Deutschland ist die pränatale Detektions­ rate niedrig und sehr heterogen verteilt, da sie im hohen Maße­ von der Erfahrung des Untersuchers abhängig ist. Umso wichtiger ist die sorgfältige Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen durch den Pädiater, um mögliche angeborene Herzfehler frühzeitig zu ­detektieren.

20

j jÄtiologie Die Ätiologie angeborener Herzfehler ist komplex und noch nicht vollständig aufgeklärt. Der größte Anteil tritt als isolierte Fehl­ bildung auf. In den meisten Fällen geht man von einem multi­ faktoriellen Geschehen aus. Insbesondere die Untersuchung von Familienmitgliedern betroffener Patienten lässt den Schluss auf eine polygenetische oder multifaktorielle Genese zu. Das Wiederho­ lungsrisiko für ein erneutes Auftreten angeborener Herzfehler be­ trägt für Verwandte ersten Grads 2–5%. Dies korrespondiert mit theoretischen mathematischen Wahrscheinlichkeitsmodellen für multifaktorielle Mechanismen. Multifaktoriell bedeutet hier, dass kardiale Fehlbildungen durch die Wechselwirkung einer oder meh­ rerer Gene mit Umweltfaktoren verursacht werden. Ungefähr 25–30% der angeborenen Herzfehler sind mit extra­ kardialen Anomalien wie Chromosomenanomalien, genetischen Punktmutationen oder komplexen Fehlbildungssyndromen assozi­ iert (. Tab. 20.2). Zu den Chromosomenanomalien, die durch eine Karyotypisierung detektiert werden, gehören z. B. Trisomie 21 (Down-Syndrom), Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) und Monosomie X0 (Ullrich-­ Turner-Syndrom). Jede dieser Chromosomenanomalien ist mit ­einer Häufung eines spezifischen Herzfehlers assoziiert, so z. B. Tri­ somie 21 mit AVSD oder Ullrich-Turner-Syndrom mit der Aortenis­ thmusstenose. Die häufigeren chromosomalen Syndrome sind­ auf Mikrodeletionen zurückzuführen und können mittels In-situHybridisierung (FISH) oder arraybasierter „Comparative GenomHybridisierung“ (CGH-Array) dargestellt werden. Diese sind v. a. die Mikrodeletion 22q11.2 (Di George-Syndrome, syn. ShprintzenSyndrom, velokardiofaziales Syndrom) mit conotrunkalen Herzfehl­ bildungen (Fallot-Tetralogie, „double outlet right ventricle“, Truncus arteriosus, Aortenbogenanomalien) und das Williams-Beuren-­ Syndrom (v. a. supravalvuläre Aortenstenosen und periphere Pul­ monalstenosen). Monogene Syndrome, die mit Herzfehlern assoziiert sind, sind u. a. RASopathien (z. B. Noonan-Syndrom,) und JAG-Mutationen (z. B. Alagille-Syndrom). Zu den komplexen Fehlbildungssyndromen gehören die VACTERL-Assoziation, CHARGE-Assoziation und das Goldenhar-Syndrom (. Tab. 20.2). Ein kleiner Teil der angeborenen Herzfehler kann auf teratogene Noxen wie Infektionen (z. B. Röteln), Stoffwechselerkrankungen

..Tab. 20.1  Relative Häufigkeit der häufigsten angeborenen Herzfehler Ventrikelseptumdefekt (VSD)

30%

Atriumseptumdefekt (ASD)

7%

Persistierender Ductus Arteriosus (PDA)

7%

Pulmonalklappenstenose (PST)

7%

Aortenisthmusstenose (COA)

5–8%

Aortenklappenstenose (AST)

3–6%

Fallot-Tetralogie (TOF)

5–6%

Atrioventriukärer Septumdefekt (AVSD)

4–5%

Transposition der großen Gefäße (TGA)

4%

Hypoplastisches Linksherzsyndrom (HLHS)

1–2%

Pulmonalatresie mit VSD

2–3%

Pulmonalatresie ohne VSD

2%

Trikuspidalatresie

1–2%

Truncus arteriosus communis

90%

Septumdefekte, Klappendefekte, PDA, PS

Trisomie 13 (Pätau-Syndrom)

>80%

Septumdefekte, Klappendefekte, PDA, Dextrokardie

Monosomie X0 (Ullrich-Turner-Syndrom)

30–40%

COA, im Verlauf Aortendissektion

Mikrodeletion 22q11 (DiGeorge-Syndrom)

>75%

TOF, Truncus arteriosus communis, unterbrochener Aortenbogen, VSD

Williams-Beuren-Syndrom

Häufig

Supravalvuläre AST, periphere PST

Deletion-5p-Syndrom (Cri-du-chat-Syndrom)

25%

Variabel, VSD, ASD

Alagille-Syndrom

>80%

Periphere PST mit und ohne komplexen Vitium

Noonan-Syndrom

Häufig

PST, LV-Hypertrophie

Cornelia-de-Lange-Syndrom

Ca. 30%

VSD

VACTERL-Assoziation

>50%

VSD, variabel

Goldenhar-Syndrom

>30%

TOF, VSD

CHARGE-Assoziation

>60%

TOF, Truncus arterius communis, Aortenbogenfehlbildungen

TOF Fallot-Tetralogie, AST Aortenstenose, PST Pulmonalstenenose, COA Aortenisthmusstenose, VSD Ventrikelseptumdefekt, ASD Vorhofseptumdefekt

..Tab. 20.3  Klinische Einteilung der häufigsten angeborenen Herzfehler Primär azynotische Herzfehler

Primär zyanotische Herzfehler

Vermehrte LPerf

Normale LPerf

Vermehrte LPerf

Verringerte LPerf

VSD

AST

TGA

TOF

ASD

PST

HLHS

PAT

AVSD

COA

TruncArt

TAT mit PST

PDA

hKMP

TAT ohne PST/PAT

TAT mit PAT

PAPVR

TAPVR

LPerf Lungenperfusion, VSD Ventrikelseptumdefekt, ASD Aortenste­ nose, TGA Transposition der großen Gefäße, TOF Fallot-Tetralogie, ASD Vorhofseptumdefekt, PST Pulmonalstenose, HLHS Hypoplastisches Linksherzsyndrom, PAT Pulmonalatresie, AVSD Atrioventrikulärer Septumdefekt, COA Aortenisthmusstenose, TruncArt Truncus arte­ riosus communis, TAT Trikupidalatresie, PDA Persistierender Ductus arteriosus, hKMP hypertrophe Kardiomyopathie, PAPVR Partielle Lungenvenenfehlmündung, TAPVR Totale Lungenvenenfehlmündung

Am häufigsten findet sich eine Volumenbelastung des Herzens. Diese entsteht in der Regel durch Defekte mit einem Links-rechtsShunt. Volumenbelastungen durch Klappeninsuffizienzen oder durch eine eingeschränkte kardiale Pumpleistung sind deutlich ­seltener. Die häufigsten Vitien, die zu einer Volumenbelastung des ­Herzens führen sind der Ventrikelseptumdefekt (VSD), Vorhofsep­ tumdefekt (ASD), persistierender Ductus arteriosus (PDA) und der atrioventrikuläre Septumdefekt (AVSD). Bei all diesen Herzfehlern besteht ein Links-rechts-Shunt, d. h. oxygeniertes Blut wird durch

den Defekt zurück in den Lungenkreislauf gepumpt. Es kommt zu einer Rezirkulation. Dieser Shunt kann quantifiziert werden, indem man das Verhältnis von pulmonalen Fluss (Qp) zu systemischen Fluss (Qs) berechnet. Ein Qp-Qs-Verhältnis von 2:1 bedeutet, dass doppelt so viel Blut durch die Lunge fließt als durch den Körper. Das Shuntvolumen ist abhängig von der jeweiligen Defektgröße, der Compliance der Herzkammern sowie dem pulmonalvaskulären ­Widerstand. All diese Stellgrößen sind variabel, eine Shuntverbin­ dung kann sich verkleinern, die Compliance der Kammern und die Gefäßwiderstände verändern sich. So fällt z. B. der pulmonalvasku­ läre Widerstand in den ersten Lebenswochen stark ab. >> Das Shuntvolumen ist im Lauf der Zeit dynamischen Veränderungen unterworfen und somit variieren auch die damit verbundenen Symptome.

Daher muss der jeweilige Befund immer auch im Kontext der kör­ perlichen Entwicklung beurteilt werden. So kann z. B. bei einem Neugeborenen trotz großen VSD das Shuntvolumen durch den noch erhöhten pulmonalvaskulären Widerstand begrenzt sein und das Neugeborene symptomfrei sein. Mit Abfall des pulmonalvaskulären Widerstands am Ende der Neugeborenenperiode kommt es zu einer deutlichen Zunahme des Shuntvolumens mit der Manifesta­ tion einer Herzinsuffizienz (7 Abschn. 20.1.3). Entsprechend eng­ maschig muss das Neugeborene nach der Erstdiagnose im Verlauf ­untersucht werden und die Eltern über mögliche Herzinsuffizienz­ zeichen aufgeklärt werden. Liegt eine eingeschränkte Herzfunktion vor, z. B. bei einer Kar­ diomyopathie, oder liegt eine ausgeprägte AV-Klappeninsuffizienz vor, besteht ebenfalls eine Volumenbelastung des Herzens. Die resul­ tierende Herzinsuffizienz ist aber durch ein Vorwärtsversagen und nicht wie bei den Shuntläsionen durch eine Rezirkulation bedingt. Die klinischen Zeichen unterscheiden sich wenig; auch hier fallen die Kinder durch eine Herzinsuffizienz auf. Azyanotische Herzfehler mit Druckbelastung des Herzens sind am häufigsten durch eine Aortenklappenstenose, Pulmonalklappen­

20

456

M. Khalil

stenose oder Aortenisthmusstenose bedingt. Seltener sind Mitral-, Trikuspidalklappenstenose oder eine hypertrophe obstruktive Kar­ diomyopathie. Solange es sich nicht um kritische Stenosen handelt sind die Patienten relativ symptomarm. Bei kritischen Stenosen ist die Obstruktion so stark ausgeprägt, dass eine Ductusabhängigkeit be­ steht. Die kritischen Stenosen manifestieren sich somit bereits im Neugeborenalter und werden im 7 Abschn. 20.1.5 weiter beschrieben. Ein Herzgeräusch kann das einzige Symptom sein. Das Herz reagiert auf eine Stenose mit einer konzentrischen Hypertrophie und später mit einer Dilatation, um die vermehrte Druckbelastung zu bewältigen und das Herz-Zeit-Volumen (HZV) aufrecht zu erhalten. Das HZV kann dann jedoch nur noch begrenzt gesteigert werden. Besteht eine hochgradige Obstruktion kann das erste Symptom eine Synkope oder plötzlicher Herztod während körperlicher Belastung sein.

20

44 der Vorlast, 44 der myokardialen Kontraktilität, 44 der Nachlast, 44 einem synchronen Rhythmus, 44 der interventrikulären Interaktion, 44 der atrioventrikulären Kopplung. Eine Herzinsuffizienz kann Folge einer angeborenen oder erworbe­ nen Herzerkrankung sein, die zu einer Volumen- oder Druckbelas­ tung des Herzens führt.

High-output-Failure  Im Kindesalter beruht die Herzinsuffizienz meistens auf einer erheblichen Volumenbelastung. Primär sind dies Vitien mit bedeutsamen Links-Rechts Shunt (VSD, AVSD, PDA). Der Begriff „Herzinsuffizienz“ ist in diesem Fall missver­ ständlich, da die Auswurfleistung des linken Ventrikels deutlich er­ >> Jede Synkope unter körperlicher Belastung muss schnellsthöht ist, auch wenn ein Großteil dieses ausgeworfenen Volumens möglich auf ihre Ursache hin abgeklärt werden. ineffektiv ist, da es direkt zur Lunge zurückgeführt wird ohne den Körperkreislauf zu passieren. Man spricht dann von einem sog. j jZyanotische Herzfehler High-output-Failure im Gegensatz zum Low-output-Failure. Der Zyanotische Herzfehler können mit verminderter Lungenperfusion erhöhte Blutfluss in der Lunge führt zu einer Widerstandserhöhung oder vermehrter Lungenperfusion einhergehen. Dies ist insofern und erhöht die Atemarbeit. Um die erhöhte Auswurfleistung auf­ von Bedeutung, da eine Zyanose mit vermehrter Lungenperfusion recht zu erhalten, wird durch eine Erhöhung des Sympathiktotonus sowohl das Schlagvolumen als auch die Herzfrequenz gesteigert. Die weniger ausgeprägt ist und daher klinisch übersehen werden kann. Bei zyanotischen Herzfehlern mit verminderter Lungenperfu- vermehrte Ausschüttung von Katecholaminen sowie die gesteigerte sion liegt eine Obstruktion des pulmonalen Blutflusses auf pulmo­ Atemarbeit führen zu einer Erhöhung des O2-Verbrauchs. naler, ventrikulärer oder atrialer Ebene vor. Zusätzlich besteht eine Dies führt schließlich zu den klinischen Symptomen einer Herz­ Shuntverbindung (Foramen ovale/ASD, VSD, PDA), die O2-armes insuffizienz. Bei Kindern entspricht dies meist einer globalen HerzBlut an der Lunge vorbei in den Systemkreislauf leitet. Typische insuffizienz. Eine Unterscheidung in Rechts- und Linksherzinsuffi­ ­zyanotische Herzfehler sind die Fallot-Tetralogie, Trikuspidalatresie, zienz, wie bei Erwachsenen, ist meist nicht möglich. Vitien mit singulärem Ventrikel und die Pulmonalstenose. Säuglinge Säuglinge und Kleinkinder fallen durch Tachypnoe, Tachykar­ mit diesen Vitien haben keine Herzinsuffizienzzeichen und daher­ die, vermehrtem Schwitzen und Trinkschwäche auf. Daraus resul­ in der Regel keine Trinkschwierigkeiten oder Gedeihstörung. Der tiert im weiteren Verlauf eine Gedeihstörung. Grad der Zyanose ist dabei abhängig von der Ausprägung der Ob­ Unter Belastung (insbesondere bei der Nahrungsaufnahme bei struktion. Säuglingen) kommt zu einer Zunahme dieser Herzinsuffizienzzei­ Ist die Obstruktion so ausgeprägt, dass die pulmonale Perfusion chen. Weitere Symptome sind eine Belastungsintoleranz, die sich bei nur durch einen offenen Ductus arteriosus gewährleistet wird, han­ größeren Kindern anamnestisch oder mittels Belastungsunter­ delt es sich um einen kritischen Herzfehler (7 Abschn. 20.1.5). suchungen erschließen lässt, evtl. blasse und kühle Extremitäten, Bei zyanotischen Herzfehler mit vermehrter Lungenperfusion verlängerte Rekapillarisierungszeit sowie eine Hepatomegalie. Hals­ liegt keine Obstruktion des pulmonalen Blutflusses vor. Die Zyanose venenstauung und Ödeme sind seltener als bei Erwachsenen. entsteht durch eine vollständige Durchmischung von venösen und arteriellen Blut oder Fehlstellungen der großen Gefäße (Aorta, Pul­ Low-output-Failure   Bei einem Low-output-Failure z. B. bei einer monalarterie). Am häufigsten ist dies durch eine Transposition der Kardiomyopathie liegt ein Vorwärtsversagen vor und nicht wie bei großen Gefäße bedingt. Eine vollständige Mischung von arteriellen den Shuntläsionen eine durch eine Rezirkulation bedingte Herz­ und venösen Blut findet sich ebenfalls bei komplexen Herzfehlern insuffizienz. mit univentrikulären Herzen, bei der totalen Lungenvenenfehlmün­ Die klinischen Zeichen unterscheiden sich wenig; auch hier dung oder dem Truncus arteriosus. Liegt keine pulmonale Obstruk­ ­besteht eine Tachykardie, Tachypnoe, evtl. thorakale Einziehungen tion vor, zeichnen sich diese Herzfehler durch ein klinisches Misch­ und Husten v. a. wenn ein Lungenödem vorliegt, verlängerte Reka­ bild aus Zyanose und Herzinsuffizienz aus. Aufgrund der vermehr­ pillarisierungszeit, Blässe, Hepatomegalie und in der Thoraxrönt­ ten Lungenperfusion kann die Zyanose gering ausgeprägt sein und genaufnahme eine Kardiomegalie. Aufgrund des Lungenödems klinisch wenig imponieren. kann es auch zu einer pulmonal bedingten Zyanose kommen. Eine Druckbelastung führt erst zu einer Herzinsuffizienz, wenn eine erhebliche Obstruktion vorliegt. Diese demaskiert sich häufig erst unter Belastung, wenn es sich nicht um eine extrem hoch­gradige 20.1.3 Herzinsuffizienz (kritische) Obstruktion handelt. Weiterhin kann eine Herzinsuffizi­ Herzinsuffizienz ist ein klinisches Symptom und kein eigenständiges enz natürlich auch bei einer Schädigung des Herzmuskels, z. B. nach Krankheitsbild. Eine Herzinsuffizienz liegt vor, wenn das Herz nicht einer Myokarditis oder nach herzchirurgischen Eingriffen ent­ in der Lage ist ein ausreichendes Herz-Zeit-Volumen (HZV) zu er­ stehen. bringen, um den metabolischen Bedürfnissen des Körpers gerecht jjDiagnose zu werden. Das HZV ist das Produkt aus Schlagvolumen und Herzfrequenz Die Diagnose der Herzinsuffizienz wird in erster Linie anhand der bestehenden Symptome klinisch gestellt. Eine klinische Schwere­ (HZV = SV×HF). Diese Parameter sind wiederum abhängig von:

457 Herz und Gefäße

gradeinteilung kann nach dem modifizierten Ross-Score durchge­ führt werden. Dabei werden vermehrtes Schwitzen, Tachypnoe, Atemfrequenz, Herzfrequenz sowie die Lebergröße berücksichtigt. Echokardiographisch kann im Falle eines Low-output-Failure die eingeschränkte ventrikuläre Funktion dargestellt werden bzw. das ursächliche Vitium diagnostiziert werden. Im Thoraxröntgenbild kann eine Kardiomegalie, eine vermehrte Lungengefäßzeich­ nung, eine Stauung oder ein Lungenödem auffallen. Laborchemisch ist das natriuretische Peptid (BNP) ein guter kardialer Marker zur Verlaufsbeurteilung der Herzinsuffizienz. jjAdaptionsmechanismen Wie schon oben beschrieben reagiert der Körper sowohl bei vermin­ derter Pumpleistung des Herzens als auch bei zwar erhöhter – aber ineffektiver – Auswurfleistung mit einer Erhöhung des Sympathiko­ tonus und einer vermehrten Ausschüttung von Katecholaminen, die zu einer Erhöhung der Herzfrequenz und Kontraktilität führt. Es kommt im Verlauf zu einer Steigerung des Systemgefäßwiderstands und damit der Nachlast. Zusätzlich wird das Renin-AngiotensinAldosteronsystem (RAAS) weiter aktiviert, und führt über eine ge­ steigerte Vasokonstriktion zur Nachlaststeigerung, über Natriumund Wasserretention kommt es zur Erhöhung der Vorlast. Die wich­ tigsten Adaptionsmechanismen einer Herzinsuffizienz sind: 44 eine neurohumorale Aktivierung, 44 der Frank-Starling-Mechanismus, 44 eine Herzfrequenzerhöhung, 44 eine myokardiale Hypertrophie und 44 ein Anstieg natriuretischer Peptide. Diese Mechanismen sind geeignet um eine akute Herzinsuffizienz zunächst zu kompensieren, im chronischen Verlauf aber kommt es zu einem Circulus vitiosus mit Zunahme einer myokardialen Hyper­ trophie bzw. Dilatation und Funktionsstörung. jjTherapie Bei der Therapie der Herzinsuffizienz muss daher zwischen einer akuten und chronischen Herzinsuffizienz unterschieden werden. Wenn möglich muss die zugrunde liegende Ursache beseitigt ­werden. Ist dies nicht unmittelbar möglich ist eine medikamentöse Therapie zur Überbrückung bis zu einer endgültigen Behandlung bzw. zur Verbesserung der Symptome angezeigt. Bei der medikamentösen Behandlung der akuten Herzinsuffizienz stehen die Steigerung der myokardialen Kontraktilität, vor­ sichtiger Nachlastsenkung zur Steigerung des Auswurfs und Auf­ rechterhaltung eines ausreichenden Blutdrucks im Vordergrund, während die medikamentöse Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz auf die Antagonisierung der Kompensationsmechanis­ men abzielt. Bei Säuglingen, die Trinkschwierigkeiten und Gedeihstörungen aufweisen, sollte auf eine ausreichende Kalorienzufuhr geachtet ­werden. Da diese Patienten pro Mahlzeit weniger Volumen zu sich nehmen können, sollte die Nahrung angereichert werden bzw. hochkalorische Nahrung verabreicht werden. Sind die Kinder nicht in der Lage genug Kalorien zu sich zu nehmen, kann die Nahrung per nasogastraler Sonde verabreicht werden. ACE-Hemmer stellen die Grundlage der medikamentösen ­Therapie der chronischen Herzinsuffizienz dar. Sie inhibieren die Aktivierung des RAAS und verbessern die Hämodynamik und Ven­ trikelfunktion durch eine Nachlastsenkung. β-Blocker schützen das Herz vor einer chronischen adrenergen Stimulation, senken die Herzfrequenz und verbessern das Verhältnis von O2-Verbrauch und -angebot.

Aldosteronantagonisten haben in mehreren Studien (bei ­ rwachsenen) prognostisch günstige Effekte gezeigt, die über die E diuretische Wirkung hinausgehen. Zusätzlich besteht hier ein Remo­ deling-Effekt. Diuretika sollten vorsichtig angewendet werden und sind bei einer Flüssigkeitsretention indiziert. Der längere Einsatz von Diure­ tika sollte vermieden werden, da sie zu einer ungünstigen Stimula­ tion des RAAS führen. Herzglykoside werden heutzutage seltener eingesetzt. Im Ver­ gleich zu einem adulten Herzen können Herzglykoside bei Kindern die Inotropie deutlich stärker steigern. Die häufigste Form der Herz­ insuffizienz im Kindesalter ist durch eine massive Rezirkulation bei Shuntvitien, also eine High-output-Failure bedingt. Es liegt keine eingeschränkte Ventrikelfunktion per se vor und Herzglykoside sind in diesen Fällen nicht indiziert. Indiziert ist der Einsatz von Herz­ glykosiden zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen bzw. zur Frequenzoptimierung. Eine weitere Therapieoption bei eingeschränkter Ventrikelfunk­ tion ist eine kardiale Resynchronisationstherapie (CRT). Bei der CRT werden im Gegensatz zu einem herkömmlichen Schrittmacher beide Herzkammern durch entsprechend implantierte Sonden sti­ muliert. Besteht eine dyssynchrone Kardiomyopathie (z. B. bei Schrittmacher induzierter Kardiomyopathie oder bei symptomati­ schen Patienten mit eingeschränkter ventrikulärer Funktion (EF > Intrauterin wird der Ductus arteriosus botalli durch die endogene Prostaglandin-E2-Produktion offengehalten. Prostaglandinsynthesehemmer wie ASS oder Ibuprofen während der Schwangerschaft können zu einem vorzeitigen intrauterinen Verschluss des Ductus arteriosus mit der Folge einer schweren Rechtsherzbelastung führen.

Prostaglandin E1 dient zum Offenhalten oder Wiedereröffnen des

..Abb. 20.1  Fetaler Kreislauf. Oxygeniertes Blut aus der Plazenta fließt über die Nabelvene und den Ductus venosus in die untere Hohlvene. Ca. 1⁄3 des Bluts aus der unteren Hohlvene wird über das Foramen ovale in den linken Vorhof und von dort in den linken Ventrikel und in die Aorta geleitet. So werden die Koronararterien und das Gehirn mit höher oxygeniertem Blut versorgt. Der rechte Ventrikel erhält etwas mehr als die Hälfte des Gesamtblutvolumens, das von dort über den Ductus arteriosus botalli in die die descendierende Aorta gepumpt wird. Die nicht entfaltete Lunge erhält nur einen geringen Anteil des Blutflusses

­ lazenta zur Reoxygenierung. Da die Lunge nur 15% des gesamten P Herz-Zeit-Volumens (HZV) erhält, sind die Pulmonalarterienäste klein. Der rechte Ventrikel ist präpartal größer und dominanter als der linke Ventrikel, da der rechte Ventrikel mehr als die Hälfte des gesamten HZV stemmen muss. Der Druck in der rechten Herzkam­ mer entspricht dem der linken Herzkammer (im Gegensatz zu ­einem adulten Herzen). Dies ist u. a. auch am EKG eines Neuge­ borenen erkennbar, das ein „Rechtsherzüberwiegen“ zeigt.

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>> Während ein adultes Herz sein Schlagvolumen bei abfallender Herzfrequenz steigert, ist das fetale Herz nicht in der Lage das Schlagvolumen zu steigern. Das fetale Herzzeitvolumen ist somit abhängig von der Herzfrequenz. Wenn die Herzfrequenz abfällt, z. B. im Rahmen von fetalen Stresssituationen, führt dies zu einem bedeutsamen Abfall des HZV.

Ductus arteriosus beim Neugeborenen mit ductusabhängigen Viti­ um (7 Abschn. 20.1.5). Es muss aufgrund seiner kurzen Halbwerts­ zeit kontinuierlich gegeben werden. Unerwünschte Nebenwirkun­ gen sind insbesondere Apnoen, Hypotonie und Ödeme. Der funktionelle Verschluss ist im Normalfall nach 10–15 Stun­ den, nicht selten erst nach einigen Tagen vollzogen. Der anatomische Verschluss, d. h. die Obliteration und Umwandlung des Ductus in das Ligamentum botalli benötigt mehrere Wochen. Bei einigen Herzfehlern ist ein Überleben nach der Geburt nur durch einen of­ fenen Ductus arteriosus möglich, es handelt sich in diesen Fällen um ein sog. ductusabhängiges Vitium. Der klinische Zustand bei die­ sen Neugeborenen verschlechtert sich parallel zum zunehmenden Verschluss. Bei dem geringsten Verdacht auf einen solchen Herzfeh­ ler ist der großzügige Beginn einer Prostaglandin-E1-Therapie zum Offenhalten bzw. Wiedereröffnen des Ductus arteriosus indiziert (7 Abschn. 20.1.5). >> Sauerstoff kann zum Absenken des Lungenwiderstands sowie zum Verschluss des Ductus arteriosus führen. Bei V. a. ein ­ductusabhängiges Vitium sollte die O2-Applikation vorsichtig erfolgen. Unkritische O2-Gaben können zum Ductusverschluss führen und insbesondere bei einer ductusabhängigen Systemperfusion zu einer Dekompensation führen.

Der pulmonalvaskuläre Widerstand ist kurz nach der Geburt fast so hoch wie der systemische Widerstand. Mit der Lungenexpansion Nach der Geburt übernimmt die Lunge die Funktion des Gasaus­ und dem daraus resultierenden Anstieg der O2-Sättigung in den tauschs. Mit Durchtrennung der Nabelschnur wird der Blutfluss­ ­Alveolen kommt es initial zu einem deutlichen Abfall des pulmonal­ in der Umbilikalvene beendet und führt zu einem Verschluss des vaskulären Widerstands, der trotzdem kurz nach der Geburt immer Ducuts venosus arantii. noch deutlich höher ist als am Ende der Neugeborenperiode. Die ersten Atemzüge führen zu einer Lungenexpansion mit Eine inadäquate peripartale oder postpartale Oxygenierung ­einer deutlichen Reduktion des pulmonalarteriellen Widerstands (z. B. durch Mekoniumaspiaration, Pneumonie, Lungenhypoplasie, und einer Erhöhung des Lungenblutflusses. Aufgrund des vermehr­ Zwerchfellhernie) oder peri-/postpartale Stresssituationen (z. B.

459 Herz und Gefäße

Sepsis, Hypoglykämie) können zu einer persistierenden pulmonalen Hypertension (PPHN; syn. persistierende fetale Circulation,

PFC-Syndrom) führen. Es kommt zu einem Rechts-links-Shunt über das Foramen ovale und über den weiterhin offenen Ductus arteriosus bei eingeschränkter Lungendurchblutung und resultiert in einem schweren Krankheitsbild mit respiratorischer und metabo­ lischer Azidose sowie einer zentralen Zyanose.

>> Die persistierende pulmonale Hypertension ist eine Ausschlussdiagnose. Ein Vitium als Ursache der Zyanose muss ausgeschlossen werden.

In den ersten 2–8 Wochen postpartal kommt es zu einem weiteren langsamen aber stetigen Abfall des pulmonalvaskulären Widerstands. Somit besteht in der Neugeborenenperiode noch ein erhöhter pulmonalarterieller Druck. Dies ist insbesondere im Hinblick auf Shuntvitien wichtig. So können Vitien, die normalerweise zu einem Links-rechts-Shunt führen, wie ein Ventrikelseptumdefekt, initial übersehen oder unterschätzt werden. Der erhöhte Lungenwider­ stand führt dazu, dass der Druckunterschied zwischen den Kam­ mern kleiner ist. Herzgeräusche werden durch turbulente Blutströ­ mungen hervorgerufen, die in diesem Fall durch das Druckgefälle bedingt sind. Durch den geringen Druckunterschied v. a. kurz nach der Geburt wird der Shunt begrenzt, es kommt u. U. nicht zu einem Herzgeräusch und auch echokardiographisch kann ein Shunt ggf. noch nicht erkennbar sein. Mit dem fortschreitenden Abfall des pulmonalvaskulären Wider­ stands, vergrößert sich auch der Druckunterschied zwischen den Herzkammern. Das Shuntvolumen kann zunehmen und damit auch der pulmonalarterielle Blutfluss. Entsprechend kann ein initial asymptomatisches Shuntvitium wie z. B. ein Ventrikelseptumdefekt im Verlauf der Neugeborenperiode zu einer Herzinsuffizienz führen. !! Cave Der pulmonalvaskuläre Widerstand fällt in den ersten 2–8 Wochen des Lebens ab. Herzfehler mit einem großen Links-rechtsShunt werden häufig erst symptomatisch, wenn der Lungen­ widerstand abgefallen ist. Einige Shuntvitien führen daher kurz nach der Geburt noch zu keinem Herzgeräusch und können so bei den Vorsorgeuntersuchungen U1 und U2 (v. a. wenn sie frühzeitig durchgeführt werden) undetektiert bleiben.

20.1.5

Kritische Herzfehler

Ein kritischer Herzfehler ist postnatal der häufigste Grund für eine akute kardiale Dekompensation. Etwa 15% aller Herzfehler sind kri­ tische Herzfehler, die bereits für das Neugeborene zu einem lebens­ bedrohlichen Zustand führen können. Um zu überleben benötigen Kinder mit diesen Herzfehlern einen herzchirurgischen oder kathe­ terinterventionellen Eingriff. Die Sterblichkeitsrate liegt auch heute noch bei bis zu 25%. Kritische Herzfehler werden trotz verbesserter Pränataldiagnos­ tik und postnataler klinischer Untersuchungen immer noch unzu­ reichend detektiert. Insbesondere die Sensitivität der klinischen Untersuchung in den ersten Lebenstagen beträgt aufgrund eines möglichen symptomfreien Intervalls („diagnostische Lücke“) durch die verzögerte Umstellung der fetalen auf die neonatale Kreislauf­ physiologie nur ca. 50%. Die meisten Neugeborenen zeigen eine unterschiedlich ausgeprägte Hypoxämie, die jedoch zu diesem Zeit­ punkt häufig nicht mit einer klinisch erkennbaren Zyanose einher­ geht. Mittels Pulsoxymetriescreening kann die postnatale „diagnos­ tische Lücke“ verkleinert werden, insbesondere wenn ein Rechts-

links-Shunt auf Ductus-arteriosus-Ebene besteht, der zu einer diffe­ renziellen O2-Sättigung führt mit niedrigeren Sättigungen am Bein im Vergleich zum rechten Arm. !! Cave Eine akute Verschlechterung des Neugeborenen mit kritischem Herzfehler ist am häufigsten mit einem raschen Verschluss des Ductus arteriosus assoziiert, seltener mit einer ­zunehmenden Restriktion des Shunts auf Vorhofebene.

Die Lokalisation und die Ausprägung der kardialen Fehlbildungen bestimmen das klinische Bild in der postnatalen Phase. Die kriti­ schen angeborenen Herzfehler lassen sich in 4 Gruppen unterteilen: 44 Herzfehler mit ductusabhängiger Systemperfusion (Links­ herzobstruktion): 55kritische Aortenstenose, 55kritische Aortenisthmusstenose, 55unterbrochener Aortenbogen, 55hypoplastisches Linksherzsyndrom (HLHS). 44 Herzfehler mit ductusabhängiger Pulmonalperfusion (Rechts­ herzobstruktion): 55kritische Pulmonalstenose, 55Pulmonalatresie mit intaktem Septum oder mit VSD, 55ausgeprägte Form der Fallot-Tetralogie, 55Trikuspidalatresie mit Pulmonalstenose/-atresie, 55Ebstein-Anomalie bzw. Trikuspidalklappendysplasie mit Pseudoatresie der Pulmonalklappe und ductusabhängigen Pulmonalfluss. 44 Komplette Transposition der großen Gefäße (d-TGA): 55falls keine kompetente Mischung auf Vorhof-, Ventrikeloder Ductusebene besteht. 44 Sonstige: 55totale Lungenvenenfehlmündung mit Lungenvenenob­ struktion, 55Trucus arteriosus communis bei Truncusklappen­ insuffizienz, 55univentrikuläres Herz mit Imbalance der Kreislauf­ zirkulation.

Herzfehler mit ductusabhängiger System­ perfusion (Linksherzobstruktion) Bei Herzfehlern mit ductusabhängiger Systemperfusion (Links­herz­ obstruktion) liegt eine hochgradige Obstruktion des linken Herzens oder der Aorta vor. Eine ausreichende Systemperfusion kann nur über einen offenen Ductus arteriosus gewährleistet werden. Die ­Obstruktion kann auf unterschiedlichen Ebenen bestehen; auf ­Ventrikelebene: kritische Aortenstenose, hypoplastisches Linksherz­ syndrom, auf Aortenebene: kritische Aortenisthmusstenose, unter­ brochener Aortenbogen. Je nachdem, wo die Obstruktion liegt und wie ausgeprägt sie ist, versorgt der rechte Ventrikel über einen offen Ductus arteriosus den pulmonalen und systemischen Kreislauf voll­ ständig oder partiell. Da durch die Obstruktion meist, zumindest zu Beginn ein Vor­ wärtsversagen des linken Ventrikels besteht, ist der Druck im linken Vorhof erhöht und entsprechend liegt über eine Vorhofkommunika­ tion ein Links-rechts-Shunt vor. Falls ein signifikanter atrialer Linksrechts-Shunt vorliegt ist die O2-Sättigung in der Pulmonalarterie und konsekutiv in der Aorta descendens relativ hoch. Eine Zyanose ist klinisch nicht unbedingt erkennbar. Fehlt ein Shunt oder liegt eine restriktive Vorhofkommunikation vor, staut sich Blut zurück in die Lunge und kann so zu einem passiven Lungenödem führen. Eine Restriktion auf Vorhofebene kann unmittelbar nach der Geburt zu einer Hypoxämie mit Schocksymptomatik führen.

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M. Khalil

Die ductusabhängige Systemperfusion zeigt bei Verschluss des Ductus arteriosus das klinische Bild eines kardiogenen Schock, das sich nur wenig von dem Bild einer foudroyanten Sepsis unterscheidet. jjLeitsymptome Leitsymptome der ductusabhängigen Systemperfusion sind Herzin­ suffizienzzeichen: 44 Tachypnoe, Dyspnoe, Hüsteln, 44 Tachykardie, vermehrte präkordiale (rechtsventrikuläre) ­Palpitation, 44 Hepatomegalie, 44 Trinkschwäche, 44 grau-blasses Hautkolorit, verlängerte Rekapillarisierungszeit, 44 schwache oder fehlende Pulse an den unteren Extremitäten, 44 O2-Sättigungsdifferenz zwischen oberer und unter Extremität, 44 Oligurie, 44 ein Herzgeräusch liegt häufig nicht vor. >> Bei einem Neugeborenen, dessen Zustand sich in den ersten Lebenstagen klinisch verschlechtert, muss daher neben der Verdachtsdiagnose Sepsis immer an einen kritischen Herz­ fehler gedacht werden. Im Zweifel kann immer eine Therapie mit Prostaglandin E1 in niedriger Dosis begonnen werden!

Eine Echokardiographie ist so schnell wie möglich zur Diagnosestel­ lung als auch zur begleitenden Schocktherapie durchzuführen. j jTherapie Grundsätzliche Therapieziele sind die Stabilisierung des Patienten mit weitgehender Wiederherstellung der fetalen, parallel geschalte­ ten Kreislaufphysiologie sowie der Optimierung der pulmonalarte­ riellen und systemischen Widerstände. Der Ductus arteriosus wird mit Prostaglandin-E1-Infusion of­ fengehalten bzw. wiedereröffnet. Die Dosierung hängt vom klini­ schen Zustand und dem Öffnungszustand des Ductus arteriosus ab. Idealerweise sollte die Indikation und Steuerung der Prostaglandin­ therapie mittels Echokardiographie erfolgen. Prostaglandin führt u. a. zu einer Absenkung des Lungenwider­ stands. Daher kann eine zu hohe Dosierung nicht nur den Ductus weit öffnen, sondern auch den pulmonal-vaskulären Widerstand so weit absenken, dass der pulmonale Blutfluss auf Kosten der systemi­ schen Perfusion erhöht wird. Daher sollte bei offenen Ductus arteriosus eine niedrige Prosta­ glandindosis z. B. von 5–10 ng/kgKG/min angestrebt werden. Ein Absenken des pulmonalen Widerstands sollte wie schon weiter oben beschrieben unbedingt vermieden werden, d. h. keine inadäquate O2-Therapie. Wenn Sauerstoff appliziert werden muss, nur bis zu einer Zielsättigung zwischen 75–85%, dann kann von ­einer balancierten Situation mit einem Qp/Qs ≈1 ausgegangen wer­ den. Volumengaben sollten vorsichtig erfolgen.

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Vitien mit ductusabhängiger Pulmonalperfusion (Rechtsherzobstruktion) Bei Vitien mit ductusabhängiger Pulmonalperfusion (Rechtsherzob­ struktion) kann die Obstruktion auf mehreren Ebenen existieren. Eine ausreichende Lungenperfusion kann immer nur durch einen Ductus arteriosus oder größere aortopulmonale Kollateralen er­ reicht werden. Bei der einfachen Transposition der großen Gefäße (TGA) lie­ gen zwei parallel geschaltete, aber getrennte Kreisläufe vor. Ein Überleben ohne Shuntverbindungen ist nicht möglich. Über einen offenen Ductus wird der pulmonale Blutfluss erhöht, der Rückfluss über die Pulmonalvenen zum linken Vorhof steigt und damit der

Druck im linken Vorhof. Dies begünstigt eine bessere Mischung von O2-reichen und -armen Blut über das Foramen ovale. Nur über einen Links-recht-Shunt auf Vorhofebene kann das Systemblut mit Sauer­ stoff angereichert werden. Entsprechend führt ein restriktives ­Foramen ovale neben einer ausgeprägten Zyanose zu Tachy- und Dyspnoe bis hin zum Lungenödem. Leitsymptom der ductusabhängigen Pulmonalperfusion und der TGA ist die O2-resistente Zyanose. Typischerweise findet sich trotz generalisierter Zyanose ein vita­ les Neugeborenes. Mit Fortschreiten der Zyanose oder wenn ein ­restriktives Foramen ovale vorliegt, kommt es zu einer zunehmen­ den Tachypnoe und Tachykardie. >> Ein zyanotisches Neugeborenes ohne pulmonale Ursache (und in relativ guten, vitalen Allgemeinzustand) sollte in erster Linie an eine TGA oder an Vitien mit ductusabhängiger Pulmonalperfusion denken lassen.

Der Ductus arteriosus wird mit Prostaglandin-E1-Infusion offenge­ halten bzw. wiedereröffnet. Die Dosierung hängt vom klinischen Zustand und dem Öffnungszustand des Ductus arteriosus ab, kann aber bei ductusabhängiger Pulmonalperfusion großzügiger als bei ductusabhängiger Systemperfusion eingesetzt werden. Nach einer Wiedereröffnung des Ductus arteriosus sollte auch hier eine balancierte Situation zwischen pulmonalen und systemi­ schen Kreislauf angestrebt werden. Der pulmonale Widerstand kann gesenkt, der systemische ­Widerstand bei schlechter Lungenperfusion erhöht werden. Eine Zielsättigung um 80% sowie eine milde Alkalose sollten angestrebt werden. Eine intensive Volumentherapie ist meistens notwendig, sofern keine Restriktion auf Vorhofebene besteht. >> Bei V. a. das Vorliegen eines kritischen Herzfehlers sollte die Verlegung in ein kinderkardiologisches Zentrum so schnell wie möglich erfolgen.

Bei Vorliegen eines restriktiven Foramen ovale kann eine Ballon­ atrioseptostomie nach Rashkind als Notfallprozedur durchgeführt werden. Bei Vorliegen einer kritischen Aortenklappenstenose besteht zudem die Möglichkeit einer Ballonvalvuloplastie. Liegt eine prostaglandinrefraktäre Ductusstenose vor, kann ein Stent in den Ductus arteriosus implantiert werden. Neben den Vitien mit ductusabhängiger Systemperfusion und Pulmonalperfusion oder der TGA gibt es noch eine Reihe komplexer Herzfehler, die ebenfalls in der postnatalen Phase zu einer akuten Dekompensation führen können. Bei diesen komplexen Herzfehlern liegt im Prinzip meistens eine Konstellation wie bei der ductusab­ hängigen System- oder Pulmonalperfusion vor. Anhand der Leit­ symptome kann man sich hinsichtlich der ersten Therapiemaßnah­ men orientieren, bis die Diagnose echokardiographisch gestellt wird und eine spezifische Therapie (operativ oder katherinterventionell) möglich ist. 20.2

Primär azyanotische Herzfehler

20.2.1

Herzfehler mit Links-rechts-Shunt

Persistierender Ductus arteriosus (PDA) Der Ductus arteriosus botalli ist eine Gefäßverbindung zwischen Aorta und Pulmonalarterie. Der Ductus verschließt sich normaler­ weise innerhalb von 48 Stunden nach der Geburt. Bleibt der Ver­ schluss des Ductus arteriosus aus, spricht man von einem persistie­

461 Herz und Gefäße

renden Ductus arteriosus (PDA). PDA haben eine Anteil von ca. 7% aller angeborener Herzfehler (. Tab. 20.1). Abhängig vom Gestationsalter bleibt bei Frühgeborenen auf­ grund der Unreife des Gewebes der Ductus arteriosus häufiger und länger offen als bei Reifgeborenen. jjMorphologie/Hämodynamik Die Morphologie des PDA kann in Bezug auf Länge, Durchmesser und Form erheblich variieren. Kurz nach der Geburt besteht bei offenem Ductus arteriosus bo­ talli noch ein Gleichgewicht zwischen aortalem und pulmonalarteri­ ellem Druck. Mit zunehmendem Abfall des Lungengefäßwiderstands kommt es zu einem zunehmenden Links-rechts-Shunt. Ähnlich wie beim VSD ist die Hämodynamik abhängig vom Shuntvolumen. Bei einem kleinen Shuntvolumen ist der PDA hämodynamisch unbedeutsam. Liegt ein größeres Shuntvolumen vor, resultiert eine Volumenbelastung des linken Vorhofs und des linken Ventrikels mit konsekutiver Vergrößerung dieser Strukturen. Durch den Abstrom des Bluts, in der Systole als auch in der Diastole, entsteht eine große Blutdruckamplitude mit hohem systolischen und niedrigem diasto­ lischen Druck. Dies kann zu einer Minderdurchblutung der periphe­ ren Kreislaufregionen führen, insbesondere bei unreifen Frühgebo­ renen kann dies das Risiko für die Entwicklung einer Niereninsuffi­ zienz oder nekrotisierenden Enterokolitis deutlich erhöhen (7 Kap. 4). Bei einem großen PDA mit nicht restriktivem Shunt kann sich eine pulmonale Hypertonie entwickeln, die ab einem bestimmten Punkt nicht mehr reversibel ist und dann zu einer EisenmengerReaktion (7 Abschn. 20.2.1.2) führt. jjKlinik Bei einem kleinen Shunt bleiben die betroffenen Kinder meist asym­ ptomatisch. Bei großem PDA kann sich eine Herzinsuffizienz in unter­ schiedlicher Ausprägung präsentieren. jjDiagnostik Auskultatorisch findet sich ein typisches Maschinengeräusch (sys­

tolisch/diastolisches Herzgeräusch) mit punktum maximum (p.m.) über dem 2./3. ICR links. Echokardiographisch lässt sich sowohl doppler- als auch farbdopplersonographisch ein systolisch-diastoli­ scher Shunt in die Pulmonalarterie darstellen. Bei Früh- und Neuge­ borenen findet sich aufgrund des noch erhöhten Lungengefäßwider­ standes nur ein reines Systolikum. Ist der PDA sehr klein ist kein Herzgeräusch auskultierbar, hier­ bei handelt es sich dann um einen sog. silenten PDA. Die Diagnose wird echokardiographisch gestellt. Neben der Größe des PDA wird auch der Druckgradient gemessen, um eine ggf. vorliegende pulmonale Hypertension zu erfassen. Zusätzlich wird die Volumenbelastung des linken Vorhofs und Ventrikels beurteilt. Häufig wird hier das Verhältnis von linkem Vorhof zur Aorta (LA/ AO) kalkuliert. Ein Quotient >1,5 deutet auf eine hämodynamische Bedeutsamkeit hin. Weiterhin kann insbesondere bei Neu- und Frühgeborenen durch die Doppleruntersuchung peripherer Arteri­ en (Truncus coeliacus, A. cerebri media) die hämodynamische Be­ deutsamkeit beurteilt werden. Je bedeutsamer der PDA, umso nied­ riger ist der diastolische Fluss bis hin zum Nullfluss oder diastoli­ scher Flussnegativierung. jjTherapie Kleine PDA werden heutzutage nicht mehr verschlossen. Als klein werden sie dann bezeichnet, wenn keine Volumenbelastung der lin­ ken Herzstrukturen darstellbar ist und wenn es sich um einen silen­

..Abb. 20.2  Ventrikelseptumdefekt. Schematische Darstellung eines Ventrikelseptumdefekts. Im muskulären Ventrikelseptum findet sich ein Defekt, über den es ohne zusätzliche Fehlbildungen zu einem Links-rechts-Shunt vom linken Ventrikel (LV) zum rechten Ventrikel (RV) kommt. RA rechter Vorhof, LA linker Vorhof, AO Aorta, PA Pulmonalarterie

ten PDA handelt. PDA können mit gutem Ergebnis interventionell verschlossen werden, z. B. mit ablösbaren Spiralen (Cook-Coils) oder entsprechenden Devices. Ein pharmakologischer Verschluss eines PDA ist bei reifgeborenen Kindern in der Regel nicht erfolg­ reich (bei Frühgeborenen 7 Kap. 4).

Ventrikelseptumdefekt Der Ventrikelseptumdefekt (VSD; . Abb. 20.2) ist als isolierte Fehl­ bildung der häufigste angeborene Herzfehler mit einem Anteil von 15–20% aller angeborenen Herzfehler. Als Begleitfehlbildung bei komplexen Herzfehlern macht der VSD einen Anteil bis zu 40% aller Herzfehler aus. jjMorphologie und Hämodynamik Der Ventrikelseptumdefekt wird nach Lokalisation und Größe beur­ teilt. Je nach Lage im Septum unterscheidet man folgende Typen: 44 Perimembranöse Defekte, im membranösen Septum unter­ halb der Aortenklappe liegend, sind am häufigsten (ca. 70%). 44 Muskuläre Defekte können im apikalen oder mittleren ­Septumbereich liegen. Muskuläre Defekte treten häufig auch als multiple kleine Defekte auf, und werden dann als „SwissChesse“-Typ bezeichnet. 44 Infundibuläre Ventrikelseptumdefekte liegen im Auslasssep­ tum unterhalb der Aorten- und Pulmonalklappe. 44 Inlet-VSD liegen im Einlassseptum und werden am häufigsten bei einem AVSD vorgefunden. 44 Beim Malalignment-VSD besteht eine Verlagerung des Aus­ flusstraktseptums, die dazu führt, dass eine Taschenklappe, z. B. die Aortenklappe über dem VSD „reitet“, wie z. B. bei der Fallot-Tetralogie. Malalignment-VSDs kommen niemals ­isoliert vor. Sie sind immer mit anderen Herzfehlern assoziiert. Sowohl infundibuläre als auch Inlet-VSD kommen als isolierte VSD im Vergleich zu perimembranösen und muskulären Defekten relativ selten vor, mit einem Anteil von 5–8% aller VSD. Bei einem isolierten VSD liegt ein Links-rechts-Shunt vor. Die Größe des Shunts ist abhängig von der Größe des Defekts und dem

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pulmonalvaskulären Widerstand. Die Lokalisation des Defekts hat keinen Einfluss auf das Shuntvolumen. Allerdings kann die Lage des VSD das Therapiekonzept beeinflussen. Im Neugeborenenalter ist der pulmonalvaskuläre Widerstand noch erhöht, sodass zwischen den Ventrikel noch ein annähernd gleicher Druck besteht. Dementsprechend ist das Shuntvolumen deutlich reduziert. Dies ist auch der Grund, warum man VSD kurz nach der Geburt sowohl auskultatorisch als auch echokardiogra­ phisch unterschätzen oder sogar übersehen kann. Häufig werden Ventrikelseptumdefekte in kleine, mittelgroße und große Defekte eingeteilt: Bei einem kleinen Defekt besteht eine Res­ triktion des Shuntvolumens. Es besteht eine Drucktrennung zwischen den Ventrikel. Diese Ventrikelseptumdefekte sind hämodynamisch unbedeutsam und haben eine Tendenz sich spontan zu verschließen, v. a. wenn sie im muskulären oder perimembranösen Septum liegen. Bei mittelgroßen Defekten überwiegt die Volumenbelastung des linken Ventrikels! Es resultiert eine linksventrikuläre Vergröße­ rung. Der rechte Ventrikel wird von der Volumenbelastung nicht betroffen. Bei einem VSD liegt ein systolischer Shunt vor. Der rechte Ventrikel kontrahiert sich gleichzeitig mit dem linken Ventrikel. Das Shuntvolumen wird somit fast direkt in die Pulmonalarterie weiter­ geleitet anstatt im rechten Ventrikel zu verbleiben und dort zu einer Volumenbelastung zu führen. Der rechte Ventrikel ist daher bei ­einem mittelgroßen VSD nicht volumenbelastet, während sowohl der linke Vorhof als auch der linke Ventrikel durch die Volumenbe­ lastung vergrößert sind. Liegt ein großer Defekt vor, kommt es zum Druckangleich zwi­ schen beiden Herzkammern. Der rechte Ventrikel ist in diesem Fall auch betroffen und entsprechend vergrößert und hypertrophiert. Das Shuntvolumen wird nur noch vom pulmonalvaskulären Wider­ stand reguliert, der durch die Druck- und Volumenbelastung im Verlauf zunimmt. Ist diese Erhöhung des pulmonalvaskulären ­Widerstands an einem Punkt angelegt, an dem sie nicht mehr rever­ sibel ist und den Druck in der rechten Herzkammer übersteigt, kommt es zu einer sog. Shuntumkehr (Eisenmenger-Reaktion). ­Resultat ist ein Rechts-links-Shunt mit Zyanose. Ein Verschluss des VSD ist nicht mehr möglich. Es würde zu einem Rechtsherzversagen kommen, da der rechte Ventrikel alleine nicht in der Lage ist, den erhöhten pulmonalvaskulären Widerstand zu überwinden. !! Cave Ein irreversibler Anstieg des pulmonalarteriellen Drucks kann bereits nach dem 6. Lebensmonat beginnen.

Liegt ein VSD in der Nähe der Aortenklappe, kann es durch das Prolabieren eines Segels in den Defekt zu einer Schädigung der Aor­ tenklappe mit einer konsekutiven Insuffizienz kommen. Auch wenn der VSD an sich klein und hämodynamisch wenig bedeutsam ist, stellt dies eine Indikation zum operativen Verschluss dar.

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j jKlinik Entsprechend der beschriebenen Hämodynamik ist die Symptoma­ tik abhängig von der Defektgröße und dem pulmonalen Widerstand. Kinder mit kleinen, hämodynamisch unbedeutenden VSD sind asymptomatisch. Kleine restriktive Defekte zeichnen sich durch ein lautes Systolikum aus („viel Lärm um nichts“). Sind die Defekte etwas größer, kann sich echokardiographisch bereits eine Vergrößerung der linken Herzhöhlen zeigen, ohne dass diese Kinder symptomatisch werden. Das bedeutet, dass ein nicht unerhebliches Shuntvolumen besteht. In diesem Fall ist eine Ver­ schlussindikation gegeben. Bei größeren Defekten stehen die Zei­ chen einer Herzinsuffizienz im Vordergrund. Da der pulmonale Widerstand nach der Geburt erst langsam abfällt, nimmt der Links-

rechts-Shunt in den ersten Lebenswochen zu, sodass Symptome oft erst nach 2–8 Wochen auftreten oder deutlich zunehmen können. Bei Neugeborenen müssen die Eltern über das Auftreten von Herz­ insuffizienzzeichen aufgeklärt werden, damit ggf. eine vorzeitige Wiedervorstellung mit Einleitung einer medikamentösen Therapie erfolgen kann. Liegt ein großer VSD vor, ohne dass Zeichen einer Herzinsuffizienz vorhanden sind, sollte dies ein Warnsignal sein. In diesem Fall liegt bereits eine deutliche pulmonale Widerstandserhö­ hung vor, die den Patienten zwar vor einer Lungenüberflutung und damit auch einer Herzinsuffizienz schützt, aber auch insofern ge­ fährdet, dass diese Widerstandserhöhung bald nicht mehr reversibel ist. Eine baldige Korrektur des Defekts ist in diesem Fall in­diziert. jjDiagnostik Leitsymptom ist bei kleineren und auch mittelgroßen Defekten ein typisches Systolikum. Bei kleinen restriktiven VSD imponiert ein lautes holosystolisches Geräusch mit p.m. über dem 3./4. ICR links. Aufgrund des noch erhöhten Lungenwiderstands kurz nach der Geburt, kann ein Herzgeräusch bei den Vorsorgeuntersuchun­ gen U1 und U2 oft noch fehlen. Im Echokardiogramm kann der Defekt sowohl im B-Bild, als auch farbdopplersonographisch dargestellt und anatomisch zuge­ ordnet werden. Der Druckgradient über dem VSD wird mittels Doppler bestimmt. Damit kann beurteilt werden, ob ein drucktren­ nender restriktiver Defekt besteht oder es bereits zu angehobenen Druckverhältnissen im rechten Ventrikel und im kleinen Kreislauf gekommen ist, also eine pulmonale Hypertension besteht. Weiterhin wird die Größe des linken Vorhofs und des Ventrikels bestimmt als Hinweis auf eine linksventrikuläre Volumenbelastung. jjTherapie Bei symptomatischen Defekten steht die medikamentöse Therapie der Herzinsuffizienz im Vordergrund. Kommt es im Verlauf zu einer Verkleinerung des VSD bzw. zu Abnahme der hämodynamischen Bedeutsamkeit kann die Medikation evtl. abgesetzt werden. Eine Verschlussindikation besteht bei großen VSD mit klini­ scher Symptomatik, die medikamentös nicht beherrschbar sind. Hier wird der Verschluss bereits im Säuglingsalter durchgeführt, ebenso bei großen Ventrikelseptumdefekten bei denen eine pulmo­ nale Hypertension droht. Hier sollte die Korrektur-OP ebenfalls im ersten Lebenshalbjahr durchgeführt werden, um eine irreversible pulmonale Hypertension zu vermeiden. Weiterhin besteht eine Ope­ rationsindikation bei VSD, die nah an der Aortenklappe liegen und durch ihre Lage eine Aorteninsuffizienz verursachen, da sonst im weiteren Verlauf ein Klappenersatz droht. Bei etwas älteren, asymp­ tomatischen Kindern besteht eine Indikation wenn ein erhebliches Shuntvolumen besteht, erkennbar an einer deutlichen Vergrößerung des linken Vorhofs und des linken Ventrikels. In der Regel werden die meisten Defekte operativ verschlossen. In einigen Fällen ist ein katheterinterventioneller Verschluss möglich. jjPrognose und Verlauf Die Spontanverschlussrate ist bei kleinen muskulären und perimem­ branösen Defekten hoch. Kleine muskuläre Defekte verschließen sich häufig in den ersten 2 Lebensjahren. Perimembranöse Defekte ver­ schließen sich zu 50%. Wichtig ist zu wissen, dass VSD im Verlauf nicht größer werden. Es besteht also eine relative Verkleinerungstendenz. Infundibuläre Inlet- und Malalignment-VSD verschließen sich nicht spontan. Bei nicht korrigierten, hämodynamisch relevanten isolierten VSD entwickelt sich eine fixierte pulmonale Hypertonie und somit eine Eisenmenger-Reaktion. Um festzustellen, ob diese pulmonale

463 Herz und Gefäße

..Abb. 20.4  Ein typisches Zeichen für eine rechtsventrikuläre Volumenbelastung im Kindesalter ist die rsR’-Konfiguration in V1

..Abb. 20.3  Die verschiedenen Formen der Vorhofseptumdefekte sind schematisch dargestellt. Der obere Sinus-venosus-Defekt liegt an der Einmündung der oberen Hohlvene, der untere Sinus-venosus-Defekt an der Einmündung der unteren Hohlvene. Der Vorhofseptumdefekt vom Sekundumtyp (ASD II) liegt relativ zentral im Bereich der Fossa ovalis. Der Vorhofseptumdefekt vom Primumtyp (ASD I) liegt oberhalb der Klappenebene. Beim Sinus-coronariusDefekt liegt zusätzlich eine Öffnung im Bereich des Linken Vorhofs vor.

Hypertension irreversibel ist, kann die pulmonale Widerstandserhö­ hung im Herzkatheter mittels Sauerstoff-NO-Beatmung und Prosta­ glandininfusion untersucht werden. Besteht hier eine Reversibilität kann der VSD auch in höherem Alter noch verschlossen werden, ansonsten ist eine Korrektur nicht mehr möglich.

reich des linken Vorhofs vor, sodass Blut vom linken Vorhof zum rechten Vorhof gelangen kann. 44 Persistierendes Foramen ovale (PFO): findet sich in bis zu 25% der Normalbevölkerung. Es liegt kein echter Defekt vor. Die Verschmelzung des Septum primum mit dem Septum ­secundum ist unvollständig. Unter bestimmten Umständen (z. B. Valsalva-Manöver, pulmonale Hypertension) kann sich das PFO ventilartig öffnen und so einen Rechts-links Shunt und damit Embolien vom venösen ins arterielle System ­ (sog. paradoxe Embolien) ermöglichen. ASD führen zu einem Links-rechts-Shunt auf Vorhofebene. Durch den Shunt kommt es zu einer Volumenbelastung des rechten Ven­ trikels und letztendlich auch des Lungenkreislaufs. Das Ausmaß des Links-rechts-Shunts ist abhängig von der Dehnbarkeit (Compli­ ance) der Ventrikel. Der rechte Ventrikel weist im Normalfall eine bessere diastolische Compliance als der muskelstarke linke Ventrikel auf. Allerdings unterscheiden sich im ersten Lebensjahr die Compli­ ance der Ventrikel nur wenig, entsprechend kann das Shuntvolumen auch bei großen Defekten in diesem Alter noch unbedeutend sein.

jjKlinik ASD führen zunächst zu keiner ausgeprägten Symptomatik. Die Vorhofseptumdefekt (ASD) meisten Säuglinge und Kleinkinder mit einem ASD sind asympto­ Der Vorhofseptumdefekt (ASD) ist einer der häufigsten ange­ matisch und der Defekt wird als Zufallsbefund entdeckt. Defekte mit borenen Herzfehler und hat als isolierter Defekt einen Anteil von­ großem Shunt können häufig als einziges Symptom im Kindesalter ca. 7–10% aller angeborenen Herzfehler. Mädchen sind häufiger be­ durch eine erhöhte pulmonale Infektanfälligkeit auffallen. Sehr selten kann es bei sehr großem Shunt schon im Säuglings­ troffen als Jungen. alter zu Herzinsuffizienzzeichen kommen. Eine verminderte Belast­ jjMorphologie und Hämodynamik barkeit oder Herzrhythmusstörungen aufgrund einer zu­nehmenden Abhängig von ihrer Lage im Vorhofseptum werden verschiedene rechtsventrikulären Funktionsstörung treten typischerweise erst im Vorhofseptumdefekte unterschieden (. Abb. 20.3): Jugend- bis Erwachsenalter auf. Mit jedem weiteren Lebensjahr­ zehnt steigt bei großen Defekten die Wahrscheinlichkeit für die Ent­ 44 Vorhofseptumdefekt vom Sekundumtyp (. Abb. 20.3) ist der wicklung einer pulmonalen Hypertension. häufigste ASD. Es findet sich hier ein Defekt im Bereich der Fossa ovalis, relativ zentral gelegen. jjDiagnostik 44 Vorhofseptumdefekt vom Primumtyp (ASD I) liegt im unte­ Der ASD selbst führt zu keinem Herzgeräusch, aber aufgrund der ren, klappennahen (AV-Klappen) Anteil des Vorhofseptums. Volumenbelastung des rechten Ventrikels kommt es zu einer relati­ Es handelt sich in um eines Defekt des atrioventrikulären Ka­ ven Pulmonalstenose und somit zu einem Systolikum über dem nals (7 Abschn. 20.2.1.5). 2. ICR links und typischerweise zu einem weit fixierten gespaltenen 44 Sinus-venosus-Defekte liegen an der Einmündung der Hohl­ 2. Herzton. venen in den rechten Vorhof. Entsprechend unterscheidet man Im EKG findet sich bei größeren Defekten als Ausdruck der einen oberen Sinus-venosus-Defekt (an der Einmündung der oberen Hohlvene) und einen unteren Sinus-venosus-Defekt rechtsventrikulären Volumenbelastung mit Erregungsausbreitungs­ (selten). Ein Sinus-venosus-Defekt ist den meisten Fällen mit störung eine typische rsRʹ-Konfiguration in der Ableitung V1 (sog. einer partiellen Lungenvenenfehlmündung assoziiert. inkompletter Rechtsschenkelblock; . Abb. 20.4). 44 Sinus-coronarius-Defekt ist ein seltener ASD. Normalerweise Mittels Echokardiographie können Vorhofseptumdefekte, v. a. hat der Sinus coronarius seine Öffnung im rechten Vorhof. Bei bei Kleinkindern, morphologisch sehr gut dargestellt werden. Dabei dem vorliegenden Defekt liegt zusätzlich eine Öffnung im Be­ werden Defekttyp und Defektgröße bestimmt. Mittels Farbdoppler

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a ..Abb. 20.5  Darstellung eines Figulla Flex II Okkluder (a; mit freundl. Genehmigung Fa. Occlutech) bzw. Amplatzer Septal Okkluder (b; mit freundl. Genehmigung Fa. Abbott). a Das Doppelschirmsystem wird u. a. für den in-

b terventionellen ASD-II-Verschluss benutzt. b Schematische Darstellung eines ASD-Verschluss nach Implantation des Devices

kann ein Shunt nachgewiesen werden. Zusätzlich kann eine Ver­ größerung des rechten Vorhofs, des rechten Ventrikels und der ­Pulmonalarterie als Ausdruck der Volumenbelastung dargestellt werden. Assoziierte Herzfehler wie eine partielle Lungenvenenfehl­ mündung sollte ausgeschlossen werden. Am besten wird das Vorhof­ septum von subcostal visualisiert. Bei Jugendlichen und Erwachsenen ist das Vorhofseptum häufig nur noch mittels transösophagealer Echokardiographie (TEE) gut darstellbar. j jTherapie Kleine, hämodynamisch unbedeutsame Defekte erfordern keine Therapie und sollten nur beobachtet werden. Insbesondere Defekte mit einem Durchmesser > 5 Partieller AVSD: ASD I + gemeinsame AV-Klappe mit 2 Öffnungen. 55Kompletter AVSD: ASD I + Inlet-VSD + gemeinsame AVKlappe mit 1 Öffnung.

>> Die operative Korrektur sollte im ersten Lebenshalbjahr erfolgen, insbesondere wenn eine Trisomie 21, vorliegt, da hier frühzeitig die Gefahr einer irreversiblen pulmonalen Hypertonie besteht.

Bei einem partiellen AVSD liegt die gleiche Hämodynamik wie bei einem ASD vom Sekundum-Typ vor. Es besteht ein Links-rechtsShunt auf Vorhofebene mit einer entsprechenden Volumenbelastung des rechten Ventrikels. Eine zusätzliche AV-Klappeninsuffizienz kann die Volumenbelastung noch verstärken. Bei einem kompletten AVSD liegt ein Links-rechts-Shunt so­ wohl auf atrialer als auch auf ventrikulärer Ebene vor. Zusätzlich liegt häufig noch eine Insuffizienz der gemeinsamen AV-Klappe vor, wel­ che die Volumenbelastung einer oder beider Ventrikel noch erhöhen kann. Aufgrund des ausgeprägten Shunts besteht eine erheblich ver­ mehrte Lungendurchblutung, die schon im frühen Säuglingsalter zu einer Herzinsuffizienz führen kann. Eine pulmonale Hypertonie entwickelt sich bei einem kompletten AVSD relativ früh. Insbeson­ dere wenn zusätzlich eine Trisomie 21 vorliegt besteht die Gefahr, dass es zu einer frühen irreversiblen pulmonalen Hypertension kommt, die im weiteren Verlauf zu einer Eisenmenger-Reaktion führt. Daher sollte ein kompletter AVSD vor dem 6. Lebensmonat korrigiert werden, insbesondere bei Vorliegen einer Trisomie 21. Eine Zyanose besteht bei erhöhtem pulmonalarteriellen Widerstand oder einer Obstruktion des rechtsventrikulären Ausflusstrakts.

Kann das Kind aus verschiedenen Gründen (z. B. niedriges Gewicht, syndromale Grunderkrankung mit weiteren Fehlbildungen) in die­ sem Zeitraum noch nicht operiert werden oder die Herzinsuffizienz medikamentös nicht kompensiert werden, besteht die Möglichkeit einen operativen Zwischenschritt durchzuführen, indem man ein zentrales pulmonales Banding durchführt. Hierbei wird ein Bänd­ chen um die Pulmonalarterie gelegt und das Lumen eingeengt. Durch diese Maßnahme wird eine artifzielle Pulmonalstenose ver­ ursacht und damit eine Lungenüberflutung und Herzinsuffizienz vermieden. Eine Korrektur-OP kann dann auch später als im ersten Lebenshalbjahr erfolgen, ohne dass ein erhöhtes Risiko für eine pul­ monale Hypertension besteht. Die eigentliche Korrekturoperation besteht aus einem Patchver­ schluss des Vorhof- und Ventrikelseptums und einer Rekonstruktion der AV-Klappen. Beim partiellen AVSD besteht prinzipiell eine Operationsindi­ kation. Bestehen keine zusätzlichen Herzfehler kann die KorrekturOP erst im Vorschulalter erfolgen.

jjKlinik Kinder mit partiellem AVSD und nur geringer AV-Klappeninsuffi­ zienz sind im Säuglings- und Kleinkindalter wenig symptomatisch. Die Klinik ähnelt der eines großen Shunts bei ASD II (7 Abschn. 20.2.1.3). Beim kompletten AVSD kommt es mit Abfall des Lungengefäß­ widerstands rasch zu den typischen Zeichen einer Herzinsuffizienz und evtl. zu rezidivierenden pulmonalen Infekten. >> Fehlen bei einem Säugling mit einem kompletten AVSD Herz­ insuffizienzzeichen, erfordert dies besondere Aufmerksamkeit. Hier liegt meist bereits eine pulmonale Hypertonie vor, die zwar eine Lungenüberflutung verhindert, aber schon zu einer irreversiblen Schädigung der Lungenstrombahn führen kann.

jjDiagnostik Beim partiellen AVSD entspricht der Auskultationsbefund dem ei­ nes ASD vom Sekundum-Typ. Es liegt, wenn nicht zusätzlich eine AV-Klappeninsuffizienz vorliegt, eine relative Pulmonalstenose vor mit einem Systolikum mit p.m. über dem 2. ICR links. Beim kompletten AVSD hört man häufig ein lautes, holosystoli­ sches Geräusch mit Absenken des Lungengefäßwiderstands als Folge eines Links-rechts-Shunts über dem Ventrikelseptumdefekt. Es be­ steht häufig eine ausgeprägte AV-Klappeninsuffizienz mit hörbarem Systolikum. >> Im EKG zeigt sich sowohl beim partiellen als auch kompletten AVSD ein überdrehter Linkstyp, der pathognomonisch für den Defekt ist.

Die Diagnose wird letztendlich echokardiographisch gestellt. Hier kann der Defekt, seine Ausdehnung, die Klappenmorphologie, der Shunt und das Ausmaß der AV-Klappeninsuffizienz dargestellt ­werden.

20.2.2

Azyanotische Herzfehler ­ ohne Shunt

Aortenisthmusstenose Bei der Aortenisthmusstenose handelt es sich um die Einengung der Aorta im Bereich des Isthmus, also dem Übergang des Aortenbogens zur Aorta descendens (. Abb. 20.7). Die relative Häufigkeit der iso­ lierten Aortenisthmusstenose beträgt ca. 5–8% aller angeborenen Herzfehler. Jungen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie ­Mädchen. Das Ullrich-Turner-Syndrom ist in ca. 20–30% mit einer Aortenisthmusstenose assoziiert. jjMorphologie und Hämodynamik Die frühere Einteilung der Aortenisthmusstenosen von prä- und postduktal wurde weitgehend verlassen. Eigentlich liegt immer eine juxtaduktale Aortenisthmusstenose vor (. Abb. 20.7), d. h. die Ein­ engung liegt unmittelbar auf Höhe des Ductus arteriosus. Morpho­ logisch gibt es umschriebene Aortenisthmusstenosen und tubuläre Aortenisthmusstenosen. Bei letzterer liegt eine längerstreckige tubu­ läre Hypoplasie des Bogens vor, evtl. mit zusätzlicher Hypoplasie des Aortenbogens. Es müssen die kritische Aortenisthmusstenose des Neugebore­ nen und die weniger ausgeprägte Aortenisthmusstenose, die erst zu einem späteren Zeitpunkt zu Symptomen führt und einer Therapie bedarf, unterschieden werden. Bei der kritischen Aortenisthmusstenose des Neugeborenen ist die ausreichende Durchblutung der unteren Körperhälfte ab­ hängig vom Offenbleiben des Ductus arteriosus botalli. Über d ­ iesen versorgt der rechte Ventrikel über die Pulmonalarterie die untere Körperhälfte mit Blut. Entsprechend ist die O2-Sättigung an den Bei­ nen (postduktale Sättigung), im Vergleich zur Sättigung am rechten Arm (präduktale Sättigung) erniedrigt. Mit Verschluss des Ductus wird die untere Körperhälfte nur noch unzureichend perfundiert. Es kommt zu einer akuten Nachlaststeigerung mit akuter Dekompen­

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..Abb. 20.7 Aortenisthmusstenose. a Aortenisthmusstenose mit einer Einengung unmittelbar dem Ductus arteriosus gegenüber. Solange der Ductus offen ist, kann Blut aus dem Aortenbogen und aus dem Ductus in die Aorta descendens gelangen. b Aortenisthmusstenose nach Ductus­ verschluss. Die Einengung liegt hinter dem verschlossenen Ductus botalli.

Bei älteren Kindern und Jugendlichen können sich ausgeprägte Kollateralen finden, über die eine Durchblutung der unteren Körperhälfte erfolgt. c MRT-Darstellung einer Aortenisthmusstenose mit poststenotischer ­Dilatation der Aorta descendens

sation und entsprechenden klinischen Zeichen einer Herzinsuffizi­ enz bis hin zum kardiogenen Schock. Bei einer weniger ausgeprägten Aortenisthmusstenose be­ steht eine chronische Nachlaststeigerung mit konsekutiver Hyper­ trophie des linken Ventrikels. Zwischen der oberen und unteren Körperhälfte besteht ein Blutdruckgradient. Der Blutdruck der ­oberen Körperhälfte ist hyperton, der Blutdruck in der unteren ­Körperhälfte entsprechend hypoton. Mit der Zeit entstehen Kollate­ ralkreisläufe.

Neugeborenen mit noch offenem Ductus arteriosus fehlen. Eine niedrigere O2-Sättigung der unteren Extremitäten ist zu diesem Zeit­ punkt ggf. das einzige klinische Symptom. Das Pulsoxymetriescree­ ning im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung U2 ist daher – neben einer sorgfältigen Inspektion – sehr hilfreich, um diese dezenten klinischen Indizien wahrzunehmen. Auch bei einem älteren Kind oder Erwachsenen muss die Höhe der Blutdruckdifferenz nicht gleichbedeutend mit dem Schweregrad der Stenose sein, da ein gut ausgebildeter Umgehungskreislauf eine relativ gute Durchblutung der unteren Körperhälfte zur Folge haben kann. Auskultatorisch findet sich evtl. ein Systolikum mit p.m. zwi­ schen den Schulterblättern. Die Diagnose wird in der Regel echokardiographisch gestellt. Hierbei wird der Aortenisthmus von suprasternal dargestellt. Es fin­ det sich eine Flussbeschleunigung im stenotischen Bereich mit einer typischen diastolischen Ausziehung. Kann der Aortenisthmus nicht gut dargestellt werden, ist auch die Dopplermessung im Truncus coeliacus hilfreich. Eine verminderte systolisch/diastolische Ampli­ tude kann ein Hinweis für eine Aortenisthmusstenose sein. Mittels MRT ist eine gute Darstellung des Aortenisthmus und der gesamten Aorta möglich, insbesondere bei älteren Kindern oder jun­ gen Erwachsenen ist das MRT hervorragend zur Darstellung der Aortenisthmusregion sowie des gesamten Aortenbogens geeignet.

j jKlinik Die klinischen Symptome einer Aortenisthmusstenose variieren je nach Ausprägungsgrad der Stenose. Sie können von der kritischen Aortenisthmusstenose des Neugeborenen bis zur asymptomatischen Aortenisthmusstenose reichen, die erst im Erwachsenenalter diag­ nostiziert wird. Entsprechend der Hämodynamik steht bei einer kritischen ­Aortenisthmusstenose eine rasch progrediente Herzinsuffizienz im Vordergrund (7 Abschn. 20.1.5). Aufgrund der verminderten Durch­ blutung der unteren Körperhälfte drohen Niereninsuffizienz, nekro­ tisierenden Enterokolitis, Azidose und schließlich der kardiogene Schock. Bei der nicht kritischen Aortenisthmusstenose sind die Leitsym­ ptome eine Hypertonie der oberen Körperhälfte mit evtl. häufigen Kopfschmerzen und Nasenbluten, abgeschwächte Leistenpulse, ­Wadenschmerzen und eine Claudicatio intermittens. Die Aortenisthmusstenose kann auch lange asymptomatisch verlaufen und als Zufallsbefund bei der Abklärung eines arteriellen Hypertonus oder nach stattgehabtem Schlaganfall in Folge eines ­lange bestehenden Hypertonus diagnostiziert werden. >> Die Aortenisthmusstenose ist die häufigste, nicht renale ­Ursache der sekundären Hypertonie.

j jDiagnose Führendes Symptom ist die Differenz von Puls und Blutdruck zwischen oberer und unterer Extremität. Trügerischerweise kann ein Blutdruckgradient zwischen oberer und unterer Körperhälfte bei

jjTherapie Bei Vorliegen einer kritischen Aortenisthmusstenose besteht eine systemabhängige Ductusperfusion mit Rechts-links-Shunt in der Echokardiographie (7 Abschn. 20.1.5). Entsprechend muss eine The­ rapie mit Prostaglandin E1 zum Offenhalten des Ductus arteriosus botalli begonnen werden. Ist der Ductus arteriosus botalli bereits vorschlossen, lohnt es sich trotzdem eine Prostaglandintherapie zu beginnen, da evtl. versprengtes Ductusgewebe im Isthmusbereich noch auf das Protaglandin reagiert und eine Stenose abgemildert werden kann. Die Therapie besteht im Neugeborenenalter in der operativen Behandlung. Dabei wird die Aortenisthmusstenose reseziert und eine End-zu-End-Anastomose durchgeführt. Bei längerstreckigen

467 Herz und Gefäße

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..Abb. 20.8  Aortenstenose (AST). a Valvuläre AST: Die Klappe ist verdickt und zeigt eine eingeschränkte Öffnung, sog. Domstellung. b Supravalvu­ läre AST: Es besteht eine Einengung der Aorta oberhalb des Aortenbulbus.

c Subaortenstenose: Unterhalb der Aortenklappe im linken Ventrikel findet sich eine subvalvuläre Einengung. RA rechter Vorhof, RV rechter Ventrikel, LA linker Vorhof, LV linker Ventrikel, AO Aorta, PA Pulmonalarterie

Stenosen wird die deszendierende Aorta aufgeschnitten, und mittels Patch erweitert. Eine katheterinterventionelle Therapie im Neu­ geborenenalter ist nur in Ausnahmefällen indiziert, wenn eine kriti­ sche Aortenisthmusstenose vorliegt. Dann wird mittels einer Ballon­ dilatation eine Angioplastie durchgeführt. Da bei Neugeborenen die Rate an Restenosierungen sehr hoch ist, ist die Ballonangioplastie als Überbrückungsmaßnahme bis zur Korrekturoperation oder als Notfallindikation zur Stabilisierung eines kritisch kranken Neuge­ borenen zu werten. Jugendliche und Erwachsene werden in der Regel im Herz­ katheter mit einer Stentimplantation im stenotischen Bereich be­ handelt. Assoziiert mit einer Aortenistmusstenose ist eine arterielle Hy­ pertonie. Je später die Aortenisthmusstenose behandelt wird, desto höher ist das Risiko, dass eine arterielle Hypertonie persistiert. Da es unabhängig vom Eingriff zu Restenosen kommen kann, sollten ­regelmäßige kardiologische Untersuchungen erfolgen. Obligatorisch ist eine Blutdruckmessung an Arm und Bein. Eine arterielle Hyper­ tonie muss medikamentös frühzeitig angegangen werden. Weiterhin sollte bei Patienten nach operativer Korrektur oder Intervention in regelmäßigen Abständen eine Aneurysmabildung ausgeschlossen werden.

Der Schweregrad einer Aortenstenose wird anhand des Druck­ gradienten festgelegt: 44 milde Stenose: max. systolischer Druckgradient in der Echo­ kardiographie 60 mmHg.

Aortenstenose Die relative Häufigkeit einer Aortenstenose (AST) liegt bei ca. 4–6% aller angeborenen Herzfehler. Das männliche Geschlecht überwiegt dabei deutlich. jjMorphologie und Hämodynamik Die Einteilung der Aortenstenose orientiert sich an ihrer Lokalisa­ tion (. Abb. 20.8). Neben der valvulären Aortenstenose, die am ­häufigsten ist, gibt es die supravalvuläre und subvalvuläre Aorten­ stenose. Subvalvuläre Aortenstenosen entwickeln sich häufig erst im Verlauf des Lebens oder nach einer Herzoperation. Supravalvuläre Aortenstenosen sind sehr häufig mit einem angeborenen Syndrom assoziiert (z. B. Williams-Beuren-Syndrom). Eine stenosierte Aortenklappe kann trikuspide, bikuspide oder selten auch monokuspide sein. Gelegentlich findet sich eine dysplas­ tische Klappe mit verdickten und myxomatös verquollenen Segeln. Die rein bikuspide Aortenklappe ohne Stenose ist relativ häufig und findet sich in ca. 0,5–2% der Gesamtbevölkerung.

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Abhängig vom Druckgradienten über der Klappe entsteht eine kon­ zentrische Myokardhypertrophie des linken Ventrikels. Insbeson­ dere bei einer hochgradigen Aortenklappenstenose im Neugebo­ renenalter kann der linke Ventrikel dilatieren und in seiner systo­ lischen Funktion eingeschränkt sein. jjKlinik Es wird zwischen der kritischen oder hochgradigen Aortenklappen­ stenose unterscheiden, die bereits im Neugeborenen- und Säuglings­ alter zu Symptomen führt, sowie der weniger ausgeprägten Aorten­ klappenstenose, die bei Kindern in den ersten Lebensjahren meist asymptomatisch verläuft. >> Bei der kritischen Aortenklappenstenose ist das Neugeborene kurz nach der Geburt symptomatisch und schwer krank. Das Krankheitsbild ähnelt einem septischen Krankheitsbild mit Herzinsuffizienzsymptomen bis hin zur Schocksymptomatik (7 Abschn. 20.1.5).

Bei milder oder mäßiger Aortenklappenstenose sind die Kinder meist asymptomatisch. Bei Vorliegen eines höheren Gradienten können unter körperlicher Belastung synkopale Zustände mit dem Risiko eines plötzlichen Herztods auftreten. Eine Aortenklappenstenose ist immer eine progrediente Er­ krankung, d. h. mit zunehmendem Alter kommt es zu einer Ver­ schlechterung der Klappeneigenschaften. Besteht ein Defekt an der Aortenklappe, so bedeutet dies, dass diese Klappe mit hoher Wahr­ scheinlichkeit im Laufe des Lebens ersetzt werden muss. jjDiagnostik Auskultatorisch ist ein typisches Systolikum mit p.m. über dem 2. ICR rechts mit Fortleitung in die Karotiden zu hören. Das EKG ist

bei der Aortenklappenstenose nicht wegweisend, kann jedoch auf eine linksventrikuläre Hypertrophie verweisen. Die Diagnose­ wird echokardiographisch gestellt. Hier kann der Schweregrad der

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Stenose als auch die Morphologie der Klappe dargestellt werden, begleitende Probleme wie eine Aortenklappeninsuffizienz, eine Hy­ pertrophie des linken Ventrikels und eine mögliche Funktionsein­ schränkung können ebenso beurteilt werden. Bei der kritischen Aortenklappenstenose besteht eine hochgra­ dig eingeschränkte systolische Funktion. Der Ventrikel kann kein ausreichendes HZV mehr aufbauen, der Gradient über die Klappe ist aufgrund der schlechten Funktion falsch niedrig und somit nicht aussagekräftig. j jTherapie >> Besteht eine kritische Aortenklappenstenose sollte versucht werden, den Ductus arteriosus mittels Prostaglandin-E1-Infusion offen zu halten bzw. wieder zu eröffnen.

Durch die Wiederherstellung der fetalen Kreislaufphysiologie kann der rechte Ventrikel die Systemperfusion mittels Rechts-links-Shunt über den offenen Ductus arteriosus aufrechterhalten Eine frühe ­interventionelle Behandlung mittels Ballondilatation der Aorten­ klappe ist notwendig und stellt bei der kritischen Aortenklappen­ stenose eine Notfallindikation dar. Weitere Indikationen zur katheterinterventionellen Therapie sind symptomatische Patienten, Patienten mit einer schweren Aor­ tenklappenstenose (systolischer Gradient >60 mmHg) sowie Patien­ ten mit eingeschränkter Ventrikelfunktion. Die Ballonvalvuloplastie ist die Therapie der Wahl bei valvulä­ ren Aortenklappenstenosen ohne begleitende Klappeninsuffizienz. Die Ergebnisse der Ballonvalvuloplastie sind vergleichbar mit denen einer chirurgischen Rekonstruktion (Kommisurotomie). Ein operativer Ansatz wird bei Vorliegen einer Aortenklappeninsuffizi­ enz bevorzugt. Lässt sich die Aortenklappe chirurgisch nicht mehr rekonstruieren, kommt die Implantation einer Kunstklappe, eines Homografts oder bevorzugt eine Ross-Operation in Frage. Bei der Ross-Operation wird die körpereigene Pulmonalklappe in Aorten­ position implantiert, und die Pulmonalklappe durch eine biologi­ sche Klappe (Homograft oder Xenograft) ersetzt. Vorteil der RossOperation ist, dass die neue Aortenklappe, die ein Autograft ist, deutlich länger haltbar ist als ein Xeno- oder Homograft in Aorten­ position und evtl. mitwächst. Das Homo-/Xenograft in Pulmonalis­ position muss bei Bedarf durch eine erneute Operation oder eine Herzkatheterintervention ersetzt werden.

Pulmonalstenose Die Pulmonalklappenstenose (PST) ist die häufigste angeborene Klappenstenose und macht ca. 7% aller angeborenen Herzfehler aus.

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j jMorphologie und Hämodynamik Die Einteilung der Pulmonalstenose orientiert sich an ihrer Lokali­ sation (. Abb. 20.9). Neben der valvulären Pulmonalstenose, die am häufigsten ist, gibt es die supravalvuläre und die subvalvuläre Pul­ monalstenose. Subvalvuläre Pulmonalstenosen kommen als isolierte Fehlbildung selten vor, häufig sind sie mit einem Malalignment-VSD (z. B. wie bei der Fallot-Tetralogie) assoziiert. Supravalvuläre Pulmonalstenosen können als periphere Pulmo­ nalstenosen, als isolierte Stenosen der zentralen Pulmonalarterie oder als multiple periphere Stenosen vorkommen. Sie sind sehr häu­ fig mit einem angeborenen Syndrom assoziiert (Alagille-Syndrom, Williams-Beuren-Syndrom, Noonan-Syndrom). Im Falle einer Pulmonalklappenstenose sind die Kommissuren entweder einfach verschmolzen, oder nicht angelegt. Dysplastische Klappen bestehen aus verdicktem, ungleichmäßigem Gewebe, häu­ fig von einer Dysplasie des Klappenanulus begleitet.

..Abb. 20.9  Pulmonalstenose. Je nach Lage der Obstruktion werden die subvalvulär-infundibuläre (muskuläre; 1), valvuläre (2), supravalvuläre (3) und periphere Pulmonalstenose (4, 5) unterschieden

Der Schweregrad einer Pulmonalstenose wird anhand des Druckgradienten festgelegt: 44 milde Stenose: max. systolischer Druckgradient in der Echo­ kardiographie 60 mmHg. Durch die Pulmonalstenose kommt es zu einer rechtsventrikulären Druckbelastung mit Ausbildung einer rechtsventrikulären Hyper­ trophie. Da der rechte Ventrikel im Rahmen der fetalen Kreislauf­ verhältnisse an höhere Drücke adaptiert und somit „trainiert“ ist, führt eine Pulmonalstenose postpartal selten zu Symptomen. Nimmt eine Stenose erst im Verlauf des Lebens zu, ist der rechte Ventrikel weniger daran adaptiert. In diesen Fällen besteht häufig eine Belas­ tungsintoleranz, da der rechte Ventrikel aufgrund der Obstruktion durch die Pulmonalklappe das HZV nur begrenzt steigern kann. Ein Sonderfall ist die kritische Pulmonalstenose des Neugebore­ nen: Hier liegt eine hochgradige Pulmonalstenose vor, die zu einer lebensbedrohlichen Situation führt. Auf Grund eines Rechts-linksShunts auf Vorhofebene kommt es zu einer Zyanose. Der rechtsven­ trikuläre Druck ist mindestens systemisch. Die Lungendurchblutung ist in diesem Fall ductusabhängig, entsprechend benötigen diese Patienten eine Prostaglandin-E1-Infusion, um eine ausreichende Lungendurchblutung durch einen Links-rechts-Shunt zu gewähr­ leisten. jjKlinik Aufgrund der oben beschriebenen Symptomatik sind Kinder mit einer isolierten Pulmonalklappenstenose in der Regel asymptoma­ tisch. Bei einer höhergradigen Pulmonalstenose kann eine einge­ schränkte körperliche Belastbarkeit vorliegen. jjDiagnostik Der Defekt wird aufgrund des Auskultationsbefunds meistens kurz nach der Geburt gestellt. Es findet sich ein typisches systolisches spindelförmiges Austreibungsgeräusch mit p.m. im 2. ICR links mit einem typischen Ejektionsgeräusch. Das EKG kann bei der Diagnose hilfreich sein. Bei ausgeprägter rechtsventrikulärer Hypertrophie

469 Herz und Gefäße

findet sich typischerweise ein positiv konkordantes T in V1. Physio­ logischerweise finden sich bei Säuglingen bis zum Schulalter ­negative T-Wellen in den rechtspräkordialen Ableitungen. Liegt ein positiver Kammerkomplex mit einer positiven T-Welle vor, spricht man von einer positiven Konkordanz. Dies ist in diesem Alter typisch für eine Rechtsherzhypertrophie. Die Diagnose wird echokardiographisch gestellt. Dabei wird die Stenoselokalisation dargestellt. Aufgrund der dopplersono­ graphisch abgeschätzten systolischen Gradienten, lässt sich die ­Pulmonalstenose in verschiedene Schweregrade einteilen und die Klappenmorphologie kann beurteilt werden. jjTherapie Subvalvuläre Stenosen werden in der Regel chirurgisch therapiert. Supravalvuläre Stenosen werden häufig im Herzkatheter mit Ballon­ dilatation und Stentimplantation behandelt. Handelt es sich um eine isolierte Pulmonalklappenstenose, ­besteht die Therapie typischerweise in einer Herzkatheterunter­ suchung mit einer Ballonvalvuloplastie. Die Indikation zur Kathe­ teruntersuchung wird ab einem Gradienten von >60 mmHg gestellt. Bei dysplastischen Pulmonalklappen ist die Erfolgsrate gering. ­Liegen nur verschmolzene Kommissuren vor, kann mit einem sehr guten Ergebnis gerechnet werden. Postinterventionell kommt es ide­ alerweise zu einer geringen Insuffizienz mit einer deutlichen Reduk­ tion des Stenosegradienten. Bei dysplastischer Pulmonalklappe ist die chirurgische Kommissurotomie indiziert. 20.3

Zyanotische Herzfehler

20.3.1

Zyanotische Herzfehler mit verminderter Lungenperfusion

Fallot-Tetralogie Die Fallot-Tetralogie (TOF) hat einen relativen Anteil von 5–6% aller angeborenen Herzfehler und stellt den häufigsten zyanotischen Herzfehler dar. jjMorphologie und Hämodynamik Entsprechend der Erstbeschreibung durch Fallot ist die TOF durch das Zusammenkommen folgender Merkmale definiert (. Abb. 20.10): 44 Ein großer Ventrikelseptumdefekt (Malalignment-VSD), 44 eine den VSD überreitende Aorta, 44 eine valvuläre und/oder infundibuläre Pulmonalstenose mit unterschiedlich ausgeprägter Hypoplasie der zentralen Pulmo­ nalarterien sowie 44 eine Hypertrophie des rechten Ventrikels. Häufig liegt auch noch ein ASD vor. Dann spricht man von einer Fallot-Pentalogie. In ca. 30% findet sich ein rechtsseitiger Aortenbo­ gen. Eine Assoziation mit einer Mikrodeletion 22q11 ist häufig, ins­ besondere bei rechtsseitigem Aortenbogen. Die Hämodynamik bei einer TOF kann sehr unterschiedlich ausfallen und ist im Wesentlichen durch den Grad der Obstruktion des rechtsventrikulären Ausflusstrakts und der Hypoplasie der Pul­ monalarteriengefäße bedingt. Im Prinzip liegt eine Fehlbildung des infundibulären Septums vor. Das Septum deviiert nach rechts, und führt dadurch zu einer Obstruktion des rechtsventrikulären Aus­ flusstrakts mit konsekutiver Hypoplasie der Pulmonalklappe und einer Verlagerung der Aortenwurzel. Die Aorta „reitet“ nun über dem Defekt. Zwischen beiden Ventrikel besteht über den großen

..Abb. 20.10  Fallot-Tetralogie bestehend aus einer Pulmonalstenose (infundibulär 2, valvulär 1) mit Malalignment-VSD und überreitender Aorta (3) und rechtsventrikulärer Hypertrophie (4)

Malalignement-VSD ein Druckausgleich. Dies führt zur rechtsvent­ rikulären Hypertrophie. Bei ausgeprägter Obstruktion des rechts­ ventrikulären Ausflusstrakts kommt es zu einem überwiegenden Rechts-links-Shunt mit deutlicher Zyanose. Hierbei fließt das Blut – dem geringsten Widerstand folgend – vom rechten Ventrikel unter Umgehung der Pulmonalarterie über den VSD direkt in die Aorta. Das Ausmaß der rechtsventrikulären Ausflusstraktobstruktion be­ stimmt den Schweregrad der Zyanose. Liegt nur eine geringgradige Pulmonalstenose vor, ist klinisch keine Zyanose erkennbar. In die­ sem Fall spricht man von einem „Pink Fallot“. jjKlinik Entsprechend der Hämodynamik sind die klinischen Symptome ab­ hängig vom Obstruktionsgrad des rechtsventrikulären Ausfluss­ trakts. Die Zyanose ist im Neugeborenenalter häufig noch nicht sehr ausgeprägt, nimmt aber in den ersten Lebenswochen zu. Bei Vorlie­ gen einer hochgradigen Pulmonalstenose kommt es mit dem Ver­ schluss des Ductus arteriosus botalli in den ersten Lebenstagen zu schweren (auch lebensbedrohlichen) Zyanosen. In diesem Fall muss die Lungenperfusion durch Wiedereröffnung des Ductus arteriosus mit Hilfe von Prostaglandin E1 gewährleistet werden. Es handelt sich dann um einen kritischen Herzfehler mit ductusabhängiger Pul­ monalperfusion. Bei ausgeprägter infundibulärer Stenose kann es zu sog. hypox­ ämischen Anfällen kommen. Es handelt sich dabei um einen anfalls­ artigen Spasmus der hypertrophierten Infundibulummuskulatur, der v. a. durch sympathikotone Reaktionen ausgelöst wird, z. B. beim Schreien und bei Unruhezuständen. Mit der plötzlichen Zunahme der Obstruktion im rechtsventrikulären Ausflusstrakt kommt es zu einer starken Zunahme der Zyanose, die auch zu einem Bewusst­ seinsverlust führen kann. Früher waren hypoxämische Anfälle eine häufige Todesursache bei TOF-Patienten. Liegt eine balancierte Situation vor, also eine moderate Obstruk­ tion des rechtsventrikulären Ausflusstrakts, sind die Kinder bis auf eine mäßige Zyanose relativ symptomfrei. Sie haben keine Herzin­ suffizienz und gedeihen in der Regel normal. In Industrieländern wird die TOF typischerweise im Säuglings­ alter korrigiert. In Entwicklungsländern ist eine Korrektur häufig erst spät oder überhaupt nicht möglich. Entsprechend findet man bei

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diesen älteren Kindern, die operativ nicht korrigiert worden sind, die typischen Zeichen einer chronischen Zyanose mit Trommelschlegel­ fingern und -zehen sowie Uhrglasnägel. Diese Kinder nehmen ins­ besondere nach körperlicher Belastung eine typische „Hockstellung“ ein. Dies war früher auch in unseren Breiten pathognomonisch für die TOF. Durch die Hockstellung wird der systemische Gefäßwider­ stand erhöht und dadurch der Rechts-links-Shunt vermindert. j jDiagnostik Es besteht ein lautes Herzgeräusch bedingt durch die Pulmonalste­ nose mit einem rauhen systolischen Herzgeräusch mit p.m. über dem 2./3. ICR links. Leitsymptom ist, soweit kein „Pink Fallot“ vor­ liegt, die Zyanose. Echokardiographisch zeigen sich die klassischen Befunde mit dem großen subaortal gelegenen Malalignment-VSD, der überrei­ tenden Aorta, die rechtsventrikuläre Ausflusstraktobstruktion mit (sub)valvulärer Pulmonalstenose sowie die rechtsventrikuläre Hy­ pertrophie. In der Echokardiographie sollten die Größe der Pulmo­ nalklappe und die mögliche Hypoplasie der Pulmonalarterien ein­ gehend dargestellt werden. Der Aortenbogenverlauf (links- oder rechtsdeszendierend) sowie weitere mögliche Defekte werden eben­ falls erfasst. Dopplersonographisch kann der Druckgradient im rechtsventrikulären Ausflusstrakt erfasst werden.

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jjTherapie Liegt eine balancierte Situation vor, also eine moderate Obstruktion des rechtsventrikulären Ausflusstraktes mit einer mäßig ausgepräg­ ten Zyanose (transkutane Sättigung >85%) besteht zunächst kein Handlungsbedarf. Liegt bereits eine ausgeprägte Zyanose beim Neugeborenen vor, muss von einer ductusabhängigen Pulmonalperfusion ausge­ gangen werden. Entsprechend besteht die initiale Therapie in der Infusion von Prostaglandin E1 zum Aufhalten oder Wiedereröffnen des Ductus arteriosus botalli. Bei Kindern mit hochgradiger Infundibulumstenose und ­zunehmender Zyanose kann eine β-Blockertherapie, z. B. mit Prop­ ranolol zur Prophylaxe des Infundibulumspasmus vorgenommen werden, um einen hypoxämischen Anfall zu verhindern. Im Falle eines hypoxämischen Anfalls kann als erste Maßnahme ein sog. „Taschenmessergriff“ durchgeführt werden, d. h. das Knie des Kindes gegen seine Brust gepresst werden, um den Systemwider­ stand zu erhöhen um damit den Rechts-links-Shunt zu vermindern.

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Akuttherapie des hypoxämischen Anfalls  Sofortige Sedierung, z. B. Morphin (0,1 mg/kgKG i.v.), Steigerung des Widerstands im Körperkreislauf (Pressen des gebeugten Knies des Kindes gegen die Brust), evtl. Infusion von Vasokonstriktoren (z. B. Noradrenalin). Volumenbolus 20–40 ml/kgKG, β-Blocker. Zur Rezidivprophylaxe ist eine Therapie mit einem β-Blocker p.o. erforderlich (z. B. Propra­ nolol 2–3 mg/kgKG/Tag in drei Einzeldosen). Das Therapieziel bei der TOF ist die operative Korrektur, die heute in der Regel zwischen dem 3. und 6. Lebensmonat durchge­ führt wird. Besteht eine hochgradige Pulmonalstenose mit hypo­ plastischem Pulmonalgefäßsystem, die mit einer hochgradigen Zya­ nose einhergeht, kann bei Neugeborenen oder jungen Säuglingen (180 ms). Ventrikuläre Arrhythmien gehen mit einem erhöhten Risiko für einen plötzlichen Herztod einher. Eine lebenslange kardiologische Nachsorge ist auch Jahre nach der Korrektur-OP erforderlich.

Pulmonalatresie mit VSD Die Pulmonalatresie mit Ventrikelseptumdefekt kann praktisch als Extremform der TOF bezeichnet werden. Durch die komplette Un­ terbrechung des Blutflusses vom rechten Ventrikel in die Pulmonal­ arterie besteht eine ductusabhängige Lungendurchblutung. Entspre­ chend der Morphologie besteht schon beim Neugeborenen eine Zyanose, die mit zunehmender Ductusenge aggraviert. Die Therapie besteht bei Neugeborenen in der Prostaglandin-E1-Infusion zur Of­ fenhaltung des Ductus. Je nach Zentrum wird dann, als zunächst palliativer Schritt, ein aortopulmonaler Shunt entweder operativ oder interventionell mittels Stentimplantation in den Ductus arte­ riosus geschaffen. Eine operative Korrektur mit Verschluss des Ven­ trikelseptumdefekts und Einsatz eines klappentragenden Conduits, also einer klappentragenden Kunststoffrohrs, zwischen rechtem Ventrikel und Pulmonalarterie, wird bei entsprechend ausreichen­ der Größe der Pulmonalgefäße im Laufe des ersten Lebenshalbjahres durchgeführt.

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20.3.2

Zyanotische Herzfehler mit vermehrter Lungendurchblutung

Komplette Transposition der großen Arterien ­(d-TGA) Die Häufigkeit der kompletten Transposition der großen Arterien (d-TGA) liegt bei ca. 3–4%. Es handelt sich um den zweithäufigsten zyanotischen Herzfehler. jjMorphologie und Hämodynamik Bei der TGA sind die großen Arterien vertauscht. Die Aorta ent­ springt aus dem rechten Ventrikel, der Pulmonalarterie aus dem linken Ventrikel. Es liegt also eine ventrikuloarterielle Diskordanz und eine atrioventrikuläre Konkordanz vor (. Abb. 20.13). Die ­Aorta liegt dabei anterior und rechts der Pulmonalarterie. Es liegt also eine Dextroposition der Aorta vor, daher d(extro)-TGA. Die Hämodynamik der d-TGA charakterisiert sich durch zwei parallel – und nicht hintereinander – geschaltete Kreisläufe. Ein Über­ leben ist nur möglich, wenn ein ausreichender Austausch zwischen den beiden Kreisläufen erfolgen kann. Dies sind bei der einfachen d-TGA (sog. simple TGA = Transposition der großen Arterien ohne weitere komplexe Fehlbildungen) eine intraatriale Kommunikation wie PFO oder ASD und der Ductus arteriosus botalli. Die Aorta entspringt aus dem rechten Ventrikel. Die Pulmonal­ arterie entspringt aus dem linken Ventrikel. Der rechte Ventrikel versorgt also den Systemkreislauf, während der linke Ventrikel den Lungenkreislauf versorgt. Ist der ASD, bzw. das offene Foramen ovale zu klein, kann nicht ausreichend O2-reiches Blut vom linken zum rechten Vorhof und somit in den Körperkreislauf gelangen. Daher kommt es bei restriktiver interatrialer Kommunikation zu einer ausgeprägten Zyanose. jjKlinik Leitsymptom ist eine Zyanose, die bereits wenige Stunden nach der Geburt auffällt. Besteht ein großer Vorhofseptumdefekt und ist der Ductus arteriosus botalli noch offen, ist die Zyanose geringer ausge­ prägt. Bei einer kleinen Vorhofseptumlücke und zunehmendem Verschluss des Ductus arteriosus kommt es zu einer schweren Zya­ nose. Diese Zyanose lässt sich durch O2-Gabe oder Intubation mit Beatmung nicht verbessern.

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nach Abfall des Lungenwiderstands nicht mehr ausreichend für eine Funktion als Systemventrikel trainiert ist. Bei komplexen Formen der TGA werden u. a. folgende Opera­ tionen durchgeführt: Rastelli-Operation, Translokationsoperation, Damus-Kaye-Stansel-Operation und bis in die Mitte der 1980er ­Jahre die Vorhofumkehroperation nach Mustard oder Senning. (Ausführliche Beschreibungen siehe Lehrbücher der Kinderkardio­ logie). jjPrognose und Verlauf Unbehandelt versterben 90% dieser Kinder im ersten Lebensjahr. Bei einer simplen TGA nach arterieller Switch-OP ist die Prognose sehr gut, man geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Die Komplikationsrate im weiteren Verlauf liegt bei 5–10%. Hierbei sind v. a. Koronararterienstenosen, Stenosen der Pulmonalarterien, die durch das Umsetzen bei der Operation entstehen, zu nennen. ­Zusätzlich sieht man häufig eine Dilatation der Aortenwurzel mit Entwicklung einer Aortenklappeninsuffizienz. ..Abb. 20.13  Transposition der großen Arterien. Die Aorta entspringt aus dem rechten Ventrikel, die Pulmonalarterie aus dem linken Ventrikel. Es ­liegen in diesem Fall zwei parallele Kreisläufe, anstatt hintereinander geschaltete Kreisläufe vor. Ein Überleben ist nur möglich, wenn ein ausreichender Austausch zwischen den beiden Kreisläufen erfolgen kann. Dies sind z. B. eine intraatriale Kommunikation wie PFO oder ASD und der ­Ductus arteriosus botalli oder eine zusätzliche Fehlbildung wie ein VSD

>> Bei einem zyanotischen Neugeborenem ohne pulmonale ­Ursache und in relativ guten, vitalen Allgemeinzustand sollte in erster Linie an eine TGA gedacht werden.

j jDiagnostik Bei der TGA ohne zusätzliche kardiale Fehlbildungen ist normaler­ weise kein Herzgeräusch auskultierbar. Die Verdachtsdiagnose wird aufgrund der Klinik gestellt und echokardiographisch bestätigt. In der Echokardiographie kann die TGA, eine evtl. Restriktion der interatrialen Kommunikation und der Ductus arteriosus botalli dar­ gestellt werden. Im Thoraxröntgenbild zeigt sich eine charakteristi­ sche Konfiguration, die eiförmig mit schmalem Gefäßband impo­ niert.

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j jTherapie Sobald der Verdacht auf eine Transposition der großen Arterien be­ steht, sollte eine Infusion mit Prostaglandin E1 begonnen werden. Besteht eine restriktive interatriale Kommunikation muss zeitnah eine Ballonatrioseptostomie (Rashkind-Manöver) durchgeführt werden. Dabei wird über die Nabelvene oder die V. femoralis, ein Ballonkatheter eingeführt. Dieser wird über das Foramen ovale in den linken Vorhof vorgeschoben, dann mit Flüssigkeit gefüllt und kräftig zurückgezogen. Dadurch wird das Vorhofseptum eingeris­ sen, und die Vorhoflücke deutlich vergrößert. Dieser Eingriff ist in der Regel auf der Intensivstation unter echokardiographischer Kon­ trolle möglich und muss nicht im Herzkatheterlabor durchgeführt werden. Bei einfacher Transposition der großen Arterien erfolgt die Korrektur-OP in Form der arteriellen Switch-OP. Dabei werden Aorta und Pulmonalarterie abgesetzt und umgesetzt. Zusätzlich müssen die Koronararterien mit einer Gefäßmanschette ausgeschnitten und in die Neoaorta eingesetzt werden. Die arterielle Switch-Operation sollte in den ersten Lebenstagen, bzw. in den ersten zwei Lebens­ wochen, durchgeführt werden, da ansonsten der linke Ventrikel

Totale Lungenvenenfehlmündung Bei der totalen Lungenvenenfehlmündung (TAPVR) liegt eine feh­ lerhafte Einmündung aller Lungenvenen vor. Die Lungenvenen drai­ nieren in den rechten statt in den linken Vorhof oder in ein venöses Gefäß, das mit dem rechten Vorhof in Verbindung steht. Der Anteil an angeborenen Herzfehlern beträgt ca. 1%. jjMorphologie und Hämodynamik Die TAPVR wird im Wesentlichen in folgende Formen eingeteilt: 44 TAPVR vom suprakardialen Typ (55%; . Abb. 20.14a): Die Lungenvenen drainieren hier in einen gemeinsamen Konflu­ enz, der hinter dem linken Vorhof liegt und über eine nach kranial verlaufende Vene (V. verticalis) in die V. anonyma mündet. Über diese strömt das Blut dann über die obere Hohl­ vene in den rechten Vorhof. 44 TAPVR vom kardialen Typ (30%; . Abb. 20.14b): Die Lungen­ venen münden, entweder mit einem kurzem gemeinsamen Stamm oder separat, in den rechten Vorhof oder in den Sinus coronarius. 44 TAPVR vom infrakardialer Typ (ca. 13%; . Abb. 20.14c): Die Lungenvenen münden in einen Konfluenz, der über eine Vene, die hinter dem Herzen nach kaudal verläuft, durch das Zwerch­ fell tritt und in die Vv. portae oder den Ductus venosus eintritt und von dort in die untere Hohlvene. Gemischte Formen sind selten und haben häufig eine schlechtere Prognose. Zusätzlich kann noch eine Lungenvenenobstruktion vor­ liegen. Das gesamte Blut des Lungenvenensystems gelangt über unter­ schiedliche Gefäßverbindungen in den rechten Vorhof. Es liegt also ein Links-rechts-Shunt mit Volumenbelastung der rechtsseitigen Herzhöhlen sowie des Lungenkreislaufs vor. Das Lungenvenenblut kann nur durch einen ASD auf die linke Seite gelangen, d. h. hier gelangt sowohl systemvenöses als auch pulmonalvenöses Blut über den ASD auf die linke Seite und somit in den Körperkreislauf. Es liegt also Mischblut vor. jjKlinik Symptome einer TAPVR sind abhängig davon, ob eine pulmonal­ venöse Obstruktion vorliegt oder nicht. Bei einer TAPVR ohne Lungenvenenobstruktion sind die ­Patienten oft relativ asymptomatisch. Aufgrund der pulmonalen ­Rezirkulation ist die Zyanose meistens nur moderat mit transkuta­

473 Herz und Gefäße

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..Abb. 20.14  Totale Lungenvenenfehlmündung. a TAPVR vom suprakardialen Typ: Die Lungenvenen drainieren hier in einen gemeinsamen Konfluenz, der hinter dem linken Vorhof liegt und über eine nach kranial verlaufende Vene (V. verticalis) in die V. anonyma mündet. Über diese strömt das Blut dann über die obere Hohlvene in den rechten Vorhof. b TAPVR vom kardialen Typ: Die Lungenvenen münden, entweder mit einem kurzen ge-

meinsamen Stamm oder separat, in den rechten Vorhof oder in den Sinus coronarius. c TAPVR vom infrakardialer Typ: Die Lungenvenen münden in einen Konfluenz, der über eine Vene (die hinter dem Herzen nach kaudal verläuft) durch das Zwerchfell tritt und in die Vv. portae oder den Ductus venosus eintritt und von dort in die untere Hohlvene

nen Sättigungen um 90%. Im Verlauf stehen Herzinsuffizienzzeichen im Vordergrund. Patienten mit einer TAPVR mit Lungenvenenobstruktion sind schwer erkrankt mit ausgeprägter Zyanose und Dyspnoe, die sich bereits innerhalb der ersten Lebensstunden entwickeln kann. Zu­ sätzlich entwickelt sich bei ausgeprägter Lungenvenenobstruktion schnell ein Lungenödem. Klinisch kann das Krankheitsbild einem ausgeprägten Atemnotsyndrom ähneln und damit die Diagnosestel­ lung verzögern.

ration sollte innerhalb der ersten drei Lebensmonate durchgeführt werden. Besteht eine restriktive Vorhofkommunikation, kann mit­ tels eines Herzkatheters ein Rashkind-Manöver durchgeführt wer­ den, um einen ausreichenden Shunt auf Vorhofebene zu ermögli­ chen. Eine TAPVR mit Lungenvenenobstruktion stellt eine kritische Situation dar. Eine umgehende Operation ist indiziert. Bei der Korrekturoperation ist das Ziel den Lungenvenenkonflu­ enz breitbasig mit dem linken Vorhof über eine weite Anastomose zu verbinden.

jjDiagnose Der Auskultationsbefund ist unspezifisch, und nicht richtungs­ weisend. Im Thoraxröntgenbild zeigt sich bei ausgeprägter Lungen­ venenobstruktion eine deutlich vermehrte retikuläre Lungenzeich­ nung, evtl. mit Zeichen der Lungenvenenstauung und eines Lungen­ ödems. Beim suprakardialen Typ der TAPVR findet sich eine sog. Schneemannform des Herzens, die pathognomonisch für diesen Herzfehler ist. Die Diagnosestellung erfolgt ansonsten in den meis­ ten Fällen echokardiographisch. Auffällig sind ein kleiner linker Vorhof sowie ein deutlich vergrößerter rechter Vorhof und Ventrikel und ein Rechts-links-Shunt auf Vorhofebene. Teils lässt sich hinter dem linken Vorhof ein Sammelgefäß darstellen. Bei der TAPVR vom suprakardialen Typ findet sich hier ein deutlicher Fluss in eine dila­ tierte obere Hohlvene. Bei einer TAPVR in den Koronarsinus findet sich dieser dilatiert. Bei einer TAPVR vom infrakardialen Typ kön­ nen sich dilatierte venöse Gefäße in der Leber finden.

jjPrognose Bestehen keine assoziierten Fehlbildungen und besteht keine Lun­ genvenenobstruktion, ist die körperliche Belastbarkeit und die Pro­ gnose sehr gut. Der postoperative Verlauf kann durch neu oder wie­ der auftretende pulmonalvenöse Obstruktionen kompliziert wer­ den, und damit auf lange Sicht die Prognose verschlechtern.

>> Der Nachweis von Lungenvenen kann schwierig sein. Ins­ besondere bei kleinem linken Vorhof und vergleichsweise großem rechten Vorhof und rechtem Ventrikel sollten die ­Lungenvenen dargestellt werden. Ist dies echokardiographisch nicht ausreichend möglich, kann eine Herzkatheter­ untersuchung oder eine MRT-Untersuchung des Herzens ­erwogen werden.

jjTherapie Besteht keine Lungenvenenobstruktion, steht die konservative ­Therapie der möglicherweise auftretenden Herzinsuffizienz bis zur operativen Korrektur zunächst im Vordergrund. Die Korrekturope-

Truncus arteriosus communis Der Truncus arteriosus communis (TAC) hat nur einen Anteil von etwa 1% aller angeborenen Herzfehler und ist häufig (70%) mit einer Mikrodeletion 22q11 assoziiert. jjMorphologie und Hämodynamik Beim TAC ist die Trennung zwischen Aorta und Pulmonalarterie unvollständig geblieben, d. h. es entspringt nur ein großes arterielles Gefäß mit einer Taschenklappe (Truncusklappe) aus beiden Ventri­ keln. Zusätzlich liegt praktisch immer ein großer MalalignmentVSD vor, der Truncus überreitet sozusagen den Ventrikelseptumde­ fekt, und versorgt sowohl den systemischen als auch den pulmonalen Kreislauf (. Abb. 20.15). Die Truncusklappe ist häufig dysmorph verdickt, weist eine variable Anzahl von Taschen auf und ist häufig insuffizient. Ein rechter Aortenbogen ist häufig. Es gibt unterschiedliche anatomische Variationen des TAC. Am häufigsten entspringen Aorta und Pulmonalarterie aus einem ge­ meinsamen Gefäß oder Stamm. Die Pulmonalarterie zweigt sich dann kurz nach ihrem Ursprung in ihre Äste auf. Aufgrund des großen Ventrikelseptumdefekts besteht ein Druckangleich zwischen beiden Ventrikeln. Es kommt zu einer ­Mischung von system- und pulmonalvenösem Blut. Dieses Misch­

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phisch gestellt. Dabei zeigt sich ein einzelnes, großes Gefäß, das ei­ nen großen Ventrikelseptumdefekt überreitet. Der Ursprung der Pulmonalarterien aus diesem Truncus ist, je nach Typ, nicht immer einfach zu visualisieren. Die Truncusklappe kann mit Anzahl der Taschen, Stenose und Insuffizienzkomponente dargestellt werden. Zusätzlich wird der Aortenbogen dargestellt mit evtl. begleitenden Anomalien wie einem rechtsdeszendierenden Aortenbogen, Aorte­ nisthmusstenose oder einem unterbrochenen Aortenbogen. Sind die Pulmonalarterien nicht adäquat darstellbar, sollte eine erweiterte Diagnostik in Form einer MRT-Untersuchung oder eine Herzkatheteruntersuchung erwogen werden.

..Abb. 20.15  Truncus arteriosus communis. Ein großes gemeinsames arterielles Gefäß (1) entspringt aus dem Herzen über einem Ventrikelseptumdefekt (2). Die Pulmonalarterie entspringt hier aus dem Truncusstamm

blut fließt dann sowohl in den System- als auch in den Pulmonal­ kreislauf. Nach Abfall des Lungenwiderstands in der Neugeborenen­ zeit kann es durch den geringeren Widerstand im Lungenkreislauf zu einem Überwiegen der Lungendurchblutung kommen. Klinisch imponiert in diesen Fällen die Herzinsuffizienz. Die arterielle O2Sättigung hängt vom Grad der Lungendurchblutung ab. jjKlinik Die Klinik ist, entsprechend der Hämodynamik, abhängig von der Lungendurchblutung. Bestehen gut ausgebildete Pulmonalarterien, sind die Leitsymptome eine zunehmende Herzinsuffizienz als Folge der Lungenüberflutung. Ist die Lungendurchblutung vermindert, durch z. B. vorliegende Stenosen oder hypoplastische Pulmonalarte­ rien, steht die Zyanose im Vordergrund. jjDiagnostik Der zweite Herzton ist singulär. Das EKG ist meist unspezifisch. Es zeigt sich eine biventrikuläre Hypertrophie. Im Thoraxröntgenbild zeigt sich schon früh eine Kardiomegalie, evtl. mit vermehrter Pul­ monalgefäßzeichnung. Die Diagnose wird meist echokardiogra-

jjTherapie Die Therapie besteht initial in der Behandlung der Herzinsuffizienz. Liegt ein unterbrochener Aortenbogen vor, muss zum Offenhalten des Ductus arteriosus mit Prostaglandin E1 begonnen werden. Da in den meisten Fällen eine übermäßige Lungendurchblutung über­ wiegt, sollte trotz vorliegender Zyanose kein Sauerstoff appliziert werden, da dadurch der Lungenwiderstand weiter gesenkt und die Herzinsuffizienz verstärkt wird. In der Regel wird eine Korrektur­ operation in den ersten Lebensmonaten angestrebt, da es schon früh zu einer fixierten pulmonalen Hypertension kommen kann. Dabei wird der Ventrikelseptumdefekt so verschlossen, dass der Truncus arteriosus zur Aorta wird, also ausschliesslich aus dem linken Ven­ trikel entspringt. Die Pulmonalarterien werden vom Truncus abge­ setzt und mit einem klappentragenden Conduit mit dem rechten Ventrikel verbunden. Liegt zusätzlich eine Aortenbogenanomalie oder ein unterbrochener Aortenbogen vor, wird dieser meist in der gleichen Operation mit korrigiert.

Trikuspidalatresie Die Trikuspidalatresie (TAT) zählt zu den seltenen, komplexen ­Vitien und hat einen Anteil von ca. 1–2% aller angeborenen Herz­ fehler. Jungen sind etwas häufiger betroffen. jjMorphologie und Hämodynamik Es besteht eine Agenesie bzw. Atresie der Trikuspidalklappe. Es gibt somit keine direkte Verbindung zwischen dem rechten Vorhof und dem rechten Ventrikel. Die Einteilung der Trikuspidalatresie erfolgt nach Stellung der großen Gefäße (Normal- oder Transpositionsstel­ lung), dem Vorhandensein eines Ventrikelseptumdefekts und dem Grad der Pulmonalarteriendurchblutung (ohne Pulmonalstenose, Pulmonalstenose, Pulmonalatresie; . Abb. 20.16).

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a ..Abb. 20.16  Trikuspidalatresie. Agenesie/Atresie der Trikuspidalklappe (1). Das venöse Blut fließt aus dem rechten Vorhof durch den Vorhofseptumdefekt (2) in den linken Vorhof. Der (kleine) rechte Ventrikel (3) erhält Blut aus dem linken Ventrikel über einen Ventrikelseptumdefekt. Die großen

b ­ rterien können in normaler Stellung (a) oder in Transpositionsstellung (b) A aus dem jeweiligen Ventrikel entspringen. Gelegentlich ist ein offener ­Ductus (4) nachweisbar

475 Herz und Gefäße

Entsprechend der Morphologie ist die Hämodynamik definiert. Das gesamte Herz-Zeit-Volumen muss vom rechten Vorhof über eine Vorhoflücke in den linken Vorhof und den linken Ventrikel gelangen. Hier liegt nun das gesamte system- und pulmonalvenöse Blut als Mischblut vor und kann nur über einen VSD in den rechten Ventrikel gelangen. Die Lungen- und Systemperfusion ist abhängig von der Stellung der großen Arterien sowie vom Grad der Pulmo­ nalstenose. Liegt eine Normalstellung der großen Arterien vor, wird die Lunge über einen Ventrikelseptumdefekt durchblutet, das Misch­ blut gelangt über den rechten Ventrikel und die Pulmonalarterien­ in den Lungenkreislauf. Beim Vorliegen einer Pulmonalatresie­ mit intaktem Ventrikelseptum ist die Lungendurchblutung duc­ tusabhängig. jjKlinik Entsprechend der Hämodynamik ist auch die Klinik abhängig von der Morphologie: 44 Es besteht durch den Rechts-links-Shunt auf Vorhofebene be­ reits im Neugeborenenalter eine Zyanose. Diese ist v. a. bei Vorliegen einer Pulmonalatresie/-stenose ausgeprägt. 44 Besteht keine Pulmonalstenose stehen durch die Lungenüber­ flutung Herzinsuffizienzzeichen im Vordergrund. 44 Bei restriktivem ASD können venöse Stauungszeichen mit Hepatosplenomegalie und Ödemen hinzukommen. jjDiagnostik Je nach Vorhandensein einer Pulmonalstenose kann entsprechend ein Systolikum mit p.m. über dem 2./3. ICR vorliegen. Im EKG zeigt sich häufig ein Linkstyp bis überdrehter Linkstyp. >> Ein Neugeborenen-EKG mit Linkstyp sollte immer den Verdacht auf eine Trikuspidalklappenatresie lenken.

Zusätzlich kann auch ein P-dextrokardiale bestehen (hohes, spitzes P). Im Thoraxröntgenbild zeigt sich je nach Grad der Pulmonalste­ nose eine vermehrte oder verminderte Lungendurchblutung. Die Diagnose der Trikuspidalklappenatresie wird echokardiographisch gestellt. Dabei imponieren offensichtlich die Trikuspidal­ klappenatresie sowie ein auffällig kleiner rechter Ventrikel und ein obligater Rechts-links-Shunt auf Vorhofebene. Echokardiographisch muss geklärt werden, ob der ASD ausreichend groß ist. Weiterhin wird die Stellung der großen Gefäße, Vorhandensein und Größe ­eines Ventrikelseptumdefekts und v. a. die Beurteilung der Pulmo­ nalklappe (liegt eine Atresie, Stenose oder keine Stenose vor) beur­ teilt. Eine Herzkatheteruntersuchung ist zur Diagnostik nicht ­routinemäßig notwendig. Bei restriktivem ASD wird eine Ballon­ atrioseptostomie durchgeführt. jjTherapie Besteht eine ductusabhängige Lungenperfusion, wird eine Infusion mit Prostaglandin E1 durchgeführt. Besteht eine Herzinsuffizienz, wird eine antikongestive Therapie begonnen. Ähnlich wie bei der Fallot-Tetralogie kann es auch bei einer Trikuspidalatresie zu hypoxämischen Anfällen kommen. Dies kann insbesondere bei einem kleinen bzw. restriktiven VSD und Normalstellung der großen Ge­ fäße vorkommen. Es kommt im Prinzip zu einer dynamischen ­Zunahme der Pulmonalstenose bzw. Abnahme des pulmonalarte­ riellen Blutflusses. Das Vorgehen hier entspricht dem Vorgehen bei einen hypoxämischen Anfalls bei einer Fallot-Tetralogie (7 Abschn. 20.3.1.1). Das längerfristige Therapieziel ist die univentrikuläre Kreislauftrennung nach Fontan. Besteht hingegen ein vermehrter Lungendurchfluss, kann zu­ nächst durch ein sog. pulmonalarterielles Banding, der Fluss ge­

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drosselt werden und so das Lungengefäßbett vor Überflutung und letztendlich auch pulmonaler Hypertension geschützt werden, um dann die Kreislauftrennung nach Fontan vorzunehmen. kkFontan-Zirkulation Die Fontan-OP wird immer dann angestrebt, wenn eine Korrektur im eigentlichen Sinne nicht möglich ist. Neben der Trikuspidalatre­ sie gibt es eine Gruppe heterogener, komplexer Herzfehler, die einem funktionell univentrikulären Herzfehler entsprechen. Diese Herz­ fehler können sich morphologisch stark voneinander unterscheiden. Bei der sog. Fontanisierung wird eine Trennung von Lungen- und Systemkreislauf erreicht. Die Lungen werden danach passiv ohne Unterstützung eines Ventrikels durchblutet. Die Kreislauftrennung wird in der Regel mindestens zweizeitig vorgenommen. Besteht eine ductusabhängige Pulmonalperfusion oder eine hochgradig vermin­ derte Lungenperfusion ist eine zusätzliche Operation notwendig. Dann wird noch im Neugeborenalter ein aortopulmonaler Shunt angelegt. Im Alter von 4–6 Monaten wird zunächst eine Glenn-Anastomose (V. cava superior anastomosiert an die Pulmonalarterie,) durchgeführt (. Abb. 20.17a). Schließlich wird im Alter von 2½ und 3 Jahren die Komplettie­ rung der Fontan-Zirkulation durchgeführt. Hierbei wird das Blut der unteren Hohlvene über einen lateralen oder extrakardialen Tun­ nel direkt zum Pulmonalarteriensystem geleitet (. Abb. 20.17b). Nach diesem Schritt fließt das gesamte venöse Blut passiv in die Lungenarterien, die Fontan-Zirkulation ist komplett. Häufig wird noch eine kleine Fenestrierung als Überlaufventil vom Fontan-­ Tunnel zum Vorhof geschaffen. Ohne Fenestrierung besteht nach Fontan-Komplettierung in der Regel keine Zyanose mehr. Die Fontan-Operation und ihre Modifikation werden nun seit fast 50 Jahren durchgeführt. Nach einer Fontan-Operation besteht zunächst eine gute körperliche Belastbarkeit, allerdings erreichen diese Patienten im Vergleich zu einem gesunden Kollektiv nur ca. 60–70% der körperlichen Leistungsfähigkeit. Mit der Zeit kommt es zu einer abnehmenden Leistungsfähigkeit, evtl. mit erneut auftre­ tender Zyanose, Ödemen sowie Pleura- oder Perikardergüsse. Die Prognose ist im Wesentlichen auch davon abhängig, ob der System­ ventrikel ein rechter oder linker Ventrikel ist. Der linke Systemven­ trikel kann die hämodynamischen Anforderungen besser erfüllen und ist somit mit einem besseren Outcome assoziiert. Langzeitkom­ plikationen nach der Komplettierung der Fontan-Zirkulation sind ein erhöhtes Thromboserisiko, Herzrhythmusstörungen und eine zunehmende Funktionseinschränkung des Systemventrikels. Eine schwere, jedoch seltene Komplikation ist das sog. Eiweißverlustsyn­ drom. Hierbei kommt es zu Eiweißverlust über die Darmwand. Der Mechanismus hierfür ist immer noch nicht vollständig verstanden. Durch den Verlust von Eiweiß kommt es zur Ausbildung von Ergüs­ sen (Pleura- und Perikardergüsse) und Aszites. Durch den Verlust von Immunglobulinen haben diese Patienten ein erhöhtes Risiko für gehäufte Infekte bis hin zu letal verlaufenden Septitiden. Die FontanZirkulation stellt somit keine Korrektur, sondern nur eine Palliation dar. Mit nachlassender systemventrikulärer Funktion, zunehmender Verschlechterung der Fontan-Zirkulation sowie wiederholt auftre­ tenden Komplikationen bleibt nur noch die Herztransplantation als ultima ratio.

Hypoplastisches Linksherzsyndrom Das hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) ist selten mit­ ca. 1–2% aller angeborenen Herzfehler. Es ist unbehandelt die häu­ figste Todesursache in der ersten Lebenswoche. Jungen sind deutlich häufiger betroffen.

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a ..Abb. 20.17  Fontan-Zirkulation. Bei der sog. Fontanisierung wird eine Trennung von Lungen- und Systemkreislauf erreicht. Die Lungen werden danach passiv ohne Unterstützung eines Ventrikels durchblutet. Die Kreislauftrennung wird in der Regel mindestens zweizeitig vorgenommen. a Im Alter von 4–6 Monaten wird zunächst eine obere kavopulmonale Anasto-

b mose angelegt (sog. Glenn-OP), dabei wird die V. cava superior vom rechten Vorhof getrennt und mit der Pulmonalarterie anastomosiert. b Im Alter von 2–3 Jahren wird die Fontan-Zirkulation komplettiert, indem ein Tunnel von der V. cava inferior an die Pulmonalarterie angeschlossen wird

j jMorphologie und Hämodynamik Das HLHS beschreibt eine Gruppe von Fehlbildungen bei denen die Aorten- und Mitralklappe entweder atretisch oder stenotisch sind, und die mit einer Hypoplasie des linken Ventrikels einhergehen (. Abb. 20.18). Teils werden auch andere Herzfehler, bei denen der linke Ventrikel hypoplastisch ist, zu dieser Gruppe gezählt, z. B. der imbalancierte AV-Kanal. Das Ausmaß der Hypoplasie der linkssei­ tigen Strukturen kann stark variieren. Wichtig ist, dass bereits intrauterin eine ausreichend große Vor­ hofkommunikation besteht, damit es nicht zu einer pulmonalvenö­ sen Stauung kommt. Beim hypoplastischen Linksherzsyndrom liegt eine systemabhängige Ductusperfusion vor. j jKlinik Die Diagnose wird heutzutage in den meisten Fällen pränatal ­gestellt, sodass bereits kurz nach der Geburt mit einer Prostaglandin-E1Applikation begonnen wird. Ansonsten kommt es mit Verschluss des Ductus arteriosus botalli zu einer akuten Verschlechterung in­ nerhalb der ersten Lebenstage (Tachykardie, Tachypnoe, blass-grau­ es Hautkolorit). Es imponieren neben einer zunehmenden Zyanose Zeichen einer globalen Herzinsuffizienz bis hin zum kardiogenen Schock. !! Cave

20

Die O2-Gabe führt zur pulmonalen Vasodilatation. Unkritische O2-Gaben führen zu einem ausgeprägten Links-rechts-Shunt mit Verschlechterung der ductusabhängigen Systemper­ fusion und triggern den Ductusverschluss. Dies kann beim HLHS letale Folgen haben und sollte daher strikt vermieden werden!

j jDiagnostik Die Diagnose wird echokardiographisch gestellt. Dabei wird der kleine hypoplastische linke Ventrikel dargestellt. Die Aorten- und Mitralklappe sind hypoplastisch oder atretisch. Es besteht ein Linksrechts-Shunt auf Vorhofebene. Dabei muss festgestellt werden, ob eine Restriktion auf Vorhofebene besteht. Wichtig ist es, den Ductus

..Abb. 20.18  Hypoplastisches Linksherzsyndrom. Das hypoplastische Linksherzsyndrom ist durch eine Hypoplasie des linken Ventrikels (LV) und der Aorta ascendens (AO) gekennzeichnet. Der rechte Ventrikel (RV) ist der einzige funktionsfähige Ventrikel. Die Systemperfusion in die Aorta descendens sowie die retrograde Perfusion der atretischen Aorta ascendens erfolgt über den Ductus Botalli. RA rechter Vorhof, LA linker Vorhof, PA Pulmonalarterie

arteriosus botalli darzustellen, um zu sehen, ob hier eine Stenose besteht. Abhängig von der Morphologie des Ductus muss die Pros­ taglandin-E1-Dosierung gesteuert werden. Zusätzliche Fehlbildungen wie ein Ventrikelseptumdefekt­ oder eine Aortenisthmusstenose sollten ebenso erkannt und erfasst werden. jjTherapie Das Therapieziel beim HLHS ist, wie bei anderen funktionell uni­ ventrikulären Herzen, die Fontan-Zirkulation. Allerdings ist das

477 Herz und Gefäße

20.4

Entzündliche Herzerkrankungen

20.4.1

Myokarditis

Eine Myokarditis ist eine Entzündung des Herzmuskels, die im Kin­ desalter am häufigsten durch eine Virusinfektion ausgelöst wird. Bei einer Myokarditis kommt es durch die Entzündung zu einer Schädi­ gung der Kardiomyozyten und damit verbunden zum Untergang von Herzmuskelgewebe. Da die Myokarditis asymptomatisch ver­ laufen kann, wird sie wahrscheinlich häufig nicht erkannt. Daher ist die Inzidenz im Kindesalter unklar. Bei autoptischen Untersuchun­ gen bei Kindern und Jugendlichen die am plötzlichen Herztod ver­ starben fanden sich bei bis zu 21% entzündliche Veränderungen im Myokard im Sinne einer Myokarditis.

..Abb. 20.19  Giessen-Hybrid-Procedure Stage I. Zur Sicherstellung der System- und Koronarperfusion wird ein Stent im Ductus arteriosus während einer Herzkatheteruntersuchung perkutan implantiert. Zur Vermeidung ­einer pulmonalen Überflutung und Optimierung der Systemperfusion wird chirurgisch ein bilaterales pulmonales Banding durchgeführt

hypoplastische Linksherzsyndrom der Herzfehler mit der ungüns­ tigsten Prognose und höchsten Letalität bis zum Erreichen einer Kreislauftrennung. Die klassische Vorgehensweise besteht darin das Kind zunächst mit Prostaglandin E1 zu stabilisieren und eine evtl. restriktive Vor­ hoflücke mittels Ballonatrioseptostomie zu behandeln, um dann in der ersten oder zweiten Lebenswoche die sog. Norwood-Opera­ tion I durchzuführen. Bei der Norwood-I-Operation wird der Stamm der Pulmonalarterie mit der hypoplastischen Aorta ascen­ dens anastomosiert und so eine Neoaorta geschaffen. Der Aorten­ bogen wird mittels Patch erweitert und die Lungenperfusion wird entweder über einen aortopulmonalen Shunt oder über einen sog. Sano-Shunt (Implantation eines Conduits zwischen rechtem Ventri­ kel und Pulmonalarterie) sichergestellt. Als zweiter Schritt erfolgt mit 4–6 Monaten die sog. Norwood-II-Operation, die einer GlennOperation entspricht (7 Abschn. 20.3.2.4) durchgeführt, um dann im Alter von 2½–3 Jahren die Kreislauftrennung (Norwood-III-Operation) zu komplettieren. Alternativ kann das sog. Hybridverfahren (Katheterinterventi­ on plus Operation) durchgeführt werden, sodass keine Herzopera­ tion mit Herz-Lungen-Maschine im Neugeborenenalter notwendig ist (. Abb. 20.19). Erhoffte Vorteile dieses Verfahrens sind neben der damit geringeren perioperativen Letalität, die beim klassischen Vor­ gehen bis zur Kreislauftrennung um die 30–50% beträgt, Vermei­ dung von Hirnschäden und Verbesserung der neurologischen Ent­ wicklung, wenn eine Operation mit Herz-Lungen-Maschine in der vulnerablen Neugeborenenzeit vermieden werden kann. Das ­Outcome der unterschiedlichen Operationsarten ist aktuell noch Gegenstand mehrerer Studien. (Weitere Informationen 7 Lehr­ bücher Kinderkardiologie). jjPrognose und Verlauf Beim HLHS handelt es sich um den Herzfehler mit der schlechtesten Prognose und der höchsten postoperativen Letalität. Nach einer Fontan-Operation muss davon ausgegangen werden, dass der rechte Ventrikel als Systemventrikel früher zu einer Dysfunktion führen wird – mit den entsprechenden begleitenden Komplikationen.

jjPathogenese Als Folge einer Infektion kommt es zu einer Entzündung mit Infiltra­ tion von Entzündungszellen. Die akute Entzündungsreaktion zerstört myokardiale Zellen. Die meisten Myokarditen heilen folgenlos ab. Resultat einer narbigen Defektheilung kann eine funktionelle Schä­ digung des Herzmuskels sein, z. B. eine chronisch dilatative Kardio­ myopathie (DCM) mit entsprechend schwerem Krankheitsverlauf. Die Myokarditis zeichnet also durch 3 Stadien aus: 1. Phase: Akutphase → Entzündung mit Nekrose und Apoptose (mononukleäre Infitlration), 2. Phase: Subakutphase → Aktivierung des Immunsystems, 3. Phase: Ausheilungsphase mit Fibrosierung, bei Persistenz → DCM. jjKlinik Das klinische Bild einer akuten Myokarditis kann von asymptoma­ tischen Fällen bis hin zum fulminanten Verlauf mit kardiogenem Schock und plötzlichem Herztod reichen. Neugeborene und junge Säuglinge zeigen häufig das Bild einer Herzinsuffizienz mit unspe­ zifischen Symptomen einer Infektion, Trinkschwäche, Husten als Hinweis auf ein Lungenödem und deutlich vermehrtes Schwitzen. Bei älteren Kindern und Jugendlichen findet sich anamnestisch häu­ fig eine Virusinfektion, die dem Krankheitsbeginn 10–14 Tage vor­ ausging. Die Patienten klagen über einen Leistungsknick, evtl. über thorakale Schmerzen mit präkordialem Stechen, z. T. zeigen sich neu aufgetretene Herzrhythmusstörungen wie supraventrikuläre oder ventrikuläre Extrasystolen, Arrhythmien und AV-Blockierungen. jjDiagnostik Die Diagnose wird aufgrund der laborchemischen Befunde, des EKG, der Echokardiographie und evtl. weiterer bildgebender Unter­ suchungen sowie letztendlich durch histologische und immunhisto­ logische Befunde gestellt. In der Labordiagnostik findet sich als Bio­ marker der myokardialen Schädigung evtl. noch eine Erhöhung des Troponins oder der Kreatinkinase (CK). Normwertige myokardiale Enzyme schließen eine Myokarditis allerdings nicht aus. EKG  Am häufigsten zeigen sich neben einer Sinustachykardie ­ epolarisationsstörungen. In schweren Fällen können auch Infarkt­ R zeichen vorhanden sein. >> Bei neu aufgetretenen Herzrhythmusstörungen, z. B. ventrikuläre Extrasystolen sollte eine Myokarditis in die differenzialdiagnostischen Überlegungen eingeschlossen werden.

Echokardiographie  Häufig findet sich nur eine geringfügig ver­ schlechterte ventrikuläre Funktion, die noch nicht zu einer Dilata­

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478

M. Khalil

tion des Ventrikels geführt hat. Die Unterscheidung zwischen einer dilatativen Kardiomyopathie und einer akuten Myokarditis kann nicht immer sicher gestellt werden. MRT  Mittels MRT mit Kontrastmittel, der sog. Late-enhancement-

Technik, kann neben der Funktionseinschränkung evtl. das Ausmaß der Entzündung im Herzmuskel dargestellt werden.

Herzkatheteruntersuchung  Die Hauptindikation für eine Herz­

katheteruntersuchung ist die Durchführung einer Endomyokard­ biopsie. Mit dieser ist die Diagnose einer Myokarditis möglich. Er­ gänzend sollte zusätzlich noch eine Koronaranomalie als Ursache einer eingeschränkten Funktion ausgeschlossen werden.

jjTherapie Bisher liegen keine klinischen Studien zur spezifischen Therapie der Herzinsuffizienz vor. Am häufigsten wird eine initiale Bettruhe und anschließend die körperliche Schonung für 3–6 Monate empfohlen. Weiterhin sollte eine evtl. bestehende Herzinsuffizienz medikamen­ tös behandelt werden. In der Akutphase wird häufig eine Therapie mit Immunglobulinen (1–2 g/kgKG über 48 h) empfohlen, da es Hinweise für eine Verbesserung der linksventrikulären Funktion bei akuter Myokarditis gibt. Der Einsatz von Immunsuppressiva hat sich bisher nicht durchgesetzt, da bisher kein Vorteil gegenüber einer rein symptomatischen Therapie nachgewiesen werden konnte. j jPrognose Die Mehrzahl der Myokarditen heilt folgenlos aus. Bei Neugebore­ nen scheint die Mortalität am höchsten zu sein. Ein Teil der Myokar­ diten kann in eine dilatative Kardiomyopathie übergehen, die mit einem schweren Krankheitsverlauf und hoher Mortalität assoziiert ist. 20.4.2

Infektiöse Endokarditis

Die infektiöse Endokarditis ist eine überwiegend bakteriell be­ dingte Infektion der endokardialen Strukturen des Herzens. Sie kann in akuter oder subakuter Form vorliegen. Eine Endokarditis kann auch Fremdmaterial wie chirurgisches Patchmaterial, künstliche ­Gefäßprothesen und künstliche Herzklappen betreffen. Die Endo­ karditis kommt fast ausschließlich bei Patienten mit angeborenem Herz­fehler oder erworbener struktureller Läsion (wie Patienten nach chirurgischen Eingriffen) vor. Endokarditiden betreffen zum überwiegenden Teil die Klappen des Systemkreislaufs. Pulmonalund Trikuspidalklappe können bei i.v.-Drogenabhängigen befallen sein.

20

j jPathogenese Bei vielen angeborenen oder erworbenen Herzfehlern bestehen durch Stenosen oder Kurzschlussverbindungen turbulente Blut­ strömungen, die eine Endokardläsion verursachen können. Sekun­ där kommt es zur Apposition von Thrombozyten und Fibrin, auf die sich im Laufe einer Bakteriämie Erreger ansiedeln können. Diese sog. endokarditischen Vegetationen können dann durch eine fort­ schreitende Entzündungsreaktion zu ulzerativen Gewebeeinschmel­ zungen führen. Ferner kann es zur Embolisation dieser Vegetation mit nachfolgenden Gewebeinfarkten und septischen Absiedlungen im ganzen Körper kommen. Besondern gefürchtet sind Hirnem­ bolien mit sekundärer Hämorrhagie. Klinisch kann die infektiöse ­Endokarditis akut oder subakut verlaufen. Die häufigsten Erreger der akut verlaufenden Form sind Staphylococcus aureus, Entero­

bakterien, Pneumokokken und gramnegative Erreger. Die sub­ akut  verlaufende Form wird häufig durch Streptokokken der Viridans­gruppe, koagulasenegative Staphylokokken sowie Entero­ kokken verursacht. Ein Erregernachweis gelingt in bis zu 25% der Fälle nicht. jjKlinik Leitsymptome einer akuten infektiösen Endokarditis sind ein sep­ tisches Krankheitsbild mit rascher Entwicklung einer Herzinsuffizienz und eines neuen Herzgeräuschs. Die Symptome einer subakuten infektiösen Endokarditis sind deutlich unspezifischer: Fieber ohne identifizierbaren Fokus, Verschlechterung des Allgemeinzu­ stands mit Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust, evtl. klinische Zei­ chen einer Herzinsuffizienz. Spezifische klinische Symptome sind selten. Diese sind ein neu aufgetretenes Herzgeräusch, Osler-Knöt­ chen (linsengroße, schmerzhafte rötliche Knötchen vorwiegend an Fingern und Zehen) Janeway-Läsionen (hämorrhagische nicht schmerzhafte Hautveränderungen an Händen und Füßen). Weitere klinische Befunde können sein: Splenomegalie, Mikrohämaturie, Anämie und Embolie. >> Bei Kindern mit angeborenen Herzfehlern muss bei anhaltendem oder rekurrierendem Fieber das Vorliegen einer infektiösen Endokarditis in Erwägung gezogen werden.

jjDiagnostik Ein mikrobiologischer Erregernachweis (einschließlich Resistenzbe­ stimmung) hat neben dem echokardiographischen Nachweis von Vegetationen den größten Stellenwert bei der Diagnosestellung. Vor Beginn einer Antibiotikatherapie sollten mehrere (mindestens drei) aerobe und anaerobe Blutkulturen vor Therapiebeginn, bzw. wenn möglich nach drei Tagen Antibiotikapause, abgenommen werden. Weitere Befunde in der Labordiagnostik, die auf eine infektiöse ­Endokarditis hindeuten können, sind eine Anämie, eine Leuko­ zytose mit Linksverschiebung sowie eine Thrombozytopenie. Echokardiographie  Durch die Echokardiographie ist evtl. der

Nachweis von endokarditischen Vegetationen, Klappenläsionen, Abszessen sowie neu aufgetretenen Klappendysfunktionen möglich.

>> Ein negativer Echokardiographiebefund schließt eine infek­ tiöse Endokarditis nicht aus.

jjTherapie Zur vollständigen Eradikation des Erregers ist eine mehrwöchige bakterizide antibiotische Behandlung notwendig. Die Therapiedau­ er beträgt meist 4–6 Wochen. Bei einer Prothesenendokarditis ver­ längert sich die Gesamttherapiedauer auf mindestens 6 Wochen. Bei persistierenden Infektionszeichen trotz adäquater Therapie muss die Indikation zur chirurgischen Sanierung gestellt werden. Endokarditisprophylaxe  Patienten, die über ein hohes Risiko für

eine bakterielle Endokarditis verfügen, sollten daher in erster Linie eine Prävention der Endokarditis anstreben. Dazu gehören neben einer kausalen Therapie des angeborenen Herzfehlers, die Etablie­ rung eines guten Zahnstatus und einer frühzeitigen Zahnsanierung sowie eine sorgfältige Haut- und Nagelpflege. Zusätzlich wird bei Patienten mit hohem Endokarditisrisiko eine Endokarditisprophy­ laxe empfohlen. Diese besteht darin, dass bei diesen Patienten bei diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen eine antibiotische Prophylaxe durchgeführt werden sollten. Dazu gehören zahnärzt­ liche und HNO-ärztliche Eingriffe.

479 Herz und Gefäße

20.5

Kardiomyopathien

Kardiomyopathien sind eine Herzmuskelerkrankung, die nach WHO Klassifikation in dilatative, restriktive und hypertrophe Kar­ diomyopathien unterteilt werden. Es gibt zahlreiche spezifische Er­ krankungen, die mit einer Herzmuskelerkrankung einhergehen können. Diese können klassifiziert werden als infektiologisch, meta­ bolisch, systemisch, toxisch, familiär. Die häufigsten Formen sind idiopathisch. 20.5.1

Dilatative Kardiomyopathie

Die häufigste Kardiomyopathie ist die dilatative Kardiomyopathie (DCM). Diese ist durch eine Dilatation des linken Ventrikels mit einer erheblichen Störung der systolischen und diastolischen Funk­ tion assoziiert (. Abb. 20.20). In einigen Fällen kann auch die rechte Herzkammer betroffen sein. Die DCM ist im Kindesalter zwar sel­ ten, doch ist sie die häufigste Form der kindlichen Kardiomyopathie. Die Inzidenz wird mit 0,5–2,6/100.000 Kindern angegeben. Am häufigsten manifestiert sich die Krankheit innerhalb der ersten zwei Lebensjahre. jjÄtiologie Die Ätiologie der Erkrankung ist häufig unklar. Die häufigste Ursa­ che ist wahrscheinlich eine Myokarditis. Andere mögliche Ursachen sind v. a. metabolische Störungen sowie Z. n. Chemotherapie mit Anthracycline. Ischämische Myokardschäden, z. B. bedingt durch einen F ­ ehlabgang der linken Koronararterie aus der Pulmonalarterie (Bland-White-Garland-Syndrom) oder andere Erkrankungen des koronararteriellen Systems, sollten ausgeschlossen werden. Weiter­ hin kann eine familiäre Form der dilatativen Kardiomyopathie vor­ liegen. jjKlinik Bei der DCM stehen die Zeichen einer ausgeprägten Herzinsuf­ fizienz im Vordergrund, die im Verlauf zunehmen können. Es kann zu akuten Herzversagen im Rahmen von einfachen Infekten ­kommen. jjDiagnostik Häufig wird ein Thoraxröntgenbild bei zunehmender Dyspnoe durchgeführt. Dabei zeigt sich eine Kardiomegalie mit Stauungszei­ chen. Im EKG können sich Erregungsrückbildungsstörungen zeigen. Letztendlich wird die Diagnose echokardiographisch gestellt mit Darstellung eines dilatierten, schlecht kontrahierenden linken Ven­ trikels häufig assoziiert mit einer erheblichen Mitralklappeninsuffi­ zienz. Zur Abklärung einer möglichen Ursache sollte eine Herz­ katheteruntersuchung durchgeführt werden mit Darstellung der Koronararterien und Biopsieentnahme. jjTherapie Die Therapie der DCM besteht derzeit hauptsächlich in der Behandlung der Symptome. Die Herzinsuffizienzbehandlung steht im Vor­ dergrund. Herzrhythmusstörungen sollten frühzeitig therapiert werden. Ein biventrikulärer Schrittmacher kann zur Resynchronisa­ tion beitragen und dadurch die ventrikuläre Funktion bei einigen Patienten verbessern. Ultima ratio und einzige palliative Therapie ist schließlich die Herztransplantation. >> Die DCM ist im Kindesalter der häufigste Grund für eine Herztransplantation.

..Abb. 20.20  Kardio-MRT eines Patienten mit dilatativer Kardiomyo­ pathie. Der linke Ventrikel ist dilatiert und vergrößert, die Muskelwand erscheint ausgedünnt

In einigen Fällen ist zur Überbrückung bis zur Transplantation ein Assist-Device oder Kunstherz notwendig. In Anbetracht der gerin­ gen Verfügbarkeit von Spenderorganen und der begrenzten Über­ lebenszeit des transplantierten Organs (mittlere Überlebenszeit 10–12 Jahre) werden alternative Therapieoptionen intensiv er­ forscht. Therapieansätze mit Stammzellen, Wachstumshormonen oder die Anlage eines zentralen pulmonalen Bandings sind im klini­ schen Alltag bislang noch nicht etabliert und z. T. aktuell Gegen­ stand multinationaler Studien. jjPrognose Die Prognose ist insgesamt schlecht, insbesondere wenn kein kausa­ ler Zusammenhang gefunden wird. In ca. 20–25% kommt es zu einer spontanen Remission. 20.5.2

Hypertrophe bzw. hypertroph ­obstruktive Kardiomyopathie

Bei diesem Krankheitsbild handelt es sich um eine Hypertrophie, bei der v. a. das interventrikuläre Septum und die linksventrikuläre Hin­ terwand betroffen sind. Es handelt sich um eine genetisch bedingte Myokardhypertrophie, die nicht durch andere Ursachen wie eine Klappenstenose bedingt ist. Durch die muskuläre Hypertrophie kann es zu einer Obstruktion im Bereich des Ausflusstrakts kom­ men, die von sehr variabler Ausprägung ist. In diesem Fall spricht man von einer hypertroph obstruktiven Kardiomyopathie (HOCM); ohne Obstruktion liegt entsprechend eine hypertrophe nicht obst­ ruktive Kardiomyopathie (HCM) vor. Die hypertroph obstruktive Kardiomyopathie ist eine der häufigsten Ursachen für den plötzli­ chen Herztod bei Kindern und Erwachsenen. jjKlinik Die meisten Patienten sind asymptomatisch, daher bleibt die Er­ krankung häufig lange unerkannt. Der plötzliche Herztod kann das erste Symptom sein. Durch die Hypertrophie kommt es zu einer zunehmenden Restriktion des Ventrikels mit einer funktionellen

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Einflussbehinderung in den Ventrikel mit Dyspnoe und Belastungs­ intoleranz. Synkopen unter Belastung können aufgrund der links­ ventrikulären Ausflusstraktobstruktion oder auch durch das Auftre­ ten von Herzrhyhmusstörungen unter Belastung verursacht werden. Synkopen sind assoziiert mit einem höheren Risiko für einen plötz­ lichen Herztod. Angina-pektoris-Beschwerden können in einigen Fällen vorhanden sein. >> Synkopen unter Belastung müssen zeitnah abgeklärt werden. Eine hypertrophe Kardiomyopathie muss ausgeschlossen werden.

j jDiagnostik Bei einer Obstruktion des linksventrikulären Ausflusstrakts lässt sich ein Systolikum mit p.m. über dem 4. ICR links auskultieren. Im EKG zeigen sich unspezifische Veränderungen mit Zeichen der linksventrikulären Hypertrophie, Erregungsrückbildungsstörungen und evtl. Herzrhythmusstörungen. Die Diagnose wird echokardiographisch gesichert. Dabei zeigt sich die typische Hypertrophie des interventrikulären Septums und/oder der linksventrikulären Hin­ terwand. Zusätzlich kann eine bestehende Obstruktion des linksven­ trikulären Ausflusstrakts dargestellt werden. Ein genetischer Nachweis der zugrundeliegenden Mutation gelingt in ca. 30% der Fälle. j jTherapie Therapieziele sind die Hypertrophieentwicklung zu verlangsamen und relevante Rhythmusstörungen zu verhindern. Für Patienten mit hypertropher Kardiomyopathie sind Einschränkungen der körperli­ chen Belastung empfohlen, für Kinder und Jugendliche bedeutet dies ein Sportverbot. Medikamentös werden die Patienten meistens mit einem β-Blocker behandelt, um das Verhältnis von O2-Ver­ brauch und O2-Angebot zu ökonomisieren sowie das Auftreten von Herzrhythmusstörungen zu verringern. Häufig wird ein ICD als Pri­ märprophylaxe bei Hochrisikopatienten oder als Sekundärprophy­ laxe nach stattgefundenem, überlebtem Herzstillstand implantiert. Positiv inotrope Substanzen sind kontraindiziert, da sie die ­Obstruktion verstärken. Auch Nachlastsenker sollten vermieden werden, weil sie den Gradienten über dem linksventrikulären Aus­ flusstrakt verstärken, und die koronare Perfusion verschlechtern können. Therapeutisch ist eine Ablation der Septumhypertrophie durch Alkoholinjektion in einen septalen Koronararterienast mög­ lich. Eine operative Therapie mit Myektomie ist v. a. bei erfolgloser konservativer Therapie symptomatischer Patienten sowie bei einer erheblichen Obstruktion indiziert.

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20.6

Herzrhythmusstörungen

20.6.1

AV-Block

Beim atrioventrikulären Block (AV-Block) liegt eine Störung der Überleitung der elektrischen Impulse von den Vorhöfen auf die Ven­ trikel vor. Der AV-Block wird in drei Grade unterteilt, wobei der AVBlock II° wiederum in einen Typ Mobitz I (syn. Typ Wenckebach) und Typ Mobitz II (Typ Mobitz) unterteilt wird. Der AV-Block I° ist definiert durch eine isolierte Verlängerung der PQ-Zeit. Der AV-Block II° Typ Mobitz I zeigt eine zunehmende Verlängerung der PQ-Zeit bis der Kammerkomplex ausfällt. Beim AV-Block Typ Mobitz II wird die Vorhoferregung periodisch nicht übergeleitet. Die PQ-Zeit ist bei den übergeleiteten Schlägen gleich lang. Es findet sich meistens eine typische 2:1- oder 3:1-Überleitung.

Beim AV-Block III° ist die atrioventrikuläre Leitung komplett blo­ ckiert. Vorhöfe und Ventrikel schlagen unabhängig voneinander. Da die Kammern durch das tertiäre Erregungsleitungszentrum erregt werden, besteht ein langsamer Kammerrhythmus. Liegt das Erre­ gungsleitungszentrum weit vom AV-Knoten entfernt, zeigen sich langsame, schenkelblockartige also verbreiterte Kammerkomplexe. Liegt das Erregungszentrum in der Nähe des AV-Knotens am HISBündel, können die Kammerkomplexe schmal sein. jjKlinik und Therapie Der AV-Block I° wie auch der AV-Block II° Typ Mobitz I kann bei Sportlern oder bei erhöhten Vagotonus (z. B. im Schlaf) physiolo­ gisch auftreten. Er führt in der Regel zu keinen Symptomen und erfordert keine Therapie. Beim AV-Block II° Typ Mobitz II liegen meist keine Symptome vor. Ist die Kammerfrequenz jedoch deutlich reduziert, kann es zu Schwindel oder Synkopen kommen. In jedem Fall muss eine weitere Abklärung und Verlaufsuntersuchung erfolgen, da ein Übergang in einen AV-Block III° möglich ist. Am häufigsten findet sich ein kompletter AV-Block im Kindes­ alter postoperativ nach Herzoperationen. Selten führen infektiöse (Borreliose, Diptherie, Mykoplasmen oder Chlamydien) oder ent­ zündliche (Myokarditis, Endokarditis) Prozesse zu einem AV-Block. Ein kongenitaler AV-Block III° kann intrauterin bei einer ­Autoimmunerkrankung der Mutter (z. B. Lupus erythematodes, Sjörgen-Syndrom) auftreten. Mütterliche Antikörper zerstören da­ bei den AV-Knoten. Intrauterin kann sich durch die Herzinsuffizi­ enz ein Hydrops fetalis bilden. Postnatal ist die Therapie abhängig vom klinischen Zustand und der Kammerfrequenz des Neuge­ borenen. Ist die Herzfrequenz ausreichend (60–80 Schläge/Minute, schmale Kammerkomplexe und kein Herzfehler) und liegen keine Herzinsuffizienzzeichen vor, kann zunächst abgewartet werden. Liegt eine symptomatische Bradykardie vor, ist eine Schritt­macher­ implanta­tion indiziert. Überbrückend kann versucht werden, die Kammerfrequenz durch Sympathomimetika zu akzelerieren. 20.6.2

Extrasystolen

Man unterscheidet zwischen supraventrikulären und ventrikulären Extrasystolen. Supraventrikuläre Extrasystolen nehmen ihren Aus­ gang oberhalb des His-Bündels, während ventrikuläre Extrasystolen im oder unterhalb des His-Bündels entspringen. Supraventrikuläre Extrasystolen sind definiert durch eine vor­ zeitige P-Welle und einem schmalen Kammerkomplex (vorwiegend) sowie eine postextrasystolische Pause, die nicht vollständig kompen­ siert ist. Einzelne isoliert auftretende supraventrikuläre Extrasysto­ len erfordern in der Regel keine Therapie. Sie sind u. a. gehäuft im Neugeborenenalter zu beobachten. Der Befund kann nach 1–2 Wo­ chen mittels EKG kontrolliert werden, evtl. sollten die Elektrolyte bestimmt werden. Finden sich gehäuft auftretende supraventriku­ läre Extrasystolen in Form von Couplets und Triplets, sollte eine weitere kinderkardiologische Abklärung erfolgen. Sog. blockierte supraventrikuläre Extrasystolen treten fast aus­ schließlich im Neugeborenenalter auf. Die Extrasystole trifft auf eine noch refraktäre Kammer und wird daher nicht übergeleitet. Dies führt zu einer deutlichen Reduzierung der Kammerfrequenz. Eine Therapie ist in der Regel nicht erforderlich, die Extrasystolen ver­ schwinden meistens im Verlauf. Ventrikuläre Extrasystolen sind definiert durch den vorzeitigen Einfall einer Kammererregung. Die Kammerkomplexe sind meist verbreitert und deformiert. Eine P-Welle ist in der Regel nicht

481 Herz und Gefäße

e­ rkennbar. Bei einer erstmalig auftretenden ventrikulären Extrasys­ tolie, auch im Neugeborenenalter, sollten eine strukturelle Herz­ erkrankung und eine Myokarditis ausgeschlossen werden, Elektro­ lyte sollten kontrolliert werden und die Einnahme von arrhythmo­ genen Medikamenten ausgeschlossen werden. Kommt es unter körperlicher Belastung zum Verschwinden der isoliert auftretenden VES, handelt sich meist um eine benigne Form der Extrasystolie, die keiner weiteren Therapie bedarf. Liegen polymorphe VES, gehäuft auftretende VES in Form von Couplets oder Salven oder kommt zu einem vermehrten Auftreten der VES unter Belastung oder in der Erholungsphase nach Belastung auf, muss eine umgehende weitere Abklärung erfolgen. In diesen Fällen besteht das Risiko, dass die VES eine ventrikuläre Tachykardie oder Kammerflimmern auslösen können. Insbesondere wenn eine strukturelle Herzerkrankung, eine Myokarditis oder Kardiomyopa­ thie vorliegt. 20.6.3

Schmalkomplextachykardie

Supraventrikuläre Tachykardien (SVT)  Die Inzidenz von supra­

ventrikulären Tachykardien reicht von 1:250 bis zu 1:1000. SVT sind die häufigsten tachykarden Rhythmusstörungen im Kindesalter. 30–40% der SVT können in den ersten Lebenswochen schon mani­ fest sein. Tachykardien auf der Basis von akzessorischen Leitungs­ bahnen sind häufig. Bei 20% dieser Patienten besteht häufig ein ­angeborener Herzfehler. Supraventrikuläre Tachykardien im Kin­ desalter zeigen meist einen schmalen Kammerkomplex. Liegt ein Schenkelblock vor oder kommt es während der Tachykardie zu einer antegraden Leitung über eine akzessorische Bahn, liegen breite Kammerkomplexe vor.

Atrioventrikuläre Tachykardie (AVRT)  Atrioventrikuläre Leitungs­ bahnen sind die häufigste Form von angeborenen, supraventrikulä­ ..Abb. 20.21  WPW-Syndrom. Deutlich verkürzte PQ-Zeit mit ausgeprägter Deltawelle und Verbreiterung des Kammerkomplexes

ren Tachykardien im Kindesalter. Findet sich eine Deltawelle im Oberflächen-EKG, so liegt eine Präexzitation vor. Eine Präexzitation in Kombination mit einer Tachykardie wird Wolff-ParkinsonWhite-Syndrom genannt. Es handelt sich bei der AVRT um eine Reentry-Tachykardie, d. h. es liegt eine kreisende Erregung vor. Die AVRT zeichnet sich durch ein paroxysmales Auftreten mit plötzli­ chem Beginn und Ende aus. Sie ist häufig mit einer Präexzitation assoziiert. Bei genauer Inspektion des EKG während der Tachykar­ die lässt sich evtl. ein retrogrades P abgrenzen. Am häufigsten findet sich eine orthodrome atrioventrikuläre Reentry-Tachykardie, d. h. die Erregung verläuft während der Tachykardie antegrad über den AV-Knoten und retrograd über die akzessorische Leitungsbahn. ­Supraventrikuläre Tachykardien, die im Säuglingsalter auftreten, können im ersten Lebensjahr rezidivierend auftreten, und können zunächst medikamentös (z. B. mit einem β-Blocker oder einem An­ tiarrhythmikum der Klasse 1c) behandelt werden. Die Therapie kann dann bei fehlenden Symptomen im Alter von einem Jahr been­ det werden. Ca. 80% der im Säuglingsalter auftretenden Tachykar­ dien zeigen kein Rezidiv. Wolff-Parkinson-White-Syndrom (WPW)  Bei Vorliegen einer Deltawelle im Oberflächen-EKG spricht man von einer Präexzita­ tion (. Abb. 20.21). Kommt es zu einer Tachykardie, spricht man von einem WPW-Syndrom. Das WPW-Syndrom hat eine Prävalenz von ca. 0,2%, und ist mit einem höheren Risiko für einen plötzlichen Herztod assoziiert. Bei Patienten mit WPW kommt es im Vergleich zur Normalbevölkerung häufiger zu Vorhofflimmern. Besteht nun eine schnelle akzessorische Leitungsbahn, kann es bei Vorhofflim­ mern zu einer schnellen antegraden Überleitung von den Vorhöfen auf die Kammern kommen und so zu einer lebensbedrohlichen ven­ trikulären Tachykardie führen. Dieses Risiko ist insgesamt niedrig, und liegt je nach Studie bei ca. 0,1–0,15%. Aufgrund des insgesamt erhöhten Risikos besteht die Empfehlung, bei Persistenz der Delta­ welle im Rahmen einer Belastungsuntersuchung und einem Alter

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482

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über 8 Jahre eine elektrophysiologische Untersuchung durchzu­ führen. Dabei wird die akzessorische Leitungsbahn elektrophysiolo­ gisch charakterisiert. Besteht eine potenziell lebensbedrohliche ­Gefährdung durch die Eigenschaften dieser Bahn, wird dann eine Ablationsbehandlung empfohlen und ggf. durchgeführt.

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20.6.4

Ventrikuläre Tachykardie (VT)

Ventrikuläre Tachykardien sind im Kindesalter selten. Eine ventri­ kuläre Tachykardie zeichnet sich in der Regel durch eine Folge von mindestens 5 verbreiterten Kammerkomplexen aus, die häufig charakterisiert sind durch eine AV-Dissoziation. Es besteht eine AV-Knoten-Reentry-Tachykardie (AVNRT)  Die AV-Knoten-Reen­ komplette Dissoziation von Vorhöfen und Kammer. Die VT wird als try-Tachykardie ist die zweithäufigste Tachykardie im Kindesalter. nicht anhaltend (non-sustained) bei einer Dauer 30 s bezeichnet. Analog zur Nomenkla­ vor. Eine von diesen Bahnen hat eine schnelle Überleitungs­ tur der Extrasystolie kann sie monomorph oder polymorph sein. geschwindigkeit, während die andere deutlich langsamer leitet.­ Polymorphe ventrikuläre Tachykardien neigen im Vergleich zu Die AVNRT ist im ersten oder zweiten Lebensjahr selten und tritt ­monomorphen Tachykardien häufig zur Degeneration und Kam­ ebenso wie die AVRT paroxysmal auf. Im EKG lässt sich während merflimmern. Folgende Ursachen können zu einer ventrikulären der typischen AVNRT kein retrogrades P abgrenzen. Aufgrund­ Tachykardie führen: der Leitungseigenschaften besteht kein erhöhtes Risiko für einen 44 Kardiomyopathie, plötzlichen Herztod. Eine Indikation zur Behandlung ergibt sich­ 44 Myokarditis, aus der Rezidivhäufigkeit, den Symptomen während der Tachy­ 44 angeborene Herzfehler v. a. nach Herzoperationen, kardie und dem Leidensdruck des Patienten. Dem gegenüber zu 44 Ionenkanalerkrankungen, stellen ist das Risiko, bei der Ablation der langsam leitenden Bahn 44 idiopathische. einen AV-Block III° zu verursachen. Das Risiko dafür liegt ca. bei 1%. Das Risiko wurde durch das Einsetzen von Kryoenergie mini­ Differenzialdiagnostisch kann es sich bei einer Breitkomplextachy­ miert und hat sich auch im Kindesalter als ein sehr sicheres Verfah­ kardie um eine antidrome AVRT handeln: während der Tachykardie ren etabliert. verläuft die Erregung antegrad über die akzessorische Leitungsbahn vom Vorhof auf die Ventrikel und zurück über den AV-Knoten. Vorhofflattern  Vorhofflattern findet sich zu 80% postoperativ ­Alternativ kann ein vorbestehender Schenkelblock bestehen. nach kardiochirurgischen Eingriffen. Es kann aber auch selten prä­ >> Im Kindesalter ist bei einer Breitkomplextachykardie das Vorpartal und in der Neugeborenenperiode stattfinden. Bei Vorhof­ liegen einer supraventrikulären Tachykardie mit Schenkelflattern liegt ein Reentry-Kreislauf im rechten Vorhof vor, d. h. der block wahrscheinlicher als eine ventrikuläre Tachykardie. AV-Knoten ist nicht Bestandteil des Tachykardiemechanismus. Die Im Zweifel muss jedoch immer von einer ventrikulären TachyApplikation von Adenosin führt zu einem kurzfristigen AV-Block, kardie ausgegangen werden, v. a. bei hämodynamischer dadurch wird die Tachykardie zwar nicht terminiert, aber das Vor­ ­Instabilität des Patienten oder wenn angeborene Herzfehler hofflattern wird demaskiert. Im EKG erkennt man die charakteristi­ vorliegen. sche Sägezahnform der Vorhoferregung. Die Vorhoffrequenz kann zwischen 240 und 400/min. liegen, das Überleitungsverhältnis ­beträgt meistens 2:1 oder 3:1, selten 1:1. Die Vorhoferregung ist jjTherapie ­regelmäßig. Die Therapie besteht in der Regel in einer elektrischen Im Falle einer instabilen Hämodynamik sollte entsprechend eine Kardioversion. Bei isoliertem neonatalen Vorhofflattern ist die Pro­ Kardioversion durchgeführt werden. Ist der Patient in einem kli­ gnose sehr gut und das Risiko eines erneuten Auftretens gering. Eine nisch stabilen Zustand, kann korrespondierend zum Vorgehen bei medikamentöse Prophylaxe ist in der Regel nicht notwendig. einer Schmalkomplextachykardie zunächst Adenosin gegeben wer­ den. Adenosin dient dabei als Therapeutikum, um die Tachykardie j jTherapie einer Schmalkomplextachykardie zu terminieren und als diagnostisches Mittel um die Tachykardie zu Liegt eine Tachykardie mit schmalen Kammerkomplexen vor und ist demaskieren/differenzieren. Besteht die Tachykardie weiter, müssen der Patient in einem klinisch stabilen Zustand, sollte zunächst eine weitere Antiarrhythmika erwogen werden, z. B. das Klasse-III-­ Sinustachykardie ausgeschlossen werden. Weiterhin sollten behan­ Antiarrhythmikum Amiodaron. delbare Ursachen wie Volumenmangel, Fieber oder Stress ausge­ schlossen werden. Zur Terminierung der supraventrikulären Tachy­ kardie können zunächst vagale Manöver versucht werden, d. h. ein 20.6.5 Long-QT-Syndrom Valsalva-Manöver oder bei Säuglingen Eisbeutel auf das Gesicht legen. Führt dies zu keinem Erfolg, kann Adenosin verabreicht wer­ Das Long-QT-Syndrom (LQTS) ist eine angeborene Ionenkanal­ den. Obligat sind dabei eine kontinuierliche Aufzeichnung des EKG erkrankung, die mit einer Verlängerung der QT-Zeit einhergeht. Die sowie eine Defibrillatorbereitschaft. Durch die Adenosingabe Prävalenz beträgt je nach Studie zwischen 1:2.000 bis 1:5.000. Auf­ kommt es häufig zur Terminierung der Tachykardie. Falls die Tachy­ grund des jeweiligen Ionenkanaldefekts kommt es zu einer myokar­ kardie trotz Adenosingabe persistiert, sollte eine antiarrhythmische dialen Repolarisationsstörung, die sich im EKG typischerweise in Therapie eingeleitet werden. Bei hämodynamisch stabilen Patienten einer verlängerten QT-Dauer zeigt, und mit einem erhöhten Risiko kann mit einem β-Blocker oder Antiarrhythmika der Klasse Ic wie für potenziell lebensbedrohliche ventrikuläre Arrhythmien ein­ z. B. Propafenon begonnen werden. Bei hämodynamischer Instabi­ hergeht. Diese treten typischerweise als polymorphe ventrikuläre lität oder schlechter Ventrikelfunktion ist eine synchronisierte elek­ Tachykardien (sog. Torsade-de-Pointes) auf, und sind pathognomo­ trische Kardioversion und/oder antiarrhythmische Medikation mit nisch für die Erkrankung. 50% der betroffenen Patienten haben ein klinisches Ereignis vor dem 15. Lebensjahr, 40% davon in Form Amidoaron indiziert. ­einer Synkope, 10% in Form eines Reanimationsereignisses. Inzwi­ schen sind zahlreiche Gene und damit auch unterschiedliche LongQT-Typen identifiziert worden. Das Long-QT-1 ist die häufigste

483 Herz und Gefäße

Form des Long-QT-Syndroms. Synkopen treten bei dieser Form v. a. unter körperlicher Belastung auf. Eine besondere Häufung von Syn­ kopen tritt beim Schwimmen auf. >> Reanimationsereignisse beim Schwimmen sollten immer zu einer Abklärung eines Long-QT-Syndroms führen!

Patienten mit Long-QT-2 beschreiben Synkopen häufig nach emo­ tionalem Stress. Patienten mit Long-QT-3 erleben ein kardiales Er­ eignis häufig in Ruhe oder im Schlaf. Long-QT-Syndrome werden, sofern keine weiteren Fehlbildun­ gen vorliegen, auch als Romano-Ward-Syndrom zusammengefasst, und werden autosomal dominant vererbt. Liegt zusätzlich eine Innenohrschwerhörigkeit vor, liegt ein Jervell-Lange-Nielsen-­ ­ Syndrom vor. Die Vererbung ist autosomal rezessiv. Die Diagnose eines Long-QT-Syndroms wird aufgrund der Befunde im EKG (Ruhe- sowie Belastungs-EKG), der Eigen- und Familienanamnese gestellt. Im EKG sind dabei folgende Befunde wegweisend: 44 eine verlängerte QTc-Zeit (Frequenz korrigierte QT-Zeit), 44 eine auffällige T-Wellen-Morphologie mit gekerbten T-Wellen oder T-Wellen mit wechselnder Morphologie, 44 eine nicht altersentsprechende Bradykardie und 44 dokumentierte Torsade-de-Pointes. Im Rahmen der Eigenanamnese sind v. a. Synkopen abzufragen, die beim Long-QT-Syndrom (bei körperlicher oder emotionaler Belas­ tung) auftreten können. Zusätzlich zur Eigenanamnese ist die Familienanamnese für die Diagnosestellung wichtig: 44 Gibt es Familienmitglieder mit LQTS? 44 Plötzliche Todesfälle bei Familienmitgliedern > Synkopen unter körperlicher Belastung oder nach emotionalem Stress sollten immer abgeklärt werden und an eine ­Ionenkanalerkrankung denken lassen. Das EKG ist dabei immer in Verbindung mit einer detaillierten Eigen- und Familien­ anamnese zu beurteilen.

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Hypertonie D. Haffner, M. Khalil

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_21

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D. Haffner und M. Khalil

j jPrävalenz Die Prävalenz der arteriellen Hypertonie im Kindes- und Jugendalter ist im Vergleich zum Erwachsenenalter deutlich niedriger. Allerdings ist in den letzten Jahren eine Zunahme adipöser Kindern zu verzeichnen und damit auch der Zunahme eines der wesentlichen Risikofaktoren für essenziellen Bluthochdruck; der Anteil der betroffenen Kinder beträgt je nach Schätzung 1–3%, es handelt sich also um keine seltene Erkrankung. Hinzu kommt noch, dass Bluthochdruck im Kindes- und Jugendalter häufig asymptomatisch ist und daher leicht und lange übersehen wird. j jDefinitionen Da es nicht wie bei Erwachsenen aufgrund von kardiovaskulären Risikoprofilen erstellte Schwellenwerte für systolische und diastolische Blutdruckwerte gibt, orientiert man sich für Kinder und ­Jugendliche an alters- und größenabhängigen Referenzwerten. Die arterielle Hypertonie ist definiert als eine Erhöhung des systolischen und/oder diastolischen Blutdrucks über der alters- und geschlechtsbezogenen bzw. größenbezogenen 95. Perzentile. Diese Perzentilen können für Mädchen und Jungen im Alter von 3–18 Jahren (KiGGS 2003–2006) differenziert nach der Körpergröße der Gesundheitsberichterstattung des Bundes entnommen werden: https://www.rki.de/ DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/KiGGS_Referenzperzentile.pdf ?__ blob=publicationFile). Gefordert werden mindestens drei unabhängige Messungen. Eine milde Hypertonie (Hypertonie 1°) liegt vor, wenn 3 Einzelblutdruckmessungen bzw. Langzeitblutdruckmessungen >95. Perzentile liegen, eine mittelschwere/schwere Hypertonie (Hypertonie 2°) liegt vor bei Werten >99. Perzentile.

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jjÄtiologie Man unterscheidet zwischen einer primären Form der arteriellen Hypertonie, den sog. essenziellen arteriellen Hypertonus und sekundären Formen, die als Folge unterschiedlichster Erkrankungen ­auftritt. Die Ursache der essenziellen Hypertonie ist unbekannt. Hinweisend für das Vorliegen einer primären Hypertonie sind ­ isikofaktoren wie Adipositas, eine positive Familienanamnese für R Hypertonie, eine Fettstoffwechselstörung sowie eine verminderte Glukosetoleranz. Im Säuglings- und Kleinkindalter überwiegen die sekundären Formen der arteriellen Hypertonie. Renale Erkrankungen sind mit einem Anteil von über 80% für einen Großteil der arteriellen Hypertonie verantwortlich. Beim renoparenchymatösen Hypertonus führt die Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) zu einer vermehrten Sekretion von Angiotensin II, das über seine direkte vasokonstriktorische Wirkung und über die Stimulierung von Aldosteron zu einer vermehrten Salz- und Wasserretention führt. Hierbei kann schon eine leichte Einschränkung der Nierenfunktion (glomeruläre Filtrationsrate von 60–90 ml/min/1,73m2) mit einem Anstieg des Blutdrucks einhergehen. Der Bluthochdruck ist bei glomerulären Erkrankungen meist stärker ausgeprägt als bei Kindern mit Nierenfehlbildungen (Nierenhypoplasie/-dysplasie). Kinder mit autosomal-rezessiven polyzystischer Nierenerkrankung weisen häufig massiv erhöhte Blutdruckwerte auf. Die Aortenisthmusstenose ist die häufigste, nicht renale Ur­ sache der sekundären Hypertonie. Im Neugeborenenalter sind renovaskuläre Ursachen für den größten Teil der sekundären Hypertonien verantwortlich. Diese ist meist durch eine angeborene isolierte Nierenarterienstenose im Rahmen einer fibromuskulären Dysplasie bedingt. Weitere mögliche Ursachen sind die Neurofibromatose Typ I und das Williams-Beuren Syndrom. Seltener sind endokrine, zentralnervöse und Autoim-

munerkrankungen. Insbesondere bei Vaskulitiden können sekun­ däre Gefäßveränderungen mit einhergehender Nierenarterien­ stenose zu einer ausgeprägten arteriellen Hypertonie führen. Nicht außer Acht gelassen werden sollten medikamentös oder drogen­ induzierte Hypertonieformen. Ursachen der sekundären arteriellen Hypertonie 55Renale Erkrankungen –– Renovaskulär –– Nierenarterienstenose (z. B. fibromuskuläre Dysplasie bei Neurofibromatose, Wiliams-Beuren Syndrom) –– Nierengefäßthrombose (z. B. nach Nabelgefäß­ katheter) –– Kompression der Nierenarterien durch Blutung, ­Tumor, Abszesse –– Renoparenchymatöse Erkrankungen –– Glomerulonephritiden (akute und chronische Formen) –– Polyzystische oder multizystische Nierenerkrankungen –– Hämolytisch-urämisches Syndrom –– Pyelonephritis (akut und rezidivierend mit Narben­ bildung) –– Chronische Niereninsuffizienz –– Diabetische Nephropathie –– Harnwegsfehlbildungen (obstruktive oder refluxive Uropathie) –– Kongenitale Nierenhypoplasie/-dysplasie –– Nierentrauma –– Z. n. Nierentransplantation 55Kardiovaskuläre Ursachen –– Aortenisthmusstenose –– Midaortic-Syndrom –– Williams-Beuren Syndrom –– Takayasu-Arteriitis 55Endokrine Ursachen –– Adrenogenitales Syndrom –– 11β-Hydroxylasemangel –– 17α-Hydroxylase-12,20Lyasemangel –– Hyperthyreose –– Cushing-Syndrom –– Phäochromozytom –– Nebennierenrindentumor –– Hyperaldosteronismus –– M. Recklinghausen 55Zentralnervöse Ursachen –– Erhöhter Hirndruck (Trauma, Hirntumor) –– Enzephalitis –– Neuroblastom 55Autoimmunerkrankungen –– Lupus erythematodes –– Rheumatoide Arthritis –– Granulomatose mit Polyangiitis –– Goodpasture-Syndrom –– Polyarteritis nodosa 55Medikamente –– Nichtsteroidale Antirheumatika –– Glukokortikosteroide, Mineralokortikoide –– Immunsupressiva (Calcineurininhibitoren) –– Trizyklische Antidepressiva –– Antiemetika, Antipsychotika –– Sexualhormone

487 Hypertonie

–– Abschwellende Nasentropfen (Oxymetazolin, Epinephrin, Phenylephrin) 55Drogenabusus –– Amphetamine, Ecstasy, Kokain –– Nikotinabusus 55Monogene Erkrankungen (seltene Ursachen) –– Pseudohypoaldosteronismus Typ II (Gordon-Syndrom) –– Liddle-Syndrom –– Apparenter Mineralocortoid Exzess (AME) –– Familiärer Hyperaldosteronismus Typ 1 –– Generalisierte Glukokorticoidresistenz 55Sonstiges –– Stressreaktion –– Schlafapnoe –– Schwangerschaft –– Porphyrie –– Exzessiver Lakritzkonsum (Glycyrrhizinsäure) –– Sichelzellanämie

!! Cave Bei der essenziellen Hypertonie handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose. Auch wenn eine kindliche Fettleibigkeit und eine positive Familienanamnese vorliegt müssen organische Ursachen dennoch ausgeschlossen werden. Im Kindesalter überwiegt nach wie vor die sekundäre Hypertonie. Je jünger (und schlanker) der Patient ist, desto unwahrscheinlicher ist das Vorliegen eines primären Hypertonus.

jjKlinik Patienten mit arterieller Hypertonie sind meist asymptomatisch. Es kann aber, besonders im Jugendalter zu Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrationsstörungen, Nasenbluten, Tinnitus oder Sehstörungen kommen. Zusätzlich können bei sekundären Hypertonieformen Symptome der Grunderkrankung auftreten. Eine hypertensive Krise ist ein plötzlicher Blutdruckanstieg mit neurologischen Symptomen wie Kopfschmerzen, Sehstörungen, Bewusstseinsstörungen bis hin zu Krampfanfällen. Davon zu unterscheiden ist der hypertensive Notfall. Hier besteht ein Blutdruckanstieg, der zu zentralnervösen Symptomen führt, und eine akute Gefahr für das zentrale Nervensystem, HerzKreislauf-System und die Nierenfunktion darstellt. In diesem Fall sind akut intensivmedizinische Maßnahmen indiziert. Langfristig stellt die arterielle Hypertonie einen wesentlichen Risikofaktor für das Auftreten von kardiovaskulären Folgeerkrankungen wie Arteriosklerose, Koronarerkrankungen, eine chronische Niereninsuffizienz sowie für den ischämischen oder hämorrhagischen Schlaganfall dar. jjDiagnostik Anamnese  Neben einer ausführlichen familiären Anamnese hinsichtlich Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, renalen und kardiovaskulären Erkrankungen sollte eine Medikamentenanam­ nese erstellt sowie die Perinatalperiode abgefragt werden.

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Familien und Eigenanamnese 55Familenanamnese –– Arterielle Hypertonie –– Diabetes Mellitus –– Kardiovaskuläre Erkrankungen (früher Heriznfarkt 15 eosinophilen Granulozyten/High Power Field in der Histologie. Die Zahl der eosinophilen Granulozyten im Blut kann erhöht sein, teilweise lassen sich spezifische IgE-Antikörper gegen einzelne Nahrungsmittel nachweisen. jjTherapie An erster Stelle steht ein Versuch mit Protonenpumpeninhibitoren über 8 Wochen und im Anschluss eine Kontrollendoskopie. Beim Ansprechen der PPI-Therapie handelt es sich am ehesten um reflux­ assoziierte Veränderungen und die Therapie erfolgt weiter wie bei einem GER. Bei fehlendem Therapieansprechen liegt eine klassische eosinophile Ösophagitis vor. Bei Hinweisen auf Allergien/Nahrungsmittelallergien kann eine Eliminationsdiät oder aminosäurebasierte Diät durchgeführt werden. Bei Therapieansprechen müssen die Lebensmittel stufenweise einzeln wieder eingeführt werden. Bei fehlenden Hinweisen für eine Nahrungsmittelallergie erfolgt die Therapie mit topischen Steroiden (z. B. Budesonid in entsprechender Zubereitung, Start mit 2-mal 0,5–1,0 mg/d), selten mit systemischen Steroiden. Nach 1–3 Monaten soll je nach Klinik eine endoskopische Reevaluation erfolgen. jjPrognose Die Erkrankung neigt zu Rezidiven und zur Chronifizierung. Es ­besteht das Risiko einer Fibrose mit Stenosierung des Ösophagus­ lumens und Zunahme der Beschwerden mit Ernährungsstörungen.

Infektiöse Ösophagitis Ösophagitiden durch CMV oder Candida sind meist nur bei ­immunkompromittierten Patienten zu finden, wie bei einer HIVInfektion oder unter Immunsuppression bzw. Chemotherapie. Selten können diese Infektionen auch bei immunkompetenten Neugeborenen oder jungen Säuglingen gefunden werden. Die Therapie erfolgt entsprechend mit Antimykotika bzw. ­Ganciclovir/Valganciclovir.

Refluxösophagitis

Erworbene Ösophagusstenosen ­(peptische Stenosen)

Die Refluxösophagitis ist die häufigste Form der Ösophagitis im Kindes- und Jugendalter (7 Abschn. 22.2.3).

22.2.5

Eosinophile Ösophagitis

Verursacht werden diese entweder durch einen gastroösophagealen Reflux oder z. B. durch Säure oder Laugeningestion mit Verätzung (7 Abschn. 22.2.6) bzw. Kolliquation des Gewebes und Narben­ bildung mit Strikturen. Die Therapie dieser Stenosen erfolgt meist endoskopisch in Form von sequenziellen Dilatationen mittels Ballon oder Bougies über einen Führungsdraht oder aber auch durch die lokale Applikation von Mitomycin C.

Die eosinophile Ösophagitis ist eine relativ seltene immunologisch/ antigenmediierte Entzündung des Ösophagus die häufiger bei Pa­ tienten mit Nahrungsmittelallergien oder atopischen Erkrankungen auftritt aber auch idiopathisch ohne nachvollziehbare Ursache. Das Auftreten ist in jedem Alter möglich. jjKlinik Die Symptomatik ist häufig unspezifisch z. B. im Sinne von Nahrungs­ verweigerung, Regurgitation, Erbrechen bis zur Gedeihstörung. Bei

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22.2.6

Ingestion ätzender Substanzen/­ Fremdkörper

Eine Fremdkörperingestion des Ösophagus macht sich in der Regel mit Würgen und/oder Erbrechen bzw. Schluckstörungen, Fremd­ körpergefühl und (anhaltend) starkem Speichelfluss sowie ­Nahrungsverweigerung bemerkbar. Eine evtl. begleitende Larynxund/oder Trachealkompression kann zudem zu Luftnot und Husten führen. >> Fremdkörper die im Ösophagus stecken bleiben müssen ­umgehend endoskopisch entfernt werden, um eine Druck­ nekrose zu verhindern.

Gegenstände, welche den Ösophagus passiert haben, verlassen zumeist auch spontan den Magen. Entfernt werden sollten jedoch auch kleinere Gegenstände wie mehrere Magnete, Knopfbatterien, oder andere gefährliche Gegenstände, um weitere Komplikationen zu ­vermeiden. 22.2.7

Ösophagusvarizen

Ösophagusvarizen treten im Rahmen einer portalen Hypertension (7 Abschn. 22.13.4, 7 Abschn. 22.7) als Umgehungskreislauf zwischen V. portae und V. cava superior auf. Es besteht die Gefahr einer akuten lebensbedrohlichen Varizenblutung, ansonsten sind Ösophagus­ varizen asymptomatisch. !! Cave Die Varizenblutung kann erstes Symptom einer Erkrankung mit portaler Hypertension sein.

j jDiagnostik Die Darstellung und Behandlung von Ösophagusvarizen erfolgt ­endoskopisch. Sie können ebenfalls sonographisch, im CT oder MRT dargestellt werden. Die Einteilung erfolgt endoskopisch in 4 Schweregrade. Als Zeichen einer Epithelschädigung (Erosion) können rötliche Flecken („red spots“ oder „cherry spots“) der Schleimhaut zu sehen sein.

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..Abb. 22.2  Postnatale Röntgenaufnahme bei Zwerchfellhernie links

den in den Brustkorb. Der Defekt tritt mit einer Inzidenz von 1:5.000 Lebendgeburten in etwa 80–90% vornehmlich linksseitig auf. ­Intrathorakal finden sich häufig Darm, Milz und Magen. Eine Verlagerung der Leber gilt als prognostisch ungünstig. Veränderungen der Lunge betreffen am stärksten die betroffene Seite, allerdings in den meisten Fällen ebenfalls die Gegenseite, wobei neben der Lungenhypoplasie auch die begleitende Lungengefäßhypoplasie eine postnatale respiratorische Insuffizienz bedingen können.

jjKlinik und Diagnose In der Mehrzahl der Fälle wird die Diagnose bereits pränatal in der Ultraschalluntersuchung gestellt. Prognostisch ungünstig sind u. a. der Defektnachweis vor der 25. Schwangerschaftswoche, intrathoraj jTherapie kale Leberanteile und eine niedrige Lungen-Kopfumfangs-Relation. Eine akute Blutstillung kann durch Einlegen einer Senkstaken-­ Postnatal zeigen die betroffenen Kinder eine zunehmende respiratoBlakemore-Sonde erfolgen. Medikamentös kann der Druck im rische bzw. kardiopulmonale Insuffizienz, wobei sich die Situation Pfortadersystem durch Octreotid gesenkt werden. Im Rahmen der bei Luftfüllung des Gastrointestinaltrakts häufig weiter verschlechIntensivtherapie erfolgt eine Stabilisierung der Hämodynamik u. a. tert. Auskultatorisch zeigt sich ein abgeschwächtes oder fehlendes mit Transfusionen und Substitution von Gerinnungsfaktoren nach Atemgeräusch auf der betroffenen Seite, gelegentlich können DarmBedarf. Endoskopisch können die Varizen mit Gummibändern geräusche im Brustkorb auskultiert werden. Die Röntgenthoraxaufnahme zeigt die intrathorakale Lage von Baucheingeweiden, ggf. ­ligiert werden oder durch eine Sklerotherapie verödet werden. Die Anlage eines portosystemischen Shunts als Palliation kann verbunden mit einem Mediastinalshift (. Abb. 22.2). als vorübergehende Maßnahme bis zu einer Lebertransplantation jjTherapie notwendig werden. Als Prophylaxe können β-Blocker (Propranolol) eingesetzt wer- Im Vordergrund der postnatalen Therapie steht zunächst die den um den Pfortaderdruck zu senken. ­Behandlung der respiratorischen Insuffizienz, da eine operative ­Intervention den Gasaustausch nicht unmittelbar verbessert. Bei ausgeprägten Befunden ist ggf. auch eine extrakorporale Membran22.3 oxygenation (ECMO) nötig, was jedoch nur an wenigen Zentren Zwerchfell möglich ist. Der Verschluss des Zwerchfelldefekts erfolgt in der Regel nach 22.3.1 Kongenitale Zwerchfellhernie Stabilisierung des Kindes zumeist über einen abdominellen Zugang. Bei der angeborenen Zwerchfellhernie handelt es sich um eine Ent- Bei minimal-invasiver Technik wird dagegen der thorakale Zugang wicklungsstörung des Zwerchfells mit Übertritt von Baucheingewei- bevorzugt.

501 Gastroenterologie interdisziplinär

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jjPrognose Die pränatalen Befunde lassen häufig bereits Rückschlüsse auf die zu erwartende postnatale klinische Symptomatik und Prognose zu. Die Gesamtüberlebensrate korreliert überwiegend mit der pulmonalen Morbidität und beträgt etwa 70–90%. 22.3.2

Relaxatio diaphragmatica

Der angeborene oder z. B. durch Trauma erworbene Hochstand des intakten Zwerchfells wird als Relaxatio diaphragmatica bezeichnet. Ursächlich findet sich häufig eine einseitige Phrenikusparese, welche zu paradoxen, lediglich passiven Bewegungen des Zwerchfells führt. Bei den angeborenen Formen besteht dagegen zumeist eine Muskelhypoplasie mit Ausdünnung des Zwerchfells. In ausgeprägten Fällen ist die Abgrenzung zur Zwerchfellhernie hierbei nicht eindeutig. jjKlinik und Diagnose Je nach Ausprägung fallen die Kinder durch Zeichen der respiratorischen Insuffizienz oder vermehrter pulmonaler Infektanfälligkeit auf. Die Röntgenthoraxuntersuchung zeigt den Zwerchfellhochstand, bei kleinen Kindern ist die pathologische Zwerchfellmotilität häufig sonographisch nachweisbar. jjTherapie Die operative Raffung des Zwerchfells, zumeist über einen thorakalen Zugang, stellt die Standardtherapie der symptomatischen ­Relaxatio diaphragmatica dar. Die Prognose ist v. a. bei den spät symptomatischen Formen nach operativer Therapie sehr gut, obwohl Rezidive während des gesamten Lebens möglich sind. 22.3.3

Hiatushernie

Bei der Hiatushernie verlagern sich Magenanteile durch den Hiatus oesophageus in den Brustkorb. Je nach Lokalisation unterscheidet man die axiale und die paraösophageale Hiatushernie, wobei beide Formen auch gemeinsam auftreten können. Die Magenanteile sind entweder fest fixiert im Brustkorb lokalisiert oder gleiten in der Bruchlücke vor und zurück (Gleithernie). Symptomatische Hernien bedürfen häufig einer operativen Korrektur, wobei die Zwerch­ fellschenkel rekonstruiert werden und zumeist gleichzeitig eine Fundoplicatio des Magens erfolgt. 22.4

Bauchwand

22.4.1

Gastroschisis

Die Gastroschisis ist ein angeborener Bauchwanddefekt, der bei etwa 1:3.000 Lebendgeburten auftritt. Typischerweise zeigt sich rechts des Nabels eine zumeist nur wenige Zentimeter messende Lücke in der Bauchdecke mit vorgefallenen Baucheingeweiden (. Abb. 22.3). Die Nabelschnur ist meist intakt. Zur Pathogenese der Gastroschisis existieren mehrere Hypothesen, die exakte Ätiologie ist jedoch nicht bekannt. jjKlinik und Diagnose Die Diagnose wird in den meisten Fällen bereits im Rahmen der pränatalen Ultraschalldiagnostik gestellt. Nach der Geburt ist die Blickdiagnose eindeutig. Neben der Infektionsgefahr bei offener Bauchhöhle verlieren die Kinder postnatal große Mengen an Flüs-

..Abb. 22.3  Neugeborenes mit Gastroschisis

sigkeit verbunden mit dem Wärmeverlust über die zumeist vorgefallenen Darmschlingen. Auch Magenanteile oder die Ovarien beim Mädchen finden sich häufig außerhalb der Bauchhöhle. Ein Vorfall von Leberanteilen ist bei der Gastroschisis dagegen eher selten. jjTherapie Das Missverhältnis zwischen vorgefallenen Baucheingeweiden und deren Beschaffenheit (z. B. Ödem, Fibrinbeläge) sowie Kapazität der Bauchhöhle bestimmt das therapeutische Vorgehen. Entweder es gelingt, die vorgefallenen Eingeweide direkt nach der Geburt in die Bauchhöhle zurückzuführen und den Defekt sofort vollständig zu verschließen oder es muss ein temporärer Bauchwandverschluss, typischerweise mittels sog. Schuster-Plastik erfolgen. Bei dieser Technik überdeckt ein Kunststoffsilo vorübergehend den Defekt, bis die Bauchdecken nach Zurücksinken der Eingeweide zu einem späteren Zeitpunkt verschlossen werden können. jjKomplikationen und Prognose Neben der Infektionsgefahr, besteht aufgrund des reduzierten ­Volumens der Bauchhöhle nach operativem Verschluss die Gefahr einer kritischen Druckerhöhung im Bauchraum (abdominelles Kompartmentsyndrom). Daneben weisen Kinder mit Gastroschisis eine mehr oder weniger ausgeprägte Darmparalyse auf, sodass­ der N ­ ahrungsaufbau bei diesen Kindern häufig nur verzögert ­möglich ist. Obwohl die Gastroschisis häufig als isolierte Fehl­ bildung auftritt, können begleitende Darmatresien das Krankheitsbild komplizieren. Eine Rotationsfehlbildung des Darms liegt bei allen Kindern mit Gastroschisis vor. Ohne dass dies therapeutische Konsequenzen hat, ist die Kenntnis einer möglicherweise atypischen Lokalisation der Appendix sowie der potenziellen Gefahr eines Volvulus im weiteren Verlauf für nachbetreuende Ärzte, Eltern und Patient wichtig. 22.4.2

Omphalozele

Die Omphalozele tritt mit einer Inzidenz von etwa 1:5.000 deutlich seltener als die Gastroschisis auf. Hier liegt der Defekt in der Mittellinie unter Einbeziehung des Nabels und der Nabelgefäße vor, wobei die vorgefallenen Eingeweide im Gegensatz zur Gastroschisis von einer dünnen Membran, dem Omphalozelensack überzogen sind (. Abb. 22.4). Der Bauchwanddefekt kann bei großen Befunden („giant omphalocele“) über 10 cm messen und zeigt dann zumeist

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C. Hünseler und M. Dübbers

in der Regel beschwerdefrei sind und in den meisten Fällen ein Spontanverschluss auch noch in den ersten Lebensjahren zu beobachten ist, muss die Operationsindikation im Säuglings- und Kleinkindalter äußerst zurückhaltend gestellt werden. Bei einer Bruchpforte von größer als 1,5 cm oder Persistenz jenseits des 3. Lebensjahres ist der Spontanverschluss seltener. Der rezidivierende Prolaps von Darmschlingen oder große Hernien können zu klinischen Beschwerden wie Schmerzattacken oder Meteorismus führen, sodass ein operativer Verschluss notwendig werden kann. Die Inkarzeration einer ­Nabelhernie ist im Kindesalter eine Ausnahme.

Epigastrische Hernie

..Abb. 22.4  Neugeborenes mit „giant omphalocele“

Bruchlücken in der Medianlinie innerhalb der Linea alba werden als epigastrische Hernien bezeichnet. Zumeist wölbt sich lediglich präperitoneales Fett vor, was zu intermittierenden Schmerzen führen kann. Im Gegensatz zur umbilikalen Hernie erfolgt ein Spontanverschluss meist nicht, sodass die Indikation zum operativen Bruch­ lückenverschluss besteht.

Leistenhernie auch vorgefallene Leberanteile. In mehr als 50% der Fälle finden sich Begleitfehlbildungen, v. a. kardial, gastrointestinal oder renal. Auch chromosomale Aberrationen finden sich gehäuft. j jKlinik und Diagnose Auch die Omphalozele wird überwiegend bereits pränatal in der Sonographie diagnostiziert. Bereits hier und unmittelbar nach ­Geburt sollte nach Begleitfehlbildungen gesucht werden. j jTherapie Nach der Geburt sind die Eingeweide meist zunächst durch den ­Omphalozelensack geschützt, sodass eine Notfalloperation nicht erforderlich ist. Die Omphalozele sollte behutsam steril verbunden werden, damit der Überzug intakt bleibt. Kleine Omphalozelen können im Verlauf frühzeitig ähnlich dem Vorgehen bei Gastroschisis verschlossen werden. Große Omphalozelen werden zunächst konservativ behandelt, worunter der Omphalozelensack über Wochen vollständig epithelialisiert. Der definitive Bachwandverschluss mit Rekonstruktion der Bauchdecke erfolgt ggf. erst nach mehreren ­Monaten. j jKomplikationen und Prognose Die Prognose richtet sich nach den Begleitfehlbildungen. Auch bei Kindern mit Omphalozele besteht eine Rotationsfehlbildung des Darms, sodass in Verbindung mit begleitenden intestinalen Fehl­ bildungen möglicherweise weitere operative Interventionen notwendig sind. Bei konservativer Behandlung können darüber hinaus Infektionen über die große Oberfläche des Omphalozelensacks ­auftreten. >> Bei Kindern mit Gastroschisis oder Omphalozele besteht eine Fehldrehung des Darms, welche möglicherweise zu einer ­atypischen Lage der Appendix oder einer intestinalen Passagestörung bis hin zum Volvulus führen kann.

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22.4.3

Hernien der Bauchwand

Nabelhernie Die umbilikale Hernie resultiert aus einem unvollständigen Verschluss des Nabelrings. Die Inzidenz liegt zwischen 10 und 30%, farbige Menschen sind besonders häufig betroffen. Da die Patienten

Die Leistenhernie ist beim Kind zumeist durch die unvollständige Rückbildung des Processus vaginalis peritonei bedingt, wodurch Baucheingeweide durch den Leistenkanal vor die Bauchwand prolabieren können („indirekte“ Hernie). Die Inzidenz beträgt bei Neugeborenen etwa 5%, bei Frühgeborenen sogar 10%. Bei den etwas häufiger betroffenen Jungen zeigt sich Darm als Bruchsackinhalt, beim Mädchen ist häufig auch das Ovar vorgefallen. Die Indikation zur operativen Therapie der Leistenhernie stellt sich unmittelbar nach Diagnosestellung und erfolgt bei unkomplizierten Fällen elektiv. Eine Inkarzeration des Bruchsackinhalts bewirkt eine Ischämie des Gewebes, wobei beim Jungen häufig auch der Hoden gefährdet ist. Klinisch imponiert eine druckdolente, nicht reponible Schwellung, welche bei Fortbestehen mit Zeichen der peritonealen Reizung, wie z. B. Abwehrspannung des Abdomens oder Erbrechen einher­ gehen kann. Die inkarzerierte Leistenhernie ist ein Notfall. Ein ­Repositionsversuch ist in den ersten Stunden möglich. Gelingt­ das Manöver nicht oder zeigt sich bereits eine fortgeschrittene ­klinische Symptomatik ist eine umgehende operative Intervention erforderlich. Bei der Hydrozele findet sich lediglich eine Flüssigkeits­ ansammlung innerhalb des unvollständig verklebten Processus ­vaginalis. Hier ist die Spontanremission durchaus möglich, sodass insbesondere bei angeborenen Formen zunächst keine Operationsindikation gestellt werden muss. 22.5

Magen

Entzündungen und andere Erkrankungen können die Magen­ motilität sowie die sekretorische und neuroendokrine Funktion des Magens stören und entsprechend zu Beschwerden wie Völlegefühl, Inappetenz, Erbrechen, Nahrungsunverträglichkeit und epigastrischen Schmerzen führen. 22.5.1

Kongenitale Anomalien

Kongenitale Anomalien des Magens sind bis auf die hypertrophe Pylorusstenose selten. Als weitere Form der Ausgangsobstruktion sind Atresien und Webs der Pylorusregion beschrieben. Magenduplikaturen oder ein Volvulus sind sehr selten.

503 Gastroenterologie interdisziplinär

Pylorusatresie Die Atresie des Pylorus ist mit einer Inzidenz von etwa 1:100.000 die seltenste Form der intestinalen Atresie. Pränatal zeigt sich häufig ein Polyhydramnion, in der postnatalen Röntgenaufnahme findet sich typischerweise ein luftdistendierter Magen ohne Nachweis von Luft in den anschließenden Darmabschnitten. Therapeutisch ist eine ­chirurgische Rekonstruktion der gastroduodenalen Passage erforderlich.

Hypertrophe Pylorusstenose Die hypertrophe Pylorusstenose entwickelt sich nachgeburtlich­ in den ersten Lebenswochen. Jungen sind bevorzugt betroffen­ (m:w = 5:1). Die Inzidenz liegt bei ca. 3:1000 Neugeborenen. Eine genaue ätiologische Erklärung gibt es nicht, familiäre Häufungen kommen vor, eine Assoziation zum frühen Einsatz von Erythro­ mycin ist beschrieben. jjSymptomatik Es kommt typischerweise nach ca. 4–6 Wochen zu rezidivierendem postprandialem, saurem schwallartigen Erbrechen und in der Folge zu Gewichtsabnahme und Dystrophie. Die Säuglinge wirken sehr unzufrieden und hungrig, der hypertrophe Pylorus kann u. U. durch die Bauchdecke im Oberbauch als olivenförmige Struktur getastet werden und die Hyperperistaltik des Magens beobachtet werden. Eine Gastritis bzw. Ösophagitis kann ebenso Ursache von Schmerzen wie auch einer oberen gastrointestinalen Blutung mit Blut/­ Hämatin im Erbrochenen sein. Nach einiger Zeit kann es zu einer Erschöpfungsatonie und vermeintlicher Besserung kommen. jjDiagnostik Die Sonographie erlaubt die Diagnosestellung durch Ausmessen des Pylorus (Muskularis >3 mm, Länge >15 mm) und fehlender Passage von Mageninhalt ins Duodenum (. Abb. 22.5). Laborchemisch fällt eine hypochlorämische metabolische Alkalose durch den Verlust von Salzsäure und eine Hyponatriämie auf. Differenzialdiagnostisch muss an Reflux, Fütterstörungen, adrenogenitales Syndrom, Stoffwechseldefekte, Ileus und die Gastroenteritis gedacht werden. jjTherapie Nach Korrektur des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts ist die Therapie der Wahl die operative Myotomie nach Weber-Ramstedt. Hierbei wird die hypertrophe Muskulatur des Pylorus längs gespalten ohne die Mukosa zu eröffnen, was einen raschen postoperativen Nahrungsaufbau zulässt. In ca. 10% der Fälle liegt eine Kombination von hypertropher Pylorusstenose und Hiatushernie mit Reflux vor (Roviralta-­ Syndrom). 22.5.2

Gastritis, Helicobacter pylori ­ und Ulkuskrankheit

Ursächlich kommen infektiöse, chemische oder immunologische Prozesse in Frage.

Akute Gastritis Eine akute Gastritis tritt im Rahmen einer infektiösen Gastroenteritis auf, durch Medikamenteneinnahme (NSAR, Steroide) oder starken Stress und ist selbstlimitierend. Symptome sind epigastrischer Druckschmerz, Übelkeit und ­Erbrechen.

..Abb. 22.5  Ultraschalluntersuchung des Oberbauchs mit Darstellung der verdickten Muskulatur (Strich) des Pylorus und verlängerten Pyloruskanals (Pfeile) bei hypertropher Pylorusstenose

Die Diagnose erfolgt meist klinisch. Die Therapie besteht in der Elimination der auslösenden Ur­ sache, evtl. der Gabe von Protonenpumpeninhibitoren für be­grenzte Zeit.

Chronische Gastritis Eine chronische Gastritis wird je nach Ätiopathogenese eingeteilt in die Typen A (atrophe, autoimmune), B (bakterielle, infektiöse) und C (chemische, Gallereflux). Typ A (autoimmune Gastritis)  Es handelt sich um eine im Kindesalter sehr seltene Korpusgastritis mit Antikörpern gegen Parietalzellen und H+/K+-ATPase sowie den „Intrinsic Factor“. Die genaue Entstehung ist unbekannt. Möglicherweise besteht eine Assoziation zu Helicobacter pylori (HP)-Infektionen. Folge des Parietalzellschwunds ist eine Achlorhydrie, Folge des Mangels an „Intrinsic Factor“ ein Vitamin-B12-Mangel (perniziöse Anämie). Typ B (bakterielle Gastritis)  Meist handelt es sich um eine antrum-

betonte HP-Gastritis. Die Infektion erfolgt oral über Speichel oder Fäzes. HP ist ein gramnegatives spiralförmiges ureasebildendes ­Bakterium, welches im sauren Magenmilieu gute Überlebensbedingungen findet und dort nach Infektion lebenslang persistiert. Die Infektion ist mit einer Ulkuserkrankung und einem Magenkarzinom assoziiert. In Deutschland sind je nach Herkunft ca. 4–20% der Kinder infiziert. Eine HP-Infektion kann mit einer unklaren Eisenmangelanämie und einer ITP einhergehen.

Typ C (chemische Gastritis)  Diese Form der Gastritis im Kindes-

alter wird durch ein Ungleichgewicht zwischen protektiven und schädigenden Faktoren bedingt und durch Hyperchlorhydrie, Gallereflux, Stress oder Medikamente wie NSAR ausgelöst.

Sonderformen  Sonderformen sind z. B. die Crohn-Gastritis oder eine eosinophile Gastritis im Rahmen von (Nahrungsmittel)allergien.

jjKlinik Eine Gastritis führt zu epigastrischen Schmerzen, die beim jungen Kind aber unspezifisch sein können und sich durch Unruhe, Inappetenz, Nahrungsverweigerung und Erbrechen manifestieren. Die

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C. Hünseler und M. Dübbers

Schmerzen werden durch Nahrungsaufnahme eher verstärkt. Der Hämoccult-Test kann positiv sein, es kann zu blutigem Erbrechen kommen. Eine Typ-A-Gastritis kann asymptomatisch bleiben und erst durch einen Vitamin-B12-Mangel auffallen.

schwerden und epigastrische Schmerzen sind möglich. Beim Duodenalulkus ist v. a. Nüchternschmerz vorhanden. Als Spätkomplikation kann es zur narbigen Magenausgangsstenose oder zur Pylorusinsuffizienz kommen.

jjDiagnostik Die Diagnose einer Gastritis wird histologisch gestellt. Eine aktive Gastritis ist durch ein überwiegendes granulozytäres, die chronische Gastritis durch ein mononukleäres Infiltrat gekennzeichnet. Die ­Diagnose einer HP-Gastritis erfordert den HP-Nachweis in zwei der durchgeführten Untersuchungen: mikroskopischer oder kultureller/ PCR-Nachweis, positiver HP-Schnelltest (Ureasereaktion). Eine ­Resistenztestung ist empfohlen. Differenzialdiagnostisch müssen v. a. die funktionelle Dys­ pepsie, das zyklische Erbrechen und die Refluxerkrankung bedacht werden, als extraintestinale Ursachen wie Hirndruck und Stoffwechselerkrankungen.

jjDiagnostik Die Diagnose erfolgt endoskopisch/bioptisch.

jjTherapie HP-Infektion  Eine Therapie beim Nachweis von HP ohne entsprechende Beschwerden ist nicht routinemäßig notwendig. Sie sollte dann therapiert werden, wenn starke Beschwerden vorliegen, z. B. ein Ulkusleiden oder eine komplizierte Gastritis, anamnestisch ein Magenkarzinom in der Familie vorliegt oder extraintestinale Symptome wie eine Anämie oder ITP möglicherweise mit der HP-Infektion in Verbindung stehen. Die Therapie einer HP-Gastritis erfolgt nach Resistenztestung durch eine Kombination von 2 Antibiotika, üblicherweise Amoxicillin kombiniert mit Clarithromycin oder Metronidazol und einem Protonenpumpeninhibitor über 7(–10–14) Tage. Eine Ergänzung durch Bismuth ist möglich. Die Erfolgskontrolle der Eradikation erfolgt in einem Mindestabstand von der Therapie von 4 Wochen durch den 13C-Atemtest oder die Bestimmung des HP-Antigens im Stuhl.

22.5.3

Typ-C-Gastritis  In der Therapie der Typ-C-Gastritis ist es wichtig auslösende Noxen zu vermeiden. Es kann eine Therapie mit­ PPI durchgeführt werden, bei Gallereflux auch mit Ursodesoxycholsäure. Eosinophile Gastritis  Die Therapie der eosinophilen Gastritis be-

steht v. a. in diätetischen Maßnahmen und einer Steroidtherapie (7 Abschn. 22.2.4.2).

jjTherapie Die Therapie hängt von der Genese ab, eine HP-Infektion sollte entsprechend eradiziert werden. Bei Stressulzera ist eine konsequente Säuresuppression mit PPI oder H2-Blockern und die Vermeidung von Noxen die Therapie der Wahl. Beim Zollinger-Ellison-Syndrom lässt sich durch PPI und das Somatostatinanalogon Octreotid die Säureproduktion effektiv unterdrücken.

Magenentleerungsstörung

Gastroparese Neben der Pylorusstenose kann eine Vielzahl von Zuständen die Magenentleerung beeinflussen. Bei einer Gastroparese liegt eine Entleerungsstörung ohne anatomische Abflussbehinderung vor. Dazu gehören neuromuskuläre, endokrinologische, infkektiöse, ­immunologische und Stoffwechselerkrankungen sowie die funktionelle Gastroparese. Ursachen der Gastroparese im Kindesalter 55Idiopathisch-funktionell 55Postoperativ: z. B. nach Fundoplicatio, Laparotomie 55Medikamenteninduziert: α2-Agonisten, trizyclische Anti­ depressiva, Protonenpumpeninhibitoren, Antazida, H2-Rezeptor-Agonisten, Sucralfat, Octreotid, β-Agonisten, Kalcium­kanalblocker, Diphenhydramin 55(Post)infektiös: Rota-Virus, CMV, EBV 55Neurogen und neuropsychiatrisch: Diabetes mellitus, M. Hirschsprung, Zerebralparese, Anfallsleiden, Frühgeburtlichkeit, ADHS 55Myogen: Muskeldystrophie, CIPO 55Metabolisch-endokrinologisch: Hypokaliämie, Hypo­ thyreose, Azidose

Ulkuskrankheit

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Ulzerationen reichen als umschriebene Defekte im Gegensatz zu Erosionen über die Muscularis mucosae hinaus bis in tiefere Schichten und heilen narbig ab. Sie treten im Magen und/oder Duodenum als HP-positive­ ­Ulkuskrankheit bei chronischer HP-Infektion auf, im Kindesalter häufiger aber im Rahmen von Stress wie bei intensivmedizinischer Behandlung mit Ischämie, Sepsis, Hypoxie oder Multiorganversagen, oft in Kombination mit Medikamenten wie NSAR und Kortikosteroiden. Ein Zollinger-Ellison Syndrom (Gastrinom, meist im Pankreas) ist im Kindesalter sehr selten, die Hypergastrinämie führt zur Überproduktion von Magensäure und damit zur Ausbildung multipler Ulzera. j jSymptome Ulzerationen sind oft zunächst symptomlos, es besteht aber die ­Gefahr von Blutungen oder einer Perforation. Dyspeptische Be-

jjKlinik Das häufigste Symptom ist Erbrechen, gefolgt von Übelkeit, frühem Sättigungsgefühl, Völlegefühl. Bauchschmerzen sind eher selten. jjDiagnostik Am Anfang der Diagnostik stehen eine Gastroskopie und eine Kontrastmittelpassage. Eine Szintigraphie mit einer markierten Mahlzeit gibt am besten Auskunft über die Entleerungszeit. Auch spezielle 13C-Atemtests und die antroduodenale Manometrie sind diagnostische Möglichkeiten. Bei Kindern noch wenig erprobt ist der Einsatz einer Motility-Kapsel, die Passagezeiten misst. Differenzialdiagnostisch abzugrenzen gilt es v. a. alle mit Erbrechen einhergehenden Erkrankungen und Zustände: funktionelle Störungen wie Rumination und zyklisches Erbrechen, Gastritis, ­Ulkus, Reflux, Ösophagitis, Obstruktionen des oberen Gastrointestinaltrakts aber auch Hirntumore, Schwangerschaft, metabolische und endokrinologische Entgleisungen.

505 Gastroenterologie interdisziplinär

jjTherapie Eine zu Grunde liegende Erkrankung muss entsprechend behandelt werden, Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalt müssen ausgeglichen werden. Kleine, häufige, fett- und ballaststoffarme Mahlzeiten sind empfohlen. Ein pharmakologischer Therapieversuch ist möglich mit Metoclopramid, Domperidon, und Erythromycin. Metoclopramid ist mit der häufigsten Nebenwirkungsrate assoziiert. Zusätzlich können Antiemetika wie Ondansetron oder Granisetron eingesetzt werden. Auch der Einsatz von Protonenpumpeninhibitoren ist häufig gerechtfertigt bei begleitender Ösophagitis durch Erbrechen. In therapieresistenten Fällen muss teilweise eine jejunale Sonde angelegt werden. Die Erfahrungen mit gastralen Schrittmachern bei Kindern sind spärlich.

Dumping-Syndrom Eine beschleunigte Magenentleerung führt zum Dumping-Syndrom und tritt meist postoperativ nach Magenhochzug (z. B. Ösophagusatresie), Fundoplicatio, Pyloroplastik oder nach Vagotomie auf. jjKlinik Beim Frühdumping kommt es unmittelbar postprandial durch unzureichend verdaute hyperosmolare Nahrung, die im Dünndarm Wasser bindet, zu Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Schwindel, Schwitzen und Tachykardie (Volumenmangel!). Beim Spätdumping kommt es meist einige Stunden nach Nahrungsaufnahme zu einer symptomatischen Hypoglykämie (Schwindel, Kaltschweißigkeit, Bewusstlosigkeit, Krampfanfall) nach initial starker Insulinausschüttung und dann plötzlichem Mangel an Kohlenhydraten mit relativem Hyperinsulinismus. jjTherapie Die Mahlzeiten sollten klein und häufig sein und komplexe Kohlenhydrate enthalten, die langsam resorbiert werden. 22.6

Akutes Abdomen

Ein akutes Abdomen ist gekennzeichnet durch plötzlich einsetzende Schmerzen, oft mit Fieber, Abwehrspannung, Stuhlverhalt oder Diarrhö mit drohender Schocksymptomatik. Die Ursachen können intra- oder extra-abdominell gelegen sein (7 Übersicht). Wichtig ist die rasche Abklärung bzw. Entscheidung ob ein operativer Eingriff notwendig ist. Zur Diagnosefindung müssen Blut- und Urin-, ggf. Stuhluntersuchungen erfolgen und bildgebende Verfahren eingesetzt werden, wobei die Sonographie am Anfang steht und ggf. durch Röntgenbilder oder CT ergänzt wird. Therapeutisch muss die Ursache behoben werden, parallel erfolgt die Stabilisierung des Kreislaufs, ein Volumen- und Elektrolytausgleich sowie eine adäquate Schmerztherapie. Intra- und extraabdominelle Ursachen des akuten ­Abdomens A. Sofortige chirurgische Intervention nötig –– Appendizitis –– Invagination –– Komplizierte Cholelithiasis –– Inkarzerierte Hernie –– Perforation eines Hohlorgans –– Hoden-/Ovarialtorsion

–– Volvulus/Malrotation –– Ileus (Peritonitis, postoperativ, Briden, Spontan...) –– Komplizierte Chron. entz. Darmerkrankung B. Sofortige medizinische Behandlung notwendig –– Distales Intestinales Obstruktionssyndrom (DIOS) bei ­Mukoviszidose –– Gastroenteritis mit Dehydratation –– Harnwegsinfektion/Pyelonephritis –– Nekrotisierende Enterokolitis (Früh- und Neugeborene) –– Pankreatitis –– Sepsis –– Komplizierte Ulkuserkrankung –– Nephrolithiasis –– Pneumonie/Pleuritis –– Diabetische Ketoazidose –– Sichelzell-Krise –– Hämolytisch-urämisches Syndrom C. Chirurgische Intervention im Intervall nötig –– Hypertrophe Pylorusstenose –– Hirschsprung-Erkrankung –– Hydrozele –– Meckel-Divertikel –– Gallensteine/Cholezystitis D. Keine akute medizinische Behandlung nötig –– Funktionelle gastrointestinale Beschwerden –– Obstipation/Stuhlverhalt –– Nahrungsmittelallergien, Kohlenhydratmalabsorption –– Vaskulitis: Purpura Schoenlein Henoch –– Lymphadenitis mesenterialis –– Unkomplizierte Gastroenteritis –– Porphyrie –– Akutes A.-mesenterica-superior-Syndrom

22.7

Gastrointestinale Blutung

Eine gastrointestinale Blutung kann akut oder subakut/chronisch verlaufen und aus dem oberen Gastrointestinaltrakt (bis TreitzBand), dem mittleren oder unteren Gastrointestinaltrakt (von terminalem Ileum bis Anus) stammen. Eine obere gastrointestinale Blutung manifestiert sich durch Hämatemesis (Erbrechen von frischem Blut oder Hämatin durch Kontakt zur Magensäue) und/oder Meläna (Teerstuhl). Eine Blutungsquelle im mittleren oder unteren Gastrointestinaltrakt manifestiert sich typischerweise als Hämatochezie (frisches, hellrotes Blut im Stuhl). Oberflächliche Auflagerungen sind bedingt durch Blutungen aus dem Rektum bzw. Analkanal. Seltener kann eine Hämatochezie auch bei einer oberen gastrointestinalen Blutung auftreten, wenn entweder massive Blutungen vorliegen oder die Passagezeit sehr kurz ist wie bei Neugeborenen und jungen Säuglingen. Eine okkulte Blutung kann aus allen Anteilen des Gastrointestinaltrakts stammen und ist nur durch den Guajak-Test zu erkennen.

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j jUrsachen Die möglichen Ursachen der gastrointestinalen Blutung sind vielfältig und abhängig vom Lebensalter des Patienten (. Tab. 22.1).

medizinischen Erkrankung wie einer entzündlichen, metabolischen oder anatomischen Störung (Zöliakie, chronisch entzündlichen Darmerkrankung, Cholelithiasis, Durchblutungsstörung …).

j jKlinik Die Symptomatik ist bestimmt durch die Art der Blutung (Hämatemesis, Hämatochezie, Meläna), den Blutverlust (akute Blutung mit Volumenmangelschock, chronische Blutung mit Anämie) und möglicherweise die Symptome der ursächlichen Erkrankung (z. B. epigastrische Schmerzen bei Ulkuskrankheit, blutige Durchfälle bei Kolitis etc.). In den meisten Fällen sind die Blutmengen aber gering und unbedenklich.

jjPathogenese Die genaue Pathogenese ist noch nicht komplett verstanden. Neben biopsychosozialen Faktoren1 die das Schmerzempfinden und die Funktion des Gastrointestinums beeinflussen wird der „Brain-GutAxis“ und dem intestinalen Mikrobiom zunehmende Bedeutung beigemessen. Bidirektionale neuronale Verbindungen vom ZNS zum Darm beeinflussen Schmerzempfinden und Funktion.

j jDiagnostik und Therapie Bei einer bedeutsamen gastrointestinalen Blutung mit Hb-Abfall mit Hämatemesis und/oder Maläna und Verdacht auf eine obere gastrointestinale Blutung ist zur Abklärung in der Regel eine Öso­pha­go­ gastroduodenoskopie (ÖGD) notwendig, mit der Option eines endoskopischen Eingriffs wie z. B. der Gummibandligatur bei Varizenblutung, Clipping bei arterieller Blutung oder einer Polypektomie. Durch eine Sonographie inkl. Dopplersonographie von Leber und Milz soll bei entsprechendem Verdacht eine portale Hypertension im Vorfeld abgeklärt werden. Bei Verdacht auf eine untere gastrointestinale Blutung steht die Sonographie orientierend am Anfang der diagnostischen Maßnahmen. Bei der Invagination ist sie das Mittel der Wahl und auch bei der Diagnostik der NEC und des Volvulus sowie einer Darmduplikatur ist sie hilfreich. Röntgenübersichtsaufnahmen des Abdomens sind bei NEC und Volvulus ebenso indiziert und diagnostisch wegweisend. Bleibt die Blutungsursache unklar oder besteht der Verdacht auf eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung, Polypen oder Gefäßmalformationen ist eine Koloskopie notwendig. Polypen können abgetragen, Gefäßmalformationen ggf. koaguliert werden. Bei frischen Blutauflagerungen auf dem Stuhl kann die Diagnose oft durch die Inspektion und eine Rektoskopie gestellt werden. Bei einer okkulten Blutung sollte immer eine ÖGD und Koloskopie geplant werden. In einigen Fällen ist zur weiteren Abklärung auch eine MRT (Darmduplikaturen, Dünndarmbeteiligung z. B. bei M. Crohn), eine Videokapselendoskopie (VCE) oder Laparoskopie notwendig (Meckel-Divertikel). Bei ausreichend hohem lokalem Blutverlust kann eine Blutpoolszintigraphie mit durch 99mTc-Pertechnetat markierten Erythrozyten oder eine Angiographie durchgeführt werden, um die Blutungsquelle einzugrenzen. Differenzialdiagnostisch muss abgeklärt werden ob es sich ggf. um Medikamente oder Nahrungsmittel mit Rotfärbung von Stuhl oder Erbrochenem handeln könnte oder bei Neugeborenen um verschlucktes mütterliches Blut. Auch kann die Blutungsquelle in Nase, Rachen oder Lunge liegen. Hämorrhagische Diathesen sind durch entsprechende Labordiagnostik abzugrenzen. 22.8

22

Chronisches Bauchschmerzsyndrom, funktionelle gastrointestinale Störungen

Nach den aktuellen Rom-IV-Kriterien wird von chronisch-funktionellen Bauchschmerzen gesprochen wenn die Beschwerden über einen Zeitraum von mindestens 2 Monaten und mindestens 4-mal/ Monat auftreten. Bis zu 15% der Kinder und Jugendlichen leiden im Verlauf ihrer Entwicklung unter chronischen Bauchschmerzen. Zu einem überwiegenden Teil handelt es sich dabei um sog. „funktionelle“ Bauchschmerzen. Wichtig ist der Ausschluss einer anderen

jjKlinik Die chronisch-funktionellen gastrointestinalen Erkrankungen (FGID) sind durch spezifische Symptome gekennzeichnet, die in den Rom-IV-Kriterien festgelegt sind (. Tab. 22.2). Funktionelle Bauchschmerzsyndrome sind im Abschnitt „H2“ der Rom-IV-Kriterien beschrieben. Bei funktionellen Bauchschmerzen „H2d“ werden die Schmerzen klassischerweise periumbilikal angegeben, sind oft von hoher Intensität, die Dauer kann wechselnd sein, oft werden die Schmerzen auch durchgehend und täglich angegeben. jjDiagnostik Neben einer genauen Anamnese und körperlichen Untersuchung unter Einschluss einer rektalen Untersuchung kann eine Basisdia­ gnostik andere Erkrankungen mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen: Differenzialblutbild, Blutsenkung, CRP, Lipase, Transami­ nasen, Albumin, Eiweiß, Kreatinin, TSH, Transglutaminaseanti­ körper, Urinstatus, Calprotectin im Stuhl, ggf. Stuhlunter­suchungen auf Giardia, Würmer und andere Erreger sowie ein Ultraschall des Abdomens. Bei bestimmten Hinweisen oder in Zweifelsfällen sind weitere Untersuchungen wie H2-Atemteste, Endos­kopie, MRT, gynäkologische Untersuchung etc. indiziert. Warnsymptome, sog. Red Flags, können hinweisend auf eine Erkrankung anderen Ursprungs sein. Red Flags 55Ungewollter Gewichtsverlust 55Wachstumsstörungen, verzögerte Pubertätsentwicklung 55Streng lokalisierte Schmerzen in Entfernung vom Bauchnabel z. B. im rechten UB oder OB 55Nächtliche Durchfälle 55Blut im Stuhl 55Rezidivierendes Erbrechen, blutiges Erbrechen 55Dysphagie, Schluckstörung 55Unklares Fieber 55Arthritis 55Menstruationsstörungen 55Positive Familienanamnese für CED, Zöliakie etc. 55Auffälligkeiten bei der körperlichen Untersuchung wie Resistenzen, Hepatosplenomegalie etc.

jjTherapie Wichtiger Bestandteil der Therapie ist eine adäquate Aufklärung über die Zusammenhänge der Schmerzen und darüber, dass zwar 1 Bio genetische Prädisposition, individuelles Schmerzempfinden, Vorerkrankungen mit Einfluss auf das enterale Schmerzempfinden u. a.; Psycho Coping-Strategien, Belastbarkeit, psychische Stabilität u. a.; Sozial Familie, Peer-Group, Schule.

507 Gastroenterologie interdisziplinär

..Tab. 22.1  Übersicht über die häufigsten Ursachen gastrointestinaler Blutungen im Kindesalter in Abhängigkeit vom Lebensalter Hauptsymptom

Typisches Erkrankungsalter

Verdachtsdiagnosen

Hämatemesis, Meläna Hämatochezie bei großen Blutmengen, kurzer Passagezeit und/oder fehlender Magensäure möglich

Neugeborene

Verschlucktes mütterliches Blut Hämorrhagische Diathese, Vitamin-K-Mangelblutung, Koagulopathie, Cholestase, Leberversagen Rezidivierendes Erbrechen (GÖR, hypertrophe Pylorusstenose) Hämorrhagische Gastritis, Ulkus Traumatisch (z. B. durch Absaugen, Magensonde)

Säuglinge

Hämorrhagische Gastritis, Stressgastritis, Ulkus Rezidivierendes Erbrechen, Ösophagitis, Refluxösophagitis, Mallory-Weiss-Syndrom, Pylorusstenose Koagulopathie, Leberversagen, Cholestase Gefäßmalformationen (Hämangiome, Teleangiektasien) Gastrointestinale Duplikaturen

Kleinkinder, ­Schulkinder, Jugendliche

Nahrungsmittel, Medikamente mit blutähnlicher Färbung Blut aus oberen Atemwegen, z. B. Epistaxis, nach HNO-OP Mallory-Weiss- Syndrom, rezidivierendes. Erbrechen Hämorrhagische Gastritis, Stressgastritis, Ulkus Ösophagus- oder Fundusvarizen (Reflux)ösophagitis Fremdkörperingestion, Laugen-, Säurenverätzung Chronisch entzündliche Darmerkrankungen: M. Crohn Vaskulitis

Hämatochezie Meläna bei langer Verweildauer im Darm

Neugeborene

Verschlucktes mütterliches Blut Analfissuren Hämorrhagische Diathese, Vitamin-K-Mangelblutung, Koagulopathie, Cholestase, Leberversagen Infektiöse Enterokolitis Nekrotisierende Enterokolitis Volvulus

Säuglinge

Kuhmilchproteinintoleranz Infektiöse Enterokolitis Analfissuren Invagination Hämangiome, vaskuläre Malformationen Darmduplikationszysten M. Hirschsprung, Enterokolitis, toxisches Megakolon Meckel-Divertikel Lymphatische Hyperplasie

Kleinkinder, ­ Schulkinder, Jugendliche

Nahrungsmittel, Medikamente mit blutähnlicher Färbung Blut aus oberen Atemwegen, z. B. Epistaxis, nach HNO-OP Infektiöse Enterokolitis Analfissuren Solitäres Rektumulkus Invagination Vaskulitiden: Purpura Schöenlein-Henoch Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, M. Crohn) Meckel-Divertikel Polypen, Hamartome Gefäßmalformationen: M. Osler, Hämangiome, Angiodysplasien Eosinophile Kolitis Graft-versus-Host-Disease

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C. Hünseler und M. Dübbers

..Tab. 22.2  Abschnitt G und H der Rom-IV-Kriterien: funktionelle gastrointestinale Störungen des Säuglings- und Kleinkindalters (G) und Kindes- und Jugendalters (H)

..Tab. 22.2 (Fortsetzung) H2b Reizdarmsyndrom Alle Kriterien müssen erfüllt sein: 1) Bauchschmerzen an mindestens 4 Tagen im Monat assoziiert mit einem oder mehreren der folgenden Symptome: (a) Schmerzen in Relation zur Defäkation (b) Wechselnde Stuhlfrequenz (c) Wechselnde Stuhlbeschaffenheit 2) Bei Kindern mit Obstipation sistiert der Schmerz nicht unter Behandlung der Obstipation 3) Sistieren die Schmerzen bei erfolgreicher Behandlung der Obstipation handelt es sich um eine funktionelle Obstipation 4) Nach angemessener Untersuchung kann der Bauchschmerz nicht komplett durch andere medizinische Konditionen erklärt werden

G FGID Säuglinge und Kleinkinder G1 Regurgitation G2 Rumination G3 Zyklisches Erbrechen G4 Säuglingskoliken G5 Funktionelle Diarrhö G6 Dyschezie G7 Funktionelle Obstipation H FGID Kinder und Jugendliche H1 Störungen mit funktioneller Übelkeit und Erbrechen

H2c Abdominelle Migräne Alle Kriterien müssen mindestens 2-mal aufgetreten sein: 1) Paroxysmale Episoden intensiver, akuter periumbilikaler, mittiger oder diffuser Bauchschmerzen mit einer Dauer von 1 h oder mehr (sollte das schwerwiegendste Symptom sein) 2) Die Episoden liegen Wochen bis Monate auseinander 3) Der Schmerz beeinträchtigt die normale Tätigkeit 4) Die Symptome des einzelnen Patienten sind immer gleichförmig 5) Der Schmerz wird begleitet von 2 oder mehr der folgenden Symptome: (a) Anorexie (b) Nausea (c) Erbrechen (d) Kopfschmerz (e) Photophobie (f ) Blässe 6) Nach angemessener Untersuchung kann der Bauchschmerz nicht komplett durch andere medizinische Konditionen erklärt werden

H1a Zyklisches Erbrechen H1b Funktionelle Übelkeit und funktionelles Erbrechen H1c Ruminationssyndrom H1d Aerophagie

H2 Funktionelle Bauchschmerzsyndrome

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H2a Funktionelle Dyspepsie Kriterien müssen mindestens 4-mal/Monat über mindestens 2 Monate auftreten: 1) Postprandiales Völlegefühl 2) Schnelles Sättigungsgefühl 3) Epigastrische Schmerzen oder Brennen ohne Zusammenhang zur Defäkation 4) Nach angemessener Untersuchung kann der Bauchschmerz nicht komplett durch andere medizinische Konditionen erklärt werden Zwei Subtypen werden unterschieden: 1) Postprandiales Distress Syndrom mit besorgniserregendem postprandialem Völlegefühl und schnellem Sättigungsgefühl, das die Aufnahme einer kompletten Mahlzeit verhindert. Zusätzlich können ein geblähtes oberes Abdomen, post­ prandiale Übelkeit oder exzessives Aufstoßen vorliegen 2) Epigastrisches Schmerzsyndrom, dass alle folgenden Kriterien erfüllt: Beeinträchtigende epigastrische Schmerzen oder Brennen. Der Schmerz ist nicht generalisiert oder in anderen abdominellen Bereichen oder thorakal lokalisiert und wird nicht durch Defäkation oder Windabgänge erleichtert. Zusätzlich können weitere Symptome vorliegen: (a) Brennende Schmerzqualität ohne retroster­ nale Komponente (b) Der Schmerz kann durch Nahrungsaufnahme verstärkt oder abgeschwächt werden, tritt aber auch während Nüchternperioden auf

H2d Funktionelle Bauchschmerzen, nicht andernorts spezifiziert Kriterien müssen mindestens 4-mal/Monat über mindestens 2 Monate auftreten: (1) Episodischer oder kontinuierlicher Bauchschmerz ohne ausschließlichen Zusammenhang zu physiologischen Ereignissen (Nahrungsaufnahme, Menstruation) (2) Symptomatik entspricht nicht den Kriterien des Reizdarms, der funktionellen Dyspepsie (3) Nach angemessener Untersuchung kann der Bauchschmerz nicht komplett durch andere medizinische Konditionen erklärt werden H3 Störungen der Defäkation

H3a Funktionelle Obstipation H3b Stuhlinkontinenz ohne Retention

Ausführlicher beschrieben sind nur die diagnostischen Kriterien der funktionellen Bauchschmerzsyndrome

509 Gastroenterologie interdisziplinär

belastende Symptome aber keine bedrohliche Krankheit vorliegt. Coping-Strategien zum Umgang mit den funktionellen Bauchschmerzen wie Ablenkungsstrategien können vom Kind und von der Familie erlernt werden. Eine Hypnotherapie kann zur Symptomlinderung und -kontrolle führen. Ebenso ist eine psychologische Evaluation in vielen Fällen ratsam. Eine noch nicht eindeutig evidenzbasierte adjuvante Therapie ist die Gabe von Pro- oder Prebiotika. Besondere Diäten sollten vermieden werden, bei Erwachsenen scheint eine FODMAP-reduzierte Diät [fermentierbare, Oligo-, Di-, Mono-Saccharide und Polyol (FODMAP)Diät] einen positiven Einfluss auf ein Reizdarmsyndrom zu haben. Die Symptome der abdominellen Migräne lassen sich durch die frühzeitige Gabe eines Antiemetikums und Analgetikums sowie Ruhe und Entspannung verbessern. 22.9

Akute Gastroenteritis

Die akute Gastroenteritis ist neben den Atemwegsinfektionen eine der häufigsten Infektionskrankheiten des Kindesalters, nahezu jedes Kind wird mindestens einmal an einer Gastroenteritis erkranken. In Deutschland wird sie v. a. durch virale Erreger ausgelöst (v. a. Noro-, Rota-, Astro-, Adeno-, Enteroviren; 7 Kap. 15), seltener durch Bakterien (Salmonellen, Shigellen, enteropathogene E. coli, Yersinien, Campylobacter jejuni, Clostridien etc.) und noch seltener durch Einzeller und Parasiten wie Gardia lamblia, Amöben oder Krytosporidien. Die Infektionsquelle viraler Erreger ist immer der Mensch, bei den bakteriellen Erregern können neben dem Menschen auch Tiere und tierische Nahrungsmittel (Salmonellen, E. coli, Yersinien etc.) oder auch das Trinkwasser Überträger sein. Der Übertragungsweg erfolgt durch Schmierinfektion, seltener durch Tröpfcheninfektion (Norovirus) oder über verseuchte Lebensmittel oder Trinkwasser. Die Inkubationszeiten sind für alle Erreger mit 1–3 Tagen kurz. Auch bakterielle Toxine aus kontaminierten Lebensmitteln (Staphylococcus aureus, selten Bacillus cereus, Clostridien) können ursächlich für eine akute Gastroenteritis sein. jjPathophysiologie Der Elektrolyt- und Wasserverlust wird durch osmotische oder ­sekretorische Mechanismen ausgelöst. Bei der osmotischen Diarrhö kommt es durch eine Schädigung der Enterozyten durch Erreger oder Toxine zu einer fehlenden Resorption von Nährstoffen und Elektrolyten, diese sind im Darmlumen osmotisch wirksam und „entziehen“ auf die Weise Wasser. Bei der sekretorischen Diarrhö werden durch bakterielle Toxine (klassisch: Choleratoxin) oder virale Proteine wie das Rotavirusprotein NSP4 intrazelluläre Messenger (Ca; cGMP, cAMP) aktiviert die dann z. B. apikale Chloridkanäle der Enterozyten aktivieren, auch kann die Bildung sekretorischer Zellen stimuliert werden und das enterische Nervensystem sowie die ­Bildung sekretorischer Hormone (5-Hydroxytryptamin, VIP u. a.) aktiviert werden. Der Wasserverlust und Elektrolytverlust bei der sekretorischen Form ist meist deutlich höher, oft liegen Mischformen vor. Differenzial­ diagnostisch hilft eine Nahrungskarenz: Während bei der osmotischen Form die Diarrhö deutlich zurückgeht oder sistiert, persistiert sie bei der sekretorischen Form. jjSymptomatik Die Symptomatik der akuten Gastroenteritis ist gekennzeichnet durch Diarrhö und/oder Erbrechen, erstere kann blutig oder eitrig sein, und dem damit verbundenen Flüssigkeitsmangel, Elektrolytverschiebungen und Energiemangel.

Die resultierende Dehydratation wird nach dem Ausmaß des Flüssigkeitsverlusts eingeteilt in leicht, moderat und schwer (8% Gewichtsverlust) sowie nach der Natriumkonzentration im Serum in eine isotone Form (130–150 mmol/l), hypotone Form (150 mmol/l). In ca. 70% der Fälle liegt eine isotone Dehydratation vor. Bei einer hypertonen Dehydratation kann der Grad der Dehydratation durch den teigig-pastösen Turgor maskiert werden, die Kinder zeigen häufig neurologische Symptome wie erhöhten Muskeltonus, Hyperreflexie, Krampfanfälle, Somnolenz, oder Koma. Bei nur leichter Dehydratation liegen kaum weitere klinische Symptome vor, bei moderater bis schwerer Dehydratation sind eine eingesunkene Fontanelle, eingesunkene Augen, trockene Schleimhäute, reduzierter Hautturgor, neurologische Symptome wie Un­ ruhe, Lethargie, Koma, eine reduzierte Diurese und ggf. Schock­ zeichen mit arterieller Hypotonie, Tachykardie und eingeschränkter Mikrozirkulation typische klinische Zeichen. Fieber ist ein häufiges ­Begleitsymptom infektiöser Gastroenteritiden (selten bei toxinbedingten) und erhöht den Flüssigkeitsbedarf weiter. Mögliche Verschiebungen im Elektrolythaushalt (Hypo-/Hyperkaliämie, Hypo-/Hypernatriämie) können zu Herzrhythmusstörungen und neurologischen Symptomen bis hin zu Krampfanfällen führen. Durch Bikarbonatverlust, später auch Energiemangel und Minderperfusion kommt es zu einer metabolischen Azidose. Die Dauer der infektiösen Gastroenteritis ist variabel, beträgt meist weniger als 7 Tage, selten mehr als 14 Tage. jjDiagnose Die Diagnostik stützt sich auf die genaue Anamnese mit Erbrechen, Durchfall, Fieber, ggf. bekannte Umgebungsinfektionen im Kindergarten/Schule oder der Familie. Differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden müssen andere Ursachen für Erbrechen und/oder Durchfall wie die Appendizitis, Invagination, Volvulus bzw. Ileus, Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie Zöliakie, Kuhmilchpro­ teinintoleranz. Auch andere nicht intestinale Infektionen wie ­Harnwegsinfektionen, Tonsillitis oder Meningitis etc. können zu Erbrechen und z. T. auch dünnem Stuhl führen. Eine diabetische Ketoazidose, eine Pylorushypertrophie oder Hirndruck können als ein Leitsymptom Erbrechen zeigen. Blutentnahmen, Urinuntersuchungen oder bildgebende Ver­ fahren wie die Sonographie sind nur im Zweifel zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung anderer Erkrankungen notwendig. Eine Erregersuche im Stuhl ist bei ambulant erworbener und ambulant behandelter Gastroenteritis gewöhnlich nicht notwendig. In der ­Klinik kann dies notwendig sein, um Isolationsmaßnahmen bzw. Kohortierungen zu planen, ebenso bei sehr schweren, ungewöhnlichen oder protrahierten Verläufen und bei chronisch kranken, z. B. immunsupprimierten Kindern oder Kindern mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. jjTherapie Die Therapie besteht v. a. im Ausgleich des geschätzten Flüssigkeitsverlusts und ggf. der Elektrolytverschiebungen. Eine Blutentnahme mit Bestimmung v. a. der Elektrolyte vor Rehydratation ist nur bei geplanter i.v.-Rehydratation oder bei (neurologischen) Symptomen notwendig, die durch die Dehydratation nicht erklärt werden. Angestrebt werden sollte eine orale Rehydratation mit einer kommerziell erhältlichen hypotonen oralen Reydratationslösung (ORL mit Na 60 mmol/l; 200–250 mosol/l). Gestillte Säuglinge werden weiter ­gestillt. Säuglinge, die mit Formelnahrung ernährt werden, sollten diese weiter erhalten.

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Die orale Rehydratation sollte bei moderaten Dehydratationen zunächst über 4 Stunden versucht werden, wenn nötig mit Hilfe ­einer Magensonde. Bei Erbrechen sollte ein Antiemetikum wie ­Granisetron verabreicht werden. Eine orale Rehydratation ist mit einer geringeren Komplikationsrate und schnellerer Ausheilung verbunden. Ist dieser Versuch nicht erfolgreich, wird eine i.v.-Rehydratation begonnen. Bei sehr schweren Dehydratationen mit Schock, neurologischen Symptomen wie Somnolenz, unstillbarem Erbrechen oder akutem Abdomen wird primär eine intravenöse Rehydratation durchgeführt. Als universelle Infusionslösungen eignen sich NaCl 0,9% (auch zur initialen Schocktherapie mit Bolusgaben von je 20 ml/ kgKG) oder eine Ringer-Lösung. Der Flüssigkeitsbedarf für die ersten 24 Stunden setzt sich aus dem geschätzten Verlust (Verlust in % des Köpergewichts (g) = ml) sowie dem Grundbedarf zusammen (Grundbedarf nach Holliday: 100-50-20-Regel: Kilogramm 1–10 des Körpergewichts = 100 ml/ kgKG+ Kilogramm 11–20 des Körpergewichts = 50 ml/kgKG + 25 ml/kg für jedes Kilo über 20 kg bis ca. 40 kg Körpergewicht). ­Dabei sollte der Grundbedarf gleichmäßig über den Tag verteilt werden, 50% des Verlusts sollte wenn möglich rascher, d. h. z. B. in den ersten 8 Stunden, die zweiten 50% in Stunde 9–24 verabreicht werden. Fieber erhöht den Tagesgrundbedarf um ca. 10%/1°C, voluminöse wässrige Stuhlgänge werden mit 10 ml/kgKG zusätzlich berechnet. !! Cave Die i.v.-Korrektur einer Hyponatriämie und v. a. Hypernatriämie muss ausgesprochen langsam und kontrolliert erfolgen, da bei zu schneller Veränderung die Gefahr einer pontinen oder extrapontinen Myelinolyse mit dem Risikio für neurologische Residuen besteht. Die Korrektur des Serumnatriums soll nicht schneller als um 0,5 mmol/h erfolgen.

Nahrungskarenz, Teepausen oder spezielle Diäten sind nicht notwendig, der vorsichtige Nahrungsaufbau sollte so rasch wie möglich beginnen. Unterstützend kann v. a. zu Beginn einer Gastroenteritis Lactobacillus rhamnosus GG (alternativ Saccharomyces boulardii) verabreicht werden, damit kann die Dauer der Durchfallerkrankung um ca. einen Tag reduziert werden. Racecadotril als Hemmer der Enkephalinase verringert den sekretorischen Wasserverlust um bis zu 40–50% und reduziert die Elektrolytverluste. Eine antibiotische Therapie ist auch bei bakterieller Ursache fast nie indiziert. Ausnahmen sind Neugeborene und junge Säuglinge sowie immuninkompetente oder chronisch kranke Kinder. Shigellen­infektionen sollen mit Azithromycin behandelt werden. Eine Amöbenkolitis, eine schwere Gardiasis und moderate bis schwere Clostridienkolitis können mit Metronidazol therapiert ­werden.

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j jVorbeugende Maßnahmen Stillen bzw. Muttermilchfütterung des Neugeborenen und Säuglings reduziert die Inzidenz an infektiösen Enteritiden. Die orale Rotaviruslebendimpfung ist von der STIKO empfohlen und soll je nach Impfstoff zwei- bzw. dreimalig zwischen ­Lebenswoche 6 und 24 bzw. 32 durchgeführt werden. Im Falle einer Umgebungsinfektion sind Hygienemaßnahmen, v. a. die Händedesinfektion wichtig.

22.10

Dünndarm

Die Aufgabe der Nahrungsaufnahme und Versorgung des Körpers mit Nährstoffen kann vom Darm nur erfüllt werden wenn eine Integrität der Mukosa, eine normale Motilität sowie die enzymatische, immunologische und neuroendokrine Funktion gegeben ist. 22.10.1

Anomalien des Dünndarms

Meckel-Divertikel Das Meckel-Divertikel ist ein Rest des embryonalen Ductus omphaloentericus und befindet sich ca. 50–75 cm oralwärts der Ileocoecalklappe am Ileum. In ca. 30% enthält es heterotope Magenschleimhaut, die zu Ulzerationen der Umgebung und zu einer schmerzlosen meist frischblutigen Hämatochezie führen kann (7 Abschn. 22.7). Die Diagnostik erfolgt szintigraphisch durch Tc99m-Pertechnetat oder laparoskopisch. Das Meckel-Divertikel kann auch entzünden und Symptome ähnlich einer Appendizitis verursachen sowie zu einer Invagination oder zum Volvulus führen. Die Therapie bei entsprechenden Symptomen besteht in der ­chirurgischen Abtragung.

Atresien und Stenosen des Gastrointestinaltrakts Angeborene Verschlüsse oder Stenosen des Gastrointestinaltrakts sind die häufigste Ursache für eine intestinale Obstruktion im ­Neugeborenenalter. Die Defekte können an jeder Stelle des Intes­ tinums auftreten, wobei das Ileum die häufigste Lokalisation ­darstellt. ­Ursächlich werden eine lokale mesenteriale Minderdurchblutung sowie Rekanalisierungsstörungen in der Embryonalphase diskutiert. Duodenalatresie  Sowohl extrinsische (Malrotation, Pancreas

anulare, Ladd-Bänder) als auch intrinsische (duodenal web, Kontinuitätsunterbrechung, Stenose) Ursachen können eine Obstruktion des Duodenums bewirken. Die klassische Double-bubble-Konfiguration bei Duodenalatresie ist häufig bereits in der pränatalen Sonographie erkennbar und bezeichnet die Dilatation von proximalem Duodenum und Magen getrennt durch den sich nicht erweiternden Pylorus. In der postnatalen Röntgenaufnahme zeigen sich beide Strukturen luftgefüllt bei ansonsten überwiegend gasleerem Abdomen (. Abb. 22.6). Die Inzidenz der Duodenalatresien und -stenosen beträgt etwa 1:2.500. In etwa 50% der Fälle bestehen Begleitfehlbildungen anderer Organsysteme. Gehäuft ist die Duodenalatresie bei Patienten mit Trisomie 21 zu beobachten.

Atresien von Jejunum und Ileum  Atresien im Bereich der distalen Dünndarmabschnitte treten mit einer Inzidenz von 1:5.000 zumeist isoliert ohne Begleitfehlbildungen an anderen Organsystemen auf. In etwa 10–15% der Fälle bestehen allerdings multiple Atresien (. Abb. 22.7). Eine Sonderform der jejunoilealen Atresie ist die sog. „Applepeel“-Malformation bei der das atretische Segment helixartig um ein ernährendes Zentralgefäß geschlungen ist. Betroffene zeigen zudem häufig weitere Atresien, sodass hier die Gefahr eines Kurzdarm­ syndoms besteht. Kolonatresie  Atresien im Bereich des Kolons sind deutlich selte-

ner. Die Inzidenz wird mit etwa 1:20.000 angegeben. Zumeist ­handelt es sich um komplette Atresien mit Mesenterialdefekt, membranöse Atresien kommen ebenfalls vor. Begleitende Krankheitsbilder sind

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..Abb. 22.7  Intraoperativer Befund bei Jejunumatresie

Reanastomosierung. Die teils erhebliche Diskrepanz der Durchmesser von zuführenden und abführenden Darmabschnitten erfordert hierbei teilweise spezielle Modellierungstechniken, in seltenen Fällen muss temporär sogar ein Anus praeter angelegt werden.

..Abb. 22.6  Double-bubble-Zeichen in der postnatalen Röntgenauf­ nahme bei Duodenalatresie

die Gastroschisis oder der Morbus Hirschsprung. Auch bei Dünndarmatresien sollte das Kolon mitinspiziert werden. jjKlinik und Diagnose Das klinische Erscheinungsbild der intestinalen Atresien ist geprägt durch die Symptome der Passagestörung. Je nach Höhe der Lokalisation finden sich typische Symptome wie Erbrechen, geblähtes Abdomen oder fehlender Mekoniumabgang beim Neugeborenen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass bei hoher Atresie das Abdomen durchaus eingefallen sein kann, andererseits der Darm distal gelegentlich stuhlgefüllt ist und daher auch Mekonium abgesetzt werden kann. Membranöse Duodenalatresien weisen gelegentlich eine zentrale Öffnung auf, wodurch eine Nahrungspassage manchmal möglich ist. Ebenso können Stenosen mit inkompletter Obstruktion längere Zeit asymptomatisch bleiben. Neben der klinischen Symptomatik zeigt die Röntgenübersicht des Abdomens, ggf. auch eine Sonographie zumeist massiv dilatierte Darmabschnitte, welche einen Rückschluss auf den betroffenen Darmabschnitt zulässt. jjTherapie Die Therapie der echten Duodenalatresie oder des Pancreas anulare erfolgt durch die Rekonstruktion der Passage mittels Umgehungs­ anastomose zwischen proximalen und distalem Duodenum (Duodenoduodenostomie). Intestinale Membranen können nach Eröffnen des Darmlumens exzidiert werden, eine zugrundeliegende ­Malrotation des Darms oder Ladd-Bänder müssen operativ gelöst werden. Therapie der Wahl bei den distalen Darmatresien ist die operative Resektion der atretischen Darmabschnitte mit direkter

jjKomplikationen und Prognose Die Prognose der Kinder mit angeborenen intestinalen Atresien ist insgesamt gut. Neben allgemeinen Operationsrisiken wie Anastomoseninsuffizienz oder narbigen Stenosen weisen Kinder postoperativ gelegentlich Motilitätsstörungen des Darms auf, was neben der Dilatation und dem Kalibersprung möglicherweise auch einer veränderten neuronalen Innervation benachbarter Darmabschnitte geschuldet ist. Kinder mit multiplen Atresien oder einem Applepeel-Syndrom können ein Kurzdarmsyndrom erleiden.

Malrotation Die fehlerhafte Rotation und Fixierung des Mitteldarms während der Embryonalzeit führt zu unterschiedlichen Formen der Darmfehldrehung (Malrotation, Nonrotation). Die Inzidenz der Darm­ lageanomalien ist unklar, da diese nicht zwangsläufig klinische ­Symptome verursachen und somit häufig unbemerkt bleiben. Symptomatische Formen werden mit einer Häufigkeit von 1:6.000 Lebendgeborene beschrieben. Das klinische Beschwerdebild kann sehr unterschiedlich sein. Neben einer Passagestörung können auch Symptome einer mesenterialen Mangeldurchblutung auftreten. Hochgradige Stenosen werden meistens bereits im Neugeborenenalter unter dem klinischen Bild eines Ileus symptomatisch, bei milden Formen finden sich u. U. lediglich unspezifische Beschwerden wie rezidivierende Bauchschmerzen oder eine Obstipationssymptomatik. Bei akut eintretender Ileussymptomatik, insbesondere mit galligem Erbrechen, sollte jedoch in jedem Lebensalter an die Möglichkeit eines akuten Volvulus bei Malrotation gedacht werden, was eine umgehende operative Intervention erfordert. !! Cave Bei akuter Ileussymptomatik mit galligem Erbrechen muss stets ein Volvulus ausgeschlossen werden.

Duplikaturen des Gastrointestinaltrakts Angeborene Duplikaturen können im gesamten Gastrointestinaltrakt vom Larynx bis zum Anus auftreten, die häufigsten Lokalisa­

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tionen sind Jejunum und Ileum. Die Gesamtinzidenz beträgt etwa 1:5.000, die Ursache ist unklar. Die Struktur imponiert in den meisten Fällen als zystische, seltener auch tubuläre Doppelung mit oder ohne Verbindung zum benachbarten Abschnitt des Gastrointestinaltrakts. Die Wand der Duplikatur besteht aus Muskulatur und Epithel des Verdauungstrakts, wobei auch ektope Schleimhaut gefunden werden kann. Die klinische Symptomatik wird vornehmlich­ durch den raumfordernden Charakter der Läsion bestimmt. Die Therapie besteht in der Resektion der Duplikatur, wobei im Bereich des Intestinums aufgrund der häufig gemeinsamen Wand eine ­Resektion des anliegenden Darmsegments oft nicht vermieden ­werden kann.

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der Gewichtsperzentilen, Abfall des BMI, bei chronischem Verlauf auch eingeschränktes Längenwachstum) und Mangelversorgung z. B. von Eisen, Zink, Vitaminen etc. bemerkbar mit den entsprechenden Symptomen einer Anämie, Ekzemen, Osteopenie, Pubertas tarda u. a.

jjDiagnostik Wichtig ist eine genaue Anamnese inkl. Ernährungsprotokoll und Stuhlvisite. Es sollte überprüft werden, ob die Symptomatik seit der Einführung bestimmter Nahrungsmittel besteht, mit der Einnahme bestimmter Nahrungsmittel assoziiert ist oder ob z. B. eine akute Infektion auslösend war. Die Menge und Beschaffenheit der Stuhlausscheidung, das Vorhandensein von Blutbeimengungen (Hinweis auf CED), Fettstühlen (Pankreasinsuffizienz) oder sauren Stühlen (Kohlenhydratmalabsorption) sollte verifiziert werden. Ein Fasten22.10.2 Malabsorption und chronische Diarrhö test kann klären, ob es sich ätiologisch um eine osmotische oder­ Eine Malabsorption tritt auf, wenn die Resorptionsfunktion der um eine sekretorische Diarrhö handelt. Während die osmotische Dünndarmschleimhaut beeinträchtigt ist, entweder durch eine Diarrhö unter Nahrungskarenz sistiert, persistiert die sekretorische ­Zerstörung der Mukosa (Infektion oder Inflammation), Fehlfunk­ Diarrhö. Durch laborchemische, bildgebende und ggf. endoskopische tionen der Enterozyten (z. B. kongenitale Diarrhöen), durch eine verkürzte Darmlänge oder eine Motilitätsstörung. Es kann eine Verfahren kann eine gastroenterologische Ursache nachgewiesen ­globale Resorptionsstörung vorliegen, wie beim M. Crohn oder­ werden. Für die kongenitalen Diarrhöen (s. u.) ist in fast allen Fällen die der Zöliakie, oder eine partielle Resorptionsstörung z. B. bei­ einem Saccharase-Isomaltase-Mangel, einer Chlorid- oder Natrium- Diagnose molekulargenetisch möglich. Eine diagnostische Hilfe bietet das folgende Stufenschema: diarrhö u. a. Als Maldigestion wird der Mangel an Pankreasenzymen mit konsekutiver Steatorrhö bezeichnet. Als Diarrhö wird üblicherweise eine Veränderung der Stuhl­ Diagnostisches Stufenschema bei chronischer Diarrhoe im beschaffenheit und -frequenz bezeichnet, mit Stuhlfrequenzen >5/d Kindesalter (Säuglingsalter) bzw. >3/d (>1. Lebensjahr) mit einem Stuhlgewicht A. Alter, Anamnese, Familienanamnese, Gedeihen, Objektivievon mehr als 10 g/kgKG/d (>200 g/d bei Erwachsenen) und einem rung Stuhlbeschaffenheit und -frequenz hohen Wasseranteil über 80%. Pathogenetisch liegt der Diarrhö ein 1. Stufe: Basisdiagnostik osmotischer oder sekretorischer Mechanismus, häufig eine kom­ –– Blutuntersuchungen: plexe Kombination von beidem zu Grunde. Unverdaute Nahrungs–– Schilddrüsenstatus (Hyperthyreose) bestandteile führen zu einer osmotischen Diarrhö durch Bindung –– Blutbild, BSG, CRP, Albumin (Hinweis auf chronisch von Wasser, die Gärung unverdauter Zucker im Kolon führt zu Bläentzündlich Darmerkrankung) hungen und Meteorismus sowie zur Entstehung saurer kurzkettiger –– GPT, γGT, Lipase Fettsäuren, die als reduzierende Substanzen nachgewiesen werden –– Cholesterin, LDL, HDL können. Bei einer aktiven sekretorischen Diarrhö werden Wasser –– Eisenstatus, Zink, Vitamin D, Vitamin B12, Folsäure und Elektrolyte aktiv von den Enterozyten sezerniert, der Flüssig(Malabsorption) keits- und Elektrolytverlust ist hierbei deutlich höher. Verursacht –– Elektrolyte, Säure-Base-Status, Blutzucker wird dies z. B. durch bakterielle Toxine oder virale Bestandteile. Als –– Mikrobiologische Untersuchungen (Infektiöse Enteritis): klassisches Beispiel kann das Choleratoxin genannt werden, welches –– Stuhlkulturen in der Zelle zu einer Erhöhung der cAMP-Konzentration führt und –– PCR: Lamblien, Kryptosporidien, Amöben dadurch die Chloridsekretion der Enterozyten über den CFTR-Ka–– Mikroskopie (Parasiten, Würmer) nal gesteigert wird, während gleichzeitig die Na+-Resorption über –– Virusnachweis (auch CMV bei Immunsuppression) den ENaC-Kanal vermindert ist. Bei der Chloriddiarrhö liegt ein –– Serologie (Yersinien, Campylobacter) angeborener Defekt des Na+-unabhängigen Cl-/HCO3–-Austau–– Zöliakie-Screening: schers vor, der schon intrauterin zu einer sekretorischen Diarrhö –– Serologie (IgA und IgG für tTG [Gewebetransglutamiführt. nase], EMA [Endomysiumantikörper], AGA Eine passive sekretorische Diarrhö liegt bei chronisch-inflam­ ­[deamidierte Gliadinantikörper] und Gesamt-IgA) matorischen Prozessen wie beim M. Crohn durch Exsudation über –– Kohlenhydratmalabsorptionen: die Schleimhaut vor. Hierbei kommt es durch die Schleimhautschä–– H2-Atemteste (Laktose, Fruktose) digung aber auch zu einer malabsorptiven osmotischen Diarrhö. –– Nichtinvasive Tests/Stuhluntersuchungen: –– Intestinale Inflammation: Calprotectin oder j jKlinik ­Laktoferrin Neben einer Diarrhö mit möglichen Bauchschmerzen, Meteorismus –– Exokrine Pankreasfunktion: Pankreaselastase und Blähungen können zusätzliche Symptome einer zu Grunde –– Okkultes Blut ­liegenden Erkrankung vorliegen, wie perianale Fisteln bei einem –– Nahrungsmittelallergien: M. Crohn etc. –– Skin-Prick-Test, ImmunoCAP Eine Malabsorption macht sich durch eine Gedeihstörung –– Ultraschall Abdomen ­(fehlende Gewichtszunahme bzw. Gewichtsverlust mit Schneiden

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2. Stufe: Erweiterte Diagnostik –– Endoskopie und Histologie (Standard-Histologie, ­PAS-Färbung, Elektronenmikroskopie) –– Molekulargenetik (z. B. bei kongenitaler Diarrhö) –– Spezielle Untersuchungen –– Intestinale Immunhistochemie –– Anti-Enterozyten-Antikörper (Autoimmunentero­pathie) –– Serum-Chromogranin und Katecholamine (Urin) (Phäochromozytom) –– VIP im Serum (Vipom) –– 5-Hydroxyindolessigsäure im Urin (Karzinoid) –– Stuhl: Gallensäuren im Stuhl (chologene Diarrhö) –– 75SeHCAT-Messung (Taurocholsäure: Gallensäure­ malabsorption) –– Intestinale Funktion: Na- und Cl-Konzentration; α1Antitrypsin; reduzierende Substanzen, Steatokrit –– H2-Atemtest-Glukose oder -Laktulose bei V. a. bakterielle Fehlbesiedelung des Dünndarms

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Nahrungsmittelallergene sind Kuhmilcheiweiß, Hühnereiweiß, Weizenprotein, Nuss, Meeresfrüchte und Soja. Kinder mit atopischen Erkrankungen sind häufiger von Nahrungsmittelallergien betroffen. Die Symptome, Diagnostik und Therapie der Nahrungsmittelallergie sind beispielhaft im Abschnitt Kuhmilchproteinintoleranz beschrieben.

Kuhmilchproteinintoleranz KMPI Die KMPI ist gemeinsam mit der Hühnereiweißallergie die häu­ figste Nahrungsmittelallergie im Säuglings- und Kleinkindalter. Die Prävalenz in Europa bei Kindern im ersten Lebensjahr wird auf 2–3% geschätzt und nimmt in den darauffolgenden Lebensjahren ab. Eine KMPI kann gegen Casein, Laktalbumin oder Laktoglobulin gerichtet sein und kann entweder IgE-vermittelt als Sofortreaktion, als verzögerte T-Zell-Rektion oder als gemischte Reaktion auftreten. >> Insbesondere bei gastrointestinalen Symptomen liegt häufig ein T-Zell-vermittelter Mechanismus zu Grunde und der Test auf spezifische IgE bleibt negativ.

jjSymptomatik Eine KMPI v. a. vom verzögerten Typ geht häufig mit einer ProktoMalabsorptionssyndrome kolitis einher mit blutigen z. T. dünnen Stühlen und Unruhe. Die Hierunter fallen die Zöliakie und Nahrungsmittelallergien wie Symptomatik ist unspezifisch und sowohl durch inflammatorische die Kuhmilchproteinunverträglichkeit (7 Abschn. 22.10.3), der Veränderungen als auch durch eine resultierende Dysmotilität beM. Crohn v. a. bei Dünndarmbeteiligung (7 Abschn. 22.11), chroni- dingt. Trinkschwierigkeiten mit Dysphagie und Gedeihstörung als sche Infektionen wie eine Giardiasis und seltenere Ursachen wie eine auch ein verstärkter gastroösophagealer Reflux oder eine Obstipa­ Autoimmunenteropathie oder eine eosinophile Gastroenteropathie tion können weitere Zeichen der verzögerten Reaktion sein. Zeichen der Sofortreaktion sind ein orales Allergiesyndrom, und Immundefekte. Ein postenteritisches Syndrom als Folge einer akuten Enteritis mit sekundärem Laktasemangel können ebenso­ Erbrechen, Durchfälle, obstruktive Atemwegsbeschwerden, Hautwie Toddler’s Diarrhea (7 Abschn. 22.12.4) bei Kleinkindern eine ausschläge sowie Schock in unmittelbarem zeitlichem Zusammenchronische Diarrhö verursachen, verlaufen jedoch meist ohne Ge- hang zur Aufnahme von Milchprodukten. Ein Food Protein Induced Enterocolitis Syndrom (FPIES) ist deihstörung oder Mangelerscheinungen. ein sepsisähnliches Krankheitsbild mit Fieber, CRP-Erhöhung und Kongenitale Diarrhö Schocksymptomatik, welches durch Nahrungsmittelproteine wie Unter dem Begriff kongenitale Diarrhö wird ein breites Spektrum Kuhmilchprotein ausgelöst wird. unterschiedlicher Erkrankungen zusammengefasst, deren gemeinsames Merkmal eine im Neugeborenen- oder frühen Säuglingsalter jjDiagnostik beginnende Diarrhö darstellt. Es kann sich um selektive Resorp- Die Diagnostik bei einer vermuteten Sofortreaktion erfolgt mittels tions- oder Transportstörungen durch Kanaldefekte (Natrium- oder Nachweis spezifischer IgE oder einem Skin-Prick-Test, andere Tests Chloriddiarrhö) oder Enzymdefekte (primäre Laktasedefizienz, haben keine Bedeutung. Bei beeinträchtigenden Symptomen die eine Spätreaktion Saccharase-Isomaltase-Defizienz) handeln oder um Differenzierungs- bzw. Polarisationsstörungen der Enterozyten (Mikrovillus- ­vermuten lassen und negativen spezifischen IgE-Antikörpern ist­ Inclusion-Disease, Tufting-Enteropathy, syndromale Diarrhö) oder ein Auslassversuch über 2–4 Wochen gerechtfertigt, bei stillenden aber um immunologische Prozesse (IPEX-Syndrom, APECED, Müttern in Form einer strengen kuhmilchfreien Ernährung der IL10-Rezeptor-Mangel oder IL10-Mangel u. a.) sowie weitere seltene Mutter. Bei schwer kranken Säuglingen ist ein Versuch mit einer aminosäurebasierten Formulanahrung über 2 Wochen sinnvoll. Entitäten, die sich diesen Gruppen zuordnen lassen. Ist der Auslassversuch erfolgreich, sollte eine Reprovokation Die Therapie der kongenitalen Diarrhön richtet sich nach der Ursache, in vielen Fällen ist nur eine symptomatische Therapie mit erfolgen. Treten die Symptome innerhalb von 2 Wochen erneut auf, zusätzlicher parenteraler Ernährung möglich. Eine Darmtrans­ gilt die KMPI als bewiesen und die Diät sollte über mindestens neun plantation ist die Ultima Ratio, die v. a. bei Gefäßkomplikationen und Monate und über den ersten Geburtstag hinaus eingehalten werden, Problemen der parenteralen Ernährung in Erwägung gezogen wird. bevor die nächste Reprovokation erfolgt. Die KMPI ist innerhalb der ersten 3 Lebensjahre meist selbstlimitierend. Tritt unter der diagnostischen Auslassdiät keine Besserung ein, 22.10.3 Nahrungsmittelunverträglichkeiten so ist die Diagnose einer KMPI unwahrscheinlich und es müssen ggf. weitere diagnostische Maßnahmen wie die Endoskopie mit BiopsieUnter diesem Begriff werden echte Nahrungsmittelallergien, Intole- entnahme folgen. ranzen bzw. selektive Malabsorptionen und die Zöliakie zusammenLakoseintoleranz gefasst. Echte Nahrungsmittelallergien können IgE-vermittelte Sofortre- Die Laktoseintoleranz beruht auf einer verminderten Aktivität der aktionen sein oder T-Zell vermittelte Spätreaktionen. Die häufigsten Laktase der Enterozyten. Laktose kann nicht in Glukose und Galak-

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tose gespaltet werden, das Disaccharid gelangt in den Dickdarm, wirkt osmotisch und wird zu kurzkettigen Fettsäuren fermentiert. Durchfälle, Bauchschmerzen und Meteorismus können resultieren. Die echte kongenitale Alaktasie, die sich unmittelbar nach der ersten Milchmahlzeit manifestiert, ist extrem selten. Die adulte Hypolaktasie (Laktasegen: LCT-13910 CC-Genotyp) manifestiert sich meist schleichend in der 2. Lebensdekade, bei uns sind 15–20% der Bevölkerung betroffen, die individuell tolerierte Menge an Laktose ist sehr unterschiedlich. >> Soll die Assoziation der Laktoseaufnahme zu bestimmten Beschwerden bestimmt werden, ist die Genotypisierung nicht aussagekräftig: ein Laktose-H2-Atemtest oder ein mehrtägiger Auslassversuch mit Reprovokation kann die Diagnose erlauben.

Eine meist vorübergehende sekundäre Laktoseintoleranz entwickelt sich Gefolge von destruierenden Prozessen der Dünndarmschleimhaut, z. B. nach einer Enteritis (postenteritisches Syndrom), bei einer Zöliakie oder einem Dünndarm-Crohn. Nach Erholung der Darmschleimhaut verbessert sich die Toleranz wieder. Die Therapie besteht in der Reduktion der Laktoseaufnahme nach individueller Verträglichkeit. Alternativ kann zur Nahrungsaufnahme Laktase eingenommen werden.

Zöliakie Die Zöliakie ist eine immunmediierte entzündliche Dünndarmerkrankung mit möglicher Systembeteiligung die bei HLA DQ2/DQ8positiven Menschen in jedem Lebensalter durch Verzehr von Getreideprodukten (Weizen, Gerste, Roggen, Dinkel etc.) ausgelöst werden kann. Die Prävalenz in Deutschland liegt bei ca. 0,3% mit steigender Inzidenz. j jPathogenese Die Pathogenese ist multifaktoriell und noch nicht komplett verstanden. Das Antigen der Zöliakie ist eine alkohollösliche Unterfraktion des Kleberproteins Gluten, das Gliadin. Als Autoantigen fungiert das Enzym Transglutaminase, welches im Endomysium lokalisiert ist und Gliadin deamidiert. Offenbar kommt es in Folge einer erhöhten Permeabilität der intestinalen Barriere für Makromoleküle zu einer erhöhten Konzentration von Gliadin im Zottenstroma. Dort führt das an die Transglutaminase gebundene deamidierte Gliadin über die Bindung an antigenpräsentierenden Zellen zur Aktivierung spezifischer T-Zellen und dann auch B-Zellen und damit zur Entzündung und Antikörperproduktion. Die Entzündungsreaktion führt zu den histologischen Veränderungen der Dünndarmschleimhaut, die nach der Marsh-Oberhuber-Klassifikation eingeteilt werden (Marsh 0= keine Veränderungen; Marsh 1= Vermehrung der intraepithelialen CD8-positiven Lymphozyten >30/100 Epithelzellen; Marsh 2=zusätzlich Kryptenhyperplasie; Marsh 3a–3c= zusätzlich Zottenatrophie). Die histologischen Veränderungen sind nicht zöliakiespezifisch sondern können auch beispielsweise beim M. Crohn, Nahrungsmittelallergien oder der Giardiasis gefunden werden.

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j jKlinik Man unterscheidet als Verlaufsformen: 44 klassische Zöliakie (Malabsorptionssyndrom, Gedeihstörung, Dystrophie), 44 symptomatische Zöliakie (kein Malabsorptionssyndrom aber z. B. unspezifische abdominelle Symptome, Obstipation, Veränderungen von Laborwerten etc.), 44 subklinische Verlaufsform (keine Symptome aber HLA DQ2/ DQ8-positiv, Serologie positiv, Histologie Marsh 2 oder 3),

44 potenzielle (HLA DQ2/DQ8-positiv, Serologie positiv, Histologie Marsh 0 oder 1), 44 refraktäre Form, die v. a. bei Erwachsenen beschrieben wird (Persistenz von Symptomen trotz Therapie über 12 Monate). Die Symptomatik ist vielfältig und häufig unspezifisch: abdominelle Beschwerden wie Dyspepsie, Flatulenz oder Wechsel der Stuhlgewohnheiten aber auch Obstipation sind möglich. Neuropsychiatrische Symptome wie Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Depressionen, Konzentrationsstörungen können Symptome der Zöliakie sein. Kleinwuchs ohne Dystrophie ist ein häufiges Symptom einer Zöliakie, auch eine Verzögerung der Pubertät kommt vor. Osteopenie und Zahnschmelzdefekte sind mögliche Symptome wie auch laborchemische Veränderungen, z. B. können eine Transaminasenerhöhung, eine Schilddrüsenfunktionsstörung oder eine Eisenmangelanämie die einzigen Hinweise sein. Eine Sonderform ist die IgA-Dermatitis herpetiformis Duhring. Es existieren Erkrankungen bzw. Zustände die mit einem erhöhten Risiko für eine Zöliakie einhergehen und bei denen ein Screening sinnvoll ist. Dazu gehören v. a. Autoimmunerkrankungen wie der Diabetes mellitus Typ 1, die Hashimoto-Thyreoiditis, die Auto­ immunhepatitis sowie der IgA-Mangel und genetische Syn­drome wie das Down-Syndrom oder das Turner-Syndrom und erstgradige Verwandte von Zöliakieerkrankten. In diesen Gruppen s­ ollten alle 1–2 Jahre die spezifischen Antikörper kontrolliert werden und/oder eine HLA-Typisierung im Vorfeld erfolgen. jjDiagnostik Zur Abklärung sollten unter glutenhaltiger Ernährung zöliakie­ spezifische Antikörper zusammen mit dem Gesamt-IgA bestimmt werden (Transglutaminase- und Endomysium-AK). Bei positiven Antikörpern sollte eine Dünndarmbiopsie von mindestens 6 verschiedenen Stellen im Duodenum gewonnen werden die nach der Marsh-Oberhuber-Klassifikation beurteilt wird. Bei positiver zöliakiespezifischer Serologie, histologischem Nachweis von Marsh 2 oder 3 und Abfall der Antikörper unter glutenfreier Diät gilt die Diagnose als gesichert. Bei IgA-Mangel sollen IgG-AK gegen Transglutaminase und deamidierte Gliadinpeptide bestimmt werden. Eine HLA-Typsisierung ist sinnvoll bei diskrepanten Befunden oder vor der Diagnostik begonnener glutenfreier Diät oder wenn auf eine Biopsie verzichtet werden soll. Ein Verzicht auf eine Biopsie ist nach Absprache mit einem pädiatrischen Gastroenterologen und den Sorgeberechtigten möglich bei Kindern mit klinischen Symptomen und Zeichen der Malabsorption bei denen der Transglutaminase-Ak-Titer >10-fach erhöht ist und gleichzeitig positive Endomysium-IgA-Antikörper aus einer zweiten unabhängigen Blutprobe sowie HLA-DQ2 oder -DQ8 nachgewiesen werden und zusätzlich die Symptome unter ­einer glutenfreien Diät verschwinden. Nach neueren Untersuchungen scheint auch allein ein mindestens 10-fach erhöhter Transglutaminase-AK-Titer ausreichend zu sein, um die Diagnose ohne Biopsie zu stellen. jjTherapie Bei symptomatischen und asymptomatischen Patienten mit ge­ sicherter Zöliakie soll nach Ernährungsberatung eine lebenslange glutenfreie Diät erfolgen. Glutenhaltige Getreide sind Weizen, ­Dinkel, Grünkern, Roggen, Gerste, Triticale, Khorasan-Weizen, ­Emmer, Einkorn. >> Erlaubte glutenfreien Getreide sind Hirse, Mais, Reis, Buch­ weizen, Quinoa, Maniok, Amaranth u. a.

515 Gastroenterologie interdisziplinär

Unter Diät sollen jährliche Kontrollen der anthropometrischen ­Daten, der Pubertätsentwicklung sowie eine Kontrolle der zöliakiespezifischen AK, der Leberwerte, Schilddrüsenhormone und des HbA1c–Werts erfolgen. Bei negativer Zöliakiediagnostik und weizenassoziierten Symptomen muss auch an eine Weizenallergie (Diagnostik: spezifische IgE-AK, Pricktest) oder eine Nicht-Zöliakie-Nicht-WeizenallergieWeizensensitivität (Diagnostik: doppelblinde placebokontrollierte Belastung) gedacht werden. 22.10.4

Ileus

Unter einem Ileus versteht man die Unterbrechung der normalen Darmpassage entweder durch ein mechanisches Passagehindernis oder durch einen Ausfall der normalen prokinetischen Aktivität (mechanischer bzw. paralytischer Ileus). Die ursächliche Störung kann an jeder Stelle des Dünn- und Dickdarms lokalisiert oder auch primär generalisiert sein. jjÄtiologie Auslöser eines paralytischen Ileus sind chirurgische Eingriffe, Infektionen (Peritonitis, Sepsis), metabolische Entgleisungen (Hypokaliämie) oder Intoxikationen. Ein mechanischer Ileus kann extraluminal durch Tumore, ­Briden, Darmduplikaturen, Herniationen oder intraluminale Stuhlmassen, Kotsteine, Mekonium oder Fremdkörper etc. bedingt sein. Jeder Ileus führt durch die Darmdilatation zur Ausschüttung vasoaktiver Hormone, zu einer Störung der Mikrozirkulation mit Verlusten von Flüssigkeit und Elektrolyten sowie zur Translokation intraluminaler Bakterien und bakterieller Toxine. So wird auch ein mechanischer Ileus sekundär zu einem paralytischen Ileus mit Durchwanderungsperitonitis, Schock und Multiorganversagen. Ein Mekoniumileus tritt hauptsächlich bei Neugeborenen mit zystischer Fibrose auf und ist im distalen Dünndarm lokalisiert. Bereits intrauterin kann dieser schon vorliegen und zu einer Dünndarmdilatation mit Perforation, Peritonitis und einem Mikrokolon führen. jjKlinik Ein mechanischer Ileus ist mit starken kolikartigen Schmerzen, ­Erbrechen (je nach Höhe gallig oder stuhlhaltig) und einem distendierten, schmerzhaften Abdomen sowie Stuhlverhalt verbunden. Fieber, Abwehrspannung und Tachykardie mit Hypotonie sind ­Zeichen der Peritonitis und Sepsis. Ein paralytischer Ileus geht oft ohne die initialen kolikartigen Schmerzen einher. Oft fällt nur Erbrechen und Stuhlverhalt bei distendiertem Abdomen auf. jjDiagnostik Klinisch fällt neben dem distendierten Abdomen mit/ohne Abwehrspannung die beim mechanischen Ileus hochgestellte Peristaltik auf, später bzw. beim paralytischen Ileus auch primär die fehlende Persistaltik. In der Übersichtsaufnahme des Abdomens bzw. im CT sind Spiegelbildungen zu sehen, ggf. auch die ursächliche Störung (CT). Auch sonographisch kann eine gesteigerte Pendelperistaltik oder ein Stillstand bei flüssigkeitsgefüllten Darmschlingen zu erkennen sein. jjTherapie Neben der Behandlung der Ursache muss eine symptomatische Therapie zur Stabilisierung der Vitalfunktion erfolgen: Flüssigkeitssub-

stitution, Elektrolytausgleich, Korrektur von Gerinnungsstörungen (Cave: DIC), ggf. Katecholamintherapie, antibiotische Therapie mit einem auch gegen anaerobe Darmkeime wirksamen Mittel, groß­ lumige Magenablaufsonde, Schmerztherapie. Die kausale Therapie richtet sich nach der auslösenden Ursache (Reposition bei Invagination, OP bei inkarzerierter Hernie, antibiotische Behandlung einer Peritonitis etc.). Im Notfall sind eine operative Exploration des Bauchraums und ggf. z. B. ein Entlastungsstoma notwendig. Ein Mekoniumileus muss teilweise operativ beseitigt werden, teilweise ist eine Anus-praeter-Anlage notwendig. 22.10.5

Invagination

Bei der Invagination stülpen sich proximale Darmanteile in Achsrichtung in distale Abschnitte ein, woraus eine Obstruktion des Darmlumens resultiert. Eine Invagination kann in jedem Lebens­ alter auftreten, Häufigkeitsgipfel ist jedoch das 1. Lebensjahr. Die bevorzugte Lokalisation ist der ileozökale Übergang. Pathogenetisch werden lokale Gewebsvermehrungen in der Darmwand wie z. B. eine Hypertrophie der Peyer-Plaques im Rahmen einer Enteritis oder auch Darmpolypen diskutiert, welche als „Hypomochlion“ die Einstülpung begünstigen. In den meisten Fällen kann eine Ursache jedoch nicht gefunden werden. jjKlinik und Diagnose Die Invagination äußert sich zumeist in akut auftretenden, meist krampfartigen Bauchschmerzen. Im fortgeschrittenen Stadium stehen die klinischen Zeichen der Darmobstruktion bis hin zum Ileus im Vordergrund. Blutig-schleimige Stühle sind häufig bereits ein Zeichen der länger bestehenden Invagination mit der Gefahr der Darmwandnekrose. Die Diagnose kann zumeist sonographisch ­gestellt werden. Der radiologische Kontrastmitteleinlauf, welcher einen Passagestop im Kolon zeigt, erfolgt meist erst anschließend als therapeutische Maßnahme. jjTherapie Die hydrostatische Reposition mittels Kolonkontrasteinlauf unter Durchleuchtung ist je nach Dauer der bestehenden Invagination, Länge und Lokalisation des Invaginats sowie Erfahrung des Durchführenden in vielen Fällen möglich. Auch unter Sonographie gelingt dieses Manöver mitunter. Bei frustraner Reposition oder bereits ­bestehenden Zeichen einer Peritonitis oder Perforation ist die operative Lösung des Invaginats angezeigt. 22.10.6

Kurzdarmsyndrom

Ein Kurzdarmsyndrom ist ein Darmversagen („intestinal failure“) durch unzureichende Darmlänge, bei dem durch eine konventio­ nelle Diät keine ausreichende Ernährung sichergestellt werden kann. Die häufigste Ursache eines Kurzdarmsyndroms im Kindesalter ist Folge einer operativen Dünndarmresektion nach nekrotisierender Enterokolitis, Volvulus, Gastroschisis oder bei M. Hirschsprung. Dabei gilt eine Dünndarmrestlänge von >30 cm als kritisch notwendig, um ein Überleben ohne parenterale Ernährung zu gewährleisten, wobei bei Existenz der IC-Klappe auch kürzere Längen toleriert werden. Auch die Länge des verbliebenen Kolons hat eine Bedeutung z. B. in der Resorption von Flüssigkeit.

22

516

C. Hünseler und M. Dübbers

j jSymptome Ein Kurzdarmsyndrom hat eine Diarrhö mit Malassimilation und Gedeihstörung mit Mangelerscheinungen (7 Abschn. 22.10.2) zur Folge. jjTherapie Die Therapie ist komplex und sollte nur in Zentren mit entsprechender Erfahrung durchgeführt werden. Der frühe und konsequente enterale Nahrungsaufbau idealerweise mit Muttermilch oder alternativ mit einer aminosäurebasierten Elementardiät ist wichtig, um ein Wachstum der Darmschleimhaut und des Darms zu ermög­ lichen. Die Ernährungsberatung hat einen hohen Stellenwert. Parallel erfolgt eine individualisierte parenterale Ernährung (PE) unter regelmäßigen Kontrollen der Blutwerte, des Urins auf Elektrolyte sowie der Entwicklung des Kindes. Als Zugangsweg eignen sich implantierbare Kathetersysteme wie ein Broviac-Katheter. Die Pflege des lebensnotwendigen Katheters nimmt eine zentrale Stellung in der Versorgung ein. Eine medikamentöse Therapie mit Teduglutide (Glucagon-likePeptid 2 (GLP2)-Analogon) führt zu einem Wachstum der Darmschleimhaut und Vergrößerung der Resorptionsfläche. Die Zulassung besteht ab dem ersten Lebensjahr. Durch darmverlängernde Operationen wie der Bianchi-OP oder der STEP-Prozedur (segmentale Transversoenteroplastik) kann in einigen Fällen eine enterale Autonomie erreicht werden. Die Darmtransplantation ist die Ultima Ratio, die erst dann zum Einsatz kommt, wenn eine sichere parenterale Ernährung nicht mehr möglich ist.

22

jjUrsache In ca. 12% liegt eine bekannte chromosomale Störung vor, in 18% liegen assoziierte Fehlbildungen ohne bekannte chromosomale Störung vor und ca. 70% der Fälle treten sporadisch auf. Das durchschnittliche familiäre Wiederholungsrisiko liegt bei 4%, abhängig von Geschlecht und Ausmaß der Erkrankung bei Indexgeschwistern. Bei den familiären Formen und einigen sporadischen Fällen konnten Mutationen im RET-Protoonkogen auf Chromosom 10 nachgewiesen werden. jjSymptome Die meisten Kinder (ca. 90%) fallen in der Neugeborenenperiode durch verspäteten Mekoniumabgang (>24 h nach Geburt), erschwerten Stuhlabgang, abdominelle Distension, Erbrechen, Gedeihstörung oder Enterokolitis auf. Nach der Neugeborenenphase wird bei den Kindern häufig nach der Umstellung von Milchnahrung auf Beikost eine schwere chronische Obstipation mit Bleistiftstühlen oder dünnen Stühlen durch Überlaufenkopresis, explosionsartige Stuhlentleerung nach rektaler Untersuchung, Gedeihstörung oder das Bild eines Ileus- bzw. Subileus ggf. mit toxischem Mega­ kolon bemerkt.

jjDiagnostik Bei der körperlichen Untersuchung fällt ein enger Analkanal mit positivem Handschuhphänomen auf. In der Kolonkontrastunter­ suchung kann mit Ausnahme eines ultrakurzen Segments ein Kalibersprung gesehen werden. Die histologische und immunhistochemische Untersuchung einer tiefen Rektumbiopsie (Saugbiopsie oder rektoskopisch offene Biopsie) ist beweisend und zeigt typische jjKomplikationen ­Veränderungen wie das Fehlen der intramuralen Ganglienplexus Die Komplikationen wie Thrombosen und Katheterinfektionen­ (Plexus myentericus und Plexus submucosus), eine Hyperplasie der sind zum großen Teil durch den Gefäßzugang bedingt. Weitere cholinergen Nervenfasern und den immunhistochemischen NachKomplikationen sind bakterielle Fehlbesiedelung des Dünndarms, weis einer erhöhten Acetylcholinesterase (AChE). Zusätzlich könD-Laktatazidose mit neurologischen Auffälligkeiten, Sepsis durch nen weitere Marker wie eine Verminderung des kalziumbindenden bakterielle Translokation, Verschiebungen in Flüssigkeits- und Elek- Proteins Calretinins hinweisend sein. Eine anorektale Manometrie mit Nachweis einer fehlenden Retrolythaushalt, Mangelerscheinungen. laxation des M. sphincter ani internus kann hinweisend sein, es gibt jjPrognose jedoch falsch-positive und -negative Befunde. Eine molekulargenetische Diagnostik gehört nicht zur Routine. Ein Teil der Patienten gewinnt die enterale Autonomie wieder, je Differenzialdiagnostisch müssen z. B. der Mekoniumpfropfilenach Literatur von 44% nach 3 Jahren, 64% nach 5,1 Jahren. Prognostisch günstig ist eine Dünndarmlänge von mindestens us, eine chronisch-intestinale Pseudoobstruktion oder hartnäckige 10 cm bei erhaltener IC-Klappe, initiale Ernährung mit Muttermilch Formen der habituellen Obstipation berücksichtigt werden. und Behandlung in einem Zentrum. Die Mortalität ist insgesamt recht hoch und v. a. durch Katheter- jjTherapie In der Neugeborenenperiode steht zunächst die Entlastung des komplikationen bedingt. Darms durch wiederholte vorsichtige Einläufe oder Einlage eines Darmrohrs im Vordergrund. Bei ausgeprägten Fällen erfolgt die ­Anlage eines entlastenden Anus praeters. Die definitive Korrektur22.10.7 Intestinale Motilitätsstörungen OP erfolgt zumeist im Alter von 6–12 Wochen. Hierbei wird das Morbus Hirschsprung betroffene Segment entfernt und der proximale gesunde DarmabDer Morbus Hirschsprung ist eine Aganglionose eines umschriebe- schnitt (Schnellschnitt intraoperativ) mit dem Rektumstumpf anasnen Darmabschnitts, der durch ein Ausbleiben der von oral nach tomosiert. Es existieren verschiedene klassische transabdominelle aboral ablaufenden Entwicklung des Plexus myentericus und sub- Operationsverfahren (z. B. OP nach Duhamel, OP nach Soave). mucosus des Darms in der 6.–12. Embryonalwoche entsteht. Folg- ­Alternativ werden heutzutage minimal-invasive, laparoskopische lich reicht der aganglionäre Teil immer von anal beginnend unter- Resektionsverfahren sowie die transanale endorektale Durchzugsschiedlich weit nach oral, am häufigsten ist die kurzstreckige Form, operation (OP nach De la Torre) ohne Laparotomie durchgeführt. Als Spätkomplikationen werden die Inkontinenz (durchschnittdie sich nur auf das Rektosigmoid beschränkt (80%), ist das gesamte Kolon betroffen, spricht man vom Zuelzer-Wilson-Syndrom­ lich ca. 8%), eine fortbestehende Obstipation (bis 30%), die Aus­ (ca. 5%), in einem Prozent ist der komplette Magen-Darm-Trakt bildung einer Anastomosenstriktur und eine fortbestehende Enterobetroffen. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen (4:1), die In- kolitis beschrieben. Bei langstreckigem Befall mit Ausdehnung bis in den Dünndarm kann ein Kurzdarmsyndrom resultieren. zidenz liegt bei ca. 1:5.000 Neugeborenen.

517 Gastroenterologie interdisziplinär

Intestinale Pseudoobstruktion Bei der sehr seltenen chronisch-intestinalen Pseudoobstruktion (CIPO) handelt es sich um angeborene oder sekundär erworbene neuro- oder myopathische Störungen der propulsiven Motilität des Magen-Darm-Trakts mit Episoden von ileusähnlichen Zuständen ohne dass im eigentlichen Sinne eine mechanische Obstruktion ­vorliegt. Es kann sich um primäre Formen mit Anlagestörungen des ­intestinalen Nervensystems (neurogene CIPO) oder der Darmmuskulatur (myogene CIPO) oder der interstitiellen Cajal-Zellen ­handeln. Sekundäre Formen können Folge einer Dermatomyositis, Sklerodermie, einer Neurofibromatose, einer Amyloidose, eines ­Diabetes mellitus, einer Strahlentherapie u. a. sein. Primäre neurogene Formen überwiegen im Kindesalter. Mitochondriopathien können mit den Symptomen einer CIPO einhergehen. jjKlinik Bei primären Formen können schon pränatal deutlich erweiterte Darmschlingen mit großer Blase und Polyhydramnion gesehen ­werden. Postnatal kommt es zu Erbrechen, Gedeihstörungen, aufgetriebenem Abdomen, Bauchschmerzen sowie Obstipation oft im Wechsel mit Diarrhö. Besonders bei myogenen Formen kommt es bei Beteiligung der Harnblase auch zu rezidivierenden Harnwegs­ infektionen. jjDiagnostik Die Diagnostik ist schwierig und setzt sich zusammen aus Bild­ gebung, Histologie (Ganzwandbiopsien), Manometrie, ggf. Muskelbiopsien und Nervenleitgeschwindigkeit. >> Ein mechanisches Hindernis muss ausgeschlossen werden.

jjTherapie Falls keine Grunderkrankung zu behandeln ist, muss die enterale Ernährung forciert werden, häufig ist aber auch eine zusätzliche ­parenterale Ernährung notwendig. Eine medikamentöse Therapie kann mit Prokinetika versucht werden. Antibiotika werden zur Therapie der häufigen bakteriellen Fehlbesiedelung des Dünndarms eingesetzt. Entlastungsstomata sind teilweise notwendig. Die Dünndarmtransplantation ist die einzige kurative Therapie. jjPrognose Bessert sich die Symptomatik im ersten Lebensjahr nicht durch Ausreifung, ist die Erkrankung mit hoher Mortalität, Abhängigkeit von parenteraler Ernährung und deren Komplikationen wie Thrombose, Sepsis, chronischer Lebererkrankung verbunden.

nach oral ausbreitet und mit einer kontinuierlichen Entzündung der Mukosa einhergeht. Im Kindes- und Jugendalter ist die Pankolitis mit >60% die häufigste Form bei Erstmanifestation. Es gibt atypische Verläufe mit Backwash-Ileitis, zökalem Patch, Gastritis oder rektaler Aussparung. Morbus Crohn  Der MC kann alle Abschnitte des Magen-DarmTrakts befallen. Die Entzündung ist diskontinuierlich und kann transmural vorliegen, mit Neigung zu Stenosierung, Strikturen und Fistulierung. Der ileokolonische Befall ist im Kindes- und Jugend­ alter mit ca. 70% die häufigste Manifestationsform. Die Klassifizierung der CED im Kindes- und Jugendalter erfolgt nach den Paris-Kriterien.

jjÄtiologie Die genauen Ursachen der CED sind nicht bekannt, es handelt sich wohl um ein multiätiologisches Geschehen mit familiärer Häufung, Einflüssen von Umwelt und Ernährung sowie einer gestörten Interaktion von intestinalem Immunsystem mit dem Mikrobiom und Nahrungsmittelbestandteilen. Das intestinale Mikrobiom unterscheidet sich von dem darmgesunder Menschen. Es spielen auch genetisch-bedingte Störungen im intestinalen Immunsystem und der Schleimhautbarriere eine Rolle: beim MC finden sich Mutationen im Kandidatengen CARD15 (caspase ­activation and recruitment domaine 15) u. a. in intestinalen Epithelzellen, was durch eine verminderte NFκB Aktivierung durch bakterielle Antigene zu einer verminderten Makrophagenaktivierung führt. jjKlinik Die führenden Symptome der CU sind blutige Durchfälle, weshalb die Diagnose relativ rasch gestellt wird. Fieber, Gewichtsabnahme, Anämie, können begleitend auftreten. Beim MC stehen oft Symptome wie Gewichtsverlust, Wachstumsarrest, Pubertas tarda, Anämie, Fieber, chronische Bauchschmerzen im Vordergrund. Diarrhö und Blut im Stuhl können lange fehlen weshalb die Diagnose oft verzögert gestellt wird. Beim MC muss v. a. auf richtungsweisende orale (Aphten, Cheilitis granulomatosa) und perianale Befunde (Fistelöffnungen, Abszesse, Fissuren, Marisken, Dermatitis) geachtet werden. Extraintestinale Symptome wie eine Arthritis, Uveitis, Erythema nodosum, Pyoderma gangränosum, sklerosierende Cholangitis sind bei beiden Erkrankungen möglich. Die Symptomatik und der Verlauf der CU wird durch den ­PUCAI-Score, der des MC durch den PCDAI erfasst.

jjDiagnostik Bei der körperlichen Untersuchung ist neben abdominellen Resistenzen (z. B. Walze im rechten Unterbauch) und Druckschmerzhaftigkeit auch auf Befunde der Mundhöhle und der Anogenitalregion Unter dem Begriff chronisch-entzündliche Darmerkrankungen zu achten sowie auf extraintestinale Symptome (Blässe, Gelenkbetei(CED) werden der Morbus Crohn (MC), die Colitis ulcerosa (CU) ligung, Hautsymptome). In der Labordiagnostik stehen folgende Stuhl- und Blutuntersusowie die ca. 7% primär nicht klassifizierbaren Fälle von IBD-U­ („inflammatory bowel disease unclassified“) zusammengefasst chungen an erster Stelle: fäkale Inflammationsmarker wie Calprotec(. Tab. 22.3). Der MC ist mit ⅔ der CED-Fälle dabei im Kindes- und tin oder Lactoferrin, Blutuntersuchungen mit InflammationsmarJugendalter häufiger als die CU und nimmt bei steigender Gesam- kern CRP, BSG, Differenzialblutbild, Leberwerte, Gesamteiweiß, tinzidenz stärker zu. Eine Manifestation ist in jedem Lebensalter Albumin, Lipase, Eisenstatus, ASCA und ANCA. Ebenso müssen möglich, in ca. 25% der Fälle wird die Diagnose vor dem 18. Lebens- initial und bei jedem Schub bakterielle und virale sowie parasitäre Erreger als Ursache der Symptomatik ausgeschlossen werden, unter jahr gestellt. Immunsuppression auch CMV. Sonographisch wird nach Darmwandverdickungen, AufhebunColitis ulcerosa  Bei der CU handelt es sich um eine entzündliche Erkrankung des Kolons, die sich von aboral unterschiedlich weit gen der Wandschichtungen und Hyperperfusion, Lymphadenopa22.11

Chronisch-entzündliche ­Darmerkrankungen

22

518

C. Hünseler und M. Dübbers

thie, freier Flüssigkeit und entzündlicher Begleitreaktion des umgebenden Mesenteriums gesucht. Bei anhaltendem Verdacht muss eine obere und untere Endoskopie sowie ein MRT nach Sellink und/oder eine Videokapselendos­ kopie zur Darstellung des Dünndarms stattfinden (Porto-Krite­rien). Gewebeproben aus allen Darmabschnitten werden histologisch ­untersucht. Differenzialdiagnostisch sind andere Erkrankungen des MagenDarm-Trakts wie infektiöse Enterokolitiden, Zöliakie und andere Nahrungsmittelunverträglichkeiten aber auch andere konsumie­ rende Erkrankungen oder die Anorexia nervosa abzugrenzen.

Bei früher Manifestation vor dem 2. Lebensjahr, schweren oder therapieresistenten Verläufen ist immer auch an einen Immundefekt zu denken. jjTherapie Ziel der Therapie ist eine mukosale Remission, die es dem Patienten erlaubt am normalen Leben mit guter Lebensqualität teilzunehmen. Nach dem Aufklärungsgespräch wird die Remissionsinduktion beim MC mit einer speziellen Ernährungstherapie, alternativ mit Kortikosteroiden oder TNFa-Antikörpern (Infliximab, Adalimumab) durchgeführt. Die exklusive Ernährungstherapie (EET)

..Tab. 22.3  Gegenüberstellung der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen M. Crohn (MC) und Colitis ulcerosa (CU) MC

CU

Befallmuster

Gesamter Magendarmtrakt möglich Diskontinuierlicher Befall Aphten, tiefe Schneckenspurulzera Pflastersteinrelief

Begrenzt auf Kolon Kontinuierlicher Befall distal beginnend Fahrradschlauchaspekt Back-Wash-Ileitis und zökaler Patch möglich

Histologie

Transmurale Entzündung möglich Epitheloid-Zell-Granulome Fokale Verteilung

Begrenzt auf Mukosa Kryptenabszesse Gestörte Kryptenarchitektur

Klinik

Gewichtsverlust, Wachstumsarrest, Pubertas tarda Anämie, Leistungsknick Chronische Bauchschmerzen Fieber Stuhlunregelmäßigkeiten, Durchfälle, seltener blutig Orale und perianale Manifestationen: Aphten, Cheilitis, Fisteln, perianale Abszesse, Marisken, Fissuren, perianale Dermatitis

Führend blutige Diarrhö Anämie Selten Gewichtsverlust etc.

Extraintestinale Symptome

Erythema nodosum, Pyoderma gangränosum, Uveitis, Arthritis, sklerosierende Cholangitis

Diagnostik

Anamnese, Familienanamnese, körperliche Untersuchung Laborwerte: Fäkale Inflammationsmarker, Erreger im Stuhl inkl. Clostridien; Blut: CRP, BSG, Differenzialblutbild, ­Albumin, GOT, GPT, γGT, Lipase, Eisenstatus, ANCA, ASCA Endoskopie: immer untere und obere, MRT-Sellink und/oder Videokapselendoskopie

Differenzialdiagnosen

Infektiöse (Entero)kolitis Nahrungsmittelunverträglichkeiten: Zöliakie, Kuhmilchprotein­ allergie u. a. Appendizitis Intestinale Polypen Immunologische Erkrankungen Funktionelle gastrointestinale Erkrankungen Anorexia nervosa Andere chronisch-inflammatorische oder konsumierende Erkrankungen

Infektiöse Kolitis Meckel-Divertikel Polypen

Remissionsinduktion

Enterale Ernährungstherapie Prednison, Budesonid (bei ileozökalem Befall) TNFα-AK Vedolizumaba Antibiotika

Prednison Cyclosporin A, Tacrolimus TNFα-AK Vedolizumab 5-ASA

Remissionserhaltung

Azathioprin, 6-Mercaptopurin Methotrexat TNFα-AK Vedolizumab 5-ASA (nur milde Kolitis) Partielle Ernährungstherapie

5-ASA, E. coli NIssle Azathioprin, 6-Mercaptopurin TNFα-AK Vedolizumab

Therapie

22 aα

4β7-Integrininhibitor;

Zulassung ab 18. Lebensjahr

519 Gastroenterologie interdisziplinär

wird mit speziellen Flüssignahrungen hyperkalorisch über einen Zeitraum von ca. 8 Wochen durchgeführt. Budesonid kann beim MC bei ausschließlichem ileozökalem Befall eingesetzt werden. Antibiotika (Metronidazol, Ciprofloxacin) werden v. a. bei fistulierendem Verlauf über mehrere Wochen eingesetzt. Bei der CU sind zur Induktion Kortikosteroide (Prednison ­40–60 mg/d, Ausschleichen über ca. 10 Wochen), Cyclosporin A, TNFα-AK oder Tacrolimus möglich. Zur Remissionserhaltung ist eine Dauertherapie über viele ­Jahre, meist mindestens über die Pubertät bis zum Abschluss des Wachstums notwendig. Hierzu geeignet sind beim MC Azathioprin, Methotrexat, TNFα-AK, Vedolizumab. Bei der CU kommen ebenfalls Azathioprin, TNFα-AK, Vedolizumab zum Einsatz, bei leichteren Verläufen bzw. begleitend 5-Aminosalicylate (z. B. Mesalazin), die bei einer Linksseitenkolitis bzw. Proktitis auch topisch rektal angewendet werden können sowie Probiotika (E. coli Nissle). Vedolizumab und Ustekinumab sind erst ab dem 18. Lebensjahr zugelassen. Weitere Medikamente sind in der Entwicklung und Erprobung. jjPrognose Es besteht ein hohes Rezidivrisiko, im Verlauf ist das Risiko an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken erhöht. Besonders beim MC ist das Mortalitätsrisiko vergleichsweise höher. Die psychiatrische ­Morbidität ist ebenso erhöht. 22.12

Dickdarm

22.12.1

Appendizitis

Die Appendizitis ist die Hauptursache des akuten Abdomens im Kindes- und Jugendalter und gleichzeitig die häufigste Indikation für eine notfallmäßige Operation in der Bauchhöhle. jjPathogenese Eine Obstruktion des Lumens der Appendix z. B. durch Stuhlbestandteile, vergrößerte Lymphfollikel oder Abknickung fördert eine bakterielle Überwucherung, welche bei gestörter Mukosaschranke dann zur Entzündung der Appendixwand führen kann. Das Keimspektrum umfasst überwiegend die normale Darmflora, wobei ­gehäuft E. coli, Peptostreptococcus, Bacteroides fragilis und Pseudomonaden zu finden sind. Seltene Ursachen für eine Entzündung der Appendix stellen der M. Crohn, die zystische Fibrose, das BurkittLymphom oder das Appendixkarzinoid dar. jjSymptomatik Typische Zeichen für eine akute Appendizitis sind zu Beginn häufig zunächst Appetitlosigkeit und periumbilikale Bauchschmerzen. ­Innerhalb der nächsten 24 Stunden wandert der Schmerz typischerweise in den rechten Unterbauch, häufig begleitet von Übelkeit, ­Erbrechen und Fieber. Bei fortgeschrittenem Befund finden sich zunehmend Zeichen einer lokalen oder auch generalisierten peritonitischen Reizung wie Klopf- und Loslassschmerz, Schmerzen bei Bewegung im Hüftgelenk oder eine Abwehrspannung des Abdomens. Gerade bei kleinen Kindern kann die Symptomatik auch wie eine Gastroenteritis mit Erbrechen und Diarrhö imponieren. jjDiagnostik Eindeutige laborchemische Konstellationen, die eine Appendizitis nachweisen oder ausschließen gibt es nicht. Normwertige Leukozytenzahlen sind zu Beginn einer Entzündung durchaus häufig, das CRP ist jedoch meist erhöht. Auch die milde Linksverschiebung im

Differenzialblutbild ist typisch. Eine sehr hohe Leukozytenzahl kann auf eine Perforation oder eine andere Diagnose hinweisen. Die ­Urinanalyse dient dem Ausschluss einer Harnwegsinfektion, Erythrozyten und Leukozyten können allerdings auch bei akuter Appendizitis durch die Nähe zu Ureter und Blase nachgewiesen werden. In der bildgebenden Diagnostik stellt die Sonographie mit einer Spezifität von mehr als 90% den Goldstandard dar. Schnittbildverfahren wie CT und MRT bleiben unklaren Befunden vorbehalten und spielen in der routinemäßigen Notfalldiagnostik nur eine untergeordnete Rolle. Letztendlich bleibt die akute Appendizitis eine ­klinische Diagnose, wobei laborchemische und radiologische Be­ funde durchaus normal sein können. jjDifferenzialdiagnosen Wichtige Differenzialdiagnosen sind Lymphadenitis mesenterialis, Gastroenteritis, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, ­Meckel-Divertikel, Invagination, Harnwegsinfektionen oder auch die Pneumonie. Beim Mädchen sollte darüber hinaus stets an ­Erkrankungen des inneren Genitals und hier insbesondere an die Ovarialtorsion gedacht werden. jjTherapie Die Standardtherapie der akuten Appendizitis ist die Appendektomie, welche auch bei fortgeschrittenen Stadien mit Perforation und Peritonitis heutzutage bevorzugt laparoskopisch durchgeführt wird. Im Falle eines offenen Zugangs erfolgt dieser über einen querverlaufenden Hautschnitt im rechten Unterbauch. Der Stellenwert der primär konservativen Therapie mittels Antibiotika bei leichtgradiger Appendizitis ist noch nicht abschließend geklärt. Bei V. a. perforierte Appendizitis mit Abszessbildung und Peritonitis ist jedoch die i.v.-Antibiotikatherapie, ggf. mit Drainageeinlage, vor einer Appendektomie im Intervall einige Wochen nach Abklingen der Symptome ein häufig praktiziertes Vorgehen bei komplikationslosem Verlauf. jjKomplikationen und Prognose Die Diagnose ist bei Kleinkindern und Säuglingen in Folge der häufig atypischen Symptomatik mitunter schwierig. Der rasche Krankheitsverlauf führt in dieser Altersgruppe zu einer höheren Quote an bereits perforierter Appendizitis zum Zeitpunkt der Diagnosestellung. Aufgrund effizienter Antibiotika und der häufig frühzeitigen Diagnosestellung ist die Prognose der akuten Appendizitis jedoch insgesamt günstig. Insbesondere die perforierte Appendizitis birgt u. a. die Gefahr postoperativer Komplikationen wie Wundinfektionen, intraabdomineller Abszesse oder Verwachsungsbeschwerden bis hin zum Ileus. 22.12.2

Kolitis

Infektiöse Kolitis Infektiöse Kolitiden werden vorwiegend durch Bakterien ausgelöst. Zu nennen sind hier Salmonella species, Shigellen, Clostridien, ­enteropathogene oder enterohämorrhaische E.-coli-Stämme wie auch durch Yersinien und Campylobacter. Salmonellosen  Am häufigsten werden Salmonellosen durch nichttyphoide Salmonellenstämme wie S. enteritidis verursacht. Die Übertragung erfolgt über tierische Produkte, v. a. Geflügel oder ­seltener über den Menschen. Die Symptome sind z. T. blutige Durchfälle, Tenesmen und ­Fieber.

22

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C. Hünseler und M. Dübbers

..Tab. 22.4  Übersicht über pathogene E.-coli-Stämme Pathogenese

Wirkort

Epidemiologie

Klinik

EPEC Enteropathogene E. coli

Adhärenz

Dünndarm

Säuglinge und Kinder, Epidemien

Wässrige Diarrhö, besonders bei Säuglingen

ETEC Enterotoxische E. coli

Adhärenz Enterotoxine

Dünndarm

Reisediarrhö, Säuglinge und Kleinkinder in Entwicklungsländern

Choleraähnliche wässrige Durchfälle

EIEC Enteroinvasive E. coli

Adhärenz Mukosainvasion Zytotoxin

Kolon

Nahrungsmittelintoxikation, Trinkwasserverunreinigung, Kinder und Erwachsene

Blutig-schleimige Diarrhö mit Tenesmen und Fieber

EHEC Enterohämorrhagische E. coli

Adhärenz Zytotoxin

Kolon

Kinder und Erwachsene, Nahrungs­ mittelintoxikationen

Wässrig-blutige Diarrhö, HUS als Komplikation

EAEC Enteroaggregative E. coli

Adhärenz

Dünndarm

Reisediarrhö, Kinder in Entwicklungs­ ländern

Wässrige Diarrhö, chronische Diarrhö

DAEC Diffus adhärente E. coli

Adhärenz

Dünndarm

Kinder v. a. in Entwicklungsländern

Akute und chronische Diarrhö, auch Harnwegsinfektionen

Diagnostisch ist der Erregernachweis aus dem Stuhl. Eine antibiotische Therapie ist nur in Ausnahmefällen bei jungen Säuglingen, Immunsuppression, bei gastrointestinaler Grunderkrankung wie einer CED oder sehr schweren Verläufen notwendig. Sepsis und Osteomyelitis sind möglich. Shigellose  Shigella dysenteria ist der Erreger der Shigellen-Ruhr,

die nur vom Menschen übertragen wird und unter schlechten hygienischen Bedingungen auftritt. Nach Erregernachweis aus dem Stuhl ist bei einer Kolitis eine antibiotische Therapie mit Cotrimoxazol über 5 Tage indiziert. Mögliche Komplikationen sind ein hämolytisch-urämisches Syndrom, Sepsis und toxische Enzephalopathie. E. coli  Von E. coli existieren sechs pathogene Stämme, die zu

Durchfall und einer Kolitis führen können (. Tab. 22.4). Eine antibiotische Therapie ist meist nicht notwendig mit der Ausnahme erkrankter junger Säuglinge mit EPEC-Diarrhö (Cotrimoxazol).

Clostridium difficile  Clostridium difficile ist ein grampositives, anaerobes, sporenbildendes Bakterium. Die Kolitis ist toxinvermittelt durch das Toxin A oder B. Eine Clostridienkolitis tritt häufig folgend auf eine Antibiotikatherapie z. B. mit Aminopenicillinen u.  a. auf (antibiotikaassoziierte Kolitis). Auch bei immunsupprimierten Patienten, unter längerfristiger Therapie mit Protonenpumpeninhibitoren und bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen ist sie häufiger zu beobachten. Ein gewisser Anteil der Bevölkerung und auch der Kinder, v. a. im ersten Lebensjahr ist asymptomatischer Träger von C. diff. Es ist ausgesprochen selten, dass Säuglinge vor dem ersten Geburtstag erkranken, evtl. fehlen die entsprechenden Rezeptoren zur Bindung des Toxins.

22

jjSymptome Eine Erkrankung kann sich als einfache Diarrhö bis hin zu einer schweren hämorrhagischen Diarrhö mit Fieber und Zeichen der Sepsis bei ausgeprägten Verläufen mit pseudomembranöser Kolitis manifestieren.

jjDiagnostik Der Nachweis des Toxins (PCR oder EIA) ist notwendig. Dieser Test eignet sich nicht zur Erfolgskontrolle der Therapie da das Toxin noch über viele Wochen ausgeschieden wird. jjTherapie Die Therapie besteht in der Beendigung der antibiotischen Therapie falls diese durchgeführt wird. In leichten Fällen ist dies ausreichend. In schwereren Fällen oder falls die Symptomatik nicht sistiert muss antibiotisch behandelt werden. Medikament der ersten Wahl ist Metronidazol, bei fehlendem Erfolg oder Risikopatienten kommt orales Vancomycin zum Einsatz. Fidoxamycin ist noch nicht für das Kindesalter zugelassen. Eine fäkale Mikrobiomtransplantation ist eine wirksame Alternative in therapieresistenten Fällen. Als Komplikation kann ein toxisches Megakolon auftreten, ­welches lebensbedrohlich ist und die temporäre Anlage eines Ent­ lastungsstomas (oder Kolektomie) erforderlich machen kann.

Nichtinfektiöse akute Kolitis 7 Abschn. 22.10.3 (7 Kuhmilchunverträglichkeit)

22.12.3

Obstipation

Eine Obstipation ist ein häufiges Problem im Kindesalter, welches für Patienten und die Familien oft eine erhebliche Belastung ­darstellt. Die Obstipation beginnt in bis zu 40% der Fälle im ersten Lebensjahr. Ein früher Beginn im ersten Lebensjahr hat häufiger organische ­Ursachen, wogegen es sich bei später auftretenden Formen meistens um funktionelle habituelle Störungen handelt. Eine einheitliche ­Definition der Obstipation ist schwierig, allgemein handelt es sich um eine erschwerte und unvollständige Defäkation. Die funktio­ nelle Obstipation wird durch die Rom-IV-Kriterien definiert.

521 Gastroenterologie interdisziplinär

Rom-IV-Kriterien funktionelle Obstipation Mindestens 2 der folgenden Symptome über einen Monat: 5548 h, Bleistiftstühle, blutige Stühle ohne Analfissuren, Gedeihstörung, Fieber, galliges Erbrechen, ausgeprägte abdominelle Distension, neurologische Symptome wie fehlender Anal- bzw. Cremasterreflex, Schwäche bzw. Reflexabschwächung der unteren Extremität, Hinweise auf eine ­Spina bifida occulta wie Haarbüschel oder Einziehungen/Grübchen über der Wirbelsäule, Hinweise auf Missbrauch wie anale Narben, ungewöhnliche Angst vor rektaler Untersuchung bzw. Inspektion der Analgegend, Entwicklungsverzögerung, psychiatrische Erkrankungen, Harninkontinenz. jjPathophysiologie Bei der funktionellen Obstipation spielen neben genetischen und konstitutionellen Einflussfaktoren häufig initiale traumatische ­Ereignisse – z. B. schmerzhafte Fissuren oder Entzündungen des Analkanals und der perianalen Haut – eine Rolle, die zu einem Stuhlverhalt führen. Es schließt sich ein Vermeidungsverhalten mit ­weiteren Rückhaltetendenzen und weiterhin schmerzhafter Defäkation durch den harten und großkalibrigen Stuhl an. Die dauerhafte Füllung der Ampulle führt zu einem Verlust des Defäkationsreflexes und zu Stuhlschmieren bzw. Überlaufenkopresis. Somit entsteht ein Circulus vitiosus der rasch durchbrochen werden sollte, um eine Chronifizierung zu vermeiden. jjDiagnostik Die Diagnosestellung ist meist durch eine gute Anamnese und ­körperliche Untersuchung ohne weitere Zusatzuntersuchungen möglich. Im Zweifel an einer funktionellen Ursache z. B. beim Vorliegen von Warnsymptomen, krankheitsspezifischen weiteren Symptomen oder fehlendem Ansprechen auf eine adäquate Therapie sind zum Ausschluss organischer Ursachen folgende Laborunter­ suchungen sinnvoll: zöliakiespezifische Antikörper, Schilddrüsenstatus, Elektrolyte (K, Ca, Mg), ggf. HbA1c-Wert, die Pankreaselas­ tase im Stuhl. Bei Säuglingen kann ein Auslassversuch von kuhmilchbasierter Nahrung über 2–4 Wochen als diagnostischer Test für eine mögli-

..Tab. 22.5  Differenzialdiagnostik der Obstipation Nahrungsmittel­ unverträglichkeiten

Zöliakie

Endokrinologische Ursachen

Hypothyreose

Elektrolytstörungen

Hypokaliämie, Hyperkalzämie

Medikamentöstoxisch

Opiate, Antidepressiva, Anticholinergika

Kuhmilchproteinintoleranz

MEN 2b

Bleivergiftung Vitamin-D-Intoxikation Botulismus

Exokrine Pankreasinsuffizienz

Mukoviszidose

Neuromuskulär

M. Hirschsprung Chronisch Intestinale Pseudoostruktion (CIPO) (muskulär oder neurogen) Rückenmarkfehlbildungen, -trauma, Tethered Cord Tonusstörungen der Bauchdeckenmuskulatur (M. Down, Prune-belly-Syndrom, Gastroschisis)

Anatomisch-­ obstruktiv

Analstenose, Anus imperforatus, dystoper Anus Raumforderungen im kleinen Becken (z. B. Teratom)

cherweise zu Grunde liegende Kuhmilchproteinintoleranz (7 Abschn. 22.10.3) versucht werden. Bei hochgradigem anamnestischem und klinischem Verdacht auf einen M. Hirschsprung (7 Abschn. 22.10.7) sollen tiefe Rektumbiopsate entnommen werden. Bei älteren Kindern kann auch zusätzlich eine anorektale Manometrie durchgeführt werden. Eine Sonographie dient zum Ausschluss von abdominellen Raumforderungen oder Kalibersprüngen z. B. bei Obstipation und leerer Ampulle. Weitere bildgebende Verfahren wie eine MRT des Rückenmarks sind nach klinischer Indikation zu stellen. jjTherapie Ziel der Therapie ist eine im Idealfall tägliche schmerz- und angstfreie Defäkation. Zu diesem Zweck steht am Beginn der Therapie eine Desimpaktation gefolgt von einer stuhlregulierenden medikamentösen Dauertherapie begleitet von Verhaltenstherapie/Stuhltraining sowie ­Aufklärung. Letztere sollte beim Vorliegen einer funktionellen Obstipation den Circulus vitiosus und die Information über das Fehlen einer organischen Störung beinhalten. Empfohlen werden soll eine ausgewogene Ernährung mit normalem Ballaststoffgehalt, altersgemäße normale Flüssigkeitsaufnahme, normale physische Aktivität. Medikamentöse Therapie  Zur Desimpaktation sollen oral zu a­pplizierende Präparate bevorzugt werden wie das osmotische ­Laxans Polyethylenglycol (PEG, Macrogol) in einer Dosierung von 1–1,5 g/kgKG/Tag über maximal 3–6 Tage. Wird eine orale Therapie nicht akzeptiert oder ist sie unzureichend, können Klysmata verabreicht werden.

22

522

C. Hünseler und M. Dübbers

Zur Dauertherapie ist PEG wirksamer als Laktulose. Die Dosierung muss individuell nach Wirkung gefunden werden und beträgt 0,2–1,0 g/kgKG/Tag. Alternativ kann Laktulose (1–2 g/kgKG/d) eingesetzt werden. Die Dauertherapie sollte langfristig erfolgen, bei anhaltendem Erfolg über mindestens einen Monat soll die Reduk­ tion der Dauertherapie langsam ausschleichend durchgeführt ­werden. Bei windeltragenden Kindern soll die Therapie bis zur ­Sauberkeit erfolgen. j jPrognose Eine verzögerte und unzureichende Therapie ist mit einem schlechteren Therapieerfolg assoziiert. Rezidive sind häufig. Nach Studienlage erreichen ca. 80% der Kinder mit funktioneller Obstipation nach 10 Jahren eine Symptomfreiheit ohne Laxanzien. 22.12.4

Kleinkinderdiarrhö

Die chronische unspezifische Kleinkinderdiarrhö (Toddler’s Diarrhea) ist eine harmlose Veränderung der Stuhlkonsistenz die meist zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr auftritt und häufiger Jungen betrifft. Ursächlich wird von einer ungünstigen Nahrungszusammensetzung ausgegangen: unverdaute Nahrungsbestandteile, auch Fruchtzucker, erreichen das Kolon und führen zur Bindung von Wasser, bakterieller Zersetzung mit Gas- und Säurebildung. j jKlinik Der Stuhlgang ist dünn, säuerlich-aggressiv und kann unverdaute Nahrungsbestandteile enthalten. Die Frequenz kann mehr als

10 Stuhlgänge täglich betragen, z. T. im Wechsel mit Obstipation. Ansonsten ist das Wohlbefinden und Wachstum nicht beeinträchtigt. Gelegentlich können leichte Bauchschmerzen auftreten. jjDiagnose Die Diagnose erfolgt bei typischer Klinik und nach Ausschluss von entzündlichen und infektiösen Darmerkrankungen sowie Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Laborbefunde aus Blut und Stuhl sind unauffällig, es liegt keine Malabsorption vor. jjTherapie Bewährt hat sich die Reduktion der Fruktosezufuhr z. B. durch Verzicht auf Fruchtsäfte und eine ausreichende Fettzufuhr von ca. 35% des Kalorienanteils. Der Anteil an Ballaststoffen sollte ausreichend aber nicht zu hoch sein. Wichtig ist eine adäquate Aufklärung der Eltern über die eigentliche Harmlosigkeit und die Zusammenhänge der Symptome. 22.12.5

Darmpolypen

Darmpolypen kommen gelegentlich bei Kindern und Jugendlichen vor und sind oft Zufallsbefunde im Rahmen einer Endoskopie. Sie können isoliert oder multipel als Polyposissyndrom auftreten, dabei kommt der gutartige juvenile Polyp mit Abstand am häufigsten vor. Juvenil bezieht sich auf histologische Kriterien. Polyposissyndrome stellen dagegen eine Präkanzerose dar. . Tab. 22.6 gibt eine Übersicht über die verschiedenen Arten der Polypen und Polyposissyndrome.

..Tab. 22.6  Darmpolypen und assoziierte Syndrome Syndrom

Erblichkeit

Gen­ defekt

Lokalisation

Juveniler Polyp

Keine

Unbekannt

Kolon

Juvenile polyposis syndrome

AD

SMAD4; BMPR1A

Gesamter ­Magendarmtrakt, v.a. Rektosigmoid

FAP

AD

APC

AFAP

AD

MAP

AR

PJS

AD

22

Alter bei Manifestation

Entartungsrisiko

Therapie

Histologie

Keins

Polypektomie

Hamartom

Späte Kindheit, junges Erwachsenenalter

Ca. 50%

Polypektomie

Hamartom

Kolon, Magen, Dünndarm, oft >100 Polypen

Symptome ab der 2. Dekade, meist erst nach der 3. Dekade

Obligate Präkanzerose (Kolon) Extrakolonische Tumore wie Hepatoblastom u. a. Gardner-Syndrom (adenoma­ töse Polyposis coli mit Weichteiltumoren und Osteomen) Turcot-Syndrom (adenomatöse Polyposis coli und ZNS-Tumoren, v. a. Medulloblastome)

Kolektomie

Adenom

APC; MYH

Meist proximales Kolon, meist 10–100 Polypen

Symptome meist ab der 5. Dekade

Ja

Kolektomie bei >20 Polypen, großen Polypen, nach Histologie

Adenom

MYH

Kolorektal, duodenal

Selten Jugendlichenalter, meist nach der 4. Dekade

Ja. Auch Osteome

Kolektomie

Adenom

Gesamter ­Magendarmtrakt

Spätes Kindes- bis Jugendalter

In Duodenum, Jejunum, Kolon

Polypektomie

Hamartom

AD autosomal dominant; AFP familiäre adenomatöse Polyposis; AFAP attenuierte familiäre adenomatöse Polyposis; APC Adenomatöse Polyposis Koli; AR autosomal rezessiv; MAP mutY-Homolog (MYH)-assoziierte Polyposis; PJS Peutz-Jeghers-Syndrom

523 Gastroenterologie interdisziplinär

Polypen sind oft asymptomatisch, sie können aber durch eine intestinale Blutung oder Invagination auffallen. In schweren Fällen kann es zur Anämie, Hypalbuminämie und Gedeihstörung ­kommen. Beim Vorliegen einer genetischen Mutation mit erhöhtem R ­ isiko eines Kolonkarzinoms sollte bei der APC-Mutation ab dem 10. Lebensjahr, bei der mutYH-Mutation ab dem 18. Lebensjahr ein jährliches Screening stattfinden. 22.12.6

Anorektale Malformationen

Die Ätiologie anorektaler Malformation ist letztendlich unklar, vermutlich liegt eine Wachstumsstörung zwischen Septum urorektale und Kloakenmembran vor. Die Inzidenz beträgt etwa 1:4.000, Jungen sind etwas häufiger betroffen als Mädchen. Begleitfehlbildungen, insbesondere urogenital, gastrointestinal und kardial sind nicht selten. Darüber hinaus finden sich anorektale Malformationen bei Kindern mit Trisomie 21 deutlich häufiger als in der Normalbevölkerung. Die Klassifikation der anorektalen Malformationen erfolgt ­anhand der Lokalisation der Fistel. Je nach Geschlecht werden verschiedene Hauptformen definiert, daneben gibt es weitere seltene Fehlbildungen (. Tab. 22.7). jjKlinik und Diagnose Die postnatale Untersuchung zeigt eine fehlende oder ektope, fistelartige Analöffnung. Gelegentlich ist ein Stuhlaustritt aus dem Penis oder der Vagina zu beobachten. Eine Röntgenuntersuchung des Unterbauchs mit erhöhtem Gesäß oder die Sonographie von perineal können Hinweise auf den Abstand des Rektumblindsacks zur Analregion liefern. Mittels Miktionszysturethrogramm lassen sich häufig Fisteln zur Harnröhre oder Blase nachweisen. Begleitfehlbildungen anderer Organsysteme sollten ausgeschlossen werden. jjTherapie Ziel der Therapie ist der operative Durchzug des Rektums durch die zumeist hypoplastische Levator- bzw. Sphinktermuskulatur mit ­Formung eines kutanen Neoanus. Eine Fistelverbindung wird gleich­ zeitig unterbunden. Die möglichst zentrale Positionierung innerhalb der Muskulatur ist dabei maßgeblich für die spätere Kontinenz der Patienten. In der Regel wird bei den betroffenen Neugeborenen ­innerhalb der ersten 48 Lebensstunden zur Entlastung des Darms zunächst ein Kolostoma angelegt und der endgültige Korrektureingriff unter Anus-praeter-Schutz nach etwa 4–6 Wochen durchgeführt. Fehlbildungen mit vestibulärer bzw. perinealer Fistel können dagegen meist primär ohne Kolostoma postnatal korrigiert werden. Bis heute stellt die posteriore sagittale Anorektoplastik (PSARP) die klassische Korrekturoperation der anorektalen Malformationen dar. Hierbei wird der Rektumstumpf von der Gesäßfalte eingehend, unterhalb der Steißbeinspitze aufgesucht und unter Rekonstruktion der Muskulatur durchgezogen. Insbesondere bei Fisteln zur proximalen Harnröhre oder Harnblase werden jedoch zunehmend auch laparoskopische Techniken angewendet. jjKomplikationen und Prognose Die Güte der operativen Versorgung beeinflusst in hohem Maße das spätere Outcome. Eine Harninkontinenz kann nicht selten bei vaginalen Fisteln oder einer Verbindung zur Blase beobachtet werden. Möglicherweise ist diese aber auch durch eine operative Komplikation bedingt.

..Tab. 22.7  Klassifikation der anorektalen Malformationen Hauptformen

Seltene Varianten

Perineale Fistel

Pouch-Kolon

Rektourethrale Fistel

Rektumatresie

Rektovesikale Fistel

Rektovaginale Fistel

Vestibuläre Fistel

H-Fistel

Kloakenfehlbildung Ohne Fistel Analkanalstenose

Die Beeinträchtigung der Stuhlkontinenz ist darüber hinaus maßgeblich von der Form der anorektalen Malformation sowie der Ausprägung der vorhandenen Muskulatur abhängig. Bei distalen Fisteln zum Perineum, zum Vestibulum oder der bulbären Harn­ röhre kann in den meisten Fällen nach operativer Korrektur eine gute Kontinenz erreicht werden. Hier bestehen häufiger Obstipations­ beschwerden. Bei Formen mit Fisteln zur prostatischen Harnröhre oder Harnblase muss dagegen mit Symptomen der Stuhlinkontinenz gerechnet werden. Die Verbesserung der Kontinenz mit konserva­ tiven Maßnahmen wie z. B. Anpassung der Ernährung, Einläufen oder einem „Bowel-Management“ ist jedoch bei fast allen Betrof­ fenen möglich.

Kloakenfehlbildung Die Kloakenfehlbildung kennzeichnet eine besondere Form der anorektalen Malformation, welche nur beim Mädchen auftritt. Rektum, Vagina und Harnröhre münden hierbei in einen gemeinsamen Gang, dem sog. „Common channel“. Äußerlich imponiert lediglich eine einzelne Öffnung innerhalb des Perineums bzw. der Labien. Bei fehlender Afteröffnung beim Mädchen muss stets an diese komplexe Fehlbildung gedacht werden. 22.13

Leber und Gallenwege

jjDiagnostik bei Lebererkrankungen Lebererkrankungen betreffen das Leberparenchym, das Gallenwegsystem sowie die Gefäßsysteme des Portalvenensystems, der Leberarterien und Lebervenen. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von angeborenen Stoffwechselerkrankungen und Anlagestörungen über autoimmune Erkrankungen bis hin zu infektiösen Erkrankungen. Die körperliche Untersuchung berücksichtigt Größe, Struktur und Konsistenz von Leber und Milz. Bei der Untersuchung der Haut sollten auf Ikterus, Spider nävi, Teleangiektasien, Palmarerythem und ein Caput medusae als portalen Umgehungskreislauf geachtet werden. Die laborchemische Basisdiagnostik gibt Auskunft über die Integrität der Leberzellen und über die Leberfunktion sowie die Funktionalität der Gallenwege. ALT und AST sowie die mitochondriale GLDH zeigen Alterationen der Hepatozyten an, sind aber unspezifisch da auch in anderen Zellen vorhanden. Die Lebersynthese kann durch die Bestimmung des Albumins, der CHE und der Gerinnungsparameter abgeschätzt werden. Bei einer Cholestase sind das direkte Bilirubin und meist die Gallensäuren, die γGT und AP erhöht. Im Rahmen der Cholestase kann es zu einer verminderten Resorption fettlöslicher Vitamine kommen (A, D, E, K), bei ernied-

22

524

C. Hünseler und M. Dübbers

rigtem Quick-Wert lässt die Bestimmung z. B. der Einzelfaktoren II und V die Differenzierung zwischen Vitamin-K-Mangel (nur Faktor II erniedrigt) und einem globalen Leberversagen (Faktor II und V erniedrigt) zu. Die Bestimmung des Ammoniaks zeigt die Entgiftungsleistung der Leber an, es ist erhöht z. B. bei Umgehungskreisläufen im Rahmen eines portalen Hypertonus oder bei Leberausfall. Bei akutem Leberversagen ist der Quick-Wert erniedrigt, ebenso­ wie die CHE und Albumin, NH3 ist erhöht, der Blutzucker typischerweise erniedrigt. Die Sonographie ist die primäre Methode der Wahl zu Beurteilung der Leber und Gallengänge. Sie erlaubt eine Größenbestimmung der Leber und Milz, Beurteilung der Echogenität und Textur des Parenchyms, der Gallenwege und Gallenblase sowie der Perfu­ sion und Weite von Pfortader, Lebervenen und -arterien. Eine erweiterte Diagnostik z. B. bei Raumforderungen der ­Leber lässt die Kontrastmittelsonographie der Leber zu ebenso wie die MRT. Eine MRCP erlaubt die Beurteilung der feineren Strukturen der Gallenwege und des Pankreasgangs. In manchen Fällen ist eine ERCP zur Beurteilung der Gallengänge notwendig, ggf. auch zu interventionellen Maßnahmen (Steinextraktion, Gallecast, Dilata­ tion von Stenosen). Die perkutane Leberbiopsie ist eine einfache Methode um ­Material zur licht- und elektronenmikroskopischen histologischen Untersuchung zu gewinnen. Eine Lebersequenzszintigraphie kann alternativ zur Diagnostik der extrahepatischen Gallengangsatresie angewendet werden. 22.13.1

Hepatitis und Transaminasenerhöhung

Die Ursache einer Hepatitis im Kindesalter ist vielfältig. Häufig liegt eine infektiöse Ursache zu Grunde, auch eine toxische oder autoimmunologische Genese ist möglich. Stoffwechselerkrankungen wie der M. Wilson, die hereditäre Fruktoseintoleranz, die Tyrosinämie Typ 1 oder Mitochondriopathien gehören im Kindes- und Jugendalter zur differenzialdiagnostischen Abklärung einer Transaminasenerhöhung (. Tab. 22.8). Nicht selten liegt im Rahmen einer Adipositas eine NASH (Nichtalkoholische Steatohepatitis) vor.

Virushepatitis 7 Kap. 14

22.13.2

22

Störungen des Bilirubinstoffwechsels

Bei den Störungen des Bilirubinstoffwechsels fällt eine Erhöhung des Bilirubins im Blut auf. Diese kann indirekt (unkonjugiert) oder ­direkt (konjugiert) sein, diese Zuordnung ist wichtig. Von einer d­irekten Hyperbilirubinämie spricht man bei einem Anteil des ­direkten Bilirubins am Gesamtbilirubin über 20% oder einem Absolutwert von >2 mg/dl. Ein Ikterus ist in der Regel ab einem Bilirubinwert von­ ca. 3 mg/dl sichtbar. Eine unzureichende Konjugation des Bilirubins in der Leber durch eine erbliche Störung der UDP-Glukuronyltransferase wie beim M. Gilbert Meulengracht oder dem Crigler-Najjar-Syndrom führen zu einer v. a. indirekten Hyperbilirubinämie. Auch der physiologische Ikterus sowie der Muttermilchikterus des Neugeborenen zeichnen sich durch eine indirekte Hyperbilirubinämie durch verminderte Glukuronidierung aus. Rotor- und Dubin-Johnson-Syndrom sind durch eine direkte Hyperbilirubinämie gekennzeichnet.

M. Gilbert-Meulengracht Der autosomal rezessiv erbliche M. Gilbert-Meulengracht ist mit einer geschätzten Inzidenz von 3–13% eine häufige Störung ohne besonderen Krankheitswert. Es besteht eine deutliche Jungenwendigkeit. Eine Aktivitätsminderung der UDP-Glukuronyltransferase auf ca. 25% führt v. a. bei Infektionen und längerem Fasten zu einem Anstieg des Bilirubins, das 5 mg/dl selten übersteigt. Klinische Symptome treten selten auf. Die Diagnose erfolgt klinisch oder durch einen Fastentest, im Zweifel kann eine molekulargenetische Untersuchung der TATAA-Box in der Promotor-Region des UGT1A1Gens erfolgen. Bei einem Teil der Patienten liegt eine verringerte erythrozytäre Überlebensdauer vor. Eine ursächliche Beteiligung an einem neonatalen Ikterus prolongatus wird beschrieben. Die Verträglichkeit ­bestimmter Medikamente wie Paracetamol ist eingeschränkt.

Crigler-Najjar-Syndrom Beim seltenen (Inzidenz ≤1:1.000.000) autosomal dominant vererbten Crigler-Najjar Syndrom (CN) liegt eine deutliche Reduktion der UDPGlukuronyltransferase vor, beim Typ 1 fehlt sie vollständig, beim Typ 2 ist sie stark reduziert. Es kommt zu einer ausgeprägten indirekten Hyperbilirubinämie schon im Neugeborenenalter mit Gefahr des Kernikterus. CN Typ 2 spricht im Gegensatz zu Typ 1 auf Phenobarbital an welches bei Typ 2 dann auch therapeutisch eingesetzt wird. CN Typ 1 wird mit täglicher Phototherapie, oraler Kalziumgabe zur Bilirubinbindung und schließlich kurativ mit einer ­Lebertransplantation behandelt. Die Prognose des CN Typ 1 ist schlecht.

Dubin-Johnson Syndrom Bei dieser autosomal rezessiv erblichen Erkrankung liegt eine Störung im Bilirubintransporter ABCC2 und MRP2 vor mit gestörter Exkretion von Bilirubin in die Galle. Meist tritt im jungen Erwachsenenalter eine konjugierte milde Hyperbilirubinämie bei ansonsten normaler Leberfunktion auf. Sehr selten kann intermittierend ein verstärkter konjugierter neonataler Ikterus auftreten. Eine Analyse der Bilirubinmetabolite im Urin zeigt eine vermehrte Ausscheidung von Koproporphyrin I im Gegensatz zum üblichen Überwiegen einer Koproporphyrin III-Ausscheidung. Eine prinzipiell nicht notwendige Leberbiopsie zeigt dunkle lysosomale Pigmentablagerungen. Ein besonderer Krankheitswert besteht nicht, die Abgrenzung zu anderen Ursachen einer konjugierten ­Hyperbilirubinämie ist wichtig.

Rotor-Syndrom Beim ebenfalls autosomal vererbten Rotor Syndrom handelt es sich um eine Störung der Wiederaufnahme des Bilirubins aus dem Blut in die Leberzelle durch Defekte im Organo-Anionen-Transporter OATP1B1 und OATP1B3. Die Bilirubinwerte sind moderat meist bis 5 mg/dl erhöht. Weitere Symptome oder Komplikationen bestehen nicht, eine Therapie ist nicht notwendig. Auch hier ist die Koproporphyrin-I-Ausscheidung im Urin erhöht. In einem Leberbiopsat finden sich keine Pigmentanreicherungen. 22.13.3

Cholestase

Als Cholestase wird eine verminderte Bildung oder ein reduzierter Transport von Galle bezeichnet, der zu einer Retention gallepflichtiger Substanzen führt. Eine Cholestase fällt üblicherweise durch eine Erhöhung des konjugierten Bilirubins und der Gallensäuren auf. Es handelt sich um eine hepatobiliäre Dysfunktion die stets zeitnah abgeklärt werden muss.

525 Gastroenterologie interdisziplinär

..Tab. 22.8  Beispiele für Ursachen einer Transaminasenerhöhung durch Leberzellschädigung im Kindes- und Jugendalter. Bei überwiegender Erhöhung der ASAT (GOT) muss eine Muskelerkrankung ausgeschlossen werden Ursache

Erkrankung

Diagnostik

Infektiöse Erkrankungen

Hepatitis A–E CMV EBV Herpes simplex HHV 6+8 Parvovirus B19, Enteroviren, Adenoviren, HIV Listeriose, Toxoplasmose, Leptospirose, Echinokokkose

Serologie und Erregernachweis

Stoffwechsel­ erkrankungen

Galaktosämie

Galaktose, Gal-1P, Gal-1P-Uridyl-Transferase

Fruktoseintoleranz

Aldolase B-Gen

Tyrosinämie Typ 1

Organische Säuren im Urin

M. Wilson

Kupfer im Lebergewebe, Genetik

M. Niemann Pick C

NPC1- und NPC2-Gen

α1 AT-Mangel

α1 AT-Phänotypisierung

Zystische Fibrose

Schweißtest, Genetik

Mitochondriopathien

Laktat, Pyruvat, AS, Acylcarnithine, Biopsie, Genetik

Hämochromatose

Eisen, Ferritin, Transferrinsättigung, Genetik

LCHAD-, VLCAD-Mangel

Acylcarnitine im Serum, organische Säuren im Urin

Glykogenosen Typ I, IIIb, IV, VI, IX

BZ, Laktat, Harnsäure, Genetik

CDG-Syndrom (Ib)

Isoelektrische Transferrinelektrophorese

M. Wolman, Cholesterinestherspeichererkrankungen

Saure lysosomale Lipase

M. Gaucher

Glukozerebrosidaseaktivität, Genetik

Immunologisch

Harnstoffzyklusdefekte

NH3, Aminosäuren im Plasma, organische Säuren im Urin

Autoimmunhepatitis

ANA, LKM, LC1, SMA-AK, Biopsie

Neonatale Hämochromatose (GALD)

Klinik, Labor, Histologie

Systemischer Lupus erytematodes

ANA, anti-ds-DNA

Zöliakie

Transglutaminase, Endomysium-AK, Dünndarmbiopsie, HLA-DQ2/8

Toxisch/Medikamentös

Paracetamol Antiepileptika (Valproat) Narkotika (Halothan, Enfluran) Antibiotika , Antimykotika INH Kupfer Knollenblätterpilz (Amanitine) Organophosphate Totale parenterale Ernährung Drogen, Alkohol

Anamnese, Nachweis in Blut, Urin

Gefäßerkrankungen, Ischämie

Budd-Chiari Pfortaderthrombose VOD (venoocclusive disease) Rechtsherzinsuffizienz Schock, Hypoxie, Ischämie

Sonographie, Leberbiopsie, Anamnese

Infiltrativ

Leukämie Neuroblastom Hepatoblastom HCC

Bildgebung, ggf. Biopsie

Alimentär

NASH

Biopsie

System­ erkrankungen

Sepsis Hypoxie Zystische Fibrose ARPKD Makrophagenaktivierungssyndrom

Anamnese, Sonographie, spezifische Diagnostik der jeweiligen Erkrankung

Endokrinologisch

Hypopituitarismus M. Addison

Cortisol, ACTH, Stimulationstest

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526

C. Hünseler und M. Dübbers

Nach der Ursache wird die Cholestase eingeteilt in 44 biliäre (obstruktive Erkrankungen der intra- oder extrahepatischen Gallenwege) oder 44 hepatozelluläre Ursachen (Defekte im Membrantransport, der Embryogenese oder metabolische Störungen). Im Neugeborenenalter tritt eine Cholestase mit einer Inzidenz von ca. 1:2.500 auf. Die häufigsten Ursachen sind die extrahepatische Gallengangsatresie (25–40%), verschiedene genetische Erkrankungen wie das Alagille-Syndrom (25%), Stoffwechseldefekte wie die Tyrosinämie, Galaktosämie oder Gallensäuresynthesedefekte, anatomische Fehlbildungen wie Choledochuszysten und andere (. Tab. 22.9). >> Bei einem am 14. Lebenstag noch sichtbaren Ikterus soll bei einem Neugeborenen eine Bestimmung des direkten und indirekten Bilirubins durchgeführt werden. Der Beurteilung der Stuhlfarbe kommt eine besondere Bedeutung zu, um Hin­ weise auf eine Obstruktion bzw. Atresie der Gallenwege zu erhalten. Eine rasche Abklärung v. a. behandelbarer Ursachen wie u. a. einer Gallengangsatresie, Galaktosämie oder Tyrosi­ nämie ist wichtig um irreversible Schäden zu vermeiden.

Eine breit angelegte Diagnostik die neben den Basislaborwerten auch eine Stoffwechseldiagnostik, infektiologische und molekular-

genetische Diagnostik sowie bildgebende Diagnostik, die außer der Basissonographie ggf. eine Lebersequenzszintigraphie oder ERCP auch zum Ausschluss einer Gallengangsatresie umfasst, ist oft notwendig. Auch eine Leberbiopsie ist häufig unumgänglich. Molekulargenetische Untersuchungen können in vielen Fällen zur Diagnose führen und invasive Diagnostik überflüssig machen.

Extrahepatisch bedingte Cholestase Eine extrahepatische Cholestase kann verursacht werden durch eine Gallengangsatresie, Gallengangsfehlbildungen wie Choledochuszysten, Raumforderungen wie Tumore, Papillenstenosen (z. B. postentzündlich) oder durch eingedickte Galle oder Gallensteine.

Gallengangsatresie Die Gallengangsatresie ist eine seltene Erkrankung des Neugeborenen bzw. jungen Säuglingsalters mit einer geschätzten Inzidenz von 1:8.000–1:18.000. Es ist der häufigste Grund für eine Lebertransplantation im Kindesalter. Die Ätiologie der entzündlichen Reaktion der Gallenwege und Leber ist nicht genau bekannt, vermutlich sind es exogene Trigger wie Viren, die in einer vulnerablen Phase auf ein möglicherweise genetisch disponiertes Individuum treffen und eine immunologische ­Reaktion auslösen. Der Prozess der Fibrosierung und Obliteration der extrahepatischen Gallenwege kann schon intrauterin beginnen,

..Tab. 22.9  Differenzialdiagnostik der neonatalen Cholestase Erkrankung

Diagnostik/Genetik

Gallengangshypoplasie/-verlegung Extrahepatische Gallengangsatresie

US (kleine/fehlende Gallenblase, „triangular cord sign“), Leberbiopsie, ERCP, hepatobiliäre Szinti­ graphie, Intraoperative Cholangiographie

Alagille-Syndrom

Typische Fazies, Schmetterlingswirbel, Herzfehler (Pulmonalstenosen), Augenarzt, Leberbiopsie, Cholesterin ↑, γGT↑ JAG1-, NOTCH2-Gen

Choledochuszyste

US, ERCP, MRCP Caroli-Syndrom: PKHD1-Gen (ARPKD)

Choledocholithiasis

US, ERCP, MRCP ABCB4-, ABCB11-, ATP8B1-Gen

Neonatal sklerosierende Cholangitis

US, ERCP, MRCP, Leberbiopsie

Idiopathische Riesenzellhepatitis

Histologische Ausschlussdiagnose

Progressive familiäre intrahepatische ­Cholestase (PFIC)

γGT (↓→ in Typ 1+2, ↑ in Typ 3) Leberbiopsie, Immunhistochemie, Genetik PFIC1 mit begleitenden Fehlbildungen

Metabolische Erkrankungen, Speichererkrankungen u. a.

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α1 AT-Mangel

α1 AT im Serum; α1 AT-Phänotyp (ZZ, SZ, MZ) SERPINA1-Gen

Zystische Fibrose

Neugeborenenscreening, Schweißtest, Pankreaselastase im Stuhl, CFTR-Gen

Gallensäuresynthesedefekte

Gallensäureprofil im Urin: CYP7B1; AKR1D1 (SRD5B1); HSD3B7

Störung der Gallensäurekonjugation

Gallensäureprofil im Urin: Genetik BAAT und SLC27A5

M. Gaucher

AP ↑, β-Glucocerebrosidase ↓, Chitotriosidase ↑, Knochenmarkbiopsie: Gaucher-Zellen

M. Niemann-Pick Typ C

Chitotriosidase ↑ NPC1-, NPC2-Gen

M. Wolman, LAL-Mangel

Lysosomale saure Lipase im Serum Cholesterin ↑, LDL ↑, HDL ↓

527 Gastroenterologie interdisziplinär

..Tab. 22.9 (Fortsetzung) Erkrankung

Diagnostik/Genetik

Mitochondriale Erkrankungen

Laktat, Pyruvat, Acylcarnitine, ggf. Leber oder Muskelbiopsie mit Atmungskettenenzymen SCO1-, SUCLG1-, BCS1L-, POLG1-, C10ORF2-, DGUOK-, MPV17-Gene

Neonatale intrahepatische Cholestase durch Citrin Deficienz (NICCD)

Citrullin ↑, α-Fetoprotein ↑, Ferritin ↑ SLC25A13-Gen

Peroxismale Erkrankungen (Zellweger-Spektrum u. a.)

Zellweger: Kraniofaziale Dysmorphie, mentale Retardierung, Hepatomegalie, multizystitsche Nierendysplasie, Katarakt, Optikusatrophie VLCFA ↑, Plasmalogene, Phytansäure

Tyrosinämie

Succinylaceton im Urin ↑; HCC-Risiko; FAH-Gen

Galaktosämie

Neugeborenenscreening, Galactose-1-Phosphat-Uridyl-Transferase-Aktivität ↓

Congenital disorders of glycosylation (CDG)

Multisystemerkrankung: dysmorphe Facies, Strabismus, invertierte Mamillen, mentale Retardierung, Krampfanfälle, Gedeihstörung, Hepatomegalie, Diarrhö, Koagulopathie, Eiweißverlustenteropathie (CDG1b). Triglyceride ↑, AT III ↓ Isoelektrische Transferrinelektrophorese

Endokrinologische Erkrankungen Hypothyreose

Neugeborenenscreening (TSH ↑)

Panhypopituitarismus

Glukose ↓, Cortisol ↓, TSH ↓, fT4 ↓, IGF1 ↓, IGFBP3 ↓ MRT-Schädel

Toxische Ursachen Parenterale Ernährung

Ausschlussdiagnose

Medikamente

Paracetamol

Immunologische Erkrankungen Gestational alloimmune liver disease (GALD)

Ferritin ↑, Nachweis extrahepatischer Eisenablagerungen

Neonataler Lupus erythematosus

ANA, anti-RoSSA, anti-La/SSB, anti-U1RNP Antikörper EKG (kongenitaler AV-Block?)

Hämophagozytierende Lymphohistiozytose (HLH)

Fieber (>7 d), Hepatosplenomegalie mit Leberfunktionsstörung, Pancytopenie, sCD25 ↑, Ferritin ↑, Triglyceride ↑, Fibrinogen ↓

Infektiöse Erkrankungen Sepsis, Harnwegsinfektion, TORCH, ­Hepatitis A–E, EBV, HIV, Echo-, Adeno-, ­Coxsackievirus, Parvovirus B19, HHV 6-8, VZV, Lues, Leptospirose

PCR, Erregernachweis, Serologie

Gefäßmalformationen Portosystemische Shunts

US, MRT, unerklärliche Galaktosämie (Screening +), Hyperammonämie

Multiple Hämangiome

US, MRT

Kongestives Herzversagen

Echokardiographie (z. B. Herzfehler bei Trisomie 21)

Budd-Chiari-Syndrom

US

Verschiedenes ARC-Syndrom

Arthrogryposis multiplex congenita, faziale Dysmorphie, Gedeihstörung, renal tubuläre Azidose, Thrombozytenfunktionsstörung, Ichthyosis VPS33B-Gen

Microvillus inclusion disease (MVID)

Schwere sekretorische wässrige Diarrhö, Biopsie mit E-Mikroskopie MYO5B-Gen

Neonatale Leukämie

AML > ALL

Genetische Erkrankungen

Trisomie 21, Trisomie 18

US Ultraschall

22

528

C. Hünseler und M. Dübbers

1

5

2 6 3

4

7

Leber zu eröffnen, kann ein Galleabfluss erzielt und der Krankheitsverlauf begünstig werden. Komplikationen sind Anastomoseninsuffizienz, aufsteigende Cholangitiden, Blutungen und Ulzerationen der Y-Roux-Schlinge, insuffiziente Ableitung der Galle und die biliäre Zirrhose auch im Rahmen der Grundproblematik. Der Ikterus und eine gewisse Cholestase bestehen oft trotz Kasai-OP in unterschiedlichem Ausmaß und machen eine Substitution fettlöslicher Vitamine, eine spezielle Diät und die Gabe von Ursodesoxycholsäure nötig. Fast alle Kinder benötigen bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter eine Lebertransplantation.

Intrahepatische Cholestase ..Abb. 22.8 Stuhlfarbkarte

er manifestiert sich allerdings typischerweise innerhalb der ersten drei Lebensmonate. Die syndromale Form ist eine genetische Fehlbildungssymptomatik mit embryonaler Störung der Duktalplattenentwicklung. j jKlinik Nach einem meist symptomfreien Intervall kommt es zu einem ­Ikterus mit Entfärbung des Stuhlgangs, dunklem Urin, Gedeih­ störung. Es existiert eine syndromale Form mit Situs inversus, ­Polysplenie, präduodenaler Pfortader und kardialen Fehlbildungen und in über 80% die häufigere nichtsyndromale Form. Es kommt rasch zur Entwicklung einer Leberzirrhose mit allen ihren Komplikationen wie einer portalen Hypertension. j jDiagnostik >> Die Diagnose sollte rasch gestellt werden um eine entsprechende Therapie einzuleiten und den Prozess der Entwicklung einer Zirrhose aufzuhalten.

Die Differenzialdiagnosen sind aus . Tab. 22.9 ersichtlich, dabei sind bei acholen Stühlen v. a. das Alagille-Syndrom, der α1-Anti­trypsin­ mangel, Choledochuszysten, das Syndrom der eingedickten Galle, CF und metabolische sowie Speichererkrankungen der Leber zu ­beachten. Neben dem direkten Bilirubin und den Gallensäuren im Serum ist die γGT meist deutlich erhöht (γGT > ALT). Sonographisch kann ein Fehlen oder eine sehr kleine Gallenblase auffallen, daneben ein „triangular cord sign“ (fibrosierter Gallenweg ventral der Pfortaderbifurkation). Der Nachweis fehlender Gallengänge kann durch eine hepatobiliäre Sequenzszintigraphie oder eine ERCP gelingen, manchmal ist auch die intraoperative Cholangiographie nötig. Die Auflösung der MRCP ist meist nicht hoch genug. Eine Leberhistologie ist zur Abgrenzung von anderen Erkrankungen bei unklarer Diagnose nötig. Typische Veränderungen sind Dukt-Proliferationen, Galle-Plugs und die portale Fibrose.

22

j jTherapie Die Hepatoportoenterostomie nach Kasai ist eine therapeutische Option in den ersten Lebenswochen, die vielen Patienten ein Langzeitüberleben ermöglicht. Bei dieser Operation werden die obliterierten extrahepatischen Gallenwege entfernt und eine biliodigestive Anastomose zwischen fibrotischem Gallengang im Bereich der Leberpforte und einer hochgezogenen Dünndarmschlinge angelegt. Nur wenn es hierbei gelingt, genügend kleine Gallenwege in der

Eine intrahepatische Cholestase kann durch infektiöse, genetischmetabolische, endokrinologische, vaskuläre und andere Ursachen bedingt sein (. Tab. 22.9).

Gallensäuresynthesestörung Durch sehr seltene Enzymdefekte (Inzidenz ca. 1–9:1.000.000) in der Synthese von Gallensäuren aus Cholesterin entstehen toxische ­Metabolite die zu einer progredienten Leberschädigung mit Cholestase durch reduzierten Gallefluss führen können. Von 9 bekannten Enzymdefekten führen 7 zu einer Cholestase, der 3-β-Hydroxy-C27Steroid-Oxidoreduktase-Mangel (Typ 1) ist die häufigste Form. Zur Diagnosestellung ist ein Gallensäuremetabolit-Profil im Urin notwendig. Die Therapie besteht bei den meisten Formen in der oralen Substitution von Gallensäuren wie Cholsäure oder Desoxycholsäure.

Progressive familiäre intrahepatische Cholestase (PFIC) Es handelt sich hierbei um seltene verschiedene autosomal rezessiv erbliche Störungen der Gallensäure- bzw. Phospholipidsekretion an der kanalikulären Membran der Hepatozyten durch unterschiedliche Kanal- und Transporterdefekte mit einer geschätzten Inzidenz von 1:50.000–100.000. Es werden mindestens 3 Typen unterschieden, die sich in Manifestationsalter, Begleitsymptomen, Höhe der γGT unterscheiden (. Tab. 22.10). Typ 1 wird auch als M. Byler, Typ 2 als Byler-Syndrom bezeichnet. Es resultiert eine veränderte Zusammensetzung der Galle die auch zu entzündlichen Veränderungen der Gallenwege führen kann (Typ 3). Die Diagnosestellung kann immunhistochemisch aus der Biopsie und molekulargenetisch erfolgen. Die Therapie ist symptomatisch, der starke Juckreiz kann oft nur durch eine partielle biliäre Diversion behandelt werden, eine Lebertransplantation ist im Verlauf häufig notwendig. Der benignen rekurrierenden intrahepatischen Cholestase (BRIC1 und BRIC2) liegt ebenfalls wie bei PFIC1/PFIC2 eine Mutation des FIC1-Gens bzw. ABCB11-Gens zu Grunde. Es kommt intermittierend zu cholestatischen Episoden mit Ikterus, Juckreiz und Allgemeinsymptomen, zwischenzeitlich sind die Patienten beschwerdefrei. Der Beginn liegt meist in der 2. oder 3. Lebensdekade. Eine Schwangerschaft kann z. B. einen Schub auslösen. Die Langzeitprognose ist gut.

Intrahepatische Gallengangshypoplasie Eine intrahepatische Gallengangshypoplasie zeichnet sich durch eine numerische Verminderung der portalen Gallengänge mit ­Cholestase aus. Sie kann entweder isoliert oder als syndromatische Form vorliegen (Alagille Syndrom oder arteriohepatische Dys­ plasie).

529 Gastroenterologie interdisziplinär

a

b

..Abb. 22.9 Alagille-Syndrom. a Typische Gesichtsform mit hoher, breiter und gewölbter Stirn, kleines betontes Kinn, Hypertelorismus bei tiefliegenden Augen. b Schmetterlingswirbel (Pfeil)

..Tab. 22.10   Übersicht über die Formen der progressiven familiären intrahepatischen (Cholestase) PFIC 1

PFIC 2

PFIC 3

Protein

FIC1

BSEP-Mangel

MDR3-Mangel

Gen/Chromosom

ATP8B1/18q21-q22

ABCB11/2q24

ABCB4/7q21

Funktion

Aminophospholipidtransport

Gallensäuretransport

Phosphatidylcholintransport

Alter bei Manifestation

Säuglingsalter

Neonatal/frühes Säuglingsalter

Spätes Säuglingsalter bis ­Erwachsenenalter

Verlauf

Moderat, End-stage liver disease in der ersten Lebensdekade

Schnelle Progression zur Zirrhose in den ersten Lebensjahren

End-stage liver disease in erster oder 2. Lebensdekade

Extrahepatische ­Symptome

Diarrhö, Pankreatitis, sensorineurale Schwerhörigkeit, Kleinwuchs

Nicht vorhanden

Nicht vorhanden

Risiko für Lebertumore

Nicht erhöht

Erhöht

Nicht erhöht

Risiko für Cholesterin­ gallensteine

Nicht erhöht

Erhöht

Erhöht

γGT

Normal

Normal

Erhöht

GPT

Gering erhöht

Moderat erhöht

Gering erhöht

FIC Familial Intrahepatic Cholestasis Protein; BSEP Bile Salt Export Pump; MDR Multidrug Resistance

kkAlagille-Syndrom Das Alagille-Syndrom ist ein seltenes autosomal dominant vererbtes Fehlbildungssyndrom durch Mutationen im JAG1-Gen auf dem kurzen Arm von Chromosom 20 (20p12), welches das Protein Jagged 1 codiert. Jagged 1 ist ein Ligand des transmembranösen Rezeptorproteins Notch 1, das in der Organogenese zur Zelldifferenzierung, -proliferation und Apoptose benötigt wird. Auch Mutationen im Notch2-Gen kommen vor. Eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation existiert nicht. jjSymptome Im Neugeborenenalter fallen viele Patienten durch eine Cholestase mit Ikterus und entfärbten Stühlen auf. Ursache ist eine Rarefi­ zierung intrahepatischer Gallengänge. Später begleitet oft ein aus­ geprägter Pruritus die Cholestase. Die typische Facies zeigt eine

hohe, breite Stirn, tiefliegende Augen und Hypertelorismus sowie ein schmales Kinn. Wirbelfehlbildungen (Schmetterlingswirbel; . Abb. 22.9), kardiale Fehlbildungen wie Pulmonalarterienstenosen, Pulmonalarterienhypoplasie, Fallot-Tetralogie, VSD, ASD, Aorten­ stenosen sind beschrieben. Am Auge können ein Embryotoxon posterior sowie eine Drusenpapille gesehen werden. Nierenauffälligkeiten bzw. renale Funktionsstörungen mit Harnkonzentrationsstörungen, Nephrolithiasis, hypoplastischen Nieren kommen ebenfalls vor. Eine mentale Entwicklungsretar­ dierung ist evtl. eher Folge eines komplizierten Verlaufs als Teil des Syndroms. Initial und im Verlauf können die Patienten durch eine Blutung, z. B. intrakraniell, auffallen, dies kann bedingt sein durch eine ­Koagulopathie durch Vitamin-K-Mangel oder durch zerebrale Gefäßfehlbildungen.

22

530

C. Hünseler und M. Dübbers

j jDiagnostik Zur Abklärung müssen weitere Organfehlbildungen durch Sono­ graphie, Röntgen der Wirbelsäule, Echokardiographie und augenärztliche Untersuchung ausgeschlossen werden. Die Diagnose eines Alagille-Syndroms ergibt sich aus der Kombination spezifischer Symptome wenn 3 der 7 Kardinalsymptome vorliegen. Laborchemisch fällt die Cholestase mit hoher γGT, hoher AP, erhöhten Gallensäuren im Serum und einem deutlich erhöhten Cholesterin auf. Der Quick-Wert kann deutlich vermindert sein, ebenso können die weiteren fettlöslichen Vitamine A, D und E vermindert sein. In der Leberhistologie sind die kleinen intrahepatischen portalen Gallengänge in der Zahl vermindert, dieser Befund kann bei jungen Säuglingen noch nicht ausgeprägt sein. Duct-Proliferate finden sich im Gegensatz zur Gallengangsatresie nicht. Eine molekulargenetische Diagnostik ist möglich. Differenzialdiagnostisch müssen v. a. bei Neugeborenen die ­extrahepatische Gallengangsatresie, der α1-Antitrypsinmangel, ­Infektionen und andere Erkrankungen mit Cholestase abgegrenzt werden. j jTherapie Die Therapie der Cholestase ist symptomatisch und umfasst eine Gabe von Ursodesoxycholsäure, Vitaminsubstitution und Therapie des Juckreizes z. B. durch Phenobarbital, Rifampicin, Naltrexon, ­Ondansetron u. a. oder auch eine partielle biliäre Diversion. Bei ca. 20% der Patienten ist im Verlauf eine Lebertransplantation notwendig. Bei einem großen Teil der Patienten bessert sich die Lebersituation im Verlauf. Die Therapie der kardialen Fehlbildungen in Abhängigkeit von der Ausprägung erfolgt medikamentös bzw. interventionell oder operativ.

Stoffwechselerkrankungen mit intrahepatischer ­Cholestase Mit intrahepatischer Cholestase einhergehende Stoffwechseler­ krankungen sind in . Tab. 22.9 aufgeführt. Die Abklärung dieser unterschiedlichen Erkrankungen muss rasch erfolgen, da ggf. eine schnelle Therapieeinleitung notwendig ist (z. B. Galaktosämie, ­Tyrosinämie, Harnstoffzyklusdefekte; 7 Kap. 3).

kkM. Wilson Der M. Wilson ist eine autosomal-rezessiv vererbte Störung im ­Kupferstoffwechsel. Das über den Darm aufgenommene Nahrungskupfer kann nicht über die Galle eliminiert werden und lagert sich in bestimmten Geweben wie Leber, ZNS, Nieren u. a. bevorzugt ein. Die Inzidenz liegt bei 1:30.000–100.000, es sind weit über 300 Mutationen bekannt. Ursächlich ist eine Mutation im ATP7B-Gen auf Chromosom 13q14.3 und die dadurch bedingte Funktionsstörung in der für die Kupferausscheidung in die Galle und den Einbau von Kupfer in apo-Coeruloplasmin benötigten membranständigen Typ-P ATPase. Es kommt zu einer toxischen Leberzellschädigung, Coeruloplasmin wird vermindert produziert und Kupfer wird vermehrt an andere Plasmaproteine wie Albumin gebunden, an die es weniger stark ­gebunden ist, das freie Kupfer im Serum steigt an und es resultieren Ablagerungen in Hepatozyten, Stammganglien und anderen Ge­weben. jjSymptome Die Symptome des M. Wilson fallen erst auf, wenn es zu einer er­ heblichen Kupfereinlagerung gekommen ist, die zu einer entsprechenden toxischen Gewebeschädigung führt. Eine Erhöhung der Trans­ aminasen findet sich meist erst nach dem 3. Lebensjahr und ist oft ein Zufallsbefund. Eine Manifestation als akute Hepatitis und auch als akutes Leberversagen ist möglich. Später kommt es zu einer Leberinsuffizienz mit Synthesestörungen, Zirrhose und portaler ­Hypertension. Neurologische Symptome werden frühestens in der 2. Lebens­ dekade gesehen. Es kommt dabei zu Konzentrationsstörungen, Sprachstörungen, und parkinsonähnlichen Symptomen wie Flapping-Tremor und Rigor aber auch Wesensveränderungen. Der Kayser-Fleischer Corneal-Ring durch Kupferablagerungen ist beim Vorliegen neurologischer Symptome fast immer zu finden. Eine Coombs-negative hämolytische Anämie ist Folge einer Kupfertoxizität. Andere Organbeteiligungen wie eine Kardiomyo­ pathie oder Tubulopathie sind selten. jjDiagnostik: Die Diagnose kann durch die Zusammenstellung der folgenden Befunde anhand des „Leipzig“-Scores gestellt werden (. Tab. 22.11). Eine molekulargenetische Untersuchung ist für die Diagnosestellung nicht unbedingt erforderlich.

..Tab. 22.11 Leipzig-Score Symptom

Punktwerte -1

22

0

1

2

Kayser-Fleischer Ring (Spaltlampe)

Nein

Ja

Typische neurologische Symptome

Nein

Ja

Erniedrigung des Coeruloplasmins

>0,2 g/l

0,1–0,2 g/l

Coombs-negative hämolytische Anämie

Nein

Ja

Erhöhte Kupferausscheidung im Urin ­ (± D-Penicillamin)

Normal

Ja, 1- bis 2-faches der Norm

Erhöhtes Kupfer im Lebertrocken­ gewicht Positive Genetik

Normal

250 μg/g

1 Mutation

2 Mutationen

531 Gastroenterologie interdisziplinär

jjTherapie Ziel der lebenslangen Therapie ist die „Entkupferung“ des Organismus sowie die Verhinderung der erneuten Akkumulation von Kupfer. Dazu eingesetzt werden Chelatbildner wie D-Penicillamin (Zieldosis 20–30 mg/kgKG/d) oder das besser verträgliche Trientin (Triethylentetraminhydrochlorid, Zieldosis 20 mg/kgKG/d). Zink­ acetat kann im späteren Verlauf zur Hemmung der Kupferresorption im Darm eingesetzt werden. In fortgeschrittenen Verläufen und bei akutem Leberversagen ist eine Lebertransplantation ultima ratio. Zur Therapieüberwachung wird die Kupferausscheidung im Urin verwendet. kkα1-Antitrypsinmangel Das Glykoprotein α1-Antitrypsin (α1 AT) wird v. a. in der Leber produziert und dient als Proteaseninhibitor (PI), wie z. B. der ­Neutrophilenelastase. Durch eine autosomal rezessive Mutation im PI-Gen auf Chromosom 14 kann beim α1 AT-Mangel das defekte α1 AT nicht aus den Hepatozyten ausgeschleust werden und akkumuliert dort was zur Funktionsstörung und zum Untergang der ­Hepatozyten mit Cholestase und Fibrose/Zirrhose führt. Ein Fehlen von α1 AT in der Peripherie führt zu einer überschießenden Proteasenaktivität, die sich v. a. in der Lunge im Sinne eines interstitiellen Emphysems manifestieren kann. jjDiagnose Hinweisend ist eine Erniedrigung des α1 AT im Serum, da α1 AT auch als Akute-Phase-Protein fungiert, kann aber ein falsch hoher Serumwert vorliegen. Diagnostisch wegweisend ist die PI-Typisierung (normal: PI-MM; Leberschädigung: PI-ZZ; meist nur Lungenschädigung: PI-MZ, PI-SZ). Histologisch findet sich α1 AT als PASpositive Einschlüsse in den Hepatozyten. Lungenschädigungen treten in der Regel erst nach der 2. Lebensdekade auf, die Lungenerkrankung kann in schweren Fällen durch eine wöchentliche intravenöse α1 AT-Substitution aufgehalten werden. Die Therapie der Leberbeteiligung ist rein symptomatisch, in einigen Fällen ist eine Lebertransplantation notwendig. kkReye-Syndrom Das Reye-Syndrom ist eine mitochondriale Funktionsstörung meist bei Kindern unter 12 Jahren, die mit Virusinfektionen wie Varizellen oder Influenza und der Einnahme von Acetylsalicylsäure (ASS) assoziiert wird und mit einem nichtinflammatorischen Hirnödem mit Bewusstseinsstörung und einer Leberfunktionsstörung durch akute fettige Degeneration einhergeht. Die genaue Ursache und Pathogenese ist noch unklar. Die Inzidenz ist rückläufig seitdem ASS bei Kindern mit großer Zurückhaltung eingesetzt wird. Die Patienten fallen ca. eine Woche nach einem Infekt mit einer plötzlichen eintretenden Enzephalopathie mit Erbrechen, Verwirrung, Bewusstseinsstörung, Hyperventilation, Lethargie, Krampfanfällen bis hin zum Koma auf. Die Transaminasen sind erhöht bei meist normalem Bilirubinwert, Hypoglykämien und Hyperammonämie werden regelmäßig gesehen. Differenzialdiagnostisch sind v. a. Intoxikationen, Stoffwechseldefekte, Meningitis/Enzephalitis, Schädel-Hirn-Trauma, intrakranielle Blutungen auszuschließen. Die Therapie ist symptomatisch und zielt auf eine Senkung des intrakraniellen Drucks und eine Stabilisierung der Organfunktionen, die Mortalität liegt bei 20–40% bedingt durch das Hirnödem, neurologische Residuen sind bei Überlebenden häufig.

22.13.4

Portale Hypertension

Eine portale Hypertension entsteht durch eine portale Widerstands­ erhöhung >10 mm Hg bzw. einen hepatovenösen Druckgradienten >4 mmHg. Die Ursachen der portalen Hypertension können sein: 44 ein prähepatischer Block, dem meist eine Pfortaderthrombose zu Grunde liegt (Z. n. Nabelvenenkatheter, Thrombophilie), 44 ein intrahepatischer Block bei hepatobiliärer Erkrankung mit Fibrose/Zirrhose, 44 ein posthepatischer Block durch eine venookklusive Erkrankung (VOD), Lebervenenthrombose oder Rechtsherzinsuffizienz. Folge der portalen Widerstandserhöhung ist die Ausbildung von Umgehungskreisläufen sowie das Einschwemmen aktiver Mediatoren in die systemische Zirkulation. Es entstehen Ösophagus- und Fundusvarizen, rektale Varizen, ein Caput medusae bei Reperfusion der V. umbilicalis sowie eine Splenomegalie mit Hypersplenie­syndrom. Die Symptomatik kann bestimmt sein durch die Grunderkrankung (Lebererkrankung, Herzinsuffizienz etc.), es kann als erstes Symptom aber auch eine Ösophagusvarizenblutungen auftreten z. B. bei einer zuvor nicht bekannten Pfortaderthrombose mit unauffälligen Leberwerten und normaler Leberfunktion. Ein Hyperspleniesyndrom kann durch linksseitige Oberbauchschmerzen durch Kapselspannung auffallen oder durch eine Thrombopenie, Neutropenie und/oder Anämie. Vasoaktive Mediatoren können durch eine pulmonale Vasodilatation zu einem hepatopulmonalen Syndrom mit vermehrtem intrapulmonalem Rechts-links-Shunt und entsprechender Belastungsdyspnoe und Zyanose führen. Ein Aszites kann sich ebenso entwickeln durch erhöhten Gefäßdruck der die Kapazität der Lymphgefäße übersteigt, vermehrtes Blutangebot im portalen System durch vasoaktive Substanzen und ggf. ein vermindertes Albumin. jjDiagnostik Dopplersonographisch lassen sich Veränderungen des portalen Flussprofils bis hin zur Flussumkehr finden. Dabei lassen sich das Leberparenchym, die Gallenwege, die Lebervenen und die Milz­ größe beurteilen. Das Ausmaß der Ösophagus- bzw. Fundusvarizen und einer hypertensiven Gastropathie lassen sich endoskopisch beurteilen. Laborchemisch können sich Zeichen des Hypersplenismus finden sowie mögliche Veränderungen im Rahmen einer zu Grunde liegenden Lebererkrankung. jjTherapie Falls möglich muss die ursächliche Erkrankung behandelt werden (Herzinsuffizienz, VOD, ...), dies ist in vielen Fällen nicht möglich, sodass eine rein symptomatische bzw. palliative Therapie notwendig ist. Eine Lebertransplantation ist häufig die einzige kurative Maßnahme. Ein portosystemischer Shunt (z. B. splenorenaler Shunt, portocavaler Shunt, TIPS) als Palliation kann zur Überbrückung bis zu einer Lebertransplantation angelegt werden, die Hauptkomplikation ist eine hepatische Enzephalopathie. Im Falle einer Pfortaderthrombose kann häufig ein Meso-Rex-Shunt die ursprünglichen Perfusionsverhältnisse wieder herstellen. Eine akute gastrointestinale Varizenblutung ist ein Notfall und muss umgehend gestoppt werden (7 Abschn. 22.7). Akut blutungsgefährdete Varizen können prophylaktisch ligiert werden. Die ­Anwendung von β-Blockern wie Propranolol kann den Druck im Pfortadersystem senken.

22

532

C. Hünseler und M. Dübbers

22.13.5

Akutes Leberversagen (ALV)

Als ALV wird ein plötzlich eintretendes Leberversagen bei Patienten ohne bekannte chronische Lebervorschädigung (2 ohne Enzephalopathie, >1,5 mit Enzephalopathie. Die Genese des ALV ist vielfältig, sie unterscheidet sich v. a. ­zwischen Neugeborenen und älteren Kindern. Insgesamt ist ein ALV ein seltenes Ereignis. In einer nordamerikanisch-europäischen Erhebung betrug die Mortalität ohne Transplantation in den ersten 21 Tagen 11%, 34% wurden transplantiert und 55% erholten sich spontan. Das Vorhandensein einer Enzephalopathie geht mit einer schlechteren Prognose einher.

..Tab. 22.12  Ursachen des ALV im Neugeborenen- und Kindesalter Idiopathisch, unbekannt

Neonatale Riesenzellhepatitis

Immuno­ logisch

Alloimmun: GALD Autoimmunhepatitis

Infektiös

Hepatitis A, B, C, E, HSV, PVB19, Adenoviren, ­Enteroviren, CMV, ... Listeriose Toxoplasmose Bakterielle Sepsis

Stoffwechsel­ erkrankungen

Tyrosinämie Typ 1 Galaktosämie Mitochondriopathien Harnstoffzyklusdefekte Gallensäuresynthesedefekte α1-Antitrypsinmangel Fruktoseintoleranz M. Wilson LCAD-Mangel

Akut ­systemisch

Sepsis

Hämato­ onkologisch

Hämophagozytierende Lymphohistiozytose (HLH) Leukämie Non-Hodgkin-Lymphom Histiozytose Neuroblastom, Hepatoblastom

Gefäßkomplikationen

Budd-Chiari-Syndrom Venoocclusive Disease

Medikamentös-toxisch

Knollenblätterpilz Paracetamol Valproat, INH, Ketoconazol u.v.a.m.

j jUrsachen ALV im Neugeborenenalter  In den ersten 28 Lebenstagen sind die

häufigsten Ursachen eine neonatale Hämochromatose/Gestational Alloimmune Liver Disease (GALD), eine HSV-1 Infektion und eine Tyrosinämie Typ 1. Andere Ursachen sind andere Stoffwechselerkrankungen, Sepsis, Asphyxie, Gefäßkomplikationen, die hämophagozytierende Lymphohistiozytose u. a. (. Tab. 22.12). In bis zu 50% der Fälle bleibt die Ätiologie ungeklärt. ALV jenseits der Neugeborenenperiode  Hier dominieren infek-

tiöse Ursachen (Hepatitis A, Adenoviren etc.), medikamentös toxische Auslöser, Stoffwechselerkrankungen wie der M. Wilson oder die Autoimmunhepatitis, die sich mit einem ALV manifestieren können. j jSymptome Die Kinder können durch ein septisches Erscheinungsbild mit allgemeinem Verfall, einem Ikterus oder selten einer Blutung (Hirnblutung, gastrointestinale Blutung) auffallen. Der Hinweis auf ein ALV ergibt sich meist aus den Laborwerten. Diagnostisch hinweisend können die Anamnese (Aborte und IUGR [Intrauterine Wachstumsretardierung] bei GALD, Herpesinfektion der Mutter, Konsanguinität häufig bei Stoffwechseldefekten), die Laborparameter (oft normale Transaminasen und nicht messbarer Quick-Wert bei GALD; sehr hohe Transaminasen und sehr hohes Ferritin bei HSV-1, hohes Laktat bei Mitochondriopathien) sowie sonographische Befunde (persistierender Ductus venosus und ggf. Zeichen der Leberzirrhose bei GALD) sein.

22

j jDiagnostik Die initiale Diagnostik sollte umfassen: 44 Eine genaue Anamnese der Schwangerschaft, Konsanguinität, Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme, 44 Sonographie des Abdomens inkl. Doppler der Lebergefäße und des Schädels, 44 Laboruntersuchungen: 55Leberwerte und Cholestaseparameter: GPT, GOT, GLDH, γGT, Bilirubin gesamt und direkt, AP, 55Gerinnung: Quick (INR), Fibrinogen, ATIII, Faktor II und Faktor V, 55Lebersyntheseparameter: Albumin, Eiweiß, CHE, 55Ammoniak, Laktat, Blutzucker, Säure-Base-Haushalt, 55Ferritin,

Hypoxisch-ischämisch (Schock, Asphyxie)

55AFP, 55Elektrolyte, Kreatinin, Harnstoff, Lipase, CRP, 55Differenzialblutbild, 55Virologie (HSV, Enteroviren, Adenoviren, Parvovirus, CMV, Hepatitisviren). 44 Bei älteren Kindern auch: 55Paracetamolspiegel, 55Autoantikörper: ANA, LKM, SMA, LC1, 55Coeruloplasmin. jjTherapie Initial muss umgehend eine kardiorespiratorische Stabilisierung des Kindes erfolgen, eine Stabilisierung der Gerinnung evtl. mit vorsichtiger Gabe von Gerinnungsfaktoren und Vitamin K. Die Wertigkeit einer generellen Gabe von ACC beim nichtparacetamolinduzierten ALV ist unklar. Wichtig ist eine Aufrechterhaltung einer Homö­ ostase im Flüssigkeits-, Elektrolyt-, Säure-Base-und Glukosehaushalt. Ein Hirnödem muss vermieden bzw. adäquat behandelt werden ebenso wie eine möglicherweise vorliegende Hyperammonämie. Bei Neugeborenen muss bis zum Erhalt der Diagnose umgehend eine Therapie mit Aciclovir sowie eine laktosefreie Ernährung mit Proteinrestriktion begonnen werden. Bei V. a. eine Tyrosinämie z. B. bei gleichzeitigem Vorliegen einer renalen Tubulopathie ist eine Therapie mit NTBC (Nitisinon) möglich, welches den Erkrankungsverlauf günstig beeinflusst. Besteht der V. a. eine GALD müssen ein Blutaustausch und eine anschließende IgG-Infusion erfolgen um die maternalen Alloantikörper zu entfernen.

533 Gastroenterologie interdisziplinär

Bei älteren Kindern erfolgt die spezifische Therapie gemäß dem klinischen Verdacht bzw. der Diagnose: bei Paracetamolintoxikation ACC, bei Knollenblätterpilzintoxikation Silibilin, immunsuppres­ sive Therapie bei AIH etc. In vielen Fällen erholt sich Leberfunktion wieder, einige Patienten benötigen eine Lebertransplantation, falls Aussicht auf Erholung besteht auch eine auxiliäre temporäre Transplantation (7 Abschn. 22.13.6). 22.13.6

Lebertransplantation

In Deutschland werden jährlich ca. 100–120 Patienten unter 18 Jahren lebertransplantiert. Die häufigsten ursächlichen Grunderkrankungen sind die Gallengangsatresie, Stoffwechselerkrankungen (zystische Fibrose, α1-Antitrypsinmangel, M. Wilson u. a.) PFIC, Lebertumore und das akute Leberversagen. Die Indikation zur ­Lebertransplantation kann neben einer Lebersynthese- und Ent­ giftungsstörung ein schwerer portaler Hypertonus, nicht beherrschbarer Pruritus, ein hepatopulmonales oder hepatorenales Syndrom, eine Enzephalopathie oder drohende schwerwiegende Komplikationen z. B. durch die ursächliche Stoffwechselerkrankung sein. Kontraindikationen sind Sepsis, schwere Herzinsuffizienz und schwere neurologische Beeinträchtigung. Die Lebertransplantation wird entweder als Verstorbenen­ spende oder als Lebendspende durchgeführt. Bei der Lebendspende wird per se eine adäquate Leberteilentnahme vorgenommen. Ein Verstorbenenorgan kann als Split-Leber mehreren Empfängern ­zugeführt werden. Nach akutem Leberversagen wird bei der auxiliären temporären partiellen orthotopen Lebertransplantation (APOLT) ein Teil der Eigenleber des Empfängers belassen, in­ der Hoffnung, dass dieses sich nach einer Zeit wieder erholt, die Spenderleber wird dann nach Beendigung der Immunsuppression atrophieren. jjPrognose Das akute postoperative Überleben der Lebertransplantation liegt bei über 90%. Akute Komplikationen sind Gefäßkomplikationen, Infektionen und eine akute Abstoßung. Die langfristige Prognose wird bestimmt von chronischer Abstoßungsreaktion, Cholangitiden, posttransplantations Cholangiopathie, Nebenwirkungen der Immunsuppressiva wie Niereninsuffizienz, PTLD, Infektionen. Die durchschnittliche 10-Jahre-Überlebensdauer nach Transplantation beträgt derzeit ca. 80%, Lebend- und Verstorbenenspende unterscheiden sich nicht wesentlich. Zur Immunsuppression werden v. a. die Calcineurininhibitoren Tacrolimus und Ciclosporin A (CsA), Prednison sowie Basiliximab zur initialen Induktionstherapie eingesetzt. Mycophenonlatmofetil und die mTor-Antagonisten Everolimus und Sirolimus kommen nur individuell zum Einsatz. Bei den Calcineurininhibitoren sind v. a. die Nephro-, Neurotoxizität, diabetogene Potenz, Blutdruckanstieg und Hyperlipidämie, beim CsA auch Hirsutismus und Gingivahyperplasie als Nebenwirkungen zu beachten. Wichtig ist eine frühzeitige Anbindung von Patienten mit chronischen Lebererkrankungen an ein Transplantationszentrum sowie eine frühzeitige Verlegung bei akutem Leberversagen. 22.13.7

Cholelithiasis

Gallensteine werden im Kindes und Jugendalter mit einer Inzidenz von bis zu 1,9% angegeben, am häufigsten treten sie bei Mädchen ab

der Pubertät auf. Allerdings kommen Gallensteine auch schon bei Neugeborenen vor. Die Gallenflüssigkeit besteht aus fünf verschiedenen Hauptbestandteilen: Wasser, Phospholipiden, Cholesterin, Gallensäuren und Bilirubinabbauprodukten. Eine lithogene Galle entsteht bei Veränderung der Zusammensetzung und Überschreiten des Löslichkeitsproduktes dieser Substanzen. Ihre Funktion besteht einerseits in der Elimination v. a. lipophiler Substanzen aus dem Organismus und in der Resorption von Fetten und fettlöslichen Vitaminen aus dem Chymus. Es werden drei Arten von Gallensteinen beschrieben: nicht schattengebende Cholesterinsteine, verkalkte Bilirubinsteine und gemischte Steine. Die Bilirubinsteine treten v. a. bei hämolytischen Erkrankungen auf. Prädispositionen für die Entstehung von Gallensteinen sind ­neben den hämolytischen Erkrankungen Adipositas, Hypothyreose, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, zystische Fibrose, Cholestase, Cholangitis, Leberzirrhose, parenterale Ernährung und bestimmte Medikamente wie z. B. Ceftriaxon. Auch sind autosomal rezessiv erbliche Prädispositionen für die Entstehung von Gallensteinen beschrieben, die z. T. mit der Progressiven familiären intrahepatischen Cholestase assoziiert sind (ABCB4-Gen). jjSymptome Gallensteine können durch typische Koliken mit rechtsseitigen, akut auftretenden Oberbauchschmerzen auffallen, die v. a. auch bei sehr fettreichen Speisen auftreten können. Rezidivierendes Erbrechen und Übelkeit können ebenso Symptome von Gallensteinen sein. Ein Verschlussikterus kann aus im Ductus hepaticus gelegenen Steinen resultieren. Oft sind Gallensteine aber auch nur Zufallsbefunde im Rahmen einer Sonographie. jjDiagnostik Die Sonographie ist die diagnostische Bildgebung der Wahl bei ­Gallensteinen. Intrahepatische Gallensteine oder Steine im Ductus hepaticus/choledochus können oft nur durch eine MRCP oder ERCP dargestellt werden. Laborchemische Veränderungen von γGT und AP oder des Bilirubins finden sich meist nur bei Steinen im Gangsystem. jjTherapie Asymptomatische Steine Obere Norm (ON)

1

>10% > ON

2

Leberhistologie

Mit AIH vereinbar

1

Für AIH typisch

2

Ja

2

Fehlen einer Virushepatitis

*Summe aller Autoantikörper maximal 2

Autoimmunhepatitis Bei der Autoimmunhepatitis (AIH) handelt es sich um eine seltene (Inzidenz ca. 0,4:100.000 Kinder), chronisch-entzündliche autoimmune Erkrankung der Leber, die sich sowohl schleichend als auch akut bis hin zum fulminanten Leberversagen manifestieren kann. Mädchen sind mit ca. 75% häufiger betroffen. Die Ätiologie ist unbekannt, es findet sich eine HLA-assoziierte genetische Prädisposition. Die AIH im Kindesalter wird nach Antikörpermuster eingeteilt in die AIH1 und AIH2 (Verhältnis ca. 2:1). Die Kombination von AIH und sklerosierender Cholangitis wird als autoimmunsklerosierende Cholangitis (ASC) bezeichnet. Die AIH2 tritt bei jüngeren Kindern, z. T. bei Neugeborenen auf und zeigt meist einen schwereren Verlauf. Kennzeichnend für die AIH1 ist der Nachweis von ANA und Anti-SMA, für die AIH2 von LKM1-Antikörpern und selten LC1Antikörpern. Die AIH ist häufig assoziiert mit anderen Autoimmunerkrankungen bzw. Erkrankungen wie der Autoimmunthyreoiditis, dem Diabetes mellitus Typ I, der PSC, der Colitis ulcerosa oder der Zöliakie und dem nephrotischen Syndrom. j jSymptome Die Symptomatik ist oft schleichend mit Gewichtsverlust, Abgeschlagenheit und Müdigkeit, häufig handelt es sich auch um einen Zufallsbefund erhöhter Transaminasen. Außerdem kann primär ein Ikterus auffallen aber es kann auch zu einem akuten Leberversagen kommen. Grundsätzlich unterscheidet sich die Symptomatik nicht von einer Hepatitis anderer Ursache, z. B. einer viralen Hepatitis, daher muss die AIH bei jeder Hepatitis bzw. Transaminasener­ höhung in die differenzialdiagnostische Erwägung einbezogen ­werden.

22

j jDiagnose Die Diagnose wird gestellt aus Anamnese, Klinik, Laborbefunden, histologischen und bildgebenden Befunden. Laborchemisch finden sich erhöhte Autoantikörper (ANA, LKM, SMA, LC-1), Erhöhungen der Transaminasen, der γGT, des Bilirubins und in ca. 80–90% auch des Gesamt-IgG. Die Lebersyntheseparameter können beeinträchtigt sein. Schon geringe Anstiege der Autoantikörper (für ANA und SMA Titer ≥1:20 und für LKM1 ≥1:10) können im Kindesalter hinweisend

sein. SLA/LP-Antikörper können bei AIH1 und 2 vorkommen, sie sind mit einem schwereren Krankheitsverlauf und höherer Rezidivrate assoziiert. Histologisch finden sich neben dem Hauptkriterium der „Interface Hepatitis“ u. a. ein lymphoyztäres oder lymphoplasmazelluläres Infiltrat in den Portalfeldern mit Überschreiten der Grenzlamelle, Übergreifen auf das Läppchen, ballonierten Hepatozyten und/oder pyknotische Einzelzellnekrosen. Zum Ausschluss einer ASC ist immer eine MRCP notwendig. Die einzelnen Befunde ergeben im modifizierten IAIHG-Score („international autoimmune hepatitis group“; . Tab. 22.13) eine Punktzahl, die ab 7 Punkten die Diagnose einer AIH unter Ausschluss anderer Ursachen (z. B. Infektionen) zulässt. jjTherapie Die Therapie erfolgt immunsuppressiv, Standardmedikamente sind Prednison zur Induktion (2 mg/kgKG/d Startdosis, Reduktion über 8 Wochen) und in niedriger Dosis zur Erhaltungstherapie (0,2 mg/ kgKG/d) kombiniert mit Azathioprin (1–2 mg/kgKG/d). Budesonid kann eine alternative zu Prednison auch in der Dauertherapie sein. Weitere Alternativmedikamente sind MMF oder Tacrolimus. jjVerlauf und Prognose Bei Manifestation mit akutem Leberversagen ist in bis zu 40% der Fälle eine Transplantation notwendig. Bei Manifestation zeigen sich in ca. 30 % histologisch bereits Zeichen der Zirrhose. Unter adäquater Behandlung wird in ca. 10% eine Lebertransplantation notwendig, unbehandelt ist die Zirrhoseprogression mit Leberversagen rasch. Bei der AIH1 gelingt es teilweise nach einigen Jahren in Remission unter Therapie die Medikation erfolgreich zu beenden.

Primär sklerosierende Cholangitis (PSC) Die PSC ist mit einer geschätzten jährlichen Inzidenz von 1:500.000 eine sehr seltene Erkrankung im Kindesalter. Sie tritt gehäuft bei Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen auf (Colitis ulcerosa: M. Crohn = 9:1) und kann deren Manifestation vorausgehen. Die genaue Ätiologie ist unbekannt, neben einer genetischen Disposition werden immunologische Mechanismen vermutet, möglicherweise durch verstärkte Translokation von Darmbakterien („leaky gut“). Häufig lässt sich p-ANCA, seltener ANA oder

535 Gastroenterologie interdisziplinär

SMA nachweisen, eine Assoziation zu den HL-Antigenen HLA-B8, HLA-DR1, DR3 und HLA-DRw52a ist beschrieben. Es kommt zu einer zunehmenden Fibrosierung der intra- und extrahepatischen Gallenwege mit Cholestase und biliärer Zirrhose als möglichem Endstadium. jjSymptome Die Symptome sind unspezifisch, häufig finden sich Allgemein­ symptome wie Ermüdbarkeit, Leistungsschwäche, Oberbauchschmerzen, Ikterus, Juckreiz. Die Transaminasen, die AP, IgG und der Bilirubinwert sind meist erhöht. Diagnostisch beweisend sind die typischen perlschnurartigen Einziehungen der Gallenwege in der MRCP oder ERCP sowie die Histologie. jjTherapie Therapeutisch kann Ursodesoxycholsäure (UDCA) eingesetzt werden in einer Dosis von 15–20 mg/kgKG/d. NorUDCA scheint in Zukunft vielversprechend für den Einsatz bei einer PSC zu sein. Der Progress wird dadurch allerdings nicht aufgehalten. Segmentale Stenosen müssen ggf. mittels ERCP dilatiert werden. Komplikationen sind Cholelithiasis, Cholangitis, Zirrhose sowie cholangiozelluläres Karzinom. Eine Variante ist die Small-Duct-PSC, die nur histologisch ge­ sichert werden kann und in den bildgebenden Verfahren nicht zu erkennen ist. Im Kindesalter ist die autoimmunsklerosiernde Cholangitis (ASC) eine besondere Verlaufsform die v. a. auch Zeichen der ­Autoimmunhepatitis zeigt und auf eine immunsuppressive Therapie anspricht, die Veränderungen der Gallenwege lassen sich jedoch kaum aufhalten. Eine Lebertransplantation ist die definitive Therapie bei fortschreitender Erkrankung. 22.14

Pankreas

Das Pankreas hat endo- und exokrine Funktionen. In den Langerhans-Inseln werden aus A-, B-, D- und PP-Zellen Insulin, Glukagon, Somatostatin, pankreatisches Polypeptid PP und vasoaktives intestinales Polypeptid VIP gebildet. Der exokrine Drüsenanteil produziert Verdauungsenzyme in den Azinuszellen und Bikarbonat sowie Wasser (7 Abschn. 22.14.2). Ein Erwachsener produziert täglich 1,5–3 l Pankreassekret. 22.14.1

Fehlbildungen

Pankreas anulare Ein Pankreas anulare entsteht aus einer fehlenden Verschmelzung des ventralen und dorsalen Anteils des Pankreas. Häufig führt es zu einer Duodenalstenose oberhalb der Papille mit einer Transport­ störung und nichtgalligem Erbrechen, das schon im Neugeborenenalter (intrauterin: „double bubble“) auffallen kann. Häufig sind Kinder mit M. Down betroffen. Die Therapie ist chirurgisch z. B. durch eine Duodenoduodenostomie.

Pankreas divisum Dabei handelt es sich um die häufigste Pankreasfehlbildung. Die Verschmelzung des ventralen und dorsalen Teils des Pankreas bleiben aus, es persistieren zwei Ausführungsgänge (Ductus pancreaticus major et minor). Meistens treten keine Symptome auf, selten kann es durch Abflussbehinderungen zu Pankreatitiden kommen.

Long common channel Ein „long common channel“ ist ein langstreckiger gemeinsamer Ausführungsgang von Gallengang und Pankreasgang. Es kann zu biliärem Reflux in den Pankreasgang kommen mit rezidivierenden Pankreatitiden. 22.14.2

Exokrine Pankreasinsuffizienz

Die exokrine Pankreasinsuffizienz geht mit einer verminderten Freisetzung von Verdauungsenzymen (Lipase, Trypsin, Chymotrypsin, Elastase, Amylase etc.) in den Darm einher. Die Freisetzung der Verdauungsenzyme wird indirekt durch Cholezystokinin (CCK) aus dem Dünndarmepithel getriggert. Die CCK-Freisetzung wird durch vorverdaute Nahrungsbestandteile induziert, CCK führt zur Gallenblasenkontraktion und intrapankreatischen Acetylcholinfreisetzung, welches die Produktion und Abgabe der Enzyme stimuliert. Die Enzyme Trypsin, Chymotrypsin und Elastase werden als Proenzyme (Trypsinogen, Chymotrypsinogen, Proelastase) sezerniert und erst im Dünndarm aktiviert, so wird das Pankreas vor Autolyse ­geschützt. Aktiviertes Trypsin dient dabei als Aktivator für die restlichen Proenzyme. Der exokrinen Pankreasinsuffizienz können primäre organische Störungen des Pankreas zu Grunde liegen oder funktionelle Störungen durch eine verminderte CCK-Freisetzung aus dem Duodenum, z. B. bei einer Zerstörung der Dünndarmmukosa bei Zöliakie oder M. Crohn sowie bei einer zu schnellen Magenentleerung z. B. nach Magenoperationen. Organische Störungen des Pankreas treten bei chronischen ­Pankreatitiden wie bei den hereditären Pankreatitiden oder der ­zystischen Fibrose auf. Auch syndromale Erkrankungen wie das Shwachman-Bodian-Diamond-Syndrom, das Johanson-Blizzard– Syndrom und Mitochondriopathien wie das Pearson-Syndrom sind mit einer exokrinen Pankreasinsuffizienz vergesellschaftet. Folge des Mangels an Verdauungsenzymen sind Fettstühle, ­Diarrhö, Maldigestion mit Gedeihstörung, teilweise Bauchschmerzen und Meteorismus, Mangel an fettlöslichen Vitaminen. Während die Kohlenhydrat- und Proteinverdauung z. T. von Enzymen des Speichels, des Magens und der Dünndarmmukosa (Peptidasen, ­Saccharidasen) übernommen wird, ist die Fettverdauung weitgehend abhängig von der Pankreaslipase. jjDiagnostik Stimulationsteste wie der CCK-Sekretin-Test ebenso wie die Bestimmung der Stuhlfettausscheidung werden kaum noch durchgeführt. Bei der Bestimmung der Fettausscheidung muss die Zufuhr genau bilanziert werden, ebenso die Ausfuhr. Die Fettbestimmung im Stuhl kann z. B. mittels Spektroskopie erfolgen. Die Fettausscheidung ­sollte 7% der aufgenommenen Menge nicht überschreiten. Die Bestimmung der Pankreaselastase aus dem Stuhl ist eine einfache und relativ zuverlässige Methode mit einer Spezifität und Sensitivität von ca. 90%. Eine falsche Erniedrigung des Werts liegt häufig bei Diarrhö mit kurzer Passagezeit und Verdünnung vor. Eine leichte und moderate exokrine Pankreasinsuffizienz wird nicht gut erfasst. Ein alternatives Verfahren ist der 13C-Atemtest mit markierten gemischten Triglyceriden. Bildgebende Verfahren wie die Sonographie, MRCP oder ERCP können Veränderungen wie Verkalkungen oder Gangunregelmäßigkeiten nach rezidivierender Entzündung zeigen, diese Veränderungen korrelieren aber nicht mit der exokrinen Funktion. Daher dient die Bildgebung v. a. der Ursachenabklärung und Verlaufskontrolle. Das MRCP kann mit einer Sekretinstimulation verbunden werden,

22

536

C. Hünseler und M. Dübbers

um die Sekretionsleistung des Pankreas beurteilen zu können. Standards in der Pädiatrie fehlen hierzu aber. j jTherapie Die Therapie besteht in der oralen Enzymsubstitution (Pankreatin) mit hohem Lipaseanteil, dazu werden in der Regel Schweinepräparate eingesetzt, die zum Schutz vor Magensäure verkapselt sein müssen aber trotzdem im Duodenum rasch freigesetzt werden sollen. Diese Präparate müssen während oder unmittelbar nach jeder fetthaltigen Mahlzeit eingenommen werden und sollten am besten auf die aufgenommene Fettmenge abgestimmt sein. Allgemein gilt bei Jugendlichen bei Hauptmahlzeiten eine Dosis von 25.000–40.000 E und bei Zwischenmahlzeiten von 10.000 E als Richtwert, auf das Gramm Fett bezogen 1.000–2.000 E/g. Da die Freisetzung erst bei einem pH-Wert > 5,5 eintritt, kann zur Verbesserung der Wirkung eine Säureblockade des Magens mit Protonenpumpeninhibitoren durchgeführt werden.

..Tab. 22.14  Ursachen der akuten Pankreatitis Mechanisch

Anatomische Anomalien (z. B. „long common channel”) Obstruktionen (Steine, Tumoren) Trauma

Infektiös

Coxsackie-B-Viren Echoviren Herpesviren Masern, Mumps, Röteln HIV Hepatitis A, B, E Campylobacter

Syndrome mit exokriner Pankreasinsuffizienz

E. coli O157

Shwachman-Bodian-Diamond-Syndrom (SBDS)  Es handelt sich

Yersinien

um eine autosomal rezessiv erbliche Erkrankung mit exokriner Pankreasinsuffizienz und Knochenmarkdysfunktion, weiteren Stigmata und Retardierung. Ursache sind Mutationen im SBDS-Gen auf Chromosom 7. Im Kindesalter kommt es zur Pankreasinsuffizienz, im Blutbild fallen Neutropenie, eine leichte Thrombopenie und Anämie auf. Ichthyose, Knochenanomalien wie metaphysäre Dysostose oder Pectus carinatum und eine psychomotorische Retardierung können vorkommen. Ein Minderwuchs ist häufig. Das Risiko für die Entwicklung einer Leukämie ist erhöht. Das Pankreasgewebe wird lipomatös umgebaut, es kann im Verlauf aber zu einer Verbesserung der Pankreasfunktion kommen. Die Therapie besteht in der Substitution von Pankreasenzymen, ggf. G-CSF, wenn nötig einer Knochenmarktransplantation.

Salmonellen Parasiten Metabolisch

Hyperkalzämie Malnutrition Niereninsuffizienz Medikamente

Asparaginase Azathioprin, 6-Mercaptopurin Valproat Vincristin

Johanson-Blizzard-Syndrom (JBS)  Das JBS wird autosomal rezes-

siv vererbt, meist liegt eine Mutation im UBR1-Gen auf Chromosom 15 vor, das für die Ubiquitin-Protein-Ligase UBR1 codiert, die auch am Zellwachstum des Pankreas beteiligt ist. Hauptsymptome neben der Pankreasinsuffizienz sind Minderwuchs, Mikrozephalie, mentale Retardierung, Innenohrschwerhörigkeit, Aplasie der Nasenflügel, Hypothyreose, Fehlen von Zähnen. Weitere Fehlbildungen können vorkommen. Die Therapie ist symptomatisch.

Hypertriglyceridämie

Cisplatin Statine Furosemid, Thiazide Kalzium Systemerkrankungen

Schock Chronisch entzündliche Darmerkrankungen Primär sklerosierende Cholangitis

Pearson-Syndrom  Es handelt sich um eine Depletion mitochond-

22

rialer DNA mit verminderter Funktion von Enzymen der Atmungskette. Hauptsymptome der im frühen Kleinkindalter beginnenden ­Erkrankung sind die Pankreasinsuffizienz und Störungen des Knochenmarks (makrozytäre sideroblastische Anämie, oft Neutropenie und Thrombopenie), zusätzlich können Tubulopathien der Nieren, eine Hepatopathie sowie neuromuskuläre Symptome vorliegen. Die Lebenserwartung ist eingeschränkt. Wird das Kleinkindalter überlebt ändert sich die Symptomatik und es entwickelt sich häufig ein Kearns-Sayre-Syndrom mit progressiver externer Ophthalmoplegie und Myopathie.

Systemischer Lupus erythematodes Panarteritis nodosa Hämolytisch urämisches Syndrom Juvenile rheumatoide Arthritis Purpura Schoenlein Henoch Zöliakie Hereditär/idiopathisch

PRSS1 SPINK1 CFTR Carboxypeptidase A1 (CPA1) Chymotrypsin-C-Mangel

537 Gastroenterologie interdisziplinär

22.14.3

Pankreatitis

Akute Pankreatitis Eine akute Pankreatitis tritt im Kindes- und Jugendalter mit einer geschätzten Inzidenz von 1:10.000 auf. Während bei Erwachsenen Alkohol die Hauptursache ist, sind die Ursachen bei Kindern biliär, medikamenten- oder infektassoziiert, idiopathisch, hereditär, traumatisch, metabolisch oder systemisch (. Tab. 22.14). Der Verlauf der Pankreatitis kann milde sein mit einer ödematösen Verlaufsform oder selten fulminant als hämorrhagisch-nekrotisierende Pankreatitis, die mit mindestens einer Komplikation vergesellschaftet ist. jjSymptomatik Typisches Symptom ist der akut einsetzende Oberbauch- bzw. epigastrische Schmerz, der gürtelförmig bis in den Rücken ausstrahlen und auch diffus sein kann. Inappetenz, Erbrechen und Übelkeit sind häufig. Die Körpertemperatur kann erhöht sein. Je nach Ursache kann ein Ikterus vorliegen. Der Bauch kann gebläht und ausladend sein und eine gummiartige Abwehrspannung zeigen. Bei schwereren Verläufen können ein paralytischer Ileus, Aszites, linksseitiger Pleuraerguss, ein positives Cullen-Zeichen [periumbilikal auftretende, bläuliche Flecken (Ekchymosen)] und Grey-Turner-Zeichen [in den Flanken auftretende, bläuliche Flecken (Ekchymosen)] auftreten, letztere sind ungünstige Zeichen schwerer Verläufe. Die resultierende systemische Inflammationsreaktion (SIRS) kann zu einer Schocksituation mit Hypotension, Tachykardie und Organschäden führen (z. B. Niereninsuffizienz). Zudem kann es zu einer bakteriellen Superinfektion v. a. durch Darmbakterien mit ­resultierender Sepsis kommen. jjDiagnostik Neben der Klinik wird zur Diagnosestellung eine mindestens 3-fache Erhöhung der Lipase (oder Pankreasamylase) sowie entsprechende Auffälligkeiten in der Bildgebung gefordert. Im Ultraschall kann sich das Pankreas als hyperechogen und vergrößert darstellen, der Pankreasgang kann erweitert oder unregelmäßig sein, Flüssigkeitsverhalte können sichtbar sein (akute Zysten oder Pseudozysten). Allerdings ist das Pankreas auf Grund seiner retroperitonealen Lage und der Darmüberlagerung häufig nur schwer darzustellen. Die Bildgebung der Wahl zur exakten Darstellung der Verhältnisse auch von Komplikationen sind MRT und CT. jjTherapie Falls eine Behebung der Ursache möglich ist wie z. B. bei Steinen im Gangsystem muss dies umgehend erfolgen. Ansonsten ist die Therapie symptomatisch und umfasst v. a. die Flüssigkeitstherapie, Kalorienzufuhr, schnellen enteralen Nahrungsaufbau und eine suffiziente Schmerztherapie. Eine adäquate, aggressive und sehr früh begonnene Volumentherapie v. a. bei dehydrierten oder hypoten­ siven Patienten verhindert weitere Organschäden und stellt eine Gewebeoxygenierung sicher. Hier können Ringer-Laktat-Lösungen eingesetzt werden. Hyperglykämien sollten vermieden werden, durch ein SIADH kann eine Hyponatriämie entstehen. Der frühe Beginn enteraler Ernährung reduziert die Mortalität, wahrscheinlich durch Stabilisierung der enteralen Barriere, Verringerung bakterieller Translokation und Verminderung der systemischen Inflammation. Spätestens am 2.–3. Krankheitstag sollte die enterale Ernährung wieder aufgenommen werden, eine längere ­Karenz muss vermieden werden. Bei Inappetenz soll die Nahrungszufuhr ggf. über eine gastrale oder jejunale Sonde gegeben werden.

22

Eine Antibiotikatherapie soll nur nach Indikation erfolgen,­ z. B. bei klinischen Sepsiszeichen Zur Schmerztherapie können Nichtopioide wie Metamizol oder Ibuprofen eingesetzt werden, bei stärkeren Schmerzen ist die Kombination mit einem Opioid notwendig. Die Problematik des Sphinkter-Oddi-Spasmus durch reine μ-Agonisten ist nicht hinreichend belegt, sodass auch Morphin in der Schmerztherapie der akuten Pankreatitis meist problemlos eingesetzt wird. jjPrognose Die Prognose der schweren akuten Pankreatitis ist – in Abhängigkeit von der Ursache – im Kindesalter deutlich besser als bei Erwachsenen. Die Prognose einer primären isolierten Pankreatitis (Mortalität 0–1%) ist besser als einer sekundären Pankreatitis im Rahmen anderer Erkrankungen (Mortalität bis 7%).

Chronische Pankreatitis Die im Kindesalter seltene chronische Pankreatitis ist durch rezidivierende Entzündungsschübe des Pankreasparenchyms und Ersatz durch fibrotisches Bindegewebe mit der Folge eines fortschreitenden Verlusts der exokrinen und endokrinen Pankreasfunktion gekennzeichnet. Es kommt zu charakteristischen Komplikationen wie z. B. Pseudozysten, Pankreasgangstenosen, Duodenalstenosen, Kompression der Gallenwege, einer Malnutrition sowie einem chronischen Schmerzsyndrom. Schmerzen stellen das Hauptsymptom von Patienten mit chronischer Pankreatitis dar. Die chronische Pankreatitis stellt einen Risikofaktor für ein Pankreaskarzinom dar. jjÄtiologie Die häufigste Ursache ist eine zystische Fibrose (2% der CF-Patienten), daneben existieren andere genetische Mutationen wie PRSS1, SPINK-1, weitere Mutationen im CFTR-Gen und CTRC-Gen, die zu einer chronischen, bzw. hereditären Pankreatitis führen können. Eine Autoimmunpankreatitis ist im Kindesalter extrem selten. Eine Hyperkalzämie z. B. bei primärem Hypoparathyreoidismus oder eine Hypertriglyceridämie ist ebenfalls mit dem Risiko einer chronischen Pankreatitis assoziiert. Ob Ganganomalien wie das Pankreas divisum alleine zu einer chronischen Pankreatitis führen ist nicht eindeutig belegt. Von einer hereditären Pankreatitis spricht man, wenn entweder zwei oder mehr Fälle von rezidivierender akuter oder chronischer Pankreatitis in zwei oder mehr aufeinanderfolgenden Generationen einer Familie vorliegen oder wenn die Pankreatitis mit einer bekannten krankheitsverursachenden genetischen Mutation assoziiert ist. Der hereditären Pankreatitis (0,3:100.000) liegt meist eine autosomal dominante Trypsinogenmutation (PRSS1, kationisches Trypsinogen, Chromosom 7q35) zu Grunde, sie ist für ca. 60% der Fälle einer idiopathischen chronischen Pankreatitis verantwortlich. Es kommt zu einer fehlenden Inaktivierung von Trypsin im Pankreas und ­damit zu einer Autolyse mit Inflammation und chronischer Destruktion. Ungefähr 30% der idiopathischen Pankreatitiden sind durch autosomal rezessiv erbliche SPINK-1-Mutationen (SerinproteaseInhibitor, Kazal-Typ-1) verursacht. Weitere autosomal rezessive Mutationen des „Cystic-FibrosisTransmembrane-Conductance-Regulator“(CFTR)-Gens ohne ­Zeichen einer zystischen Fibrose können ebenfalls rezidivierende Pankreatitisschübe auslösen. jjDiagnostik Bei Kindern und Jugendlichen mit Zeichen der chronischen Pankreatitis v. a. bei positiver Familienanamnese sollte eine molekulargenetische Abklärung von PRSS-1 und im zweiten Schritt von SPINK-1,

538

C. Hünseler und M. Dübbers

CFTR, CPA1- und CTRC-Mutationen erfolgen. Die Bildgebung ­(Sonographie, MRCP) dient dem Nachweis von Zeichen der Gangschädigung und Komplikationen. j jTherapie Die Therapie des akuten Schubs entspricht der Therapie der akuten Pankreatitis. Die weitere Therapie ist symptomatisch und umfasst die Sub­ stitution von Pankreasenzymen bei exokriner Insuffizienz, Ernährungsberatung, eine Schmerztherapie sowie endoskopische und operative Verfahren bei Komplikationen. 22.15

Peritoneum

22.15.1

Peritonitis

Eine Peritonitis wird durch Erreger – meist Bakterien – aber auch chemisch verursacht durch Mekonium, Blut, Pankreassekret oder Galle. Man unterscheidet eine primäre von einer sekundären Peritonitis (. Tab. 22.15). Während die sekundäre Peritonitis durch eine Perforation eines Hohlorgans, eine transmurale Durchwanderung oder einen iatrogenen Eingriff entsteht, handelt es sich bei einer primär spontanen bakteriellen Peritonitis um eine bakterielle Entzündung, oft bei Vorliegen von Aszites, ohne Hinweis auf eine anderweitige intraabdominelle Ursachen der Infektion (7 Kap. 25). Bei den sekundären Formen finden sich meist Mischkulturen während bei der primären spontanen Peritonitis meist nur ein Erreger nachgewiesen werden kann. Die häufigsten Erreger sind E. coli, Klebsiellen und grampositive Erreger wie Pneumokokken, Streptokokken, seltener Anaerobier und Pilze. jjSymptomatik Eine Peritonitis geht mit Fieber, einem gewölbten Abdomen mit Abwehrspannung, Schmerzen und deutlich reduziertem Allgemeinzu-

..Tab. 22.15  Ursachen primärer und sekundärer Peritonitis Sekundäre Peritonitis Perforation eines Hohl­ organs

22

Mekoniumileus Nekrotisierende Enterokolitis, fokale intestinale Perforation Appendizitis Meckel-Divertikel Cholezystitis, Gallenblasenempyem Magen-Darm-Ulzera Divertikel Purpura-Schoenlein-Henoch

Transmurale Durchwanderung

Ileus, toxisches Megakolon Omphalitis Gastroenteritis Invagination

Iatrogen

Peritonealdialyse Operationen, Laparoskopie, PEG-Anlage

Primäre Peritonitis Spontane bakterielle Peritonitis Meist bei Aszites durch chronische Lebererkrankung, Pfortaderthrombose, nephrotisches Syndrom oder Herzinsuffizienz

stand einher. Initial kann die Entzündung und Abwehrspannung noch lokalisiert sein wie bei einer Appendizitis. Mit Fortschreiten kommt es zu Sepsis und Schocksymptomatik. Erbrechen ist häufig, falls nicht ursächlich, kann sich ein sekundärer paralytischer Ileus einstellen. Die Entzündungsparameter im Blut sind meist deutlich erhöht (CRP, Leukozytose mit Linksverschiebung). Eine primäre spontane bakterielle Peritonitis kann auch schleichend mit nur geringer Symptomatik beginnen. jjDiagnostik Eine Bildgebung ist notwendig zur Ursachenabklärung und zum Ausschluss von Perforationen. Nach einer initialen Sonographie bietet sich hier v. a. das CT an. Eine Parazentese kann zum Erregernachweis und ggf. Entlastung durchgeführt werden. Eine laparoskopische Exploration ist häufig notwendig. jjTherapie Die Therapie besteht in der Stabilisierung der kardiopulmonalen Situation, adäquater Schmerztherapie, einer antibiotischen Therapie mit einem Cephalosporin der 3. Generation und z. B. Metronidazol sowie bei einer sekundären Peritonitis der chirurgischen Behebung der Ursache. Ein Kinderchirurg muss immer hinzugezogen werden. 22.15.2

Aszites

Aszites bezeichnet die Ansammlung von Flüssigkeit im peritonealen Raum. Es kann sich um ein Exsudat (Peritonitis), um ein Transsudat (portaler Hypertonus bei Lebererkrankung, Pfortaderthrombose, Herzinsuffizienz, Eiweißmangel durch nephrotisches Syndrom, interstinalen Eiweißverlust, Mangelernährung) oder um einen malignen Aszites (Peritonealkarzinomatose) handeln. Ebenso kann ein chylöser Aszites oder ein Aszites durch Blut oder Darminhalt oder eine rupturierte Pankreaszyste vorliegen. jjPathophysiologie Die Ursachen der Entstehung sind je nach der Genese verschieden. Während beim nephrotischen Syndrom v. a. der Eiweißmangel und der verminderte kolloidosmotische Druck verantwortlich sind, sind bei der portalen Hypertension und chronischen Lebererkrankung weitere Mechanismen beteiligt. jjSymptome Allgemeine Symptome des Aszites sind distendiertes Abdomen, Bauchschmerzen, ggf. Dyspnoe und eingeschränkte Diurese. Wei­ tere Symptome hängen meist von der Grunderkrankung ab. jjDiagnose Der Aszites ist im Ultraschall darstellbar. Ist keine Ursache ersichtlich, sollte eine Paracentese erfolgen um Untersuchungsmaterial zu gewinnen (Zellen, Leukozyten, Eiweiß, Amylase, Kreatinin, Triglyceride, mikrobiologische Kultur). Ein Exsudat zeigt im Gegensatz zum Transsudat einen hohen Eiweiß und Zellgehalt, ein chylöser Aszites hohe Triglyceride und Lymphozyten. jjTherapie Die Therapie sollte zunächst die Grunderkrankung und auslösende Ursache berücksichtigen. Der Aszites kann durch Flüssigkeits- und Kochsalzrestriktion sowie den Einsatz von Diuretika wie Spironolacton (1–6 mg/kgKG/d) evtl. in Kombination mit einem Schleifendiuretikum reduziert werden. Abhängig von der Genese muss Albumin infundiert werden.

539

Hämatologie – Onkologie Inhaltsverzeichnis Kapitel 23

Hämatologie – 541 M. Lauten, M. Erlacher, R. Knöfler

Kapitel 24

Onkologie – 571 G. Henze, T. Klingebiel, S. Rutkowski, P.G. Schlegel

X

541

Hämatologie M. Lauten, M. Erlacher, R. Knöfler

23.1

Physiologie der Hämatopoese  – 543

23.1.1 Die altersabhängige Blutbildung  – 543

23.2

Hämatologische ­Untersuchungstechniken  – 543

23.3

Panzytopenien durch ­­Bildungsstörungen  – 544

23.3.1 Angeborene Erkrankungen mit ­Knochenmarkversagen  – 545 23.3.2 Erworbene aplastische Anämie  – 546

23.4

Erkrankungen der roten Zellreihe  – 546

23.4.1 23.4.2 23.4.3 23.4.4 23.4.5 23.4.6 23.4.7 23.4.8 23.4.9

Einteilung der Anämien  – 547 Eisenmangelanämie  – 548 Seltene mikrozytäre Anämien  – 549 Megaloblastäre Anämien bei ­Vitamin-B12- und Folsäuremangel  – 549 Hämoglobinopathien  – 550 Hypoplastische Anämien  – 552 Hämolytische Anämien  – 553 Anämien durch Blutverlust ­und -sequestration  – 555 Polyzythämien  – 555

23.5

Störungen der Granulopoese ­und Granulozytenfunktion  – 555

23.5.1 Neutrophile Granulozyten  – 555 23.5.2 Eosinophilie  – 557 23.5.3 Granulozytenfunktionsstörungen  – 557

23.6

Erkrankungen des Monozyten-­Makrophagen-Systems  – 557

23.6.1 Monozytose  – 557 23.6.2 Histiozytosen  – 557

23.7

Die Milz und ihre Rolle bei ­hämatologischen Erkrankungen  – 558

23.7.1 Splenomegalie und Hypersplenismus  – 558 23.7.2 Splenektomie  – 558

23.8

Therapie mit Blutkomponenten  – 559

23.8.1 23.8.2 23.8.3 23.8.4

Erythrozytenkonzentrate  – 559 Thrombozytenkonzentrate  – 560 Granulozytenkonzentrate  – 560 Gefrierplasma  – 560

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_23

23

23.9

Hämostaseologie  – 561

23.9.1 23.9.2 23.9.3 23.9.4 23.9.5 23.9.6

Diagnose von Hämostasestörungen im Kindesalter  – 561 Thrombozytopenien  – 561 Thrombozytopathien  – 565 Vasopathien  – 565 Hämorrhagische Koagulopathien  – 565 Thrombosen und Thrombophilie  – 568

23

543 Hämatologie

23.1

Physiologie der Hämatopoese

Fetal

M. Lauten, M. Erlacher 23.1.1

34SSW

40SSW

Postnatal

16SSW

24SSW

6 Mo

Erwachsen

MCV (fl)

140

123

118

108

78

90

Hb (g/dl)

10

14

15

18,5

11,5

15

Die altersabhängige Blutbildung

Die physiologische Entwicklung des hämatopoetischen Systems ist mit der Geburt nicht abgeschlossen. Nachdem die Hämoglobinkonzentration zunächst bis zur Geburt kontinuierlich angestiegen ist, fällt sie postnatal bis zum Alter von 3–6 Monaten ab (Trimenon­ reduktion), um dann bis zum Erwachsenenalter langsam wieder ­anzusteigen. Erythrozyten der embryonalen Hämatopoese sind ­zunächst sehr groß (Makroblasten), ihre Größe nimmt dann in der definitiven Hämatopoese bereits prä- und später auch postnatal bis zum Alter von 1–2 Jahren ab, bevor sie wie der Hämoglobinwert bis zum Erwachsenenalter langsam wieder ansteigt (. Abb. 23.1). Nach zunächst embryonalen Formen des Hämoglobins mit ε- und θ-Ketten wird in der fetalen Leber hauptsächlich fetales Hämo­ globin (HbF), bestehend aus 2 α- und 2 γ-Ketten (α2γ2), gebildet (. Tab. 23.1). Das Neugeborene zeigt noch 60–90% HbF. Postnatal fällt die Synthese von HbF rasch ab, es wird hauptsächlich Hämo­ globin A1 mit 2 α- und 2 β-Ketten (α2β2) gebildet. >> Bei Erkrankungen mit Knochenmarkversagen und in Phasen der deutlich gesteigerten Regeneration (z. B. nach Chemo­ therapie, Blutung oder Erythroblastopenie) werden vorübergehend, ähnlich wie in der Fetalzeit, Erythrozyten mit hohem MCV und HbF gebildet (sog. Stresserythropoese).

Die Zahl der Leukozyten und neutrophilen Granulozyten zeigt nach Geburt innerhalb von 12 h einen raschen Anstieg, gefolgt vom Abfall auf Ausgangswerte bis zum Alter von 5 Tagen. Im Alter von 2 Wochen bis 1 Jahr und bei afrikanischer Abstammung liegen die absoluten Granulozytenzahlen etwas niedriger als im späteren L ­ eben bzw. als bei kaukasischen Vorfahren. Die Normwerte für Thrombozyten sind in jedem Lebensalter 130.000–150.000/μl. Bei Frühgeborenen und Kleinkindern mit Infektionen finden sich nicht selten Werte >1 mio/μl, ohne dass ein Thromboserisiko oder ein Handlungsbedarf besteht. Im Säuglings- und Kleinkindalter wird im Gegensatz zum ­Erwachsenenalter nahezu der gesamte Knochenmarkraum des Körpers für die Hämatopoese genutzt. Bei Erkrankungen mit maximal gesteigerter Blutbildung (z. B. Thalassemia major) oder bei insuffizientem Knochenmarkraum (z. B. Tumorinfiltration oder Osteopetrose) kann die Hämatopoese jedoch in Organen persistieren oder im Laufe des Lebens wieder reaktiviert werden, in denen sie im ­Rahmen der Entwicklung der definitiven Hämtopoese ehemals ­lokalisiert war. Zu diesen Orten der extramedullären Hämatopoese gehören insbesondere Leber, Milz, Lymphknoten und das thorakale Paravertebralgewebe. Subkutane Hämatopoese beim Neugeborenen äußert sich durch rotbraun-bläuliche Hautinfiltrate (BlueberryMuffin-Baby). 23.2

Geburt

Hämatologische ­Untersuchungstechniken

M. Lauten, M. Erlacher Blutbild  Aus den Messungen für Erythrozytenzahl, Hämoglobinkonzentration und Hämatokrit können die Erythrozytenindizes mittleres korpuskuläres Volumen (MCV), mittleres korpuskuläres Hämoglobin (MCH) und mittlere korpuskuläre Hämoglobinkon-

..Abb. 23.1  Altersabhängigkeit des mittleren korpuskulären Volumens (MCV) der Erythrozyten und der Hämoglobinkonzentration

..Tab. 23.1  Physiologische Hämoglobine Globinkette

Hämoglobin

Embryo

ξ 2ε 2 ξ 2γ 2 α 2ε 2

Gower 1 Portland Gower 2

Fetus

α 2γ 2

HbF

Erwachsene

α 2β 2 α 2δ 2 α 2γ 2

HbA1 (96–98%) HbA2 (1,5–3%) HbF (0,5–0,8%)

..Tab. 23.2 Erythrozytenindizes Name

Abkürzung

Einheit

Definition

Mittleres korpuskuläres Volumen

MCV

fl

Hkt × 10/Ery

Mittleres korpuskuläres Hämoglobin

MCH

pg

Hb × 10/Ery

Mittlere korpuskuläre ­Hämoglobinkonzentration

MCHC

g/dl

Hb × 100/Hkt

HKT Hämatokrit, Ery Erythrozytenzahl, Hb Hämoglobinkonzentration

zentration (MCHC) bestimmt werden (. Tab. 23.2). Das MCV ist für die differenzialdiagnostische Einteilung der Anämien in mikro-, normo- und makrozytäre Formen besonders hilfreich. Das „große Blutbild“ umfasst zusätzlich die Differenzierung kernhaltiger Zellen in durchflusszytometrischen Automaten oder mikroskopisch im ­gefärbten Blutausstrich. Knochenmarkaspiration und -biopsie  Neben der Beurteilung des

Blutbildes ist die Untersuchung des Knochenmarks durch eine ­Knochenmarkaspiration und/oder -biopsie von besonderer Wertigkeit. Einige hämatologische Erkrankungen gehen mit mehr oder weniger spezifischen Reifungsstörungen einer oder mehrerer ­Zellreihen einher, die nur durch eine Knochenmarkuntersuchung zytomorphologisch erkannt werden können. Ebenso ist die ­Knochenmarkuntersuchung zur Diagnose einer hämatopoetischen Neoplasie, einer Infiltration durch knochenmarkfremde Tumorzellen bzw. Speicherzellen oder zum Nachweis einer Faservermehrung (Myelofibrose) unabdingbar.

544

M. Lauten et al.

In der Erythropoese ist die erste morphologisch erkennbare ­ orstufe der Proerythroblast mit großem, etwas exzentrisch ge­ V legenen Kern und sehr basophilen Zytoplasma mit kleiner peri­ nukleärer Aufhellung. Über mehrere Stufen, in denen sich der­ Kern zuerst kondensiert und dann ausgestoßen wird, entwickeln sich reife, zirkulierende Erythrozyten. Ein Erythroblast kann durchschnittlich 8 Erythrozyten bilden, die Transitzeit beträgt ­ca. 5 Tage. Die Überlebenszeit von Erythrozyten in der Blutbahn ist ca. 120 Tage. In der Granulopoese sind Myeloblasten, Promyelozyten und Myelozyten die unreifen Vorstufen, während Metamyeloyzten, s­ tabund segmentkernige Granulozyten das große Reifungs- und ­Speicherkompartiment darstellen, das bei Infektionen rasch mobilisierbar ist. Nur ein kleiner Teil der Granulozyten zirkuliert im Blut, die Halbwertszeit beträgt hier ca. 6–7 h. Die große Menge der Granulozyten sitzt als Speicherkompartiment im Knochenmark, hier beträgt die Transitzeit ca. 14 Tage. Da die Knochenmarkaspiration den Zellverband im Knochenmark zerreißt, sind Aussagen zur Anordnung der Zellen und zur Zellularität nur in einer Knochenmarkbiopsie sicher möglich. Während die Aspiratausstriche meist direkt vom Hämatologen beurteilt werden, geschieht die zusätzliche Beurteilung der Biopsie in Deutschland traditionsgemäß durch den Pathologen. Im jungen Säuglingsalter wird das Knochenmark am leichtesten durch eine Punktion der Tibia entnommen. Im späteren Leben ist

die Punktion des hinteren oder vorderen Beckenkamms (Spinae ­iliacae posteriores oder anteriores superiores) die Methode der Wahl. Die Punktion des Sternums ist wegen der erhöhten Ver­ letzungsgefahr im Kindesalter obsolet. 23.3

Panzytopenien durch ­­ Bildungsstörungen

M. Lauten, M. Erlacher Zytopenien einzelner, mehrerer und aller Zellreihen (Panzytopenie, Erniedrigung aller 3 Zellreihen) haben unterschiedlichste Ursachen (. Abb. 23.2). Dieses Kapitel beschreibt die angeborenen und er­ worbenen Blutbildungsstörungen, die mit einer Panzytopenie einhergehen. Diese kann Ausdruck sein 44 einer intrinsischen Bildungsstörung hämatopoetischer ­ Zellen, 44 einer Verdrängung des normalen Knochenmarks durch ­Leukämiezellen, knochenmarkfremder Tumorzellen, Speicherzellen oder Faservermehrung (Fibrose), 44 eines autoimmunologischen Prozesses gegen Stamm- und ­Vorläuferzellen, 44 eines gesteigerten Verbrauchs reifer Blutzellen.

23 ..Abb. 23.2  Hämatopoetischer Stammbaum mit lymphatischen und ­myeloischen Vorläuferzellen und die für die jeweilige Zellreihe relevanten Erkrankungen

545 Hämatologie

23.3.1

Angeborene Erkrankungen mit ­Knochenmarkversagen

Unter angeborenen Störungen mit Knochenmarkversagen fasst man eine Gruppe von Erkrankungen zusammen, die sich zunächst als Mono-, Bi- oder Panzytopenie präsentieren und im Lauf der Jahre oft in eine schwere Panzytopenie übergehen. Angeborene Erkrankungen mit Knochenmarkversagen haben ein erhöhtes Risiko, in myeloische Neoplasien wie ein myelodysplastisches Syndrom (MDS) oder eine akute myeloische Leukämie (AML) überzugehen. >> Die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation ist die wesentliche kurative Therapieoption.

23

jjTherapie Bei Knochenmarkversagen werden supportiv Androgene und Transfusionen eingesetzt, die allogene Stammzelltransplantation ist die bisher einzige kurative Therapie. Sie stellt eine besondere ­Herausforderung dar, da die Konditionierung der erhöhten Zytotoxizität von Alkylanzien und Bestrahlung Rechnung tragen muss. Auch nach erfolgreicher Transplantation bleibt ein erhöhtes Karzinomrisiko bestehen, weshalb engmaschige Vorsorgen angezeigt sind.

Shwachman-Diamond-Syndrom

Das Shwachman-Diamond-Syndrom ist eine autosomal-rezessive Erkrankung, die sich durch Neutropenie, exokrine Pankreasin­ Die wichtigsten angeborenen Erkrankungen, die mit einer Panzyto- suffizienz (Gedeihstörung! 7 Kap. 22) und Skelettdysplasien äußert. penie einhergehen, sind Fanconi-Anämie, Shwachman-Diamond- Anstelle der isolierten Neutropenie kann auch eine Bi- oder PanzySyndrom, Dyskeratosis congenita und amegakaryozytäre Thrombo- topenie vorliegen bzw. sich entwickeln. Ursächlich sind Mutationen zytopenie. Sehr seltene genetische Formen wie das Dubowitz-­ im SBDS-Gen, dessen Protein im zellulären RNS-Metabolismus und Syndrom, das Seckel-Syndrom und die retikuläre Dysgenesie dem Aufbau der Ribosomen eine Rolle spielt. Neben einer Substitukönnen ebenfalls mit Panzytopenie einhergehen. Die isolierten an- tion von Pankreasenzymen kann, je nach Schweregrad der Neutrogeborenen Bildungsstörungen einer Zellreihe wie Diamond-Black- penie, eine Therapie mit dem hämatopoetischen Wachstumsfaktor fan-Anämie (DBA), schwere kongenitale Neutropenie (SCN) und G-CSF indiziert sein. die Thrombozytopenie mit fehlendem („absent“) Radius (TAR) werden in den jeweiligen Kapiteln zu Anämien, Neutropenien bzw. Dyskeratosis congenita Thrombozytopenien beschrieben, in seltenen Fällen geht jedoch Die Dyskeratosis congenita ist eine Multisystemerkrankung, bei­ auch die DBA in eine Panzytopenie über. der neben der Hämatopoese das ektodermale System besonders be­ ­ troffen ist. Abnorme Hautpigmentierung, Nageldystrophie Fanconi-Anämie (. Abb. 23.3), Leukoplakie der Schleimhäute und progredientes jjDefinition Knochenmarkversagen stehen im Vordergrund. Neben der Pan­ Die Fanconi-Anämie ist eine heterogene, meist autosomal-rezessive zytopenie und Neoplasien kann eine schwere Lungenerkrankung Erkrankung, die durch angeborene Fehlbildungen, Knochenmark- zum Tode führen. Ursächlich sind Mutationen in Genen, die für­ versagen und eine Prädisposition für Neoplasien gekennzeichnet ist. die Telomerverlängerung und -erhaltung notwendig sind. Dadurch kommt es zu einer vorzeitigen Verkürzung der Telomere (repetitive jjPathogenese Sequenzen am Chromosomenende). Neben Mutationen in DKC1 Der Fanconi-Anämie liegen DNS-Reparaturdefekte zugrunde. Es (Protein Dyskerin, X-chromosomal vererbt), TERC (RNS-Kom­ sind bereits zahlreiche verschiedene Untergruppen (A bis V) mit ponente der Telomerase, autosomal-dominant) und TERT (En­ zymkomponente der Telomerase), gibt es Mutationen in ver­ ihren jeweils betroffenen FANC-Proteinen bekannt. schiedenen anderen Komponenten des Telomerase- oder ShelterinjjEpidemiologie Komplexes. Die Fanconi-Anämie ist die häufigste angeborene Panzytopenie mit einer Heterozygotenfrequenz von 1:200. Über 60% der deutschen Kongenitale amegakaryozytäre Thrombozytopenie Patienten gehören der Gruppe FANC A an. Die kongenitale amegakaryoztäre Thrombozytopenie wird durch inaktivierende Mutation in Mpl, dem Rezeptor für Thrombopoetin, jjDiagnose verursacht. Mpl wird auf der Zellmembran von Progenitorzellen, Zellen von Patienten mit Fanconi-Anämie zeigen eine erhöhte Megakaryozyten und Thrombozyten exprimiert. Ein intakter ­Chromosomeninstabilität und eine Hypersensitivität für DNA- Thrombopoetin-Mpl-Signaltransduktionsweg ist für das Überleben quervernetzende Substanzen („crosslinker“) wie Mitomycin C oder und die Differenzierung von Progenitorzellen wesentlich. AußerDiepoxybutan. Die erhöhte Chromosomenbruchrate in Lympho­ dem führt die Bindung von Thrombopoetin an Mpl zur Stimulation zyten nach Zugabe dieser Substanzen ist diagnoseweisend. der Thrombopoese. Bei Geburt präsentieren sich die Patienten in der Regel mit einer isolierten Thrombozytopenie, die innerhalb wejjKlinik niger Monate oder Jahre in eine zunehmende lebensbedrohliche Die Fanconi-Anämie ist klinisch sogar innerhalb einer Untergruppe Panzytopenie übergeht. oder einer betroffenen Familie sehr variabel. Die häufigsten nichthämatologischen Auffälligkeiten sind Pigmentierungsstörungen der Haut, Kleinwuchs, fehlender oder hypoplastischer Radius/Daumen, Mikrozephalie und Nierenfehlbildungen. Ca. 40% der Betroffenen zeigen jedoch keine Fehlbildungen. Das Knochenmarkversagen beginnt in der Regel mit Thrombozytopenie und makrozytärer Anämie, eine Neutropenie schließt sich an. Im Alter von 40 Jahren haben 90% der Patienten eine ausge­ prägte Panzytopenie, 30% sind an MDS/Leukämie und weitere 30% an einer nicht-hämatologischen Neoplasie (Plattenepithelkarzinome ..Abb. 23.3  Dysplasien der Fußnägel bei einem Kind mit Dyskeratosis des Kopf-Hals-Bereichs, Anogenitalregion, Haut) erkrankt. congenita

546

23.3.2

M. Lauten et al.

Erworbene aplastische Anämie

j jDefinition Der Begriff „aplastische Anämie“ wird teilweise für alle Panzy­ topenien mit reduziertem Knochenmarkzellgehalt verwendet. Hier verwenden wir den Begriff ausschließlich für die erworbene aplas­ tische Anämie, einer erworbenen Aplasie des Knochenmarks mit konsekutiver Panzytopenie im peripheren Blut. Im Kindesalter liegt meist eine schwere aplastische Anämie (SAA) vor. Die SAA ist definiert durch 44 absolute Neutrophilenzahl (ANZ) 30% mit einem hohen Risiko für ein Hyperviskositätssyndrom verbunden und daher kontraindiziert. Alternativ kann bei schweren Komplikationen ein Blutaustausch durchgeführt werden. Rezidivierende Schmerzkrisen und chronische Organschäden sind die Ursache einer deutlich reduzierten Lebensqualität und Lebenserwartung von HbSS-Patienten. Eine langfristige Behandlung mit Hydroxyurea kann über eine HbF-Synthesesteigerung bei gleichzeitiger HbS-Reduktion und eine Veränderung der Ober­ flächeneigenschaften der Erythrozyten die Häufigkeit und Schwere von Schmerzkrisen, akuten Thoraxsyndromen und Schlaganfällen reduzieren. Der Stellenwert elektiver Transfusionen ist im Vergleich zur Behandlung mit Hydroxyuria für viele Indiktionen unklar. Da die allogene Stammzelltransplantation heute ein Standardver­ fahren bei der Behandlung hämatologischer und onkologischer ­Erkrankungen geworden ist, kann sie heute für Patienten mit Sichelzellerkrankung – bei Vorhandensein eines passenden Familien­ spenders – unabhängig von der Intensität der klinischen Symptome als „standard of care“ angesehen werden. !! Cave Vasookklusive Krisen bei Sichelzellanämie führen zu starken Schmerzen, deren Intensität regelmäßig unterschätzt wird.

Seltene Hämoglobinopathien Während HbS und HbC zu einer erhöhten Hämoglobinaggregation führen, gibt es eine Vielzahl anderer struktureller Hämoglobinvarianten, die zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Instabilität des Komplexes mit Hämolyse führen. Das dabei präzipitierte Hämoglobin ist als Heinz-Körperchen mit Brilliantkresylblau anfärbbar (. Abb. 23.6). Andere Hämoglobinvarianten gehen mit erhöhter ­O2-Affinität (z. B. Hämoglobin-M-Varianten) einher und können klinisch zur Polyglobulie führen.

23

552

23.4.6

M. Lauten et al.

Hypoplastische Anämien

Die hypoplastischen Anämien sind angeborene und erworbene Blutbildungsstörungen der roten Reihe. Neben der Anämie mit Retikulozytopenie sind sie durch eine Verminderung oder ein völliges ­ ehlen erythrozytärer Vorläuferzellen in einem sonst normalen F Knochenmark charakterisiert. Im Gegensatz zu den aplastischen Anämien ist die Ausreifung und Zahl der Leukozyten und Thrombozyten in der Regel nicht gestört.

Kongenitale hypoplastische Anämie ­(Diamond-Blackfan-Anämie) j jDefinition Die kongenitale hypoplastische Anämie (nach ihren Erstbeschreibern auch Diamond-Blackfan-Anämie, DBA, genannt) ist eine ­angeborene hypoplastische Anämie, die in der Regel im ersten Lebensjahr diagnostiziert wird. Die Inzidenz liegt bei 1–7 pro 1 Million Lebendgeburten. j jPathogenese Es finden sich Mutationen in ribosomalen Genen. Das am häufigsten mutierte Gen (RPS19) kodiert für das ribosomale Protein S19. Neben diesen Gendefekten müssen modulierende Faktoren eine Rolle spielen, da sich die Mutationen in einigen Fällen auch bei ­hämatologisch gesunden Familienmitgliedern nachweisen lassen. Ca. 25% der Erkrankungen treten familiär auf, die restlichen Fälle sind sporadisch. jjDiagnose Es findet sich eine makrozytäre Anämie mit Retikulozytopenie und erhöhtem HbF (Stresserythropoese) bei selektivem Fehlen von roten Vorstufen im Knochenmark. Etwa die Hälfte der Patienten haben assoziierten Kleinwuchs und Fehlbildungen besonders der oberen Extremität (triphalangeale Daumen, andere Fehlbildungen des radialen Strahls des Unterarms), des Kopfs und innerer Organe (Niere, Herz). jjTherapie Eine Steroidtherapie, in der Regel beginnend mit Prednison­ 2 mg/kgKG/Tag, führt bei ca. ⅔ der Patienten zu einem Anstieg der Hämoglobinkonzentration. Nach langsamer Reduktion bis auf Prednisondosierungen von > Bei Verdacht auf hämolytische Anämie ist die mikroskopische Beurteilung des Blutausstrichs zwingend, da sie wichtige Hinweise auf die Ätiologie der Hämolyse geben kann.

Die Erythrozytenmorphologie kann bei Membrandefekten (z. B. Sphärozyten, Elliptozyten), mechanisch bedingten Hämolysen (Fragmentozyten), Immunhämolysen (Sphärozyten, Agglutination)

23

und Hämoglobinopathien (Mikrozyten, Targetzellen, Sichelzellen) oft auf die Diagnose hinweisen (. Abb. 23.6). Erythrozytenenzymdefekte hingegen gehen mit regelrechter Erythrozytenmorphologie einher. Die klassischen laborchemischen Befunde ergeben sich­ aus dem gesteigerten Abbau und einer verstärkten Produktion von Erythrozyten. Laborbefunde bei hämolytischen Anämien 55Gesteigerter Abbau von Erythrozyten –– Erhöhung von –– indirektem Bilirubin im Serum –– Urobilinogen im Urin –– Stercobilinogen im Stuhl –– Laktatdehydrogenase im Serum –– Erniedrigtes Haptoglobin im Serum –– Bei ausgeprägter Hämolyse: Hämoglobinurie 55Gesteigerte Produktion von Erythrozyten –– Retikulozytose im Blut (bei effektiver Hämatopoese) –– Hyperplasie erythropoetischer Vorstufen im Knochenmark

Membrandefekte Die Erythrozytenmembran besteht aus einer äußeren Lipidschicht und einer darunterliegenden Proteinformation, dem Zytoskelett. Wesentliche Strukturproteine des Zytoskeletts sind Heterodimere aus α- und β-Spektrinketten. Ankyrine und andere Erythrozytenmembranproteine wie Aktin, Bande 4.1 und Bande 3 verankern das Zytoskelett in der äußeren Fettschicht. Mutationen in den verschiedenen Proteinen können zur Membraninstabilität und damit zur hämolytischen Anämie führen. Die Einteilung der hämolytischen Anämien bei Membrandefekten erfolgt entsprechend der Formveränderung der Erythrozyten im Blutausstrich. Der wichtigste Vertreter dieser Erkrankungsgruppe ist die Kugelzellanämie (hereditäre Sphärozytose).

Hereditäre Sphärozytose (Kugelzellanämie) Die hereditäre Sphärozytose ist die häufigste hämolytische Anämie in Nordeuropa (Inzidenz 3:10.000). Sie wird autosomal-dominant oder -rezessiv vererbt und ist durch Kugelzellen (Sphärozyten) im Blutausstrich gekennzeichnet (. Abb. 23.6). Ihr liegen Mutationen ­zugrunde, die jeweils eine geschwächte vertikale Verankerung der äußeren Lipidschicht mit dem Zytoskelett zur Folge haben (Muta­ tionen des Ankyrin, der Spektrine sowie der Bande 3 und Pro­ tein 4.2). Durch Mikrovesikelbildung der Lipidschicht kommt es zum Membranverlust mit zunehmender Kugelform und verringerter Verformbarkeit der Erythrozyten. Dies führt besonders im Kapillarbett der Milz zur Stase der Kugelzellen und zur Phagozytose durch wandständige Makrophagen (extravaskuläre Hämolyse). jjDiagnose Der Membranverlust führt zu einem verringerten Verhältnis von Oberfläche zu Volumen. Dadurch verringert sich auch die Möglichkeit des Erythrozyten, Wasser aufzunehmen. Laborchemisch kann dies als verminderte osmotische Resistenz, d. h. frühzeitige Hämolyse in absteigenden Verdünnungsreihen von Kochsalzlösung, nachgewiesen werden. Da dieser Test jedoch untersucherabhängigen Schwankungen unterliegt (Sensitivität 80–95%), gilt heute die durchflusszytometrische Messung der Eosin-5-Maleimid-Bildung in Erythrozyten (EMA-Test) als Goldstandard (Sensitivität 90–95%) Im Blutausstrich finden sich Kugelzellen (. Abb. 23.6).

554

M. Lauten et al.

j jKlinik Die Ausprägung der Anämie bei hereditärer Sphärozytose kann sehr unterschiedlich sein. Bei schwerer Anämie zeigt sich klinisch meist eine Splenomegalie mit Ikterus, der sich laborchemisch in der indirekten Hyperbilirubinämie wiederfindet. Langfristig bilden sich häufig Gallensteine. Wie auch bei anderen chronischen hämolytischen Anämien können sich Patienten mit einer akuten aplastischen Krise (Parvovirus B19, 7 Abschn. 23.4.6) präsentieren. Während eine aplastische Krise (Hämoglobinabfall, Retikulozytopenie, kein Ikterus) nur einmal im Leben vorkommt, treten hämolytische Krisen bedingt durch eine gesteigerte Hämophagozytose (Hämoglobinabfall, Retikulozytose, zunehmender Ikterus) bei einer Vielzahl von Virusinfektion ab dem Grundschulalter vermehrt auf.

produziert wird. Die pathophysiologischen Konsequenzen eines G6PD-Mangels finden sich jedoch ausschließlich in Erythrozyten, weil diese als O2-Träger einer oxidativen Schädigung besonders ­ausgesetzt sind. Der G6PD-Mangel wird X-chromosomal vererbt. Im Regelfall liegt bei den betroffenen Jungen keine Anämie vor,­ eine Hämolyse kann sich jedoch bei oxidativem Stress rasch ent­ wickeln. Auslöser können Infektionen, Medikamente (Antimalariamittel, Sulfonamide, Nitrofurantoin, Vitamin K, Acetylsalicylsäure) und der Verzehr von Fava-Bohnen sein. In der Neonatalperiode wird häufig eine ausgeprägte Hyperbilirubinämie beobachtet. Der G6PD-Mangel ist die häufigste Ursache des Kernikterus in ­Afrika und ­Südostasien, wo der Enzymdefekt eine hohe Prävalenz besitzt.

j jTherapie Bei einem Großteil der Patienten ist keine Therapie notwendig. Bei wiederholten hämolytischen Krisen, besonders bei moderater oder schwerer Anämie, kann eine Splenektomie indiziert sein. Da anschließend die Gefahr einer rasch tödlich verlaufenden Sepsis durch Kapselbakterien („overwhelming postsplenectomy infection“, OPSI) erhöht ist, wird die Indikation zur Splenektomie selten vor dem 6. Lebensjahr gestellt. Wenn chirurgischerseits möglich, ist eine Teilsplenektomie für die Freiheit von hämolytischen Krisen und Normalisierung der Hämoglobinwerte ausreichend. Die präopera­ tive Impfung gegen Pneumokokken, Haemophilus influenza und Meningokokken ist obligat.

Immunhämolytische Anämien

Hereditäre Elliptozytose Als hereditäre Elliptozytose (HE) wird eine Gruppe von meist autosomal-dominant vererbten Erkrankungen benannt, denen seltene Defekte von Genen zugrunde liegen, die für Membranskelettpro­ teine kodieren (SPTA1-, SPTB- oder EPB41-Gen). Wegen eines instabilen Zytoskeletts erhalten die Erythrozyten ihre charakteristische elliptoide oder ovaläre Form. Ihr Vorkommen wird mit 2–5/10.000 in Europa, bzw. ca. 1% der Bevölkerung in Westafrika angegeben. Da bei einer seltenen Unterform der HE die Erythrozyten thermoinstabil sind, wird diese Form der HE auch hereditäre Pyropoikilozy­ tose  genannt. Die Diagnose wird mithilfe der Erythrozytenmem­ branelektrophorese gestellt. Eine spezifische Therapie existiert nicht, gelegentlich ist bei schweren Verläufen jenseits des Kleinkindalters eine (Teil-)Splenektomie indiziert. Die Elliptozytose geht, ähnlich wie einige Erythrozytenenzymdefekte, mit einer erhöhten Resistenz gegenüber Malaria einher.

Enzymdefekte Da der Erythrozyt weder Zellkern noch Mitochondrien, Ribosomen oder andere Zellorganellen besitzt, fehlt ihm die Kapazität zur Zellreplikation, Proteinsynthese und oxidativen Phosphorylierung. Die einzige Energiequelle ist die Glykolyse mit Produktion von ATP. Eine verringerte Produktion oder eine defekte Funktion der einzelnen Enzyme der Glykolyse können daher ursächlich für eine hämolytische Anämie sein. Pyruvatkinasemangel  Der häufigste Erythrozytenenzymdefekt

23

ist der Pyruvatkinasemangel. In seiner schweren Form wird er im Neugeborenenalter diagnostiziert, kann eine lebenslange Tranfu­ sionsbedürftigkeit bedeuten und wird durch eine Splenektomie nur geringgradig gebessert. Eine Option, den klinischen Verlauf medikamentös zu beeinflussen, existiert nicht.

Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel  Die Glukose-

6-Phosphat-Dehydrogenase (G6PD) ist ein Enzym, das ubiquitär

jjDefinition, Pathogenese Immunhämolytische Anämien können durch Allo- (z. B. Blut­ gruppenunverträglichkeit) oder Autoantikörper induziert werden. Jenseits der Neugeborenenperiode mit Rhesus-Inkompatibilität durch Alloantikörper der Mutter (in der Regel Anti-D) finden sich hauptsächlich autoimmunhämolytische Anämien. Die Mehrzahl der Autoantikörper sind IgG-Wärmeantikörper, gelegentlich auch IgGoder IgM-Kälteantikörper mit Komplementbindung. Autoimmunhämolytische Anämien folgen meist Virusinfektionen; IgM-Antikörper werden nach Mykoplasmen-Pneumonien oder infektiöser Mononukleose beobachtet. jjDiagnose Der direkte Anti-Globin-Test (Coombs-Test) ist grundsätzlich positiv, bei Anwesenheit von ungebundenen Antikörpern im Patientenserum auch der indirekte Anti-Globin-Test. Im Blutausstrich zeigen sich bei IgG-Wärmeantikörpern häufig Sphärozyten (Membran­ verlust durch Phagozytose der Antikörper- bzw. durch die mit Komplement besetzte Erythrozytenoberfläche). Ferner besteht eine ­Retikulozytose, gelegentlich werden Normoblasten in das Blut ausgeschwemmt. jjTherapie, Prognose Eine schnelle Hämolyse mit raschem Hämoglobinabfall tritt besonders bei IgG-Wärmeantikörpern auf und führt hier frühzeitig zu Symptomen der Anämie und Herzinsuffizienz. Therapeutisch werden Steroide eingesetzt, bei niedrigen Hämoglobinwerten ist die Transfusion von Erythrozyten frühzeitig indiziert. Die Erkrankung ist im Kleinkindesalter meist selbstlimitierend, bei älteren Patienten kann sie im Rahmen von Kollagenosen wie dem Lupus erythematodes auftreten. !! Cave Eine autoimmunhämolytische Anämie kann durch einen ­raschen Hämoglobinabfall innerhalb von Stunden tödlich verlaufen. Daher stellt sie einen der wenigen Notfälle in der ­Hämatologie dar. Patienten sind unverzüglich in ein Zentrum mit Blutbank vor Ort zu verlegen.

Mechanisch bedingte Hämolysen Mikroangiopathien wie bei hämolytisch-urämischem Syndrom (HUS), thrombotisch-thrombozytopenischer Purpura (TTP), disseminierter intravasaler Gerinnung (z. B. bei Meningokokkensepsis), Präeklampsie oder maligner Hyperthermie können wie künstliche Oberflächen (Herzklappen, Gefäßimplantate) zu mechanisch bedingter Hämolyse führen. Charakteristisches diagnostisches Merkmal ist der Fragmentozyt im Blutausstrich (. Abb. 23.6).

555 Hämatologie

23.4.8

Anämien durch Blutverlust ­ und -sequestration

Der akute Blutverlust tritt meist traumatisch bzw. im Rahmen von Operationen iatrogen auf. Auch akute Milzsequestrationskrisen bei Sichelzellanämie können sich als schwerer Blutverlust manifestieren. Klinisch steht die akute Kreislaufbelastung mit u. U. letalem Ausgang im Vordergrund. Zu beachten ist, dass anfänglich die messbaren Blutparameter (Hb, Hkt, usw.) noch normal sein können. 23.4.9

Polyzythämien

Von einer Polyzythämie kann ausgegangen werden, wenn der Hämoglobinwert dauerhaft über der 2. Standardabweichung des alters­ entsprechenden Mittelwerts liegt und die Erythrozytenmasse erhöht  ist. Man unterscheidet primäre (Defekt in erythropoetischer Zelle) und sekundäre Formen. Ursächlich für eine angeborene primäre Polyzythämie kann z. B. eine Mutation im Erythropoetin­ rezeptor sein. Erworbene primäre Polyzythämien sind meist ma­ ligne Myeloproliferationen (Polycythaemia vera) mit somatischen Mutationen im Jak2-Gen. Ursachen der sekundären Formen können z. B. zyanotische Herzfehler, starkes Rauchen, Hämoglobinvarianten mit hoher O2-Affinität (z. B. Hämoglobin M), vermehrte Erythropoetinproduktion (z. B. in Angiomen bei Hippel-Lindau-Syndrom) oder exogene Erythropoetingaben sein. 23.5

Störungen der Granulopoese ­ und Granulozytenfunktion

M. Lauten, M. Erlacher Granulozyten und Monozyten gehen aus einer gemeinsamen myeloischen Progenitorzelle hervor. Unter dem Einfluss unterschiedlicher Zytokine („colony-stimulating factors“, CSF) kommt es in der Granulopoese zur Differenzierung in die neutrophile, eosinophile und basophile Zellreihe. 23.5.1

Neutrophile Granulozyten

Nach Ausschwemmung aus dem Knochenmark sind neutrophile Granulozyten (syn. Neutrophile) nur für wenige Stunden als gefäßwandnaher Pool (sog. marginaler Pool) oder als zirkulierender Pool im peripheren Blut vorhanden, bevor sie – durch Chemotaxis angelockt – in Entzündungsherde wandern und dort Mikroorganismen phagozytieren und intrazellulär abtöten. Das Knochenmark stellt eine gewaltige Reserve an sich teilenden und reifen Neutrophilen dar, die besonders im Rahmen von akuten Infektionen sehr rasch in das periphere Blut eingeschleust werden können.

Neutrophilie In den ersten 3 Lebenstagen liegen die neutrophilen Granulozyten physiologischerweise zwischen 8–15×109/l, bevor sie in den Folgetagen schnell auf 1,5–5×109/l abfallen. Eine Zunahme der neutrophilen Granulozyten (Granulozytose, Neurophilie) später im Leben kann Folge einer verstärkten Mobilisation aus dem marginalen in den zirkulierenden Pool sein. Adrenerge Stimuli (oder Steroidgaben) führen hierbei zur verminderten Adhäsion der Granulozyten an die Gefäßwand. Ein etwas langsamerer Anstieg der Neutrophilen

..Tab. 23.6  Ursachen einer Erhöhung neutrophiler Granulozyten Mechanismus

Beispiel

Infektion

Bakterien, Pilze, Parasiten

Entzündung, Gewebs­ nekrosen

Myositis, Vaskulitis, Herzinfarkt, Glomerulonephritis

Stoffwechselentgleisungen

Urämie, Eklampsie, Azidose

Adrenerger Stress

Steroidtherapie, Sport

Hyposplenismus

Splenektomie, Autosplenismus

Überschießende Produktion

Behandlung mit G-CSF, Regenera­ tion nach Chemotherapie

Fehlende Migration zu ­Infektionsherden

Leukozytenadhäsionsdefekte (7 Abschn. 23.5.3)

Maligne Myeloproliferation

Chronisch-myeloische Leukämie (CML)

Knochenmarkinfiltration

Osteopetrose, Osteomyelofibrose

wird bei der oft gleichzeitig stattfindenden Ausschwemmung von Granulozyten aus der Knochenmarkreserve beobachtet. Bei Infek­ tionen geht eine Neutrophilie meist mit einer „Linksverschiebung“ myeloischer Zellen im Blut einher, d. h. mehr Stabkernigen und ­gelegentlich auch Metamyelozyten, Myelozyten und selten auch ­Myeloblasten sind im Blutausstrich sichtbar. Eine chronische Neutrophilie ist in der Regel Folge einer prolongiert stimulierten ­Produktion durch eine lang anhaltende Steroidtherapie, chronische Infektionen und inflammatorische Prozesse. Nach Splenektomie oder bei funktionellem Hyposplenismus ist die Neutrophilie Folge des verminderten Abfangens von Neutrophilen durch die Milz (. Tab. 23.6). Ausgeprägte Leukozytosen mit starker Linksverschiebung werden gelegentlich auch als „leukämoide Reaktion“ bezeichnet.

Neutropenie jjDefinition Eine Neutropenie ist eine absolute Verringerung der Zahl zirkulierender Neutrophilen. Die absolute Neutrophilenzahl errechnet sich aus% (stabkernige + segmentkernige Granulozyten) × Leukozytenzahl / 100. Symptome treten meist erst ab 1000/µl auf und werden mit sinkender Neutrophilenzahl rasch gravierender. Eine Neutropenie von 500–1000/µl ist eine moderate Neutropenie, bei Werten 1000/µl und einer fast vollständigen Infektfreiheit. Wie bei anderen angeborenen Erkrankungen mit Knochenmarkversagen findet sich auch bei der SCN ein deutlich erhöhtes Risiko für sekundäre myeloische Neoplasien. Die allogene Stammzelltransplantation ist bei Patienten mit fehlendem Ansprechen auf G-CSF oder myeloischer Neoplasie indiziert. Zyklische Neutropenie  Die häufigste kongenitale Neutropenie ist die zyklische Neutropenie, die durch zyklische Schwankungen von neutrophilen Granulozyten im Blut definiert ist. Alle 18–22 Tage kommt es zu einer 4–8 Tage andauernden Neutropenie bis Vor einer elektiven Splenektomie und bei allen Patienten mit funktioneller Asplenie ist eine Immunisierung gegen Pneumokokken, Haemophilus influenzae und Meningokokken durchzuführen.

Da auch eine Immunisierung gegen Kapselbakterien eine OPSI nicht in jedem Fall verhindert, wird eine tägliche Antibiotikaprophylaxe zumindest im Kindesalter empfohlen. Spätestens bei Fieber ist eine prophylaktische Antibiotikagabe vor einem Arztbesuch indiziert. Je nach lokaler Resistenzlage von Pneumokokken werden Penicillin, Ampicillin oder Erythromycin eingesetzt. Zur Vermeidung des Risikos für OPSI hat sich bei hereditärer Sphärozytose in den letzten Jahren eine partielle Splenektomie durchgesetzt. Nach Hypertrophie des belassenen Gewebes des ­unteren Milzpols kann sich die Milzfunktion wieder normalisieren, ohne dass erneut hämolytische Episoden auftreten. 23.8

Therapie mit Blutkomponenten

M. Lauten, M. Erlacher Blutkomponenten werden aus Vollblutspenden mit nachfolgender Separierung von Erythrozyten, Thrombozyten und Plasma oder mittels Zellseparatoren (Thrombozyten, Granulozyten oder Plasma) hergestellt. Die Indikation für eine Transfusion von Blutprodukten ist immer streng zu stellen. Infektionsrisiko  In Deutschland wird im Allgemeinen bei Transfusion von Erythrozyten- und Thrombozytenpräparaten freiwilliger Spender das Risiko für eine transfusionsbedingte Infektion mit HIV mit 1:1.000.000 und mit einem der Hepatitis-Viren mit 1:50.000 angegeben. Das Infektionsrisiko für diese Viren nach Transfusion von Präparaten mit Einzelfaktoren, Immunglobulinen oder Albumin ist ebenfalls gering, aber nicht Null. Andere übertragbare Erreger sind CMV, HHV-8, HTLV-I/II, Toxoplasmen, Leishmanien, Malaria, Trypanosomen (Schlafkrankheit) und Prionen (Jakob-CreutzfeldErkrankung). Transfusionsreaktionen  Febrile Reaktionen als Antwort auf lös­

liche Zytokine im Plasma (IL-1β, IL-6, IL-8 und TNF) findet sich bei bis zu 30% aller Thrombozytentransfusionen. Akute allergische Transfusionsreaktionen auf lösliche Plasmabestandteile treten seltener auf und präsentieren sich klinisch mit Urtikaria, Bronchospasmus oder anaphylaktischer Reaktion. Sie sind meldepflichtig.

Leukozytendepletion  Erythrozyten- und Thrombozytenkonzen-

trate werden in der Regel bei der Herstellung Leukozyten depletiert,

23

um das Risiko einer Immunisierung gegen Leukozytenantigene (HLA-Antigene) zu verringern. Damit wird auch das Risiko­ einer Übertragung zellständiger Viren (CMV, HHV-8, HTLV-I/II) weitestgehend reduziert. Bestrahlung  Die Transfusion kontaminierender vermehrungs­ fähiger, immunkompetenter T-Lymphozyten kann bei immun­ kompromittierten Patienten zu einer tödlich verlaufenden Graftversus-host-Erkrankung (GvHD) führen. Bei kompatibler HLAKonstellation, v. a. bei Blutverwandten, kann in seltenen Fällen eine GvHD auch ohne Immunsuppression auftreten. Die Proliferation der T-Zellen und damit die GvHD kann durch Bestrahlung zellulärer Blutprodukte mit 30 Gy verhindert werden. Plasmaprodukte müssen nicht bestrahlt werden, da kontaminierende Lymphozyten durch den Gefrierprozess absterben. Frühgeborene, Neugeborene mit Verdacht auf Immundefizienz, Kinder mit schwerem Immundefektsyndrom, Kinder mit Immunsuppression unter zytostatischer Therapie und Patienten mit ge­ richteten Blutspenden von Verwandten erhalten ausschließlich bestrahlte Erythrozyten- und Thrombozytenpräparate. Gerichtete Verwandtenspende  Die gerichtete Verwandtenspen-

de wird (auch bei gleicher Blutgruppe und CMV-Negativität) nach den Richtlinien der Bundesärztekammer aufgrund des im Vergleich zum freiwilligen Spender angenommenen erhöhten Infektionsri­ sikos nicht empfohlen. Bei allogener Stammzelltransplantation kann eine vorausgegangene Transfusion vom HLA-ähnlichen Familienspender auch zur Immunisierung und späteren Abstoßung führen.

Eigenblutspenden  Wie im Erwachsenalter, können diese bei

­ ämatologisch gesunden jugendlichen Patienten vor elektiver Opeh ration sinnvoll sein.

>> Aus Sicherheitsgründen werden auf vielen kinderonkologischen Stationen ausschließlich bestrahlte zelluläre Blut­ produkte eingesetzt.

23.8.1

Erythrozytenkonzentrate

Herstellung  Erythrozytenkonzentrate enthalten in der Regel­ ca. 250 ml und haben einen Hämatokrit von 60–75%. Sie müssen bei 4°C in Blutkühlschränken rüttelfrei gelagert werden. Beim Transport darf die Kühlkette nicht unterbrochen werden. Indikation  Eine Transfusion ist nur angezeigt, wenn die betroffe-

nen Patienten ohne Transfusion einen gesundheitlichen Schaden erleiden würden und eine alternative gleichwertige Therapie nicht möglich ist. Eine Transfusionsindikation ist daher bei Mangel­ anämien mit fehlender oder milder klinischer Symptomatik nicht gegeben, wenn diese durch eine entsprechende Substitution (Eisen, Vitamin B12) behandelbar sind. Ganz generell reicht ein niedriger Hämoglobinwert allein als Indikation für eine Erythrozytentrans­ fusion nicht aus. So besteht bei einer chronischen Anämie meist eine ­längerfristige Kreislaufadaptation, während akute Anämien rasch lebensbedrohlich werden können. Erythrozytenkonzentrat wird in der Regel mit einer Dosierung von 10–15 ml/kgKG transfundiert. Sind im Rahmen eines akuten Geschehens mehrere Erythrozytentransfusionen in rascher Abfolge notwendig, sollte zeitgleich auch Frischplasma gegeben werden, um eine kritische Erniedrigung von Gerinnungsfaktoren zu vermeiden. Dies ist umso wichtiger, je unreifer ein Kind (Frühgeborenes) ist,

560

M. Lauten et al.

..Tab. 23.9  Kompatibilität im AB0-System für Transfusionen von Erythrozyten und Gefrierplasma

Erythrozyten­ konzentrate

Gefrierplasma

Blutgruppe des Patienten

Kompatible Blutgruppe

A

A oder 0

B

B oder 0

AB

AB, A, B oder 0

0

0

A

A oder AB

B

B oder AB

AB

AB

0

0, A, B oder AB

23.8.2

und je wahrscheinlicher eine Produktionsstörung der Leber, z. B. im Rahmen eines Schocks, ist. Neugeborene  Die O2-Affinität von Hämoglobin ist bei Früh- und

Neugeborenen deutlich erhöht und nimmt erst im Verlauf der ersten beiden Lebensmonate auf Erwachsenenwerte ab. Transfusionsgrenzen bei Neonaten sind daher von Reife, Alter und Risikofaktoren der vorhandenen Erkrankungen abhängig. Sie liegen deutlich höher als im späteren Kindesalter. Erythrozytenkonzentrate können für Säuglinge portioniert werden (Babybeutel), um bei wiederholter Transfusion eine Exposition mit mehreren Spendern zu vermeiden. Kompatibilität  Erythrozyten müssen AB0- und Rhesus(D)-kompatibel transfundiert werden (. Tab. 23.9). Patienten mit vorherseh-

bar langzeitiger Transfusionsbehandlung oder nachgewiesenen Auto- bzw. irregulären Allo-Antikörpern sollten nach Möglichkeit Rh-Formel- und Kell-übereinstimmend transfundiert werden. Das Rhesus-Merkmal D ist wegen seiner starken Immunogenität stets zu berücksichtigen. Aus diesem Grund sollen Rhesus(D)-negative Empfänger kein Rhesus(D)-positives Blut erhalten. Rhesus(D)-­ positive Empfänger können auch Rhesus(D)-negatives Blut erhalten. Die serologische Verträglichkeitsprobe (Kreuzprobe) sichert die Verträglichkeit zwischen dem zu transfundierenden Präparat und Patientenblut. Sie wird in der Transfusionsmedizin durchgeführt und ist im Allgemeinen 3 Tage ab Abnahmedatum der Patientenprobe gültig. Unmittelbar vor Transfusion ist vom transfundierenden Arzt der AB0-Identitätstest (Bedside-Test) am Empfänger vorzunehmen. ABO-inkompatible Fehltransfusionen führen zu akuten, oft tödlich verlaufenden Hämolysen.

!! Cave Der AB0-Identitätstest ist für die Überprüfung der Patientenblutgruppe zwingend vorgeschrieben und auch im Notfall unverzichtbar. Eine Unterlassung durch den transfundierenden Arzt ist grob fahrlässig.

23

den. Die Austauschtransfusion kann über einen Zeitraum von etwa 2 h durchgeführt werden, die Effektivität des Austauschs nimmt mit ihrer Länge zu.

Austauschtransfusion  Eine Austauschtransfusion kann akut im Rahmen von hämolytischen Krisen (M. haemolyticus neonatorum, autoimmunhämolytische Anämie) oder bei Patienten mit Sichel­ zellanämie (z. B. ZNS-Infarkt, vor großen Operationen) indiziert

sein. Bei Neugeborenen sollte ein Austauschvolumen von etwa dem 2-fachen Blutvolumen, also von ca. 170–200 ml/kgKG gewählt wer-

Thrombozytenkonzentrate

Herstellung  Thrombozytenkonzentrate werden aus Vollblutspen-

den (Einzelspenderpräparate, Poolpräparate) oder durch Thrombozytapherese hergestellt. Ein Einzelspenderpräparat enthält ­60–80×109 Thrombozyten in 40–80 ml Plasma. Es entspricht ¼–1⁄₆ der therapeutischen Dosis eines Erwachsenen. Deshalb werden sog. Poolpräparate durch das Zusammenführen von 4–6 Einzelspenderpräparaten hergestellt. Apheresepräparate enthalten in der Regel 200–400×109 Thrombozyten eines Einzelspenders in 200–300 ml Plasma. Da das Apheresepräparate nur das Infektions- und Immunisierungsrisiko eines Spenders hat, ist es, sofern es unbestrahlt gegeben wird, einem Poolpräparat vorzuziehen. Thrombozytenbeutel werden bei Raumtemperatur auf einem Rüttler gelagert. Thrombozyten sollten, wie Erythrozyten, blutgruppenkompatibel transfundiert werden, im Notfall können jedoch auch AB0-nichtkompatible Thrombozyten verabreicht werden. Indikation  Der kritische Grenzwert von Thrombozyten, dessen

Unterschreitung in der Abwesenheit anderer Risikofaktoren (z. B. Blutung, Sepsis, Beatmung, geplante Operation) in der Regel eine Thrombozytentransfusion erforderlich macht, beträgt ca. 10.000/µl. Die Halbwertszeit transfundierter Spenderthrombozyten ist sehr variabel, beträgt aber nicht mehr als ca. 7 Tage. 23.8.3

Granulozytenkonzentrate

G-CSF-mobilisierte Granulozyten gesunder Spender können durch Zytapherese gewonnen und Patienten mit lebensbedrohlicher ­Infektion bei schwerer Neutropenie transfundiert werden. Bei ­einer Überlebenszeit transfundierter Granulozyten von 5–9 h werden z. T. tägliche Transfusionen durchgeführt, die Indikation zur Transfusion von Granulozyten bleibt jedoch Einzelfällen vorbehalten. Granulozytenkonzentrate sollen, wie Erythrozyten, blutgruppenkompatibel sein, da sie sowohl Erythrozyten als auch Plasma enthalten. Da Granulozyten nach durchgemachter CMV-Infektion Virusgenom tragen, dürfen CMV-negative Empfänger nur Granulozyten von CMV-negativen Spendern erhalten. 23.8.4

Gefrierplasma

Gefrierplasma („fresh frozen plasma“, FFP) muss wegen der darin enthaltenen Isoagglutinine AB0-Blutgruppen kompatibel verabfolgt werden (. Tab. 23.9. Da es nach Auftauen keine intakten zellulären Bestandteile mehr enthält, sind weder eine Bestrahlung noch­ ein Leukozytendepletion notwendig. Im Notfall werden initial ­15–20 ml/kgKG Plasma transfundiert und je nach Klinik mehrfach wiederholt. >> Als Faustregel gilt, dass 1 ml Gefrierplasma/kgKG den Faktorenund Inaktivatorengehalt des betroffenen Patienten um etwa 1–2% anhebt.

Indikation  Indikationen zur Transfusion von Gefrierplasma be-

stehen v. a. bei globaler Störung der Gerinnung. Bei der Indikations-

561 Hämatologie

23

..Tab. 23.10  Beziehung zwischen den Manifestationen und Ursachen von Blutungen Blutungsmanifestation

Definition

Ursache

Petechien

Kleine, stecknadelkopfgroße Blutungen

Thrombozytopenie und -pathie Vasopathie

Purpura

Kleinfleckige Blutungen

Thrombozytopenie und -pathie Vasopathie

Ekchymosen

Flächenhafte Blutungen

Thrombozytopenie und -pathie von-Willebrand-Syndrom Vasopathie

Hämatome

Weichteilblutung mit Schwellung durch Aus­ dehnung bis zur Muskulatur

Plasmatische Gerinnungsstörungen (z. B. Hämophilie) Thrombozytopenie und -pathie

Hämarthros

Blutung ins Gelenk

Plasmatische Gerinnungsstörung

Schleimhautblutungen

Nasenbluten (Epistaxis), Gingivablutungen

Thrombozytopenie und -pathie von-Willebrand-Syndrom

Menorrhagie

Verlängerte und verstärkte Regelblutung

Thrombozytopenie und -pathie von-Willebrand-Syndrom

Verstärkte Blutung bei invasiven Eingriffen, wie OP, Zahnextrak­ tionen und Punktionen

Blutungen, die über den zu erwartenden Blutverlust hinausgehen und nicht lokal (z. B. Gefäßverletzung) bedingt sind

Thrombozytopenie und -pathie von-Willebrand-Syndrom Plasmatische Gerinnungsstörung

stellung zur Transfusion von Gefrierplasma in der Neonatologie ist die physiologisch geringere Gerinnungsaktivität in Globaltests sowie die physiologisch geringere Aktivität von Einzelfaktoren zu berücksichtigen. Eine isolierte Verringerung des Quick-Werts bei ansonsten altersentsprechenden Gerinnungsparametern kann in der Regel durch Gabe von Vitamin K ausreichend behandelt werden und bedarf keiner Substitution von Gerinnungsfaktoren. Die wichtigsten Indikationen zur Transfusion von Gefrierplasma sind: 44 Blutungen durch Störungen der plasmatischen Gerinnung, 44 Invasive Eingriffe bei einem Quick Falsch niedrige Bestimmungen von Thrombozytenwerten in EDTA-antikoagulierten Blutproben werden als Pseudothrombozytopenie bezeichnet. Ein entsprechender Verdacht besteht bei einer asymptomatischen Thrombozytopenie und erfordert eine Wiederholung der Thrombozytenzählung in einer mit einem anderen Antikoagulans (Citrat oder Magnesium) versetzten Blutprobe.

jjPathogenese Die Thrombozytopenie kann durch eine verminderte Bildung im Knochenmark, einen beschleunigten Thrombozytenabbau, eine

562

M. Lauten et al.

Blutungssymptome und/oder auffällige Blutungsanamnese

Testung auf Defekt der plasmatischen Gerinnung: aPTT, Quick, Fibrinogen, Gerinnungsfaktor XIII

Pathologischer Befund: gezielte Bestimmung von Gerinnungseinzelfaktoren, Thrombinzeit

Hämatologische Diagnostik:

v-Willebrand-Diagnostik: vWF-Antigen (vWF:Ag), Kollagenbindungsaktivität (vWF:CB), VWF-Aktivität (vWF:GP1bR), Blutgruppe

Pathologischer Befund: Kontrolle von vWF:Ag, vWF:CB, vWF:GP1bR und vWF-Multimerenanalyse, Gerinnungsfaktor-VIII-Aktivität, RIPA

Blutbild (Hämoglobin, Hämatokrit, Retikulozyten-, Thrombozyten-, Leukozytenzahl und mikroskopische ~differenzierung, IPF) Blutbild unauffällig: Thrombozytenmorphologie, Thrombozytengröße, Thrombozytenvolumen, Thrombozytenfunktionsdiagnostik Isolierte Thrombozytopenie und ITP unwahrscheinlich: Thrombozytenfunktionsdiagnostik (z. B. mit Aggregometrie)

Abkürzungen:

aPTT – aktivierte partielle Thromboplastinzeit IPF – immature Plättchenfraktion, ITP – Immunthrombozytopenie, VWF – Von Willebrand Faktor, RIPA – Ristocetin-induzierte Plättchenagglutination mit niedriger Ristocetinkonzentration

..Abb. 23.7  Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf eine hämorrhagische Gerinnungsstörung. aPTT aktivierte partielle Thromboplastinzeit, IPF Immature Plättchenfraktion, ITP Immunthrombozytopenie, VWF von-Wille-

brand-Faktor, RIPA ristocetininduzierte Plättchenagglutination mit niedriger Ristocetinkonzentration

..Tab. 23.11  Wichtige orientierende Gerinnungsuntersuchungen

23

Test

Beschreibung des Tests

Erkrankung

Thrombozytenzahl, Thrombozyten-volumen (MPV), Imma­ ture Plättchenfraktion (IPF)

Bestimmung durch Hämatologieautomat mittels Impedanzmethode (Thrombozytenzahl und MPV) oder Durchflusszytometrie (IPF)

Erworbene oder angeborene Thrombozytopenien (500.000/µl)

Quick-Test, Thromboplastinzeit

Gerinnungsglobaltest mit Erfassung der Vitamin-Kabhängigen Faktoren II, VII, IX und X sowie von Faktor V und Fibrinogen

Angeborene oder erworbene Störungen Vitamin-Kabhängiger Faktoren Lebersynthesestörungen

Aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT)

Gerinnungsglobaltest mit Erfassung der Faktoren XII, XI, IX, VIII, X, V, II und Fibrinogen

Hämophilie von-Willebrand-Syndrom Verbrauchskoagulopathie

Fibrinogenkonzentration

Bestimmung des gerinnbaren Fibrinogens (­Methode nach Clauss)

A-, Hypo- und Dysfibrinogenämie Verbrauchskoagulopathie

von-Willebrand-Faktor-assoziierte Parameter

von-Willebrand-Faktor-Antigen (vWF:Ag), vonWillebrand-Faktor-Aktivität (vWF:GP1bR), Kollagenbindungsaktivität (vWF:CB), Faktor-VIII-Aktivität, Blutgruppe

von-Willebrand-Syndrom

Thrombozytenaggregation

Photometrische Messung oder mittels Impedanz im Aggregometer nach Zusatz von Thrombozytenaktivatoren (z. B. ADP, Arachidonsäure, Kollagen) im plättchenreichen Plasma oder im Vollblut

Thrombozytopathien (Methode nur eingeschränkt geeignet bei gleichzeitiger Thrombozytopenie; bei Thrombozytopenie Durchflusszytometrie besser geeignet)

In-vitro-Blutungszeit (Platelet Function Analyzer: PFA-100 oder 200)

Messung der Zeit bis zum vollständigen Verschluss beim Durchfluss von gepuffertem, zitratantikoaguliertem Vollblut durch eine mit Kollagen/Epinephrin oder Kollagen/ADP beschichtete Membran

von-Willebrand-Syndrom Thrombozytopathie (bei leichten Formen Normalbefund möglich!) Thrombozytopenie (Cave: falsch-positive Befunde insbesondere bei Kindern)

563 Hämatologie

verstärkte Sequestration in der Milz bei Hypersplenismus, einen Plättchenverlust bei Blutung oder einen Verdünnungseffekt ent-

stehen. Die Blutungsausprägung bei einer Thrombozytopenie ist abhängig von der Thrombozytenzahl, der Thrombozytenfunktion und der Genese der Thrombozytopenie. Daher soll die Notwendigkeit einer Therapie der Thrombozytopenie bei Kindern keinesfalls allein von der Thrombozytenzahl abhängig gemacht werden. jjKlinik Typisch sind das Auftreten von Hämatomen und petechialen Blutungen an Haut und Schleimhäuten, wie Epistaxis und Mundschleimhautblutungen. Selten auftretend aber lebensbedrohlich können Hirnblutungen und massive Blutungen aus dem MagenDarm-Trakt sein. Leichte Verlaufsformen können auch erst durch verstärkte Blutungen bei invasiven Eingriffen, wie Operationen der Zahnextraktionen auffallen.

jjDiagnose Blutbild mit Zellzahlbestimmung einschließlich der Retikulozytenzahl sowie bei gerätetechnischer Verfügbarkeit der Immaturen Plättchenfraktion (IPF), mikroskopische Beurteilung des Blutausstrichs und ggf. Knochenmarkdiagnostik. Die Ergebnisse der Globaltests der Gerinnung sind meist normal. Neben der häufig vorliegenden Immun- und infektassoziierten Thrombozytopenie ist auch an seltene Ursachen, wie das von-Willebrand-Syndrom Typ 2B, eine thrombozytopenisch-thrombotische Purpura (TTP) und eine Thrombozytopenie-assoziierte Thrombozytopathie zu denken.

Hereditäre Thrombozytopenien Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von selten auftretenden Erkrankungen, wobei einige davon auch eine morphologische oder funktionelle thrombozytäre Störung zeigen (. Tab. 23.12). Für mehrere Entitäten steht eine genetische Diagnostik zur Verfügung. Die Einteilung erfolgt anhand der Thrombozytengröße. Um eine

..Tab. 23.12  Charakteristik ausgewählter hereditärer Thrombozytopenien (TP) Erkrankung

Blutungsneigung

Ver­ erbung

Besonderheiten

Kongenitale amegakaryozytäre TP

Schwer

AR

Schwere Knochenmarkaplasie bei allen Patienten im Säuglingsalter

TP mit (bilateraler) Radiusaplasie ­( TAR-Syndrom)

Schwer

AD

Steigende Thrombozytenzahlen mit zunehmendem Patientenalter

TP mit radioulnarer Synostose

Schwer

AD/AR

Übergang in aplastische Anämie möglich

ANKRD26-assoziierte TP

Fehlend bis leicht

AD

Übergang in akute Leukämie (AML) möglich

CYCS-assoziierte TP

Fehlend

AD

Keine

Bernard-Soulier-Syndrom

Schwer

AD/AR

Zusätzlich Thrombozytopathie

MYH9-assoziierte Erkrankungen ­(May-Hegglin-Anomalie, FechtnerSyndrom, Sebastian-Platelet-Syndrom

Fehlend bis leicht

AD

Zusätzlich Katarakt, Nephropathie und Hörstörung möglich

Plättchentyp-VWS

Leicht bis mittelschwer

AD

Weiterer Thrombozytenabfall bei Infektionen, Operationen und in der Schwangerschaft

GATA1-assoziierte TP

Mittelschwer bis schwer

XL

Zusätzlich hämolytische Anämie (β-Thalassämie) und dyserythropoetische Anämie

Paris-Trousseau-TP, Jacobsen-Syndrom

Mittelschwer bis ­schwer

AD

Zusätzlich Entwicklungsverzögerung, Herzfehler, Gesichts- und Schädeldysmorphie

Gray-Platelet-Syndrom

Mittelschwer bis ­schwer

AR

Entwicklung von Myelofibrose und Splenomegalie möglich, ­erhöhte Vitamin-B12-Serumsspiegel

ITGA2/ITGB3-assoziierte TP

Leicht bis mittelschwer

AD

Zusätzlich Thrombozytopathie

TUBB1-assoziierte TP

Fehlend bis leicht

AD

Keine

FLNA-assoziierte TP

Leicht bis mittelschwer

XL

Zusätzlich periventrikuläre noduläre Heterotopie und mentale Retardierung möglich

Wiskott-Aldrich-Syndrom

Schwer

XL

Assoziation mit schwerem Immundefekt, Ekzem, Autoimmunität und Malignomen

X-chromosomale TP

Fehlend bis leicht

XL

Assoziation mit leichtem Immundefekt möglich

Normale Thrombozyten

Makrothrombozyten

Mikrothrombozyten

AD autosomal dominant, AR autosomal rezessiv, TP Thrombozytopenie, vWS von-Willebrand-Syndrom, XL X-linked (X-chromosomal rezessiv)

23

564

M. Lauten et al.

hereditäre Thrombozytopenie nicht zu übersehen und bei Verdacht auf eine viel häufiger vorkommende Immunthrombozytopenie unnötige Therapiemaßnahmen zu vermeiden, sollte insbesondere bei einer persistierenden Thrombozytopenie eine Blutbildbestimmung bei den erstgradigen Verwandten des Patienten, wie den Eltern erfolgen.

Erworbene Thrombozytopenien Störung der Megakaryopoese Eine Thrombozytopenie mit fehlendem oder deutlich vermindertem Nachweis von Megakaryozyten im Knochenmarkausstrich kommt bei Verdrängen der normalen Thrombopoese bei Leukämie, NonHodgkin-Lymphom, Neuroblastom, Histiozytose oder bei Knochenmetastasen vor. Ebenso ist diese Form der Thrombozytopenie nach Strahlenexposition sowie nach chemisch-toxischer Einwirkung, z. B. durch Zytostatika und andere Arzneimittel beschrieben. Sie liegt auch bei der aplastischen Anämie als Autoimmun­erkrankung vor. Die Therapie richtet sich nach der Grunderkrankung. Das Auf­ treten lebensbedrohlicher Blutungen wird durch die Substitution bestrahlter Thrombozytenkonzentrate verhindert.

Heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT) j jPathogenese Es handelt sich um eine sehr selten auftretende Nebenwirkung einer Heparinbehandlung, insbesondere mit unfraktioniertem Heparin. Beim nichtimmunologischen Typ I führt die direkte Interaktion von Heparin mit Thrombozyten zu einer verkürzten Lebenszeit der Thrombozyten und einer mäßigen Thrombozytopenie, die rasch bis 5 Tage nach Heparingabe beginnt. Beim immunologischen Typ II entwickeln sich Antikörper gegen den Plättchenfaktor 4-HeparinKomplex, welche die Thrombozyten aktivieren und somit zur Bildung von Thrombozytenaggregaten führen. Die HIT Typ II beginnt meist 5–10 Tage nach Beginn der Heparinbehandlung. jjKlinik Während beim Typ I keine klinischen Symptome auftreten, besteht beim Typ II ein hohes Risiko des Auftretens arterieller und venöser Gefäßverschlüsse. jjDiagnose Eine HIT Typ II sollte vermutet werden, wenn unter Heparintherapie eine Thrombose auftritt und die Thrombozytenanzahl im Vergleich zum Wert vor der Heparintherapie deutlich abgefallen ist. Aufgrund der Seltenheit dieser Erkrankung sind insbesondere bei der Gabe von niedermolekularem Heparin keine regelmäßigen Kontrollen der Thrombozytenwerte erforderlich. Der Nachweis von HIT-Antikörpern und der Antikörperrelevanz in einem funk­ tionellen Test sind bei entsprechender Klinik beweisend. j jTherapie Die wichtigste therapeutische Maßnahme bei Verdacht auf HIT Typ II besteht im Absetzen des Heparins. Da eine weitere Antikoagulation jedoch unbedingt erforderlich ist, muss entweder auf einen direkten Thrombininhibitor (Bivalirudin, Argatroban) oder das Heparinoid Danaparoid umgestellt werden.

Idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP)

23

>> Im Kindesalter ist die akute ITP die häufigste erworbene ­hämorrhagische Gerinnungsstörung.­

Akute ITP  Dieses Krankheitsbild ist durch eine ausgeprägte, isolierte Thrombozytopenie nach Ausschluss von Thrombozytopen-

..Tab. 23.13  Maßnahmen in Abhängigkeit vom Schweregrad der Blutungen bei der akuten ITP im Kindesalter laut AWMF-S2k-Leitlinie Schweregrad

Symptome

Therapie

Leicht

Petechien, Hämatome, keine Schleimhautblutungen

Keine

Mittel

Zusätzlich Schleimhautblutungen (intermittierend), sistiert spontan bzw. auf Druck

Keine, (Steroid)

Schwer

Persistierende Schleimhautblutungen, Nasentamponade, Transfusionsnotwendigkeit

Steroid, IVIG

Lebensbedrohlich

Intrakranielle oder sonstige innere Blutung

Steroid, IVIG, Thrombozyten­ konzentrat

ien anderer Ursache definiert. In über 80% der Fälle geht der Erkrankung ein Virusinfekt voraus. Bei der akuten ITP kommt es zu einem gesteigerten Plättchenuntergang im Monozyten-Makrophagen-System vorwiegend der Milz, weil mit IgG-Antikörpern gegen ein auf der Thrombozytenmembran adsorbiertes Antigen beladene Thrombozyten vermehrt phagozytiert werden. Die Überlebenszeit der Plättchen ist verkürzt. Betroffen sind meist Kleinkinder. Auffallend ist der gute klinische Allgemeinzustand, bei dem plötzlich über den ganzen Körper verteilt Petechien und Hämatome durch Bagatelltraumata auftreten. Das Auftreten von Nasenbluten ist möglich. Die Milz ist nicht vergrößert. Innerhalb von 6 Monaten kommt es bei etwa 70% der Patienten zur Spontanheilung und bei etwa 90% sind innerhalb von 12 Monaten die Thrombozytenzahlen normalisiert. Die Gabe von Steroiden (z. B. Prednison 1–2 mg/kgKG/d p.o. über 3–5 Tage) oder die i.v.-Gabe von Immunglobulin G (IVIG; 0,4 g/kgKG über max. 5 Tage) ist nur bei einer klinisch relevanten Blutungssymptomatik erforderlich. Die Indikation zur Behandlung ist zurückhaltend zu stellen und sollte nicht von der Thrombozytenzahl sondern von der Blutungssymptomatik abhängig gemacht werden (. Tab. 23.13). Persistierende und chronische ITP  Definitionsgemäß geht die akute ITP nach 3 Monaten in eine persistierende und nach 12 Monaten in eine chronische Form über. Diese Form der ITP tritt bei 10- bis 30-Jährigen auf mit deutlichem Überwiegen bei Mädchen. Die Behandlung der chronischen ITP entspricht dem Vorgehen wie bei der akuten ITP. Differenzialdiagnose der ITP  Differenzialdiagnostisch muss neben den hereditären Formen an Begleitthrombozytopenien

(Evans-Syndrom, Lupus erythematodes, Herzvitien, Infektionen, Medikamente wie Valproat, Kasabach-Merritt-Syndrom, Immundefekte) gedacht werden. Ein hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) ist bei begleitendem akutem Nierenversagen auszuschließen, ebenso wie die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP). Die TTP (M. Moschcowitz) ist ein Syndrom, bestehend aus Thrombozytopenie, Mikroangiopathie, neurologischen Symptomen, Nierenversagen und Fieber. Es tritt v. a. bei Erwachsenen und selten bei Kindern und Jugendlichen auf.

Alloimmunthrombozytopenie des Neugeborenen 7 Abschn. 4.8

565 Hämatologie

..Tab. 23.14  Charakteristik ausgewählter hereditärer Thrombozytopahien Schweregrad der ­Blutungsneigung

Thrombozytenzahl (×103/µl)

Thrombozytenmorphologie

Moderat bis schwer

Normal

Normal

δ-Storage-pool-Defekt

Leicht bis moderat

Normal

Verminderte Granulazahl

α-Storage-pool-Defekt (Gray-platelet-Syndrom)

Leicht

30–100

Vergrößert, leere α-Granula

Störung des Arachidonsäuremetabolismus

Moderat

Normal bis leicht vermindert

Normal

Kollagenrezeptordefekt

Leicht

Normal

Normal

P2Y12-(ADP)-Rezeptordefekt

Leicht

Normal

Normal

Leicht

30–100

Vergrößert, Einschlusskörper in Leukozyten

Erkrankung

Defekte der Adhäsionsproteine Thrombasthenie Glanzmann Sekretions- und Signaltransduktionsdefekte

Rezeptordefekte

Zytoskelettdefekte MYH9-assoziierte Erkrankungen

23.9.3

Thrombozytopathien

Die angeborenen Thrombozytopathien können nach dem zugrundeliegenden Defekt in 5 Gruppen unterteilt werden: Störungen der

Thrombozytenadhäsion, Speichergranula-, Signaltransduktionsund Rezeptordefekte sowie Defekte von Zytoskelettkomponenten (. Tab. 23.14). Die verschiedenen Entitäten der hereditären

Thrombozytopathien sind jeweils nur bei einer kleinen Anzahl von Patienten beschrieben worden. Für die Diagnostik und Therapie der angeborenen Formen wurden Leitlinien entwickelt, welche über die AWMF zugänglich sind. Im Gegensatz zum Erwachsenenalter stellen die medikamenteninduzierten Thrombozytopathien aufgrund des vergleichsweise begrenzten Einsatzes im Kindes- und Jugendalter kein wesentliches Problem dar. Trotzdem sollte auch bei Kindern mit unklarer Blutungsneigung nach der Medikamenteneinnahme gefragt werden. Relevant sind dabei die nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) und die Aggregationshemmer Acetylsalicylsäure (ASS) sowie Clopidogrel. Auch das Antiepileptikum Valproat kann in Einzelfällen neben einer Thrombozytopenie, einem von-Willebrand-Syndrom auch eine Thrombozytenfunktionsstörung hervorrufen. Des Weiteren können myelodysplastische Syndrome sowie eine Reihe anderer schwerer Grunderkrankungen wie Urämie, Diabetes mellitus, Leber- und Autoimmunerkrankungen erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen verursachen. 23.9.4

Vasopathien

Zu den angeborenen Vasopathien gehören die hämorrhagische ­Teleangiektasie Osler-Rendu mit Bildung kleiner Gefäßerweiterungen an Haut und Schleimhäuten mit einer Blutungsmanifestation aus dem Schleimhautbereich meist erst im Erwachsenenalter und das Ehlers-Danlos-Syndrom mit Überstreckbarkeit der Gelenke, gestörte Wundheilung und gefäßbedingter Blutungsneigung hervorgerufen durch einen Defekt des kollagenen Bindegewebes. Erwor­ bene Vasopathien (Purpura Schönlein-Henoch): 7 Kap. 12

23.9.5

Hämorrhagische Koagulopathien

Die mangelnde Aktivität einzelner oder mehrerer plasmatischer ­Gerinnungsfaktoren bei unbeeinträchtigter primärer Hämostase verursacht eine unzureichende Fibrinbildung. Es entsteht ein charakteristischer Blutungstyp, der je nach Schweregrad und Erkrankung eine unterschiedliche Ausprägung haben kann. Die zusätzliche Gabe des Antfibrinolytikums Tranexamsäure (10 mg/kgKG 2- bis 3-mal/Tag i.v. als Kurzinfusion oder 15–20 mg/ kgKG 2- bis 3-mal/Tag p.o.) kann als zusätzliche Therapie bei ­Blutungsereignissen (aber nicht im Bereich der Harnwege) und bei invasiven Eingriffen sinnvoll sein. Für alle Patienten insbesondere mit hereditären hämorrhagischen Koagulopathien sollte Folgendes beachtet werden: 44 Schmerzbehandlung und Fiebersenkung vorrangig mit Para­ cetamol (alternativ Metamizol oder bei starken Schmerzen ­Morphinderivate wie Tramadol). 44 Keine Einnahme acetylsalicylsäurehaltiger Medikamente. 44 Keine i.m.-Injektionen (Impfungen erfolgen s.c., u. a. gegen Hepatitis A und B). 44 Mitbetreuung durch hämostaseologisch erfahrenen Arzt. 44 Mitführen eines Nothilfpasses und ggf. auch eines Notfall­ präparats.

Hereditäre Koagulopathien Hämophilie Die Bluterkrankheit ist charakterisiert durch eine verminderte oder fehlende Aktivität der Gerinnungsfaktoren VIII (Hämophilie A) oder IX (Hämophilie B). jjEpidemiologie, Pathogenese Die Prävalenz der Erkrankung beträgt 1:10.000 mit einem Verhältnis Hämophilie A zu B von 5:1. Die Vererbung erfolgt X-chromosomalrezessiv. In der Regel erkranken nur Männer, Frauen sind Konduktorinnen und können bei ungünstiger Lyonisierung ebenfalls ­niedrige Faktor-VIII- bzw. -IX-Aktivitäten und Blutungssymptome aufweisen.

23

566

M. Lauten et al.

..Tab. 23.15  Gerinnungseinzelfaktoren und deren Therapie bei Mangelzuständen Faktor

Halbwertszeit (Stunden)

Hämostatische Mindestaktivität

Konzentrat

Therapie

I (Fibrinogen)

72–120

0,5 g/l

Fibrinogen

20–40–80 mg/kgKG alle 2–4 Tage

II

24–48

20%

PPSB

20–50 E/kgKG alle 24 h

V

12–15

10–15%

FFP (rFVIIa a)

10–20 ml/kgKG alle 12 h 40 µg/kgKG alle 2–4 h

VII

2–5

5–10%

FVII rFVIIa

20–50 E/kgKG alle 2–4 h 15–30 µg/kgKG alle 2–4 h

VIII

8–12

10–40%

FVIII

50 E/kgKG alle 8–12–24 h

IX

12–24

10–40%

FIX

50 E/kgKG alle 8–12–24 h

X

24

10–15%

PPSB

20–50 E/kgKG alle 24 h

XI

24–72

15–20%

FFP (rFVIIa a) FXI b

10–20 ml/kgKG alle 24 h 40 µg/kgKG alle 2–4 h 20–50 E/kgKG alle 24 h

XIII

70–160

3%

FXIII

20–50 E/kgKG 1–2/Woche

a b

in dieser Indikation nicht zugelassen; bisher keine Zulassung in Deutschland

j jDiagnose Die Diagnosestellung erfolgt durch die Einzelfaktorenbestimmung bei einer typischerweise vorliegenden PTT-Verlängerung. Dabei ist jedoch zu beachten, dass bei einer Subhämophilie auch ein nomaler PTT-Wert gemessen werden kann. Eine genetische Sicherung der Diagnose sollte unbedingt angestrebt werden. Bei Verdacht auf eine Hämophilie A muss immer ein von-Willebrand-Syndrom ausgeschlossen werden. Bei einer positiven Familienanamnese wird die Diagnose postnatal gestellt. Aus hämostaseologischer Sicht ist eine Pränataldiagnostik nicht erforderlich, denn die unkomplizierte Spontangeburt eines Hämophilen ist unter Vermeidung zusätzlicher Manipulationen am Kopf des Kindes (keine Forcepsentbindung und keine Vakuumextraktion) möglich. Ohne positive Familienanamnese fallen Erkrankte meist im Rahmen der Abklärung einer auffälligen Blutungsneigung auf. Entsprechend der Restaktivität der Faktoren VIII oder IX unterscheidet man 4 Schweregrade: schwer 5–15% und Subhämophilie >15–35%.

23

jjKlinik Die Geburt und Säuglingsperiode verlaufen bei den meisten Patienten ohne gravierende klinische Symptome. Mit der zunehmenden Mobilität der Kinder wird dann bei der schweren und mittelschweren Form eine deutliche Hämatomneigung auffällig. Bei Patienten mit schwerer Hämophilie sind bedrohliche Spontanblutungen gefürchtet. Blutungen manifestieren sich hauptsächlich an den großen ­Gelenken (v. a. Sprung-, Knie-, Ellenbogengelenke) und führen bei ungenügender Behandlung zur Gelenkdestruktion (hämophile Arthropathie. Typisch sind auch ausgeprägte Weichteil- und Muskelblutungen. Spontane und Bagatelltrauma-induzierte Blutungen in das harnableitende System und ins ZNS ebenfalls möglich. Insbesondere Patienten mit leichter Form und Subhämophilie ­können auch erst durch eine Blutungskomplikation bei invasiven Eingriffen, wie z. B. einer Operation oder Zahnextraktion auffallen.

jjTherapie Zur Behandlung der Hämophilie stehen virusinaktivierte plasmatische oder gentechnisch hergestellte Faktor-VIII- bzw. Faktor-IXKonzentrate zur Verfügung, die im Rahmen von 2 Behandlungsstrategien eingesetzt werden. Die prophylaktische Faktorensubstitution (2- bis 3-mal pro Woche 20–40 E/kgKG, bei Verwendung eines Faktor-IX-Konzentrate mit verlängerter Halbwertszeit bis zu 1-mal pro Woche bzw. alle 10–14 Tage) wird meist bei Kindern mit schwerer und mittelschwerer Hämophilie durchgeführt. Bei den leichteren Verlaufsformen ist in der Regel die Behandlung bei Bedarf, wie z. B. bei einer akuten Blutung ausreichend. Vor elektiven Eingriffen ist bei Patienten mit leichter oder Subhämophilie A auch die Gabe von Desmopressin, einem Analogon des antidiuretischen Hormons, in einer Dosis von 0,3 µg/kgKG als Kurzinfusion über mindestens 30 min möglich. >> Bei einer akuten Blutung ist die unverzügliche Behandlung wichtig, um Folgeschäden zu vermeiden bzw. gering zu halten.

Die zu injizierende Faktorendosis richtet sich nach Art und Ausmaß der Blutung (. Tab. 23.16). Bei der Dosisberechnung kann man ­näherungsweise davon ausgehen, dass 1 Einheit Faktor VIII oder­ IX/kgKG den Plasmaspiegel um 1% anhebt. Die Entscheidung, welche Behandlungsstrategie angewandt wird, sollte im betreuenden Gerinnungszentrum getroffen werden. Nach dem entsprechenden Anlernen führen die Eltern und später auch die Kinder die notwendige i.v.-Applikation selbst durch. Die schwerste Komplikation der Faktorensubstitution stellt das Auftreten von Hemmkörpern gegen Faktor VIII oder Faktor IX dar, wobei dies insbesondere Patienten mit Hämophilie A (bei etwa 25% der Patienten) innerhalb der ersten 50 Expositionstage betrifft. ­Daher ist in diesem Zeitraum eine engmaschige Hemmkörper­ bestimmung erforderlich. Zur Behandlung akuter Blutungen bei Hemmkörperhämophilie stehen aktivierte Prothrombinkomplexpräparate (FEIBA), 50–100 I.E./kgKG alle (6–)12 h, oder rekombinanter Faktor VIIa (NovoSeven) 90 µg/kgKG alle 2 h oder 270 µg/ kgKG als Einmalgabe zur Verfügung. Die Hemmkörperelimination wird durch hochdosierte Faktorensubstitution (Immuntoleranz­

567 Hämatologie

..Tab. 23.16  Dosierung von Gerinnungsfaktorenkonzentraten Lokalisation der Blutung

Erforderlicher ­Faktorenspiegela

Dauer der Substitution

Gelenkblutung

15–30%

2 Tage

Muskel-/ausgedehnte Weichteilblutungen

40–50%

2–3 Tage

M. iliopsoas, Unterschenkel, Unterarmmuskulatur

40–50%

3–5 Tage

Mundhöhle, Zahnextraktion, kleine Operationen

30–50%

5 Tage (Substitution bis zur Wundheilung erforderlich)

Zerebrale, thorakale, abdominale Blutung; Frakturen der großen Röhrenknochen

50–100%

4–14 Tage (Substitution bis zur Wundheilung erforderlich)

Große Operationen, Operation im ZNS, Geburtshilfe

50–100%

2–3 Wochen (Substitution bis zur Wundheilung erforderlich)

therapie) ggf. kombiniert mit einer immunmodulatorischen Therapie angestrebt.

..Tab. 23.17  Einteilung des von-Willebrand-Syndroms

Von-Willebrand-Syndrom

Klassifikation

Charakteristik

Typ 1

Häufigste Form (ca. 80% der Fälle), klinisch oft milder Verlauf, Konzentration und funktionelle Parameter des vWF proportional vermindert, autosomal dominante Vererbung

Typ 2

Variable klinische Symptomatik, funktioneller Defekt des vWF, autosomal dominant oder rezessiv vererbt (20% der Fälle)

jjPathogenese Das von-Willebrand-Syndrom (vWS) ist die häufigste angeborene hämorrhagische Gerinnungsstörung. Der Erbgang ist autosomaldominant oder rezessiv (Typ 3 und einige Subtypen vom Typ 2; . Tab. 23.17). Ursache des vWS sind quantitative und qualitative ­ efekte des von-Willebrand-Faktors. D Der von-Willebrand-Faktor (vWF) ist ein in der Gefäßwand und den Thrombozyten gespeichertes, großes multimeres Plasmapro­ tein, das im Verletzungsfall die Thrombozytenadhäsion am Kollagen des Subendothels und die Aggregation der Thrombozyten vermittelt. Außerdem bindet der vWF den Faktor VIII und schützt ihn damit vor einer vorzeitigen Proteolyse. Daraus resultiert beim vWS Typ 3 ein schwerer Faktor-VIII-Mangel und damit auch eine Störung der plasmatischen Gerinnung. jjKlinik Häufigste Symptome sind Hämatome und Schleimhautblutungen (Epistaxis, Gingiva, Menorrhagien, Hämaturie). Nach Tonsillektomien, Adenotomien und Zahnextraktionen können erhebliche Nachblutungen auftreten. Gelenk- und Muskelblutungen kommen in der Regel nur beim vWS Typ 3 vor. jjDiagnose Durch Bestimmung von vWF-Antigen, vWF-Ristocetin-Kofaktor oder vWF-Kollagenbindungsaktivität, vWF-Aktivität, aktivierte PTT (aPTT), Faktor-VIII-Aktivität, Thrombozytenzahl, In-vitroBlutungszeit (PFA 100/200-Test) und unter Berücksichtigung der Blutgruppe (Träger der Blutgruppe „0“ mit physiologischerweise leicht verringerten Werten für das vWF-Antigen) kann in der Regel die Diagnose gestellt werden. Die erweiterte Diagnostik umfasst die vWF-Multimerenana­ lyse, die Ristocetin-induzierte Plättchenagglutination mit nied­ riger Ristocetinkonzentration, die Faktor-VIII-Bindungsaktivität des vWF und ggf. den Mutationsnachweis. >> Eine normale aPTT schließt das Vorliegen eines von-­Wille­brandSyndroms nicht aus!

jjTherapie Sie ist abhängig vom Schweregrad und Typ des vWS sowie dem zu erwartenden Blutungsrisiko dem Ausmaß des invasiven Eingriffs.

Typ 3

Typ 2A

Störung von Funktion und Struktur des Faktors, Fehlen großer und/oder mittelgroßer vWFMultimere, autosomal dominant

Typ 2B

Erhöhte Affinität des vWF zum Plättchenglykoprotein Ib (GPIb) mit resultierender Thrombozytopenie, autsomal dominant

Typ 2M

VWF-Multimerenstruktur normal, aber verminderte Interaktion mit Thrombozyten, autosomal dominant

Typ 2N

Verminderte Bindungsaffinität des vWF zum Faktor-VIII und daher Faktor VIII vermindert, wichtige Differenzialdiagnose zur Hämophilie A, autosomal rezessiv Sehr seltene, klinisch schwerste Form mit Schleimhaut-, Gelenk- und Muskelblutungen, Fehlen des vWF, autosomal rezessiv

Wichtig sind die lokale Blutstillung mit Tamponade, Antifibrinolytika, Hämostyptika und die Gabe von Kontrazeptiva. Durch Desmopressin wird der vWF aus endogenen Speichern im Gefäßendothel freigesetzt, wobei die Wirksamkeit darauf individuell sehr unterschiedlich ist und daher eine einmalige Testung empfohlen wird. Die Gabe von Desmopressin ist nicht sinnvoll beim Typ 3 und kontraindiziert beim Typ 2B. Auch sollte Desmopressin nicht bei Kindern unter drei Jahren sowie mit Anfallsleiden verabreicht werden. Bei schweren Blutungen und vor elektiven invasiven Eingriffen ist eine Substitution mit einem vWF-haltigen Faktor-VIII-Präparaten oder einem reinen vWF-haltigen Konzentrat notwendig. Die Berechnung der erforderlichen Dosis erfolgt analog zu den FaktorVIII-Präparaten. Beim vWS Typ 3 kann die regelmäßige prophylaktische Gabe eines vWF-haltigen Konzentrates erforderlich werden.

23

568

M. Lauten et al.

Erworbene Koagulopathien j jPathogenese Erworbene Koagulopathien werden bei Leberzellschädigungen (infektiös oder toxisch, z. B. Paracetamol, Valproat, Knollenblätterpilz), Verschlussikterus mit gestörter Fettresorption infolge ­Gallemangel, Leberunreife (Frühgeborenes), Vitamin-K-Mangel (vollgestillte Säuglinge ohne bzw. mit unzureichender Vitamin KProphylaxe), Therapie mit Vitamin K-Antagonisten und parenteraler Ernährung beobachtet. Auch die Bildung von Antikörpern gegen einzelne Gerinnungsfaktoren ist möglich. Im Kindesalter selten ist das erworbene VWS, welches bei myeloproliferativen Erkrankungen, wie z. B. der essenziellen Thrombozytämie (ET), der chronisch-myeloischen Leukämie (CML) mit ausgeprägter Thrombozytose und bei Herzvitien (z. B. bei Aorten­ stenose) auftreten kann. Eine Hyperfibrinolyse kann bei Operationen an Plasminogenaktivator-reichen Organen, wie Prostata, Uterus und Lunge, als Folge einer fibrinolytischen Therapie und als reaktive Hyperfibrinolyse bei einer Verbrauchskoagulopathie (VKP) auftreten.

j jTherapie Die Therapie besteht in der Behandlung der Grunderkrankung ­sowie der Plasma- und/oder Einzelfaktorensubstitution bei relevanter Blutungsneigung und vor elektiven Eingriffen.

Vitamin K-Mangel beim Neonaten und Säugling 7 Abschn. 4.8.

Verbrauchskoagulopathie, disseminierte ­intravasale Gerinnung (DIC) j jPathogenese Durch eine plötzliche massive Gerinnungsaktivierung wird das Gleichgewicht zwischen Gerinnung und Fibrinolyse gestört. Als mögliche Trigger kommen Schock (traumatisch, Sepsis), Scharlach, Masern, Varizellen, Meningokokken (Waterhouse-FriderichsenSyndrom; . Abb. 23.8), Kasabach-Merritt-Syndrom (Verbrauch von Thrombozyten in Gefäßmalformationen), akute myeloische Leukämie (primäre Hyperfibrinolyse bei der Promyelozytenleukämie) etc. infrage. Beim Neonaten kann sich eine DIC z. B. nach Reanimation, peripartaler Asphyxie, Sepsis oder nach schwerem Blutverlust wie bei Placenta praevia oder fetofetaler Transfusion entwickeln. j jKlinik Neben Schockzeichen kommt es im weiteren Verlauf z. B. beim ­Waterhouse-Friderichsen-Syndrom (. Abb. 23.8) zu einer ausgeprägten Blutungsneigung vom gemischten Typ, d. h. sowohl petechiale Haut- und Schleimhautblutungen als auch flächenhafte Weichteilblutungen können nebeneinander auftreten. Zusätzlich wird eine Thrombenbildung beobachtet mit nachfolgender Einblutung in die von der Blutzufuhr abgeschnittenen Organgebiete. Die Progredienz der Hautblutungen/Mikrothrombosen, das Ausmaß des Schocks und der zentralvenösen Symptome sind für die Pro­ gnose entscheidend.

23

jjTherapie Die Therapie richtet sich nach der Grunderkrankung. Neben einer Breitbandantibiose und Katecholamingabe ist eine supportive ­Gerinnungstherapie erforderlich. Für Kinder gibt es keine evidenzbasierten Daten zur gerinnungssupportiven Therapie bei DIC. Ebenso wie bei Erwachsenen ist die Gabe von Antithrombin zum Erreichen von Werten im Norm­ bereich sinnvoll. Dagegen bleibt die Gabe von gerinnungsaktivem

..Abb. 23.8  Typisches klinisches Bild mit multilokulären Hautblutungen beim Kleinkind mit Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom (Mit freundl. Genehmigung von PD Dr. Sigrun Hofmann, Bereich Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Dresden)

Plasma (10–20 ml/kgKG) und von Protein-C-Konzentrat (z. B. bei septischer Purpura fulminans) Einzelfällen vorbehalten. Vor einer Heparingabe wird gewarnt, denn die Thrombozytenwerte sind oft niedrig und die Nierenfunktion ist noch nicht ausgereift bzw. durch die Grunderkrankung gestört. Die Thrombozytenwerte sollten bei mindestens 50.000/µl gehalten werden. 23.9.6

Thrombosen und Thrombophilie

jjEpidemiologie und Lokalisation von Thrombosen Venöse und arterielle Gefäßverschlüsse im Kindesalter sind seltene Ereignisse und treten etwa 100-fach seltener als bei Erwachsenen und dann am häufigsten bei Neonaten und Teenagern mit unterschiedlichen Thromboselokalisationen auf. Bei Neonaten liegen v. a. die Nierenvenenthrombosen und Hirninfarkte vor; bei ­Jugendlichen dagegen Unterschenkel- und Becken-BeinvenenThrombosen. Die Entwicklung von Thrombosen hängt von erworbenen und genetischen Faktoren ab (. Tab. 23.18). Spontane Thrombosen sind im Gegensatz zu erwachsenen Patienten bei Kindern äußerst selten. Als Sonderformen kindlicher thromboembolischer Ereignisse ist der neonatale Schlaganfall zu erwähnen. Perinatal erworbene Thromben (Nierenvenen, V. cava) können sich beim Geburtsvorgang lösen und bei Passieren des offenen Foramen ovale zum Hirninfarkt führen. Embolien beim Neonaten können auch im Bereich der Extremitäten auftreten. Der ischämische Schlaganfall des älteren Kindes entsteht häufig im Zusammenhang mit einem kardialen Vitium, einem noch offenen Foramen ovale oder lokal im Zusammenhang mit einer ­Gefäßerkrankung (Moyamoya-Syndrom, fibromuskuläre Dysplasie). Eine Sonderform stellt die Sinusvenenthrombose dar. Sie kann bei Kindern mit akuter lymphoblastischer Leukämie in einer Therapiephase mit einer Kombinationstherapie aus Asparaginase und ­Steroiden sowie bei Kindern mit Mastoiditis auftreten. Das postthrombotische Syndrom stellt auch im Kindesalter eine relevante Langzeitfolge der venösen Thrombose dar.

569 Hämatologie

..Tab. 23.18  Auswahl wichtiger Thromboserisikofaktoren bei ­Kindern Angeborene Risikofaktoren (Prävalenz des Heterozygotenstatus in der Bevölkerung)

Erworbene Risikofaktoren

Faktor-V-Leiden-Mutation (5%)

Zentralvenöse Zugänge

Prothrombin-Mutation (2%)

Immobilisation

Antithrombin-Mangel (0,1%)

Exsikkose

Protein-C-Mangel (0,3%)

Alter, Rauchen, Schwangerschaft

Protein-S-Mangel (0,1%)

Schwere Infektionen Nephrotisches Syndrom Medikamente (Steroide, Asparaginase, Hormone) Maligne und autoimmunologische Erkrankungen (Antiphospholipid-Syndrom)

Angeborene Thrombophilie Defekte im Protein-C-Pathway Defekte im Protein-C-System, die mit einer familiären Thromboseneigung einhergehen, sind: 44 Aktiviertes Protein C (APC)-Resistenz verursacht meist durch die Faktor-V-Leiden (G1691A)-Mutation (häufig und mit geringem Thromboserisiko assoziiert), 44 Protein-C-Mangel (selten auftretend, hohes Thromboserisiko), 44 Protein-S-Mangel (selten auftretend, hohes Thromboserisiko). Diese Defekte können sich schon bei Neugeborenen manifestieren. Homozygote Merkmalsträger des Protein-C-Mangels können an ­einer Purpura fulminans erkranken. Die molekulargenetische Sicherung dieser Defekte ist meist möglich und sollte angestrebt werden.

Antithrombinmangel Ebenfalls selten auftretend, aber mit einem hohen Thromboserisko assoziiert.

Weitere Risikofaktoren Eine weitere genetische Anlagevariante, die mit einer Thromboseneigung im Kindesalter einhergeht, ist die heterozygote Prothrombin (G20210A)-Mutation. Reproduzierbar erhöhte Werte für das Nüchternhomozystein jenseits der Akutphase einer Thrombose (>3–6 Monate) sind auch im Kindes- und Jugendalter mit einem leicht erhöhten Risiko für thromboembolische Ereignisse assoziiert. Erhöhte Werte für Lipoprotein(a), für die Faktor-VIII-Aktivität und das Vorliegen einer Dysfibrinogenämie sowie Hypo-/oder ­Dysplasminogenämie sind ebenfalls bei Kindern mit Thrombosen beschrieben worden. Die Durchführung einer genetischen Untersuchung zur Abklärung einer Thromboseneigung sollte insbesondere bei Kindern nicht aus prädiktiven Gründen durchgeführt werden, sondern um die Intensität und Dauer der initalen Thrombosetherapie und die erforderliche Sekundärprophylaxe zu planen. Generell sollte eine Thrombophiliediagnostik frühestens 3 Monate nach der Thrombosemanifestation erfolgen.

Erworbene Thrombophilie Erworbene Inhibitoren, die gegen einzelne Gerinnungsfaktoren und ihre Inhibitoren gerichtet sind, können Thrombosen auslösen. L­ upus-Antikoagulanzien sind die häufigsten erworbenen Inhibitoren und gehören wie die Anticardiolipin-Antikörper zur Gruppe der Phospholipidantikörper. Leitsymptom ist eine deutlich verlängerte aPTT ohne klinische Blutungsneigung. Lupus-Antikoagulanzien ­treten u. a. bei Autoimmunerkrankungen, lymphoproliferativen Erkrankungen, Infektionen oder auch spontan auf. Im Vergleich zu erwachsenen Patienten sind tiefe Venenthrombosen durch Lupusantikoagulanzien oder Antikardiolipin-Antikörper im Kindesalter sehr selten. jjKlinik Venöse Thrombosen fallen durch Extremitätenschwellung, livide

Verfärbung der Haut oder aber durch das Vorhandensein eines ­Umgehungskreislaufs auf. Lungenembolien machen sich durch ­Tachydyspnoe, Schmerzen und Rechtsherzbelastung bemerkbar. Bei arteriellen peripheren Thrombosen sind die Pulse abgeschwächt oder nicht nachweisbar, die Haut ist blass und kühl. Ältere Kinder mit Schlaganfall zeigen je nach Ausprägung u. a. Hemiparesen, Aphasien oder sind komatös. Kinder mit Thrombosen im Bereich der ableitenden großen Hirnvenen klagen über starke Kopfschmerzen und Erbrechen; sie können Hemiparesen zeigen und ebenfalls Krampfanfälle aufweisen. Das postthrombotische Syndrom stellt auch im Kindesalter eine relevante Langzeitfolge der venösen Thrombose dar. jjDiagnose Dopplersonographie, Angio-MR und Spiral-CT sind geeignete Nachweisverfahren beim Thromboseverdacht im Kindesalter. jjTherapie Die Akuttherapie einer Thrombose im Kindesalter richtet sich nach dem Alter der Thrombose, der Schwere der Grunderkrankung und nach der Lokalisation des Gefäßverschlusses (. Tab. 23.19). Bei frischen venösen oder arteriellen Thrombosen mit vitaler Bedrohung des Patienten (drohender Extremitäten- oder Organverlust) können eine Thrombolysetherapie (rekombinanter „tissue-type“-Plasminogenaktivator, rt-PA oder Urokinase) oder eine interventionelle Thrombektomie diskutiert werden. Bei älteren Thrombosen oder nicht vital bedrohlichen Ereignissen wird in der Regel zunächst ­heparinisiert. Nach der Akutphase schließt sich eine sekundäre Thromboseprophylaxe an, die mit niedermolekularem Heparin oder einem Vitamin-K-Antagonisten je nach Ausdehnung und Schwere der ­initialen Thrombose und den zugrunde liegenden prothrombotischen Risikofaktoren über 3–6 Monate oder länger (z. B. bei thrombophilen Kombinationsdefekten oder einer Rezidivthrombose) durchgeführt werden muss. Bei arteriellen Thrombosen ist eine Prophylaxe mit ASS, ggf. in Kombination mit Clopidogrel sinnvoll.

23

570

M. Lauten et al.

..Tab. 23.19  Thrombosetherapie in Abhängigkeit von der Thromboselokalisation Diagnose Sinusvenenthrombose

Hirninfarkt

Unilaterale Nierenvenenthrombose

Therapie Ohne Begleitblutung

NMH therapeutische Dosis oder UFH therapeutisch

Mit relevanter Begleitblutung

Beginn mit low dose UFH; dann NMH therapeutisch

Ohne Begleitblutung

UFH oder NMH therapeutisch oder ASS; ggf. Lyse

Mit Begleitblutung

Keine Antikoagulation oder UFH low dose, später ASS

Ausnahme: neonatal

Meist keine Antikoagulation notwendig

Ohne Cavathrombose

UFH oder NHM in therapeutischer Dosis

Mit Cavathrombose

UFH oder NHM in therapeutischer Dosis, ggf. Lyse

Bilaterale Nierenvenenthrombose

Lyse oder UFH oder NHM in therapeutischer Dosis

Venöse Thrombose

UFH oder NHM in therapeutischer Dosis; ggf. lokale Lyse oder ­mechanische/interventionelle Thrombektomie

Arterielle Thrombosen

Lyse; UFH oder NHM in therapeutischer Dosis; ggf. Thrombektomie

Femoralarterienthrombose nach Herzkatheter

UFH oder NMH therapeutisch für 24–48 h; bei fehlendem Erfolg Lyse

Intrakardiale Thromben

UFH oder NHM in therapeutischer Dosis; ggf. Lyse oder Thrombektomie

Thromben in aortopulmonalen Shunts

UFH oder NHM in therapeutischer Dosis; ggf. Lyse oder operative Revision

Lungenembolie

UFH oder NHM in therapeutischer Dosis; ggf. Lyse oder Thrombektomie

ASS Acetylsalicylsäure, NMH niedermolekulares Heparin, UFH unfraktioniertes Heparin

23

571

Onkologie G. Henze, T. Klingebiel, S. Rutkowski, P.G. Schlegel

24.1

Leukämien  – 572

24.2

Maligne Lymphome  – 577

24.2.1 Non-Hodgkin-Lymphome  – 577 24.2.2 Morbus Hodgkin  – 578

24.3

Solide Tumoren  – 579

24.3.1 Neuroblastom  – 579 24.3.2 Weichteilsarkome (insbesondere ­Rhabdomyosarkome)  – 582 24.3.3 24.3.4 24.3.5 24.3.6 24.3.7 24.3.8

Nephroblastom (Wilms-Tumor)  – 584 Maligne Tumoren der Leber  – 586 Osteosarkom  – 587 Ewing-Sarkom  – 588 Keimzelltumoren  – 589 Retinoblastom  – 590

24.4

Hirntumoren  – 591

24.5

Stammzelltherapie  – 598

24.5.1 24.5.2 24.5.3 24.5.4 24.5.5 24.5.6

Grundlagen  – 598 Phasen einer Transplantation  – 599 Indikationen im Kindesalter  – 600 Frühe Komplikationen  – 601 Späte Komplikationen  – 603 Neue Ansätze  – 604

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_24

24

572

G. Henze et al.

24.1

Leukämien

G. Henze j jGrundlagen Leukämien sind Erkrankungen des Knochenmarks. Der Name Leukämie bedeutet „weißes Blut“ und wurde etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Rudolf Virchow geprägt. Pathogenetisch liegt den Leukämien eine ungehemmte klonale Proliferation genetisch abnormer hämatopoetischer Vorläuferzellen zu Grunde. Je nachdem, ob es sich um lymphatische oder myeloische Vorläuferzellen handelt, werden Leukämien in lymphoblastische (oder auch lymphatische) und myeloische eingeteilt. Die Leukämiezellen verdrängen die normale Hämatopoese und führen zu einer funktionellen Knochenmarkinsuffizienz. j jEpidemiologie Nach Daten des Deutschen Kinderkrebsregisters erkranken In Deutschland, wie in anderen Industrieländern der Welt, jährlich etwa 5–6 pro 100.000, d. h. insgesamt ca. 750–800 Kinder und Jugendliche an Leukämien.

..Abb. 24.1  ALL Typ FAB L1. Praktisch vollständige Metaplasie des Knochen­marks durch morphologisch uniforme Zellen mit großem Kern und schmalem Zytoplasmasaum

>> Im Kindes- und Jugendalter kommen fast ausschließlich akute Leukämien vor.

Die häufigste akute Leukämie ist mit 80% die akute lymphoblastische Leukämie (ALL); etwa 15% sind akute myeloische Leukämien (AML). Der Altersgipfel der Erkrankungshäufigkeit liegt bei der ALL zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr. Jungen erkranken etwa 1,3bis 1,5-mal häufiger als Mädchen. Durchschnittlich etwas älter sind Kinder mit einer AML. Chronische Leukämien sind bei Kindern ausgesprochen selten. Es handelt sich entweder um die chronische myeloische Leukämie (CML) vom Erwachsenentyp oder um die „juvenile CML“, heute aber besser als juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML) bezeichnet. >> Die chronische lymphatische Leukämie gibt es bei Kindern nicht.

Unbehandelt sterben Kinder mit einer akuten Leukämie innerhalb weniger Wochen bis Monate. Patienten mit einer chronischen Leukämie können auch ohne Behandlung Monate bis Jahre überleben. j jPrädisponierende Faktoren Prädisponierende Faktoren für das Auftreten einer Leukämie sind angeborene oder erworbene Störungen des Immunsystems, wie z. B. Ataxia teleangiectatica (Louis-Bar-Syndrom), Bloom-Syndrom, Agammaglobulinämie, schwerer kombinierter Immundefekt, Common-variable-Immundefekt und Wiskott-Aldrich-Syndrom. Deutlich häufiger als andere Kinder erkranken auch solche mit chro­ mosomalen Störungen, wie z. B. mit Down-Syndrom, FanconiAnämie und Krankheiten, bei denen DNA-Reparaturprozesse ­beeinträchtigt sind. Für eine genetische Komponente bei der Leukämieentstehung spricht auch die Tatsache, dass das relative Erkrankungsrisiko bei monozygoten Zwillingen wesentlich höher ist als bei Geschwistern eines leukämiekranken Kindes. Die Wahrscheinlichkeit einer Leukämieerkrankung beträgt bei unter 5 Jahre alten eineiigen Zwillingen etwa 25%.

24

j jPathogenese Leukämien entstehen durch ein Zusammenwirken von genetischen, immunologischen und wachstumsregulierenden Vorgängen, beeinflusst von Umgebungsfaktoren. Unklar ist aber, wie der Prozess der klonalen Proliferation der Leukämiezellen zustande kommt.

..Abb. 24.2  Akute Leukämie vom Burkitt-Typ (FAB L3). Die „reifen“ B-Zellen sind bereits zur Produktion von Oberflächenimmunglobulinen befähigt. Die Leukämiezellen sind groß, haben ein stark basophiles Zytoplasma, deutlich sichtbare Nukleolen und meist zahlreiche Vakuolen

jjKlassifizierung Die einfachste Methode zur Klassifizierung der Leukämien ist die Zytomorphologie. Blut- oder Knochenmarkausstriche werden nach panoptischer Färbung (zumeist nach Wright) im Lichtmikroskop beurteilt. Nach der French-American-British (FAB)-Klassifizierung wird die ALL in die Typen FAB L1–L3 eingeteilt. Beim Typ FAB L3 handelt es sich um eine „reife“ B-Zellneoplsie, die nach der neuen ­Klassifikation nicht mehr als lymphoblastisch sondern als akute ­Leukämie vom Burkitt-Typ bezeichnet wird und einer vollkommen anderen Behandlung bedarf (. Abb. 24.1 und . Abb. 24.2). Die AML wird in die Typen FAB M0–M7 eingeteilt. Diese Ein­ teilung orientiert sich an den Reifungsstufen der normalen Knochenmarkzellen (. Abb. 24.1, . Abb. 24.3 und . Abb. 24.4). >> Leukämien sind klonale Erkrankungen. Bei bestimmten Leukämien lassen sich spezifische zytogenetische oder molekulargenetische Veränderungen nachweisen.

Zytochemie  Zusätzlich zur panoptischen Färbung können zyto-

chemische Färbungen für die diagnostische Einordnung hilfreich sein. Bei der ALL sind die Perjodsäure-Schiff (PAS)- und die Saure-

573 Onkologie

..Tab. 24.1  FAB-Klassifikation der AML

..Abb. 24.3  Akute myeloische Leukämie FAB M2. Die Zellen entsprechen nach ihrem Reifungsgrad myeloischen Zellen im Promyelozyten/Myelozytenstadium; vollständige Metaplasie des Knochenmarks

Klasse

Beschreibung

FAB M0

Akute Myeloblastenleukämie völlig unreif (AMbL)

FAB M1

Akute Myeloblastenleukämie (AMbL)

FAB M2

Akute Myeloblastenleukämie mit Ausreifung

FAB M3

Akute Promyelozytenleukämie mit starker Granulation (APL)

FAB M4

Akute myelomonozytäre Leukämie (AMML)

FAB M5a

Akute Monoblastenleukämie (AMoL)

FAB M5b

Akute Monoblastenleukämie mit Differenzierung

FAB M6

Erythroleukämie (EL)

FAB M7

Megakaryozytenleukämie

..Tab. 24.2  Immunologische Klassifizierung der akuten Leukä­ mien (EGIL-Klassifikation: European Group for the Immunological ­Characterization of Leukemias) Akute lymphoblastische Leukämien

..Abb. 24.4  Akute myeloische Leukämie FAB M6. Erythropoetisch differenzierte Leukämiezellen mit starken Atypien

1. B-Linien ALL

2 von 3 positiv: CD19, CD79a, CD22; meist auch TdT+, HLA-DR+ (nicht B IV)

- B I: Pro-B-ALL

Keine Expression anderer B-Zell-Differenzierungsantigene

- B II: Common ALL

CD10+

- B III: Pre-B-ALL

Zytoplasmatisches IgM+

- B IV: Mature B-AL (Burkitt-Typ)

Zytoplasmatisches oder Oberflächen-κ oder λ +

2. T-Linien ALL

Zytoplasmatisches/Membran-CD3+, meist TdT+, HLA-DR-, CD34-

- T I: Pro-T-ALL

CD7+

Phosphatase-Reaktion, bei der AML die Esterase- und Peroxidasereaktion von Bedeutung.

- T II: Pre-T-ALL

CD2 und/oder CD5 und/oder CD8+

- T III: kortikal T

CD1a+

Immunphänotypisierung  Die wichtigste Methode für die Subty-

- T IV: mature T

Membran-CD3+, CD1a-

- α/β + T-ALL (Gruppe a)

Anti-TCR α/β +

- λ/δ + T-ALL (Gruppe b)

Anti-TCR γ/δ +

3. ALL mit Expression myeloischer Antigene

My + ALL

pisierung der ALL ist die Immunphänotypisierung. Die Leukämiezellen werden mit monoklonalen Antikörpern gefärbt und im Durchflusszytometer untersucht. Auf Leukämiezellen lassen sich z. T. die gleichen Differenzierungsantigene wie auf normalen unreifen hämatopoetischen Vorläuferzellen nachweisen. Normale Reifungs- und Differenzierungsschritte finden aber bei Leukämiezellen nicht statt. Auch unterliegt die Proliferation der Leukämiezellen nicht der normalen Kontrolle durch Zytokine oder Wachstumsfaktoren. Je nach dem Reaktionsmuster mit den entsprechenden Antikörpern lassen sich die in . Tab. 24.2 aufgelisteten Untergruppen der ALL definieren. Das Spektrum der Antikörper zur Subtypisierung der AML ist deutlich geringer. Die Reaktionsmuster sind ebenfalls in . Tab. 24.2 dargestellt. jjGenetik Wesentlich für die Klassifizierung von Leukämien sind heute die Zytogenetik und Molekulargenetik. Diese Methoden liefern den Beweis dafür, dass Leukämien genetisch abnorme, klonale Erkrankungen sind. Bei definierten Subtypen der akuten Leukämien finden

Akute myeloische Leukämien 1. Myelomonozytär

≥2 positiv: Anti-MPO, CD13, CD33, CDw65 und/oder CD117

2. Erythroid (FAB M6)

Unreif: keine Marker; reif: Anti-Glykophorin A+

3. Megakaryozytär ­ (FAB M7)

CD41+ und/oder CD61+ (Membran oder zytoplasmatisch)

4. Unreif myeloisch ­ (FAB M0)

Wie myelomonozytär aber Zytochemie und lymphatische Marker CD3, CD79a, CD22 negativ

5. TdT positive AML 6. AML mit Expression lymphatischer Antigene

Ly + AML

24

574

G. Henze et al.

..Tab. 24.3  Häufige zyto- und molekulargenetische Veränderungen bei akuten Leukämien im Kindesalter Translokation

Subtyp der Leukämie

Involviertes Onkogen bzw. neues Fusionsgen

Akute lymphoblastische Leukämien Konstante Veränderungen t(8;14) Auch t(2;8), t(8;22) t(12;21) t(9;22) t(1;19) t(11;14) t(1;14) t(4;11)

Variable Veränderungen Burkitt-Typ AL und NHL B-Vorläufer ALL Ph1-positive ALL Pre-B-ALL T-ALL T-ALL Pro-B-ALL

c-myc c-myc ETV6-RUNX1 (TEL-AML1) BCR-ABL E2A-PBX1 TTG1-TTG2 TAL1/SCL-TCL5 AF4-MLL

Translokationen und Deletionen von Chromosom 12 oder 9, DNA-Aneuploidien bei 40% der ALL, Rearrangements von Immunglobulin- und T-Zellrezeptorgenen bei >90%

Akute myeloische Leukämien Konstante Veränderungen t(8;21) t(15;17) inv(16) t(6;9) t(9;11)

Variable Veränderungen FAB-M2 FAB-M3 FAB-M4 FAB-M2 oder M4 FAB-M5

AML1/ETO PML-RARα CBFβ-MVHII DEK-CAN

sich spezifische Translokationen, durch die Fusionsgene entstehen. Typische Befunde sind in . Tab. 24.3 dargestellt. Bei der CML findet man fast immer ein Philadelphia-Chromosom, entsprechend einer Translokation t(9;22), mit einem Fusionsgen, dem bcr-abl-Gen, 210 kD (M-bcr-abl) lang. Selten gibt es diese Translokation auch bei der ALL, wobei das Fusionsgen nur 180 kD lang (m-bcr-abl) ist. Die Genprodukte solcher Fusionsgene haben häufig wachstumsregulierende Funktionen. Es können dadurch aber auch Gene aktiviert, deaktiviert oder dysreguliert werden und so der Zelle ein abnormes Wachstumsverhalten verleihen. Neben diesen spezifischen Translokationen kommen in Leukämiezellen auch andere Aberrationen, wie z. B. Inversionen, Deletionen, oder auch in etwa 40% der Fälle numerische Anomalien, zum größten Teil Hyperdiploidien durch überzählige Chromosomen 21, X, 14 und 4, gelegentlich auch Hypodiploidien vor, deren Bedeutung bisher nicht eindeutig definiert ist. Zur Charakterisierung der Klonalität der Leukämiezellen dienen bei der ALL weiterhin Umordnungen (Rearrangements) von Immunglobulin- und T-Zellrezeptorgenen. Weil Leukämiezellen nicht normal sind, sind diese aber nicht linienspezifisch. Mithilfe von Amplifikationsverfahren (Polymerasekettenreaktion) können sie dazu verwendet werden, residuelle Leukämiezellen bis zu einer Verdünnung 10–5–10–6 nachzuweisen („minimal residual disease“, MRD). In den letzten Jahren sind neue genetische Veränderungen, z. B. Mutationen des IKAROS-Gens oder auch andere prognostisch ungünstige Aberrationen beschrieben worden, die u. U. Strukturen für „gezielte Therapien“ sind. j jPathophysiologie Die ungehemmte Vermehrung der Leukämiezellen führt zu einer Knochenmarkmetaplasie und damit zu einer Verdrängung der ­normalen Hämatopoese, also einer funktionellen Knochenmarkinsuffizienz. Aber auch andere Organe werden von Leukämiezellen infiltriert.

24

jjKlinik Erste, uncharakteristische Symptome, wie Mattigkeit und Spielunlust treten bei akuten Leukämien nach einer kurzen, etwa 2–6 Wochen dauernden Anamnese auf. Die Leitsymptome sind:

Deletionen von Chromosom 7, Trisomie 8

44 Blässe, 44 Blutungsneigung (Hämatome und Petechien) und 44 Fieber. Sie entstehen durch die Verdrängung der normalen Blutbildung im Knochenmark. Das Ausmaß der durch die Beeinträchtigung­ der Blutbildung verursachten Symptome ist variabel. Ein weiteres wichtiges und oft übersehenes oder fehlgedeutetes Symptom sind Knochenschmerzen. Bei der körperlichen Untersuchung findet sich eine deutliche Schwellung der Lymphknoten (>3 cm) bei knapp 20%, eine Hepatosplenomegalie bei etwa 60% und eine Vergrößerung des Thymus bei etwa 7% der Kinder. Eine durch Leukämiezellen verursachte L­ iquorpleozytose, anfangs meist ohne Symptome, ist bei ca. 3% ­aller Kinder mit einer ALL nachweisbar. Leukämische Haut- oder Gingivainfiltrate sind selten, man findet sie eher bei myeloischen Leukämien. Bei sehr hohen Leukozytenzahlen, wie z. B. bei der CML, kann bei Jungen einmal ein Priapismus auftreten. Bei der CML findet sich auch meist eine ausgeprägte Splenomegalie. >> An das Vorliegen einer JMML ist besonders bei Kindern im ­ 1. und 2. Lebensjahr zu denken, wenn Hautinfiltrate, Hämorrhagien und eine Hepatosplenomegalie bestehen.

jjDiagnostik Blutbild  Nach der Erhebung einer ausführlichen Anamnese und der körperlichen Untersuchung ist die Diagnose meist durch das Blutbild zu stellen. Essenzielle Parameter sind: 44 Hämoglobinkonzentration, 44 Erythrozytenzahl, 44 Leukozytenzahl, 44 Thrombozytenzahl, 44 Retikulozytenzahl, 44 Differenzialblutbild. Die Befunde sind variabel. Eine normochrome Anämie mit HbWerten unter 10 g/dl besteht bei etwa 80% aller Patienten. Selten liegt eine hochgradige Anämie vor. Meistens besteht auch eine Neu-

575 Onkologie

tro- und Thrombozytopenie, seltener dagegen eine hohe Leuko­

zytose. Im Median liegt die initiale Leukozytenzahl bei 10.000/µl. Anhand der Leukozytenzahl allein lässt sich also eine Leukämie beim Kind nicht ausschließen. Auch die automatisierte Differenzialblutbilddiagnostik ist nicht ausreichend, es muss eine manuelle, ­mikroskopische Beurteilung erfolgen. Bei Kindern mit einer CML findet man in der chronischen Phase eine erhöhte Proliferation aller Zellstränge mit einer Vermehrung von eosinophilen und basophilen Granulozyten. Das Blutbild sieht ähnlich aus wie das Knochenmark. Beim Übergang in einen Blastenschub steigt der Anteil von Blasten (unreife Leukämiezellen) an, und es kommt schließlich zu einer hämatopoetischen Insuffizienz wie bei den akuten Leukämien. Die Blasten können dabei einen myeloischen oder auch einen lymphatischen Phänotyp aufweisen. Die Abgrenzung gegen die ALL ist nur durch die Kenntnis der Anamnese und ggf. durch den Nachweis des Philadelphia-Chromosoms, bzw. des M-BCR-ABL-Fusionsgens, möglich. Knochenmarkpunktion  Beweisend für die Diagnose ist die Kno-

chenmarkpunktion. Sie wird bei Kindern meist am hinteren Beckenkamm durchgeführt. Außer für die morphologische Diagnostik wird Knochenmark für andere spezielle Untersuchungen entnommen. Bei Kindern mit einer ALL findet sich eine über 80%ige Metaplasie mit Leukämiezellen bei einer funktionell weitgehend erloschenen normalen Hämatopoese. Schwieriger ist die Beurteilung des Knochenmarks bei myeloischen Leukämien, insbesondere bei den differenzierteren Formen, da die Leukämiezellen morphologisch nicht eindeutig von normalen hämatopoetischen Vorläuferzellen zu unterscheiden sind. Typisch sind aber die Monomorphie des Zellbilds und das Fehlen oder die Verminderung von Erythro- und Megakaryozytopoese. Bei Erythroleukämien ist die Erythropoese dysplastisch und deutlich von der normalen roten Blutbildung zu unterscheiden. Zur Initialdiagnostik gehört weiterhin eine Lumbalpunktion, die nur durch einen erfahrenen Untersucher erfolgen darf. Ein Befall des ZNS wird diagnostiziert, wenn im Liquor mindestens 5 Zellen/ mm3 nachweisbar sind, die mikroskopisch als leukämische Blasten imponieren. >> Die Diagnose wird durch die Knochenmarkpunktion gestellt; auch eine Lumbalpunktion ist stets erforderlich.

jjDifferenzialdiagnose Reaktive Leukozytosen z. B. bei Infektionen können das Bild einer Leukämie vortäuschen. Besonders ist die infektiöse Mononukleose zu erwähnen, bei der neben vergrößerten Lymphknoten und einer Hepatosplenomegalie auch eine Immunthrombozytopenie mit ­hämorrhagischer Diathese bestehen kann. Lymphozytosen bis zu 100.000/µl, allerdings mit reifen Lymphozyten und ohne Zeichen einer hämatopoetischen Insuffizienz, gibt es auch bei der Pertussis und bei der infektiösen Lymphozytose. Bei Leukämien mit besonders niedriger Leukozytenzahl ist immer eine Knochenmarkpunktion zur Abgrenzung von der schweren aplastischen Anämie erforderlich. Knochenschmerzen, die oft ein wesentliches Symptom der Leukämie darstellen, führen häufig zunächst zur Fehldiagnose einer rheumatoiden Arthritis. Eine rasche Klärung ist durch eine sorgfältige körperliche Untersuchung und ein Blutbild möglich. >> Knochenschmerzen sind häufig und werden oft als „Rheuma“ fehlgedeutet.

Weitere klinische Differenzialdiagnosen sind Infektionskrank­heiten, wie die Toxoplasmose, Zytomegalie oder auch Adenovirusinfektio-

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nen, sowie bei Säuglingen und Kleinkindern die Langerhans-­ZellHistiozytose und bei älteren Kindern maligne Non-Hodgkin-­ Lymphome oder der Morbus Hodgkin. Bei der Knochenmarkdiagnostik können andere metaplastische Knochenmarkveränderungen, z. B. durch metastasierende Tumoren (Neuroblastome, Rhabdomyosarkome, Ewing-Sarkome, noch seltener durch Medullo- oder Retinoblastome) Anlass zur Verwechslung mit einer Leukämie geben. jjTherapie der akuten Leukämien >> Unabdingbare Voraussetzung für die Wahl der Therapie ist eine korrekte Diagnose.

Die Behandlung erfolgt entsprechend der Art und dem Subtyp­ der Leukämie und außerdem adaptiert an das Rückfallrisiko des ­Patienten. In Deutschland werden nahezu alle Patienten im Rahmen von multizentrischen, kooperativen Studien behandelt. Für die Behandlung der ALL existieren 2 Studiengruppen, die Berlin-FrankfurtMünster (BFM)-Gruppe, die eng mit der italienischen AIEOPGruppe kooperiert, und die Hamburger COALL-Studiengruppe. Kinder mit einer AML werden nach Protokollen der BFM-Gruppe behandelt. Die Behandlung gliedert sich in mehrere Phasen. Induktionstherapie  Erstes Ziel ist es, durch eine etwa 5 Wochen dauernde Induktionstherapie eine Remission zu induzieren, d. h.

eine Wiederherstellung der normalen Blutbildung im Knochenmark durch die Elimination der Leukämiezellen. In Deutschland werden bei der ALL dazu 4 Medikamente (Prednison, Vincristin, Daunorubicin und l-Asparaginase) verwendet. Damit lässt sich bei 98% der Kinder eine Remission erreichen. Die normale Blutbildung setzt nach etwa 14 Tagen wieder ein. Bei der AML wird eine noch intensivere Induktionstherapie durchgeführt. Sie besteht in Deutschland aus der Kombination von Cytosin-Arabinosid, einem Anthrazyklin (Idarubicin oder liposomalem Daunorubicin) und Etoposid. Diese Medikamente werden über einen Zeitraum von 8 Tagen verabreicht. Die Remissionsrate liegt damit bei etwa 90%, und die Zeit bis zur Regeneration der ­normalen Knochenmarkfunktion beträgt etwa 3 Wochen.

Weitere Therapie  Nach der Induktionstherapie wird die Be­

handlung mit verschiedenen Therapieelementen (Konsolidierung, präventive Behandlung des Zentralnervensystems, Reinduktion) fortgesetzt. Eine präventive Behandlung des Zentralnervensystems (ZNS) ist wegen des klinisch inapparenten Befalls der Meningen zur Verhütung eines ZNS-Rezidivs stets erforderlich. Ohne eine präventive Behandlung treten ZNS-Rezidive bei etwa 50% aller Patienten auf. Statt der früher obligaten Bestrahlung wird heute eine Kombination aus intrathekalem und hoch dosiertem, systemisch verabreichtem Methotrexat (MTX). So lassen sich Langzeitfolgen am ZNS und auch die Entstehung von Hirntumoren als strahleninduzierte Zweitneoplasien vermeiden. Bei der AML erfolgt die präventive ZNS-Behandlung ebenfalls medikamentös ohne Bestrahlung. An die intensiveren Behandlungsphasen während etwa des ersten halben Jahres schließt sich die remissionserhaltende Dauertherapie, bei der ALL bis zu einer Gesamtdauer von mindestens 2 Jahren an. Wesentliche Medikamente während dieser Behandlungsphase sind Antimetabolite, bei der ALL 6-Mercaptopurin täglich und MTX 1-mal wöchentlich oral. Bei der AML werden nach dem Erreichen der Remission 3–4 weitere intensive Chemotherapieblöcke verab-

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G. Henze et al.

reicht. Die Dauertherapie wird diskutiert, ist aber in den meisten internationalen Protokollen nicht vorgesehen. Bei der AML FAB-M3 ist der aktuelle Standard die Kombination von Chemotherapie mit All-trans-Retinsäure (ATRA). Diskutiert wird bei Patienten mit niedrigem Risiko der Verzicht auf Chemo­ therapie zugunsten einer Kombination von ATRA mit Arsentrioxid. >> Die Behandlung erfolgt in mehreren Phasen. Eine präventive Behandlung des Zentralnervensystems ist zur Verhütung von ZNS-Rezidiven erforderlich.

Prognose bei akuten Leukämien  Prognosefaktoren erlauben eine

Abschätzung des individuellen Rezidivrisikos eines Patienten und werden zur Therapiestratifizierung verwendet. Wichtige Prognosefaktoren bei der ALL sind die Leukozytenzahl im Blut, das Alter, der immunologische Subtyp, der initial erkennbare Befall des Zentralnervensystems, der Nachweis eines Philadelphia-Chromosoms oder der Translokation t (4;11), die häufig bei Säuglingen zu finden ist. Bei der AML gelten als prognostisch ungünstig ein komplexer Karyotyp sowie auch verschiedene Translokationen eine Hyperleukozytose (>100.000/µl) und der Subtyp FAB-M5. Diese Kinder sind stark durch Hirnblutungen während der Induktionstherapie gefährdet, sie erleiden auch häufiger als andere Rezidive. >> Als wesentlicher und übergeordneter Prognosefaktor hat sich das frühe Ansprechen auf die Therapie erwiesen.

Ein sehr sensitives Verfahren zur Messung des Ansprechens auf die Therapie ist bei der ALL der Nachweis von residuellen Leukämiezellen („minimal residual disease“, MRD) im Knochenmark mit molekulargenetischen Methoden oder mit Hilfe der Durchfluss­ zytometrie. Das Ansprechen auf die Therapie dient heute in nahezu allen Studien als wichtigstes Stratifizierungsmerkmal für die Wahl der individuell erforderlichen Behandlungsintensität. Bei der AML wird das Ansprechen auf die Therapie morphologisch anhand des Knochenmarkbefunds am Tag 15 ermittelt. Aber auch molekulargenetische und durchflusszytometrische Verfahren werden zunehmend verwendet. >> Die Behandlung erfolgt risikoadaptiert im Rahmen von ­kooperativen Therapiestudien. Frühes Ansprechen auf die Therapie signalisiert eine günstige Prognose.

Komplikationen der Therapie   Die intensive Behandlung der aku-

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ten Leukämien bei Kindern bedingt ein breites Spektrum von möglichen Nebenwirkungen und Komplikationen. Zu unterscheiden ist zwischen akuten Nebenwirkungen, die während der Therapie auftreten, und Spätfolgen, die u. U. erst Jahre nach der erfolgreichen Behandlung der Leukämie manifest werden. Fast immer führt die zytostatische Therapie zu einer Alopezie. Durch die bei der ALL-Behandlung langfristige Verabreichung von Glukokortikoiden, stellt sich vorübergehend ein Cushing-Syndrom ein. Bei Kindern mit sehr hoher Leukämiezellmasse (hohe Leukozytenzahl, starke Organvergrößerung) kann es bei raschem Ansprechen auf die Therapie zu einem Tumorlysesyndrom mit Elektrolyt­ entgleisungen und Nierenversagen kommen. Bei diesen Patienten muss die Therapie behutsam eingeleitet werden. Wegen des Risikos für das Auftreten einer Uratnephropathie ist auf eine ausreichende Hydrierung zu achten und ggf. Uratoxidase zu verabreichen. Bei Kindern mit einer AML und Hyperleukozytose (>100.000/µl) kann es durch die Freisetzung von proteolytischen Enzymen aus den Leukämiezellen zu schweren Blutgerinnungsstörungen und Blutungs-

komplikationen kommen. Zur Vermeidung solcher Komplikationen muss u. U. ein Blutaustausch erfolgen, um die Leukozytenzahl zu senken. !! Cave Sowohl die Verabreichung von Glukokortikoiden als auch die kombinierte zytostatische Therapie führen zu einer schweren Immunsuppression, die die Patienten während der gesamten Dauer der Behandlung gefährdet.

Am Anfang der Behandlung sind die Kinder besonders von bakteriellen Infektionen, meist verursacht durch endogene Darmbakte­ rien, bedroht. Begünstigend ist die in dieser Anfangsphase beste­ hende funktionelle Knochenmarkinsuffizienz (Agranulozytose), den ­starken Appetit, verursacht durch die Glukokortikoide, die durch Vincristin bedingte verringerte Motilität des Darms (Obstipation) und die u. U. durch Daunorubicin verursachten Schleimhautläsionen. Ein weiterer Schrittmacher für die vom Darm ausgehenden Infektionen ist die durch l-Asparaginase verursachte exokrine ­Pankreasinsuffizienz. Da l-Asparaginase auch die endokrine Pankreasfunktion be­ einträchtigt, kommt es infolge der gleichzeitigen Gabe von Glukokortikoiden nicht selten zu einer insulinpflichtigen diabetischen Stoffwechsellage. Eine weitere Nebenwirkung von l-Asparaginase ist eine Synthesestörung von Gerinnungsfaktoren, die entweder zu Blutungskomplikationen (Hypofibrinogenämie) oder auch zu thrombembolischen Komplikationen (AT-III-Mangel) führen kann, besonders dann, wenn außerdem eine Thrombophilie besteht. Das Auftreten von Blutungskomplikationen wird durch eine gleich­ zeitig bestehende Thrombozytopenie begünstigt. Mit zunehmender Immunsuppression steigt das Risiko für das Auftreten von Infektionen mit opportunistischen Erregern, wie z. B. Pneumocystis jiroveci (früher: carinii) oder auch Viren der Herpesgruppe. Zu den schweren, durch die langfristige Immunsuppression bedingten Komplikationen gehören auch Pilzinfektionen. Im Rahmen der hochdosierten Methotrexattherapie kann es zu Nierenfunktionsstörungen mit verzögerter MTX-Ausscheidung kommen. Diese Behandlung muss daher genau überwacht werden. Insbesondere ist auf die zeitgerechte Gabe des Antidots, Kalziumfolinat, zu achten, weil es sonst bei den verabreichten Dosen zu einer letalen MTX-Toxizität kommen würde. Sowohl während der MTXals auch während der l-Asparaginasetherapie können zerebrale Krampfanfälle auftreten, die aber meist ohne bleibende Folgen sind. >> Nur durch eine parallel zur zytostatischen Therapie durchgeführte Supportivtherapie und durch ein gut ausgebildetes und erfahrenes Behandlungsteam lässt sich das Risiko für das Auftreten von schweren oder gar lebensbedrohlichen Komplikationen angemessen begrenzen.

Mit adäquater unterstützender Behandlung, insbesondere auch der rechtzeitigen präventiven Gabe von gut wirksamen Antiemetika und ggf. auch Analgetika, ist die Therapie aber relativ gut durchführbar und für die Kinder erträglich. Die früher hohe therapieassoziierte Letalität ließ sich trotz zunehmender Intensität der Behandlung bei der ALL auf etwa 1–2% und bei der AML auf 5–10% senken. jjTherapie der chronischen Leukämien Juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML)  Die einzige kurative Therapie ist derzeit die allogene Stammzelltransplantation. Chronische myeloische Leukämie vom Erwachsenentyp  Mit der Chemotherapie lässt sich lediglich eine Reduktion der Zellzahl erreichen. Verwendet werden Hydroxyharnstoff, Busulfan, Melphalan

577 Onkologie

oder Triethylenmelamin. Eine neue Dimension hat die Einführung der Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI) eröffnet, die die BCR-ABLkodierte Tyrosinkinase hemmen und mit denen sogar molekulare Remissionen erreichbar sind. Bereits initial wird der relativ nebenwirkungsarme TKI Imatinib eingesetzt. Bei einem Blastenschub­ mit myeloischem Phänotyp sollte eine Behandlung wie bei der­ AML durchgeführt werden, bei lymphatischem Phänotyp eine ALLTherapie. Die Indikation zur allogenen Stammzelltransplantation, früher der einzigen kurativen Therapie, wird heute durch die Therapie­ möglichkeit mit TKI zurückhaltend gestellt. jjPrognose Überlebenswahrscheinlichkeit  Mit den heute verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten bleiben nach einmaliger Therapie etwa 80–85% aller Kinder mit einer ALL in anhaltender Remission; bei der AML sind es etwa 70–75%. Rezidiv  Bei etwa 15% der ALL- und 30% der AML-Patienten

kommt es zu einem Rezidiv, d. h. zum Wiederauftreten der Leukämie an irgendeinem Ort. Am häufigsten treten Rezidive im Knochenmark auf. Sie können sich aber auch an anderen Organen, wie im ZNS, bei Jungen im Hoden oder auch an der Haut oder in Lymphknoten manifestieren.

>> Die Diagnose eines Rezidivs muss zweifelsfrei sein. Es muss in jedem Fall eine Sicherung durch eine Biopsie an geeigneter Stelle erfolgen.

Auch nach einem Rezidiv ist oft noch eine kurative Behandlung möglich. Einige Kinder sind mit erneuter Chemotherapie heilbar, bei anderen, insbesondere bei früh auftretenden ALL-Knochenmark- und AML-Rezidiven, ist eine allogene Stammzelltransplantation erforderlich. Immerhin überleben nach einem ALL-Rezidiv etwa 50%, bei der AML etwa 20–30% der Kinder, sodass mit erfolgreicher Erst- und Zweitbehandlung insgesamt etwa 85–90% aller ALL- und 75% der AML-Patienten Langzeitüberlebende sind. Kinder mit einer JMML haben mit einer Stammzelltransplantation eine Überlebenschance von etwa 50%. Kinder mit einer CML bleiben mit der TKI-Therapie jahrelang in Remission.

normales Berufsleben zu führen. Zum Teil sind diese ehemaligen Patienten auch bereits Eltern gesunder eigener Kinder. 24.2

Maligne Lymphome

G. Henze Maligne Lymphome sind bösartige Erkrankungen des lymphatischen Systems. Etwa 60% sind Non-Hodgkin-Lymphome (NHL), bei Kindern fast immer von hoher Malignität, und 40% HodgkinLymphome (M. Hodgkin, ältere Bezeichnung auch Lymphogranulomatose). Insgesamt stellen sie etwa 13% aller Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen dar. 24.2.1

Non-Hodgkin-Lymphome

jjEpidemiologie Es erkranken in Deutschland etwa 9 pro 1 Million Kinder und Jahr. Der Altersgipfel liegt bei ca. 7 Jahren, und Jungen sind 3-mal so häufig betroffen wie Mädchen. Bei Kindern mit angeborenen oder ­erworbenen Immundefekten ist das Erkrankungsrisiko deutlich erhöht. In Äquatorialafrika ist das Epstein-Barr-Virus-assoziierte Burkitt-Lymphom die häufigste maligne Erkrankung bei Kindern. >> NHL sind bei Kindern und Jugendlichen fast immer hoch ­maligne.

jjPathogenese Bei vielen NHL der B-Zellreihe (ca. 60% der NHL) hat das EpsteinBarr-Virus eine Schrittmacherfunktion. Häufig findet sich eine c­ hromosomale Translokation, in die das c-myc-Onkogen auf ­Chromosom 8 [t(8;14)] involviert und dereguliert. Auch bei T-ZellNHL spielt EBV (oder auch andere Viren) eine Rolle. Häufig sind bei T-NHL Translokationen in der Region 14q11 und eine Einbeziehung des Proto-Onkogens bcl-2.

jjKlassifizierung Die Einteilung der NHL erfolgt nach Kriterien, die die Analogie zwiSpätfolgen der Behandlung  Möglich sind organbezogene schen der Lymphomzelle und der korrespondierenden normalen Spätfolgen (kardiologische, endokrinologische, hepatische und Zelle des Immunsystems (B-, T- und großzellig-anaplastische NHL) ­ zentralnervöse, letztere nach dem Wegfall der Strahlentherapie sel- und den Reifegrad (unreif oder Präkursor und reif oder periphere ten). Eine gravierende und besonders bei über 10-jährigen Mädchen Vorläufer) berücksichtigen. B-NHL sind überwiegend reife Neoplahäufige Spätfolge ist die avaskuläre Knochennekrose, meist des Hüft- sien, die bereits zur Immunglobulinsynthese und -sekretion befähigt sind, während T-NHL in der Mehrzahl lymphoblastische, also Präkopfs. Nach einer AML-Behandlung kann es infolge der hohen kumu- kursor-NHL darstellen. Großzellig-anaplastische NHL („anaplastic lativ verabreichten Anthrazyklindosen zu einer dilatativen Kardio- large cell lymphoma“, ALCL) sind relativ selten, exprimieren meist myopathie kommen, die u. U. zu einer akuten Myokardinsuffizienz neben T-Zellmarkern das Oberflächenantigen CD30 (syn. Ki-1), führt. Latente Kardiomyopathien sind bei einem Teil der AML-­ und es ist häufig eine Translokation t(2;5), ALK/NPM-Fusion („anaplastic lymphoma kinase/nucleophosmin“) nachweisbar. Patienten nachweisbar, klinisch manifeste aber selten. Das Risiko für das Auftreten einer Sekundärneoplasie ist gegenüber der Normalbevölkerung erhöht. Kumulativ liegt es nach jjKlinik 15 Jahren bei einer medianen Beobachtungsdauer der Patienten von B-Zelllymphome sind überwiegend in der Ileozökalregion lokali5,7 Jahren (1,5–18 Jahre) bei 3,6%. Die erhöhte Inzidenz von Sekun- siert und führen zu einer Raumforderung, manchmal Schmerzen, därneoplasien ist partiell auf die Behandlung aber wohl auch auf Aszites oder einem Ileus. Sie können auch zervikal oder an anderen andere Faktoren, wie z. B. eine erhöhte genetisch bedingte Prädispo- Orten auftreten. Bei Kindern mit T-NHL findet man meist einen sition, zurückzuführen. Tumor im oberen vorderen Mediastinum (Thymus), oft mit begleiIm Allgemeinen haben Kinder, die von ihrer Leukämie geheilt tendem Pleuraerguss. Sind die Trachea oder die Bronchien komprisind, eine erfreulich normale Lebensqualität. Im täglichen Leben miert so kommt es zu stridoröser Atmung und Luftnot, die lebenssind sie meist nicht erkennbar beeinträchtigt. Zahlreiche Patienten bedrohend sein kann. Bei diesen Kindern besteht ein erhebliches befinden sich bereits im Erwachsenenalter und sind in der Lage, ein Narkoserisiko.

24

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G. Henze et al.

Sowohl B- als auch T-NHL breiten sich rasch hämatogen aus und führen so zur Dissemination mit Infiltration verschiedener Organe (Lymphknoten, Leber, Milz, Nieren) und auch des Knochenmarks (KM). Bei einer KM-Infiltration von mindestens 25% spricht man definitionsgemäß von einer Leukämie. Auch ein Befall des Zentralnervensystems ist nicht selten. ALCL haben keine ausgesprochenen Prädilektionsorte, und ihre Tendenz zur Dissemination ist geringer. jjDiagnose Die Diagnose wird durch die immunhistochemische Unter­suchung eines an geeigneter Stelle entnommenen Biopsats oder – bei Vor­ liegen eines Pleuraergusses, eines Aszites oder einer Knochenmark­ infiltration – durch die immunzytologische Untersuchung des frisch aufgearbeiteten Materials gestellt. Eine Knochenmark- und Lumbalpunktion ist obligat. jjDifferenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch sind der M. Hodgkin und reaktive Lymphknotenschwellungen, wie z. B. bei infektiöser Mononukleose, abzugrenzen. jjTherapie Die Behandlung der hoch malignen lymphatischen Neoplasien ­besteht aus einer intensiven Kombinationschemotherapie. Sie ­erfolgt entsprechend dem immunologischen Subtyp und dem Ausbreitungsstadium, entweder nach Murphy oder aktueller dem Internationalen Pädiatrischen NHL Staging System (IPNHLSS). Die ­Behandlung der lymphoblastischen T-und B-NHL ist weitgehend identisch mit der der ALL. Reife B-NHL bedürfen einer völlig anderen, sehr intensiven und toxischen Chemotherapie. ALCL werden ähnlich wie B-NHL behandelt. Eine Strahlentherapie ist meist nicht erforderlich, eine präventive ZNS-Behandlung aber obligat.

wird nur von wenigen Tumorzellen (etwa 1% sind Hodgkin- und Reed-Sternberg-Zellen) und ganz überwiegend von normalen, unter dem Einfluss von Zytokinen eingewanderten Lymphozyten verursacht. Die Reed-Sternberg-Zelle ist groß und mehrkernig (Riesenzelle) und meist klonal aus einer B-Zelle entstanden. Sie exprimieren das Oberflächenantigen CD30. jjKlassifizierung Die WHO-Klassifikation unterscheidet 4 histologische Subtypen. Am häufigsten ist die noduläre Sklerose (2 Malignitätsgrade), gefolgt von der gemischten Zellularität und deutlich seltener der lymphozytenreichen und lymphozytenarmen Form. Eine besonders gutartige Form ist das noduläre, lymphozytenprädominante Hodgkin-Lymphom (Paragranulom). jjKlinik Am häufigsten findet man eine schmerzlose Schwellung mehrerer zervikaler Lymphknoten Der Tastbefund lässt sich mit dem von „Nüssen im Sack“ vergleichen. Oft sind außerdem mediastinale Lymphknoten befallen, röntgenologisch als Mediastinalverbreiterung (nicht wie beim T-NHL im vorderen oberen Mediastinum) erkennbar. Auch abdominelle oder extralymphatische Organe können befallen sein.

jjStadieneinteilung Die Stadieneinteilung (Ann-Arbor-Klassifikation) ist beim­ M. Hodgkin von besonderer Bedeutung, weil die Ausbreitung lymphogen (von Station zu Station) erfolgt. Da befallene Regionen bei unzureichendem Ansprechen auf die Therapie bestrahlt werden müssen, ist eine exakte Festlegung des Stadiums bereits bei der ­Diagnosestellung unerlässlich. Sind 2 oder mehr Lymphknotenstationen auf derselben Seite des Zwerchfells betroffen, so liegt ein Stadium II vor. Bei einem Befall !! Cave auf beiden Seiten des Zwerchfells wird ein Stadium III diagnos­ Besonders bei den rasch proliferierenden B-NHL mit hohem tiziert. Sind extralymphatische Strukturen (z. B. Knochenmark, Zellumsatz kann es durch den starken therapieinduzierten Lunge, Leber) ausgedehnt befallen, so handelt es sich um ein Sta­ Zellzerfall zu einem Tumorlysesyndrom mit Entgleisungen im dium IV. Liegt lediglich eine angrenzende Infiltration extralym­ Wasser- und Elektrolythaushalt und Nierenversagen kommen. phatischer Strukturen vor, so fügt man dem Stadium das Suffix E Die Behandlung muss daher in spezialisierten Zentren erfolgen, in (z. B. IIE) hinzu. Ist beim Stadium III die Milz befallen, so bezeichnet denen man diese Komplikationen kennt und darauf eingerichtet ist. man das Stadium als IIIS. Zusätzlich wird zwischen A- und B-Sta­ dien unterschieden. Ein B-Stadium wird diagnostiziert, wenn Allgej jPrognose meinsymptome wie Fieber (>38,5°) und/oder Gewichtsverlust Mit entsprechender Therapie können etwa 90% aller Kinder mit­ (>10% des Körpergewichts) und/oder Nachtschweiß bestehen. B- und T-NHL geheilt werden. Wenn Rezidive auftreten, so geschieht dies früh, bei B-NHL meist innerhalb des ersten Jahres nach jjDiagnose Diagnosestellung. Die Erfolgsaussichten einer kurativen Behand- Die Diagnose wird durch die immunhistochemische Unter­suchung lung nach einem Rezidiv sind ausgesprochen schlecht. eines an geeigneter Stelle entnommenen Lymphknotens gestellt. Für die Festlegung des Stadiums werden bildgebende Verfahren (MRT, CT, Sonographie und Positronenemissionstomographie mit 18Fluor24.2.2 Morbus Hodgkin desoxyglukose (FDG-PET) verwendet. j jEpidemiologie Der M. Hodgkin ist bei Kindern und Jugendlichen etwas seltener als die NHL. Bei Kleinkindern ( Bei Kindern jenseits des 6. Lebensmonats ist das Ziel der ­Diagnostik, die Therapie ohne histologische Sicherung beginnen zu können. Dazu sind eine sorgfältige Aufarbeitung der diagnostischen Bildgebung und eine sichere Abgrenzung gegenüber anderen infrage kommenden Bauchtumoren unerlässlich

jjDifferenzialdiagnose Abzugrenzen ist der Wilms-Tumor außer von einem Neuroblastom von einem kongenitalen mesoblastischen Nephrom, einem Tumor der Perinatalperiode, der durch operative Entfernung geheilt werden kann, einem Klarzelltyp des Wilms-Tumors, der einer intensiveren Therapie bedarf, einem Rhabdoidtumor, einem bei Kindern sehr seltenen Nierenzellkarzinom und einer Nephroblastomatose, die auch beidseitig auftreten kann. jjTherapie Die Behandlung beruht auf dem Einsatz von Chemotherapie, Operation und Radiotherapie. Nach den derzeitigen Therapiestandards beginnt die Therapie nach der eindeutigen, bildgebend gestellten Diagnose mit der präoperativen Chemotherapie, die nach der Tumorentfernung postoperativ in Abhängigkeit vom lokalen Tumorstadium und von der Histologie des Tumors fortgesetzt wird. Nach der Tumorentfernung erfolgt die histologische Einordnung, die meist Einfluss auf die weitere Chemotherapie hat (. Tab. 24.8). Die Chemotherapie ist nach Dauer und Intensität stadienabhängig und bezieht die Medikamente Vincristin, Actinomycin D, Adriamycin und in höheren Stadien auch Etoposid, Carboplatin und Ifosfamid ein. Die Radiotherapie ist ebenfalls stadienabhängig und richtet sich nach Histologie und dem Stadium bei Operation. Die Dosis beträgt 15–30 Gy. jjPrognose Die Prognose ist gut. Die rezidivfreie Überlebensrate liegt­ nach 5 Jahren für alle Patienten bei 80%, in den lokoregionären Stadien I–III bei ca. 90%. jjNachsorge Ähnlich wie bei anderen Tumoren erfolgt die Nachsorge krankheitsund spätfolgenbezogen. Die kumulative Inzidenz an Zweimalignomen liegt bei 1,8% nach 20 Jahren. Die Behandlung von Rezidiven

586

G. Henze et al.

..Tab. 24.8  Histologische Klassifikation des Nephroblastoms Malignitätsgrad

Befund

1

Günstige Histologie (niedrige Malignität)

Konnatales mesoblastische Nephrom Multizystisches Nephroblastom Fibroadenomatöses Nephroblastom

2

Standardhistologie (intermediäre Malignität)

Mischtyp Blastemisch, epithelial oder stromareich

3

Ungünstige Histologie (hohe Malignität)

Nephroblastom mit Anaplasie Klarzellensarkom Maligner Rhabdoidtumor der Niere

auch unter Einschluss der Hochdosistherapie führt zu ermutigenden Ergebnissen. 24.3.4

Maligne Tumoren der Leber

Hepatoblastom j jEpidemiologie Das Hepatoblastom ist mit einer Inzidenz von 2,5 auf 1.000.000 Kinder Die Diagnostik von Knochentumoren erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von pädiatrischen Onkologen, ­Radiologen, Chirurgen/Orthopäden und Pathologen. Alle Beteiligten müssen besondere Erfahrungen in der Diagnostik und Therapie von Knochentumoren im Kindes- und Jugend­ alter mitbringen.

Die Diagnostik erfordert neben der präzisen Dokumentation des Tumors und seiner Ausdehnung durch konventionelle Röntgenaufnahmen eine Abbildung des gesamten betroffenen Knochens durch ein MRT (. Abb. 24.15). Eine Einschätzung des Ansprechens auf Chemotherapie ermöglicht ein Vergleich eines prächemotherapeutisch und präoperativ durchgeführten dynamischen MRT. Weiterhin ist eine szintigraphische Untersuchung des betroffenen Skelettabschnitts und des gesamten Skeletts erforderlich (3-Phasen-Technik). Unerlässlich ist eine CT-Untersuchung der des Thorax zum Ausschluss von Lungenmetastasen (. Abb. 24.16). Zur Diagnosesicherung ist immer eine Biopsie unerlässlich, die als offene Inzisionsbiopsie von dem Chirurgen durchgeführt werden sollte, der auch die definitive operative Versorgung vornehmen wird. Eine Referenzbeurteilung der Histologie ist immer erforderlich.

b

..Abb. 24.15 Osteosarkom. a Darstellung eins hochmalignen Osteosarkoms im Röntgenbild des rechten Oberschenkels. Man sieht die ausgeprägte Osteolyse, die Zerstörung der Kortikalis und die Abhebung des Periosts (Pfeil). b MRT mit Darstellung eines hochmalignes Osteosarkom des

24

rechten Oberschenkels bei einem 17-jährigen Jungen; in der Tirm-Sequenz stellt sich ein Tumor in der rechten distalen Meta- und Epiphyse dar, der die Kortikalis destruiert, zu einer Periostreaktion und zu einem Gelenkserguss geführt hat

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G. Henze et al.

tenerhaltend durchgeführt. Der Knochendefekt kann dabei mit ­einer Endoprothese überbrückt werden. Möglich sind auch rekonstruktive Verfahren mit Verwendung von eigenen Skelettmaterial oder auch sog. Umkehrplastiken bei kniegelenknahen Tumoren. jjPrognose Die Überlebenswahrscheinlichkeit liegt nach 5 Jahren bei 65%. 24.3.6

..Abb. 24.16  Darstellung einer Lungenmetastase im nativen CT bei einem Patienten mit Osteosarkom. Die Abbildung zeigt eine parenchymatöse Metastase (A) und eine pleuraständige Metastase (B). (Mit freundl. ­Genehmigung von Dr. Petra Proschek, Institut für diagnostische und interventionelle Radiologie der Universität Frankfurt/Main)

Differenzialdiagnostisch wichtig sind das Ewing-Sarkom, an­ dere maligne (Chondrosarkome, Fibrosarkome, Riesenzelltumoren, Non-Hodgkin-Lymphom, M. Hodgkin, Histiozytose) und benigne (Osteochondrom, Osteoblastom, aneurymatische Knochenzyste) Knochenläsionen. Sicher ausgeschlossen werden müssen auch eine fibröse Dysplasie, vermehrte Kallusbildung nach Trauma und eine Osteomyelitis. jjStadieneinteilung Die Stadieneinteilung erfolgt nach der TNM-Klassifikation der UICC. Danach liegt ein T1-Tumor bei einer Ausdehnung ≤8 cm, ein T2-Tumor bei Tumoren >8 cm und ein T3-Tumor bei Skipmetastasen vor.

24

jjTherapie Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Osteosarkomen ist eine multidisziplinäre Aufgabe und sollte immer in kontrollierten Studien erfolgen. Die Rolle der Chemotherapie zur Verhinderung einer manifesten Metastasierung ist bei hochmalignen Osteosarkomen gesichert. Auch bei optimaler chirurgischer Versorgung erleiden ohne Chemotherapie ca. 85% der Patienten eine Metastasierung v. a. in die Lunge. Gute Chemotherapieresultate wurden mit Kombinationen aus Methotrexat, Cisplatin, Ifosfamid und Adriamycin ­erzielt. Die Chemotherapie erfolgt teilweise präoperativ, um den tumorverkleinernden Effekt für die optimale lokale chirurgische Versorgung auszunutzen. Ein gutes Ansprechen auf eine präoperative Chemotherapie liegt vor, wenn der Pathologe ein histopathologisches Ansprechen Grad 1 (kein vitaler Resttumor), Grad 2 (vitaler Resttumor > Im Gegensatz zum Osteosarkom, das vorzugsweise in den Epiphysen langer Röhrenknochen auftritt, befällt das EwingSarkom v. a. die Diaphysen der Röhrenknochen und die platten Knochen wie Becken, Wirbelkörper, Skapula und Rippen.

jjDiagnose Abgegrenzt wird die lokoregionäre Erkrankung von der Erkrankung mit Metastasierung in Lungen und/oder Skelett, da eine solche Aus-

589 Onkologie

..Abb. 24.17  Röntgendarstellung eines Ewing-Sarkoms in der linken ­distalen Fibula

..Abb. 24.18  PET-CT mit diffusem Wirbelsäulenbefall durch ein EwingSarkom; Primärtumor im rechten Oberschenkel

breitung mit einer wesentlich schlechteren Prognose verbunden­ ist. Die bildgebenden Verfahren stehen naturgemäß im Mittelpunkt der Diagnostik (lokales Röntgen (. Abb. 24.17), CT und MRT, ­Sonographie der Abdominalorgane, Szintigraphie des Skeletts, CT der Lunge). Ergänzend kann bei Verdacht auf Metastasierung in­ das Skelett ein PET-CT sinnvoll sein (. Abb. 24.18). Ergänzt wird­ die Diagnostik durch Serumuntersuchungen (LDH, Ferritin, CRP, BSG). Die definitive Diagnosestellung ist nur durch Biopsie möglich. Ähnlich wie beim Osteosarkom sollte die Biopsie durch den Chirurgen vorgenommen werden, der die endgültige Operation vornimmt. Differenzialdiagnostisch muss ein Osteosarkom ausgeschlossen werden, darüber hinaus entspricht die Differenzialdiagnose der des Osteosarkoms.

jjPrognose Mit den modernen Therapieprotokollen können 55–70% der Pa­ tienten mit lokoregionärer Erkrankung geheilt werden. Patienten mit primärer Fernmetastasierung haben mit 15–20% eine wesentlich schlechtere Prognose.

!! Cave Bei jeder Osteomyelitis muss an ein Ewing-Sarkom gedacht werden. CRP-Anstieg und erhöhte BSG bieten differenzial­ diagnostisch ebenso wenig Sicherheit wie ein Ansprechen auf eine antibiotische Therapie: beides kann ebenso beim EwingSarkom auftreten.

jjTherapie Die Behandlung besteht aus der systemischen und lokalen Therapie. Ohne Chemotherapie liegt trotz adäquater Behandlung des Primärtumors bei nichtmetastasierter Erkrankung das Langzeitüberleben unter 10%. Nach bioptischer Sicherung der Diagnose wird eine initiale Chemotherapie durchgeführt. Die lokale Therapie erfolgt durch Operation, durch Chemotherapie oder durch die Kombination beider Maßnahmen. Das Ewing-Sarkom ist im Gegensatz zum Osteosarkom strahlensensibel. Die Rolle der Hochdosistherapie und die optimale Behandlung von Patienten mit primärer Metastasierung ist Gegenstand von Studien.

24.3.7

Keimzelltumoren

jjGrundlagen Keimzelltumoren entwickeln sich aus pluripotenten Keimzellen, die in den Gonaden oder extragonadal zu benignen oder malignen ­Tumoren heranwachsen. jjEpidemiologie 5,3/1.000.000 Kinder > Die Diagnose kann bei typischer Tumorlokalisation (z. B. ­Pinealis, Hypophyse, kleines Becken, vorderes Mediastinum) durch adäquate Bildgebung bei erhöhten Tumormarkern eindeutig gestellt werden. Auf eine histologische prätherapeutische Sicherung kann in solchen Fällen verzichtet werden.

j jTherapie Die Therapie ist abhängig von der Lokalisation und der Histologie. Prinzipiell sollte sie im Rahmen kontrollierter Therapiestudien ­erfolgen. Eine inkomplette Resektion verschlechtert die Prognose, daher sollte bei absehbarer inkompletter Operabilität nur eine ­Biopsie erfolgen. Eine präoperative Chemotherapie ist bei malignen Tumoren dann hilfreich, wenn der Tumor primär nicht komplett reseziert werden kann. Chemotherapeutika, die sich als nützlich erwiesen haben, sind v. a. Cisplatin, aber auch Etoposid, Ifosfamid, Vinblastin und Bleomycin. Sakrokokzygeale Tumoren werden immer mitsamt dem Steißbein entfernt, da sonst Rezidive auftreten können. Strahlenempfindlich sind Seminome (Dysgerminome und Germinome), sodass bei diesen Tumoren, v. a. bei intrakraniellem Sitz auch eine Radiotherapie eingesetzt wird.

24

j jPrognose Die Prognose hängt vom Alter, der Lokalisation und dem Stadium ab. Die Überlebenswahrscheinlichkeit nach 5 Jahren liegt für die

..Abb. 24.19  Sezernierender Keimzelltumor des Ovars bei einem 11-jährigen Mädchen AFP und β-HCG waren deutlich erhöht; in der T2-gewichteten sagittalen Aufnahme kommen die typischen großen Zysten zur Darstellung

­ esamtgruppe bei 85%. Hodentumoren haben die günstigste G ­Prognose (99%), intrakranielle die ungünstigste (65%). 24.3.8

Retinoblastom

jjGrundlagen Retinoblastome sind maligne Tumore der Retina, die gleich häufig sporadisch oder familiär auftreten. jjEpidemiologie 2,2% aller bösartigen Erkrankungen im deutschen Kinderkrebsregister (38/Jahr) sind Retinoblastome, die Inzidenz beträgt 4,3 pro 1.000.000 Kinder > Im Kindesalter werden alle Hirntumoren zu den Malignomen gerechnet, da auch histologisch benigne erscheinende Tumoren klinisch einen bösartigen Verlauf nehmen und zum Tod führen können, wenn sie aufgrund ihres infiltrativen Wachstums oder ihrer Lokalisation nicht operabel sind.

Ependymom

In der Bundesrepublik erkranken jährlich ca. 2,5 pro 100.000 Kinder neu an einem Hirntumor. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 6½ Jahren. Knaben erkranken 1,2-mal häufiger. 80% aller kindlichen Hirntumoren sind neuroepithelialen Ursprungs. ⅔ der Tumoren sind infratentoriell lokalisiert und nur 3–4% aller ZNS-Tumoren entstehen im Rückenmark (. Tab. 24.9). jjÄtiologie In den meisten Fällen entstehen Hirntumoren sporadisch, also ohne erkennbare Ursache. Das Risiko, an einem Hirntumor zu erkranken, wird durch die Schädelbestrahlung im Rahmen einer Leukämie­ therapie um ein Vielfaches gesteigert. Kinder von Eltern, die chemischen Kanzerogenen ausgesetzt waren, hatten häufiger Hirntumoren. Bei Affen konnten mit dem Polyomavirus SV40 Ependymome und Plexustumoren induziert werden. Die genetische Basis­ von Hirntumoren ist bei Erberkrankungen teilweise aufgeklärt (. Tab. 24.10). jjHistopathologie Bei der Beurteilung von Hirntumoren werden die Richtlinien der WHO-Klassifikation und Graduierung von Tumoren des Nerven­ systems zugrunde gelegt. Die Klassifikation erfolgt nach dem überwiegend vorliegenden Zelltyp. Die Tumoren werden entsprechend des Ausmaßes der Anaplasie in 4 Malignitätsgrade eingeordnet. Die Malignitätsgrade korrelieren häufig mit dem biologischen Verhalten und der Prognose. Morphologisch benigne Tumoren werden als WHO I eingestuft (. Tab. 24.11). Das benigne pilozytische Astrozytom, der häufigste Hirntumor im Kindesalter, ist meist ein gut abgegrenzter und sehr langsam wachsender Tumor. Das fibrilläre Astrozytom ist ein langsam wachsender, diffus infiltrierender aber nicht destruierender Tumor. Der Übergang in ein Astrozytom hoher Malignität ist bei Kindern selten.

24

592

G. Henze et al.

..Tab. 24.10  Genetische Basis von kindlichen Hirntumoren bei Erberkrankungen Erberkrankung

Chromosom

Gen

Hirntumor

Andere Tumoren

Neurofibromatose 1

17

NF-1

Astrozytom, WHO I häufig: Sehbahn/ Hirnstamm

Neurofibrom, UBO’s Phäochromozytom

Li-Fraumeni-Syndrom, ­familiäres Krebssyndrom

17

TP53

Astrozytom, meist hohe Malignität, Plexus-choroideus-Tumoren, ­Medulloblastom

Familiär: Mammakarzinom, Sarkom usw.

Tuberöse Sklerose

 9

TSC1

Riesenzell-Astrozytom

Angiofibrom, Hamartom

16

TSC2

Turcot-Syndrom

 5

APC

Medulloblastom, Glioblastom

Kolorektaler Polyp, Kolonkarzinom

Gorlin-Syndrom

 9

PTHC

Medulloblastom (extensiv-noduläres Medulloblastom)

Basalzellkarzinom

Familiäres Retinoblastom

13

RB1

PNET, multilokulär

Beidseitiges Retinoblastom

Von-Hippel-Lindau-Erkrankung

 3

VHL

Hämangioblastom des Kleinhirns

Retinale AV-Malformation, Phäochromozytom

Rhabdomyosarkom (Herz)

..Tab. 24.11  Malignitätsgrad, Häufigkeit und neuroradiologische Befunde der für das Kindesalter typischen Hirntumoren Histologie

WHO-Grad

Astrozytom

24

Häufigkeit (ca.)

Typische neuroradiologische Erkennungsmerkmale

50%

- Pilozytisch

I

60%

Häufig Tumorzysten mit solidem Tumor der deutlich Gadolinium (Gd)anreichert

- Fibrillär

II

25%

T1: hypointens, T2: hyperintens, keine Gd-Anreicherung

- Anaplastisch

III

10%

Diffuse Gd-Anreicherung, variabel; peritumorales Ödem

- Glioblastom

IV

 5%

Z. T. ringförmige Gd-Anreicherung, ausgeprägtes Ödem, Nekrosen

Medulloblastom

IV

20%

Vom Kleinhirnwurm ausgehender solider infratentorieller Mittellinientumor mit variabler Gd-Anreicherung; Hydrozephalus

Sonstige PNET

IV

 3%

T1: hypointens, T2: variabel; ca. 1⁄3 Meningeose, solide Metastasen

Ependymom

II

10%

T1: hypointens, T2: hyperintens

- Anaplastisch

III

- Myxopapillär

I

Kraniopharyngeom

I

 8%

Röntgen-Schädel: Ausweitung der Sella, häufig Verkalkungen (CT!); MRT: Zyste(n) mit solidem Tumoranteil der Gd anreichert

Keimzelltumoren



 3%

Solider Tumor mit deutlicher Gd-Anreicherung, suprasellär oder in der Pinealisregion

Gangliogliom

I

 2%

Häufig Verkalkungen, T2: hyperintens; in 50% Gd-Anreicherung

- DNT

I

Plexuspapillom

I

- Plexuskarzinom

III, IV

Häufig Gd-Anreicherung, inhomogen; Zysten und Verkalkungen Myxopapillär: Cauda equina

Kortikale Dysplasie  1%

Kräftige noduläre Gd-Anreicherung Häufig Verkalkungen, Beziehung zum Plexus

Das anaplastische Astrozytom verhält sich immer maligne und kann in ein Glioblastom übergehen, das auch de novo entsteht. Embryonale Tumoren entstehen wahrscheinlich aus einer gemeinsamen Progenitorzelle des ZNS. Sie bestehen aus wenig differenzierten neuroepithelialen Zellen (. Abb. 24.20) und ähneln sich in Morphologie und Biologie sehr. Am häufigsten ist das meist vom Kleinhirn ausgehende Medulloblastom. Die früher gebräuchliche Bezeichnung ZNS-PNET ist inzwischen weitgehend obsolet, da die Mehrzahl dieser Tumoren mittels molekularbiologischer Charakte-

risierung genauer charakterisiert und bezeichnet werden (z. B. sog. ETMR, ependymale Tumoren mit mehrschichtigen Rosetten). Das Ependymom entsteht überwiegend im Bereich der ependymalen Auskleidung der Ventrikel. Ependymome von niedriger ­Malignität sind differenziert und regulär aufgebaut. Beim anaplastischen Ependymom ist die ependymale Architektur weitgehend aufgehoben und der Proliferationsindex höher. Das Kraniopharyngeom ist ein gutartiger epithelialer Tumor der Sellaregion. Es entsteht aus Resten der Rathke-Tasche, dem Vor-

593 Onkologie

a

b

..Abb. 24.20 Medulloblastom. a Medulloblastom mit kleinzellig zelldichter Morphologie, angedeutete Homer-Wright-Rosetten (Histologisches

Präparat, HE-Färbung). b Medulloblastom in Pappenheimfärbung eines ­Liquorzytozentrifugenpräparats: Medulloblastomzellen im Zellverband

..Tab. 24.12  Leitsymptome und typische Befunde von Hirntumoren unterschiedlicher Lokalisation Erhöhter Hirndruck (durch Tumor, Ödem, Hydrozephalus)

(Nüchtern)erbrechen, Kopfschmerzen, Wesensveränderungen, Abduzensparese, Stauungspapillen, Sonnenuntergangsphänomen, pathologisches Kopfwachstum

Kleinhirntumor

Gangunsicherheit, skandierende Sprache, Ataxie, Nystagmus, Intentionstremor

Hirnstammtumor/-infiltration

Horizontale Blicklähmung, Hirnnervenparesen, spastische Paresen

Kleinhirnbrückenwinkeltumor/-ausbreitung

Fazialisparese, Hörstörung, Kopfschiefhaltung

Großhirnhemisphärentumor

Zerebrale Krampfanfälle (komplexe Partialanfälle), Paresen, Plegien, Sensibilitätsstörungen

Suprasellärer Tumor

Visusminderung, Gesichtsfeldeinschränkung

Tumor der Hypophysen- und Hypothalamusregion

Minderwuchs, Diabetes insipidus, gestörte Pubertätsentwicklung, Essstörungen

Zwischenhirntumoren/-infiltration

Dienzephales Syndrom: Erbrechen und Kachexie bei euphorisch wirkendem Kleinkind

Pinealis-/Mittelhirntumor

Parinaud-Syndrom mit vertikaler Blicklähmung

Rückenmarktumoren/-metastasen

Rückenschmerzen, Skoliose, Querschnittsymptome, Pyramidenbahnzeichen, aber auch schlaffe Paresen

läufer des Hypophysenvorderlappens, und ist im eigentlichen Sinne als eine dysontogenetische Fehlbildung anzusehen. Meist liegt der adamantinöse Typ vor. Das Gangliogliom besteht aus reifen Ganglienzellen und einer neoplastischen astrozytären Komponente. In die Gruppe der (gemischt)neuronalen Tumoren gehört auch der dysembryoplastische neuroepitheliale Tumor (DNT) des Kortex. Die Keimzelltumoren gleichen histopathologisch und biologisch weitgehend den Tumoren außerhalb des ZNS. jjMolekulargenetik Die Identifikation von aktivierten Onkogenen oder inaktivierten Tumorsuppressorgenen ist wichtig für ein besseres Verständnis der unterschiedlichen Biologie der verschiedenen Hirntumoren: 44 Ein onkogenes BRAF-Fusionsgen und das NF-1-Gen bzw. sein Proteinprodukt Neurofibromin haben Einfluss auf die Genese pilozytischer Astrozytome. 44 Eine Mutation des TP53-Tumorsuppressorgens spielt ver­ mutlich eine Rolle in der Kaskade der malignen Transformation eines Astrozytoms von niedriger zu hoher Malignität. Beim Medulloblastom werden nach klinischen, epidemiologischen, histologischen und biologischen Kriterien und Prognose 4 Gruppen unterschieden:

44 β-Catenin-positive WNT-Medulloblastome, 44 „sonic-hedgehoc“-aktivierte, meist desmoplastische Medulloblastome, 44 häufig metastasierte oder mit einem Isochrom 17q ausgestat­ tete Medulloblastome mit myc-Amplifikation (Gruppe-3-Medulloblastome) oder z. B. mit CDK6-Amplifikation (Gruppe4-Medulloblastome). jjKlinik Die Diagnose wird bei ⅔ der Kinder um mehr als 4 Wochen, bei gutartigen Tumoren z. T. um Jahre verzögert gestellt, da die häufigsten Symptome nicht rechtzeitig als Leitsymptome eines Hirntumors erkannt werden (. Tab. 24.12). Nicht selten fehlen im Kindesalter die klassischen Hirndruckzeichen. jjDiagnostik Früherkennung  Bei unspezifischen aber anhaltenden Beschwerden wie Kopfschmerzen, Erbrechen oder Wesensveränderungen muss eine ausführliche neurologische Untersuchung erfolgen. Finden sich weitere Zeichen des Hirndrucks oder fokal-neurologische Befunde ist eine MRT indiziert. Dies gilt auch für Kinder mit einem ersten zerebralen Krampfanfall (ausgenommen „Fieberkrampf “) oder mit neuroendokrinologischen Störungen.

24

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G. Henze et al.

Bildgebende Verfahren   Die Magnetresonanztomographie (MRT) ist in der Lage, den Tumor, das peritumorale Ödem und ­umgebendes Hirngewebe anatomisch exakt darzustellen. Die Computertomographie (CT) ist häufig schneller verfügbar, nicht gleich-

wertig, jedoch hilfreich beim Nachweis von Verkalkungen oder ­knöchernen Veränderungen. Im Säuglingsalter kann zusätzlich auch die Schädelsonographie durch die noch offene Fontanelle hilfreich sein. Basisdiagnostik bei Hirntumoren 55Präoperativ –– Anamnese –– Neurologische Untersuchung einschließlich Fundus­ spiegelung –– Kraniale MRT vor und nach Gadoliniumgabe ­ (oder CT ± KM) –– Spinale MRT ± KM (bei Verdacht auf metastasierenden ­Tumor) –– Tumormarker (bei Mittellinientumoren) 55Postoperativ –– Neurologische Untersuchung –– Kraniale MRT vor und nach Gadoliniumgabe ­ (oder CT ± KM) 55Bei malignen Tumoren WHO III und IV oder „spinaler Symptomatik“ (Metastasensuche) –– Spinale MRT nach Gadoliniumgabe –– Liquorzytologie (lumbal gewonnener Liquor)

Die postoperative MRT oder CT wird zur Beurteilung der Opera­ tionsradikalität innerhalb der ersten 48 h bis spätestens 72 h durchgeführt. !! Cave Keine Liquorpunktion bei erhöhtem Hirndruck!

Tumormarker  Bei Keimzelltumoren sind α-Fetoprotein und β-HCG wichtige Tumormarker. Ihre Bestimmung ist immer bei

­ umoren im suprasellären Bereich oder der Pinealisregion indiziert. T Bei suprasellären Tumoren muss auch an ein Prolaktinom gedacht und Prolaktin bestimmt werden. Ergänzende Untersuchungen  Bei gezielten Fragestellungen werden präoperativ und häufig im Verlauf eingesetzt: 44 Audiometrie, 44 Visus- und Gesichtsfeldprüfung, 44 EEG und die Ableitung evozierter Potenziale, 44 neuroendokrinologische Diagnostik, 44 neuropsychologische Testung. Verlaufsdiagnostik  Nach Abschluss der Therapie sind engmaschige klinisch-neurologische Untersuchungen notwendig. Dabei

24

ist die Aufdeckung von Spätfolgen besonders wichtig für eine individuelle Rehabilitation. Das Ziel regelmäßiger bildgebender Kontrolluntersuchungen ist die frühzeitige Entdeckung eines noch asymptomatischen ­Tumorrezidivs, das rechtzeitig behandelt, eine bessere Prognose ­haben könnte. Die Untersuchungsfrequenz richtet sich nach der Biologie der Tumoren. Bei vollständig resezierten benignen Gliomen sind MRT-Untersuchungen v. a. in den ersten Jahren sinnvoll, dagegen sollten sie bei Kindern mit hochmalignen Tumoren engmaschiger, zunächst 3- bis 6-monatlich, durchgeführt werden.

jjTherapie, Prognose Nahezu die Hälfte der kindlichen Hirntumoren sind von hoher ­Malignität. Sie wachsen invasiv, teilweise auch kontinuierlich entlang der Meningen und metastasieren in unterschiedlicher Häufigkeit über die Liquorwege. Hier kann die alleinige Resektion nie ­kurativ sein. Erst nach Einführung der postoperativen Strahlen­ therapie wurden Heilungen erzielt. Die Wirksamkeit einer zu­ sätzlichen ­Chemotherapie wurde in Therapiestudien bestätigt. Die Heilungsraten stiegen bei Kindern mit hochmalignen Hirn­ tumoren für einige Entitäten durch Verbesserungen der 3 gängigen Therapie­modalitäten deutlich an. Für jeden einzelnen Patienten ­sollte das Prozedere initial und bei Bedarf im Verlauf in interdis­ ziplinären Fallkonferenzen festgelegt werden. Für alle relevanten Hirntumor­entitäten stehen die Studienzentralen im Behandlungsnetzwerk HIT mit Studienprotokollen, Therapie- und Nachsorgeempfehlungen und konsiliarischer Beratung zur Verfügung (www.­ kinderkrebsinfo.de). kkOperation Die Aufgaben der Operation bestehen in der Gewinnung von Material für die histologische Beurteilung sowie tumorbiologische Untersuchungen und in der möglichst weitgehenden Resektion des ­Tumors. Dabei hat die Verbesserung der perioperativen Inten­ sivpflege zu einer drastischen Senkung der Operationsmortalität geführt. >> Eine onkologisch radikale Operation, d. h. eine „Resektion im Gesunden“ ist bei Hirntumoren nicht möglich, da gesundes Hirngewebe nicht reseziert werden darf. Ziel der Operation ist die operationsmikroskopisch vollständige Resektion.

Diese ist so definiert, dass am Ende der Operation mit dem Operationsmikroskop kein Resttumor mehr nachweisbar ist. Obwohl das Ausmaß der Resektion für die Prognose vieler Hirntumoren wichtig ist (. Tab. 24.13), dürfen bleibende Schäden nicht in Kauf genommen werden. Moderne Operationstechniken wie die Mikroneurochirurgie und bei speziellen Indikationen auch der Gebrauch des Cavitron-Ultraschallaspirators (CUSA) oder des Lasers ermöglichen vollständige Resektionen auf schonende Weise. Tumoren von niedriger Malignität  Kinder mit niedriggradigen

Hirntumoren können durch eine vollständige Resektion in hohem ..Tab. 24.13  Einfluss der Histologie und Operabilität auf die ­Heilungs- bzw. 10-Jahres-Überlebensrate der häufigsten Hirntumoren im Kindesalter Histologie

Resektion operations­ mikroskopisch vollständig

Resektion unvoll­ ständig (inoperabel)

Benigne Tumoren

Heilungsrate >90%: ­pilozytisches Astrozytom, Gangliogliom, DNT, Plexuspapillom Überlebensrate >90%: Kraniopharyngeom

Überlebensrate ­60–70%: Optikus-­ Chiasma-Hypothalamus-Gliom

Maligne Tumoren

Überlebensrate 60–70%: Medulloblastom, Ependymom

Überlebensrate ­1­­0–15%: Gliome hoher Malignität Überlebensrate > Das Ziel moderner Bestrahlungstechniken ist die Verbesserung der Überlebensraten durch effiziente lokale Tumorkontrolle bei gleichzeitiger Verminderung akuter Nebenwirkungen und Spätfolgen durch maximale Schonung des reifenden Gehirngewebes und benachbarter Risikostrukturen wie der Augenlinse. ..Abb. 24.21  Medulloblastom: der Primärtumor reichert in der T1-gewichteten MRT (sagittal) Gadolinium an. Der Tumor hat enge Beziehungen zum Hirnstamm und verursacht einen Hydrozephalus. Postoperativ stellt sich kein Resttumor mehr dar

Maße geheilt werden. Bei 20% der Kinder mit einem Grad-I- oder –II-Kleinhirnastrozytom, der häufigsten Entität, gelingt nur eine Teilresektion. Dennoch zeigt ⅓ der Resttumoren kein weiteres Wachstum. Bei Tumoren wie z. B. dem fibrillären Astrozytom lag nach einer vollständigen Resektion die rückfallfreie Überlebensrate über 5 Jahre bei 80%. Mindestens die Hälfte der Kinder mit einer tumorinduzierten Epilepsie ist nach der vollständigen Resektion eines benignen Astrozytoms, Ganglioglioms und DNTs der Großhirnhemisphären ohne Antikonvulsiva anfallsfrei. Bei spinalen Tumoren ist eine frühzeitige Diagnose und Operation vor Auftreten irreversibler Schäden von großer Bedeutung. Eine vollständige Resektion gelingt bei Gliomen von WHO I und II in 50–80% auch bei intramedullärer Lokalisation. Trotz weitgehender Schonung des gesunden Rückenmarks können postoperativ zusätzliche Defizite auftreten. Beim Kraniopharyngeom wird primär eine komplette Resek­ tion angestrebt, die bei ¾ der Kinder möglich ist. Perioperativ ist eine endokrinologische Betreuung mit strenger Flüssigkeitsbilanzierung und Gaben von Hydrokortison sowie bei Bedarf Vasopressin notwendig. Bei einem Rezidiv sollte nochmals eine Resektion versucht werden. Tumoren von hoher Malignität  Da die meisten Kinder mit einem Hirntumor von hoher Malignität durch die lokale Raumforderung mit Druck z. B. auf den Hirnstamm und den allgemeinen Hirndruck vital bedroht sind, ist die primäre Tumorresektion zunächst von ­lebensrettender Bedeutung. Durch eine operationsmikroskopisch vollständige Resektion (. Abb. 24.21) kann die Überlebensrate bei den meisten hochmalignen Tumoren verdoppelt werden. Dennoch verbietet häufig die topographische Beziehung zu wichtigen Hirnnerven, Kerngebieten und Leitungsbahnen ein aggressives chirurgisches Vorgehen, um schwere neurologische Defizite zu vermeiden. Die präoperative Gabe von Dexamethason (4-mal 2–3 mg/m2/ Tag) kompensiert den gesteigerten Hirndruck meistens so weit, dass selbst bei Kindern mit einem Medulloblastom eine externe Liquordrainage nicht immer erforderlich ist. Nach der Öffnung der Liquorpassage durch die Resektion des Tumors ist die Implantation eines bleibenden Liquorshunts wegen eines Hydrozephalus nur bei ca. 20% der Kinder notwendig.

Die präzise Erfassung des Zielvolumens wird erreicht durch eine exakte Lokalisation mithilfe der MRT/CT, des Operationsberichts und durch eine computergestützte Bestrahlungsplanung. Wichtig ist das exakte Positionieren mit Immobilisationssystemen, die von Kindern toleriert werden, und ein psychologisches Betreuungskonzept, das die Kinder auf die Bestrahlung vorbereitet und ihnen die Angst vor dem Alleinsein im Bestrahlungsraum nimmt. Die Bestrahlung wird oft als perkutane Photonen-Megavolt-Therapie an einem Linearbeschleuniger durchgeführt. In geeigneten Fällen wird zur Schonung von Normalgewebe zunehmend eine Protonenbestrahlung eingesetzt. In besonderen Fällen können die interstitielle Brachytherapie, eine hyperfraktionierte Strahlenbehandlung, oder stereotaktische Bestrahlungstechniken zum Einsatz kommen. Bei der kraniospinalen Bestrahlung des gesamten Liquorraums, d. h. von Gehirn und Rückenmark unter Einschluss der ­Meningen wird zunächst die „Neuroachse“ mit 36 Gy bestrahlt. ­Anschließend folgt die lokale Tumoraufsättigung mit 20 Gy, die beim Medulloblastom meist die hintere Schädelgrube einschließt. Sie ist bei Kindern mit einem PNET, aber auch Germinom wegen der Gefahr einer okkulten ZNS-Metastasierung notwendig. Mit modernen Operations- und Bestrahlungstechniken wurden beim Medulloblastom Überlebensraten von über 60% erreicht. Die Heilungsrate von reinen Germinomen lag bei über 90% nach ­alleiniger Strahlentherapie, wobei die Neuroachse nur noch mit 24 Gy belastet wurde. Nach Bestrahlung des gesamten Gehirns wird häufig, jedoch immer nur vorübergehend ein Somnolenzsyndrom mit Kopfschmerzen, Apathie, Erbrechen und Anorexie beobachtet. >> Bei einer ausgeprägten Manifestation des Somnolenz­ syndroms sind niedrige Dosen von Dexamethason hilfreich.

Eine externe Lokalbestrahlung erfolgt grundsätzlich bei allen Gliomen von hoher Malignität. Bei benignen Tumoren und Gliomen niedriger Malignität ergibt sich die Indikation aus dem individuellen natürlichen Verlauf. Die Bestrahlung konzentriert sich auf das ­Tumorbett einschließlich eines 2 cm breiten Sicherheitssaums zur Erfassung mikroskopischer Tumorausläufer. Die Heilungsraten von Kindern mit einem anaplastischen Astrozytom oder Glioblastom lagen unter 20% nach alleiniger postoperativer Strahlentherapie. Bei den diffus intrinsischen Ponsgliomen (. Abb. 24.22), die 80% aller Hirnstammtumoren ausmachen, konnte durch die Strahlentherapie die Überlebenszeit von 1–2 Monaten um ein halbes Jahr verlängert werden. Bei der Mehrzahl der Kinder trat eine Besserung der neurologischen Beschwerden ein, die ­vorübergehend zu einer verbesserten Lebensqualität führte.

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G. Henze et al.

..Abb. 24.22  Ponsgliom: in der axialen T2-Sequenz ist der Tumor 1, der ventral die A. basilaris 2 ummauert, hyperintens

Der besondere Fall Anamnese: Seit 4 Wochen Kopfschmerzen und Erbrechen, Schwindelgefühl und Gangunsicherheit; seit 3 Wochen Doppelbilder, Ungeschicklichkeit beider Hände; seit 1 Woche verwaschene Sprache, Schluckstörung und Wesensveränderung mit Weinerlichkeit. Befund: 14 Jahre altes Mädchen mit Visusminderung, Abduzensparese, Nystagmus, Dysphagie, Dysarthrie, Ataxie und gesteigertem PSR und ASR. MRT: Den Pons diffus auftreibender Tumor mit Ausbreitung in ­Richtung Mittelhirn und Medulla sowie exophytisch nach ventral mit Umwachsen der A. basilaris (. Abb. 24.22); Tumor in der T1-Sequenz hypointens, keine Gadoliniumanreicherung und in T2 deutlich hyperintens. Therapie: Sofort bei Aufnahme Dexamethason 8 mg, dann 4 mg alle 6 h; 2 Tage später synchroner Beginn der Bestrahlung mit 60 Gy und Chemotherapie. Verlauf: Besserung der Symptome und Befunde schon unter Dexamethason und deutlich im Verlauf der Bestrahlung. Sechs Wochen nach Bestrahlung bis auf die Abduzensparese keine Krankheitszeichen; das Kind geht wieder in die Schule und treibt Sport; nahezu vollständige Normalisierung des MRT-Befunds; 9 Monate nach Diagnosestellung plötzlich wieder Kopfschmerzen, Erbrechen, Gangunsicherheit, Fazialisschwäche rechts und verwaschene Sprache; im MRT wieder deutliche Auftreibung des Pons mit diffuser Gadoliniumanreicherung; 3 Wochen später ist Laufen und Schlucken kaum mehr möglich; parenterale Ernäh­ rung und Medikation mit Dexamethason und Morphin; zunehmende Bewusstseinstrübung; eine Woche später zentrales Atemversagen. Beurteilung: Die Diagnose „diffus intrinsisches Ponsgliom“ konnte aufgrund der kurzen Anamnese mit Hirndruckzeichen, Gangstörung und Hirnnervenausfällen, des Alters und des typischen MRT-Befunds sicher gestellt werden. Daher wurde auf eine Biopsie verzichtet. Im Anschluss an die Therapie konnte das Mädchen wieder ein normales Leben ­führen, was bei 2⁄3 der Kinder erreicht werden kann. Dann trat dennoch typischerweise plötzlich eine Tumorprogression auf, die unter zunehmender Eintrübung des Bewusstseins rasch zum Exitus letalis führte.

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Ependymome, die infratentoriell im IV. Ventrikel mit Ausbreitung in den Kleinhirnbrückenwinkel wachsen, können häufig nur unvoll-

..Abb. 24.23  Behandlungsstrategie bei benignen Gliomen und Astrozytomen niedriger Malignität nach dem Behandlungsprotokoll SIOPLGG-2004

ständig reseziert werden und erfordern grundsätzlich eine Lokalbestrahlung. Die Lokalrezidivrate ist auch nach einer vollständigen Resektion so hoch, dass in der Regel eine lokale Nachbestrahlung durchgeführt wird. Bei älteren Kindern mit Gliomen von niedriger Malignität wird zur Vermeidung von Rezidiven nach einer unvollständigen Resek­ tion bei Tumorprogression eine lokale Bestrahlung mit 45–55 Gy angeschlossen. Dadurch wurde die Rezidivrate deutlich vermindert. Der natürliche Verlauf der häufig inoperablen Optikus-ChiasmaHypothalamus-Gliome zeigt eine besondere Variabilität. Insbe­ sondere bei Kindern mit einer NF-1 wurden außer einem mehrere Jahre andauernden Stillstand des Tumors sogar spontane Rück­ bildungen beobachtet. Bei ⅔ dieser Tumoren kommt es jedoch ­innerhalb von 10 Jahren zur Progression. Mit einer Bestrahlung konnte bei nahezu 90% der Kinder ein drohender Visusverlust aufgehalten werden (. Abb. 24.23). Beim Kraniopharyngeom kann nach einer Teilresektion durch die lokale Nachbestrahlung mit 50 Gy die Rezidivrate wahrscheinlich gesenkt werden. kkChemotherapie Ein spezifisches Problem der zytostatischen Chemotherapie von malignen Hirntumoren ist die Blut-Hirn-Schranke. Sie ist gerade in der Infiltrationszone zum gesunden Gehirn hin, wo die höchste Proliferationsaktivität herrscht, intakt. In der Hauptmasse des Tumors ist jedoch die Blut-Tumor-Schranke unterbrochen, sodass dorthin auch hydrophile und großmolekulare Zytostatika in wirksamen Konzentrationen gelangen. Dies erklärt, weshalb maligne Hirntumoren auf die verschiedensten Zytostatika einen Response, d. h. eine Tumorbzw. Metastasenrückbildung um mehr als die Hälfte zeigten. Das Medulloblastom ist mit Responseraten von 60–70% ein chemotherapiesensibler Hirntumor. Medulloblastom  Die Wirksamkeit einer adjuvanten Chemotherapie wurde bereits Ende der 1970er-Jahre in 2 randomisierten Stu-

597 Onkologie

..Tab. 24.14  Aufgaben der Chemotherapie bei der Behandlung des Medulloblastoms Aufgaben der Chemotherapie

Zielgruppe

Verbesserung der Heilungschancen

Patienten mit hohem Tumorstadium oder mit Resttumor >1,5 cm2 oder mit Metastasen

Verbesserung der Lebensqualität durch Reduktion der Strahlendosis auf Gehirn und Rückenmark

Patienten ohne Resttumor und ohne Metastasen; insbesondere jüngere Kinder

Alternative zur Bestrahlung

Kinder mit einem Alter Die adjuvante Chemotherapie mit Cisplatin, CCNU und ­Vincristin kann derzeit als Standardtherapie des Medulloblastoms angesehen werden.

M4

Metastasen außerhalb des Zentralnervensystems

Prophylaxe einer Metastasierung in Knochenmark, Skelett, Lunge

Alle Patienten

Mit dieser Dreifachkombination wurde in Philadelphia eine rückfallfreie Überlebensrate von 85% nach 5 Jahren und von 72% nach 9 Jahren erzielt. Bei ¼ der Kinder können Metastasen initial im Liquor ­(M1-Stadium) und bei ⅓ der Kinder mit der MRT supratentoriell (M2-Stadium) oder spinal (M3-Stadium) nachgewiesen werden (. Tab. 24.15). Zur Verbesserung ihrer schlechten Prognose ist eine Intensivierung der Strahlentherapie (hyperfraktioniert, akzeleriert) und der Chemotherapie (z. B. Hochdosistherapie) erforderlich. In den ersten 3 Lebensjahren werden 20% der Medulloblas­ tome des Kindes- und Jugendalters diagnostiziert. Bei diesen Kindern verhält sich das Medulloblastom teilweise aggressiver als bei J­ugendlichen oder Erwachsenen. Sie hatten früher eine sehr ­schlechte Prognose und besonders häufig unter Spätfolgen zu leiden, die vom Tumor und der Strahlentherapie verursacht wurden.­ Daher wurden Konzepte zur Verzögerung oder Vermeidung der Strahlentherapie entwickelt, mit denen insbesondere für Kinder mit desmoplastischen oder extensiv nodulären Medulloblastomen auch ohne Bestrahlung deutlich verbesserte Überlebensraten erreicht wurden. Der besondere Fall Anamnese: Seit 4 Wochen Kopfschiefhaltung und leichtes Schielen; unsicheres Laufen und mehrfach hingefallen obwohl zuvor schon frei gelaufen; seit 2 Wochen (Nüchtern)erbrechen und Wesensveränderung mit ungewohntem Jähzorn. Befund: 20 Monate altes, weibliches Kleinkind mit Abduzensschwäche rechts, Nystagmus, Ataxie mit Fallneigung, symmetrische Dysdiadochokinese und Stauungspapillen von 2 dpt. MRT: Vom Kleinhirnwurm ausgehender Tumor, der deutlich Gadolinium anreichert und den IV. Ventrikel ausfüllt (. Abb. 24.21); Hydrocephalus internus occlusus; keine ZNS-Metastasen. Therapie: Sofort bei Aufnahme Dexamethason 4 mg, dann 2 mg alle 6 h; am nächsten Tag vollständige Tumorresektion, bestätigt durch das CT am 1. postoperativen Tag; 15 Monate Chemotherapie mit Procarba-

zin (8 Blöcke zu je 14 Tagen), hochdosiertes Methotrexat (24 Infusionen) und Vincristin (30 Injektionen). Verlauf: Nach Abschluss der Chemotherapie anhaltend komplette ­Erstremission; bis auf geringe Koordinationsstörungen und diskrete ­Abduzensparese keine neurologischen Auffälligkeiten; geht jetzt mit 9½ Jahren in die 3. Klasse mit guten Leistungen; betreibt Schwimmsport. Beurteilung: Heilung eines Kleinkinds mit Medulloblastom durch die vollständige Resektion und Chemotherapie; Verzicht auf die Strahlentherapie wegen kompletter Remission und zur Vermeidung neurokognitiver und neuroendokriner Spätfolgen; normale körperliche und geistige Entwicklung ohne gravierende neurologische Residuen nach frühzeitiger Diagnose eines Tumors, der noch keine schweren Schäden verursacht hatte.

Ependymom  In einer konsekutiven Studie am Royal Marsden Hospital lag die 10-Jahres-Überlebensrate nach adjuvanter Chemotherapie mit CCNU und Vincristin mit 54% signifikant höher als mit 34% nach alleiniger Bestrahlung. Mit einer intensiven Chemotherapie nach einer hyperfraktionierten Bestrahlung konnte sogar eine Überlebensrate von ca. 70% nach 5 Jahren erzielt werden. Daher werden Kinder mit anaplastischen Ependymomen häufig analog den Medulloblastomen auch chemotherapeutisch behandelt. Gliome von hoher Malignität  Mit CCNU und Vincristin nach der

postoperativen Bestrahlung konnte die 5-Jahre-rückfallfreie Über­ lebensrate von Kindern mit einem anaplastischen Astrozytom oder Glioblastom mehr als verdoppelt werden. In der Folgestudie wurden mit kombinierter postoperativer Strahlen- und Chemotherapie 5-Jahre-rückfallfreie Überlebensraten von 28% beim anaplastischen Astrozytom, 16% beim Glioblastom und 64% bei anderen malignen Gliomen wie z. B. dem anaplastischen Oligodendrogliom erzielt. Derzeit besteht die Hoffnung, dass mit postoperativer Bestrahlung und verbesserter Chemotherapie oder mit experimentellen Therapieansätzen eine Verbesserung der Prognose erreicht werden kann. Die infauste Prognose von Kindern mit diffus intrinsisch wachsen-

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den Ponsgliomen konnte durch eine zusätzliche Chemotherapie bislang nicht verbessert werden. Benigne und niedrigmaligne Gliome  Bei Kindern mit einem

­ liom WHO I oder II, das nicht vollständig reseziert werden konnte, G gelten folgende Gründe als Indikationen für eine postoperative Nachbehandlung (. Abb. 24.23): 44 Tumorprogression im CT/MRT von mehr als 25%, 44 progressive neurologische Erkrankungen, wie z. B. Hirnnervenparesen, Hemiparesen oder erhöhter Hirndruck, 44 schwerwiegende neurologische Erkrankungen, wie z. B. das dienzephale Syndrom oder eine Verschlechterung von Visus oder Gesichtsfeld.

>> Entgegen der vorherrschenden Meinung, dass Zytostatika bei gutartigen Tumoren nicht wirken, konnten durch eine milde Chemotherapie mit Vincristin und Carboplatin bei jüngeren Kindern mit Optikus-Chiasma-Hypothalamus-Gliomen vergleichbare Effekte wie nach lokaler Strahlentherapie erzielt werden.

Bei 50% der Kinder wurde eine Tumorverkleinerung und bei 80% eine Besserung der Beschwerden beobachtet. So gelang es bei Kindern unter 5 Jahren, den Zeitpunkt der Strahlentherapie in einen höheren Altersbereich hinauszuschieben und die Störungen der kognitiven und neuroendokrinen Funktionen zu vermindern. Nicht germinomatöse Keimzelltumoren  Bei Kindern mit malignen und markersezernierenden Tumoren (AFP, β-HCG) können mit einer kompletten Resektion, Bestrahlung und auf Platinderivaten basierenden Chemotherapie Überlebensraten von 80% erreicht ­werden. Hochdosischemotherapie mit autologer Stammzelltransplan­ tation  Die Hochdosischemotherapie (HDCH) mit autologer

Stammzelltransplantation (ASZT) ist eine neue Strategie, die BlutHirn-Schranke zu überwinden und höhere Konzentrationen von Zytostatika in Hirntumoren zu erreichen. Daher wird ihr Einsatz insbesondere in der Erstbehandlung von Medulloblastomen bei Säuglingen und Kleinkindern mit ungünstigem histologischem Subtyp (klassisches oder großzellig-anaplastisches Medulloblastom) oder mit Metastasen erprobt. Evaluiert wurde eine HDCT bei Kindern mit Medulloblastomrezidiv, deren Tumor ein gutes Ansprechen auf konventionelle Chemotherapie zeigte und Kinder, die durch ­Resektion, Bestrahlung oder konventionelle Chemotherapie vor der HDCH bereits weitgehend tumorfrei waren.

24

jjSpätfolgen Kinder mit Hirntumoren haben häufig unter Spätfolgen zu leiden. Außer dem Tumor wirkt sich auch die Therapie nachteilig auf das Gehirn aus, insbesondere bei Kindern bis zum 6. Lebensjahr. Nach einer Bestrahlung des Gehirns und Rückenmarks waren vaskuläre Läsionen und Störungen der Myelinisierung Hauptursachen für die Spätfolgen. Außer der Bestrahlung spielen auch die Operation, ­perioperative Komplikationen und die Chemotherapie eine Rolle. Folgen der Bestrahlung und einer Chemotherapie mit Metho­ trexat, die in der MRT sichtbar werden, betreffen in erster Linie die weiße Substanz der Marklager. Seltener, aber im Einzelfall gravierend ist die Leukenzephalopathie (LEP), ein progredienter Untergang weißer Hirnsubstanz, der im MRT typische Veränderungen aufweist. Das klinische Korrelat der LEP reicht von asymptomatischen Befunden über leichte Funktionsstörungen bis zu Demenz und tödlichem Ausgang.

Neurologische Ausfallserscheinungen, wie z. B. eine Hemipa­ rese können nach Zerstörung entsprechender Hirnabschnitte per­ manent bestehen. Kinder mit Kleinhirntumoren leiden häufig unter Koordinationsstörungen, ataktischen Gangstörungen, Artikulationsstörungen und nicht selten einer Abduzensparese. Eine Optikusatrophie führt zu einer bleibenden Sehschwäche bis hin zur Erblindung. Neuropsychologische Störungen treten meist nach einer Bestrahlung des gesamten Gehirns auf. Häufig sind eine Beeinträchtigung des Konzentrationsvermögens, des Kurzzeitgedächtnis, der visuellen Wahrnehmung und des Lernvermögens. >> Die geistige Entwicklungsverzögerung, die zu einer deutlichen Erniedrigung des Intelligenzquotienten führt, ist umso ausgeprägter, je jünger die Kinder bei der Diagnose und ­Bestrahlung sind.

Neuroendokrinologische Funktionsstörungen werden überwie-

gend von Tumoren im Bereich der Hypophysen-HypothalamusAchse sowie durch ihre radikale Operation oder Bestrahlung verursacht. Die häufigste Endokrinopathie nach Bestrahlung ist der durch einen Mangel an Wachstumshormon bedingte Minderwuchs. Durch eine kraniospinale Bestrahlung kann sowohl eine primäre als auch eine sekundäre Unterfunktion der Schilddrüse hervorgerufen werden. Störungen der Pubertätsentwicklung sind nach Schädelbestrahlung bekannt. Eine Einschränkung der Fertilität ist v. a. bei Bestrahlung und nach Therapie mit Alkylanzien zu erwarten. Sekundärmalignome treten mit ca. 3% nur selten auf. Zweit­ tumoren, wie z. B. Meningeome, Glioblastome, aber auch Schild­ drüsenkarzinome, entstehen meist im Bereich des Strahlenfelds mit einer Latenz von 5–40 Jahren. Myeloische Leukämien wurden nach der Anwendung von Alkylanzien, wie z. B. Mustargen beobachtet. jjRehabilitation Durch die Spätfolgen wird die Lebensqualität der geheilten Kinder beeinträchtigt. Eine konsequente Rehabilitation hat daher einen ­hohen Stellenwert in der Nachsorge: 44 Krankengymnastische Übungsbehandlung, Ergotherapie, ­Logopädie und orthopädische Hilfen sind wichtig für eine bessere Kompensation neurologischer Ausfallserscheinungen. 44 Zur Förderung einer regulären Entwicklung ist die Substitution von Hormonen, wie z. B. von Wachstums- (HGH) und Schilddrüsenhormon (L-Thyroxin) oder von Vasopressin (DDAVP) bei nachgewiesenen Defiziten notwendig. Die HGH-Substitu­ tion kann etwa 2 Jahre nach Ende der Tumortherapie beginnen. 44 Die Förderung der schulischen Leistungsfähigkeit auf der Basis einer differenzierten neuropsychologischen Testung, eine an den Defiziten orientierte Berufsberatung sowie 44 im Einzelfall eine gezielte Psychotherapie sind für das spätere Leben der Kinder von großer Bedeutung. 24.5

Stammzelltherapie

P.G. Schlegel 24.5.1

Grundlagen

Stammzelltransplantation (SZT)  SZT ist ein Therapieverfahren, bei dem nach erfolgtem Auslöschen des eigenen Knochenmarks (7 Abschn. 24.5.2, 7 Konditionierung) eine Transplantation hämatopoetischer Stammzellen durchgeführt wird mit der Absicht, die ­Hämatopoese des Empfängers aus diesen transplantierten Zellen regenerieren zu lassen.

599 Onkologie

Arten der Transplantation  In Abhängigkeit vom Spender, von der Herkunft der Stammzellen sowie der Aufbereitung des Transplantats (engl. graft) können STZ wie folgt unterteilt werden: 44 Einteilung aufgrund des Spenders: autolog – allogen 55Entstammt das Transplantat einem Familien- oder Fremdspender, spricht man von allogener Transplantation. Werden hingegen die eigenen Stammzellen des Empfängers zu einem früheren Zeitpunkt gewonnen, eingefroren und in der Folge an den Empfänger zurückgegeben, so handelt es sich dabei um eine autologe Transplantation. 44 Einteilung aufgrund der Herkunft: Knochenmarkstammzellen – periphere Blutstammzellen – Nabelschnurblutstammzellen 55Stammzellen können aus dem Knochenmark, aus dem ­peripheren Blut oder aus dem Nabelschnurblut gewonnen werden. Zur Gewinnung von Stammzellen aus dem peripheren Blut ist die Vorbehandlung des Spenders über einen Zeitraum von 5–6 Tagen mit G-CSF erforderlich, um die Stammzellen aus dem Knochenmark in das periphere Blut zu „mobilisieren“. 44 Einteilung aufgrund der Aufbereitung: Unmanipuliert – aufgereinigt 55Jedes Stammzellpräparat beinhaltet neben den eigentlichen hämatopoetischen Stammzellen eine Vielzahl weiterer ­Zellen. Meist wird das gesamte Präparat in toto eingesetzt (unmanipuliertes Stammzellpräparat). In bestimmten ­Situationen muss jedoch die eigentliche Stammzellfraktion durch spezielle Techniken selektioniert werden, sodass ­lediglich diese „hochaufgereinigte“ Fraktion transplantiert werden kann. Als Marker für die Aufreinigung hämatopoetischer Stammzellen dient das Oberflächenantigen CD34 (7 Abschn. 24.5.6). HLA-Merkmale bei allogener Stammzelltransplantation  Wird ein allogenes Transplantat eines Geschwister- oder Fremdspenders eingesetzt, sollte dabei ein Spender gewählt werden, dessen HLAMerkmale HLA-A, B, Cw, DRB1 und DQB1 (mit jeweils 2 Allelen) mit denen des Empfängers übereinstimmen. Spender und Empfänger sind somit im Hinblick auf vorgenannte Loci HLA-identisch. Dies ist von großer Bedeutung, um das Risiko einer Transplantatgegen-Empfänger-Erkrankung (7 Abschn. 24.5.4, 7 GvHD) möglichst gering zu halten. Bei Fehlen eines HLA-identischen Spenders, kann in bestimmten Situationen auf ein Elternteil als Stammzellspender zurückgegriffen werden. In diesem Fall darf jedoch – wegen der Gefahr einer massiven GvHD – lediglich die hochaufgereinigte Stammzellfrak­ tion transplantiert werden. Das HLA-Muster eines Elternspenders stimmt meist lediglich zur Hälfte mit dem des Kindes überein ­(„haploidentisch“).

24.5.2

Phasen einer Transplantation

Der zeitliche Verlauf einer Transplantation gliedert sich in 3 Phasen (. Abb. 24.24): 44 Konditionierung, 44 Transplantation, 44 Aplasie. Konditionierung  Die Phase der Konditionierungsbehandlung

dauert in der Regel 4–7 Tage und umfasst die sequenzielle Gabe verschiedener Chemotherapeutika mit oder ohne fraktionierte Ganzkörperbestrahlung (TBI, „total body irradiation“). Ziele dieser inten-

..Abb. 24.24  Phasen einer Stammzelltransplantation (SZT). TBI Ganzkörperbestrahlung, ATG Antilymphozytenglobulin

siven Behandlung sind zum einen die Zerstörung residualer Tumor-/Leukämiezellen, zum anderen die Ausschaltung der körpereigenen Immunabwehr des Empfängers, sodass neues Knochenmark nicht mehr abgestoßen werden kann. Chemotherapeu­tika bein­

halten vornehmlich Substanzen der Gruppe der Alkylan­zien. Der Einsatz fraktionierter Ganzkörperbestrahlung im Kindesalter wird wegen ihrer negativen Auswirkungen auf Wachstum, endokrine ­Organe, Fertilität und wegen der späten Induktion von Zweittumoren im Kindesalter (≥4 Jahren) nur bei Hochrisikopatienten eingesetzt. Bei Fremdspendertransplantationen und bei haploidentischen Transplantationen wird zur Konditionierung Antilymphozyten­ globulin (ATG) als zusätzliche Prophylaxe gegen eine mögliche Abstoßungsreaktion eingesetzt.

Transplantation  Die Transplantation selbst beinhaltet die i.v.-Infusion entweder des gesamten Knochenmarks oder der aufgereinigten Stammzellfraktion über einen zentralvenösen Katheter. Die infundierten Spenderstammzellen finden über eine Kaskade bestimmter Adhäsions- und Homing-Rezeptoren den Weg in den nun „leeren“ Knochenmarkraum, siedeln sich im Stroma des Knochenmarkraumes an und beginnen – vermittelt durch Signale des lokalen Stroma – sich zu teilen und zu differenzieren (. Abb. 24.24). Aplasie  Gefolgt werden die beiden vorangegangenen Zeitabschnitte durch die Phase der Aplasie. In dieser Phase teilen sich die infundierten Stammzellen in Tochterstammzellen und in Progeni-

torzellen, die sich sowohl in die verschiedenen Blut bildenden Linien aufteilen als auch zu antigenpräsentierenden Zellen differenzieren. Insgesamt ist ein Zeitraum von ca. 12–14 Tagen (autologe SZT) bzw. 14–21 Tagen (allogene SZT) nötig, bis eine Leukozytenzahl >1.000/ µl bzw. eine Granulozytenzahl >500/µl im peripheren Blut erreicht wird. Während der Aplasiephase kommen die toxischen Nebenwirkungen der Konditionierungstherapie zeitverzögert zur Ausprägung. Diese können beinhalten: 44 Mukositis (Entzündung der Schleimhäute des Magen-DarmTrakts mit schmerzhaften Ulzerationen, Durchfällen, Elektrolytstörungen, Blutungsneigung), 44 kompletter Ausfall der Hämatopoese (Anämie, Thrombozytopenie, Neutropenie), 44 passagere Niereninsuffizienz (Ausscheidungsstörung, Ödembildung, Hypertonus), 44 Verlust der Immunabwehr, bedingt durch Neutropenie und durch Zerstörung der intakten Haut-Schleimhaut-Barriere (bakterielle Sepsis, virale Infektionen, invasive Aspergillose), 44 toxische Beeinträchtigung der Funktion weiterer Organe ­(Leber, Lunge, Herz u. a.).

Während der Phase der Aplasie ist eine intensivmedizinische ­Betreuung in speziell belüfteten Einzelzimmern mit Schleuse erfor-

24

600

G. Henze et al.

derlich. Insgesamt erstreckt sich die stationäre Betreuung transplantierter Kinder über einen Zeitraum von 4–6 Wochen. !! Cave Leukozytenarme Erythrozyten- und Thrombozytenkonzen­ trate müssen zur Vermeidung einer transfusionsassoziierten GvHD bestrahlt (2.500 cGy) werden. Knochenmark und Stammzellen hingegen dürfen nie bestrahlt werden!

Nachsorge  Nach dem Anwachsen des neuen Knochenmarks wird

eine längerfristige ambulante Betreuung erforderlich, die sich über einen Zeitraum von 100 Tagen bei autolog transplantierten Kindern und von 6 Monaten bei allogen transplantierten Patienten erstreckt. Während der ersten 30–90 Tage benötigen einige Kinder noch Thrombozytensubstitutionen. In dem Zeitraum bis zu 12 Monaten erfolgt die allmähliche Rückkehr der immunologischen Funktionen von T- und B-Zellen, die sich in einer besseren Infektabwehr ­widerspiegelt. Die Neuformung des Immunsystems nach Transplantation erfolgt dabei mit einer bestimmten zeitlichen Abfolge: NK-Zellen (natürliche Killerzellen, CD56+) rekonstituieren dabei als erste immunologische Effektorzellen in den ersten 3–4 Wochen nach SZT. Nach Zunahme dieser Zellen folgt ein allmähliches Ansteigen des T- und B-Zellpools, wobei noch bis zu 12 Monate nach Transplantation ein inverses CD4-CD8-Verhältnis und eine reduzierte T-Zellfunktion beobachtet werden können. Während dieses Zeitraums drohen 2 Gefahren, die im Zentrum jeder Nachbetreuung stehen: 44 systemische Infektionen (bakteriell, viral, fungal) mit fulminantem Verlauf, 44 Rezidiv der Grunderkrankung. Aus diesen Gründen wird in den meisten Transplantationszentren eine engmaschige molekularbiologische Überwachung während des ersten Jahres nach Transplantation durchgeführt, um Patienten mit einem drohenden Rezidiv frühzeitig zu erkennen und einer ­Therapie (7 Abschn. 24.5.4 und 7 Abschn. 24.5.5) zuzuführen. Diese molekularbiologische Überwachung erfolgt mittels: 44 Chimärismus-Analyse: Mit dieser Technik kann der prozen­ tuale Anteil von Spender- zu Empfängerzellen im peripheren Blut in engmaschigen Abständen (zunächst wöchentlich, später monatlich) kontrolliert werden. Spender- und Empfängerzellen unterscheiden sich dabei in der Länge sog. Minisatellitenregionen (engl. VNTR, „variable number of tandem repeats“). Ein zunehmender gemischter Chimärismus identifiziert Patienten mit einem hohen Rezidivrisiko. 44 Analyse der minimalen Resterkrankung: Mit dieser Technik kann die spezifische Restlast residualer Leukämiezellen (z. B. bcr-abl-positiver CML-Blasten, Nachweis des spezifischen klonalen Rearrangements der variablen (V), diversen (D), joining (J) und konstanten (k) Regionen des leukämischen Klons) in der Regel im Knochenmark erfasst werden. Die Restlast (MRD, „minimal residual disease“) sollte im Verlauf der ersten Monate nach SZT durch die Graft-versus-leukemia-Reaktion (7 Abschn. 24.5.4) verschwinden. 24.5.3

24

Indikationen im Kindesalter

Die Indikationen zur Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantation umfassen eine Reihe maligner und nichtmaligner Systemerkrankungen im Kindesalter (. Tab. 24.16).

..Tab. 24.16  Übersicht: Indikationen zur Stammzelltransplantation im Kindesalter Grunderkrankungen

Allogen

Autolog

Sib/UDa

ADb

● ● ● – ● ●

Maligne Erkrankungen Erkrankungen des Knochenmarks

ALL CR1 Hochrisiko ALL CR2 ALL >CR2 AML Nonresponder AML CR1 Hochrisikoc AML CR2 MDS CML CP, AP

● ● ● ● ● ● ● (●)

Solide ­Tumoren

Neuroblastom Rhabdomyosarkom Ewing-Sarkom

(●) (●) (●)

ZNS-Tumoren

Medulloblastom PNETe

● (●) ● ●d ●d

Nichtmaligne Erkrankungen Syndrome mit Knochenmarkinsuffizienz

SAAf Blackfan-Diamond Fanconi-Anämie

● ● ●

Hämoblobinopathien

β-Thalassaemia major Sichelzellerkrankung (SS)

● ●

Immun­defekte

SCIDg Wiskott-AldrichSyndrom

● ●

Selektive Autoimmun­ erkrankungen

Multiple Sklerose Juvenile rheumatoide Arthritis

● ● ●

● ● ●d ●d

a „sibling

donor“ (HLA-identischer Geschwisterspender), „unrelated donor“ (HLA-identischer Fremdspender); b „alternative donor“ (Fremdspender oder HLA-nichtidentischer Familienspender); c bei Vorliegen bestimmter Mutationen; d zurzeit in Behandlungsprotokollen spezialisierter Zentren; e primitiver neuroektodermaler Tumor; f schwere aplastische Anämie; g schwerer kombinierter Immundefekt

Hämatopoetische und lymphatische Malignome Akute lymphatische Leukämie (ALL)  Kinder mit ALL haben mit

modernen Behandlungsprotokollen eine Heilungschance von über 80% und sind deshalb primär keine Kandidaten für eine SZT. Hingegen fallen Kinder mit schlechtem Ansprechen auf die Therapie sowie Kinder mit dem Vorliegen spezieller Translokationen (t[9; 22] [q43; q11] mit Rearrangement der bcr- und abl-Gene; t[4;11] [q21; q23] mit Entstehung des AF4-MLL-Fusionsgens) oder persistierendem Knochenmarkbefall in den Hochrisikoarm der ALL-Behandlung und werden aufgrund ihrer schlechteren Prognose bereits in erster kompletter Remission (CR1) transplantiert. ALL-Rezidiv  Die Mehrzahl der Studien, die den Einsatz von Che-

motherapie bei Kindern mit ALL-Rezidiv untersuchen, ergibt eine rezidivfreie Überlebensrate von 25–40%. Im Gegensatz dazu resultiert die allogene SZT bei ALL-CR2 in Überlebensraten von 40–65%. Ein signifikanter Unterschied zugunsten der allogenen SZT wurde dabei v. a. bei frühen Rezidiven (> Hochdosistherapiekonzept: Durch die anschließende Reinfusion eingefrorener autologer Stammzellen (als Rescue) kann die Chemotherapiedosis bei der Behandlung solider Tumoren um ein Vielfaches gegenüber konventioneller Chemotherapie gesteigert werden.

Dieser Hochdosistherapieeffekt verbesserte die 4-Jahresüberlebenswahrscheinlichkeit von Kindern mit Neuroblastom (Stadium IV, >1 Jahr) von 19% im Chemotherapieerhaltungsarm auf 49% nach autologer SZT. Kinder mit Stadium IV und Kinder, deren Tumor die Amplifikation des N-myc-Gens aufweist, profitieren besonders. Kinder mit regional begrenztem Ewing-Sarkom haben mit ­Chemotherapie eine rezidivfreie Überlebenswahrscheinlichkeit von bis zu 70% und sind keine Kandidaten für eine autologe SZT. Eine Untergruppe von Kindern mit Knochen- oder Knochenmarkmetastasen bei Diagnose verfügen über eine wesentlich schlechtere Prognose und sollten einer Hochdosistherapie zugeführt werden. Junge Kinder mit primärer Metastasierung eines Medulloblastoms bei Diagnosestellung profitieren von der Hochdosistherapie. Primitive neuroektodermale Tumoren (PNET), die histologisch dem Medulloblastom ähneln, sind Tumoren mit supratentorieller Lokalisation. Obgleich primär chemotherapiesensibel, weisen diese Tumoren nach einem Rezidiv meist einen letalen Verlauf auf. Nach neuesten Untersuchungen können möglicherweise junge Kinder durch die Tandemhochdosischemotherapie eine Remission erfahren. Nichtmaligne Erkrankungen  Für eine Reihe pädiatrischer Patienten mit Knochenmarkinsuffizienz („bone marrow failure syndromes“), Hämoglobinopathien und Immundefekten stellt die allogene STZ z. Z. die einzige kurative Behandlungsmöglichkeit dar. Sie wird in spezialisierten Behandlungszentren durchgeführt.

24.5.4

Frühe Komplikationen

Abstoßungsreaktion jjGrundlagen In seltenen Fällen kann das neue Knochenmark von wenigen überlebenden immunologischen Effektorzellen des Empfängers als fremd erkannt werden und abgestoßen werden, sodass entweder

primär kein Anwachsen der neuen Stammzellen erfolgt oder nach vorübergehendem Anwachsen der neuen Zellen eine Abstoßung im zeitlichen Intervall eintritt. Verantwortlich für beide Prozesse sind sowohl T-Lymphozyten als auch NK-Zellen des Empfängers. Diese Komplikation ist relativ selten (3–5%). Häufiger wird sie bei polytransfundierten HLA-sensibilisierten Patienten beobachtet (Patienten mit schwerer aplastischer Anämie oder β-Thalassaemia major). jjKlinik Bei primärem Nichtangehen persistiert die Phase der Aplasie. Bei sekundärer Abstoßung kommt es zum vorübergehenden Ansteigen der Granulozyten, gefolgt von einem erneuten Absinken der Leukozytenzahlen mehrere Tage nach zunächst erfolgreicher hämato­ poetischer Regeneration. Begleitet wird diese Episode oft von einer vorübergehenden relativen Lymphozytose und Fieber. jjTherapie Immunologische Rekonditionierung und erneute Transplantation. jjPrognose Erfolgsquote ca. 70%

Rezidiv >> Das leukämische Rezidiv ist die häufigste Todesursache nach zunächst erfolgreicher STZ.

jjGrundlagen Das Rezidiv leitet sich von wenigen leukämischen Blasten mit ­extensiver Teilungs- und Proliferationskapazität ab, die die vor­ ausgehende Konditionierung durch Chemotherapeutika und/oder TBI überlebt haben. Für die immunologische Überwachung ­residualer Blasten nach Transplantation ist der Gehalt an immunologischen Effektorzellen von großer Bedeutung. So weisen Transplantationen mit klassischer T-Zelldepletion eine höhere Rate an Rezidiven auf. jjHäufigkeit 10–30%. jjKlinik Häufig kündigt ein Abfall der Thrombozytenzahl ein drohendes hämatologisches Rezidiv an. Im Knochenmark finden sich dabei >5% Blasten, meist verbunden mit dem Ausschwemmen unreifer Vorstufen in das periphere Blut. jjTherapie Verschiedene Therapieansätze kommen in unterschiedlichen Situationen zum Einsatz: 44 Absetzen der Immunsuppression: Eine immunsuppressive Therapie ist während der ersten 100–150 Tage nach allogener nicht T-zelldepletierter STZ erforderlich, um eine Graft-­ versus-host-Erkrankung (7 Abschn. 24.5.4) möglichst zu vermeiden. In frühen Stadien eines Rezidivs kann – in einzelnen Fällen – durch Absetzen der Immunsuppression eine Remis­ sion erzielt werden. Die Gefahr der Induktion einer überschießenden akuten GvHD ist relativ hoch. 44 Chemotherapie: Durch Chemotherapie wird versucht, eine ­ rneute Remission zu erreichen. Je später das Rezidiv nach e Transplantation auftritt, desto günstiger ist dabei dieser Versuch. Patienten mit einem Rezidiv innerhalb der ersten 100 Tage nach Transplantation können nur äußerst selten in eine erneute Remission gebracht werden.

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602

G. Henze et al.

44 Zweittransplantation: Eine Zweittransplantation stellt den therapieintensivsten Versuch dar, die rekurrierende Grund­ erkrankung zu eliminieren. Der Erfolg hängt wesentlich vom Zeitintervall zur Ersttransplantation ab sowie von Stadium und Aggressivität der Leukämie und vom Allgemeinzustand des Patienten. 44 Spenderlymphozyten („donor lymphocyte infusion“, DLI): Durch frühzeitige Gabe von Spenderlymphozyten kann ein ­Rezidiv günstig beeinflusst werden. Dies trifft v. a. auf Patienten mit CML zu. In neueren Studien, die pädiatrische Patienten mit akuten Leukämien (AML, ALL) prospektiv verfolgen, kann auch bei dieser Patientengruppe ein drohendes Rezidiv, das molekularbiologisch erkannt wird, abgewandt werden. jjPrognose Die Prognose ist ernst und wesentlich abhängig vom Zeitintervall zur vorausgegangenen Transplantation.

Infektionen während der Phase der Aplasie j jGrundlagen Bei allogenen Stammzellempfängern kann die Transplantations­ periode im Hinblick auf Infektionen in 2 Abschnitte unterteilt ­werden. Während der Phase der Aplasie (1. Phase) finden sich gehäuft bakterielle Infektionen, ausgelöst durch Neutropenie und durch Zerstörung wichtiger Haut- und Schleimhautbarrieren. Es handelt sich dabei sowohl um gramnegative als auch grampositive Erreger. jjKlinik Bakterielle Infektionen  Bei Fieber ohne gesicherten Fokus muss

bei neutropenischen Patienten von einer bakteriellen Infektion ausgegangen werden. Weitere Hinweise sind eine Verschlechterung des klinischen Allgemeinzustandes, Blutdruckabfall und Ausscheidungsstörung, laborchemisch ein Ansteigen unspezifischer Ent­ zündungsparameter (C-reaktives Protein). !! Cave

jjGrundlagen Nach erfolgtem Anwachsen des neuen Knochenmarks (engl. ­„engraftment“) beginnt infektiologisch die 2. Phase (Phase der ­Immunrekonstitution). Bis zum Ende des ersten Jahres nach Transplantation sind T- und B-Zellfunktionen transplantierter Kinder noch deutlich erniedrigt, was wesentlich zu einer erhöhten Infek­ tionsrate beiträgt. In dieser Phase finden sich gehäuft virale Infek­ tionen. Als Erreger kommen dabei v. a. CMV (zumeist endogene Reaktivierung bei seropositivem Stammzellspender und/oder Empfänger), HSV, VZV, HHV 6 und Adenovirus in Betracht. jjKlinik Eine endogene CMV-Virusreaktivierung kann zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung führen. Das klinische Bild umfasst Fieber, evtl. ein flüchtiges Exanthem mit unspezifischer Pneumonie. Der diagnostische Nachweis erfolgt durch den Nachweis des CMV-Virus im Blut und/oder Urin. Der PCR-Nachweis ermöglicht eine frühzeitige Therapie, bevor es zum vollen klinischen Erscheinungsbild kommt. jjTherapie Ganciclovir, Foscarnet; ggf. Cidofovir.

Graft-versus-host-Erkrankung (GvHD) jjGrundlagen Reife T-Lymphozyten im Transplantat erkennen neben Antigenstrukturen residualer maligner Zellen auch Antigenstrukturen gesunder Gewebe des Empfängers als „fremd“. Durch den Kontakt mit den Antigenen des Transplantatempfängers werden diese T-Zellen aktiviert, proliferieren und führen über multiple primäre und sekundäre Mechanismen zum immunologischen Angriff auf gesundes Gewebe, der sog. Graft-versus-host-Erkrankung (syn. Transplantatgegen-Empfänger-Erkrankung).

Fungale Infektionen  Therapieresistentes Fieber für 3–5 Tage trotz adäquat durchgeführter antibiotischer Therapie erfordert weitere diagnostische Maßnahmen zum Nachweis einer fungalen oder viralen Infektion. Der Nachweis einer fungalen Infektion ist meist schwierig und basiert auf klinischen Parametern (therapierefraktäres Fieber, Verschlechterung des Allgemeinzustands) und laborchemischen Parametern (therapierefraktäres CRP, positiver Nachweis von Candida-Ag oder Aspergillus-Ag im Serum und einer positiven Aspergillus-PCR im Serum oder dem direkten Nachweis in der Bronchiallavage). In der Bildgebung finden sich Aspergillusherde typischerweise im CT von Thorax (noduläre Fleckschatten, in bis zu ⅓ der Fälle mit Kavitation) oder Nasennebenhöhlen.

jjKlinik Die akute GvHD stellt eine der wichtigsten Komplikationen nach allogener Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantation dar, deren Häufigkeit trotz immunsuppressiver Therapie und trotz HLA-Identität in verschiedenen Studien zwischen 27 und 83% liegt und deren Letalität bis zu 50% betragen kann. Die GvHD tritt klinisch in 2 unterschiedlichen Manifestationsformen auf: 44 Die akute GvHD stellt eine lebensbedrohliche Erkrankung dar, die die Zielorgane Haut, Intestinum und Leber betrifft und während der ersten 100 Tage nach SZT auftritt. 44 Die chronische GvHD tritt gewöhnlich nach den ersten ­ 100 Tagen auf und beschreibt ein autoimmunartiges Krankheitsbild mit sklerodermieartigen Hautveränderungen, ­Atrophie und chronischer Entzündungen der Mukosa v. a. im Bereich der Schleimhäute und der Konjunktiven.

j jTherapie

Akute GvHD  Sie tritt innerhalb der ersten 100 Tage nach Trans-

Bei bis zu 70% aller Patienten kann in der Blutkultur kein Keimnachweis erbracht werden.

Bakterielle Infektionen  Die Therapie bakterieller Infektionen ­erfolgt als empirische Kombinationstherapie, die sowohl gramne-

gative als auch grampositive Erreger einschließen sollte.

Fungale Infektionen  Bei dringendem klinischem Verdacht oder

24

Infektionen während der Phase der Immun­ rekonstitution

bei gesichertem Nachweis erfolgt die Therapie mittels liposomalem Amphotericin B oder Voriconazol.

plantation auf. 44 Haut: Erythem der Haut (mit Prädilektionsstellen an Fußsohlen und Handtellern und Ausbreitung über den gesamten Körper; . Abb. 24.25), evtl. mit Blasenbildung und Epidermolyse. 44 Gastrointestinaltrakt: Ausgeprägte blutig-schleimige Durchfälle mit Flüssigkeits- und Elektrolytverlusten, Gerinnungsstörungen, sekundärer Anämie bis hin zu irreparabler Zerstörung der gesamten Mukosa und damit letalem Ausgang.

603 Onkologie

Veno-occlusive disease (VOD) jjGrundlagen Ausgelöst wird die Erkrankung durch einen Endothelzellschaden der terminalen hepatischen Venolen. Dieser Schaden entsteht ­entweder als direkte Folge der zytotoxischen Medikamente während der Konditionierungsphase oder sekundär vermittelt durch Zytokinfreisetzung. In der Folge kommt es zur (nichtthrombotischen) ­ bliteration schmaler hepatischer Venolen und zur Zerstörung O der umgebenden zentrolobulären Hepatozyten (Zone 3 des Leberazinus). Die Erkrankung kann fortschreiten bis zum Multiorganversagen.

..Abb. 24.25  Makulopapulöses Exanthem der Extremitäten als kutane Manifestation der Graft-versus-host-Erkrankung

44 Leber: Anstieg des direkten Bilirubins, der alkalischen Phosphatase, Synthesestörungen mit Abfall von Serumalbumin und Gerinnungsparametern. Chronische GvHD  Die cGvHD tritt nach den ersten 100 Tagen nach Transplantation auf. Sie kann sich aus einer akuten Form heraus entwickeln, kann jedoch auch als eigenständiges Krankheitsbild auftreten. Die chronische Form betrifft v. a. Haut und Schleimhäute mit chronischer Entzündung, Induration und Sklerosierung, begleitet von Episoden sekundärer Infektion [viral (HSV) und bakteriell]. Der Verlauf ist variabel und kann sich über Monate und Jahre er­ strecken.

jjProphylaxe Die Wahl der optimalen GvHD-Prophylaxe ist in zahlreichen Stu­ dien intensiv untersucht worden und wird bislang von verschiedenen Zentren unterschiedlich gehandhabt. Agenzien, die in der Präven­ tion z. Z. eingesetzt werden, sind Ciclosporin A, FK506, Prednison, ­Methotrexat und Mycophenolat Mofetil. Die Inzidenz der akuten GvHD bei HLA-identischen Geschwisterspendern beträgt bei der Mehrzahl dieser pharmakologischen Regime 10–40%. Entscheidender Nachteil aller dieser Kombinationen ist ihr generalisierter Effekt der Immunsuppression, der zu einer erhöhten Rate an lebensbedrohlichen Infektionen nach allogener Transplantation führt und möglicherweise auch die immunologische Erkennung und Überwachung residualer Leukämiezellen durch das Transplantat negativ beeinflusst. jjTherapie Tritt trotz GvHD-Prophylaxe eine akute GvHD auf, so umfasst die Therapie – je nach Schweregrad der Erkrankung – die Gabe von ­Decortin in steigender Dosierung (2–5 mg/kgKG/Tag) sowie ggf. die Verabreichung eines Antikörpers, der gegen T-Zellen, gegen TNF-α oder gegen den IL-6-Rezeptor gerichtet ist. Neue Ansätze wie z. B. immunmodulatorisch wirkende mesenchymale Stromazellen (MSC) oder die extrakorporale Photopherese werden derzeit ge­testet. jjPrognose Sie ist abhängig vom Ausprägungsgrad und vom Ansprechen­ auf D ­ ecortin. Die Mortalität steroidresistenter Verläufe beträgt bis­ zu 80%.

jjKlinik Beginn der Erkrankung während der ersten 4 Wochen nach Transplantation. Charakteristische Symptome sind: 44 Ikterus, 44 schmerzhafte Lebervergrößerung, 44 Gewichtszunahme (durch Flüssigkeitsretention), 44 Aszites. Differenzialdiagnostisch müssen eine GvHD zum einen, virale Erkrankungen zum anderen und ein CSA-induzierter Bilirubinanstieg erwogen werden. Dopplersonographisch ist eine Flussreduktion, ein Pendelfluss oder Umkehrfluss in der V. portae beweisend für das Vorliegen einer VOD. >> Die prophylaktische Gabe von Low-dose-Heparin (100 E/kgKG/Tag) als Dauerinfusion vermag die Rate an VOD signifikant zu senken.

jjTherapie 44 Defibrotide, 44 rekombinanter Tissue Plasminogen Activator (r-tPA) in Verbindung mit Low-dose-Heparin. Nebenwirkung: ausgeprägte Blutungsneigung. 24.5.5

Späte Komplikationen

Die SZT ermöglicht erstmalig das Überleben von Kindern mit fortgeschrittenen malignen Erkrankungen, die noch vor kurzer Zeit keine Chance auf ein längerfristiges Überleben hatten. Die notwendige intensive Konditionierung (Chemotherapie und/oder TBI) führt jedoch zu einer ganzen Reihe von Langzeitfolgen, die in ihrer Bedeutung erst in den letzten Jahren durch längere prospektive Nachsorgeuntersuchungen erkannt wurden. 44 Augen: Katarakt (nach TBI), Sicca-Syndrom (im Rahmen einer cGvHD), 44 ZNS: kognitive Langzeitfolgen (noch unbekannt), 44 Zähne: v. a. junge Kinder: dentale Hypoplasien, erhöhte Prädisposition für Karies, 44 Lunge: restriktive und/oder obstruktive Lungenveränderungen; Pneumonitis wenige Wochen nach Transplantation mit ­sekundären fibrotischen Veränderungen, 44 hormonelle Störungen: Hypothyreose, Wachstumsretardierung, gonadale Dysfunktion, 44 Zweittumoren: Lymphome, meistens EBV-assoziiert (1. Jahr), Therapie: EBV-spezifische T-Zellklone; solide Tumoren ­(3–5%), Zweitleukämien (nach 7–15 Jahren).

24

604

24.5.6

G. Henze et al.

Neue Ansätze

Die SZT ist ein sich rasch entwickelndes Feld. Neue Therapieansätze, hervorgegangen aus der Grundlagenforschung, finden mit rascher Geschwindigkeit ihren Einzug in die klinische Anwendung. Einige der wichtigsten neuen Entwicklungen werden im Folgenden kurz dargestellt.

Zellanreicherungsverfahren Ziel dieses Ansatzes ist die hochselektive Anreicherung humaner hämatopoetischer Stammzellen. Diese Stammzellpopulationen sind positiv für die Marker CD34 und negativ für linienspezifische Marker reiferer Zellpopulationen. Im autologen Setting dient diese Aufreinigung der Entfernung kontaminierender Tumorzellen. Im allogenen Setting wird diese Methode durchgeführt, um reife immunkompetente T-Zellen und B-Zellen aus dem Transplantat zu entfernen. Die Entfernung der T-Zellen führt zu einer Reduktion der GvHD-Inzidenz auf 0%, während die B-Zelldepletion entscheidend zur Verringerung EBV-assoziierter Lymphome im ersten Jahr nach Transplantation beiträgt. Neben diesen positiven Selektionsverfahren werden in jüngster Zeit negative Depletionsverfahren weiterentwickelt, mit deren ­Hilfe aus einem haploidentischen Stammzelltransplantat lediglich reife T- und B-Zellen entfernt werden, während neben Stammzellen weitere lymphatische Progenitoren und dendritische Zellen im Transplantat erhalten bleiben. Dieses Verfahren trägt mit dazu bei, die Regeneration des Immunsystems nach Transplantation zu ­beschleunigen. Es findet Anwendung bei Kindern und Jugendlichen, die über keinen konventionellen HLA-identischen Spender ver­ fügen.

Immunmodulation in der frühen Post-KMT-Phase Durch engmaschiges molekularbiologisches Monitoring (serielle Chimärismusanalyse des Bluts) können diejenigen Patienten prospektiv identifiziert werden, bei denen ein Rückfall unmittelbar bevorsteht. Dabei kommt ein PCR-gesteuertes Stufenkonzept zum Einsatz, in dem in der ersten Stufe zunächst auf die Immunsuppression verzichtet wird und bei zunehmenden positiven Empfänger­ signal Spenderlymphozyten in steigender Dosierung verabreicht werden. Durch diesen Ansatz kann es bei bis zu 60% der Patienten gelingen, ein drohendes Rezidiv zu verhindern.

Stammzelltransplantation bei ausgewählten ­Autoimmunerkrankungen Autoimmunerkrankungen werden durch ein Repertoire autoreaktiver T- und B-Zellklone unterhalten, die – möglicherweise getriggert durch molekulare Mimikry zwischen viralen und körpereigenen Epitopen – initial einige wenige körpereigene Antigene als fremd erkennen und dagegen reagieren. In der weiteren Folge einer Erkrankung kommt es zum „epitope spreading“, der Ausweitung des Spektrums der Erkrankung auf andere Autoantigene. In Pilotstudien für Patienten mit multipler Sklerose (MS) oder mit therapiere­ fraktärer juveniler rheumatoider Arthritis konnte durch Transplantation aufgereinigter autologer Stammzellen eine langandauernde Remission induziert werden.

24

605

Niere und Harnwege Inhaltsverzeichnis Kapitel 25

Niere und Harnwege interdisziplinär – 607 D. Haffner, C. Petersen

XI

607

Niere und Harnwege interdisziplinär D. Haffner, C. Petersen

25.1

Grundlagen  – 609

25.2

Äußeres Genitale  – 609

25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4 25.2.5 25.2.6

Phimose  – 609 Labiensynechie  – 609 Hypospadie  – 610 Maldeszensus Testis  – 611 Varicozele  – 612 Kinderurologische Notfälle  – 612

25.3

Nieren- und Harnwegsfehlbildungen (CAKUT)   – 612

25.3.1 Anlagestörungen der Niere  – 613 25.3.2 Anlagestörungen der ableitenden ­Harnwege  – 614

25.4

Blasenentleerungsstörungen, Enuresis und funktionelle ­Harninkontinenz  – 618

25.5

Harnwegsinfektionen  – 619

25.6

Polyzystische Nierenerkrankungen  – 624

25.6.1 Autosomal-rezessive polyzystische ­Nierenerkrankung (ARPKD)  – 624 25.6.2 Autosomal-dominante polyzystische ­Nierenerkrankung (ADPKD)  – 625 25.6.3 Nephronophthise  – 625

25.7

Glomerulopathien  – 626

25.7.1 25.7.2 25.7.3 25.7.4

Nephrotische Syndrome  – 628 Nephritische Syndrome  – 630 Systemerkrankungen mit glomerulärer und vaskulärer Beteiligung  – 632 Andere Glomerulopathien  – 633

25.8

Tubulopathien  – 636

25.8.1 25.8.2 25.8.3 25.8.4

Diabetes insipidus renalis  – 636 Bartter-Syndrom (BS)  – 636 Renal-tubuläre Azidose  – 636 Komplexe Tubulopathien  – 637

25.9

Tubulointerstitielle Erkrankungen  – 637

25.9.1 Tubulointerstitielle Nephritis  – 637 25.9.2 Nephrolithiasis und Nephrokalzinose  – 637 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_25

25

25.10 Nierenvenenthrombose  – 638 25.11 Akutes Nierenversagen  – 638 25.12 Chronische Niereninsuffizienz  – 639 25.13 Dialyse und Transplantation  – 641 25.13.1 Dialyse  – 641 25.13.2 Transplantation  – 641

609 Niere und Harnwege interdisziplinär

25.1

Grundlagen

Nierenerkrankungen sind häufig zunächst klinisch stumm und ­fallen durch eher unspezifische akute Symptome wie Fieber, Kopf-, Bauch- oder Rückenschmerzen auf. Seltener findet sich eine Polyurie, Dysurie, Makrohämaturie oder Ödeme. Als chronische Symptome sind Gedeih- bzw. Wachstumsstörung, verzögerte Pubertätsentwicklung, Blässe, Leistungsschwäche, und Inappetenz zu nennen. Ätiologisch kommen angeborene (malformative), infektiöse, immunologische, metabolische und maligne Prozesse in Betracht. Da­ rüber hinaus können die Nieren im Rahmen von rheumatologischen und sonstigen systemischen Erkrankungen, Ausfall anderer Organe (Herz, Lunge, Leber) oder nephrotoxischen Medikamenten sekundär beeinträchtigt werden. Ungefähr 5% aller Mädchen leiden bis zum 15. Lebensjahr mindestens einmalig unter Harnwegsinfektionen (HWI) oder asymptomatischer Bakteriurie. Etwas weniger als 1% aller Kinder werden mit Nieren- und Harnwegsanomalien geboren, von denen jedoch nur ein Teil behandelt werden muss. Jedes Jahr entwickeln 4–6 Kinder unter 15 Jahren pro 1 Mio. Einwohner ein akutes Nierenversagen und jährlich bedürfen 1–2 Kinder pro 1 Mio. Einwohner aufgrund einer chronischen Niereninsuffizienz einer Nierentransplantation. Die häufigste Ursache eines akuten Nierenversagens im Kindesalter ist das hämolytisch-urämische Syndrom; die häufigste Ursache eines chronischen Nierenversagens sind Fehlbildungen der Nieren und ableitenden Harnwege, gefolgt vom nephrotischen Syndrom bei fokalsegmentaler Glomerulosklerose und Zystennieren. 25.2

Äußeres Genitale

25.2.1

Phimose

jjDefinition Definitionsgemäß besteht eine Phimose (. Abb. 25.1), wenn sich die Vorhaut nicht über die Glans retrahieren lässt. Bei vielen Neugeborenen ist das der Fall, wobei das innere Vorhautblatt zusätzlich noch mit der Glans verklebt sein kann. Meist löst und weitet sich die Vorhaut während der ersten Lebensjahre spontan. Man spricht darum von einer physiologischen Phimose. Allerdings kann dieser Zustand auch länger fortbestehen und wird bei ca. 10% der 6- bis 7-jährigen Jungen beobachtet. jjKlinik Bei der typischen rüsselförmigen Vorhautenge des Neugeborenen bzw. Kleinkindes treten meist keine klinischen Symptome auf. Oft-

mals ist die Öffnung der Vorhaut jedoch so eng, dass sie bei der Miktion balloniert. Dies alleine ist keine Indikation für therapeutische Maßnahmen. Unter den genannten Bedingungen kann es ­jedoch auch zu einer Posthitis kommen. Dabei sind zunächst die Vorhaut und später der ganze Penis rot und geschwollen. Die Mik­ tion kann schmerzhaft sein und es entleert sich gelblich eitriges ­Sekret. Hier ist zunächst eine konservative Behandlung mit Sitz­ bädern angezeigt. Bei der klinischen Untersuchung versucht man die Vorhaut über die Glans zu streifen, wobei jedoch forcierte Redressionsmanöver nicht erfolgen dürfen. Beim Zurückziehen der Vorhaut gegen einen Widerstand würden unweigerlich Mikroverletzungen auftreten, die im Verlauf narbig verheilen und eine spontane Öffnung der Vorhautenge unwahrscheinlich machen würden. Wenn man beim Zurückstreifen der Vorhaut einen zirkulären etwas hell erscheinenden Ring sieht, so kann es sich um eine narbige Phimose bzw. einen Lichen sclerosus handeln. >> Nur durch eine klinische Untersuchung kann unterschieden werden, ob es sich um eine sog. physiologische Vorhautenge, oder ob es sich um eine narbige Phimose bzw. einen Lichen sclerosus handelt.

jjTherapie Die physiologische Phimose des Neugeborenen und Kleinkindes bedarf keiner Therapie. Kommt es jedoch wiederholt zu schmerzhaften Entzündungen der Vorhaut, ist eine Behandlung indiziert. Für die physiologische Phimose kann in jedem Alter zunächst ein oftmals erfolgreicher Therapieversuch mit lokaler Applikation von Kortikosteroiden erfolgen. Sollte diese Behandlung erfolglos bleiben, so ist wie bei der narbigen Phimose bzw. dem Verdacht auf Vorliegen eines Lichens die Zirkumzision indiziert. Bei diesem ­Eingriff kann ein unter Umständen kurzes Frenulum inzidiert und mittels Frenuloplastik korrigiert werden. jjSonderformen Eine Sonderform der Phimose stellt der „concealed bzw. hidden ­penis“ dar. In diesem Fall füllt sich bei der Miktion die atypisch verengte Vorhaut mit Urin, sodass diese kontinuierlich erweitert wird. Durch diese Expansion entsteht im Bereich des Mons pubis eine Vorwölbung, in welcher der Penis quasi verschwindet. Da in diesem Fall nicht mit einer spontanen Besserung zu rechnen ist und eine konventionelle Zirkumzision zum Verlust eines Teils der Penisschafthaut führen kann, sollte eine operative Korrektur möglichst frühzeitig in einem kinderurologischen Zentrum erfolgen. 25.2.2

Labiensynechie

Mit einem jeweiligen Altersgipfel in den ersten 2 sowie zwischen 6 und 7 Jahren kann eine Verklebung der Labia minora beobachtet werden. Meistens ist diese Verklebung asymptomatisch und löst sich spätestens mit Einsetzen der Pubertät spontan. Durch die Retention von Urin kann es jedoch zum klinischen Bild einer Pseudoinkon­ tinenz kommen. In diesen Fällen sowie beim Auftreten von HWI sollte zunächst eine lokale Behandlung mit Östrogencreme erfolgen. Erst wenn diese erfolglos bleibt, kann die Labiensynechie in einer Kurznarkose mechanisch gelöst werden. In diesem Fall ist jedoch darauf zu achten, dass eine konsequente Nachbehandlung durch ­Salbenapplikation durchgeführt wird, um ein erneutes Verkleben zu verhindern. ..Abb. 25.1  Hochgradige Phimose

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D. Haffner und C. Petersen

25.2.3

Hypospadie

j jDefinition Der Begriff Hypospadie beschreibt eine Entität, deren folgende 3 Merkmale in unterschiedlicher Kombination und Ausprägung vorliegen können: Das führende Symptom ist die Fehlmündung der Harnröhre, wobei der Meatus entlang einer Linie von der Normalposition auf der Glans bis zum Perineum platziert sein kann. Das zweite Merkmal ist eine ventrale Biegung des Penis. Diese kann bei milder Ausprägung lediglich die Glans betreffen, während bei stärker ausgeprägten Formen der ganze Penisschaft über seine ganze Länge gekrümmt sein kann. Das dritte Merkmal ist eine meist nicht zirkulär geschlossene Vorhaut, sodass diese auf der Dorsalseite der stets abgeflachten Glans aufliegt und dort mit dem inneren Blatt der Glans noch verklebt sein kann. Eine Ursache der Hypospadie ist nicht bekannt. Die heute favorisierte Hypothese besagt, dass vor einem hereditären Hintergrund eine unzureichende Androgenstimulation während der embryologischen Entwicklung verantwortlich ist. Die Inzidenz scheint regional unterschiedlich zu sein und wurde z. B. in den Niederlanden mit 38 Hypospadien bei 10.000 Geburten angegeben, wobei die distalen Formen überwiegen. Bei der proximalen Hypospadie, zu der penoskrotale (. Abb. 25.2) und perineale Fehlmündungen der Urethra zählen, gibt es eine Überschneidung zu dem großen Komplex der sexuellen Differenzierungsstörungen. Dabei kann die Hypospadie

a

nur der äußerlich sichtbare Teil eines sehr komplexen Fehlbildungssyndroms sein, das einer umfangreichen Diagnostik und Therapie bedarf. jjDiagnose Abgesehen von den sehr milde ausgeprägten Formen, bei denen nur eine geringe Fehlmündung der Harnröhre im Bereich der Glans besteht und die Vorhaut die Glans mehr oder weniger vollständig umschließt, wird die Hypospadie meist direkt nach der Geburt beobachtet. Die sich anschließende Diagnostik erfolgt in Abhängigkeit des Lokalbefunds. In jedem Fall sollte eine Ultraschalluntersuchung der ableitenden Harnwege durchgeführt und die Position der Hoden palpatorisch oder sonographisch verifiziert werden. Bei ausgeprägten Formen der Hypospadie, muss die Möglichkeit einer sexuellen Differenzierungsstörung in Betracht gezogen und der Patient zunächst einem pädiatrischen Endokrinologen vorgestellt werden. Sollte sich der Verdacht bestätigen, so ist eine sehr ausführliche und individuell abzustimmende Beratung der Eltern vorzunehmen. Die früher geübte Praxis, den Lokalbefund entsprechend dem Kerngeschlecht chirurgisch zu korrigieren, sollte heute nicht mehr erfolgen. Diesbezüglich findet z. Z. sowohl gesellschaftlich als auch fachübergreifend ein Prozess des Umdenkens statt, der die Notwendigkeit einer sofortigen Geschlechtsdetermination und frühzeitigen chirurgischen Maßnahmen in Frage stellt. Bei den meisten Patienten mit Hypospadie besteht jedoch kein Zweifel an der Geschlechtszugehörigkeit, sodass die Korrektur des

b

c

Smith 1938

Schaefer 1950

Avellan 1975

Browne 1938

Grad 1

Glandulär

Glandulär

Glandulär Subcoronar

Grad 2

Duckett 1996 Glandulär

New 2003

Anterior

Subcoronar Distal penil

Penil

Penil

Penil

Glandulär

Penil

Distal Mittig

Proximal penil

Grad 3

Perineal

Penoperineal

Penoskrotal

Perineal

Skrotal

Penoskrotal Skrotal

Posterior

Proximal

Perineal Perineal

Perineal

d ..Abb. 25.2  Penoskortale Hypospadie. a, b präoperativer Befund, c nach operativer Korrektur, d unterschiedliche Klassifikationen je nach Meatuslokalisation (Mod. nach Hadidi 2004)

611 Niere und Harnwege interdisziplinär

Primärbefunds im Vordergrund steht. Über den optimalen Zeitpunkt der Operation besteht Uneinigkeit: Für eine frühzeitige ­Operation spricht, dass Wundheilung und Narbenbildung in diesem Alter günstiger sind. Andere Kinderurologen empfehlen eine ­Korrektur wegen der Größenverhältnisse erst während der ersten 3 Lebensjahre. Generell besteht Einigkeit, dass die operativen Maßnahmen während einer Lebensphase erfolgen sollten, die in die ­physiologische Amnesie des Kleinkindes fällt. >> Die Behandlung von Patienten mit Hypospadien sollte wegen des fließenden Übergangs zu den sexuellen Differenzierungsstörungen (SDS) nur dort erfolgen, wo es eine interdiszipli­ näre Arbeitsgruppe gibt, die sich mit den endokrinologischen, chirurgischen und ethischen Dimensionen dieser Entität befassen und wo die Möglichkeit zur späteren Transition dieser Patienten besteht (7 Kap. 26).

jjTherapie Für das chirurgische Vorgehen gilt, dass der fehlplatzierte Meatus urethrae in keinem Fall ein Miktionshindernis darstellt und darum auch keiner chirurgischen Manipulation bedarf. Die Indikation zur chirurgischen Korrektur der Hypospadie an sich stützt sich auf zwei voneinander unabhängige Argumente. Erstens kann die Schaftkrümmung des Penis, wenn sie stärker als 25° ist, im späteren Lebensalter ein Kohabitationshindernis darstellen. Auch eine sehr weit proximal mündende Harnröhre wird eine physiologische Zeugung erschweren oder unmöglich machen. In diesen Fällen besteht die medizinische Notwendigkeit einer Korrektur. Die Indikation zur operativen Korrektur der sehr viel häufigeren distalen Hypospadie ohne Schaftkrümmung basiert auf der Überlegung, dass man den Kindern eine mögliche Stigmatisierung ersparen möchte. Denn gerade in einer Phase, in der die eigene Geschlechtszugehörigkeit wahrgenommen und ausgebildet wird, stellt die Hypospadie eine für jeden erkennbare Abweichung der Norm dar. Daher sollten auch die distalen Formen der Hypospadie frühzeitig korrigiert werden. Für die Korrektur der Hypospadie gibt es eine Unzahl von Operationsmethoden. Einzelne Techniken werden über Jahrzehnte ­favorisiert, um dann modifiziert oder durch andere Varianten abgelöst zu werden. Diese Entwicklung ist ein Zeichen dafür, dass sich bisher kein Operationsverfahren als allen überlegen durchsetzen konnte. Denn Wundheilungsstörung und Narbenbildung führen in der Hypospadiechirurgie zu Fistelbildung und/oder Stenosierungen der Neourethra, wobei die Komplikationsrate bei distalen Hypospadien im einstelligen Bereich liegt. Sehr viel schwieriger ist die Einschätzung, welches chirurgische Vorgehen bei Vorliegen einer ­isolierten Schaftkrümmung bzw. bei proximalen Hypospadien zu bevorzugen ist. Da es auch hier viele Konzepte gibt, die gleichberechtigt nebeneinander stehen, sollten diese Operationen nur in den kinderurologischen Zentren durchgeführt werden, die über eine ausreichend große Erfahrung verfügen. 25.2.4

Maldeszensus Testis

jjDefinition Der physiologische Deszensus der Hoden erfolgt aus dem retroperitonealen Raum durch den Leistenkanal in das Skrotum (7 Kap. 26). Dieser Vorgang ist zum Zeitpunkt der Geburt bei nahezu allen Jungen abgeschlossen. Lediglich bei 1% besteht der Befund des sog. „leeren Skrotums“. Bei etwa 60% der Kinder mit Maldeszenus testis erreichen die Hoden innerhalb von 3 Monaten ihre Zielposition. In den verbleibenden Fällen bleibt der spontane Deszensus aus, wobei

die rechte Seite häufiger betroffen ist. Ein beidseitiger Hodenhochstand wird in 10–20% aller Fälle beobachtet. Im deutschen Sprachgebrauch werden nach klinischen Kriterien folgende Befunde unterschieden: beim Pendelhoden wird der betreffende Hoden lediglich durch den Kremasterzug bis in den Leistenkanal hochgezogen. Er kann manuell problemlos in das Skrotum verlagert werden und verbleibt in dieser Position. Beim Gleithoden lässt sich der aszendierte Hoden zwar auch in das Skrotum mobilisieren, wird aber spontan wieder in Richtung Leiste hochgezogen und befindet sich somit meistens in der Leiste. Beim sog. Abdominalhoden lässt sich auch unter idealen Untersuchungsbedingungen (z. B. im Schneidersitz) kein Hoden tasten. Unter der Annahme, dass der Deszensus dieses Hodens ausgeblieben ist, spricht man von ­einem Abdominalhoden, dessen Lage sich mittels Ultraschall oder Kernspintomographie nachweisen lässt. Eine Sonderform des „leeren Skrotums“ liegt vor, wenn es intrauterin zu einer Hodentorsion gekommen und der Hoden atrophiert ist. In diesem Fall zieht ein Funikulus spermaticus in die betreffende Skrotalhälfte. Bei einer chirurgischen Revision findet man am Ende des Ductus deferens lediglich eine atrophierte Reststruktur des zugrunde gegangenen Hodens. >> Bei allen Patienten mit Maldeszensus testis muss die Diagnostik und Therapie bis zum Ende des ersten Lebensjahres abgeschlossen sein.

jjTherapie Therapieziel ist, dass die Hoden sich mit Ende des ersten Lebensjahres definitiv im Skrotum befinden müssen, da ein enger Zusammenhang zwischen der Umgebungstemperatur des Hodens und der ­späteren Fertilität besteht. Dabei spielt die sehr komplexe Temperaturregelung im Skrotum eine zentrale Rolle, wobei nachweislich eine physiologische Temperaturdifferenz zwischen dem Leistenkanal und dem Skrotum besteht. Ein weiterer Grund für eine operative Hodenverlagerung ist, dass das Risiko einer malignen Entartung von Hodengewebe (im späteren Lebensalter) bis zu 40-mal höher ist, wenn der Hoden sich nicht im Skrotum befindet. Für die Behandlung des Maldeszensus testis besteht die Möglichkeit einer Hormontherapie. Dabei wird entweder GnRH als ­Nasenspray oder hCG i.m. verabreicht. Die Wirksamkeit dieser ­Therapie beträgt ungefähr 20%, wobei eine Rezidivrate von 25% berücksichtigt werden muss. Sollte diese Therapieform in Erwägung gezogen werden, so muss man die Eltern ausführlich über die ­möglichen Nebenwirkungen dieser Hormonbehandlung aufklären und auch die Rate des spontanen Deszensus in die Überlegung einbeziehen. Die chirurgische Therapie richtet sich nach dem Ausgangsbefund, wobei die Operationsverfahren weitgehend standardisiert sind. Da Pendelhoden keiner Therapie bedürfen, sondern klinisch kontrolliert werden, ist die offene Operation des Gleithodens das am häufigsten verwendete Verfahren. Das Prinzip dieser Operation besteht darin, dass der im Funikulus spermaticus befindliche und sich immer am Ductus deferens anliegende Prozessus vaginalis peritonei aufgesucht, ggf. reseziert und vom Ductus deferens getrennt wird. Des Weiteren werden die Kremasterfasern durchtrennt, sodass schlussendlich nur die arterielle und venöse Gefäßversorgung des Hodens sowie der Ductus deferens verbleiben und den Hoden versorgen. Der limitierende Faktor bei der Hodenverlagerung ist immer die Länge der Gefäße, die jedoch bis in den retroperitonealen Verlauf hinein mobilisiert werden können. Meist kann durch diese Maßnahmen so viel Strecke gewonnen werden, dass der Hoden spannungs-

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D. Haffner und C. Petersen

frei in das entsprechende Skrotalfach verlagert und hier mit einer Naht als Torsionsprophylaxe fixiert werden kann. Dieser Eingriff kann in derselben Sitzung auch beidseitig durchgeführt werden. Bei Patienten mit einem echten Kryptorchismus, bei denen also kein Hoden tastbar ist, muss obligatorisch eine Laparoskopie durchgeführt werden. Erst dann kann entschieden werden, welches Vorgehen in dem jeweiligen Fall anzuwenden ist. Sollte sich zeigen, dass Hodengefäße und ein Ductus deferens in den Leistenkanal hinein ziehen und kein Hoden tastbar ist, so ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine intrauterine Hodentorsion gehandelt hat. Der Beweis für eine Anorchie auf der entsprechenden Seite wird erbracht, wenn das Ende des Ductus deferens aufgesucht und das Fehlen des Hodens dokumentiert wird. Liegen Hoden und Nebenhoden direkt vor dem Eintritt in den Leistenkanal, kann entschieden werden, ob ein einzeitiges Vorgehen noch möglich, oder– wie in den meisten Fällen – das zweizeitige Vorgehen nach Fowler Stephens erforderlich ist. Dazu werden die arteriellen und venösen Testiculargefäße durchtrennt. Die Durchblutung des Hodens erfolgt dann über die Gefäße, die den Ductus deferens begleiten sowie über das Gubernaculum. Im Abstand von 6 Monaten wird der Hoden dann mit dem zweiten Operationsschritt in seine endgültige Position im Skrotum verbracht. Bei einseitiger Anorchie besteht die Möglichkeit eine Hodenprothese einzubringen. Allerdings sollte dieser Schritt erst dann erfolgen, wenn der verbleibende Hoden, dessen prophylaktische Pexie zu empfehlen ist, seine endgültige Größe erreicht hat. 25.2.5

Varicozele

j jDefinition Unter einer Varicozele versteht man einen venösen Rückstau im ­Plexus pampiniformis. Dieser ist meistens idiopathisch, kann aber auch als sekundäres Phänomen bei einem retroperitonealen Tumor auftreten. j jDiagnose Typischerweise tritt die Varicozele vornehmlich auf der linken Seite und vor Einsetzen der Pubertät auf. Es werden unterschiedliche Ausprägungen beschrieben, die meist keine Beschwerden verursachen. >> Ausgehend von der klinischen Untersuchung, bei der die dilatierten Venen im Bereich des Skrotums sicht- und tastbar sind, muss obligatorisch eine Ultraschalluntersuchung des Retroperitoneums erfolgen, um einen möglichen Tumor auszuschließen.

j jTherapie Die Frage, ob aus Gründen der Fertilitätserhaltung eine Behandlung der Varicozele erfolgen muss, ist nicht eindeutig geklärt. Meist wird eine Behandlung empfohlen. Neben einer interventionellen Therapie durch Verödung der Gefäße steht heute immer noch die opera­ tive Behandlung im Vordergrund. Das gängige Verfahren (nach Palomo) besteht darin, dass über einen offenen oder minimal invasiven Zugang die arteriellen und venösen Testiculargefäße im Retroperitoneum verschlossen und durchtrennt werden. Postoperativ kann auf der operierten Seite eine Hydrozele auftreten, die sich aber meist spontan wieder zurückbildet.

25.2.6

Kinderurologische Notfälle

Notfälle in der Kinderurologie sind selten und betreffen meist das männliche Genital. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Situationen:

Das akute Skrotum Akut auftretende Schmerzen im Skrotum stellen den dringendsten kinderurologischen Notfall dar. Differenzialdiagnostisch stehen­ die Torsion des Hodens, einschließlich des Samenstrangs oder der Morgagni-Hydatide an erster Stelle. Aber auch akute Entzündungen des Hodens oder Nebenhodens imponieren als akutes Skrotum. Dabei gilt der Grundsatz, dass bei akut auftretenden Schmerzen im Skrotum zu allererst an eine mögliche Hodentorsion gedacht werden muss. Hier spielt die Zeit eine wesentliche Rolle, um eine ischämiebedingte Atrophie des Hodens zu vermeiden. Neben der klinischen Untersuchung sollte auch eine Ultraschalluntersuchung einschließlich Dopplersonographie durchgeführt werden. Allerdings schließt auch der Nachweis einer erhaltenen Durchblutung des Hodens und Nebenhodens eine partielle oder totale Torsion des Hodens nicht aus. >> Es gilt der Grundsatz, dass eine notfallmäßige Freilegung des Hodens nur dann unterbleiben darf, wenn bei einem akuten Skrotum die Torsion des Hodens definitiv ausgeschlossen ist, weil es sich um ein Begleitsymptom z. B. beim Lupus erythematodes handelt.

Oftmals findet sich bei der Freilegung des Hodens eine Torsion der Morgagni-Hydatide. Diese sollte abgetragen werden, um die Ur­ sache der Schmerzen zu beseitigen. Wenn eine mechanische Ursache für die Beschwerden ausgeschlossen werden kann, finden sich oftmals Zeichen für eine akute Entzündung im Bereich des Hodens bzw. Nebenhodens. In diesem Fall sollte ein intraoperativer Abstrich sowie Urin zur mikrobiologischen Untersuchung eingesandt werden. Eine antibiotische Behandlung kann nach dem Eingriff auch ex juvantibus erfolgen.

Paraphimose Ein weiterer kinderurologischer Notfall ist die Paraphimose, wenn sich die retrahierte Vorhaut nicht mehr reponieren lässt und damit hinter der Glans wie ein Schürring imponiert. In diesem Fall gilt es, die Vorhaut möglichst rasch wieder zu reponieren. Im günstigsten Fall gelingt dies nach Applikation von anästhesierender Creme. Bei diesem Manöver, das auch im warmen Badewasser durchgeführt werden kann, wird durch kontinuierlichen Druck auf die Glans versucht, diese durch den engen Schnürring der retrahierten Vorhaut zurückzuschieben. Sollte dieser Vorgang zu schmerzhaft sein, muss er in Allgemeinanästhesie erfolgen. Nach erfolgreicher Reposition des Präputiums sollte dann eine elektive Zirkumzision im Intervall von 1–2 Wochen empfohlen werden. 25.3

Nieren- und Harnwegsfehlbildungen (CAKUT)

jjPathophysiologie und primäre Diagnostik Die endgültige menschliche Niere entwickelt sich nach zwei Vorstadien (Pro- und Mesonephros) aus der Ureterknospe und dem metanephrogenem Blastem. Hierbei entsteht die Ureterknospe um die 11. Schwangerschaftswoche als Aussprossung epithelialer Zellen des Wolff-Gangs auf der Höhe des benachbarten metanephrogenem Blastems. In einem gegenseitigen induktiven proliferativen und differenzierenden Prozess kommt es zur Ausbildung tubulärer und

613 Niere und Harnwege interdisziplinär

glomerulärer Strukturen die schließlich das Nephron, Nierenkelche und Sammelrohre bilden. Die Ureterknospe wird zum Ureter. Die Nieren nehmen ihre Funktion im Gestationsalter zwischen der­ 11. und 13. Schwangerschaftswoche auf. Der fetale Urin bildet zum Zeitpunkt der Geburt bis zu 60% der gesamten Amnionflüssigkeit. Die Nephrogenese ist mit der 35. Schwangerschaftswoche weitgehend abgeschlossen. Störungen der bei diesem Prozess beteiligten zahlreichen und sequenziell aktivierten Entwicklungsgenen können zu unterschiedlichen Fehlbildungen der Nieren und der ableitende Harnwege führen, die unter dem Sammelbegriff CAKUT („congenital anomalies of the kidney and urinary tract“) zusammengefasst werden. Hierbei stellen Störungen der Interaktion zwischen der Ureterknospe und dem metanephrogenen Blastem während der frühen Nierenentwicklung einen zentralen Pasthomechanismus dar. CAKUT werden bei ca. 3–6:1.000 Neugeborene beobachtet und sind die Hauptursache für chronisches Nierenversagen im Kindesalter. Das phänotypische Spektrum von CAKUT reicht von vesikoureteralem Reflux bis hin zur Nierenagenesie. CAKUT tritt in ca. 10% der Fälle familiär auf, wird sowohl isoliert beobachtet als auch in Zusammenhang mit mehr als 500 bekannten syndromalen Erkrankungen. Bisher sind mehr als 40 CAKUT-assoziierte Gene beschrieben, die insgesamt ca. 20% der CAKUT-Fälle erklären. Einige dieser CAKUTGene konnten zu bestimmten Entwicklungsschritten der Nephrogenese zugeordnet werden. Eine genetische Abklärung ist bei nichtsyndromalen CAKUT-Patienten meist nicht erforderlich. Mit Einführung einer qualitativ immer besser werdenden Pränataldiagnostik werden Fehlbildungen der Nieren- und ableitenden Harnwege deutlich früher und häufiger diagnostiziert. Dadurch kann eine kindernephrologische/-urologische Betreuung unmittelbar nach der Geburt beginnen. Mittels der pränatalen Sonographie (Oligo- oder Anhydramnion, Größe, Lage und Parenchymechogenität der Nieren, Nachweis von Zysten, Dilatation der Harnwege, Blasenwanddicke/-divertikel, dilatierte proximale Urethra) kann meist eine erste Zuordnung der vorliegenden CAKUT-Form gemacht werden, die postnatal mittels Sonographie und beim Vor­ liegen von erweiterten Harnwegen ggf. mittels Miktionszystoure­ throgramm (MCU), MR-Urogramm oder auch nuklearmedizinischen Methoden weiter abgeklärt werden sollte. Hierbei kommen beim Vorliegen von erweiterten Harnwegen die sonographischen Krite­rien der Harntransportstörungen zum Tragen. Diese besagen, dass der Urin aus den ableitenden Harnwegen entweder nicht ab­ fließen kann oder aus der Blase in den oberen Harntrakt zurückfließt. Die häufigsten Ursachen für eine angeborene Harntrans­ portstörung sind: Ureterabgangsstenose, primär obstruktiver ­Megaureter, Ure­thralklappen, Duplikaturen der ableitenden Harnwege meist in Kombination mit einer Ureterozele und vesikoure­ teraler Reflux. 25.3.1

Anlagestörungen der Niere

Lage- und Fusionsanomalien Störungen der Nierenaszension können zur dystopen Lage einer Niere z. B. im kleinen Becken (Beckenniere) führen. Die Nicht­ darstellbarkeit einer Niere in der üblichen anatomischen Position mittels Ultraschall sollte immer Anlass geben, nach einer dystopen Niere zu suchen. Bei Verschmelzung der beiden unteren Nierenpole der Nierenanlagen spricht man von einer Hufeisenniere. Diese ­Fusions- und Lageanomalien gehen meist nicht mit Komplikationen einher und werden meist zufällig sonographisch entdeckt.

Nierenagenesie Die einseitige Nierenagenesie kommt mit einer Häufigkeit von 1:1.000 Lebendgeborenen vor. Nach der Geburt kommt es zu einer kompensatorischen Hypertrophie der Gegenseite, die sich sonographisch nachweisen lässt. Falls sich keine zusätzliche Anlagestörung der Gegenseite findet, ist die Prognose gut. Bei bilateraler Nieren­ agenesie kommt es intrauterin zu einem Anhydramnion mit den Folgen einer Potter-Sequenz (syn. Oligohydramnion-Sequenz): Lungenhypoplasie, Gliedmaßenverkrümmungen und Gesichtsdysmorphie (weiter Augenabstand, Abflachung und Verbreiterung der Nase). Die Kinder versterben meist kurz nach der Geburt aufgrund der schweren Lungenhypoplasie. >> Die Potter-Sequenz wird auch bei anderen mit einem Anhydramnion oder schweren Oligohydraminion einhergehenden Nierenfehlbildungen (z. B. Urethralklappen, autosomal-rezessiven polyzystischen Nierenerkrankung) beobachtet.

Nierenhypoplasie Bei der Nierenhypoplasie, findet sich eine aufgrund einer verminderten Anzahl der Nephrone, sonographisch verkleinerte Niere. Bei beidseitiger Nierenhypoplasie ist die globale Nierenfunktion eingeschränkt mit den Folgen einer progredienten chronischen Niereninsuffizienz. Bei rein einseitigem Befall zeigt sich nach der Geburt eine kompensatorische Hypertrophie der Gegenseite. Die Nierenhypoplasie kann mit einer Augenbeteiligung einhergehen, welches als Reno-Kolobom-Syndrom bezeichnet wird und auf Mutationen im PAX2-Gen beruht. Differenzialdiagnostisch muss bei sonographisch „kleinen Nieren“ auch an eine Refluxnephropathie, Nephronophthise, Nierendysplasie oder dem Endstadium einer vaskulären Schädigungen oder eine Glomerulonephritis gedacht werden.

Nierendysplasie Störungen der Differenzierung des metanephrogenen Blastem führen zur Nierendysplasie. Histologisch finden sich primitive tubuläre und glomeruläre Strukturen, Knorpelanlagen, glatte Muskelzellen und zystische Strukturen. Die Nierendysplasie kann segmental oder diffus die gesamte Niere betreffen und ist häufig mit anderen Nierenfehlbildungen (Hypoplasie, obstruktive und refluxive Fehlbildungen) assoziiert. Sonographisch finden sich kleine Nieren mit erhöhter Echogenität, reduzierter kortikomedullärer Differenzierung und einzelnen meist kleinen Zysten. Eine beidseitige Nierendysplasie führt zu einer progredienten Niereninsuffzienz und beruht häufig auf Mutationen im HNF-1B-Gen, die auch mit einem „Maturity Onset Diabetes of the Young“ (MODY Typ 5) und Malforma­ tionen der Geschlechtsorgane wie Vaginaldysplasie und Uterusdysplasie einhergehen können. Multizystische Nierendysplasie  Die multizystische Nierendyspla-

sie ist eine meist einseitige großzystische Malformation mit funktionsloser Niere und fehlendem Ureter, die in 30% mit Anomalien der Harnwege auf derselben oder kontralateralen Seite einhergeht. Eine Nierenszintigraphie kann zum Nachweis der fehlenden Nierenfunktion ab der 4. Lebenswoche durchgeführt werden. Ein MCU ist nicht erforderlich. Falls keine weiteren Fehlbildungen vorliegen, kommt es zur kompensatorischen Hypertrophie der Gegenseite. Die multizystisch-dysplastische Niere bildet sich in den ersten Lebensjahren zu kleinen bindegewebigen Strukturen zurück. Eine Nephrektomie ist nur bei bestehendem Hypertonus zu erwägen und stellt eine Rarität dar. Die Gefahr einer malignen Entartung besteht nicht.

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D. Haffner und C. Petersen

Doppelanlagen der Nieren und Harnleiter Eine Variante der ableitenden Harnwege ist deren Duplikatur (engl. duplex system), die im deutschen Sprachraum als Doppelniere ­bezeichnet wird. Bei dieser seltenen Form haben sich in der Embryonalphase entweder zwei aus dem Wolf-Gang entstandene Ureterknospen separat in Richtung auf das metanephrogene Blastemsystem zubewegt (Ureter duplex) oder es hat sich eine Ureteranlage im Verlauf geteilt (Ureter fissus), sodass zwei voneinander getrennte Harnableitungssysteme entstanden sind. Dasselbe gilt auch für die Nierenbecken, Kelche und deren Gefäßversorgung. Diese anatomische Besonderheit kann eine Normvariante darstellen, die keinen Krankheitswert hat. Gelegentlich kommt es allerdings zu einer Obstruktion des kranialen Systems, weil dessen Harnleiter nach der Meyer-Weigert-Regel immer distal und damit ektop mündet. Diese Fehlmündung des Oberpolharnleiters kann mit dem Auftreten einer Ureterozele vergesellschaftet sein. Der Unterpolharnleiter ist in solchen Fällen oft refluxiv. Wenn in der Ultraschalluntersuchung keine Harntransportstörung nachgewiesen wird und das Kind keine HWI aufweist, bedarf die Doppelniere keiner weiteren Diagnostik. Beim Auftreten von Harntransportstörungen sollte jedoch das im Folgenden skizzierte Vorgehen angewendet werden. Die Behandlungsnotwendigkeit folgt hier keinem strukturierten Prinzip, sondern bedarf einer sorgfältigen Einzelfallbetrachtung mit Festlegung eines Therapieplans. 25.3.2

Anlagestörungen der ableitenden ­Harnwege

Ureterabgangsstenose (UAS) Die Ursache dieser Dilatation ist eine sanduhrförmige Einengung des Übergangs vom Nierenbecken in den Ureter. Die Ätiologie und der zugrunde liegende Pathomechanismus für diese Verengung sind nicht bekannt. Eine Ausnahme stellen untere Polgefäße dar, die an eben dieser Stelle über den Ureter ziehen und diesen intermittierend mechanisch obstruieren können. In über 90% der Fälle tritt die UAS einseitig auf, wobei sowohl die linke Seite, als auch das männliche Geschlecht häufiger betroffen sind.

klaren Kriterien gibt, die eine frühzeitige operative Korrektur zweifelsfrei indizieren, hat jedes kinderurologische Zentrum einen individuellen Diagnostik- und Behandlungsalgorithmus entwickelt, der jedoch keinen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit erheben darf. Folgende Kriterien sind jedoch meistens wegweisend für eine Korrektur: 44 Verminderte Partialfunktion der betroffenen Seite > Die Ureterabgannstenose wird meistens im Rahmen der ­Pränataldiagnostik entdeckt. Nur ca. 50% dieser Fälle be­ dürfen schlussendlich der operativen Behandlung, da diese ­Entität ein hohes Maß an Spontankorrektur aufweist.

Operative Therapie  Die seit Jahrzehnten etablierte Technik der Pyeloplastik nach Anderson-Hynes ist zweifellos das Operationsverfahren der Wahl. Hierbei wird der sanduhrförmige Übergang vom Nierenbecken zum Harnleiter reseziert und dieser anschließend an das Nierenbecken anastomosiert. Ob das dilatierte Nierenbecken reduziert und modelliert werden muss, ist bis heute nicht einheitlich zu beantworten und obliegt der individuellen Entscheidung des Operateurs. Üblicherweise erfolgt die pelvinoureterale Anastomose über einem einliegenden Katheter, der entweder als JJ-Katheter das Nierenbecken in die Blase drainiert, oder transrenal und transkutan ausgeleitet wird. Der Nachteil des JJ-Katheters ist, dass eine zweite Narkose notwendig wird, um den Katheter wieder zu entfernen. Diese gut etablierte Operationsmethode der Pyeloplastik kann über einen offenen retroperitonealen Zugang oder immer häufiger minimal invasiv über einen transperitonealen oder retroperitonealen Zugang durchgeführt werden. Die Erfolgsquote dieser Operation liegt unabhängig von der Zugangsart bei über 95%. j jTherapie Eine besondere Situation ergibt sich, wenn bei Neugeborenen Aus zahlreichen Untersuchungen wissen wir, dass die Ureterab- eine dekompensierte Ureterabgangsstenose auf beiden Seiten mit gangsstenose in ca. 50% eine Spontanremission zeigt. Leider gibt­ einem postrenalen Nierenversagen besteht. In diesen Fällen können es keine Indikatoren, die diese Entwicklung voraussagen können. die Nierenbecken extrem dilatiert sein und bedürfen einer akuten Allerdings gilt die generelle Einschätzung, dass bei hochgradigen Entlastung mittels perkutaner Nephrostomie. Anschließend erfolgt Ureterabgangsstenosen mit stark verzögerten Abflussverhältnissen dann das oben genannte Vorgehen sowie eine zeitnahe operative nur eine geringe Chance auf spontane Besserung besteht. Da es k­ eine Korrektur.

j jDiagnose Wenn pränatal eine Harntransportstörung festgestellt wurde, erfolgt eine qualifizierte Ultraschalluntersuchung der ableitenden Harn­ wege nach der Geburt. Die Dilatation des Nierenbeckens bzw. der Kelchgruppen erfolgt nach den Richtlinien und Qualifikationen der DEGUM Im Fall einer isolierten Ureterabgangsstenose ist die Ultraschalluntersuchung lediglich ein morphologisches Korrelat, so dass man für die Beurteilung der dynamischen Komponente eine Isotopennephrographie benötigt. Am weitesten verbreitet ist hier die MAG3-Szintigraphie, die ab ca. der 4. Lebenswoche durchgeführt werden kann. Meist kann in der Zusammenschau von Ultraschall und Szintigraphie die Diagnose einer Ureterabgangsstenose hinreichend genau gestellt werden (. Abb. 25.3). Sollte dieses nicht möglich sein, kann ein MR-Urogramm notwendig sein, das in diesem Lebensalter üblicherweise in Allgemeinanästhesie erfolgt.

615 Niere und Harnwege interdisziplinär

b

a

c

d ..Abb. 25.3  Ureterabgangsstenose (UAS). a Sonographie HTS Grad 4 bei AUS. Nuklearmedizinische Untersuchung mit b, c 18% Partialfunktion der

betroffenen Seite und d signifikanter Abflussbehinderung nach Stimulation mit Furosemid

Primär obstruktiver Megaureter (POM)

jjDiagnose Das diagnostische Vorgehen entspricht zunächst dem genannten Vorgehen bei Harntransportstörungen. Allerdings sollte die sonomorphologische und szintigraphische Funk­tionsuntersuchung v. a. bei Jungen durch ein Miktionszystourogramm ergänzt werden, um ein subvesikales Abflusshindernis auszuschließen. Außerdem können primär obstruktive Megaureteren zusätzlich auch einen ­vesikouretheralen Reflux aufweisen. Dieses auf den ersten Blick

jjDefinition Wenn bei einer prä- oder postnatal sonographisch diagnostizierten Harntransportstörung nicht nur das Nierenbecken und die Kelche dilatiert sind, sondern sich darüber hinaus auch der Harnleiter erweitert darstellt, so kann dieses durch eine Stenosierung des ureterovesikalen Übergangs bedingt sein. Dieser sog. primär obstruktive Megaurether (POM) kann ein- und beidseitig auftreten.

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­ idersprüchlich erscheinende Phänomen lässt sich dadurch erkläw ren, dass der mögliche vesikoureterale Reflux durch eine Fehl­ mündung im Bereich des vesikoureteralen Übergangs bedingt ist, während die urodynamisch relevante Abfluss­behinderung auf eine unzureichende Transportfunktion des Harnleiters zurückgeführt werden kann. >> Der primär obstruktive Megaureter ist eine funktionelle Abflussbehinderung der betreffenden Seite, die eine Domäne des konservativen Vorgehens darstellt, weil diese Obstruktionen nahezu alle spontan maturieren.

j jTherapie Die Behandlung des POM erfolgt primär konservativ, da mit einer spontanen Ausreifung der Obstruktion gerechnet werden kann. Um diesen Spontanverlauf zu beurteilen, sind regelmäßige Ultraschalluntersuchungen und ggf. auch Nierenszintigraphien notwendig. Sollte sich unter der abwartenden Haltung keine Infektfreiheit erreichen lassen bzw. die Partialfunktion der betroffenen Niere abnehmen, so gibt es mehrere Möglichkeiten der interventionellen bzw. operativen Behandlung. Eine Möglichkeit ist die Anlage einer Ureterokutaneostomie nach Sober, um die Drainage der betroffenen Niere zu gewährleisten und die spontane Maturation des ureterovesikalen Übergangs ab­ zuwarten. Alternativ kommt auch die antirefluxive Reimplantation des Harnleiters in die Blase in Frage. Von einer primären Operation sollte jedoch möglichst Abstand genommen werden, da v. a. wegen des erheblich dilatierten Harnleiters – der bei dem Eingriff modeliert werden muss –postoperativ ein vesikoureteraler Reflux auftreten kann, der seinerseits ursächlich für HWI sein kann. Alternativ können auch interventionelle Verfahren eingesetzt werden, bei denen entweder nur ein JJ-Katheter eingelegt oder aber der enge ureterovesikale Übergang mit einem Ballondilatator geweitet wird. Allerdings besteht hier das Risiko, dass durch diese Maßnahme in ca. 50% der Fälle ein vesikoureteraler Reflux sekundär induziert wird. In seltenen Fällen können Ureterabgangsstenosen und primär obstruktiver Megaureter im selben ableitenden Harnsystem gleichzeitig auftreten. In diesen Fällen ist ein MR-Urogramm zur Beurteilung der Situation auf jeden Fall hilfreich. Die Behandlungsstrategie sieht hier vor, zunächst die Ureterabgangsstenose operativ zu korrigieren und den primär obstruktiven Megaurether als separate Entität zu beurteilen und entsprechend den genannten Modalitäten möglichst konservativ zu begleiten.

Harnröhrenklappen j jDefinition Unter dem Begriff „Urethralklappen“ wird eine Erkrankungsentität zusammengefasst, die primär durch den Nachweis einer segelförmigen Membran in der Hahnröhre definiert ist. Diese Membran befindet sich im Bereich der hinteren Harnröhre, also am Übergang der prostatischen in die penile Urethra. Durch dieses unterhalb der Harnblase gelegene Hindernis wird der Urinstrahl behindert und abgeschwächt. Urethralklappen treten sehr selten (Häufigkeit ca. 1:5.000 Geburten) und ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf. Allerdings ist die Erkrankung der „Urethralklappe“ wesentlich komplizierter, als bisher angenommen. Zunächst ging man davon aus, dass ein anatomisch fixiertes Durchflusshindernis in der Harnröhre die einzige pathologische Veränderung sei, die lediglich zu einem Harnaufstau führe. Alle weiteren Symptome, einschließlich des vesikoureteralen Refluxes und die nachfolgender Schädigung der Nieren wurde zunächst als Komplikationen der eingeschränkten Blasenentleerung verstanden.

In den letzten 20 Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass neben der beschriebenen Einengung der Harnröhre gleichzeitig eine funktionelle Blasenentleerungsstörung besteht, die ähnlich stark ausgeprägt sein kann, wie bei neurogener Fehlinnervation­ der Blase. Zusätzlich sind bei ca. 50% dieser Patienten mehr oder weniger stark ausgeprägte Nierendysplasien zu finden. Letztendlich bedürfen die meisten Patienten mit schwerer Verlaufsform bzw. 25–30% aller Patienten mit Urethralklappen früher oder später einer Nierenersatztherapie (Dialyse, Nierentransplantation). Warum sich die Erkrankung in so variablen Mustern zeigt, ist bislang nicht geklärt. Es kann jede nur erdenkliche Kombination der genannten Symptome beobachtet werden. Auch gibt es bis heute keinen Parameter, mit dem eine sichere Prognose des individuellen Krankheitsverlaufs gestellt werden kann. Trotzdem darf für diejenigen Patienten eine günstige Prognose angenommen werden, die in der ersten Lebenswoche normale Nierenfunktionswerte aufweisen, die auch während des weiteren Wachstums stabil bleiben. jjDiagnose Die zentrale Forderung lautet nach wie vor, dass Urethralklappen so früh wie möglich erkannt werden müssen. Idealerweise erfolgt dieses bereits während der Pränataldiagnostik. Wenn der Verdacht auf Urethralklappen pränatal geäußert wurde, sollte die Hahnröhre unmittelbar nach der Geburt mit einem Katheter geschient werden. Diese Maßnahme gelingt immer, weil die Urethralklappen lediglich ein Abflusshindernis darstellen und eine retrograde Instrumentierung der Harnröhre nicht behindern. Die erste diagnostische Maßnahme bei diesen Kindern ist dann das MCU, bei dem sich die Harnröhre und damit das Vorhandensein von Klappen nur im seitlichen Strahlengang sicher beurteilen lässt. Beim Nachweis von Klappen erfolgen dann neben der Sonographie ein ING sowie die Untersuchung von Kreatinin und Harnstoff. >> Harnröhrenklappen sind eine Entität, die durch die subvesi­ kale Abflussbehinderung, die Nierendysplasie und die funk­ tionelle Blasenentleerungsstörung gekennzeichnet ist. Eine Früherkennung wird den schicksalhafte Verlauf nicht be­ einflussen, kann aber die Begleit- und Folgeerkrankungen verhindern.

jjTherapie Um dem potenziell fatalen Erkrankungsverlauf vorzubeugen, wurden bereits in den 1990er Jahren intrauterine Ableitungsoperationen entwickelt und durchgeführt, die leider nicht erfolgreich waren und den schicksalhaft ungünstigen Verlauf dieser Patienten nicht be­ einflussen konnten. Darum ist es bis heute gängige Praxis, die im Zusammenhang mit Urethralklappen auftretenden Schädigungen der Blase und der Nieren so früh wie möglich nach der Geburt zu erkennen und so gut wie möglich zu behandeln. Dabei muss man berücksichtigen, dass angeborene Funktions- oder Anlagestörungen nicht korrigiert werden können. Folgeerkrankungen und deren Konsequenzen lassen sich heute jedoch gut beherrschen und sind für das Gesamtüberleben nicht mehr limitierend. Die Behandlung von Kindern mit Urethralklappen erfolgt nach zwei unterschiedlichen Strategien, deren gemeinsames Ziel darin besteht, die Nierenfunktion zu schützen. Eines dieser Konzepte sieht vor, den erhöhten Auslasswiderstand Harnblase vollständig auszuschalten, indem zwei Ureterostomata angelegt werden, die für mehrere Jahre bestehen bleiben. Die weiteren Maßnahmen richten sich später nach der Stabilität der Nierenfunktion. Ein anderes Stufenkonzept entlastet zunächst nur die Harnblase über einen Katheter gefolgt von der Schlitzung der Urethralklappe

617 Niere und Harnwege interdisziplinär

I

II

III

IV

V

..Abb. 25.4  Internationale Klassifikation des vesikorenalen Refluxes (VUR). [Aus: Dötsch J, Weber LT (2017) Nierenerkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Springer, Heidelberg Berlin]

als einzige operative Maßnahme. Die Anlage von Ureterostomata erfolgt nur als ultima ratio. Die späteren Maßnahmen (Management der Blasensentleerung, Nierenersatztherapie, etc.) richten sich nach dem individuellen Verlauf jedes einzelnen Patienten. Der individuelle Krankheitsverlauf eines Patienten mit Urethralklappen kann nicht prognostiziert werden. Die mittel- und lang­ fristigen Konsequenzen sind Urininkontinenz, rezidivierende HWI und Niereninsuffizienz. Ein günstiger Krankheitsverlauf kann an angenommen werden, wenn die Nierenfunktion in der ersten ­Lebenswoche nicht eingeschränkt ist und wenn die notwendigen therapeutischen Maßnahmen so früh wie möglich eingeleitet ­worden sind. Das gilt v. a. für die Vermeidung von fieberhaften HWI. Eine schwerwiegende Funktionseinschränkung der Harnblase sowie einer ausgeprägten Nierendysplasie, wenn diese bereits zum Zeitpunkt der Geburt vorliegen, können auch durch rechtzeitige und korrekte therapeutische Maßnahmen nicht korrigiert und der schicksalhafte Verlauf nicht kompensiert werden.

Ureterozele Bei Kindern treten Ureterozelen meistens im Zusammenhang mit einem gedoppelten Ableitungssystem auf. Die Behandlung richtet sich nach den jeweiligen Ergebnissen des diagnostischen Algorithmus bei HTS. Kleine Ureterozelen, bei denen keine urodynamisch wirksame Abflussbehinderung besteht, bedürfen Insbesondere­ bei Infektfreiheit keiner Intervention. Die interventionelle bzw. operative Behandlung richtet sich nach dem Lokalbefund. Es besteht­ die Möglichkeit, Ureterozelen zunächst über einen zystoskopischen ­Zugang zu schlitzen und deren spontane Involution abzuwarten. Allerdings besteht in ca. 50% der Fälle das Risiko, dass sich ein ­vesikoureteraler Reflux ausbildet. Alternativ kann bei gedoppelten Systemen auch eine Ureterozystoneostomie en bloc erfolgen,­ wobei beide Harnleiter antirefluxiv in die Harnblase reimplantiert werden. Auf sog. adulte Ureterozelen bei Einzelsystemen trifft man im Kindesalter nur selten und diese bedürfen nur dann der Therapie, wenn sie eine signifikante Abflussbehinderung darstellen und/oder HWI auftreten.

Vesikoureteraler Reflux (VUR) jjDefinition Wenn der antirefluxive Mechanismus des ureterovesikalen Übergangs gestört ist, kommt es zu einem Reflux (VUR) von Urin in den Harnleiter bzw. bis das Nierenbeckenkelchsystem. Der VUR kann als primärer, angeborener Reflux auftreten oder sekundär Folge einer mechanischen oder neurogenen Blasenentleerungsstörung sein. Beim angeborenen VUR mündet der Harnleiter in einem steilen Winkel in die Harnblase und weist somit keinen intramuralen, submukösen Verlauf auf, der für die Effektivität des antirefluxiven ­Mechanismus notwendig ist. Beim sekundären VUR besteht ent­ weder eine mechanische Abflussbehinderung aus der Blase (z. B. Urethralklappen, Urethrastenose) oder eine funktionelle Blasenentleerungsstörung (z. B. traumatischer Querschnitt, Spida bifida). Nach heutigem Kenntnisstand führt der Reflux von Urin in die Niere an sich nicht zu einer Schädigung des Organs. Der pathophysiologische Mechanismus beim VUR besteht darin, dass durch den Reflux des Urins die vollständige Entleerung des Urins ausbleibt und somit ein Pendelvolumen zu einer chronischen Restharnbildung führt, welche wiederum das Auftreten von HWI begünstigt. Diese sind dann von klinischer Relevanz, wenn sie als sog. komplizierte HWI und damit als Pyelonephritis imponieren und zu einer irreversiblen Schädigung von Nierenparenchymen führen können. jjDiagnostik Der Verdacht auf Vorliegen eines VUR wird gestellt, wenn sich im Ultraschall eine Erweiterung der ableitenden Harnwege und die erweiterten Harnleiter retrovesikal darstellbar sind. Der Goldstandard für die Diagnose des VUR ist nach wie vor das Miktionszystourogramm (MCU) und die Klassifikation Grad I–V nach der internationalen Refluxstudie in Anlehnung an Pakkuleinen (. Abb. 25.4). Um die nicht unerhebliche Strahlenbelastung eines MCU zu vermeiden, wird zunehmend auch eine sonographische Refluxdiagnostik mit Kontrastmittel durchgeführt. Allerdings gibt es diese Unter­ suchung keine allgemeingültige Klassifikation. Bei Nachweis eines vesikoureteralen Refluxes sollte ergänzend ein Isotopennephrogramm durchgeführt werden, um die Partial-

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funktion der Nieren zu dokumentieren. Mögliche Narbenbildung durch vorangegangene komplizierte HWI können entweder sonographisch oder mittels DMSA-Szintigraphie aufgezeigt werden. Bei Kindern, die bereits eine Urinkontinenz erreicht haben, ­gehören auch Trink-, Miktions- und Stuhlgangstagebücher, einschließlich einer Uroflowmessung mit Bestimmung des Restharns zur Basisdiagnostik.

kontrollierte Blasenentleerung. Aus diesem Grund gibt es vielfältige Ursachen, die sowohl somatisch (rekonstruierte Blasenextrophie, Urethralklappen), als auch neurologisch (Spina bifida), psychogen oder im Rahmen einer Entwicklungsverzögerung bedingt sein können. Somit subsumieren sich unter diesem Begriff sowohl häufige Alltagsprobleme wie z. B. die Enuresis als auch komplexe Erkrankungen der Blase und deren neurogene Dysfunktion.

>> Der vesikoureterale Reflux kann unterschiedliche Ursachen haben, sodass eine ausführliche Diagnostik erforderlich ist, die auch die funktionellen Entleerungsstörungen der Blase erfassen müssen. Bei einer guten Aussicht auf spontaner ­Maturation des vesikoureteralen Antirefluxmechanismus ist ein konservativer Behandlungsversuch die erste Wahl.

jjDiagnose Die vielfältigen Ursachen einer Blasenfunktionsstörung erlauben es nicht einen allgemeingültigen Algorithmus für die Diagnostik ­aufzustellen. In jedem Fall bedarf es einer sehr ausführlichen und umfassenden Anamnese, einer Ultraschalluntersuchung der ableitenden Harnwege sowie einer körperlichen Untersuchung, die ggf. auch in Narkose erfolgen muss, wenn eine Zystoskopie erforderlich ist. Des Weiteren sollten Patienten, bei denen eine Urinkontinenz aufgrund ihres Alters erwartet werden kann, über mehrere Tage ein Trink-, Miktions- und Stuhlgangsprotokoll führen. Zusätzlich können als sog. „kleine Urodynamik“ wiederholte Uroflowmessungen einschließlich einer Restharnbestimung durchgeführt werden. Diese kann durch eine Ableitung des Beckenbodens-EMG mittels Klebeelektroden ergänzt werden. Bei allen Patienten, bei denen eine ­neurogene Dysregulation der Blasenfunktion angenommen wird, ist eine vollständige urodynamische Untersuchung unerlässlich.­ Auf eine gleichzeitige Videomiktionsurographie unter Durchleuchtung sollte aus Gründen der Strahlenhygiene möglichst verzichtet werden.

j jTherapie Oberstes Ziel jeder Therapie ist die Vermeidung von komplizierten HWI. Da der angeborene vesikoureterale Reflux eine hohe Rate der Spontanmaturation zeigt, kann ein konservatives Vorgehen auch bei hochgradigen Refluxen gerechtfertigt sein. Im Rahmen der Verlaufsoder Kontrolluntersuchung ist es nicht notwendig die Miktionszystourographie regelmäßig zu widerholen (Cave: Strahlenexposition in der Nähe der Gonaden), da das Behandlungsziel nicht die Korrektur des VUR an sich, sondern die Infektfreiheit ist. Hier genügen regelmäßige Urinkontrollen und Ultraschalluntersuchungen zur Beurteilung der retrovesikalen Darstellung des Ureters und der Harntransportstörung. Die Frage, ob diese Patienten eine Infektprophylaxe erhalten sollen, oder ob die Eltern angehalten werden, den Urin regelmäßg mittels Teststreifen zu untersuchen, hängt von vielen Faktoren ab und sollte insbesondere das Vorliegen von rezidivierenden HWI berücksichtigen (7 Abschn. 25.5). Bei ausbleibendem Therapieerfolg bei konservativem Vorgehen wäre die zystoskopische Unterspritzung der Uretermündung der nächste folgerichtige Schritt. Dabei wird unter zystoskopischer Sichtkontrolle ein Dextranomer über eine Injektionsnadel zwischen Harnleiter und Detrusor injiziert, sodass der oben beschriebene antirefluxive Mechanismus zumindest passager simuliert wird. Die Erfolgsrate der Unterspritzung steht in einem reziproken Verhältnis zum Grad des VUR. Diese Behandlung kann ein bis zweimal wiederholt werden. Sollten konservative bzw. interventionelle Maßnahmen nicht zur Infektfreiheit führen, so bleibt immer noch die Antirefluxchirurgie. Dabei gibt es transvesikale und extravesikale Verfahren, bei denen der antirefluxive Ventilmechanismus hergestellt wird. Bei diesen Engriffen wird der Harnleiter entweder in die Harnblase neu implantiert (Technik nach Cohen oder Leadbetter-Politano) oder es wird über einen extravesikalen Zugang der Detrusor über dem Harnleiter rekonstruiert (Lich-Gregoire). Alle diese Verfahren können heute auch minimal invasiv durchgeführt werden. Eine besondere Situation liegt dann vor, wenn der VUR sekundär durch eine übergeordnete Pathologie bedingt ist. Hier gilt es entweder die Ursache der Blasenentleerungs- bzw. Funktions­störung zu beseitigen bzw. nach entsprechenden urodynamsichen Unter­ suchungen ein Management der Blasenentleerung anzuwenden. 25.4

Blasenentleerungsstörungen, Enuresis und funktionelle Harninkontinenz

j jDefinition Blasenentleerungsstörungen beziehen sich zum einen auf die Reservoirfunktion der Blase als auch auf die Kontinenz und die willkürlich

>> Bei Blasenentleerungsstörungen muss zwischen funktionellen Begleiterscheinungen einer Entwicklungsverzögerung und den Symptomen übergeordneter Struktureller oder neurologischer Erkrankungen unterschieden werden.

jjTherapie Hinsichtlich der Therapie funktioneller bzw. durch Entwicklungsverzögerung bedingter Inkontinenzereignisse hat die „Konsensusgruppe Kontinenzschulung“ ein sehr ausführliches Manual er­ arbeitet, dessen wesentliche Inhalte auch in den AWMF-Leitlinien „Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen“ niedergelegt wurden. Für die Behandlung komplexer Blasenfunktionsstörungen, die Teil einer übergeordneten Erkrankung sind, stehen auch in der pädiatrischen Urologie alle Möglichkeiten der operativen Behandlung zur Verfügung, die in der Urologie beim Erwachsenen etabliert sind. Allerdings sollte der Zeitpunkt für eine definitive Versorgung mittels Blasenaugmentationen, katheterisierbaren Stomata (MitrofanoffOperation), der Einsatz artifizieller Sphinkter und ähnliche eingreifender Interventionen sehr sorgfältig abgewogen werden, da sie eine hohe Compliance des Patienten erfordern. Es gilt also zu bedenken, dass die bewusste Entscheidung für ein lebenslang notwendiges ­Management der Blasenfunktion von Kindern und Jugendlichen vor und während der Pubertät nur schwerlich getroffen werden kann. Des Weiteren ist zu bedenken, dass alle chirurgischen Verfahren, die bestehende Strukturen definitiv zerstören, in Anbetracht der möglichen medizinischen Weiterentwicklung kritisch betrachtet werden müssen. Eltern sind darum sehr sorgfältig darüber aufzuklären, ­welche rekonstruktiven Maßnahmen gleichzeitig eine irreversiblen Veränderung oder Zerstörung bestehender Strukturen bedeuten und welche möglichen Konsequenzen diese Entscheidung für die vor ihrem Kind liegende Lebensspanne haben kann.

619 Niere und Harnwege interdisziplinär

25.5

Harnwegsinfektionen

Die Harnwege sind nach den Luftwegen die häufigste Lokalisation von bakteriellen Infektionen. Das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Kindern mit Harnwegsinfektionen (HWI) hat in den letzten Jahrzehnten die Prävention bleibender Nierenschäden in den Vordergrund gerückt. Unzureichend behandelte erste HWI können zu bleibenden Schäden führen. Bereits beim ersten HWI sollte eine Risikoevaluierung inkl. Nierensonographie durchgeführt werden. Präventive Maßnahmen wie antibiotische Dauertherapie, operative Korrekturen und die Behandlung funktioneller Störungen sollten frühzeitig zur Risikominimierung eingeleitet werden. jjDefinition Harnwegsinfektion (HWI) ist der Oberbegriff für eine heterogene Gruppe von Erkrankungen mit dem Nachweis von pathogenen Erregern im Harntrakt. Als asymptomatische Bakteriurie bezeichnet man den Nachweis von ≥105 Bakterienkolonien/ml im frischen Mittelstrahlurin ohne weitere pathologische Befunde.

jjEinteilung nach der Lokalisation Die Pyelonephritis ist ein fieberhafter HWI mit Beteiligung des Nierenparenchyms und der oberen Harnwege (. Tab. 25.1). Die fokalbakterielle Pyelonephritis, die über den Nachweis von Perfusionsausfällen in der Nierendopplersonographie gestellt wird, kann in einen Nierenabszess übergehen. Eine Zystitis ist die Entzündung der unteren Harnwege ohne Fieber mit schmerzhaften Blasenentleerungen (Dysurie), häufigen Miktionen (Pollakisurie) und Harn­inkontinenz. >> Im Rahmen einer Pyelonephritis kann es zu schweren ­Schäden am Nierenparenchym kommen (Narbenbildung), während eine Zystitis meist harmlos verläuft.

jjEinteilung nach Symptomatik 44 Ein symptomatischer HWI ist eine mit Fieber, schmerzhafter Miktion, Bauchschmerzen (selten Flankenschmerzen) und Allgemeinsymptomen wie Erbrechen und Nahrungsverweigerung einhergehende Erkrankung, der eine Pyelonephritis oder Zystitis zugrunde liegt. 44 Ein asymptomatischer HWI wird zufällig durch den Nachweis einer signifikanten Bakteriurie und Leukozyturie im Urin entdeckt. Oftmals wird dabei eine Harninkontinenz beobachtet. 44 Als eine asymptomatisch Bakteriurie (ABU) wird definitionsgemäß der isolierte Nachweis einer Bakteriurie im Urin bezeichnet, häufig wird aber unter ABU auch der rezivierende HWI ohne klinische Symptome verstanden. 44 Eine Urosepsis ist die schwerste Verlaufsform der Pyelonephritis und wird v. a. bei Neugeborenen und Nierentransplantierten beobachtet. jjEinteilung nach Komplikationsmöglichkeiten Ein unkomplizierter HWI liegt vor, wenn der Harntrakt anatomisch unauffällig ist, die Blasenfunktion normal ist, eine normale Nierenfunktion besteht und kein Immundefekt vorliegt. Um komplizierte HWI handelt es sich, wenn ein oder mehrere folgender Tatbestände vorliegen: Harntraktfehlbildungen, Harnabflussbehinderungen, ­vesikoureteraler Reflux, Harntraktkonkremente, neurogene Blasenentleerungsstörungen, Immundefizienz und Niereninsuffizienz. jjEpidemiologie HWI gehören zu den häufigsten Infektionskrankheiten im Kindesalter. Insgesamt erkranken 1,1% der Jungen und 3% der Mädchen bis

..Tab. 25.1  Differenzialdiagnostische Abgrenzung: Pyelonephritis versus Zystitis Pyelonephritis wahrscheinlich

Pyelonephritis unwahrscheinlich

BSG (1. Stunde)

>25 mm (nW)

20 mg/l

1,0 ng/ml

>0,5 ng/ml

Fieber

>38,5°C

2 Standardabweichungen)

Nicht vergrößert

zu ihrem 10. Lebensjahr an einem HWI. Neuere Publikationen weisen sogar noch höhere Inzidenzen der HWI für beide Geschlechter auf. Demnach erkranken 1,6% der Jungen und 7,8% der Mädchen bis zum 6. Lebensjahr an einem HWI. Es handelt sich dabei um ­keine echte Zunahme der Häufigkeit, sondern um eine erhöhte Erkennungsrate bei verbesserter und sorgfältigerer Diagnostik. Jungen erkranken vorwiegend im 1. Lebensjahr mit Pyelonephritis, wobei die Hälfte davon angeborene Harnwegsanomalien als prädisponierende Faktoren aufweist. Auch bei Mädchen liegt die höchste ­Inzidenz der HWI im Säuglingsalter, jedoch erkranken sie im Kindesalter weitaus häufiger als Jungen. Die Geschlechtswendigkeit (♂/♀) ist bei Neugeborenen 2:1 und bei 2- bis 3-Jährigen 1:10. Auch zu Rezidiven kommt es bei Mädchen häufiger als bei Jungen: 30% der Mädchen erleiden innerhalb eines Jahres einen 2. HWI und 50% innerhalb von 5 Jahren. Asymptomatische HWI treten bei 1–3% der Schulmädchen auf und rezidivieren bei 80% dieser Patientinnen. jjPathogenese Assoziierte Harnwegsanomalien  Obstruktive Harnwegsanomalien der ableitenden Harnwege sind bei Jungen häufiger als bei

­ ädchen im Rahmen von HWI zu finden (10% bzw. 2%). Ein vesikM oureteraler Reflux liegt bei 30–40% der Kinder mit erstem HWI vor. Erreger  Der häufigste Erreger bei ersten HWI ist E. coli (80–90%), gefolgt von Klebsiella, Proteus-Spezies und Enterokokken. Proteus findet sich insbesondere bei der Zystitis der Jungen (30%). Staphylococcus saprophyticus ist als Erreger akuter HWI bei Adoleszenten

bekannt. Bei Kindern mit rezidivierenden HWI unter Prophylaxe und bei Kindern mit Fehlbildungen der Harnwege und funktionellen Blasenentleerungsstörungen finden sich häufiger Problemkeime und multiresistente Erreger wie Pseudomonas, Staphylococcus ­aureus und Staphylococcus epidermidis. Selten sind Haemophilus influenzae und Streptokokken der Gruppe B Erreger von HWI sowie Pilze (Candida spezies) und Viren (Adenoviren). Infektionsweg  In der Neugeborenenperiode findet eine hämatogene Ansiedlung der Bakterien im Harntrakt statt. Jenseits dieser

Lebensphase ist die Eintrittspforte fast immer der äußere Harntrakt. Das natürliche Keimreservoir liegt in den Darmbakterien und der Präputialbesiedlung.

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Periurethrale Keimbesiedlung  Im ersten Lebensjahr ist die periurethrale Region natürlicherweise mit Enterobacteriaceae besie-

delt; diese nimmt mit zunehmendem Alter allmählich ab. Bei ­Kindern mit Anfälligkeit für HWI persistieren diese Keime periurethral. Die kürzere weibliche Urethra erleichtert die Keimaszension, wodurch sich z. T. die deutliche Häufung der Erkrankung bei ­Mädchen im Vergleich zu Jungen jenseits der frühen Säuglingszeit erklärt. Abwehrmechanismen der Blase  Urin ist ein exzellentes Wachs-

tumsmedium für Bakterien. Normalerweise schützt eine regel­ mäßige und vollständige Blasenentleerung vor Keimvermehrung. Kommt es zu unvollständigen oder seltenen Entleerungen mit Bildung von Restharn, wie bei neurogener und funktioneller Blasenentleerungsstörung oder Reflux, können Keime nicht mehr in ausreichendem Maße vom Uroepithel abgetötet werden. Die Folge ist eine exponentielle Vermehrung der Bakterien und Invasion des gesamten Harntrakts, v. a. bei einem gleichzeitig vorliegenden Reflux. Eine Störung der Abwehrmechanismen des Uroepithels, welches in der Lage ist, adhärente Bakterien in kürzester Zeit abzutöten, liegt bei der asymptomatischen Bakteriurie vor. Die Mechanismen dieser Abwehr sind noch nicht vollständig geklärt. Bakterielle Virulenzfaktoren  Die Adhärenz der Keime am Urothel mittels Fimbrien (Pili) ist eine der wesentlichen uropathogenen Eigenschaften neben der Endotoxinbildung, wodurch eine in-

flammatorische Reaktion und Gewebeläsion ausgelöst wird. Weitere Virulenzfaktoren sind Hämolysin und Aerobactin, Proteine, die Eisen speichern und für die Vermehrung der Bakterien nötig sind. Die Kapselstruktur (K-Antigen) bewirkt eine Resistenz gegenüber Phagozytose. j jKlinik Das klinische Bild ist vom Alter und der Lokalisation der Infektion abhängig: 44 Neugeborene und junge Säuglinge erkranken mit unspezifischen Allgemeinsymptomen wie Trinkschwäche, Erbrechen, Apathie, grauem Hautkolorit als Zeichen einer schweren septikämischen Infektion, teils mit meningealer Beteiligung. Fieber fehlt in dieser Altersgruppe meistens. 44 Ältere Säuglinge und Kleinkinder zeigen hohes Fieber, Trinkverweigerung und Erbrechen als Zeichen einer Pyelonephritis. >> Insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern wird oftmals zu spät eine Urinprobe untersucht.

Kinder mit Fieber >38,5°C und fehlenden allgemeinen Infektzeichen haben zu 7,5% einen HWI. Frühestens ab dem Alter von 3–4 Jahren sind Kinder in der Lage, dysurische Beschwerden (Brennen bei der Miktion, Harndrang) und Flankenschmerzen anzugeben. jjDiagnose >> Der Nachweis von Leukozyten und Bakterien im Urin ist maßgeblich für die Diagnose einer bakteriellen HWI.

Uringewinnungstechniken  Säuglinge und Kleinkinder sind zu

einer willentlichen Blasenentleerung nicht in der Lage, sodass meist mittels Beutel der Urin zur Diagnostik gesammelt wird. Die Säuberung der Genitalregion vor dem Kleben des Beutels ist dabei sehr wichtig. Bei älteren Kindern sollte ein Mittelstrahlurin zur Diagnostik verlangt werden. Pathologischen Beutelurinbefunde erfordern die Absicherung des Verdachts auf einen HWI, mittels suprapubischer Blasenpunktion oder ein Katheterurin (. Tab. 25.2).

..Tab. 25.2  Bewertung der Urinkultur in Abhängigkeit von der Uringewinnungsmethode Methode der ­Uringewinnung

Pathologischer Urinbefund

Indikation

Suprapubische Blasenpunktion (BP)

Jedes bakterielle Wachstum

Neugeborene und Säuglinge

Katheterurin

10.000 Keime/ml

Mädchen, Jungen ohne Blasenkontrolle, misslungene BP

Mittelstrahlurin

100.000 Keime/ml

Jungen ohne Phimose

Beutelurin

100.000 Keime/ml

Screeningmethode

!! Cave Beutelurine können durch Kontaminationskeime verunreinigt sein. Mischkulturen sprechen für Verunreinigung.

Urinuntersuchung  Die Untersuchung des Urins erfolgt im frischen, nicht zentrifugierten Spontanurin (Vermeidung von Zellzerfall bei längerem Stehen) mittels Teststreifen und mikroskopisch in der Zählkammer (Neubauer-Kammer). Folgende Parameter werden beurteilt: Nitritprobe  Die Reduktion von Nitrat zu Nitrit durch Bakterien wird in einem Farbumschlag angezeigt. Die Nitritprobe ist ein hochwertiger Schnelltest auf Bakterien im frischen Urin. Bei pathologischem Ausfall im frischen Urin hat die Nitritprobe einen hohen Vorhersagewert für einen HWI bei Mädchen. Bei Jungen kann die Präputialbesiedlung falsch positive Ergebnisse vortäuschen. Ist­ die Verweildauer des Urins in der Blase zu kurz, können falsch ­negative Ergebnisse entstehen wie auch durch Bakterien die kein Nitrit bilden. Leukozyturie  Mehr als 10 Leukozyten/mm3 beim Jungen und mehr als 50 Leukozyten/mm3 beim Mädchen sind eine pathologische Leukozyturie und als Hinweis auf eine HWI zu bewerten (Aus-

nahme sterile Leukozyturie bei Fremdkörper oder tubulointerstitieller Nephritis). Die Leukozyten-Esterase-Reaktion im Teststreifen gilt als zusätzliche Hilfe bei der Erkennung einer Leukozyturie, ­ersetzt die Mikroskopie jedoch nicht, da sie störanfällig ist.

Hämaturie  Der Hämaturie kommt bei den HWI keine wesentliche

Bedeutung zu, da inkonstant vorhanden. Eine hämorrhagische ­Zystitis (z. B. Adenovirus) fällt durch eine akute Makrohämaturie auf.

Bakteriurie  Goldstandard der HWI-Diagnostik ist der mikro­ bielle Nachweis der Erreger im Urin (. Tab. 25.2). >> Im Blasenpunktionsurin ist jeder Erregernachweis pathologisch, im Katheterurin ≥104 Keime pro ml und im Spontanurin ≥105 Keime.

In der Praxis hat sich der Eintauchagar (Uricult) nach 24-h-Bebrütung im Brutschrank als grober Test und als Transportmedium zum Versand in die Mikrobiologie bewährt. In den bakteriologischen Labors erfolgt die Keimidentifizierung und die Resistenzprüfung gegenüber Antibiotika, ein Vorgang der meist 48 h beansprucht. Blutuntersuchungen  Die relevanten Entzündungsparameter

(. Tab. 25.2) erlauben die Differenzierung zwischen Pyelonephritis und Zystitis. Bei Urosepsisverdacht sind Blutkulturen anzulegen.

621 Niere und Harnwege interdisziplinär

a

b

..Abb. 25.5  Sonographie der Niere. a Bei akutem HWI vergrößerte Nieren und echogenitätserhöhtes Parenchym mit verwaschener kortikomedullärer Differenzierung. b Normalisierung nach Abklingen des Infekts

Der besondere Fall Anamnese.  Mit 2 Jahren wurde anlässlich der U7 ein HWI diagnostiziert: im Urin mikroskopisch 300 Leukozyten/µl, Katheterurin 106 E. coli/ml. Die bisherige Anamnese war bis auf eine leichte Gedeihstörung unauffällig. Befunde.  Aktueller Blutdruck normal. BSG 50/70 mm, CRP 25 mg/l erhöht, Kreatinin mit 0,81 mg/dl erhöht. Sonographisch zeigte sich das Nierenparenchym unregelmäßig konturiert und fokal verdichtet (Hinweis auf Narben). Im MCU fand sich ein Grad-V-Reflux beiderseits. Die DMSA-Szintigraphie zeigte multifokale Photopenien beiderseits als Hinweis für Parenchymläsionen. Diagnose.  HWI mit chronischer Niereninsuffizienz bei Refluxnephropathie. Therapie. Antibiotische Therapie des HWI und anschließend antibiotische Prophylaxe bis zur operativen Refluxkorrektur. Eine bereits bestehende renale Osteopathie bei Niereninsuffizienz wurde mit aktivem ­Vitamin D zur Ausheilung gebracht. Verlauf. Die Progredienz der Niereninsuffizienz konnte durch die operative Refluxkorrektur und die Prophylaxe von weiteren HWI in den ­folgenden 2 Jahren aufgehalten werden. Prognose. Langfristig ist ein Übergang in eine terminale Niereninsuffizienz möglich.

Anamnese/ klinische Untersuchung  Bei rezidivierenden HWI

sollten die Miktionsgewohnheiten und -muster (bei älteren Kindern) erfragt werden. So liegen bei ca. 20% der Kinder nicht­ neurogene Blasenentleerungsstörungen vor. Die klinische Unter­ suchung umfasst das äußere Genitale. Darüber hinaus ist auf das Vorliegen von dysraphischen Störungen der Wirbelsäule zu ­achten. Bildgebende Verfahren  Eine sonographische Diagnostik sollte v. a. bei fieberhaften HWI im Säuglingsalter so früh wie möglich erfolgen, um konnatale Uropathien oder eine Urolithiasis nicht zu übersehen. Sonographie  Die sonographische Untersuchung von Blase und

Nieren gehört zur Initialdiagnostik des HWI und dient auch dem Ausschluss einiger Harntraktanomalien.

Sonographische Zeichen für eine akute Pyelonephritis sind: 44 Nierenschwellung, 44 Echogenitätserhöhung des Parenchyms (. Abb. 25.5), 44 verwaschene kortikomedulläre Differenzierung, 44 schwebende Binnenechos/Sedimentation im Nierenbeckenkelchsystem, 44 Pyelon- oder Ureterwandverdickungen, 44 positives Urothelzeichen, 44 fokale Minderperfusion, 44 Nierenabszess. Sonographische Zeichen für eine akute Zystitis sind: 44 Blasenwandverdickung, 44 unregelmäßige Blasenwandbegrenzung, 44 gesteigerte Blasenwanddurchblutung. Die Sonographie kann auch Hinweise auf einen Reflux geben, wenn folgende Befunde vorliegen: 44 Urothelzeichen, 44 lateralisiertes Ostium, 44 distale Ureterdilatation (wechselnde Weiten), 44 wechselnde Nierenbeckenkelchdurchmesser in Abhängigkeit von Miktion und Blasenfüllung, 44 Restharn, 44 kleine hyperechogene Nieren mit zystischen Anteilen (Refluxnephropathie). Milde Harntransportstörungen können u. U. nur bei ausreichender Diurese gesehen werden. Die niedriggradigen vesikoureteralen ­Refluxe entgehen häufig der sonographischen Diagnostik. Miktionszysturethrographie (MCU)  Nach heutigen Erkenntnis-

sen ist die regelhafte Durchführung einer MCU nach einem ersten und bei Mädchen auch nach dem zweiten febrilen HWI nicht indiziert, da der Nachweis eines vesikoureteralen Refluxes (VUR) meist keine unmittelbaren therapeutischen Konsequenzen erfordert. Bei Jungen sollte nach dem zweiten fieberhaften HWI eine sorgfältige Sonographie der Blase (verdickte Blasenwand, Divertikel, Restharn) erfolgen um eine Harnröhrenklappe nicht zu übersehen. Deren

25

622

25

D. Haffner und C. Petersen

..Abb. 25.6  Schweregrade des vesiko­ ureteralen Reflux nach der internationalen Klassifikation im röntgenologischen (oben) und schematischen Bild (unten)

­ efinitive Diagnose erfordert ein MCU mit seitlicher Darstellung­ d der Harnröhre unter Miktion ohne liegenden Blasenkatheter. Die Indikation zur Refluxprüfung wird kontrovers diskutiert. Übereinstimmung besteht darin, dass das Risiko der Entstehung progressiver Parenchymnarben bei VUR im frühen Säuglingsalter am höchsten ist und daher in diesem Alter eine Refluxprüfung am ehesten indiziert ist. Andererseits geht die Refluxprüfung mit einer (Strahlen) belastung für das Kind einher und die klinische Relevanz eines niedriggradigen VUR ist nicht zuletzt wegen der hohen Maturierungs­ rate im frühen Kindesalter als gering anzusehen. Neuere Studien zeigen, dass eine antibiotische Prophylaxe insbesondere bei niedriggradigem VUR keine Vorteile in der Prävention von HWI bietet und somit der Nachweis eines VUR nur unter besonderen Umständen sinnvoll ist.

weis der Signifikanz einer Abflussstörung (MAG3-Szintigraphie) oder zur Narbendiagnostik (DMSA-Szintigraphie). Die MAG3Szintigraphie hat ihren besonderen Stellenwert bei der Diagnostik der urodynamischen Wirksamkeit der Harnabflussstörungen und bei der Ermittlung der seitengetrennten Funktionsanteile. Ein früher Einsatz der DMSA-Szintigraphie empfiehlt sich nur bei unklarem Infektionsherd (Fokussuche), da mehr als die Hälfte aller akuten Parenchymschäden im Rahmen von HWI reversibel sind. Der Nachweis narbiger Parenchymschäden sollte bei entsprechendem Verdacht frühestens 6 Monate nach der akuten HWI v. a. bei Kindern mit hochgradig dilatativem Reflux Grad IV–V geführt werden. Der Nachweis von Narben dient als Entscheidungshilfe zur operativen Refluxtherapie.

>> Ein MCU ist nur dann indiziert, wenn die Sonographie eine Nierenbecken-Kelchsystem-Dilatation, Parenchymdefekte oder andere Befunde erbringt, die einen hochgradigen VUR oder eine obstruktive Uropathie nahelegen, sowie bei atypischen oder komplexen klinischen Verhältnissen.

man exzellente morphologische und auch funktionelle Ergeb­ nisse. Meistens ist eine Narkose erforderlich, das steht neben dem hohen personellen Aufwand dem generellen klinischen Einsatz entgegen.

Atypische HWI sind: Urosepsis, Erreger nicht E. coli, verzögertes Therapieansprechen, nicht ausreichender Urinstrahl beim Jungen (Verdacht auf infravesikale Obstruktion), HWI bei älteren Jungen und auffällige Nierensonographie in der Schwangerschaft. Bei der Erstuntersuchung auf VUR ist die röntgenologische Technik zu empfehlen, da sie die therapeutisch wichtige Beurteilung des Schweregrades (I°–V°) erlaubt, sowie den Ausschluss infravesikaler Obstruktionen (Urethralklappe) erlaubt. Verlaufsuntersuchungen können, sofern die Fragestellung nur den Refluxnachweis beinhaltet, mit der direkten Radionuklidszintigraphie vorgenommen werden. Die Levovist-Sonographie zur Refluxdiagnostik hat sich an vielen Zentren nicht durchsetzen können. Der vesikoureterale Reflux (VUR) wird in 5 Schweregrade eingeteilt (. Abb. 25.6). Der dilatative Reflux Grad III–V ist häufig kongenital und kann mit einer primären Nierendysplasie assoziiert sein. Szintigraphische Untersuchungstechniken  Es handelt sich um moderne, vergleichsweise strahlungsärmere Methoden zum Nach-

MR-Urographie  Bei komplexen Harntraktanomalien bekommt

Funktionelle Diagnostik zum Auschluss von Miktionsstörungen  Mittels Uroflowmetrie, Restharnbestimmung und Zystoma-

nometrie ist die Differenzierung einer neurogenen oder funktionellen Blasenentleerungsstörung möglich (7 Abschn. 25.4).

jjTherapie Eine akute symptomatische HWI erfordert umgehend den Therapiebeginn bevor der Erreger bekannt ist. Ein früher Behandlungs­beginn verhindert Gewebsläsionen und somit Narbenbildung. Das Prinzip der Therapie besteht in der Gabe von Antibiotika und einer Normalisierung des Harnflusses bei pathologischen Harnwegen. Die Wahl des Antibiotikums erfolgt kalkuliert, d. h. sie orientiert sich an der Resistenzlage der wahrscheinlichen Erreger, die regional durchaus unterschiedlich sein kann. Regelmäßige Untersuchungen der Antibiotikaresistenzlage ergaben eine Zunahme der Resistenz. Beim ­ersten HWI ist für den häufigsten Erreger E. coli mit einer Resistenzrate von 40–60% bei Ampicillin, von 20–40% bei Cotrimoxazol bzw. Trimethoprim und 24% bei oralen Cephalosporinen der älteren

623 Niere und Harnwege interdisziplinär

Generation zu rechnen. Diese Mittel kommen daher für die „Blindtherapie“ nicht mehr in Frage. In anderen Ländern, insbesondere Entwicklungsländern, liegen noch höhere Resistenzraten vor, die durch unkritischen Antibiotikaeinsatz, Unterdosierung und zu ­kurze Behandlungsdauer zu erklären sind. Bei vorbehandelten ­Kindern oder bei im Krankenhaus erworbenen HWI ist davon auszugehen, dass Hospitalkeime mit Multiresistenzen den Infekt ­ausgelöst haben. Für die Therapie werden aus diesen Gründen Kom­ binationen mit der größtmöglichen Sicherheit gewählt. Ein Anti­ biogramm sollte nach 48 h vorliegen, um die Therapie ggf. auf ein empfindliches Antibiotikum umzustellen. Die Wirksamkeit der Therapie wird durch eine Kontrolle der Leukozyturie nach 3–4 Tagen überprüft. Die Wahl des Applika­ tionswegs der Antibiotika richtet sich nach dem Alter und der Kompliziertheit des HWI. Über die Art und Dauer der Therapie informiert . Tab. 25.3. Bei Neugeborenen und kleinen Säuglingen besteht eine Indikation zur i.v.-Therapie. Eine Kombination aus Ampicillin und Aminoglykosid hat sich bewährt. Bei älteren Säuglingen und Kindern ist die i.v.-Antibiotikatherapie bei komplizierten Verläufen indiziert, d. h. septischer Verlauf, plötzlicher Anstieg des Serumkreatinins, bei Problemkeimen, bei Problempatienten (wie z. B. nierentransplantierte Kinder oder hospitalisierte Kinder mit anderen Begleiterkrankungen), bei komplizierenden Harnwegsanomalien und bei Verweigerung der oralen Therapie. Die Gesamttherapie beträgt in Abhängigkeit von der Schwere der Klinik 7–14 Tage, wobei bei unkomplizierten Verlauf nach 3–7 Tagen auf eine orale Therapie entsprechend dem Resistogramm umgestellt werden kann. Indikation für i.v.-antibiotische Therapie bei HWI 55Früh- und Neugeborene 55Säuglinge bis 3 Monate 55Ältere Säuglinge und Kinder in schlechtem Allgemein­ zustand, Trinkverweigerung, Noncompliance sowie bei ­komplizierten Verläufen

Mittel der 1. Wahl 55Ampicillin (deckt 90% der Enterokokken ab) nur in Kombi­ nation mit einem –– Cephalosporin der 3. Generation (z. B. Cefotaxim) oder –– einem Aminoglykosid (z. B. Tobramycin; mit Spiegel­ kontrolle)

Die orale antibiotische Therapie (. Tab. 25.3) einer HWI ist für Kinder in stabilem klinischem Zustand jenseits des Alters von 3 Monaten möglich. Wegen zunehmender Resistenzen gegen Ampicillin und Trimethoprim gelten die oralen Cephalosporine der 3. Generation als Mittel der Wahl bei der Pyelonephritis. Zystitiden können mit Nitrofurantoin mit gutem Erfolg behandelt werden. Die Behandlungsdauer beträgt 7–14 Tage für einen HWI, bei der Zystitis reichen 5–7 Tage. Asymptomatische Bakteriurien ohne Hinweise für funk­ tionelle Blasenentleerungsstörungen, Harntraktfehlbildungen oder vorausgehende Pyelonephritiden bedürfen keiner antibakteriellen Therapie. >> Die antibiotische Dauerprophylaxe wird bei dafür bestehender Indikation ohne Pause an die Akuttherapie angeschlossen.

25

..Tab. 25.3  Orale antibiotische Therapie von Harnwegsinfektionen (HWI) Cefixim

8 mg/kgKG/Tag

2-mal täglich

Cefpodoxim

10 mg/kgKG/Tag

2-mal täglich

Nitrofurantoin (bei Zystitis)

3–5 mg/kgKG/Tag

3-mal täglich

..Tab. 25.4  Prophylaktischen Dauertherapie nach HWI Trimethoprim

0,5–1 mg/kgKG

1-mal abends

Nitrofurantoin

1 mg/kgKG

1-mal abends

Cefaclor

10 mg/kgKG

1-mal abends

Urinkontrollen erfolgen unter der Therapie. Eine Therapiepause ist nicht angezeigt. jjProphylaxe In den letzten Jahren ist ein erheblicher Wandel in der Einstellung zur prophylaktischen Antibiotikatherapie eingetreten. Zeitgemäß ist eine antibakterielle Infektionsprophylaxe, die sich am Risiko für HWI-Rezidive und v. a. am Risiko für Parenchymschäden orientiert. Demnach profitieren v. a. Kinder mit bestehenden Parenchymschäden (Refluxnephropathie), mit hohen Refluxgraden (III–V) sowie Kinder mit Blasenentleerungsstörungen und rezidivierenden Pye­ lonephritiden davon. Faktoren wie Blasenentleerungsstörungen ­sollten mit adäquaten Maßnahmen wie Verhaltenstherapie, Anticholinergika und Biofeedback behandelt werden. Eine Obstipationsneigung sollte beseitigt werden. Zur Langzeitprophylaxe sind ­Cefibuten, Cefaclor und Nitrofurantoin geeignet. Letzteres ist erst­ ab dem 3. Lebensmonat zugelassen. Die Resistenzlage ist gegenüber dem in früheren Jahren häufig eingesetzten Trimethoprim un­ günstig. Zur Prophylaxe von HWI haben sich die . Tab. 25.4 aufgeführten Antibiotika bewährt. Indikation zur prophylaktischen Dauertherapie nach HWI 55Reflux, Obstruktionen 55Rezidivierende Pyelonephritis (>3) 55Rezidivierende Zystitis mit Blasenentleerungsstörungen

„Durchbruchinfektionen“ durch resistente Bakterien während einer Dauerprophylaxe sind, wenn eine Beteiligung des oberen Harntrakts vorliegt (Pyelonephritis), eine strikte Indikation zur vorübergehenden Beendigung der Prophylaxe und erneuter Therapie nach Antibiogramm. Wegen der Gefahr einer Parenchymschädigung durch die Infektionen sollte im Falle eines dilatativen Refluxes auch eine operative Refluxkorrektur erwogen werden. jjKomplikationen und Prognose Akute Komplikationen  Akute Komplikationen von HWI sind Sepsis und Meningitis beim jungen Säugling, abszedierende ­Pyelonephritis bei zu spät begonnener oder inadäquater Therapie. Chronische Komplikationen  Chronische Komplikationen, v. a. als

Folge der progredienten Narbenbildung sind: arterieller Hypertonus, Albuminurie, Steinbildung und letztlich chronische Nieren­

624

25

D. Haffner und C. Petersen

insuffizienz. Folgende Risikofaktoren sind von besonderer Bedeutung: vesikoureteraler Reflux (Refluxnephropathie), Obstruktionen der Harnwege und rezidivierende Pyelonephritis. 25.6

Polyzystische Nierenerkrankungen

Hereditäre zystische Nierenerkrankungen stellen eine klinisch und genetisch sehr heterogene Gruppe von Erkrankungen dar, die sich zwar häufig bereits in utero manifestieren, aber auch bis zum Erwachsenenalter klinisch stumm bleiben können. Bei der differenzialdiagnostischen Abgrenzung gegenüber zystisch-dysplastischen Nieren oder solitären Nierenzysten hilft, dass bei hereditären zystischen Nierenerkrankungen grundsätzlich beide Nieren betroffen sind (beidseitige Nierenzysten). Die meisten dieser Erkrankungen sind auf Mutationen von Proteinen zurückzuführen, die in primären Zilien, Basalkörperchen oder Zentrosomen lokalisiert sind. Daher wurde die frühere Nomenklatur nach Potter durch den übergeordneten Begriff Ziliopathien abgelöst (. Tab. 25.5). Da Zilien auch in vielen anderen Organen, z. B. Leber/Gallen­ wege, Augen, Gehirn und Pankreas, eine Rolle spielen, erklärt dies die unterschiedlichen und z. T. überlappenden Phänotypen der angeborenen zystischen Nierenerkrankungen. Bei den meisten Ziliopathien ist bisher noch ungeklärt, wie Störungen der vermutlich als Mechanosensor fungierenden Zilien zu Tubulusdegeneration und Zystenbildung führen. Die primäre Diagnostik der hereditären zystischen Nierenerkrankungen stützt sich auf anamnestische und klinische Befunde. Hierzu zählen im Wesentlichen die sonographische Untersuchung der Nieren von Eltern und Patienten und die Erfassung weiterer Organbeteiligungen (. Tab. 25.5). Abhängig von der Präsenz spezifi-

scher extrarenaler Symptomen ist eine gezielte Suche nach genetischen Störungen sinnvoll. >> Polyzystische Nierenerkrankungen betreffen grundsätzlich beide Nieren und werden durch Mutationen in Proteinen zurückgeführt, die in zentralen Zilien der Tubulusepithelzellen lokalisiert sind. Sie werden daher als Ziliopathien bezeichnet.

25.6.1

Autosomal-rezessive polyzystische ­Nierenerkrankung (ARPKD)

jjKlinik Die ARPKD hat eine Inzidenz von etwa 1:20.000 und manifestiert sich meist bereits intrauterin (Oligohydramnion mit beidseits vergrößerten Nieren, ggf. mit Potter-Sequenz) bzw. in der frühen Neonatalperiode (. Abb. 25.7). Sonographisch finden sich hyperecho­ gene Nieren mit reduzierter bzw. aufgehobener kortikomedullärer Differenzierung und häufig ein sog. Pfeffer-und-Salz-Muster (. Abb. 25.7). Heutzutage kann bereits pränatal durch die zur Verfügung stehenden hochauflösenden Ultraschallgeräte häufig die früher erst im Kindesalter nachzuweisenden Nierenzysten (Durchmesser ca. 1–8 mm) dargestellt werden. Etwa ⅓ aller Patienten versterben bereits in der Neonatalperiode aufgrund der Lungenhypoplasie, dem durch die vergrößerten Nieren bedingten Zwerchfellhochstand und der hieraus resultierenden respiratorischen Insuffizienz und deren Komplikationen (Pneumothorax). Bei Patienten, die die Neonatalzeit überleben, stehen klinisch eine Hypertension, Ernährungsprobleme aufgrund der massiv vergrößerten Nieren mit Verdrängung der abdominellen Organe sowie eine progrediente Niereninsuffizienz im Vordergrund. Etwa 50% der Patienten entwickeln bis

..Tab. 25.5  Klinische Charakteristika von wichtigen hereditären zystischen Nierenerkrankungen Zystische ­Nierenerkrankung

Vererbung

Gen

Protein

Nierenerkrankung (medianes Alter bei Dialyse in Jahren)

Extrarenale Beteiligungen

Autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung (ADPKD) ADPKD1

AD

PKD1

Polyzystin-1

Zysten (~55)

Leber- und Pankreaszysten, Hirnbasisaneurysma

ADPKD2

AD

PKD2

Polyzystin-2

Zysten (~70)

Leber- und Pankreaszysten

Autosomal-rezessive polzystische Nierenerkrankung (ARPKD) AR

PKHD1

Fibrozystin/Polyduktin

Zysten (42% im Alter von 20)

Leberfibrose (obligat)

NPHP1 (juvenile)

AR

NPHP1

Nephrozystin-1

NPHP (13)

Retinitis pigmentosa (10%), okulomotorische Apraxie (~2%)

NPHP2 (infantile)

AR

NPHP2/INV

Nephrozystin-1/ Inversin

Zysten (1 g/m2/die

Proteinurie (2 g/g Kreatinin)

Glomeruläre Hämaturie

Hypalbuminämie 1 g/m2 Körperoberfläche pro Tag bzw. >40 mg/m2/h), Hypalbuminämie, Hypercholesterinämie und Ödeme (wobei die letzteren nicht obligat sind). Aufgrund des Albuminverlustes über die Nieren kommt es über eine Abnahme des zirkulierenden Blutvolumens, Hypalbuminämie und Verminderung des onkotischen Drucks in den Gefäßen zur Ödementwicklung (. Abb. 25.9). Letzteres wird durch eine vermehrte Natriumretention aufgrund einer Hypovoluminämie bedingten Aktivierung des Renin-AngiotensinAldosteron-Systems verstärkt. Die Hypovoluminämie kann im Extremfall zu einem akuten Nierenversagen – „nephrotische Krise“ – führen. Andererseits droht bei unverminderter Flüssigkeitszufuhr und reduzierten Diurese eine globale Überwässerung mit der Gefahr des Lungenödems, Perikard- und Pleuraergüssen. Als weitere Folgen des renalen Eiweißverlusts kommt es zu einer unspezifischen kompensatorischen Steigerung der hepatischen ­Eiweißsynthese, insbesondere der VLDL- und LDL-Lipoproteine. Dies bedingt die häufig zu beobachtende Hypercholesterinämie, Hypertriglyzeridämie und Erhöhung atherogener Lipoproteine­ ­ wie Lp(a). Über die Hämokonzentration und den Verlust plasma­ tischer Gerinnungsfaktoren besteht ein erhöhtes Thromboserisiko (ca. 3–5% der Patienten), sodass insbesondere bei Immobilisation eine niedrig dosierte Antikoagulation indiziert ist. Der renale Verlust als auch möglicherweise die verminderte Synthese von Immunglobulinen bewirkt eine erhöhte Anfälligkeit für bakterielle Infektionen.

..Abb. 25.9  Ödeme bei einem Kind mit nephrotischem Syndrom. Es sind deutlich sichtbar die Lidödeme, das ausladende Abdomen aufgrund Aszites und die Ödeme im Genitalbereich

Bei länger bestehendem nephrotischen Syndrom kann sich aufgrund der Verluste des Vitamin-D-/thyroxinbindenden Globulins ein ­ itamin-D-Mangel (Osteoporose) bzw. Hypothyreose entwickeln. V !! Cave Wichtige Komplikationen des nephrotischen Syndroms sind neben der „nephrotischen Krise“ mit Nierenversagen und der Gefahr des Lungenödems Thrombosen und bakterielle Infektionen.

kkNephritisches Syndrom Beim nephritischen Syndrom finden sich ein nephritisches Urinsediment (dysmorphe Erythrozyten; . Abb. 25.8) und Erythrozytenzylinder), eine varible Proteinurie, arterielle Hypertonie und meist auch eine reduzierte glomeruläre Filtrationsrate, Oligurie und Ödembildung. Insbesondere bei progredienten Glomerulonephritiden (rapid-progrediente Glomerulonephritis) stehen klinisch die Oligourie, Hypervoluminämie mit Ödembildung (Pleura-, Perikard­ ergüsse) und hypertensiver Krise im Vordergrund. jjPathomechanismus Die glomeruläre Ultrastruktur kann durch genetisch bedingte Strukturdefekte für die Funktion des Schlitzdiaphragmas relevanter ­Proteine (. Tab. 25.9, . Abb. 25.10) als auch über erworbene immunologische Erkrankungen geschädigt werden. Wichtige humorale Schädigungsmechanismen betreffen die Ablagerung von Immunkomplexen und die konsekutive Aktivierung des Komplementsystems mit Ausbildung des „Membrane-attack“-Komplexes (C5b-9) sowie die vermehrte Synthese von Chemokinen und zytotoxischer Sauerstoffradikale. Dies führt zu einer direkten oder indirekten (Einwanderung von Makrophagen, Monozyten oder Granulozyten) Schädigung des glomerulären Gefäßendothels und der Basalmem­

25

628

D. Haffner und C. Petersen

(„crescents“) aus, die aus proliferierenden Epithelzellen, angelockten Monozyten, Makrophagen und Plasmaproteinen (Fibrin) bestehen. Klinisch zeigt sich dies als rapid-progrediente Glomerulonephritis mit raschem Abfall der glomerulären Nierenfunktion. Falls diese frischen Prozesse nicht rechtzeitig durch eine intensive immunsuppressive Therapie zurückgedrängt werden, kommt es zur Ausbildung von fibrösem Narbengewebe mit der Gefahr der terminalen Niereninsuffizienz.

25

>> Bei der rapid-progredienten Glomerulonephritis kommt es zur Ausweitung der entzündlichen Prozesse auf den Extra­ kapillarraum mit Ausbildung von Halbmonden („crescents“). Klinisch zeigt sich eine akutes nephritisches Syndrom mit progredientem Nierenversagen.

25.7.1

Nephrotische Syndrome

Minimal-change-Glomerulopathie ­(„Lipoidnephrose“) ..Abb. 25.10  Schematische Darstellung von vererbbaren glomerulären Strukturdefekten. a Nephrindefekt beim finnischen Typ des angeborenen nephrotischen Syndroms. b Podocindefekt bei dem steroidresistenten ­nephrotischen Syndrom mit fokal-segmentaler Glomerulosklerose. c Typ-IVKollagengendefekt beim Alport-Syndrom

bran. Darüber hinaus kann über eine Aktivierung des Gerinnungssystems die Glomeruluskapillaren durch Thromben verlegt werden (z. B. beim hämolytisch urämischen Syndrom). Im Extremfall können aufgrund der entzündlichen Prozesse einzelne oder mehrere geschädigte Kapillarschlingen rupturieren und sich der entzündliche Prozess auf den Extrakapillarraum ausdehnen (extrakapilläre Glomerulonephritis). Es bilden sich die charakteristischen Halbmonde

jjEpidemiologie Die häufigste Form des nephrotischen Syndroms ist die Minimalchange-Glomerulopathie (syn. Lipoidnephrose), die 75% aller Fälle ausmacht und meist auf Glukokortikoide rasch anspricht. Der Häufigkeitsgipfel liegt zwischen 2 und 6 Jahren, wobei Jungen doppelt so häufig betroffen sind wie Mädchen. Die Inzidenz beträgt 20–50 pro 1 Mio. Einwohner pro Jahr. jjÄtiologie Die Ätiologie der Minimal-change-Glomerulopathie ist unklar. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Immunpathogenese bei der T-Lymphozyten zirkulierende proteinurische Faktoren produzieren. Die Erkrankung tritt gehäuft bei Atopikern und nach Luftwegsinfekten auf. Häufig sind bei den Patienten auch die Serum-IgE-Spiegel erhöht.

..Tab. 25.9  Genetische Ursachen von angeborenen und hereditären Glomerulopathien Erkrankung

Vererbung

Gen

Protein

Expressionsort

Steroidresistentes nephrotisches Syndrom Kongenitales NS, finnischer Typ

AR

NPHS1

Nephrin

Podozyt

Diffuse mesangiale Sklerose (isoliert, Denys-Drash-Syndrom)

AR

WT1

WT1

Podozyt

Autosomal-rezessives SRNS

AR

NPHS2

Podocin

Podozyt

FSGS1

AD

ACTN4

β-Actinin-4

Podozyt

FSGS2

AD

TRPC6

TRPC6

Podozyt

FSGS3

AD

CD2AP

CD2AP

Podozyt

Alport-Syndrom

X-chromosomal

COL4A5

β5-Kette Typ-IV-Kollagen

Glomeruläre Basalmembran

Alport-Syndrom

AR/homozygot

COL4A3, COL4A4

β3-, β4-Kette Typ-IV-Kollagen

Glomeruläre Basalmembran

Isolierte familiäre Mikrohämaturie

Heterozygot

COL4A3, COL4A4

β3-, β4-Kette Typ-IV-Kollagen

Glomeruläre Basalmembran

Familiäre Hämaturie

AR autosomal-rezessiv; AD autosomal-dominant; NS nephrotisches Syndrom; SRNS steroid-resistentes NS; FSGS fokal-segmentale Glomerulsklerose

629 Niere und Harnwege interdisziplinär

jjDiagnose Die Erkrankung beginnt plötzlich, mit Wassereinlagerungen (morgendliche Lidödeme, abendliche Beinödeme, . Abb. 25.9). Es findet sich eine selektive glomeruläre Proteinurie (hauptsächlich Albumin) über 1 g/m2 pro Tag. Eine geringgradige Erythrozyturie kann in den ersten Tagen nachzuweisen sein. Eine Nierenbiopsie ist bei zusätzlicher Makrohämaturie, Einschränkung der glomerulären Filtrationsrate (Differenzialdiagnose: nephrotische Krise), ungewöhnlichem Alter (>12 Jahre), reduziertem Serumkomplement (C3) und fehlendem Ansprechen auf eine Steroidtherapie indiziert. Im ersten Lebensjahr erfolgt primär einen genetische Abklärung. Lichtmikroskopisch und immunhistologisch findet sich typischerweise ein Normalbefund. Elektronenmikroskopisch finden sich eine Abflachung und Verschmelzung der podozytären Fußfortsätze (. Abb. 25.11). Letzteres ist allerdings nicht als spezifisch anzusehen und wird auch bei anderen Glomerulopathien mit großer Proteiurie (>1 g/m2/Tag) beobachtet. jjTherapie, Prognose Die Standardtherapie erfolgt mit Prednison über insgesamt 3 Mo­ nate (60 mg/m2 Körperoberfläche pro Tag für 6 Wochen, anschließend für 6 Wochen 40 mg/m2 an alternierenden Tagen). Unter ­dieser Therapie normalisiert sich die Proteinurie bei 95% der Pa­ tienten innerhalb von 4 Wochen, wobei bereits die Hälfte der Pa­ tienten nach 7 Tagen eiweißfrei ist. Nahezu 60% der Kinder erleben ein Rezidiv, von denen wiederum mehr als die Hälfte häufige Rezidive („frequent relapser“, d. h. mehr als 2 Rezidive pro 6 Monate) oder eine Steroidabhängikeit (Rezidive noch unter oder innerhalb  2 Wochen nach Ende der alternierenden Prednisontherapie) zeigen. Rezidive ­(Albustix im Morgenurin an 3 aufeinanderfolgenden Tagen ++ bzw. >100 mg%) werden mit Prednison 60 mg/m2/Tag behandelt, bis der Urin an 3 Tagen eiweißfrei ist (Remission), nachfolgend mit Pre­dnison 40 mg/m2 an alternierenden Tagen für 4 Wochen. Im Falle von Steroidnebenwirkungen (Adipositas, Wachstumsstörung, ­Hypertonus, Katarakt, Osteoporose, Depression) ste­ hen alternative Medikamente wie Cyclosporin A und Mycophenolat Mofetil zur Verfügung. Die Wirkung der Medikamente hält jedoch nur so lange an, wie sie gegeben werden. Essenziell ist auch die symptomatische Therapie mit Flüssigkeitseinschränkung, Kochsalzrestriktion und Diuretikagabe. Bei ausgeprägter Hypalbuminämie ist eine Antikoagulation indiziert. Eine Immobilisation ist nicht sinnvoll. Die Langzeitprognose ist auch für Patienten mit häufigen Rezidiven oder Steroidabhängigkeit günstig. Die Häufigkeit der Schübe nimmt in der Pubertät ab, und im Erwachsenenalter treten nur noch bei ⅓ der Patienten gelegentliche Rezidive auf. >> Bei Patienten mit häufig rezidivierendem nephrotischem Syndrom („frequent relapser“) muss auf Steroidnebenwirkungen wie Cushing, Wachstumsstörung, Katarakt und Hypertonie geachtet werden.

Fokal-segmentale Glomerulosklerose Die fokal-segmentale Glomerulosklerose (FSGS) stellt im Gegensatz zur Minimal-change-Glomerulopathie eine große therapeutische Herausforderung dar, da sie meist steroidresistent (keine Remission unter einer 4-wöchigen Prednisontherapie) ist und bei fehlendem therapeutischen Ansprechen eine progrediente Niereninsuffizienz mit der Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie droht. jjPathogenese Bei ⅔ der Patienten kann im Serum ein proteinurischer Faktor (löslicher Urokinaserezeptor) nachgewiesen werden, dessen Ätiologie

a

b ..Abb. 25.11  Nephrotisches Syndrom. a Zwei Glomeruli mit glomerulären Minimalläsionen. Bei langanhaltender Hypovolämie und starker Proteinurie entwickelt sich eine ausgeprägte Hyperplasie des juxtaglomerulären Apparats. b Elektronenmikroskopische Aufnahme einer Kapillarschlinge ohne Fußfortsätze der Podozyten

bisher ungeklärt ist. Bei ⅓ der Patienten liegen definitive genetische Defekte für Strukturproteine der glomerulären Filtrationsbarriere (Podozyten-Schlitzmembran) vor (. Tab. 25.9, . Abb. 25.10). Bei einigen Kindern mit genetischem FSGS lassen sich Veränderungen anderer Organe (Auge, Skelettsystem) im Sinne einer syndromalen FSGS nachweisen (z. B. Pierson-Syndrom, Schimke-Syndrom).

jjDiagnose Bei jedem steroidresistentem nephrotischem Syndrom (fehlende Remission unter einer 4-wöchigen Prednisontherapie) muss zur genaueren Diagnosestellung eine Nierenbiospie durchgeführt werden, um die zugrunde liegende Glomerulopahtie zu differenzieren. Meist findet sich hierbei eine FSGS, die histologisch durch sklerotische Veränderungen in umschriebenen Segmenten einzelner Glomeruli . Abb. 25.10) gekennzeichnet ist. Die FSGS ist die zweithäufigste Ursache des nephrotischen Syndroms im Kindesalter. Eine frühzeitige gezielte molekulargenetische Abklärung auf hereditäre Formen der FSGS ist sinnvoll, um unnötige immunsuppressive Therapien,

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D. Haffner und C. Petersen

die u. U. mit einer hohen Komorbidität einhergehen, zu vermeiden (. Tab. 25.9). jjTherapie, Prognose Die idiopathische FSGS spricht zu ⅔ der Fälle auf eine Kombinationstherapie mit hochdosiertem Cyclosporin A und Prednison an. Die Hälfte der therapierefraktären Patienten sprechen wiederum auf eine Gabe von CD-20-Antikörpern an. Darüber hinaus erfolgt eine antiproteinurische und antihypertensive Therapie bevorzugt mit ACE-Hemmern. Hereditäre Formen der FSGS sprechen einerseits nicht auf Immunsuppressiva an und rezidivierenden andererseits im Gegensatz zur idiopathischen FSGS (ca. 30%) nicht in das Transplantat nach Nierentransplantation. Nach 10 Jahren liegt der Anteil der dialysepflichtigen Patienten bei primärem Ansprechen auf die Immunsuppressiva bei ca. 10% und bei therapierefraktären Patienten bzw. Patienten mit gentischen Defekten bei ca. 60%. Der besondere Fall Anamnese.  Erstmanifestation eines nephrotischen Syndroms im Alter von 3 Jahren. Gutes Ansprechen auf Steroide. Bis zur Vorstellung des 6-jährigen Jungen in der kindernephrologischen Ambulanz Auftreten von 6 Rezidiven und eines Cushing-Syndroms mit Adipositas, Striae und Katarakt. Derzeit in Remission. Klinischer Befund.  Adipöser 6-jähriger Junge, Gewicht 1 kg oberhalb der 97. Perzentile, Länge auf der 25. Perzentile, Blutdruck 130/80 mmHg, Striae distensae an beiden Oberschenkeln, Herz und Lunge ohne Befund, Leber und Milz ohne Befund, keine Ödeme, kein Aszites, neurologischer Status unauffällig bis auf depressive Stimmungslage. Laborbefunde.  Sämtliche Nierenfunktionsparameter im Normbereich, Urin ohne Erythrozyturie und ohne pathologische Proteinurie. Verlauf.  Mit der Diagnose eines häufig rezidivierenden nephrotischen Syndroms bei Minimal-change-Glomerulopathie (. Abb. 25.11) und ausgeprägter Steroidtoxizität Entschluss zur Dauerimmunsuppression mittels Cyclosporin A. Im weiteren Verlauf bei Cyclosporin-A-Talspiegeln von 100 ng/ml Rezidivfreiheit für 2 Jahre, dann bei Reduktion der Cyclosporindosis und Absinken des Cyclosporin-A-Spiegels auf 50 ng/ ml Auftreten eines Rezidivs. Unter der Cyclosporin-A-Dosis Gewichtsnormalisierung, Aufholwachstum sowie deutlicher Verbesserung der Stimmungslage. Der Steroidkatarakt persistierte beidseits ohne Visuseinschränkung, die Striae distensae blieben unverändert bestehen. Behandlung des Rezidivs mit Standardsteroidgabe zur Induktion einer Remission und Erhöhung der Cyclosporin-A-Dauertherapie auf Ausgangsspiegel. Im weiteren Verlauf Rezidivfreiheit unter Cyclosporin-ATalspiegeln zwischen 50 und 80 ng/ml. Im Alter von 14 Jahren schließlich erfolgreiches Ausschleichen von Cyclosporin A. Resüme. Durch eine frühzeitige Änderung der Immunsuppression ­hätte man bei diesem Patienten die dauerhaften Steroidnebenwirkungen (Katarakt, Striae) verhindern können.

Kongenitales und infantiles nephrotisches ­Syndrom

und tritt stark gehäuft in Finnland auf. Ursächlich hiefür sind Mutationen im NPHPS1-Gen, das für das Podozytenprotein Nephrin ­kodiert (. Abb. 25.10, . Tab. 25.9). jjDiagnose Die Neugeborenen entwickeln teilweise schon Stunden nach der ­Geburt aufgrund einer massiven Proteinurie von bis zu 20 g/l progrediente Ödeme. Zwar ist die glomeruläre Nierenfunktion nicht eingeschränkt, der massive Proteinverlust ist allerdings unbehandelt nicht mit dem Leben vereinbar. jjDifferenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch ist die diffuse mesangiale Glomerulosklerose zu erwähnen, die die häufigste Form des infantilen nephrotischen Syndroms darstellt. Ursächlich hierfür sind meist Mutationen im Wilms-Tumorsuppressorgen (WT1). Letztere können auch einem Pseudohermaphroditismus masculinus in Kombination mit einer erhöhten Disposition für Wilms-Tumoren verursachen, das als Denys-Drash-Syndrom bezeichnet wird. jjTherapie Durch eine intensive Behandlung mit Albumininfusionen und ggf. beidseitiger Nephrektomie und Dialysebeginn mit dem Ziel einer baldigen Nierentransplantation überleben heute die meisten Kinder. >> Bei Kinder mit kongenitalem oder infantilem nephrotischen Syndrom liegen meist Mutationen im Schlitzdiaphragmaprotein Nephrin oder im WT1-Gen vor.

25.7.2

Nephritische Syndrome

Postinfektiöse Glomerulonephritis Die postinfektiöse Glomerulonephritis verläuft im Kindesalter als ein prognostisch günstiges akutes nephritisches Syndrom, das 1–4 Wochen nach einer bakteriellen, viralen oder parasitären Erkrankung auftritt. Meist werden Streptokokkenstämme der Gruppe A als auslösende Erreger nachgewiesen, sodass man in diesen Fällen auch von einer Poststreptokokkenglomerulonephritis spricht. Die Häufigkeit der postinfektiösen Glomerulonephrits ist in den letzten Jahren durch frühzeitige antibiotische Therapie von bakteriellen Infektionen deutlich zurückgegangen und liegt nunmehr unter der der IgA-Nephritis. jjPathogenese Es kommt zur Bildung von Antikörpern gegen Bakterienantigene, die an glomerulären Strukturen binden und zur Aktivierung von Komplement und einer Entzündungsreaktion (ImmunkomplexGlomerulonephritis) führen.

Nur ca. 3% der Kinder mit idiopathischem nephrotischem Syndrom sind bei Erstmanifestation jünger als ein Jahr. Falls sich das nephrotische Syndrom in den ersten drei Monaten manifestiert spricht man von einem kongenitalen nephrotischen Syndrom. Manifestiert es sich zwischen dem 3. und 12. Lebensmonat, spricht man von einem infantilen nephrotischen Syndrom.

jjDiagnose Typisch ist die Anamnese mit vorausgegangenem fieberhaften Infekt der oberen Luftwege (Pharyngitis, Angina tonsillaris) oder Scharlach. Die Patienten weisen häufig einen Hypertonus, Ödeme und ein akutes Nierenversagen mit erhöhtem Serumkreatinin und Oligurie auf. Antistreptolysintiter sind bei im Verlauf ansteigenden Werten in Kombination mit einem erniedrigten C3-Komplement im Serum als Zeichen des Komplementverbrauchs wegweisend.

j jPathogenese Die kongenitale Verlaufsform wird auch als nephrotisches Syndrom vom finnischen Typ bezeichnet. Es wird autosomal-rezessiv vererbet

jjDifferenzialdiagnose Einen Überblick über die akuten Glomerulonephritiden gibt . Tab. 25.10. Hervorzuheben ist, dass auch andere nephritische Syn-

631 Niere und Harnwege interdisziplinär

a

b

c

d

..Abb. 25.12  Nephritisches Syndrom. a Lichtmikroskopisches Bild eines PAS-Schnitts bei akutem nephritischem Syndrom bei diffus endokapillär proliferativer Glomerulonephritis nach Streptokokkeninfektion mit Nachweis zahlreicher rötlich-violetter Granulozyten in den Kapillarlichtungen. ­ b Bei höherer Auflösung deutlicher Nachweis der Granulozyten, oben

­endotheliale Mitose. c Immunhistologischer Nachweis von C3-Komplement in Form von „humps“ entlang der subepithelialen Seite der glomerulären Basalmembran, zusätzlich granuläre Ablagerungen von C3-Komplement im Mesangium. d Elektronenmikroskopischer Nachweis der Humps, überdeckt von dichtem Zytoplasma der Podozyten

drome mit einer Komplementaktivierung und erniedrigten C3Komplementspiegeln einhergehen können (z. B. membranoproliferative Glomerulonephritis [MPGN], Shunt-Nephritis, Lupusnephritis). Bei klarer Symptomatik und klinischer Heilung innerhalb von 3 Monaten kann auf die Durchführung einer Nierenbiospie verzichtet werden. Hierbei findet sich im Akutstadium eine diffuse mesangioproliferative Glomerulonephritis mit granulären Immunglobulin- und Komplementablagerungen („humps“) im Mesangium und auf der glomerulären Basalmembran (. Abb. 25.12).

Der besondere Fall

jjTherapie Die Behandlung besteht in Flüssigkeitsrestriktion sowie diuretischer und antihypertensiver Therapie. Bei nachgewiesener Streptokokkeninfektion sollte eine Penicillin-V-Therapie über 10 Tage durchgeführt werden. jjPrognose Die Prognose ist gut. Eine chronische Niereninsuffizienz entwickeln weniger als 2% der Patienten.

Anamnese.  14-jähriger Junge mit unauffälliger Familienanamnese. Bisher nie krank gewesen. Drei Wochen vor ambulanter Vorstellung Angina tonsillaris und Therapie mit Erythromycin. Gewichtszunahme von 5 kg mit diffuser Wassereinlagerung. Vorstellung beim Kinderarzt  wegen rasender Kopfschmerzen und mäßigen Rückenschmerzen.  Bei arterieller Hypertension und Mikrohämaturie Klinikein­ weisung. Klinischer Befund.  Altersentsprechend entwickelter 14-jähriger ­Junge, Länge und Gewicht auf der 50. Perzentile, mäßige prätibiale Ödeme und angedeutete Lidödeme, Blutdruck 160/110 mmHg, Kopfschmerzen ohne Meningismus, normaler Augenhintergrund, keine ­Infektzeichen, Herz und Lunge ohne Befund, Leber und Milz ohne Befund, Genitale unauffällig. Neurologischer Status unauffällig. Laborbefunde.  BKS 40/90 mmHg, CRP 10 mg/l, Kreatinin 70 µmol/l, Harnstoff 5,0 mmol/l, Serumprotein 70 g/l, C3-Komplement 10 mg/l vermindert, Antistreptolysintiter stark erhöht, im Urin 500 Erythrozyten/µl (60% dysmorph) und Erythrozytenzylinder, Proteinurie mit 3,5 g/l stark erhöht.

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632

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D. Haffner und C. Petersen

..Tab. 25.10  Differenzialdiagnose der akuten Glomerulonephritis (GN) Postinfektiöse GN

Purpura SchönleinHenoch

IgA-Nephropathie

Membranoproliferative GN

Lupusnephritis

ANCA-positive Vaskulitis

Typisches Alter in Jahren

5–15

4–14

10–20

8–20

15–20

12–20

Vorherige Infektion

Ja

35%

Häufig

Häufig

Selten

Häufig

Makrohämaturie

30%

20%

50–80%

20–50%

Das typische HUS ist das Resultat einer Infektion mit enterohämorrhagischen E. coli und zeigt sich nach einer gastrointestinalen Prodromalphase mit blutiger Diarrhö durch eine hämolytische Anämie, Thrombozytopenie und progredientem Nierenversagen.

Bei frühzeitiger Dialysebehandlung liegt die Mortalität heutzutage unter 5%. Die Patienten bedürfen einer langfristigen Nachbeobachtung, da sich auch nach zunächst kompletter Ausheilung nach Jahren eine progrediente Nephropathie (Hypertonie, Proteinurie, chron. Niereninsuffizienz) entwickeln kann.

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25.8

D. Haffner und C. Petersen

Tubulopathien

j jDefinition und Übersicht Tubulopathien sind Störungen einzelner oder mehrer tubulärer Funktionen bei primär normaler glomerulärer Nierenfunktion. Man unterscheidet in primäre Tubulopathien, die mit spezifischen genetischen Defekten einzelner tubulärer Membranproteine einhergehen von sekundären (komplexe) Tubulopathien. Bei letzterer Gruppe handelt es sich zumeist um hereditäre Stoffwechselerkrankungen, bei denen auch der Glomerulusapparat und andere Organsysteme (insbesondere Skelett, Leber und Gehirn) betroffen sind. Als wich­ tige primäre Tubulopathien sind zu nennen der Diabetes insipidus renalis, die verschiedenen Salzverlustnephropathien (Bartter-Syndrom, Gitelman-Syndrom), die hypophosphatämische Rachitis und die renal tubulären Azidosen. Im Gegensatz dazu sind einige Störungen von tubulären Partialfunktionen wie z. B. renale Glukosurie und isolierte Proteinurie ohne klinische Folgen. Bei der Abklärung von Tubulopathien kommt der Untersuchung der tubulären Partialfunktionen mittels Sammlung eines 24-h-Urins und der Berechnung der fraktionellen Ausscheidung der entsprechenden Substanzen (z. B. Natrium, Kalium, Glukose) eine große Rolle zu. Bei der Messung des Phosphattransports wird die Messung der fraktionellen tubulären Rückresorption (TmP/GFR) herangezogen. Anschließend kann eine gezielte molekulargentische Diagnostik die Diagnose sichern. 25.8.1

Diabetes insipidus renalis

(Diabetes insipidus centralis 7 Kap. 26.) jjDefinition Der renale Diabetes insipidus ist durch das Nichtansprechen des distalen Tubulus und der Sammelrohre auf das antidiuretische ­Hormon Vasopressin gekennzeichnet. jjPathogenese Die häufigste Erkrankung ist durch Mutationen im Vasopressinrezeptor-Gen bedingt die X-chromosomal rezessiv vererbt werden. Bei der seltener beobachteten Form findet man autosomal-rezessiv vererbte Mutationenen des Aquaporin-2-Wasserkanals. jjKlinik In den ersten 4 Lebenswochen ist die Erkrankung durch die noch unreife Nierenfunktion maskiert. Danach berichten die Eltern über sehr häufiges Windelnwechseln mit großen Urinmengen. Die massive Polyurie führt zur Polydispsie, Dehydratation, Obstipation, (unklaren) Fieberschüben und mangelhaftem Gedeihen. Laborchemisch findet sich eine erniedrigte Urinosmolarität, erhöhte Plasmaosmolalität (>310 mosmol/kg) und erhöhtes Copeptin als stabiles Spaltprodukt des instabilen ADH sowie eine Hypernatriämie als Zeichen einer hypertonen Dehydratation. Bei schwerer Dehydratation und zu schneller Rehydrierung besteht die Gefahr des Hirnödems. Beweisend für die Diagnose ist ein pathologischer Durstversuch mit fehlendem Ansprechen im Desmopressinkurztest. Der Durstversuch sollte jedoch aufgrund der Exsikkosegefahr nur unter enger Beobachtung durchgeführt werden. jjTherapie Eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr und Reduktion der Natriumbelastung im distalen Tubulus durch kochsalzarme Kost und Therapie mit Hydrochlorothiazid führt zu einer deutlichen Stabilisierung und weitgehend normalem Gedeihen der Patienten. Darüber hinaus

kann die Diurese durch die Gabe von Prostaglandinsynthesehemmern über eine Reduktion der glomerulären Filtrationsrate ver­ ringert werden. >> Dehydratationen beim Diabetes insipidus sind durch den Verlust reinen Wassers bedingt. Als Rehydrierungslösung sollte daher 2,5%-Glukoselösung oder eine 0,3%ige Kochsalzlösung gegeben werden, um ein Hirnödem zu vermeiden.

25.8.2

Bartter-Syndrom (BS)

jjDefinition Diese primären Salzverlustnephropathien sind durch eine chronische hypokalämische Alkalose, Muskelhypotonie und Wachstumsstörung charakterisiert. jjPathogenese Ursächlich sind autosomal-rezessiv vererbte Mutationen an den Transportkanälen für Elektrolyte im aufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife. Als Eselsbrücke kann man sich merken, dass die ­charakteristischen Störungen beim neonatalen BS dem einer hoch­ dosierten Furosemidtherapie entsprechen, d. h. vermehrte Ausscheidung von Kochsalz, Kalium und Wasser (Tubulopathie vom Furosemidtyp). Die bisher bekannten 6 Varianten des BS betreffen: 44 den Na/K/2Cl-Kotransporter, der auch als Furosemidrezeptor bezeichnet wird (Typ I), 44 den Kaliumkanal ROMK (Typ II), 44 den Chloridkanal CLCKB (Typ III), 44 eine β-Untereinheit eines Chloridkanals Barttim (Typ IV), die mit Innenohrschwerhörigkeit und chronischem Nierenver­ sagen einhergeht, 44 den „calcium-sensing receptor“ CaSR (Typ V) sowie 44 den Chloridkanal ClC-Ka + b. jjKlinik Manifestationszeitpunkt und Ausprägung der Klinik sind abhängig vom zugrunde liegenden genetischen Defekt. Typ I und II führen bereits neonatal bzw. intrauterin zu einer Polyurie mit den Folgen des Polyhydraminions, Frühgeburtlichkeit und raschen postpartalen Dehydratation. Unbehandelt versterben die Kinder bereits postnatal. Der Typ III ist das klassische Bartter-Syndrom, das sich meist erst bei älteren Kindern durch Gedeihstörung, Wachstumsretardierung, muskulärer Hypotonie, und Exsikkoseneigung manifestiert. Die anderen Typen sind sehr selten und können im Gegensatz zu Typ I–III zu einer chronischen Niereninsuffizienz führen. jjTherapie Die Therapie besteht v. a. in der oralen Substitution von Natriumchlorid, Kalium und Wasser. Bei den neonatalen Formen des BS ­ermöglicht der frühzeitige Einsatz von Prostaglandinsynthesehemmern das Überleben und adäquate Gedeihen der Kinder. 25.8.3

Renal-tubuläre Azidose

Störungen der Bikarbonatresorption oder der Säuresekretion sind die pathogenetischen Grundlagen einer renal-tubukären Azidose (RTA). Sie können isoliert (angeboren) oder auch sekundär im Rahmen von komplexen Tubulopathien auftreten.

637 Niere und Harnwege interdisziplinär

jjPathogenese Man unterscheidet 3 Formen der RTA. Die klassische distale RTA (Typ I), bei der die Säurenexkretion im distalen Tubulus gestört ist. Die proximale RTA (Typ II), bei der die Bikarbonatrückresorption im proximalen Tubulus gestört ist, sowie die hyperkalämische RTA (Typ IV), bei der ein Hypoaldosteronismus bzw. Pseudohypoaldosteronismus vorliegt. Mutationen im SLC4A1- bzw. SLC4A4-Gen sind für die RTA Typ I bzw. Typ II ursächlich.

25.9

Tubulointerstitielle Erkrankungen

25.9.1

Tubulointerstitielle Nephritis

jjKlinik Die Patienten entwickeln eine Gedeihstörung, Neigung zu Erbrechen und Muskelhypotonie. Patienten mit RTA Typ I zeigen zusätzlich eine Hyperkalziurie mit Nephrokalzinose.

jjPathogenese Die akute TIN tritt meist als akute toxisch-allergische Reaktion nach Einnahme verschiedener Medikamente (z. B. Antiphogistika, Antibiotika) auf. Seltener können Infektionen mit Viren (Hantavirus) oder Bakterien (Streptokokken, Pneumokokken) zugrunde liegen. Die chronische TIN findet sich bei unterschiedlichen obstruktiven/ hereditären und metabolischen Erkrankungen. Hierbei können u. a. Druckschädigungen oder aber auch interstitielle Ablagerungen amorpher Kristalle vorliegen. Histologisch findet sich bei der akuten TIN herdförmige Infiltrate von Eosinophilen, Lymphozyten und Granulozyten. Bei der chronischen TIN steht die interstitielle ­Fibrose und Tubulusatrophie im Vordergrund.

jjTherapie Die Therapie erfolgt mit oraler Substitution von Kaliumzitrat bzw. Natriumbikarbonat. jjPrognose Die Prognose ist gut, bisweilen nimmt die Nephrokalzinose bei der RTA Typ I trotz Therapie zu und es entwickelt sich eine chronische Niereninsuffizienz. Bei der RTA Typ IV müssen ggf. Mineralkortikoide substituiert werden. 25.8.4

Komplexe Tubulopathien

jjDefinition Als Debré-de-Toni-Fanconi-Syndrom (FS) bezeichnet man eine generalisierte Störung der proximalen und distalen Tubulusfunktionen mit den Kardinalzeichen einer Glukosurie, Hyperphosphaturie und Aminoazidurie. Zusätzlich können variabel weitere renale Funktionsstörungen vorliegen (Hyperkalziurie, Bikarbonatverlust, Natriumverlust, verminderte Harnkonzentrationsfähigkeit, Karnitinverlust, Proteinurie). jjPathogenese Man unterscheidet das seltene primäre oder idiopathische FS von den sekundären, meist durch Stoffwechselerkrankungen hervorgerufenen Formen. Hierbei sind v. a. die nephropathische Zystinose, die Dent-Erkrankung und Atmungskettendefekte zu nennen. Die Zystinose ist eine lysosomale Speichererkrankung, bei der es zu einer intrazellulären Ablagerung von freiem Zystin zu Schädigungen in unterschiedlichen Organen (Niere, Leber, Auge, ZNS, Pankreas) kommt. Sie beruht auf Mutationen im CTNS-Gen, das für das lysosomale Membranprotein Zystinosin kodiert.

jjDefinition Als tubulointerstitielle Nephritis (TIN) bezeichnet man Nephropathien mit entzündlichen Läsionen des tubulointerstitiellen Gewebes ohne primäre Beteiligung der Glomeruli.

jjKlinik Die akute TIN imponiert als akutes Nierenversagen mit Oligo-/Anurie und hat eine gute Prognose. Die Prognose der chronischen TIN ist stark abhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung. Differenzialdiagnostisch muss an das TINU-Syndrom gedacht werden, bei dem zusätzlich zur TIN eine meist asymptomatische Uveitis vorliegt. Letzteres wird mittels Spaltlampenuntersuchung diagnostiziert. 25.9.2

Nephrolithiasis und Nephrokalzinose

Konkremente lagern sich im Bereich der ableitenden Harnwege meist im Nierenbecken und Harnleiter ab, selten in Blase und Harnröhre und führen zu lokalisationsabhängigen entsprechenden ­Beschwerden. Die Nephrokalzinose ist durch Ablagerungen von Kalzium (als Oxalat oder Phosphat) im Nierenparenchym gekennzeichnet. Charakteristischerweise findet sie sich im Nierenmark als medulläre Nephrokalzinose (. Abb. 25.15).

jjKlinik Die Klinik ist gekennzeichnet durch Polyurie, Polydipsie, Rachitis und Wachstumsstörung. jjTherapie Durch die hochdosierte Substitution mit Elektrolyten, Bikarbonat, Phosphat und Wasser in Kombination mit einer Gabe von Prostaglandinsynthesehemmern kann meist ein ausreichendes Gedeihen ermöglicht werden. Bei der Zystinose führt die Gabe von Cysteamin über eine Mobilisation von Zystin aus den Lysosomen zur Verzögerung bzw. bei frühzeitiger Anwendung zur Verhinderung der ansonsten progredienten Niereninsuffizienz und anderer Organveränderungen. ..Abb. 25.15  Sonogramm bei medullärer Nephrokalzinose

25

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D. Haffner und C. Petersen

j jPathogenese Im Kindesalter sind metabolische Ursachen wie Hyperkalziurie, Zystinurie, primäre Hyperoxalurie, renal-tubuläre Azidose, Harnsäurestoffwechselstörungen und Xanthinsteine häufige Ursachen für eine Nephrolithiasis/Nephrokalzinose. Prädisponierend sind hierbei Harntransportstörungen und Immobilisation. Infektsteine können sich durch Infektionen mit ureaseproduzierenden Bakterien (Proteus mirabilis) in Form von sog. Struvitsteinen ausbilden. j jKlinik >> Bei jeder mikroskopischen- oder makroskopischen Hämaturie oder auch sterilen Leukozyturie muss differenzialdiagnostisch an eine Nephrolithiasis bzw. Nephrokalzinose gedacht werden.

Die Erythrozyten sind hierbei im Gegensatz zur glomerulären ­Hämaturie isomorph, d. h. die Erythrozyten sehen uniform aus wie im peripheren Blut. Dies spricht dafür, dass sie nicht den glomerulären Filter passiert haben, sondern aus den Harnwegen stammen. Nur selten sind Symptome einer Nephrolithiasis durch eine akute Steinpassage mit schmerzhaften Symptomen verbunden. j jDiagnose Die Nierensonographie hilft aufgrund des Schallschattenphänomens und entsprechenden Zeichen einer Harntransportstörung Steine aufzufinden. Eine Röntgenübersichtsaufnahme ist auch aufgrund der damit verbundenen Strahlenexposition primär meist nicht indiziert. Im Falle eines Steinabgangs wird eine biochemische Analyse auf den Gehalt von Kalziumphosphat, Magnesiumammoniumoxalat, Harnsäure sowie Zystin durchgeführt, um die Ätiologie zu klären. Auch die Urinanalyse (Ausscheidung im 24-h-Urin, alternativ die auf das Urinkreatinin bezogenen Werte von Kalzium, Oxalat, Zystin, Harnsäure und Citrat) hilft die Ursache aufzuklären. Hierbei ist die starke Altersabhängigkeit der Ausscheidung dieser lithogenen Substanzen zu beachten. Meist sind serielle Bestimmungen notwendig, um die Diagnose zu sichern. Bei einer erhöhten Oxalatausscheidung muss differenzialdiagnostisch an die primäre Hyperoxalurie (früher Oxalose genannt) gedacht werden, die unbehandelt zu einer progredienten Ablagerung von Kalziumoxalatsteinen mit der Entwicklung einer terminalen Niereninsuffizienz führt. jjTherapie Die Akuttherapie besteht in der Gabe von Analgetika und Spasmolytika und einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr (Cave: Obstruktion). Die Konkremententfernung erfolgt je nach Anzahl, Größe und Lage der Steine durch eine Stoßwellenlithotrypsie, endoskopisch oder durch eine perkutane Nephrolithotomie. Zur Rezidivprophylaxe ist eine ausreichende Hydrierung (Ziel: >2 l/m2/Tag) essenziell. Darüber hinaus sind weiter Maßnahmen in Abhängigkeit der metabolischen Ursache, wie kochsalz- und proteinreduzierte Kost und Thiaziddiuretika bei Hyperkalziurie oder Gabe von Pyridoxin­ und Natrium-/Kaliumcitrat bei der primären Hyperoxalurie von ­Bedeutung. 25.10

Nierenvenenthrombose

Die Nierenvenenthrombose ist ein meist akutes Krankheitsbild und tritt am häufigsten bei Neugeborenen aufgrund von angeborenen Gerinnungsstörungen und/oder schweren Erkrankungen mit ­Asphyxie, Dehydratation, Schock oder Sepsis auf.

jjÄtiopathogenese Ursache der Thrombusbildung sind Endothelschädigungen in Kombination mit Hyperkoagulobilität oder genetische Gerinnungsde­ fekte. Hierbei sind insbesondere die Resistenz gegenüber aktiviertem Protein C (APC-Resistenz) aufgrund einer Faktor-V-Leiden-Mutation zu nennen, die autosomal-rezessiv vererbt wird und eine Prävalenz von 2–5% in der Normalbevölkerung hat. jjKlinik Die Kinder fallen mit einer Makrohämaturie und einer einseitigenoder beidseitigen Nierenschwellung auf. Sekundär kann sich ein nephrotisches Syndrom oder bei beidseitigen Befall ein akutes ­Nierenversagen entwickeln. jjDiagnose Die Diagnose erfolgt mittels dopplergestützten Ultraschall. Es finden sich ein-/beidseitig vergrößerte Nieren mit aufgehobener MarkRinden-Differenzierung. Im Gefäßdoppler zeigen sich ein ver­ minderter venöser Fluss und eine erhöhter Resistance-Index in den Arterien aufgrund der Parenchymschwellung. jjTherapie, Prognose Bei einseitigem Befall erfolgt eine Antikoagulation mit Heparin, bei beidseitigem Befall sind bei frühzeitiger Diagnose Versuche mit ­einer lokalen oder systemischen Fibrinolyse sinnvoll, um ein Vor­ anschreiten der Thrombose bzw. terminale Niereninsuffizienz zu verhindern. Die Prognose ist bei einseitigem Befall gut, allerdings kann es sekundär zur Hypertonie und Schrumpfungsprozessen kommen. Bei beidseitigem Befall kann bei frühzeitiger Fibrinolyse meist eine terminale Niereninsuffizienz verhindert werden. Eine Thrombophiliediagnostik und ggf. genetische Beratung ist indiziert. 25.11

Akutes Nierenversagen

jjDefinition Das akute Nierenversagen (ANV) ist definiert als die plötzliche Abnahme der glomerulären Nierenfunktion um mindestens 50% und ist mit dem Anstieg der Retentionsparameter (Kreatinin, Harnstoff) verbunden. Meist findet sich eine Oligourie (Urinvolumen 90

2: Leichte Niereninsuffizienz

61–90

3: Mäßige Niereninsuffizienz

31–60

4: Fortgeschrittene Niereninsuffizienz

15–30

5: Terminale Niereninsuffizienz

Die alleinige Bestimmung des Serumkreatinins ist nicht sen­ sitiv genug, um eine mäßigradige Niereninsuffizienz zu ­detektieren, da es erst bei einer Einschränkung der GFR Wachstum ist ein dynamischer Prozess, der die Veränderungen der Körperhöhe über die Zeit beschreibt. Eine anhaltend unterdurchschnittliche Wachstumsgeschwindigkeit ist meist pathologisch und sollte zu einer erweiterten Diagnostik führen, selbst wenn die absolute Körpergröße noch im Normalbereich liegt. Umgekehrt kann ein nach der Säuglingsphase identifizierter Kleinwuchs fortbestehen und mit einer normalen Wachstumsgeschwindigkeit einhergehen, ohne dass eine pathologische Krankheitsursache vorliegt (z. B. familiärer Kleinwuchs).

jjDefinition Kinder, deren Körperhöhe oder -länge unterhalb des altersbezogenen 3. Perzentils liegt, sind kleinwüchsig. Dieses statistische Krite­ rium erfüllen bei Benutzung aktueller Referenzdaten 3% aller deutschen Kinder. Kleinwuchs kann bei Geburt vorliegen oder entsteht später durch zu langsames oder zu früh endendes Wachstum. jjDifferenzialdiagnose des Kleinwuchses und von Wachstumsstörungen Die Differenzialdiagnose des Kleinwuchses ist breit; eine Auswahl relevanter Differenzialdiagnosen ist in . Tab. 26.1 dargestellt (. Abb. 26.3). Im klinischen Alltag sind die beiden Diagnosegruppen „familiärer Kleinwuchs“ und die „konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät“ die häufigsten Ursachen für eine Vorstellung in der Wachstumssprechstunde. Konstitutionelle Verzögerung von Entwicklung und Pubertät  Hierbei handelt es sich um eine häufige Normvariante mit

..Abb. 26.3  Neonatale Fußrückenödem bei Ullrich-Turner-Syndrom als diagnostisches Zeichen

649 Endokrinologie interdisziplinär

..Tab. 26.1  Diagnostik des Kleinwuchses Anamnese

Routinediagnostik

Spezielle Diagnostik

Messung der Körperhöhen der Eltern (und Geschwister); Berechnung der familiären Zielgrößenbereichs

Messung von Körperhöhe, Wachstumsgeschwindigkeit, Körperproportionen, Gewicht/BMI

Ggf. radiologische und/oder genetische Diagnostik bei V. a. ossären KW

Elterliche Pubertätsentwicklung (Menarche der Mutter, Pubertät des Vaters)

Erfassen der Pubertätsstadien nach Tanner, Bestimmung des Knochenalters (Röntgen linke Hand) IGF-I, IGFBP-3 (WH-Mangel); TSH, fT4 (Hypothyreose)

Bei Hinweis auf WH-Mangel: STH-Stimulationstest und/oder STH-Spontansekretionsanalyse Ggf. MRT-ZNS (Hypophyse!)

Schwangerschaftsverlauf (Konsum teratogener Substanzen?), Geburtsparameter

Mutterpass einsehen, ggf. neuropädiatrische Mitbeurteilung

Sonographie, Echokardiographie

Familiäre Vorerkrankungen, Familien­ anamnese

Bei Mädchen mit unerklärtem Kleinwuchs: Karyotyp bestimmen

Relevante Vorerkrankungen oder Vortherapien? Ernährungsanamnese (Fütterstörungen?, Malnutrition?)

Internistische Untersuchung; b. B. Bestimmung von: Differenzialblutbild, CRP, BSG, Ferritin, Eisen (Anämie, Infektion, Zöliakie, Mukoviszidose); GPT, GOT, γGT, AP, Albumin (Hepatopathie); Kreatinin, HN, Na, K, Ca, Ph, Blutgasanalyse, UrinStix (Nephropathie); IgA-anti-Endomysium, IgA-anti-Transglutaminase, Gesamt IgA (Zöliakie)

meist subnormaler Wachstumsgeschwindigkeit in der Kindheit und verzögertem Pubertätsbeginn. Obwohl eine hohe Familiarität besteht (anamnestisch oft späte Menarche der Mutter oder später Wachstumsschub des Vaters) ist der genetische Hintergrund weitestgehend unklar. Radiologisch findet sich eine verzögerte Knochenreifung. Die betroffenen „Spätentwickler“ erreichen in der Regel ohne hormonelle Intervention eine Erwachsenengröße innerhalb des ­familiären Zielgrößenbereichs. Familiärer Kleinwuchs  Wie eingangs beschrieben übt eine Vielzahl

verschiedener genetischer Varianten Einfluss auf unsere Körperwachstum aus, sodass die Erwachsenengröße letztlich das Integral von wachstumsattenuierenden und -fördernden Varianten darstellt; ein familiärer Kleinwuchs wird daher meist als Normalvariante angesehen. Allerdings sind die Grenzen zwischen niedrignormalem und pathologischem Wachstum fließend. In Einzelfällen können daher einer familiären Wachstumsstörung auch milde monogene Störungen u. a. des Knochenwachstums im Sinne eines ossären Kleinwuchses zugrunde liegen. Daher ist bei der Beurteilung familiärer Wachstumsstörungen die Beurteilung von Körperproportionen und potenziell assoziierter phänotypischer Merkmale von Relevanz für die Abgrenzung von pathologischem und physiologischem Wachstum. Wichtige Differenzialdiagnosen des Kleinwuchses 1. Idiopathischer und familiärer Kleinwuchs 2. Konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät 3. Intrauteriner Kleinwuchs (Small for gestational age (SGA) ohne Aufholwachstum) 4. Chromosomale Störungen mit Aneuploidie (z. B. Ullrich-­ Turner-Syndrom, Down-Syndrom) 5. Syndromale Erkrankungen (z. B. Noonan-Syndrom, SilverRussell-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom, DiGeorge-Syndrom, velokardiofaziales Syndrom u. a.)

Erweiterte spezifische Diagnostik in Abhängigkeit Verdachtsdiagnose (z. B. spezielle Stoffwechseldiagnostik, genetische Diagnostik

 6. Skelettdysplasien (häufig mit disproportioniertem Kleinwuchs; z. B. Achondroplasie, Hypochondroplasie, spondyloepiphysäre Dysplasie, Dyschondrosteose etc.)  7. Malnutrition  8. Organische Ursachen einer Wachstumsstörung a. Kardiale Ursachen b. Pulmonale Ursachen c. Lebererkrankungen d. Gastrointestinale Erkrankungen e. Renale Ursachen f. Chronische Anämien g. Muskuläre und neurologische Erkrankungen h. Chronisch entzündliche Erkrankungen  9. Endokrine Erkrankungen (z. B. Wachstumshormonmangel, Cushing-Syndrom, Hypothyreose, Leprechaunism, Diabetes mellitus, Laron-Syndrom und andere Störungen der WH-­IGF-I-Achse) 10. Metabolische Störungen a. Störungen des Kalzium-Phosphat-Metabolismus b. Störungen des Kohlenhydratmetabolismus c. Störungen des Lipidmetabolismus d. Störungen des Aminosäuren- und Proteinstoffwechsels e. Störungen des Knochenstoffwechsels 11. Psycho-soziale Ursachen (z. B. psychosoziale Deprivation, Anorexia nervosa, Depression u. a.) 12. Iatrogene Ursachen a. Hochdosierte systemische bzw. lokale Glukokortikoid­ therapie b. Schädel- und Ganzkörperbestrahlung c. Chemotherapie

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J. Wölfle et al.

j jTherapie Therapeutisches Ziel bei Kindern und Jugendlichen mit Kleinwuchs ist eine Normalisierung des Längenwachstums und eine Vermeidung einer Infantilisierung Betroffener. Bei allen sekundären Kleinwuchsformen steht die Behandlung der Grunderkrankung im Vordergrund (z. B. glutenfreie Ernährung bei Zöliakie). Obwohl die konstitutionelle Entwicklungsverzögerung und die Mehrzahl der Fälle eines familiären Kleinwuchses als Normva­ rianten angesehen werden, bei denen eine Endlänge im Bereich der familiären Zielgröße erreicht wird, so kann u. U. doch eine psy­ chologisch/psychotherapeutische Unterstützung mit dem Ziel eines verbesserten Adaptationsprozesses hinsichtlich Kleinwuchs merkmalsbedingter Stressbewältigung hilfreich sein. Ergänzend sollte insbesondere bei den Kleinwuchsformen, die mit anderen assoziierten Problemen verknüpft sind oder bei denen das Risiko einer Alltagsbehinderung besteht eine Anbindung an eine der Selbsthilfegruppen angeraten werden (z. B. Bund kleinwüchsiger Menschen und ihre Familien „BKMF“, Ullrich-Turner-Syndrom-Vereinigung Deutschland, etc.). Endokrine Therapien sind in Form einer STH-Therapie für folgende Indikationen verfügbar: 44 hypophysärer Wachstumshormonmangel (Substitutionstherapie), 44 vorgeburtliche Wachstumsverzögerung (SGA) ohne postnatales Aufholwachstum (supraphysiologisch), 44 Ullrich-Turner-Syndrom (supraphysiologisch), 44 Prader-Willi-Syndrom (supraphysiologisch), 44 SHOX-Defizienz (supraphysiologisch), 44 Kleinwuchs bei chronischer Niereninsuffizienz (supraphysiologisch).

Darüber hinaus ist für die seltenen Formen der Wachstumshormon­ insensitivität eine Therapie mit rekombinantem IGF-1 möglich. Bei verschiedenen Formen des ossären Kleinwuchses kann in Abhängigkeit der individuellen Befunde in Einzelfällen eine operative Verlängerung von insbesondere Ober- und Unterschenkel durchgeführt werden. Darüber hinaus sind derzeit medikamentöse Therapien der FGFR3-vermittelten Skelettdysplasien in klinischer Erprobung (7 Kap. 1). 26.1.4

Hochwuchs

jjDefinition Ein Hochwuchs liegt bei Kindern und Jugendlichen vor, deren Körperhöhe oder -länge oberhalb des altersbezogenen 97. Perzentils liegt. Dieses statistische Kriterium erfüllen bei Benutzung aktueller Referenzdaten 3% aller deutschen Kinder. Dabei sollte ein transienter Hochwuchs aufgrund einer temporären Entwicklungsbeschleunigung von anderen Ursachen abgegrenzt werden. jjDiagnostik Neben Anamnese und Wachstumsverlauf (perzentilenflüchtiges Wachstum? Elterliche Zielgröße?), klinischer Untersuchung (Dysproportionierung? Pubertätsstatus? Syndromale Auffälligkeiten?) gehören die Bestimmung des Knochenalters (Reifungsbeschleunigung?) und von IGF-I und IGFBP-3 zur Basisdiagnostik. Diese wird ergänzt durch einen WH-Suppressionstest und ein zerebrales MRT bei Verdacht auf ein Wachstumshormon produzierendes Adenom der Hypophyse. Bei klinischen Hinweisen auf eine numerische Chromosomenanomalie sollte eine Karyotypisierung durchgeführt werden.

..Tab. 26.2  Differenzialdiagnosen des Hochwuchses Beispielhafte Hochwuchsvariante

Merkmale

Transienter Hochwuchs

- Pubertas und Pseudopubertas präcox - Hyperthyreose - Adiposogigantismus (alimentäre Adipositas) - Konstitutionelle Beschleunigung von Wachstum und Pubertät

Beschleunigte Knochenreifung

Permanente Hochwuchsformen

- Familiärer Hochwuchs

Positive Familienanamnese; Größe im familiären Zielgrößenbereich

- Idiopathischer Hochwuchs Hochwuchs bei nume­ rischen Chromosomen­ anomalien

- Klinefelter-Syndrom - 47,XYY-Syndrom - 47,XXX-Syndrom

Assoziierte phänotypische Merkmale

Syndromaler Hochwuchs mit relevanter Dyspropor­ tionierung

- Marfan-Syndrom (. Abb. 26.4)

Arachnodaktylie, Linsenluxation, kardiovaskuläre Komplikationen

- Homozysteinurie

Psychomotorische Retardierung

Überwuchssyndrome

- Wiedemann-Beckwith-Syndrom - Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom - PTEN-Hamartoma-Syndrom - Proteus-Syndrom - Sotos-Syndrom

Assoziierte phänotypische Merkmale, Tumor­ neigung

Hypophysärer Gigantismus

- Isoliertes Hypophysenadenom - Mutation in GPR101 oder AIH

Erhöhtes IGF-1, IGFBP-3, fehlende WH-Suppres­ sion nach Glukosebelastung, pathologisches MRT

Seltene Endokrinopathien

- Defekte im Östrogenrezeptor - Aromatasemangel - Familiärer Glukokortikoidmangel

Assoziierte phänotypische Merkmale

651 Endokrinologie interdisziplinär

Hypotahalamus +

MKRN3?

NK3R

KISS1-Neuron

NKB

MKRN3?





Unbekanntes Neuron

Kisspeptin

MKRN3?

GnRH-Neuron

KISS1R +



+

GnRH KISS1R

Hypophyse GnRHR LH FSH

..Abb. 26.4  12-jähriger Junge mit Marfan-Syndrom

Gonaden Hoden

jjTherapie Primär steht bei Kindern und Jugendlichen mit Hochwuchs die Therapie der zugrundeliegenden Ursache im Vordergrund. Eine GnRHAgonisten-Therapie eines Kindes mit Pubertas präcox centralis und sekundärem Hochwuchs führt z. B. bei ausreichender Therapie­ dauer meist zu einer Normalisierung des Wachstums und einer ­Endlänge im familiären Zielgrößenbereich. Allerdings werden bei Patienten mit konstitutionellem, idiopathischen oder syndromalem Hochwuchs immer wieder Alltagsbelastungen wie orthopädische Probleme, Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneter Kleidung, Notwendigkeit angepassten Mobiliars und andere soziale Belastungen angeführt, sodass in Einzelfällen bei hochwüchsigen Kindern, insbesondere bei Mädchen, eine hochwuchsattenuierende Therapie aus psychosozialen Gründen notwendig werden kann. Die Bewertung einer überdurchschnittlichen Körpergröße ist interindividuell und interkulturell sehr unterschiedlich. Es herrscht Konsens, dass eine Behandlung nur in Fällen durchgeführt werden sollte, wenn die minimale Endgrößenprognose bei Jungen über 200 cm oder bei Mädchen über 185 cm liegt. Die medikamentöse Therapie erfolgt durch eine supraphysiologische Verabreichung von Sexualsteroiden. Hierdurch wird ein früherer und rascherer Verlauf der Pubertät induziert und dadurch ein vorzeitiger Epiphysenfugenschluss erreicht. Allerdings gibt es Hinweise, dass eine wachstumsattenuierende Therapie zu einer reduzierten Fertilität behandelter Mädchen führen könnte. Eltern und Jugendliche sollten daher ausführlich über die Effektivität und ­Nebenwirkungen der Therapie aufgeklärt werden. Chirurgisch steht die beidseitige Epiphysiodese als Therapiealternative zur medikamentösen Therapie zur Verfügung. Diese kann insbesondere bei Patienten mit dysproportioniertem Hochwuchs zu einer Normalisierung der Körperproportionen beitragen; größere Fallserien behandelter Patienten stehen allerdings noch nicht zur Verfügung.

Ovar

..Abb. 26.5  Regulation der Pubertät. Hierbei spielen die Abnahme inihibierender Einflüsse von u. a. Gamma-Aminobuttersäure (GABA) und Makorin Ringfingerprotein 3 (MKRN3) als auch stimulierende Einflüsse eine Rolle. Zu den letzteren zählen u. a. Katecholamine, Glutamat und Kisspeptin

26.2

Pubertät

Die Pubertät ist die Lebensphase die sich an die Kindheit anschließt und in der sich die Geschlechtsreife entwickelt. Sie ist charakterisiert durch ausgeprägte körperliche, kognitive, emotionale und psychosoziale Veränderungen. Sie wird reguliert durch eine komplexe Interaktion inhibierender und aktivierender Faktoren. Die Pubertät wird ausgelöst durch eine Re-Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, die nach frühen Phasen der Aktivierung in der Mittschwangerschaft und postnatal in der sog. Minipubertät mit ca. 6 Monaten in eine Ruhephase übergeht. Obwohl sich unser Verständnis der Regulation dieses Netzwerks deutlich vergrößerte sind die Mechanismen der Pubertätsauslösung nicht vollständig bekannt. Der Zeitpunkt des Pubertätsbeginns und des Pubertätsfortschritts variiert abhängig von familiärem Hintergrund, Ethnizität und von Umweltfaktoren; er unterlag in den letzten 150 Jahren einem deutlichen säkularen Trend, der sich aber zumindest in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich abgeschwächt hat. 26.2.1

Pubertätsentwicklung

Bei der (Re)aktivierung des sog. Pubertätsgenerators, die den Pubertätsbeginn markiert, kommt es zu einer zunächst vorwiegend nächtlichen pulsatilen Freisetzung von GnRH im Hypothalamus, das über

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J. Wölfle et al.

den portalen Gefäßplexus zur Hypophyse transportiert wird und dort zu einer Freisetzung der Gonadotropine LH und FSH führt (Details . Abb. 26.5). Diese gelangen über die periphere Zirkulation zu den Gonaden und induzieren dort Synthese und Freisetzung­ von Sexualsteroiden (Testosteron, Östradiol, Progesteron), welche sowohl über eine stimulierende als auch inhibierende Rückkopplung die ­hypothalamisch/hypophysäre Freisetzung von GnRH und Gonadotropinen modulieren können. Unter dem zunehmenden Einfluss der Sexualsteroide kommt es beim Mädchen zu einer Vergrößerung der Brustdrüse und einer Größenzunahme des Uterus, während Testosteron beim Jungen zur Ausprägung der männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale ­beiträgt. Die äußeren Merkmale der Pubertätsentwicklung werden nach Marshall und Tanner in verschiedene Stadien eingeteilt (. Abb. 26.6): Schambehaarung („Pubesbehaarung“, P1 bis P6; . Tab. 26.3), Brustentwicklung (B1 bis B5; . Tab. 26.4) und Genitalentwicklung (G1 bis G5; . Tab. 26.5). Hierbei wird das Hodenvolumen mittels eines Orchiometers geschätzt, das Vergleichsovoide unterschied­ lichen Volumens enthält. Der zeitliche Ablauf der Pubertät ist in . Abb. 26.7 dargestellt.

..Tab. 26.3  Stadien der Pubesbehaarung nach Marshall und ­Tanner (1969) PH1

Präpuberal – keine Pubesbehaarung

PH2

Spärliches Wachstum von langen, leicht pigmentierten, flaumigen Haaren, glatt oder gering gekräuselt. Sie erscheinen hauptsächlich an der Peniswurzel bzw. entlang der großen Labien

PH3

Beträchtlich dunklere, kräftigere und stärker gekräuselte Haare. Behaarung geht über die Symphyse etwas hinaus

PH4

Behaarung entspricht dem Erwachsenentyp, die Ausdehnung ist aber noch beträchtlich kleiner. Noch keine Ausbreitung auf die Innenseite der Oberschenkel

PH5

In Dichte und Ausdehnung wie beim Erwachsenen, aber nach oben horizontal begrenzt (Dreieckform); Übergang auf Oberschenkel

PH6

Bei 80% der Männer und 10% der Frauen kommt es zu weiterer Ausbreitung der Behaarung nach oben zum Nabel hin

a

B1

B2

B3

B4

B5

b

P1

P2

P3

P4

P5

c

G1, P1

G2, P2

G3, P3

G4, P4

G5, P5

..Abb. 26.6  Pubertätsstadien nach Tanner. [Aus: Hoffmann, Lentze, Spranger, Zepp (2014) Pädiatrie – Grundlagen und Praxis. Springer, Berlin Heidelberg]

653 Endokrinologie interdisziplinär

Pubertätsentwicklung beim Jungen

..Tab. 26.4  Stadien der Brustentwicklung bei Mädchen nach ­Marshall und Tanner (1969)

Wachstumsschub Stimmbruch

Pubesbehaarung

P5 nach Tanner P4 nach Tanner P3 nach Tanner P2 nach Tanner G5 nach Tanner G4 nach Tanner G3 nach Tanner

Genitalentwicklung G2 nach Tanner

8

9

10

11

12

13

14

15

a

16 17 Alter in Jahren

P5 nach Tanner P4 nach Tanner P3 nach Tanner

P2 nach Tanner (mittleres Alter KIGGS-Studie 10,8 J.)

G5 nach Tanner G4 nach Tanner G3 nach Tanner G2 nach Tanner

Genitalentwicklung

8

9

b

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Alter in Jahren

..Abb. 26.7  Schematischer Ablauf der Pubertät. a bei Jungen, b bei Mädchen. (Mod. nach Largo u. Prader und KIGGS-Daten)

26.2.2

Fehlende Brustentwicklung, keine palpable Drüse

B2

Brustknospung. Brustdrüse und Warzenhof sind leicht erhaben

B3

Brustdrüse ist stärker vergrößert als der Warzenhof. Die Form entspricht der einer erwachsenen Brust

B4

Die Drüse im Warzenhofbereich hebt sich mit einer eigenen Kontur vom übrigen Anteil der Brust ab

B5

Die Vorwölbung im Warzenhofbereich des Stadiums B 4 weicht in die abgerundete Kontur der erwachsenen Brust zurück

..Tab. 26.5  Stadien der Genitalentwicklung bei Jungen nach Marshall und Tanner (1969)

Wachstumsschub

Menarche

B1

18

Pubertätsentwicklung beim Mädchen

Pubesbehaarung

26

Pubertätsentwicklung bei Mädchen

Die Pubertät beim Mädchen beginnt mit der Entwicklung der Brustdrüsen (Thelarche). Diese tritt derzeit im Mittel mit 10,5 Jahren auf (. Abb. 26.7b). . Tab. 26.4 zeigt die weitere Entwicklung der Brustdrüse, wobei bei einigen Mädchen das Stadium B3 direkt in das Stadium B5 übergeht. Nahezu zeitgleich mit der Thelarche kommt es zur Entwicklung von Sekundärbehaarung (Pubarche). Diese steht initial v. a. unter dem Einfluss von adrenalen, weniger gonadalen Steroiden (Adrenarche); sie kann im Einzelfall auch der Thelarche vorangehen. Etwa zwei Jahre nach der Thelarche kommt es bei Mädchen zur ersten Regelblutung (Menarche). In dem zwischen 2003 und 2006 durchgeführten Kinder- und Jugendsurvey des RobertKoch-Instituts (KIGGS) wurde ein Menarchemedian von 12,8 Jahren angeben. Das Menarchealter wird u. a. durch Ethnizitität, ­Sozialstatus und BMI moduliert. Nachdem vor dem Beginn der ­Pubertätsentwicklung die Wachstumsgeschwindigkeit deutlich abfällt, steigt diese mit Beginn der Pubertät infolge einer insbesondere östrogenstimulierten vermehrten Freisetzung von hypophysärem Wachstumshormon erneut an auf ein Maximum im Alter von­ ca. 12 Jahren (Pubertätswachstumsschub).

G1

Infantil, Hodenvolumina 3 ml) in einem durchschnittlichen Alter von 12 Jahren. Im Anschluss daran kommt es zur Entwicklung von ­Sekundärbehaarung (Pubarche), die allerdings für viele Jungen das erste selbst bemerkte Pubertätsmerkmal darstellt. Durch die Zu­ nahme der gonadalen Sexualsteroidsynthese kommt es im Verlauf zu einer Vergrößerung des Penis (G1–G5) und zu Bartwuchs. Erste Spermien im Morgenurin lassen sich im Mittel im Alter von 13,4 Jahren nachweisen (Spermarche). Im Gegensatz zu Mädchen tritt der Pubertätswachstumsschub beim Jungen deutlich später auf. Die ­maximale pubertäre Wachstumsgeschwindigkeit liegt im Median bei 14 Jahren. Oft letztes Pubertätsmerkmal ist die Mutation (Stimmbruch), die im KIGGS-Survey im Median von 15 Jahren berichtet wurde (bei großer Variabilität). 26.2.4

Normvarianten der Pubertäts­ entwicklung

Konstitutionelle Verzögerung von Wachstum ­ und Pubertät 7 Abschn. 26.1

Prämature Thelarche Eine isolierte vorzeitige Entwicklung der Brustdrüse ohne sonstige Pubertätszeichen wird als prämature Thelarche bezeichnet. Die Ätiologie der prämaturen Thelarche ist nicht bekannt. Sie tritt typischerweise innerhalb der ersten 2 Lebensjahre auf; die Brustentwicklung geht oft nicht über palpables subareoläres Brustdrüsengewebe hinaus (B2). Man findet keine Aktivierung der Hypothalamus-­

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Hypophysen-Gonadenachse; das Knochenalter ist nicht akzeleriert. Ebenso finden sich keine Einflüsse auf Längenwachstum oder ­Uterusentwicklung. Eine Therapie ist nicht erforderlich. Allerdings sollte eine longitudinale Supervision der Patientinnen angeregt werden, da die Abgrenzung zur Pubertas präcox im Einzelfall erst im Verlauf möglich wird.

unabhängige Pubertätsstörungen (Pseudopubertas präcox) unterschieden werden. Während sich bei der Pubertas präcox vera die Pubertätsmerkmale zwar verfrüht, aber in der typischen Sequenz manifestieren treten Pubertätszeichen bei der Pseudopubertas präcox unabhängig vom normalen Pubertätsverlauf auf.

Prämature Pubarche

jjEpidemiologie Die Pubertas präcox vera (oder centralis) tritt mit einer Inzidenz von 1:5.000 bis 1:10.000 auf. Es besteht eine deutliche Mädchenwendigkeit (Mädchen sind 5- bis 10-mal häufiger betroffen).

Das isolierte vorzeitige Auftreten von Sekundärbehaarung wird als prämature Pubarche bezeichnet (Pubarche bei Mädchen vor dem ­8., bei Jungen vor dem 9. Geburtstag). Eine prämature Pubarche scheint bei Kindern gehäuft aufzutreten, die mit für das Gestationsalter zu niedrigen Geburtsmaßen zur Welt kamen (SGA). Bei diesen Kindern scheint die prämature Pubarche zusätzlich mit einem erhöhten Risiko für metabolische Folgeerkrankungen sowie dem Auftreten eines polyzystischen Ovarsyndroms (PCOS) assoziiert zu sein. Die prämature Pubarche ist Folge einer prämaturen Aktivierung der Nebennierenrindenaktivität (Adrenarche); deren biochemisches Merkmal ist der laborchemische Nachweis erhöhter Konzentrationen von DHEA und DHEAS. Klinisch können milde Zeichen einer Hyperandrogenämie wie unreine Haut oder verfrüht auftretender Schweißgeruch bemerkt werden. Es besteht oft kein oder nur eine geringe Akzeleration der Skelettentwicklung ohne Beschleunigung des Längenwachstums. Abzugrenzen sind Erkrankungen mit erhöhter adrenaler Androgenproduktion (z. B. nichtklassisches adrenogenitales Syndrom, androgenproduzierende Tumoren, etc.). Eine Verlaufsbeobachtung über 6–12 Monate ist hilfreich, um eine Pubertas präcox sicher abgrenzen zu können. Eine Therapie ist nicht erforderlich. Bei ehemaligen SGA-­ Kindern mit prämaturer Pubarche sollte eine Verlaufsbeobachtung hinsichtlich der genannten Risiken angeraten werden. 26.2.5

Pubertätsgynäkomastie

Mit Beginn der Sexualsteroidproduktion kommt es bei vielen Jungen (50–90%) zu einer transienten, meist beidseitigen Vergrößerung der Brustdrüse. Ursächlich ist vermutlich eine vermehrte Aromatisierung von Testosteron zu Östradiol. Klinisch lässt sich subareolär oft nur eine kleine Verhärtung tasten. Abzugrenzen ist eine Lipomastie bei adipösen Jugendlichen. Differenzialdiagnostische Überlegungen sind nur bei atypischem Manifestationsalter oder zusätzlicher klinischer Symptomatik notwendig (z. B. auffällige Medikamentenanamnese; u. a. Neuroleptika, Spironolakton) oder Vorliegen zusätzlicher assoziierter phänotypischer Merkmale (z. B. Hinweise auf ein Klinefelter-Syndrom). Eine Therapie ist meist nicht notwendig. 26.2.6

Vorzeitige Pubertätsentwicklung ­(Pubertas präcox)

j jDefinition Das vorzeitige Auftreten von Pubertätsmerkmalen in einem Alter von mehr als zwei Standardabweichungen vor dem durchschnitt­ lichen Pubertätsbeginn wird als Pubertas präcox bezeichnet. Dies korrespondiert zum Auftreten erster Pubertätsmerkmale bei Mädchen vor dem 8. und bei Jungen vor dem 9. Geburtstag. Die vorzeitigen Pubertätsstörungen können in gonadotropinabhängige (Pubertas präcox vera oder centralis) und in gonadotropin­

Pubertas präcox vera

jjÄtiologie/Pathogenese In der Mehrzahl der Fälle ist die Pubertas präcox beim Mädchen idiopathisch. Bei einem Teil der Patienten konnten Mutationen in pubertätsrelevanten Genen gefunden werden (u. a. KISS1, KISS1R [syn. GPR54], MKRN3, DLK1). Seltene Ursachen für eine Pubertas präcox sind ZNS-Tumoren (insbesondere Hamartome), andere ZNS-Läsionen, eine vorangehende Schädelbestrahlung oder Endokrinopathien (z. B. eine lange unbehandelte Hypothyreose). Bei ­Jungen finden sich organische Ursachen einer Pubertas präcox vera zu einem deutlich höheren Anteil (40–90% bei Jungen gegenüber 10–30% bei Mädchen). jjKlinik Neben der vorzeitigen Pubertätsentwicklung findet sich ein beschleunigtes Längenwachstum als Ausdruck der sexualsteroidvermittelten Zunahme der Wachstumshormonsekretion. Allerdings kommt es durch die Beschleunigung der Knochenreifung, die sich radiologisch als Knochenalterakzeleration manifestiert, zu einem vorzeitigen Verschluss der Epiphysenfugen und damit zum Risiko einer adulten Kleinwüchsigkeit unterhalb des individuellen familiären Zielgrößenbereichs. Die frühe Ausbildung der Geschlechtsmerkmale kann in Abhängigkeit des Manifestationsalters und der individuellen Situation zu einer erheblichen psychosozialen Belastung führen. jjDiagnose Biochemisch ist eine Messung der basalen Gonadotropinkonzentration aufgrund deren pulsatiler Sekretion meist nicht weiterführend. Im GnRH-Test lassen sich aber bei Vorliegen einer zentralen Pubertas präcox die Gonadotropine auf pubertäre Werte mit einer Dominanz von LH gegenüber FSH stimulieren (LH/FSH-ratio >1). ­Typischerweise finden sich erhöhte Serumkonzentrationen für die Sexualsteroide Östradiol oder Testosteron. Radiologisch zeigt die Kochenalterbestimmung ein akzeleriertes Knochenalter; sonographisch lassen sich beim Mädchen eine Maturierung des Uterus sowie Follikelzysten der Ovarien nachweisen. Zur Abklärung einer organischen Ursache sollte bei allen Jungen und bei Mädchen mit Manifestion vor dem 6. Geburtstag eine zerebrale Kernspintomographie erfolgen. jjTherapie Indikationen für eine medikamentöse Intervention sind das o. g. ­Risiko einer Reduktion der adulten Körpergröße sowie die große psychosoziale Belastung durch die verfrühte Pubertätsentwicklung der oft sehr jungen Kinder. Aufgrund des variablen Verlaufs empfiehlt sich vor Einleitung einer Behandlung eine 3- bis 6-monatige Beobachtungsphase, da bei einem Bruchteil der Patienten nach verfrühtem Beginn der weitere Pubertätsprogress langsam verläuft. Schreitet die Pubertätsent­ wicklung rasch fort sollte eine medikamentöse Therapie mit GnRHAgonisten eingeleitet werden. Diese führen nach einer initialen

655 Endokrinologie interdisziplinär

S­ timulation („flare-up“) im weiteren Verlauf durch eine „down-­ Regulation“ hypophysärer GnRH-Rezeptoren infolge kontinuierlicher GnRH-Exposition und Wegfall der pulsatilen Hypophysenstimulation zu einem Abfall der Konzentrationen für Gonadotropine und Sexualsteroide. Hierdurch wird der weitere Pubertätsprogresss verhindert und bei rechtzeitigem Therapiebeginn die Erwachsenenlänge verbessert.

..Tab. 26.6  Differenzialdiagnose des hypogonadotropen Hypogonadismus Ursache

Erkrankung

Funktioneller hypothalamischer Hypogonadismus

jjDefinition Unter einer Pseudopubertas präcox werden Erkrankungen subsummiert, die zu einer vorzeitigen Entwicklung von Pubertätsmerk­ malen führen, ohne dass eine Aktivierung des GnRH-Pulsgenerators vorliegt.

- Leistungssport (z. B. Turnerinnen) - Chronische Erkrankungen, z. B. zystische Fibrose, chronisch entzündliche Darmerkrankung, terminale Niereninsuffizienz) - Esstörungen wie Anorexia nervosa

Posttraumatisch/ Postoperativ/Post radiationem

- Nach z. B. Hypophysentumoroperation

jjUrsachen 44 Exogene Hormonexposition (akzidentelle Ingestion von Östrogenen/Adrogenen, Umweltexposition z. B. durch Phytoöstrogene), 44 Hormonproduzierende Tumore (z. B. HCG-produzierendes ­Pinealom, androgenproduzierender Nebennierentumor, ­gonadale Tumoren wie Ovarialtumor oder Leydigzelltumor), 44 Adrenale Androgensynthese infolge Enzymdefekt (insbeson­ dere kongenitales adrenogenitales Syndrom; 7 Abschn. 7.5.5), 44 GnRH-unabhängige gonadale Aktivität (Testotoxikose, autonome Ovarialzysten, McCune-Albright-Syndrom).

ZNS-Tumor; andere System­ erkrankungen

- Kraniopharyngeom - Langerhans-Histiozytose - Germinom - Prolaktinom - Speichererkrankungen - Hypophysitis - Xanthogranulom

Endokrin­ opathien

- Isolierter hypogonadotroper Hypogonadismus - Kallmann-Syndrom (Kombination von hypogonadotropem Hypogonadismus mit [partieller] Anosmie infolge Migrationsstörung der GnRH-Neurone) - Multiple Hypophysenvorderlappeninsuffizienz

Sonstige

- Syndromale Erkrankungen (z. B. Prader-WilliSyndrom) - ZNS-Fehlbildungen (z. B. septooptische ­Dysplasie)

Pseudopubertas präcox

jjDiagnose Klinisch zeigt sich in Abhängigkeit der Ätiologie eine isosexuelle oder heterosexuelle vorzeitige Pubertätsentwicklung, mit korrespondierend erhöhten Androgenen oder Östrogenen. Radiologisch findet sich wie bei der zentralen Pubertas präcox eine Beschleunigung der Knochenentwicklung. Im GnRH-Test zeigt sich aber nur eine präpubertäre oder sogar supprimierte Stimulierbarkeit der ­Gonadotropine LH und FSH. jjTherapie Da bei der Pseudopubertas präcox keine zentrale Aktivierung ­zugrunde liegt sind GnRH-Agonisten nicht wirksam. Bei Erkrankungen mit autonomer peripherer Östrogensynthese wie z. B. bei autonomen Ovarialzysten oder dem McCune-Albright-Syndrom kann ein Therapieversuch mit Aromataseinhibitoren oder selektiven Östrogenmodulatoren erwogen werden. 26.2.7

Verspätete Pubertätsentwicklung ­(Pubertas tarda)

jjDefinition Eine Pubertas tarda beim Mädchen liegt vor, wenn im Alter von 13,5 Jahren noch keine Pubertätsmerkmale vorliegen sowie wenn im Alter von 15 Jahren die Menarche noch nicht eingetreten ist. Beim Jungen liegt eine Pubertas tarda vor, wenn im Alter von 15 Jahren noch keine Pubertätsmerkmale eingetreten sind. Bei beiden Geschlechtern pathologisch ist ein zu langsamer ­Pubertätsprogress (wenn die Pubertätsdauer mehr als 5 Jahre beträgt) oder wenn es zu einem Pubertätsstillstand von mehr als 18 Monaten kommt. jjÄtiologie Die Ursachen einer verzögerten Pubertätsentwicklung sind vielfältig. Sie beinhalten u. a. schwere Allgemeinerkrankungen, Malnutri-

tion und Essstörungen, aber auch extreme sportliche Anstrengungen wie bei Leistungssportlern. Unter den endokrinen Ursachen sind zentrale hypothalamisch/hypophysäre Störungen mit niedrigen Serumkonzentrationen von Gonadotropinen und Sexualsteroiden (hypogonadotroper Hypogonadismus) zu unterscheiden von peripheren Störungen der Gonadenfunktion mit niedrigen Sexualsteroiden, aber via feedback erhöhten Gonadotropinen (hypergonadotroper Hypogonadismus).

Normvarianten Wichtigste Differenzialdiagnose einer Pubertas tarda mit der biochemischen Konstellation eines hypogonadotropen Hypogonadismus ist die konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät (7 Abschn. 26.1.3).

Hypogonadotroper Hypogonadismus jjDefinition Hypothalamische oder hypophysäre Störungen, die zu einer Mindersekretion von Gonadotropinen und damit zu einer verminderten Sexualsteroidsynthese führen, bezeichnet man als hypogonadotropen Hypogonadismus. Die Differenzialdiagnose des hypogonadotropen Hypogonadismus ist in . Tab. 26.6 dargestellt. jjDiagnose Basal niedrige Serumkonzentrationen von Gonadotropinen und ­Sexualsteroiden, im GnRH-Test fehlender Anstieg der Gonadotropinsekretion. Zum Ausschluss einer partiellen Anosmie bei V. a. Kallmann-Syndrom sollte eine standardisierte Riechprüfung durchgeführt werden. Ergänzend wird zum Ausschluss zentralnervöser Pathologien eine zerebrale MRT durchgeführt. Radiologisch findet sich meist ein retardiertes Knochenalter.

26

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J. Wölfle et al.

j jTherapie

Mädchen  Bei bereits bekanntem Hypogonadismus sollte ein mög-

7 Abschn. 7.1.4.3.

26

Hypergonadotroper Hypogonadismus j jDefinition Primäre Störungen der Gonadenfunktion mit niedrigen Sexualsteroiden, aber via feedback erhöhten Gonadotropinen, werden als hypergonadotroper Hypogonadismus bezeichnet. Die Ätiologie unterscheidet sich zwischen den Geschlechtern. Beim Mädchen stellt das Ullrich-Turner-Syndrom die wichtigste und häufigste Differenzialdiagnose dar (Inzidenz 1:2.500; . Tab. 26.7). Sehr viel seltener sind andere Formen der Gonadendysgenesie oder -insuffizienz, z. B. als Spätfolge nach Chemotherapie, Radiatio, postoperativ oder im Rahmen einer polyglandulären Insuffizienz. Beim Jungen stellt das Klinefelter-Syndrom eine häufige ­Ursache des primären Hypogonadismus dar (Inzidenz 1:1000, . Tab. 26.7). Andere Ursachen sind erworbene Anorchien, z. B. posttraumatisch oder durch bilaterale Hodentorsion, nach Vanishingtestis-Syndrom, als Spätfolge nach Chemotherapie, nach Radiatio, postoperativ oder im Rahmen einer polyglandulären Insuffizienz. jjDiagnose Biochemisch finden sich erniedrigte Sexualsteroide, präpubertär oft noch normwertig niedrige Gonadotropinkonzentrationen, die aber während und nach der Pubertät deutlich über den Normalbereich hinaus ansteigen. Radiologisch findet sich ein retardiertes Knochenalter. Beim Ullrich-Turner- und Klinefelter-Syndrom erfolgt die Diagnosesicherung durch eine Karyotypisierung. jjTherapie Bei nachgewiesenem Hypogonadismus ist das therapeutische Ziel, durch Substitution von Sexualsteroiden einen möglichst normnahen Pubertätsverlauf zu erreichen.

lichst zeitgerechter Start der Pubertätsinduktion angestrebt werden. Auch bei Mädchen mit Ullrich-Turner-Syndrom wird mittlerweile in der aktuell gültigen Leitlinie ein Beginn der Pubertätsinduktion zwischen 11 und 12 Jahren empfohlen, um durch eine normnahe Einleitung der Sexualsteroidsubstitution Risiken für die Knochengesundheit und psychosoziale Belastungen zu vermeiden. Die Substitution erfolgt dabei durch eine orale oder transdermale Östrogengabe in steigender Dosierung und wird im Verlauf in Abhängigkeit der Brust- und Uterusentwicklung durch eine zyklische Gestagengabe ergänzt.

Jungen  Die Behandlung des Hypogonadismus beim Jungen besteht aus einer topischen oder intramuskulären Testosterongabe in ansteigender Dosierung; eine orale Pubertätsinduktion und Androgenersatz sind durch den First-Pass-Effekt der Leber und die nicht selten hepatotoxische Androgenwirkung kein gängiges Therapieprinzip. Allerdings wird durch eine isolierte Androgensubstition kein testikuläres Wachstum und keine Stimulation der Spermatogenese erreicht. Daher kann in Einzelfällen von sekundärem oder tertiären Hypogonadismus die Pubertätsinduktion durch eine kombinierte Gonadotropinsubstitution (FSH, HCG) erfolgen.

26.3

Hypothalamus-Hypophysen-Achse

Die Hypothalamus-Hypophysen-Achse integriert zahlreiche periphere endokrine Signale und zentralnervöse Einflüsse und übt über die Sekretion zahlreicher Hormone eine zentrale Rolle hinsichtlich Körperwachstum und Energiehaushalt, Salz-Wasser-Haushalt und Reproduktion aus. Aus endokriner Perspektive kommen insbesondere den Kerngebieten von Nucleus arcuatus (ARC) sowie Nuclei para- und periventricularis (PVH) besondere Bedeutung zu, da dort verschiedene

..Tab. 26.7  Wichtige Formen des hypergonadotropen Hypogonadismus Ullrich-Turner-Syndrom

Klinefelter-Syndrom

Ätiologie

Numerische Chromosomenaberration (Karyotyp 45,X0, oder 46,XX,del oder 46,Xr(X) in> 5% analysierter Mitosen)

Numerische Chromosomen-aberration (Karyotyp 47,XXY oder höhergradige Polysomie)

Häufigkeit

1:2500

1.800 bis 1:1000

Klinik

Variabel! - Regelhaft Kleinwuchs - Meist Gonadendysgenesie - Häufige Otitiden als Kleinkind - Haut- und Hautanhangsgebilde: (Nageldysplasien, zahlreiche Pigmentnävi) - Assoziierte Malformationen: bikuspide AO-Klappe, Aortenisthmusste­ nose, Hufeisenniere, faziale Dysmorphien, Pterygium colli, Cubitus valgus - Erhöhte Autoimmunität (z. B. erhöhte Inzidenz an Autoimmunthyreoiditis, T1DM, Zöliakie) - 90% durchschnittlicher IQ (gehäuft einzelne spezielle Einschränkungen wie bei räumlichem Sehen oder Aufmerksamkeit)

Variabel! - Häufig (relativer) Hochwuchs - Variable Gonadeninsuffizienz mit postpubertär häufig kleinen Testes - Gynoider Habitus mit spärlicher Körperbehaarung und Gynäkomastie - Gehäuft Kryptorchismus, selten Mikropenis - Meist durchschnittliche Intelligenz - Gehäuftes Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten und Sprachentwicklungs- oder -verarbeitungsstö­ rungen sowie fraglich von Erkrankungen des Autismus-Spektrums

Diagnose

Chromosomenanalyse

Chromosomenanalyse

Therapie

- Ggf. Therapie des Kleinwuchses mit rekombinantem Wachstumshormon - Sexualsteroidsubstitution - Therapie assoziierter Erkrankungen (z. B. kardiologische, HNO-ärztliche, reproduktionsmedizinische Mitbetreuung)

- Sexualsteroidsubstitution - Therapie assoziierter Erkrankungen (z. B. logopädische oder psychologische Mitbetreuung)

657 Endokrinologie interdisziplinär

jjEpidemiologie Die Inzidenz des STH-Mangels wird mit 1:3.000 bis 1:10.000 geschätzt. Neben syndromalen Formen (z. B. bei einer septooptischen Dysplasie oder anderen Mittellinienfehlbildungen) kommen ursächlich neben Geburtstraumata (gehäuft nach Beckenendlage), Schädel-Hirn-Traumata, hypothalamisch/hypophysäre Tumoren und Folgen der Tumortherapie insbesondere genetische Ursachen des STH-Mangels in Frage (isoliert: Mutationen in GH1- oder GHRHR-Gen, kombiniert mit anderen Ausfällen als Folge von ­Mutationen in PIT-1, PROP1, LHX3, LHX4, andere).

Hypothalamus Chiasma opticum Hypophysenstiel

Hypophysenhinterlappen

Hypophysenvorderlappen

ADH

TSH

Oxytocin

FSH LH

PRL ACTH

STH

..Abb. 26.8  Anatomie der Hypothalamus-Hypophysen-Achse. ACTH adre­ nokortikotropes Hormon, ADH antidiuretisches Hormon, FSH follikelstimu­ lierendes Hormon, LH luteinisierendes Hormon, PRL Prolaktin, STH Somatrotropin, TSH thyreoideastimulierendes Hormon

Releasinghormone gebildet werden, die über den portalen Kreislauf die hypophysäre Hormonsekretion beeinflussen. Zusätzlich sind die supraoptischen und periventrikulären Kerngebiete endokrin relevant, da deren Axone mit der Neurohypophyse verbunden sind und die Sekretion von antidiuretischem Hormon (ADH) und Oxytocin regulieren. Anatomisch besteht die Hypophyse aus dem Hypophysenvorderlappen (HHL; Adenohypophyse mit pars anterior und intermedia) sowie dem Hypophysenhinterlappen (HHL; . Abb. 26.8). In der Adenohypophyse werden 6 verschiedene Hormone gebildet und sezerniert: 44 Somatotropin (STH), 44 Prolaktin (PRL)
, 44 adrenokortikotrophes Hormon (ACTH), 44 thyreoideastimulierendes Hormon (TSH) und
 44 die Gonadotropine (luteinisierendes Hormon, LH; follikel­ stimulierendes Hormon, FSH).

jjKlinik Neugeborene mit STH-Mangel kommen meist mit normalen ­Geburtsmaßen zur Welt, zeigen aber häufig Hypoglykämien und insbesondere bei kombiniertem Ausfall mit ACTH eine cholestatische Hepatopathie. Neben einem puppenartigen Aussehen können ggf. phänotypisch ein mittlerer Schneidezahn oder ein Mikropenis vorliegen. Nach der Säuglingsphase kommt es häufig infolge einer unterdurchschnittlichen Wachstumsgeschwindigkeit zu einem perzentilenflüchtigen Wachstum und zu einem Kleinwuchs unterhalb des familiären Zielgrößenbereichs. jjDiagnose Die Diagnose eines STH-Mangels im Kindesalter basiert wesentlich auf auxiologischen Kriterien. Eine normwertige Wachstums­ geschwindigkeit macht das Vorliegen eines STH-Mangels sehr unwahrscheinlich. >> Aufgrund der pulsatilen Freisetzung ist eine isolierte Bestimmung von STH für die Diagnose des STH-Mangels nicht weiterführend (Ausnahme: Neugeborenes).

Ein wichtiger Mediator der hypophysären Wachstumshormonwirkung ist der insulinähnliche Wachstumsfaktor IGF-1. Dieser zirkuliert im Serum als Teil eines ternären Komplexes zusammen mit dem IGF-Bindungsprotein-3 (IGFBP-3) und der sog. säurelabilen Untereinheit (acid labile subunit; ALS). Bei Kindern mit STH-Mangel ­liegen meist erniedrigte Serumkonzentrationen für IGF-1 oder IGFBP-3 vor. Normwertige Konzentration für IGF-1 und IGFBP-3 machen einen STH-Mangel unwahrscheinlich. Umgekehrt gibt es aber neben einem STH-Mangel zahlreiche andere Ursachen für eine Erniedrigung der IGF-1-Serumkonzentration, wie Malnutrition, Diese gelangen über den Sinus petrosus in die periphere Zirkulation; Adipositas oder chronische Entzündungen. während die Hormone des HHL direkt sezerniert werden. Radiologisch findet sich typischerweise bei Kindern mit einem Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Achse umfassen STH-Mangel ein retardiertes Knochenalter. ­neben Fehlbildungssyndromen, angeborenen genetischen StörunSind die auxiologischen, biochemischen und radiologischen gen mit isolierten oder kombinierten HVL-Ausfällen, isoliertem Kriterien für die Verdachtsdiagnose eines STH-Mangels erfüllt, wird Exzess einzelner Hormone oder Hormonexzess im Rahmen von typischerweise eine Stimulation der STH-Sekretion durch pharmasyndromalen Erkrankungen zahlreiche erworbene Ursachen (z. B. kologische Stimuli durchgeführt (z. B. Arginin-, Clonidin-, Glukaparaneoplastisch, posttraumatisch, postoperativ, post radiatio). gon- oder Insulin-Hypoglykämie-Test). Als auffällig wird eine ­maximale stimulierte STH-Konzentration 1 SD UND IGF-1 < –1,0 SDS und/oder IGFBP-3 < –1,0 SDS

nein

Beobachten; alternative Diagnose suchen !

nein

Kein Wachstumshormonmangel; alternative Diagnose suchen !

ja Empfehlung 10–14

Wachstumshormonstimulationstests sind indiziert

Empfehlung 15–21

WH Peak < 8 µg/L (ng/ml) in zwei Tests ja Wachstumshormonmangel

Wachstumshormontherapie!

In der aktuell gültigen S2-Leitlinie der AWMF zur Diagnostik ist der in . Abb. 26.9 hinterlegte Algorithmus vorgesehen, der die ­Bedeutung der auxiologischen Parameter bei der Diagnostik des STH-Mangels unterstreicht. jjTherapie Die Therapie des STH-Mangels besteht aus einer Substitution des defizienten STH in einer Dosierung von 25–30 µg/kgKG/d in Form von rekombinantem STH durch eine einmalig tägliche subkutane Injektion. Typischerweise kommt es hierdurch insbesondere zu Beginn der Therapie zu einem deutlichen Aufholwachstum; bei früher Diagnosestellung wird eine Erwachsenengröße im elterlichen Zielgrößenbereich erreicht. Bei Patienten mit sog. absolutem STH-Mangel (max. stimuliertes STH 12 l/d). Oft ist der Beginn schleichend, sodass der genaue Beginn anamnestisch nicht mehr eindeutig eruiert werden kann. Ab dem Zeitpunkt, ab dem der Flüssigkeitsverlust nicht mehr ausreichend über die Polydispie gedeckt werden kann kommt es zu Dehydratation, z. T. mit Fieber und Gewichtsverlust, bei jüngeren Kindern ggf. eine Gedeihstörung. j jDiagnose Laborchemisch findet sich eine verminderte Urinosmolalität und eine Hypernatriämie. Die Diagnose erfolgt im standardisierten Durstversuch unter stationären Bedingungen. Im Durstversuch ist v. a. die Veränderung der Urinosmolalität diagnostisch relevant, die direkte ADH-Bestimmung ist meist nicht weiterführend (ggf. ergänzende Bestimmung von Copeptin). Wichtigste Differenzialdioagnosen sind der nephrogene DI (7 Kap. 25) sowie die habituelle Polydipsie. Ist die Diagnose zentraler DI gesichert muss eine (repetitive) Schnittbildgebung, meist eine zerebralen MRT, durchgeführt werden, ggf. ergänzt durch eine Bestimmung der HVL-Hormone und bei V. a. Germinom oder LCH ggf. eine Lumbalpunktion und Liquoranalytik. j jTherapie Diese besteht aus Ersatz des defizienten ADH in Form des synthetischen ADH-Analogons DDAVP, entweder in oraler, intranasaler, selten parenteraler Form; typischerweise reicht eine 2- bis 3-mal tägliche Substitution aus.

SIADH (Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion; syn. Schwartz-Bartter-Syndrom) Als SIADH wird Elektrolytstörung bezeichnet, bei der es trotz Normonatriämie zu einer unangemessenen Sekretion von ADH kommt. In der Folge bildet sich eine „Wasserintoxikation“ mit Hyponatriämie aus. Die Ursachen sind vielfältig: es dominiert ein medikamenteninduziertes SIADH (verschiedene Chemotherapeutika wie Vincristin, Cyclophosphamid, verschiedene Antikonvulsiva, u. a.) neben zentralnervösen Störungen (ZNS-Tumor/-Trauma, inflammatorische Störungen wie Meningitis/Enzepahlitis). Die Symptome der Hypervolämie und Hyponatriämie beinhalten u. a. Kopfschmerzen, eine arterielle Hypertonie mit Übelkeit, Erbrechen oder Krampfanfällen. Da ein SIADH nicht selten im Rahmen komplexer Erkrankungen unter einer Polypharmakotherapie auftritt, kommen hier die Symptome der Grunderkrankung (und Therapie) hinzu. Die Differenzialdiagnose der Hyponatriämie ist schwierig. Wegweisend ist der Befund einer relativ zu hohen Urinsomolalität im Vergleich zur hypoosmolaren Serumosmolalität. Grundpfeiler der Therapie ist die Behandlung der Ursache (ggf. Ersatz des auslösenden Agens) in Kombination mit einer Flüssigkeitsrestriktion. 26.4

Schilddrüse

26.4.1

Hypothyreose

j jDefinition Unter einer Hypothyreose versteht man eine Störung der Schilddrüsenfunktion, die zu einer Minderversorgung des Organismus mit Schilddrüsenhormon führt. Eine Hypothyreose kann angeboren vorliegen oder später erworben werden. Liegt die Funktionsstörung im Bereich der Schilddrüse selbst spricht man von einer primären Hypothyreose. Eine sekundäre

..Tab. 26.8  Differenzialdiagnose der angeborenen Hypothyreose Angeborene Hypothyreose (kein oder nur hypoplastisches SD-Gewebe in loco typico)

Angeborene Hypothyreose (normales oder vermehrtes SD-Gewebe in loco typico)

Athyreose

Pendred-Syndrom (Kombination mit Innenohrschwerhörigkeit durch Mutation im Pendrin-Gen (SLC6A4)

Hypoplastische Schilddrüse mit Hypothyreose

Thyreoglobulinsynthesedefekt (verdächtige Konstellation: Neugeborenes mit TSH-Erhöhung, Hypothyreose, nachweisbarer/vergrößerter Scihlddrüse und niedrigem oder nicht detektierbarem Thyreoglobulin)

Schilddrüsenektopie mit Hypothyreose

Jodtyrosin-Dejodase-Mangel (Mutation im DEHAL1-Gen; initial meist normale SD-Funktion [unauffälliges Neugeborenenscreening]; im Verlauf nach „Jodverarmung“ Entwicklung einer Hypothyreose

­ ypothyreose entsteht infolge eines hypophysären TSH-Mangels, H eine tertiäre Hypothyreose infolge einer hypothalamischen TRHDefizienz. Die angeborene Hypothyreose ist mit einer Inzidenz von 1:3000 die häufigste angeborene Störung des Endokriniums. jjÄtiologie und Pathogenese Die Differenzialdiagnose der angeborenen Hypothyreose ist in . Tab. 26.8 dargestellt:

Primäre angeborene Hypothyreose (CH) jjÄtiologie Die Differenzialdiagnose einer konnatalen primären Hypothyreose ist in . Tab. 26.8 dargestellt; dabei dominieren anatomische Anomalien wie Athyreose und hypoplastische Schilddrüsen. Die Pathogenese der Hypothyreose ist nur partiell verstanden (u. a. Mutationen in verschiedenen transkriptionsfaktorkodierenden Genen wie PAX8). Sehr viel seltener finden sich Störungen der Schilddrüsenhormonbiosynthese (rechte Spalte . Tab. 26.8). Eine wichtige, aber seltene Form der transienten erworbenen ­Hypothyreose ist die durch transplazentaren Übergang von blockierenden TSH-Rezeptor-AK-vermittelte Hypothyreose bei Kindern von Müttern mit einer autoimmunologischen Schilddrüsenfunk­ tionsstörung. Zusätzlich kann eine neonatale Exposition gegenüber Jod (Kontrastmittel, Desinfektiva) über den Wolff-Chaikoff-Effekt die Schilddrüsenhormonbiosynthese blockieren und u. U. zu einer Monate anhaltenden, transienten Hypothyreose führen. jjKlinisches Bild Zu den klinischen Symptomen der angeborenen Hypothyreose gehören (. Abb. 26.10): 44 Ikterus prolongatus, 44 Hypothermie und Bradykardie, 44 Makroglossie, 44 Nabelhernie, 44 auffällige Hauttextur (ödematös, trocken, pastös), 44 Adynamie, Muskelhypotonie, 44 Makroglossie, 44 weit offene große Fontanelle, verzögerte Ossifikation anderer Knochenkerne.

661 Endokrinologie interdisziplinär

a

c

d

b

..Abb. 26.10  Konnatale Hypothyreose. a 1-jähriger aus Tansania, schwere konnatale Hypothyreose ohne Therapie, beachte: Nabelhernie (Patient von Dr. C. Krüger); b Links 5-jähriges Mädchen mit unzureichend behandelter

Hypothyreose, rechts ein gesundes Vergleichskind gleichen Alters. c und ­ d Sonographie des Halses bei konnataler Hypothyreose (c) und normaler Schilddrüse (d) mit beidseitigen Schilddrüsenlappen und Isthmus (Pfeile)

Seit der Einführung des Neugeborenenscreening auf eine erhöhte TSH-Konzentration ist das Vollbild des Kretinismus selten geworden. Allerdings gibt es weiterhin Fälle von verpasstem oder falschnegativem Neugeborenenscreening; insbesondere bei sehr unreifen Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht 80% anatomische Auffälligkeiten der Schilddrüse (Athyreose, hypo­ plastische oder ektope SD). Bei Früh- und Neugeborenen sollte ggf. auch eine Bestimmung der Jodausscheidung im Urin ergänzt werden, wenn eine peripartale Jodexposition nicht ausgeschlossen werden kann.

jjDiagnose und Differentialdiagnose Typischerweise basiert der Verdacht auf eine angeborene primäre Hypothyreose auf einem auffälligen Befund im Neugeborenenscreening (durchgeführt zwischen 36. und 72. Lebensstunde). Allerdings sichert ein im Screening gefundener TSH-Wert >15 mU/l noch nicht die Diagnose einer CH; hierfür muss der Nachweis gleichzeitig ­erniedrigter peripherer Schilddrüsenhormonkonzentrationen (T4, T3) erbracht werden. Bei einer TSH-Konzentration zwischen 15 und 50 mU/l wird zunächst eine Kontrolle des Screenings vorgenommen. Wurde im Neugeborenenscreening bereits eine TSH-Konzentration >50 mU/l gefunden, muss vor Beginn einer Substitutionstherapie noch eine Bestimmung der Serumkonzentration von TSH, Gesamt- oder freiem T4 erfolgen, um eine hypothyreote Stoffwech-

jjTherapie Bei einer CH wird mit eine Substitutionstherapie durch Levo­ thyroxin in einer initialen Dosierung zwischen 10–15 µg/kgKG/Tag begonnen; im weiteren Verlauf nimmt der gewichtsbezogene Substitutionsbedarf ab. Bei Behandlungsbeginn innerhalb der ­ ersten zwei Lebenswochen kann erfreulicherweise von einer nor­ malen kognitiven Entwicklung der betroffenen Kinder ausgegangen werden. Nach dem zweiten Lebensjahr sollte ein standardisierter Auslassversuch durchgeführt werden. Bei nicht eindeutiger Diagnose einer CH oder V. a. eine transiente Hypothyreose (wie z. B. bei Nachweis von SD-Autoantikörpern) kann der Auslassversuch ggf. bereits früher in einem Alter von 6–12 Monaten diskutiert werden.

26

662

J. Wölfle et al.

26.4.2

26

Hyperthyreose

j jDefinition Eine Hyperthyreose im Kindes- und Jugendalter ist entweder durch eine vermehrte Schilddrüsenhormonproduktion oder eine ver­mehrte Schilddrüsenhormonwirkung charakterisiert. Häufigste ­Ursache ist ein M. Basedow, andere Ursachen sind in . Tab. 26.9 aufgelistet. Insgesamt besteht eine deutliche Mädchenwendigkeit. j jÄtiologie und Pathogenese Häufigste Ursache einer Hyperthyreose im Kindesalter ist der M. Basedow. Dieser wird durch die stimulierende Wirkung von TSH-Rezeptor-spezifischen Immunglobulinen (TSI oder TRAK) erklärt. Allerdings ist der alleinige biochemische Nachweis von TRAKs nicht immer mit dem klinischen Bild eines M. Basedow assoziiert, da zwischen blockierenden und aktivierenden TRAKs unterschieden werden muss. Ggf. können diese koexistent vorkommen, sodass ein Überwiegen stimulierender gegenüber inhibierenden TRAKs zum klinischen Bild einer Hyperthyreose führt. Das Auftreten eines M. Basedow assoziiert mit bestimmten HLA-Haplotypen (vermehrt HLA DR-3, -A1 und -B8). Zusätzlich wurde ein spezifischer Polymorphismus des CTL4A-Gens gehäuft bei Patienten mit einem M. Basedow gefunden. Neben dem immunogen vermittelten M. Basedow kann eine hyperthyreote Stoffwechsellage auch in der Frühphase einer Autoimmunthyreoditis vorkommen; u. U. erlaubt das serologische Muster von TSH-Rezeptor-Auto-AK, anti-TPO- und anti-Thyreoglobulin­ antikörpern nicht direkt eine klare Zuordnung zu entweder einem M. Basedow oder einer Hashimoto-Autoimmunthyreoiditis. Bei Vorliegen eines mütterlichen M. Basedow können TSH-Rezeptor-stimulierende mütterliche Autoantikörper transplazentar auf den Feten übergehen und beim Neugeborenen bis zur Elimination der TRAK-AK aus dem kindlichen Organismus eine transiente Hyperthyreose verursachen. Sehr viel seltener sind nichtimmunogene Formen der Hyperthyreose (. Tab. 26.9). jjKlinisches Bild Beim Neugeborenen mit transplazentar übergegangenen mütter­ lichen Antikörpern hängt der Manifestationszeitpunkt u. a. davon ab, ob die Mutter eine thyreostatische Therapie erhielt, da ggf. die transplazentare Passage der Thyreostatika den Zeitpunkt der Hyperthyreoseentwicklung beim Neugeborenen verzögern kann. Nach Elimination der Thyreostatika (typischerweise nach einigen Tagen) entwickeln diese Kinder Zeichen der Hyperthyreose. Symptome einer Hyperthyreose im Kindesalter 55Neugeborene –– Oft niedriges Geburtsgewicht, Anamnese von IUGR –– Tachykardie, Tachyarrhythmie –– Vermehrte Irritabilität (DD Drogenentzugssyndrom) –– Bei thyreotoxischer Krise sepsisähnliches Krankheitsbild (Tachykardie, Herzinsuffizienz, Organomegalie, Polyglobulie, Leukozytopenie, Thrombozytopenie) –– Im Verlauf ggf. prämature Synostose von Schädelnähten 55Ältere Kinder –– Oft protrahierter Beginn mit unspezifischen Befunden (Gewichtsverlust, Abgeschlagenheit, vermehrte Reizbarkeit, Myopathie, Ruhetremor) –– Tachykardie, ggf. arterielle Hypertonie

..Tab. 26.9  Differenzialdiagnose der Hyperthyreose im Kindesalter Altersgruppe

Ätiologie

Neugeborenes/ Säuglingsalter

Transiente neonatale Hyperthyreose durch ­maternale, transplazentar übergegangene stimulierende TSH-Rezeptor-AK Angeborene Hyperthyreose durch aktivierende Mutation im TSH-Rezeptor Syndromale Erkrankungen mit Hyperthyreose, z. B. bei aktivierender Mutation im Gsα-Protein (McCune-Albright-Syndrom)

Kindes- und Jugendalter

M. Basedow Initiale hyperthyreote Phase einer Autoimmunthyroiditis Hashimoto Autonomes Schilddrüsenadenom TSH-produzierendes HVL-Adenom Hyperthyreosis factitia (akzidentelle, iatrogene oder bewusste SD-Hormoneinnahme)

–– –– –– ––

Vermehrtes Schwitzen Endokrine Orbitopathie, insbesondere Exophthalmus Nykturie, sekundäre Enuresis Knochenalterakzeleration

jjDiagnose und Differenzialdiagnose Diagnostisch wegweisend sind der Nachweis der erhöhten Schilddrüsenhormone (T3, T4) sowie der meist supprimierten TSH-­ Konzentration. Ein serologischer Nachweis von TSH-Rezeptor-­ Antikörpern (TRAK) beim Neugeborenen macht eine Neugeborenenhyperthyreose durch transplazentaren Übergang maternaler AK wahrscheinlich. Beim älteren Kind ist der Nachweis von TRAK (ggf. in Kombination mit anti-TPO oder anti-Thyreoglobulin-AK) meist beweisend für die Diagnose eines M. Basedow. Sonographisch finden sich eine inhomogene Schilddrüsenhormonstruktur bei häufig vergrößertem Schilddrüsenvolumen; die Dopplersonographie zeigt eine deutliche Hyperperfusion. Eine szintigraphische Diagnostik ist im Kindes- und Jugendalter selten indiziert; sie kann ggf. bei fehlendem Antikörpernachweis bei der seltenen Differenzialdiagnose eines autonomen Adenoms differenzialdiagnostisch weiterhelfen. jjTherapie und Prognose Die hyperthyreote Stoffwechsellage bei Kindern mit M. Basedow wird thyreostatisch entweder mit Carbimazol oder Thiamazol ­behandelt; die früher gebräuchliche Therapie mit Propylthiouracil ist heute aufgrund des häufigen Auftretens schwerwiegender hepatischer Probleme obsolet. Oft ist zusätzlich in der Initialphase eine zusätzliche Behandlung mit β-Rezeptorenblockern notwendig. Beim Neugeborenen mit einer schwerwiegenden Hyperthyreose wird neben einer thyreostatischen Therapie ggf. eine zusätzliche Behandlung mit Jodid in Form von Lugol-Lösung notwendig, um die Schilddrüsenhormonbiosynthese zu hemmen; ergänzend können Kortikosteroide mit dem Ziel einer verminderten Dejodierung zu T3 oder eine Plasmapherese zum Einsatz kommen.

663 Endokrinologie interdisziplinär

Mittlerweile liegen mehrere Studien vor, die ein geringeres Relaps-Risiko nach verlängerter thyreostatischer Therapie berichten. Kann langfristig keine Remission erreicht werden (in Abhängigkeit der vorangehenden Dauer bei ca. 50–60% der Patienten) oder kommt es unter Therapie zu relevanten Nebenwirkungen kann eine definitive Therapie in Form einer operativen Thyreoidektomie oder einer Radiojodtherapie notwendig werden. Diese sollte in Zentren durchgeführt werden, die in der Behandlung von Kindern und ­Jugendlichen über hinreichende Erfahrung verfügen. 26.4.3

Autoimmunthyreoiditis

jjDefinition Die Autoimmunthyreoiditis Hashimoto beschreibt eine erworbene Schilddrüsenerkrankung, die durch eine immunogene Infiltration der Schilddrüse verursacht wird. Histologisch findet sich eine lymphozytäre Infiltration der Schilddrüse. Mädchen und Frauen sind häufiger als das männliche Geschlecht betroffen. jjÄtiologie und Pathogenese Trotz ihrer Häufigkeit ist die Ätiologie der Autoimmunthyreoiditis nicht vollständig verstanden. Es besteht eine gewisse genetische Prädisposition (gehäuft bei HLA-Typ DR4 oder 5). Außerdem scheint eine exogene Jodzufuhr bei Prädisposition ihre Entstehung zu ­begünstigen. Sie kann isoliert auftreten oder in Kombination mit anderen immunologischen Endokrinopathien (z. B. bei Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ 1, bei Kindern mit einem Downoder Ullrich-Turner-Syndrom oder im Rahmen eines sog. SchmidtSyndroms, APS2). jjKlinisches Bild Entzündung und (transient oder konstant) hypothyreote Stoffwechsellage mit konsekutiver TSH-Erhöhung (Wachstumsreiz!) führen zu einer Vergrößerung des Schilddrüsenvolumens; dieses kann zu einer Dysphagie oder einem Kloßgefühl führen. Die Schilddrüsenfunktion kann (initial) hyper-, aber auch euthyreot oder hypot­hyreot sein. Assoziierte Beschwerden können Abgeschlagenheit, Gewichtszunahme, vermehrter Haarverlust, zervikale Lymphadenopathie oder Konzentrationsprobleme beinhalten. jjDiagnose und Differenzialdiagnose Die Diagnose wird durch den Nachweis von Schilddrüsenautoantikörpern (anti-TPO, anti- Thyreoglobulin) sowie ein auffälliges sonographisches Muster (irreguläre, inhomogen echoarme Schilddrüse) gestellt. jjTherapie Im Falle einer hypothyreoten Stoffwechsellage oder Vorliegen einer Struma bei Hashimoto-Thyreoiditis sollte eine Therapie mit Levothyroxin durchgeführt werden. Für eine antioxidative Therapie mit Selen, die im Erwachsenenalter z. T. mit einer Reduktion von Antikörpertitern oder Verbesserung der Schilddrüsenfunktion in Verbindung gebracht wurde, liegen bislang in der Kinderheilkunde keine supportiven Daten vor. 26.4.4

Struma

jjDefinition Eine Vergrößerung des Schilddrüsenvolumens über den alters- und geschlechtsspezifischen Normalbereich hinaus wird als Struma bezeichnet.

jjÄtiologie und Pathogenese Während in der Vergangenheit ein Jodmangel die häufigste Ursache für eine Struma war, ist diese durch die verbesserte Jodversorgung in Deutschland deutlich seltener geworden. Neben einem Jodmangel können Nitrate, infektiöse Erkrankungen und Autoimmunthy­ reoiditiden zur Entstehung einer Struma führen. Bei konnatalen Strumen sollte ein Schilddrüsenhormonbiosynthesedefekt (u. a. Pendred-Syndrom, Thyreglobulinsynthesedefekt) ausgeschlossen werden. jjKlinisches Bild Die Vergrößerung des Schilddrüsenvolumens kann ggf. als isolierte Vergrößerung des Halsumfangs auffallen oder durch lokale Verdrängung zu einer Dysphagie, Heiserkeit sowie selten zu einer Schmerzsymptomatik führen. In Abhängigkeit davon, ob eine dif­ fuse Struma oder eine Knotenstruma vorliegt kann ggf. eine lokale Verhärtung bzw. ein Schilddrüsenknoten tastbar sein. Eingeteilt wird die Struma anhand der WHO-Klassifikation in Stadien: 44 0: keine Struma, 44 1a: nur palpatorisch erfassbare, nicht sichtbare Schilddrüsenvergrößerung, 44 1b: bei maximaler Reklination sichtbare Schilddrüse, 44 2: bei normaler Kopfhaltung sichtbare Schilddrüse, 44 3: stark vergrößerte Schilddrüse. jjDiagnose Neben der klinischen Erfassung wird eine Struma insbesondere durch die Sonographie erfasst und verlaufskontrolliert. Wichtige ­Aspekte hierbei sind neben der Volumetrie die Schilddrüsenstruktur sowie das Vorhandensein/Abwesenheit von Schilddrüsenknoten. jjTherapie Diese erfolgt in Abhängigkeit von der Ätiopathogenese der Struma. Bei Verdacht auf Jodmangel erfolgt eine Therapie mit Jodid (bei Säuglingen in einer Dosierung von 50–80 µg/d, bei Kleinkindern 100 µg/d und bei älteren Kindern in einer Dosis von 150–200 µg/d. Zurückhaltung hinsichtlich einer Jodidsubstitution sollte bei V. a. Hashimoto-Thyreoiditis geübt werden, die im Kindesalter hier evtl. der immunogene Prozess weiter stimuliert werden kann. Ebenso sollte bei Vorliegen einer Knotenstruma eine Autonomie ausgeschlossen werden. 26.4.5

Schilddrüsenknoten

jjDefinition Unter einem Schilddrüsenknoten versteht man eine klinisch palpable oder sonographisch nachweisbare bindegewebig abgegrenzte knotige Veränderung des Schilddrüsenparenchyms. Schilddrüsenknoten kommen in der Kindheit im Vergleich zum Erwachsenenalter deutlich seltener vor. Allerdings ist in den vergangenen Jahren eine zunehmende Detektion von Schilddrüsenknoten zu ver­ zeichnen. Dies beruht u. a. auf der deutlich verbesserten Qualität der Sonographie sowie auf der Zunahme von Routineultraschall­ untersuchungen im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen. Ab­ zugrenzen sind sog. „Pseudoknoten ohne Kapsel“, wie sie z. B. im Rahmen einer Autoimmunthyreoiditis vorkommen. Hier finden sich meist sonographisch echoarme Regionen innerhalb von Schilddrüsengewebe normaler Echostruktur ohne umgebende bindege­ webige Kapsel.

26

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J. Wölfle et al.

j jÄtiologie und Pathogenese Die Ätiologie von Schilddrüsenknoten ist heterogen; diese umfasst u. a. regressive Veränderungen von Jodmangelstrumen, Schilddrüsenzysten, Adenome und im Kindesalter sehr viel seltener maligne Schilddrüsentumore. Anamnestisch relevant sind hierbei insbe­ sondere eine vorangehende Bestrahlung der Schilddrüsenregion (onkologische Vorgeschichte?) sowie die Familienanamnese (z. B. bei MEN2a, PTEN-Hamartoma-Tumor-Syndrom, u. a.).

dige Thyreoidektomie erforderlich, ggf. ergänzt durch eine „neck dissection“ und eine Radiojodtherapie. jjTherapie Diese erfolgt in Abhängigkeit der jeweiligen Diagnose. Bei Verdacht auf Adenom oder Malignom sollte eine Vorstellung in einem erfahrenen chirurgischen Zentrum mit Expertise in der Behandlung von Kindern erfolgen. Im Falle eines operativen Vorgehens entscheiden die anamnestisch/klinische Befundkonstellation und der intraoperative Schnellschnitt über den Umfang des chirurgischen Vorgehens.

j jKlinisches Bild Häufig handelt es sich um asymptomatische Zufallsbefunde im Rahmen einer Routinesonographie. Seltener imponieren palpable knotige Veränderungen mit lokalen Symptomen wie Dysphagie, Klossgefühl oder Heiserkeit. Nichtverschieblichkeit, derber Tastbefund oder Kombination mit einer zervikalen Lymphadenopathie können Hinweise auf eine Schilddrüsenneoplasie sein.

Nebenschilddrüse

26.5

Die vier Nebenschilddrüsen sind für die kalziumregulierte Freisetzung von Parathormon verantwortlich. Parathormon wird ähnlich wie Insulin aus einem Propeptid prozessiert und in den Epithelkörperchen gespeichert. Dabei agiert Kalzium an der Nebenschilddrüse als Ligand für den „Calcium sensing Rezeptor, CaSR“. Niedrige Serumkalziumkonzentrationen führen via Aktivierung des CaSR zu einer Stimulation der Freisetzung von Parathormon. Zusätzlich stimulieren erhöhte Serumkonzentrationen von Phosphat die PTH-Freisetzung. Zur Vermittlung seiner Wirkung bindet PTH an einen G-Pro­ tein-gekoppelten Rezeptor. Hierdurch wird u. a. den Tubuluszellen der Niere die 1,25-Hydroxilierung von Vitamin D3 stimuliert. Am Knochen führt PTH zu einer vermehrten Freisetzung von Kalzium. Neben Parathormon wird in einer Reihe von Geweben ein PTHähnliches Peptid, PTH-related-Protein (PTHRP) gebildet. Diese kann zusätzlich paraneoplastisch gebildet werden und zu einer tumorinduzierten Hyperkalzämie führen.

j jDiagnose und Differenzialdiagnose Die Diagnose eines Schilddrüsenknoten ist Domäne der Sonographie. In Abhängigkeit vom sonographischen Bild (Volumen des Knotens, homogene versus irreguläre Struktur, Perfusion, Verkalkung) kann ggf. zusätzliche Diagnostik indiziert sein (. Abb. 26.11). Serologische Marker zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung beinhalten eine Bestimmung der TSH- und Schilddrüsenhormonkonzentration (Hinweise auf autonomes Adenom?), Bestimmung der Schilddrüsenautoantikörper (Pseudoknoten bei HashimotoThyreoiditis?), und eine Kalzitoninbestimmung (Ausschluss medulläres Schilddrüsenkarzinom). Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Nachweis von Schilddrüsenautoantikörpern ein Schilddrüsenmalignom nicht sicher ausschließt. In Abhängigkeit von Grunderkrankung und klinischem Befund wird in den häufigen Fällen kleiner Knoten eine sonographische Verlaufskontrolle vorgenommen. Bei Knoten >1 cm und/oder Wachstumstendenz und/ oder auffälliger Struktur muss eine weiterführende Diagnostik erfolgen. Diese beinhaltet ggf. eine Feinnadelpunktion oder eine Schilddrüsenszintigraphie. Uneindeutige Feinnadelbiopsiebefunde oder der V. a. ein malignes Geschehen machen eine chirurgische Klärung erforderlich. Meist erfolgt hierzu eine Hemithyreoidektomie mit Schnellschnittbeurteilung. Bei Karzinomnachweis ist eine vollstän-

26.5.1

Hypoparathyreoidismus

jjDefinition Unter der Diagnose Hypoparathyreoidismus fasst man Erkrankungen zusammen, die mit einer verminderten PTH-Sekretion einhergehen.

..Abb. 26.11  Diagnostik bei einem SD-Knoten

Sonographie (Erfahrener Untersucher)

Kalzitoninkonzentration

SD-Knoten bestätigt

Erhöht/ Anamnese: MTC in Familie

Knoten > 1 cm

TSH-Wert Normal

Erfahrene Internisten

FNAB

Supprimiert

Szintigraphie

Referenzpathologie Maligne

Erfahrene SD-Chirurgen

Komplette Thyreoidektomie

Verdächtig

Unverdächtig

Lobektomie

Aktives Adenom

Knotenresektion

665 Endokrinologie interdisziplinär

jjÄtiologie und Pathogenese Die Ätiologie eines Hypoparathyreoidismus ist heterogen; man unterscheidet den primären Hypoparathyreoidismus von sekundären Formen. Hypoparathyreoidismus im Kindesalter a. Isoliert –– Familiär (autosomale und X-chromosomal; CaSR, CGM2, GNA11, PTH; SOX3, FHL1) –– Nichthereditär b. Syndromal –– Mitochondropathien (u. a. MELAS- und Kearns-Sayre-­ Syndrom) –– LCHAD-Mangel –– DiGeorge-Syndrom (Mikrodeletionssyndrom 22q11.2; Catch22) –– APECED-Syndrom (AIRE-Mutation) –– Barakat-Syndrom (Nierendysplasie, Innenohrschwer­ hörigkeit; AD; GATA3-Mutation) –– Kenney-Caffey-Syndrom –– Sanjad-Sakati-Syndrom (Kleinwuchs, psychomotorische Retardierung, Dysmorphie; TBCE-Mutation) c. Sekundär –– Postoperativ –– Speichererkrankungen (Hämosiderose, M. Wilson) –– Paraneoplastisch/nach Bestrahlung –– Hypomagnesämie

jjKlinisches Bild Durch den Mangel an Parathormon kommt es in Abhängigkeit der nutritiven Kalziumzufuhr zu einer Hypokalzämie und Hyperphosphatämie. Dieses kann in milden Formen asymptomatisch oder mit moderaten Muskelschmerzen einhergehen; in schwereren Fällen führt die Hypokalzämie typischerweise zum klinischen Bild einer Tetanie mit hypokalzämischen Krampfanfällen. Eine chronische ­Hypokalzämie kann zu Veränderungen der Haut und Hautanhangsgebilde führen (trockene Haut, erhöhte Brüchigkeit von Nägeln, Nageldystrophie), Schmelzdefekten und intrazerebrale Verkalkungen (Basalganglien!). Durch die verminderte Kalziumrückresorp­ tion ist insbesondere nach Therapieeinleitung das Risiko für eine Nephrolithiasis erhöht. jjDiagnose Der laborchemische Befund einer Hypokalzämie, ggf. mit Hyperphosphatämie und niedriger Parathormonserumkonzentration ist wegweisend für die Diagnose eines Hypoparathyreoidismus. Ergänzend sollte die renale Kalziumausscheidung bestimmt werden. Bei Mutationen im CaSR bei einer autosomal dominanten Hypokalzämie (ADH) ist diese klassischerweise inadäquat hoch. Differenzialdiagnostisch sollte eine Hypomagnesämie ausgeschlossen werden. jjTherapie Ziel der Therapie des Hypoparathyreoidismus ist eine Anhebung der Serumkalziumspiegel in den unteren Normalbereich. Aufgrund von Sicherheitserwägungen sowie der Notwendigkeit der subkutanen Applikation wurde rekombinantes PTH bei Kindern bislang nur in Rahmen von klinischen Studien eingesetzt. Therapeutisch kommen Vitamin-D-Metabolite zum Einsatz; aufgrund der guten Steuer­ barkeit insbesondere 1,25-(OH)2-Vitamin D3 (Kalzitriol) oder 1α-(OH)-Vitamin D3 (1α-Diol), in Kombination mit oraler Kalziumsubstitution.

26.5.2

26

Störungen des Parathormon PTH/PTH-­ related Peptid Signalwegs (iPPSD; ­Pseudohypoparathyreoidismus)

jjDefinition Unter einem Pseudohypoparathyreoidismus werden verschiedene Erkrankungen subsummiert, die funktionell einem Hypoparathyreoidismus mit der laborchemischen Konstellation von Hypokalzämie und Hyperphosphatämie entsprechen, bei denen aber nicht ein Mangel an Parathormon, sondern eine Störung der PTH-Wirkung zugrunde liegt. Auf Grundlage eines erweiterten klinischen, biochemischen und (epi)genetischen Verständnisses wurde vorgeschlagen diese früher als Pseudo- oder Pseudopseudohypoparathyreodismus bezeichneten Erkrankungen aktuell unter dem Begriff „Störungen des PTH/PTHrP-Signalweges“ zusammenzufassen. jjÄtiologie und Pathogenese Die Signalkette, die nach Bindung von PTH an den G-Protein-­ gekoppelten Rezeptor aktiviert wird ist in . Abb. 26.12 dargestellt. Mutationen im GNAS-Gen oder von nachgeschalteten Signalproteinen sind verantwortlich für funktionelle Störungen der PTHWirkung, die sich je nach zugrundeliegender Veränderung klinisch/ biochemisch unterscheiden. Als molekulare Ursachen einer iPPSD sind bekannt inaktivierende Mutationen im PTH-Rezeptor, inaktivierende heterozygote Mutationen im GNAS-Lokus, Methylierungsveränderungen des GNAS-Lokus, verursacht u. a. durch Deletionen/ Duplikationen oder eine paternale uniparentale Disomie von Chromosom 20q sowie heterozygote Mutationen im PRKAR1A-, PDE4Doder PDE3A-Gen. Mutationen im GNAS-Gen werden in familiären Fällen autosomal dominant vererbt. Allerdings liegen in der Mehrzahl der Fälle Neumutationen zugrunde. Alternatives splicing des GNAS-Lokus ist verantwortlich für zahlreiche unterschiedliche Transkripte. In der Mehrzahl der Gewebe unterliegt die Expression dieser Transkripte einem genomischen Imprinting, mit monoallelischer Expression des maternalen Allels. jjKlinisches Bild Das klinische Bild von Erkrankungen mit gestörter PTH-Wirkung umfasst die nach neuer Klassifikation Major-Kriterien sowie MinorKriterien (. Tab. 26.10). jjDiagnose Bei Vorliegen eines Major-Kriteriums (1) oder (2) oder Vorliegen von Major-Kriterium (3) und mindestens zwei Minorkriterien kann die Diagnose einer iPPSD gestellt werden (. Tab. 26.10). Beachtenswert ist, dass sich einige Befunde wie Brachydaktylie oder Übergewicht erst im Verlauf entwickeln. jjTherapie In Analogie zum Hypoparathyreoidismus wird die Hypokalzämie mit Vitamin-D-Derivaten behandelt. Allerdings wird bei den Störungen des Parathormonsignalwegs eine Kalziumserumkonzentration im mittleren bis oberen Normalbereich angestrebt um die ­erhöhte PTH-Konzentration zu normalisieren. Hintergrund hierfür ist die Sorge, dass langfristig erhöhte PTH-Konzentrationen am Knochen zu einer Knochenresorption führen können (beachte: durch maternale oder paternale Expression der GNAS-Allele infolge genomischem imprinting ist die Expression und PTH-Resistenz gewebe­ abhängig verschieden!). Darüber hinaus ist die Hyperkalziurie im Gegensatz zum Hypoparathyreoidismus von geringerer Bedeutung, da die PTH-Funktion im distalen Tubulus erhalten ist. Im proximalen

666

J. Wölfle et al.

PTH/PTHrP

iPPSD

PTH1R

26

iPPSD1 iPPSD2 iPPSD3

Adenylate cyclase

GSα β

iPPSD4

γ

R1A

R1A

Cat

Cat

TRPS1 HDAC4 P

iPPSD5

PDE4D

iPPSD6

PDE3A

Cat

P

Cat P

CREB

TF

TRICHO-RHINOPHALANGEAL SYNDROME BRACHYDACTYLY MENTAL RETARDATION SYNDROME

..Abb. 26.12  Signalmechanismen nach Aktivierung des PTH-Rezeptors. HDAC4 Brachydaktylie-mentales-Retardierungssyndrom, iPPSD-Klassifika­tion . Tab. 26.10, Kriterien der iPPSD-Klassifikation (Mod. nach Thiele et al 2016)

..Tab. 26.10  Kriterien der iPPSD-Klassifikation Kriterien

Befund

Diagnostik

Differenzialdiagnosen (Auswahl)

Major-Kriterien

1) PTH-Resistenz

Ca (ion.+Gesamt), PO4, PTH

- Normokalzämischer Hyperparathyreoidismus

25-OH-Vitamin D, alkalische Phosphatase

- Niereninsuffizienz

Magnesium

- Ursachen des sekundären Hyperparathyreoidismus

Kreatinin Urin-Ca, Urin-PO4 Ggf. PTH-Infusionstest 2) Heterotope Ossifikation

Minor-Kriterien

- Fibrodysplasia ossificans progressiva - Posttraumatische Ossifikation

3) Brachydaktylie

Klinische Untersuchung, Röntgen von Hand/Fuß

- Ullrich-Turner-Syndrom - Tricho-rhino-pharyngeale Syndrome (TRPS I–III) - DeLange-Syndrom

TSH-Resistenz

TSH, T3/4, SD-Antikörper, Sonographie

TSH-R-Mutation

Andere Hormonresistenzen

IGF-1, Calcitonin, Gonadotropine

Psychomotorische Beeinträchtigung

MRT des ZNS, Entwicklungstestung

IUGR

Schwangerschafts- und Geburtsanamnese

Übergewicht

Perzentilen

Faziale Auffälligkeiten

Untersuchungsbefund

667 Endokrinologie interdisziplinär

Tubulus hingegen besteht eine PTH-Resistenz. Da hierdurch keine effiziente 1,25-Hydroxilierung aus 25-OH-Vitamin D möglich ist, sollte möglichst Calcitriol zur Therapie verwendet werden. Ergänzend sollten zusätzliche Endokrinopathien in Abhängigkeit der zugrundeliegenden Erkrankung behandelt werden, wie ­Substitution einer Hypothyreose bei TSH-Resistenz. 26.5.3

Primärer und sekundärer ­Hyperparathyreoidismus

jjDefinition Unter einem Hyperparathyreoidismus fasst man Zustände mit chronischer PTH-Mehrsekretion zusammen. Diese können entweder primär im Rahmen einer autonomen Mehrsekretion oder sekundär als Folge einer Hypokalzämie auftreten. jjÄtiologie und Pathogenese Der primäre Hyperparathyreoidismus ist im Kindesalter extrem selten; er kommt eher in der Adoleszenz als im jüngeren Kindesalter vor. Die Ursache ist weitestgehend unbekannt, der PHP kann im Rahmen einer Nebenschildrüsenhyperplasie, eines Adenoms oder Karzinoms auftreten. Familiäre Formen des Hyperparathyreoidismus kommen vor im Rahmen einer multiplen endokrinen Neoplasie Typ 1 oder 2a oder im Rahmen einer familiären hypokalziurischen Hyperkalziurie (FHH), inaktivierende, Letztere wird verursacht durch Mutation im Calcium-sensing-Rezeptor-Gen. Bei letzterer ist die PTH-Konzentration oft nicht in dem Ausmaß erhöht wie bei einem primären Hyperparathyreodismus, aber inadäquat hoch bezogen auf die Serumkalziumkonzentration. Biallelische CaSR-Mutationen können zum schweren neonatalen Hyperparathyreoidismus führen, einem Krankheitsbild, das durch Hyperkalzämie, Ateminsuffizienz und Knochendemineralisierung gekennzeichnet ist. Der sekundäre Hyperparathyreoidismus entsteht meist auf dem Boden einer Hypokalzämie, z. B. im Rahmen von Vitamin-D-­ Mangel-Rachitiden oder im Rahmen einer Niereninsuffizienz mit verminderter Synthese von 1,25-OH-Vitamin-D3 (7 Kap. 25). jjKlinisches Bild Das klinische Bild ist durch die Hyperkalzämie geprägt. Es beinhaltet Inappetenz, ggf. Übelkeit und Erbrechen, Obstipation, psychische Veränderungen und bedingt durch die Hyperkalziurie eine Poly­ dipsie und -urie mit dem konsekutiven Bild einer Nephrolithiasis. Am Knochen führt die langfristig erhöhte PTH-Exposition zu einer Demineralisierung mit reduzierter Knochendichte und Frakturen. Im Gegensatz zum Erwachsenenalter scheint der PHP im Kindesalter seltener asymptomatisch zu verlaufen. jjDiagnose Diagnostisch wegweisend ist die Konstellation von Hyperkalzämie bei gleichzeitig erhöhter Parathormonkonzentration. Sonographisch können Sonographie und Schnittbildgebung (MRT, CT) diagnostisch hilfreich sein. Häufig sind zusätzliche Untersuchungen (Szintigraphie, PET, andere) notwendig. jjTherapie Die Behandlung des primären Hyperparathyreoidimus basiert auf der chirurgischen Entfernung. Im Falle des Vorliegens eines isolierten Adenoms wird dieses extirpiert, bei einer Hyperplasie aller ­Nebenschilddrüsen erfolgt eine vollständige Parathyreoidektomie mit Autotransplantation eines Nebenschildrüsenanteils (üblicherweise im Bereich des Unterarms). Ergänzend sollte bei Kindern eine

multiple endokrine Neoplasie (MEN) ausgeschlossen werden und bei positivem Mutationsnachweis eine Familienuntersuchung ergänzt werden. 26.6

Nebenniere

jjAnatomische Grundlagen und Physiologie Die kindliche Nebenniere entwickelt sich aus mesodermalen (Neben­ nierenrinde) und ektodermalen Anteilen (Nebennierenmark). In der Fetalperiode verschiebt sich das Größenverhältnis der zunächst zweischichtigen Nebenniere und Niere massiv, von einer zunächst deutlich das Nierenvolumen überschreitenden fetalen Nebenniere hin zu einem verbleibenden kleinen kappenförmigen Nierenaufsatz beim Erwachsenen. Dieser Prozess beginnt bereits kurz vor der Geburt; ab dem 8. Schwangerschaftsmonat kommt es zu einer Involution der sog. fetalen Innenzone („Fetokortex“) und zu einer weiteren Differenzierung der dreischichtigen Außenzone zur dreischichtigen Nebennierenrinde mit Regionen die spezifische Enzymsysteme ­exprimieren: 44 Unter der Nebennierenkapsel liegt die Zona glomerulosa. 44 Als mittlere Schicht findet sich die Zona fasciculata. 44 Zum Nebennierenmark hin findet sich die Zona reticularis. Die adrenale Steroidhormonsynthese verwendet als Baustein aller Steroide Cholesterin, sie ist dargestellt in . Abb. 26.13. Unter dem Einfluss verschiedener Regulatoren wie ACTH und anderen werden unter Nutzung verschiedener Enzymsysteme Hormone mit grob schematisiert 3 Funktionsgruppen synthetisiert: 44 Die Mineralokortikoidsynthese findet vornehmlich in der Zona glomerulosa statt. Hierfür sind 3 Schlüsselenzyme ­notwendig: die 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 2 ­(HSD3B2), die 21-Hydroxylase (CYP21A2), die Progesteron zu 11- Deoxykortikosteron umwandelt sowie die Aldosterosynthase (CYP11B2), die die letzten drei Schritte der Aldosteronsynthese katalysiert (11β-Hydroxylierung, 18-Hydroxylierung und 18-Methyloxidation). Physiologisch sind die Mineralokortikokoide Aldosteron und 11-Deoxykortikosteron für die tubuläre Natriumrückresorption und Kaliumexkretion von zentraler Bedeutung; ein Synthesedefizit kann rasch zu bedrohlichen Entgleisungen des Salz-Wasser-Haushalts führen. 44 Die Glukokortikoidsynthese findet in der Zona fasciculata ­unter dem Einfluss von ACTH statt. CYP17A1 katalysiert dort die 17α-Hydroxylierung von Pregnenolon und Progesteron. Zusammen mit den Enzymen der 3β-HydroxysteroidDehydrogenase Typ 2 (HSD3B2), der 21-Hydroxylase (CYP21A2) und der 11-β-Hydroxylase wird dort aus Vorstufen Kortisol synthetisiert. Wichtige Vertreter der Glukokortikoide sind Kortisol, sein 11-Dehyrogenisierungsprodukt Kortison, Kortikosteron sowie 11-Desoxykortisol. Diese üben sowohl eine glukokortikoide wie auch mineralokorti­koide Wirkung aus, wobei Kortison im Vergleich mit Kortisol eine ungleich geringere Wirksamkeit zeigt. Glukokortikoide stimulieren u. a. die Glukoneogenese aus Proteinen und sind daher in den meisten Geweben Proteinkatabol. 44 Die Sexualsteroidsynthese (Androgene, Östrogene) findet in der Zona reticularis statt. Die 17-Hydroxylase- und 17-20Lyase-Kapazität der CYP17A1 katalysieren aus Pregnenolon und Progesteron die Synthese von DHEA und seiner sulfatierten Variante DHEAS. DHEAS ist das Schlüsselhormon bei der in der Vorpubertät auftretenden Adrenarche. Die 17β-Hydroxy­ steroid-Dehydrogenase Typ 5 (17βHSD5) ist notwendig für die

26

668

J. Wölfle et al.

Cholesterin

26

StAR-Protein

–– Kongenitale Nebennieren-Hypoplasie (u. a. Dax1-, SF1-, P450scc-Defekt, Triple-A-Syndrom)

20, 22-Desmolase Pregnenolon

1

17-Hydroxy- 2 Pregnenolon

Dehydroepiandrosteron

3

Androstendiol

3 -Hydroxysteroid-Dehydrogenase

Progesteron

1

17-HydroxyProgesteron

2

Androstendion

21-Hydroxylase 11-DeoxyKortikosteron

Aldosteronsynthase Aldosteron

Testosteron

Aromatase

11-DeoxyKortisol

11 -Hydroxylase Kortikosteron

3

Kortisol 4 Kortison

3

Östron

Östradiol

1

17-Hydroxylase

2

17–20-L yase

3

17 -HydroxysteroidDehydrogenase

4

11 -HydroxysteroidDehydrogenase

..Abb. 26.13 Steroidbiosynthese

Synthese der üblicherweise geringen adrenalen Testosteronsynthese. Aus Androstendion und Testosteron entstehen unter dem Einfluss der Aromatase die Östrogene Östron und Östradiol. Zusammen mit den gonadalen Hormonen sind die Sexualsteroide für die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale relevant. Die Regulation der Glukokortikoidsynthese erfolgt überwiegend im Rahmen eines Regelkreises aus hypothalamisch gebildetem CRH, hypophysärem ACTH und unterliegt einer negativen Rückkopplung über zirkulierendes Kortisol. Demgegenüber wird die ­Mineralokortiokoidsynthese der Zona glomerulosa weitestgehend über das Renin-Angiotensin-System reguliert. Elektrolytverschiebungen und Veränderungen des Plasmavolumens modulieren im juxtaglomerulären Apparat der Niere die Reninsekretion. Hierüber wird über das Renin-Angiotensin-System u. a. die Mineralokortikoidsynthese beeinflusst. 26.6.1

Nebennierenunterfunktion

j jÄtiologie und Pathogenese Störungen der Nebennierenfunktion können angeboren oder erworben auftreten. In Abhängigkeit der Lokalisation der Störung werden diese in primäre (adrenale), sekundäre (hypophysäre) oder tertiäre (hypothalamische) Funktionsstörungen eingeteilt. Je nach morphologischem Bild können diese als Nebenniereninsuffizienz mit Nebennieren-Hypoplasie oder mit Nebennierenhyperplasie auf­treten. Klassifikation der Störungen der Nebennierenfunktion 55Primäre NNR-Insuffizienz: –– Akute NNR-Insuffizienz (Addison-Krise) –– Chronische NNR-Insuffizienz (M. Addison)

–– Familiäre Glukokortikoidinsuffizienz –– Familiäre Glukokortikoidresistenz –– Mineralokortikoidmangel 55Sekundäre NNR-Insuffizienz: –– Isolierter ACTH-Mangel (angeboren bei Tpit-Mutation, erworben) –– Panhypopituitarismus 55Tertiäre NNR-Insuffizienz: –– CRH-Mangel (hypothalamische Fehlbildung/Raumforderung) –– Iatrogen z. B. Glukokortikoidtherapie

26.6.2

Akute Nebenniereninsuffizienz ­(Addison-Krise)

jjÄtiologie Die Ätiologie der akuten Nebenniereninsuffienz ist heterogen. Neonatal können beidseitige Nebennierenrindenblutungen im Rahmen von Geburtskomplikationen oder eine fulminante NNR-Insuffizienz im Rahmen eines Waterhouse-Friedrichsen-Syndroms ursächlich relevant sein (7 Kap. 23). Bei diesem Krankheitsbild kommt es durch bilaterale NNR-Blutungen im Rahmen eines septischen Krankheitsbilds zu einer Verbrauchskoagulopathie und akuter NNR-Insuffizienz. Weiterhin können andere Infektionen (Mykobakterien, HIV, andere), iatrogene Ursachen wie eine Steroidsynthese-inhibierende Medikation (u.a. Etomidate, Antimykotika) oder häufiger ein zu rasches Absetzen einer längerdauernden Glukokortikoidtherapie eine Addisonkrise verursachen (auch bei protrahierter Nutzung potenter inhalativer Steroide!). jjKlinisches Bild Im Vordergrund einer Addisonkrise steht der Salzverlust mit dem laborchemischen Befund einer Hyponatriämie, Hypochlorämie, ­Hyperkaliämie, Hypoglykämie sowie meist metabolischen Azidose. Häufig komplizieren Erbrechen und Durchfälle eine vorbe­ stehende  Apathie und Adynamie, ggf. Krampfanfälle i.R. von ­Hypoglykämie und Hyponaträmie. Es kann sich rasch ein lebensbedrohlicher Schockzustand mit Blutdruckabfall und Tachykardie entwickeln. jjDiagnostik Neben dem klinischen Bild sind die o.g. Laborveränderungen wegweisend; ergänzend sollte vor dem raschen Einleiten von Therapiemaßnahmen eine Blutprobe zur späteren Bestimmung endokriner Parameter abgenommen. jjTherapie Eine akute Addisonkrise bedarf einer unmittelbaren Substitution von Gluko- und Mineralokortikoiden, ergänzt durch eine parenterale Flüssigkeitszufuhr. Orientierend kann in den ersten 6 Lebensmonaten initial ein Hydrokortisonbolus von 25 mg, bei älteren ­Kindern von 50–100 mg gegeben werden, gefolgt von einer Hydrokortisondauerinfusion in einer Konzentration von 100–150 mg/ m2 KOF/d. Eine isolierte Glukokortikoidapplikation wie z. B. von Prednison reicht nicht aus um die fehlende Mineralokortikoid­ defizienz auszugleichen.

669 Endokrinologie interdisziplinär

a

b

..Abb. 26.14  15-jähriger Junge mit M. Addison: Neben einer generellen ausgeprägten Hautpigmentierung zeigen sich an den Handflächen (a) und in der Mundschleimhaut (b) Hyperpigmentierungen

Der Flüssigkeitsersatz erfolgt in Abhängigkeit von Kreislaufsituation, Elektrolytkonzentration und Blutgasen meist in Form von isotonen Lösungen (ggf. 5–10%ige kohlehydrathaltige Vollelektrolytlösung). Bei ausgeprägten Hyperkaliämien kann der Einsatz von Glu­koseInsulin-Infusion, die Gabe von β-Sympathomimetika, Kalziumchlorid oder Natriumbikarbonat, von Ionenaustauschern bis hin zur Hämofiltration notwendig werden. 26.6.3

Chronische Nebenniereninsuffizienz (Morbus Addison)

jjÄtiologie Unter dem Begriff eines M. Addison werden chronische Störungen der Nebennierenfunktion zusammengefasst. Ursächliche Störungen bei M. Addison 55Autoimmunadrenalitis: isoliert oder kombiniert mit anderen AI-Erkrankungen, z. B. bei Patienten mit Autoimmunpolyendokrinopathie Typ 1 (APECED-Syndrom; Mutation in AIREGen) oder bei Autoimmunpolyendokrinopathie Typ 2 (Schmidt-Syndrom) 55Adrenoleukodystrophie/Adrenomyeloneuropathie 55Zellweger-Syndrom 55M. Wolman 55Infektionen (Tbc, Mykobakterien) 55Medikamente (z. B. Adrenolytika wie o,p’-DDD)

jjKlinisches Bild Meist erfolgt durch den protrahiert schleichenden Verlauf eine ­verspätete Diagnosestellung. Anamnestisch werden oft längerdauernder Leistungsabfall, Adynamie, Müdigkeit, Abfall schulischer Leistungen und eine Anorexie mit Gewichtsverlust berichtet. Der chronische Hypokortisolismus führt über eine negative Rückkopplung zu einer vermehrten CRH-vermittelten Induktion der POMCGen-Expression; hieraus resultiert eine Zunahme der ACTH/MSHSynthese. Diese vermehrte MSH-Bildung ist die Ursache für eine bronzeartige Hautfarbe. Diese kann insbesondere an den Hautlinien der Handinnenflächen auftreten, im Kindesalter aber auch isoliert zu einer vermehrten Pigmentierung der Schleimhäute führen (u. a. von Mund und Lippen). Bei verspäteter Diagnose fällt oft ein Ab­ knicken von Längen- und Gewichtsentwicklung sowie ggf. eine verzögerte Pubertätsentwicklung auf.

jjDiagnose Neben klinischem Bild und Elektrolytveränderungen (Hyponatriämie, Hyperkaliämie, ggf. Hypoglykämie) kann eine Eosinophilie bestehen. Die Kortisolserumkonzentration und Ausscheidung kann erniedrigt oder niedrig-normal sein, bei allerdings deutlich erhöhter Plasma-ACTH-Konzentration. Im ACTH-Test findet sich eine nicht ausreichende Stimulation der Kortisolsekretion. Im Rahmen eines Salzverlustes fällt ergänzend eine erniedrigte Aldosteronkonzentration bei gleichzeitig erhöhter Plasma-Renin-Aktivität auf. jjTherapie Die Therapie des M. Addison besteht in einer lebenslangen Substitution von Gluko- und Mineralokortikoiden. Beim Kind und ­Jugendlichen ist Hydrokortison Mittel der Wahl; üblicherweise in einer Dosierung von 7–10 mg/m2 KOF/d. Dies wird ergänzt durch Mineralokortikoide (z. B. Fludrokortison) in einer Dosierung von 0,05–0,2 mg/d. Beim Erwachsenen kommen mittlerweile retardierte Hydrokorti­ sonderivate mit längerer Halbwertzeit zum Einsatz (z. B. Plena­dren®). Im Kindesalter bestehen damit derzeit aber noch ungenügende Erfahrungen. >> Von herausragender Bedeutung sind Patienten- und Elternschulung hinsichtlich einer Dosisanpassung bei interkurrenten Erkrankungen. In solchen Situationen muss die übliche Substitutionsdosis auf das 3- bis 5-fache erhöht oder ggf. eine Hydrokortisondauerzufuhr veranlasst werden.

Alle Patienten sollen einen entsprechenden Notfallausweis mit sich führen. Bei adäquater Substitutionstherapie ist die Prognose gut, auch wenn weiterhin durch krisenhafte Entgleisungen eine erhöhte Morbidität besteht. 26.6.4

Kongenitale Nebennierenhypoplasie

Durch den zunehmenden Einsatz molekulargenetischer Methoden konnten in den letzten Jahren zahlreiche seltene Formen der Nebenniereninsuffizienz mit Nebennierenhypoplasie aufgeklärt werden. Einige Formen sind in . Tab. 26.11 dargestellt: Die Therapie erfolgt in Analogie zur Therapie des M. Addison, ggf. ergänzt durch erkrankungsspezifische Besonderheiten, insbesondere bei Vorliegen von Störungen der Geschlechtsdifferenzierung.

26

670

J. Wölfle et al.

..Tab. 26.11  Genetische Ursachen kongenitaler Nebennieren­ hypoplasie

26

Genetischer Defekt/ Erkrankung

Erbgang

Klinisches Bild

DAX1-Defekt

X-chromosomal

Primäre NNR-Insuffizienz (Säuglingsalter) Oft Maldeszensus testis Hypogonadismus mit Pubertas tarda

SF1-Defekt

AD

Primäre NNR-Insuffizienz Untervirilisierung (bei Jungen; z. B. penoskrotale Hypospadie)

P450 scc-Defekt

AD/AR

Frühgeburtlichkeit Primäre NNR-Insuffizienz DSD 46,XY

Familiäre Glukokortikoid­ insuffizienz (= ACTH-Re­ sistenz durch Muta­tion in MC2R)

AR

Primäre NNR-Insuffizienz Ernährungsprobleme, Hyperpigmentierung

Triple-A-Syndrom (Mutation in AAAS-Gen)

AR

Primäre NNR-Insuffizienz Alakrimie Achalasie

26.6.5

Adrenogenitales Syndrom

j jDefinition Die verschiedenen Formen der Nebennierenrindeninsuffizienz mit NNR-Hyperplasie werden im deutschen Sprachraum üblicherweise als adrenogenitales Syndrom bezeichnet. Im englischen Sprachraum sind diese unter dem Begriff „congenital adrenal hyperplasia“ subsummiert. In Abhängigkeit des zugrundeliegenden Enzymdefekts liegt eine verminderte Kortisolbiosynthese in Kombination mit meist vermehrter oder bei manchen Formen verminderter Androgensynthese vor. Durch den Hypokortisolismus kommt es im Rahmen der negativen Rückkopplung zu einer Stimulation der ACTHSekretion. Diese führt zu einer Stimulation der adrenalen Steroidsynthese oberhalb des jeweils zugrundeliegenden Enzymdefekts. Das hieraus resultierende klinische Bild ist . Abb. 26.16 dargestellt, die biochemischen Veränderungen (Anstieg Metabolit vor Enzymdefekt, Mangel an Metabolit nach dem Defekt) sind aus . Abb. 26.13 ableitbar.

Adrenogenitales Syndrom durch 21-HydroxylaseMangel j jÄtiologie, Pathogenese und Epidemiologie Die weitaus häufigste Form eines adrenogenitalen Syndroms wird durch einen Defekt der 21-Hydroxylase (P450C21) verursacht. Die Inzidenz des 21-Hydroxylasemangels liegt bei 1:12.000, dies entspricht einer Heterozygotenfrequenz von 1:55. In Abhängigkeit der zugrundliegenden Mutation kann eine Restaktivität des Enzyms vorliegen, sodass klinisch verschiedene Formen unterschieden werden können (. Abb. 26.15): 44 21-Hydroxylase-Mangel mit Salzverlust (SW; fehlende Kortisol- und Aldosteronbiosynthese, Hyperandrogenämie) 44 21-Hydroxylase-Mangel ohne Salzverlust, einfach virilisierend (SV; fehlende Kortisol-, aber ausreichende Aldosteronbiosynthese, Hyperandrogenämie)

..Abb. 26.15  Struktur des aktiven CYP21B-Gens der 21-Hydroxylase (P450c21) mit den wichtigsten Mutationen. Die Prozentzahlen geben die In-vitro-Restaktivität des Enzyms bei homozygoter Mutation an. Eine Enzymaktivität von ca. 2–4% ist für die Aldosteronsynthese ausreichend und kann einen Salzverlust verhindern. Der klinische Phänotyp ist mit SW „salt wasting“, Salzverlust; SV „simple virilising“, einfach virilisierend und LO „late onset“, nicht-klassisches AGS abgekürzt

44 nichtklassischer 21-Hydroxylase-Mangel („late onset“ = LO; milde eingeschränkte Kortisol- bei erhaltener Aldosteronbiosynthese, Hyperandrogenämie) Das 21-Hydroxylase-Gen liegt auf Chromosom 6. Neben dem aktiven Gen (CYP21A2) liegt ein inaktives Pseudogen (CYP21A1) vor. Die enge Nachbarschaft und hohe Homologie von Gen und Pseudogen ist von Bedeutung für die Entstehung von Gendefekten durch crossing-over während der Meiose. jjKlinisches Bild Typischerweise fällt bei Mädchen nach Geburt eine unterschiedlich stark ausgeprägte Virilisierung des äußeren Genitale auf; diese wird nach Prader in verschiedene Schweregrade eingeteilt (. Abb. 26.16). Dieses kann von einer leichten Klitorishypertrophie (Prader I) bis hin zu einem unauffälligen männlichen äußeren Genitale (Prader V) bei allerdings leerem Skrotum reichen. Das innere Genitale bei Mädchen ist immer unauffällig weiblich. Bei Jungen kann die Diagnose postpartal schwierig sein. Ggf. fällt bei betroffenen Knaben eine vermehrte Pigmentierung des Skrotums oder ein auffällig großes äußeres Genitale auf. Seit Einführung des Neugeborenenscreenings auf erhöhtes 17-OH-Progesteron wird die Mehrzahl der Patienten im Rahmen des Screenings diagnostiziert. Zuvor kam es häufig in der 2. Lebenswoche zu vital bedrohlichen Salzverlustkrisen mit Gedeihstörung, Erbrechen, Exsikkose und dem laborchemischen Befund einer ­Hyponaträmie, Hypochlorämie, Hyperkaliämie und metabolischer Azidose. Ohne Therapie verläuft ein adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust meist tödlich. Patienten, die an einer milderen „Simple-virilizing“-Form des adrenogenitalen Syndroms leiden und bei denen eine Restaktivität der 21-Hydroxylase besteht fallen z. T. nicht im Neugeborenenscreening auf („Screeningversager“). Bei diesen fällt im weiteren Verlauf eine Pseudopubertas präcox auf. Bei betroffenen Mädchen kann sich dabei ggf. die Klitorishypertrophie aggravieren oder zusätzlich eine prämature Pubarche auftreten. Betroffene Jungen entwickeln häufig eine prämature Pubarche, ggf. kombiniert mit einer Genitalvergrößerung. Durch die Hyperandrogenämie und die damit vermehrte hypophysäre Wachstumshormonsekretion sind betroffene Mädchen­

671 Endokrinologie interdisziplinär

..Abb. 26.16  Adrenogenitales Syndrom. Einteilung der Genitalvirilisierung n. Prader

und Jungen oft im Verhältnis zur Elterngröße überdurchschnittlich groß. Allerdings kommt es gleichzeitig zu einer beschleunigten ­Knochenreifung mit der Konsequenz eines verfrühten Epiphysen­ fugenschlusses und dem Resultat einer niedrigen adulten Körpergröße. jjDiagnose Die Mehrzahl der Patienten wird durch das Neugeborenenscreening diagnostiziert (Analyt 17-Hydroxyprogesteron). Bei Frühgeborenen und kranken Neugeborenen werden oft erhöhte 17-OHP-Konzentrationen gemessen; daher ist die Verwendung gestationsalterspezifischer Referenzbereiche und ggf. die spätere Wiederholung des Screenings sinnvoll. Neben 17-OHP kommt der Bestimmung von 21-Desoxykortisol diagnostische Bedeutung zu. Auffällige Screeningbefunde sollten durch venöse Bestimmung von 17-OHP kontrolliert werden; zusätzlich hat die Bestimmung von adrenalen Androgenen wie DHEAS, Androstendion und Testosteron diagnostische Relevanz. Bei Patienten mit Salzverlust findet sich neben den Veränderungen der Serumelektrolyte meist eine erhöhte Plasmareninaktivität. Die Urinanalytik mittels Gaschromatographie/Massenspektrometrie zeigt bei Patienten mit 21-Hydroxylasemangel ein charakteristisches Steroidprofil mit erhöhter Ausscheidung von Pregnantriol und Pregnantriolon. Diese wird sowohl in der Initialdiagnostik als auch zur Verlaufskontrolle der Therapieeinstellung genutzt. Sonographisch kann bei Neugeborenen und jungen Säuglingen nicht selten eine Nebennierenhyperplasie gesehen werden; die Röntgenaufnahme der Hand zeigt bei älteren Kindern mit verzögerter Diagnosestellung oder unbefriedigender Stoffwechseleinstellung ein akzeleriertes Kochenalter. jjTherapie Therapeutisch steht die Substitution der defizienten adrenalen ­Steroide mit Hydrokortison und Fludrokortison im Vordergrund. Im Vergleich zur Nebenniereninsuffizienz ohne gleichzeitigen Androgenexzess ist eine etwas höhere Hydrokortisondosierung notwendig, damit nicht im Verlauf durch fortbestehenden Androgenexzess die Virilisierung fortschreitet. Die optimale Dosierung und Therapieeinstellung muss individuell erfolgen; als Richtdosis kann bei jungen Säuglingen mit rascher Veränderung der anthropometrischen Maße eine Hydrokortisondosierung von 10–15 mg/m2 KOF/d, bei älteren Kindern eine Dosierung in Höhe von 10–12 mg/ m2 KOF/d dienen. Die Substitution der defizienten Mineralokortikoide bei Patienten mit einem Salzverlust erfolgt in Form von Fludrokortison. Kleine Säuglinge benötigen eine vergleichsweise hohe Dosis (100–250 µg/ m2 KOF/d), während ältere Kinder und Erwachsene oft mit ­25–100  µg/m2 KOF/d gut eingestellt werden können.

>> Wie bei Patienten mit einem M. Addison sind Patienten- und Elternschulung hinsichtlich einer Dosisanpassung bei interkurrenten Erkrankungen von herausragender Bedeutung. In solchen Situationen muss die übliche Substitutionsdosis auf das 3- bis 5-fache erhöht oder ggf. eine Hydrokortisondauerzufuhr veranlasst werden.

Zusätzlich sollte eine Notfallmedikation (Hydrokortisonampullen) verordnet werden und ein Notfallausweis verfügbar sein. Weiterhin kontrovers diskutiert werden Durchführung und Zeitpunkt geschlechtsangleichender genitalchirurgischer Eingriffe. Während verschiedene kinderchirurgisch/kinderurologische Experten eine frühe operative Korrektur im Säuglingsalter mit dem Argument einer geringeren Komplikationsrate sowie reduzierter ­Notwendigkeit von wiederholten vaginalen Bougierungen favorisieren wird von einigen Patientenverbänden das Abwarten der Ein­ willigungsfähigkeit der Patienten favorisiert. jjPrognose Die Prognose von Kindern mit einem adrenogenitalen Syndrom ist gut, vorausgesetzt es erfolgt eine adäquate Substitutionstherapie sowohl unter Alltagsbedingungen als auch im Rahmen interkurrenter krisenhafter Erkrankungen. Allerdings kann auch bei guter Therapieadhärenz, insbesondere bei verspäteter Diagnosestellung eine Einschränkung der Erwachsenengröße resultieren. Eine Übertherapie mit Glukokortikoiden kann die Entstehung einer Adipositas, einer arteriellen Hypertonie und von metabolischen Komplikationen begünstigen. Sowohl bei Männern wie Frauen mit einem adrenogenitalen Syndrom scheint die Fertilität etwas eingeschränkt zu sein. Ein kausaler Faktor hierfür scheint bei betroffenen Frauen in einer hyperandrogenämievermittelten Zyklusstörung zu liegen. Bei inadäquat eingestellten Jugendlichen und Männern wurden sog. testikuläre adrenale Resttumore (TART) mit einer eingeschränkten Fertilität assoziiert. jjPränatale Diagnostik und Therapie Um eine pränatale Virilisierung von betroffenen weiblichen Feten zu verhindern ist eine pränatale Therapie möglich. Hierzu verwendet wird das plazentagängige Dexamethason. Die Therapie wird vor der 6. Schwangerschaftswoche begonnen und bis zum Ausschluss eines 21-Hydroxylasemangels oder Nachweis eines männlichen Karyotyps fortgeführt; bei weiblichen betroffenen Feten wird die Therapie bis zum Ende der Schwangerschaft fortgesetzt. Die pränatale Therapie ist aufgrund des ethischen Dilemmas einer Behandlung nicht betroffener Kinder und aufgrund von Daten zu potenziell negativen emotionalen und kognitiven Folgen sowie einer möglichen negativen fetalen Programmierung durch pränatale Glukokortikoidexposition umstritten und gilt daher als experimentelle Therapie.

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Seltene Formen eines adrenogenitalen Syndroms

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k k11β-Hydroxylase-Mangel Der 11β-Hydroxylasemangel stellt mit etwa 5% nach dem 21-Hydroxylasemangel die zweithäufigste Form eines adrenogenitalen Syndroms dar. Ursächlich sind Mutationen im CYP11B1-Gen. Klinisch findet sich bei Geburt bei betroffenen Mädchen meist eine deutliche Virilisierung. Allerdings entwickelt sich durch die mineralokortikoide Potenz von DOC (Metabolit vor dem Enzymblock) kein Salzverlust. Durch die erhöhte DOC-Konzentration entwickelt sich in den ersten Lebensjahren nicht selten eine schwer einstellbare arterielle Hypertonie. Infolge einer hohen klinischen Variabilität wird die Diagnose heute meist durch molekulargenetische Analyse des 11β-Hydroxylasegens gestellt. Therapeutisch entspricht das Vorgehen dem des 21-Hydroxylasemangels. k k3β-Hydroxysteroiddehydrogenase-Mangel Pathogenetisch wurden Mutation im 3β-HSD-Typ-II-Gen gefunden. Klinisch kann das Genitale betroffener Mädchen unauffällig oder mild virilisiert auffallen, während bei betroffenen Jungen in­folge der ebenfalls beeinträchtigten testikulären Androgenbio­synthese eine inkomplette Virilisierung (z. B. Hypospadie) vorliegen kann. k kDefekte des StAR-Proteins (kongenitale ­Lipoidhyperplasie) Das ACTH-abhängige StAR-Protein ist für den schnellen Cholesterintransport von der äußeren zur inneren Mitochondrienmembran und damit für die Umwandlung von Cholesterin zu Pregnenolon verantwortlich. Defekte im StAR-Gen führen zu einer intrazellulären Cholesterinakkumulation und der Abwesenheit fast aller Steroidhormone, sowohl in den Nebennieren wie den Gonaden. Klinisch entsteht daher neben einer primären Nebenniereninsuffizienz bei betroffenen Jungen infolge der defizienten fetalen Androgenbiosynthese eine 46,XY-DSD. Betroffene Mädchen können eine leichte Klitorishypertrophie aufweisen. Bei manchen, aber nicht allen Patienten kann sonographisch eine adrenale Vergrößerung durch Cholesterinakkumulation gefunden werden. Therapeutisch erfolgt eine Substitution der defizienten Steroidhormone. k kFamiliäre Glukokortikoidresistenz Hierbei handelt es sich um eine seltene Form der NNR-Insuffizienz mit Nebennierenrindenhyperplasie. Sie wird verursacht durch Mutationen im Glukokortikoid-Rezeptor-Gen (NR3C1). Das klinische Bild ähnelt der familiären ACTH-Resistenz, ergänzt durch eine arterielle Hypertonie, einer hypokaliämischen Alkalose infolge ACTH-induzierter Mehrsekretion von Androgenen und Mineralokortikoiden. 26.6.6

Nebennierenrindenüberfunktion

Hyperkortisolismus j jDefinition, Ätiologie und Pathogenese Unter einem Cushing-Syndrom werden alle Formen der Nebennierenüberfunktion zusammengefasst. Es ist mit einer Inzidenz von ca. 1:50.000 im Kindesalter selten. Man unterscheidet: 44 ACTH-abhängige Störungen: 55ACTH-sezernierendes Hypophysenadenom (M. Cushing), 55CRH-Überproduktion (hypothalamischer Cushing), 55ektope ACTH-/CRH-Sekretion, 55ACTH-abhängige makronoduläre NNR-Hyperplasie.

44 ACTH-unabhängige Störungen: 55adrenale Tumoren (Karzinome > Adenome), 55bilaterale mikronoduläre NNR-Hyperplasie, 55makronoduläre NNR-Hyperplasie (isoliert oder als Teil Carney-Komplex), 55McCune-Albright-Syndrom (GNAS1-Genmutation), 55iatrogen (Glukokortikoidtherapie). Im Kindesalter stellt ein iatrogenes Cushing-Syndrom durch eine längerdauernde ACTH-Therapie (BNS-Anfälle) oder im Rahmen einer längeren immunsuppressiven Therapie weiterhin die häufigste Ursache für ein Cushing-Syndrom dar. Dem M. Cushing, also einer hypophysären ACTH-Mehrsekretion, liegt am häufigsten ein Mikroadenom der Hypophyse zugrunde; hierdurch kommt es zu einer bilateralen Nebennierenrindenhyperplasie. Genetische Ursachen für einen M. Cushing kommen u. a. im Rahmen einer multiplen endokrinen Neoplasie Typ 1 (MEN-1) vor. Ein Cushing-Syndrom durch eine adrenale Hyperplasie kommt gehäuft vor bei Patienten einer MEN-1 und einem Carney-Komplex sowie im Rahmen adrenaler Karzinome bei Patienten mit Li-Fraumeni-Syndrom, MEN-1 oder selten bei Patienten mit einem Wiedemann-Beckwith-Syndrom. jjKlinisches Bild Im Kindesalter liegt bei betroffenen Patienten zunächst oft ein nichtcharakteristisches Bild vor, sodass die Diagnose oft erst verspätet nach Jahren gestellt wird. Beim Vollbild eines Cushing-Syndroms weisen die Patienten eine stammbetonte Adipositas mit Entwicklung eines sog. „Büffelnackens“ auf. Oft liegen zusätzlich Striae rubrae in den Flanken vor. Das Gesicht ist rund („Vollmondgesicht“) mit typischerweise geröteten Wangen bei oft dünner und empfindlicher Hauttextur. I­ nfolge des Glukokortikoidexzesses können eine arterielle Hyper­tonie und eine pathologische Glukosetoleranz vorliegen. Auxio­logisch zeigt sich gerade im Langzeitverlauf eine Gewichtszunahme bei gleich­ zeitig schlechterem Intervallwachstum oder Wachstumsstillstand. Begleitend findet sich vereinzelt eine erhöhte psychische Labilität bis hin zu psychiatrischen Krankheitsbildern oder dem Vorliegen einer Depression. Bei älteren Kindern kann es zu einer verzögerten Pubertätsentwicklung, beim Mädchen zu einer primären oder sekundären Amenorrhö kommen. Bei später Diagnose kann durch den bereits längerfristig bestehenden Glukokortikoidexzess eine Osteoporose bestehen, ggf. im Einzelfall mit Vorliegen von Wirbelkörperfrakturen. Liegt dem Cushing-Syndrom eine adrenale Mehrproduktion von Glukokortikoiden und zusätzlich Androgenen oder Östrogenen zugrunde, kann ggf. ergänzend eine Pseudopubertas präcox vorliegen. jjDiagnostik Eine erweiterte Diagnostik wird bei entsprechendem klinischem Verdacht eingeleitet; dies wird allerdings in den letzten Jahren erschwert durch die rasante Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit z. T. extremem Übergewicht und die dadurch z. T. erst spät eingeleiteten diagnostischen Maßnahmen. Als Screeninguntersuchungen bei V. a. auf Vorliegen eines M. Cushing sind die u. g. Untersuchungen geeignet. Folgende Befunde können auf einen M. Cushing hinweisen: 44 Erhöhte Kortisol-Ausscheidung im Sammelurin, 44 Aufhebung der zirkadianen Rhythmik der Kortisolsekretion im Kortisol-Tagesprofil (fehlender Abfall des „Mitternachtskortisols“),

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a

b

c

..Abb. 26.17 Hypophysenadenom. a, b 14-jähriges Mädchen mit typischen Cushing-Zeichen bei Hypophysenadenom. c MRT der Hypophyse

mit Adenom vor dem Hypophysenstiel, das sich nach suprasellär ausdehnt (T1-gewichtete Sequenzen nach Kontrastmittelaplikation i.v.)

44 fehlende Suppression des Serumkortisols im niedrigdosierten Dexamethason-Kurztest.

Liegt ein Nebennierenadenom oder Karzinom dem CushingSyndrom zugrunde ist die unilaterale Adrenalektomie Therapie der Wahl. Die medikamentöse Therapie ist die zweite Wahl bei Versagen einer chirurgischen Therapie oder nichtlokalisierbarer ektoper ACTH-Sekretion. Derzeit liegen drei pharmakologische Wirkgruppen vor: 44 Substanzen die direkt die hypophysäre ACTH-Sekretion beeinflussen, 44 die die adrenale Streroidbiosynthese inhibieren oder 44 Medikamente, die die Glukortikoidrezeptorwirkung antagonisieren.

Die erweiterte Diagnostik schließt den CRH-Test ein, der bei der Differenzierung von ACTH-abhängigem M. Cushing von Glukokortikoidexzessen anderer Genese hilfreich ist. So zeigen Patienten mit einem hypophysären M. Cushing nach CRH-Gabe einen zusätzlichen ACTH- und Kortisolanstieg, während dies bei ektoper ACTH-Produktion oder primär adrenalem Cushing-Syndrom nicht beobachtet wird. Zusätzlich zum Dexamethason-Kurztest existieren verschiedene Varianten des Dexamethasontest, für die unterschiedliche Sensitivitäten und Spezifitäten im Rahmen der Diagnostik des M. Cushing angegeben werden und die zur besseren Differenzierung der Genese des Glukokortikoidexzesses herangezogen werden können. Neben der biochemischen Diagnostik ist die radiologische ­Darstellung von Hypothalamus und Hypophyse relevant; hier steht die Kernspintomographie mit Dünnschichtdarstellung der ­Hypophyse im Vordergrund (. Abb. 26.17). Hier kann ein Mikr­ oadenom der Hypophyse z. Z. erst im längeren Verlauf diskriminiert  werden. Ergänzend kann in Einzelfällen ein Sinus petrosus sampling zur Lokalisationsdiagnostik notwendig werden. Darüber hinaus sollte je nach individuellem Befund eine Bildgebung der ­Nebennieren durch ­Sonographie, CT oder MRT erfolgen, ggf. ergänzt durch selektive Angiographie und Katheterisierung zur Lokalisationsdiagnostik. jjTherapie Therapie der Wahl beim ACTH-abhängigen M. Cushing ist die transsphenoidale Resektion des Mikroadenoms in einem Zentrum mit diesbezüglich ausgewiesener hoher Kompetenz. Bei mehrfachen Rezidiven, erfolgloser Lokalisationsdiagnostik, erfolgloser medi­ kamentöser Therapie und nicht ausreichender Hypophysenbestrahlung kann auch heute noch als ultima ratio eine bilaterale Adrenalektomie erfolgen.

Keines dieser Medikamente ist im Kindesalter zugelassen. Somatostatinanaloga wie Pasireotid sind bei ca. 30% der Erwachsenen mit M. Cushing effizient; bislang bestehen hier aber nur wenige ­Er­fahrungen im Kindesalter. Sog. Adrenostatika wie Ketokonazol  oder Mitotane weisen z. T. erhebliche unerwünschte Effekte auf und ­stehen daher eher im Hintergrund des therapeutischen ­Arsenals.

Mineralokortikoidexzess Die Prävalenz der arteriellen Hypertonie im Kindesalter ist deutlich geringer als bei Erwachsenen. Allerdings findet sich bei Kindern mit arterieller Hypertonie eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Hypertonie sekundär auf dem Boden einer Grunderkrankung ­basiert. Ein primärer Hyperaldosteronismus (Conn-Syndrom) ist allerdings im Kindesalter eine Rarität. jjÄtiologie und Pathogenese Ursachen für einen primären Hyperaldosteronismus umfassen aldosteronbildende Adenome, eine bilaterale Nebennierenhyperplasie sowie extrem selten Nebennieren-Karzinome.

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j jKlinischer Befund Bei den Patienten liegt eine häufig schwer einstellbare Hypertonie vor. Diese kann ergänzt sein durch Zephalgien und Schwindel, evtl. kombiniert mit Parästhesien und einer Polydipsie. j jDiagnostik und Differentialdiagnose Das Vorliegen einer Hypernaträmie in Kombination mit einer hypokalämischen Alkalose, eine erhöhte Aldosteronkonzentration im Plasma und Sammelurin sowie die supprimierte Plasmareninaktivität sind wegweisend. Differenzialdiagnostisch ist der sekundäre hyperreninämische Hyperaldosteronismus bei renovaskulären Fehlbildungen oder ­hyperreninämischen Nierentumoren (z. B. Wilms-Tumor) sehr viel häufiger. Darüber hinaus können folgende seltene Differenzialdiagnosen abgegrenzt werden: 44 Glukokortikoid-supprimierbarer Hyperaldosteronismus (GSH): bei Betroffenen lässt sich die arterielle Hypertonie und der Hyperaldosteronismus durch Dexamethasonapplikation normalisieren. Ursächlich ist ein „crossing over“ von Gen­ sequenzen der beiden 11β-Hydroxylasegene, sodass das CYP11B2-Gen (Aldosteronsynthese) abnorm einer Regulation durch ACTH unterliegt und durch Glukokortikoide supprimiert werden kann. 44 Ein adrenogenitales Syndrom durch Mutation der 11β-Hydroxylase kann infolge der mineralkortikoiden Wirkung von DOC (Metabolit vor dem Enzymblock) zu einer ­arteriellen Hypertonie bei hyporeninämischem Hypoaldosteronimus führen. 44 Apparent mineralocorticoid excess (AME): Ursächlich hierfür ist eine Mutation in der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 2, sodass Kortisol nicht mehr zu Kortison inaktiviert wird und es zu einer protrahierten Stimulation des Mineralokortikoidrezeptors durch Glukokortikoide kommt. Der AME lässt sich biochemisch vom Conn-Syndrom differenzieren, da hier ein hyporeninämischer Hypoaldosteronismus vorliegt. Diagnostisch weiterführend ist die erhöhte Kortisol-Kortison-Ratio im Serum bzw. der abnorme Tetrahydrokortisol-Tetrahydrokortison-Quotient im Urin. 44 Eine sehr ähnliche klinisch/laborchemische Konstellation kann beim übermäßigen Konsum von Lakritze oder Carbenoxolon auftreten, da der Inhaltsstoff Glyzyrrhizinsäure die Aktivität der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 2 hemmt und es dadurch ebenfalls zu einem Pseudohyperaldosteronismus kommt. 44 Monogene tubuläre Defekte wie das Liddle-Syndrom (Muta­ tion in epithelialem Natriumkanal, ENAC) oder das GellerSyndrom (Mutation im Mineralokortiokoidrezeptor) können ebenfalls zu einer arteriellen Hypertonie mit hyporeninämischem Hypoaldosteronismus und metabolischer Alkalose ­führen. jjTherapie Bei Vorliegen eines isolierten Adenoms ist die unilaterale Adrenalektomie das gängige Therapieprinzip. Bei Patienten mit bilateraler Nebennierenhyperplasie oder Vorliegen eines Pseudohyperaldosteronismus kann eine kompetitive Hemmung des Mineralokortikoidrezeptors mittels Spironolacton versucht werden. Patienten mit GSH und AME sind mit niedrigen Glukokortikoiddosen effektiv behandelbar.

26.7

Gonaden

26.7.1

Hypogonadismus

7 Abschn. 7.2

26.7.2

Hodenhochstand

7 Kap. 25.2.4

26.8

Störungen bzw. Varianten der ­Geschlechtsentwicklung (DSD)

P.-M. Holterhus, L. Wünsch jjGrundlagen Störungen bzw. Varianten der Geschlechtsentwicklung („disorders of sex development“, DSD) sind seltene, angeborene Abweichungen von der geschlechtlichen Determinierung der Gonaden und der Differenzierung des Genitales. Die Inzidenz beträgt etwa 1:4.500 Neugeborene. Meist fällt DSD nach der Geburt durch ein uneindeutiges Genitale auf, jedoch kann sie sich auch hinter einer primären Amenorrhö oder einer Virilisierung beim Mädchen im Pubertätsalter verbergen. Etwa 30% der DSD-Fälle weisen Malformationen oder Fehlfunktionen extragenitaler Organe auf. Häufig sind die Ausprägungen des psychischen Geschlechts, z. B. die Geschlechtsidentität, nicht kongruent mit dem somatischen Phänotyp. Nicht alle Patienten mit DSD benötigen oder wünschen Behandlung. Daher wird DSD in der aktuellen S2K Leitlinie als „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ bezeichnet. Somatische Geschlechtsentwicklung   Durch Expression des

S­ RY-Gens („sex-determining region“, Y) beim 46,XY-Karyotyp entwickelt sich bis zur 7. Schwangerschaftswoche aus einer zunächst bipotenten Gonadenanlage der Hoden. Beim 46,XX-Karyotyp ist SRY abwesend, sodass Ovarien entstehen. Dieser Vorgang wird als geschlechtliche Determinierung bezeichnet. Die geschlechtsspezifische Entwicklung des Genitales wird als geschlechtliche Differenzierung bezeichnet. Sie findet zwischen der 7. und 12. Schwangerschaftswoche statt und ist abhängig von der An- oder Abwesenheit von Testosteron und Anti-Müller-Hormon (AMH), die beide im embryonalen Hoden gebildet werden. Beim Jungen entwickeln sich die Wolff-Gänge testosteronabhängig zu Samenleitern, Neben­ hoden, Samenbläschen und Prostata. AMH verhindert die Entwicklung der Müller-Gänge. Bei Abwesenheit des Hodens bilden sich die Wolff-Gänge zurück und die Müller-Gänge entwickeln sich zu Ei­ leitern, Uterus und oberem Drittel der Vagina. Durch Androgen­ wirkung entsteht aus dem Genitalhöcker der Penis. Urethralfalten und Labioskrotalwülste verschmelzen zu Corpus cavernosum und Skrotum. Bei fehlender Androgenbildung oder -wirkung entwickelt sich der Genitalhöcker zur Klitoris, die Labioskrotalwülste bilden die großen Labien. Psychisches Geschlecht  Es werden Geschlechtsidentität, Geschlechtsrollenverhalten und sexuelle Orientierung unterschieden. Unter Geschlechtsidentität versteht man die innere Überzeugung eines Menschen, einem Geschlecht zuzugehören, sich also als Mann oder Frau (oder dazwischen) zu erleben. Geschlechtsrollenverhalten umfasst die soziokulturell erwarteten Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale, die mit Männlichkeit oder Weiblichkeit asso-

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ziiert sind. Sexuelle Orientierung spiegelt die bevorzugte Wahl des Sexualpartners wider. Das psychische Geschlecht wird durch Gene, Hormone, psychische, soziale und kulturelle Faktoren beeinflusst. Pränatale Androgenwirkungen spielen eine modulierende Rolle durch „Prägung“ des Gehirns. jjÄtiologie, Pathogenese, Klinik Die Klassifikation der DSD beruht auf den Geschlechtschromosomen sowie den pathophysiologischen genetischen und hormonellen Mechanismen. Für eine umfassende Liste möglicher Differenzial­ diagnosen sei auf die einschlägige Spezialliteratur verwiesen. 26.8.1

DSD durch numerische Aberrationen der Geschlechtschromosomen

Das Klinefelter-Syndrom und das Ullrich-Turner Syndrom wurden aus formalen Gründen den DSD zugeordnet (7 Kap. 1). 45,X/46,XY-Mosaike verursachen die gemischte Gonadendys­ genesie. Typischerweise besteht ein asymmetrischer Befund der ­Gonaden. Die endokrinen Hodenfunktionen sind variabel betroffen, sodass überwiegend männliche Phänotypen, uneindeutige ­äußere Genitalien oder komplett weibliche Erscheinungsbilder ­vorkommen. Dysgenetische Gonaden weisen ein deutlich erhöhtes Entartungsrisiko auf (bis zu 30%). Nichtinvasive Frühstadien ­(Gonadoblastom, Carcinoma in situ) können in invasive Tumoren (Seminom, Dysgerminom) übergehen. 26.8.2

DSD mit 46,XY-Karyotyp

Störungen der Gonaden-/­Hodenentwicklung Beim Swyer-Syndrom besteht aufgrund einer Mutation im SRY-Gen ein äußerlich weibliches Genitale mit strangartigen Gonaden mit erhöhtem Tumorrisiko. Aufgrund der fehlenden AMH-Produktion sind Müller-Strukturen vorhanden. Klinisch wird die komplette ­Gonadendysgenesie häufig erst im Pubertätsalter diagnostiziert, wenn Brustentwicklung und Menarche ausbleiben. Mutationen im WT1-Gen (Wilms-Tumor-Suppressor-1-Gen) verursachen eine ­Gonadendysgenesie mit Glomerulopathie. SF1-Mutationen sind überwiegend bei DSD mit alleinigem Virilisierungsdefizit beschrieben worden, selten aber auch in Kombination mit globaler Nebennierenrindeninsuffizienz.

Störungen der Androgenbildung oder -wirkung Störung der Androgenbildung mit Nebennieren­ rindeninsuffizienz Klinisch bedeutsam ist, dass bestimmte Steroidbiosyntheseschritte die endokrine Funktion der Nebennieren und der Hoden gemeinsam betreffen. Betroffene Neugeborene sind daher neben dem Virilisierungsdefizit durch eine Salzverlustkrise mit Hyponatriämie, Hyperkaliämie, Hypoglykämie und metabolischer Azidose bedroht. Beispiele sind Defekte im Steroidogenic-acute-regulatory-(StAR-) Protein und im P450scc-Komplex. Beim 17α-Hydroxylase-Mangel ist die adrenale Steroidbildung nur teilweise beeinträchtigt, die Testosteronbildung des Hodens jedoch unterbrochen. Die vermehrte ­Bildung von Mineralokortikoiden verursacht eine arterielle Hypertonie. Bei 46, XY-Karyotyp und weiblichem Phänotyp wird die ­Diagnose häufig erst im Pubertätsalter durch Ausbleiben von ­Menarche und Brustentwicklung gestellt. Beim 3β-Hydroxy­steroidDehydrogenase-Typ-II-Defekt (3βHSD) sind alle adrenalen ­Steroidbiosynthesewege betroffen, sodass 46,XY Neugeborene ein

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Maskulinisierungsdefizit in Kombination mit Nebennierenrindeninsuffizienz aufweisen. Beim P450-Oxidoreduktasedefekt (POR) besteht durch eine Störung des Elektronentransfers eine kombi­ nierte  Funktionseinschränkung der 21-Hydroxylase und der 17α-Hydroxylase mit konsekutivem Virilisierungsdefizit bei Jungen und moderater Nebennierenrindeninsuffizienz.

Störung der Androgenbildung ohne Nebennieren­ rindeninsuffizienz Mutationen des LH-Rezeptors führen zu einer isolierten Störung der Testosteronbildung im Hoden (Leydigzell-Hypoplasie). 46,XY-­ Neugeborene weisen ein äußerlich weibliches oder uneindeutiges Genitale auf. Beim 17β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase-Typ-IIIMangel) kann Androstendion nicht ausreichend zu Testosteron umgewandelt werden. Beim 5α-Reduktase-Typ-II-Mangel ist die Umwandlung von Testosteron zu Dihydrotestosteron im Genital­ gewebe beeinträchtigt. Patienten mit 46,XY-Karyotyp weisen bei Geburt ein Virilisierungsdefizit auf, das von komplett weiblich bis zu ambivalenten Ausprägungen reicht. Bei initial weiblicher Geschlechtszuweisung und Belassung der Gonaden in-situ wurde in einer Metaanalyse in ca. ⅔ der Fälle in der Pubertät ein Wechsel in die männliche Geschlechtsrolle beschrieben.

Störung der Androgenwirkung, ­Androgenresistenz Die Androgenresistenz wird durch Mutationen im Androgenrezeptorgen mit konsekutiver Funktionsstörung des Androgenrezeptors verursacht. Deshalb können Testosteron und Dihydrotestosteron auf zellulärer Ebene nicht oder nur partiell wirken. Das genitale Erscheinungsbild kann äußerlich komplett weiblich (komplette Androgenresistenz) oder uneindeutig sein (partielle Androgenresistenz). Bei der kompletten Androgenresistenz kommt es zum Zeitpunkt der Pubertät durch Aromatisierung des gonadalen Testosterons zu ­Östradiol zu einer Feminisierung (Brustentwicklung, weibliche Körperformen). Es besteht fast immer eine weibliche Geschlechtsidentität. Bei partiellen Formen sind die Ausprägungen des psychischen Geschlechts variabel. 26.8.3

DSD mit 46,XX-Karyotyp

Wie bei DSD mit 46,XY-Karyotyp k­ önnen monogene Entwicklungsstörungen der Gonaden vorliegen. Klinisch sind die verschiedenen Formen des adrenogenitalen Syndroms (AGS) mit Androgenexzess und genitaler Virilisierung b ­ edeutsam (7 Abschn. 7.5.5). 26.8.4

Diagnostik und Therapie

jjDiagnostik Für die Diagnostik bei Verdacht auf DSD wird die sofortige Einbeziehung eines kompetenten „DSD-Teams“ empfohlen, welches neben den ärztlichen Fachexperten auch psychologische Betreuung umfassen muss. Anamnese  In der Anamnese ist nach der Einnahme von Medi­

kamenten mit androgener Wirkung durch die Mutter zu fragen, nach Virilisierungserscheinungen während der Schwangerschaft sowie der Familienstammbaum zu eruieren (Indexfälle? Konsan­ guinität?).

Klinische Untersuchung  Sie sollte das Ausmaß der genitalen ­Maskulinisierung nach Prader bei 46,XX Karyotyp (. Abb. 26.16)

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J. Wölfle et al.

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..Abb. 26.18  Laparoskopische Darstellung eines Gonadoblastoms bei kompletter Gonadendysgenesie durch SRY-Mutation (17-jähriges Mädchen) mit Übergang in ein Dysgerminom (großer Pfeil) und Kalzifikationen (kleiner Pfeil)

oder bei 46,XY z. B. nach Sinnecker oder nach Ahmed (External Masculinization Score, EMS) dokumentieren. Eine zusätzliche Möglichkeit ist die Bestimmung der anogenitalen Distanz. Assoziierte Fehlbildungen müssen erfasst werden. Bildgebende Diagnostik  Die Ultraschalluntersuchung dient der Darstellung der Müller-Derivate (Uterus) und der Gonaden. Weiterhin sollten Nieren, ableitende Harnwege und Nebennieren untersucht werden. Ein MRT kann ergänzend hilfreich sein. Weiterführende invasive Diagnostik (Vaginoskopie, Zystoskopie, Lapa­ roskopie; . Abb. 26.18) kann bei unklaren Befunden indiziert sein. Laboruntersuchungen  Die Chromosomenanalyse ist für die Einordnung von DSD essenziell. Dringlich ist die Bestimmung des 17-Hydroxyprogesterons, weil das AGS die häufigste Differenzialdiagnose bei uneindeutigem Genitale ist (7 Abschn. 7.5.5, . Abb.  26.16). Bestimmung von Natrium, Kalium, Glukose, BGA und Kortisol sind bei Verdacht auf Nebennierenrindeninsuffizienz wichtig. Ein Steroidprofil ggf. in Kombination mit einem ACTHTest führt zur hormonellen Einordung von Steroidsynthesestörungen. Von gutem diagnostischem Wert ist auch die wenig invasive Urinsteroidanalyse. Steroidhormone sollten bei Kindern massenspekrometrisch bestimmt werden. Testosteron, Androstendion und Dihydrotestosteron basal und nach hCG (humanes Choriongonadotropin) dienen der Eingrenzung einer testikulären Androgenbiosynthesestörung. Hohe Werte für Testosteron und LH sind hinweisend auf Androgenresistenz. Inhibin B und AMH sind SertolizellMarker, die bei Gonadendysgenesie vermindert sind. Molekulare Untersuchungen stehen am Ende der Diagnostik und können die Ursache der Störung der Geschlechtsentwicklung ggf. beweisen und sind Grundlage für die genetische Beratung (7 Kap. 1).

j jTherapie Mit Ausnahme des AGS bzw. bei Nebennierenrindeninsuffizienz besteht häufig keine dringliche Behandlungsnotwendigkeit. Die Therapie orientiert sich an den Prinzipien des „Nicht-Schadens“ und der Autonomie des Patienten und seines Rechts auf eine offene ­Zukunft. Bei Neugeborenen mit uneindeutigem Genitale sollten

eine qualifizierte Diagnostik und die psychologische Betreuung der Eltern in dieser ungewöhnlichen und belastenden Situation unverzüglich begonnen werden und Hand in Hand gehen. Erst nach der Diagnostik sollte eine Empfehlung zur ­Geschlechtszuweisung gegeben werden. Im Personenstandsrechtsänderungsgesetz (PStRÄndG, § 22b, Absatz 3), das Folge einer umfassenden Beratung zu DSD im Deutschen Ethikrat war, wird e­ rmöglicht, dass die Geschlechtszuordnung des Kindes zunächst freigelassen werden kann. Aufgrund einer Bundesverfassungsgerichtsentscheidung (2017) wird für 2018/2019 eine erneute Gesetzesrevision erwartet. Dies ermöglicht eine sorgfältige Dia­gnosestellung durch ein multidisziplinäres „DSD-Team“. Die Zu­ordnung des Erziehungsgeschlechts sollte sich an einer möglichst genauen Diagnose, den phänotypischen Ausprägungen, chirur­gischen und hormonellen Therapieoptionen sowie den Möglich­keiten der Fertilität orientieren, aber auch den sozialen und kultu­rellen Hintergrund der Familie berücksich­tigen. Sie ist zunächst unabhängig von der amtlichen Eintragung des Geschlechts, impliziert keine Behandlungsmaßnahmen, wird aber im sozialen Kontext meist am Namen des Kindes erkennbar. Aufgrund der Seltenheit und Vielgestaltigkeit von DSD liegen trotz eines relevanten Erkenntniszuwachses in den zurückliegenden Jahren nur Empfehlungen mit schwacher Evidenz für hormonelle und chirurgische Behandlungsverfahren vor. Im Zweifel kann eine klinische Ethikkommission helfen, die zahlreichen Facetten einer Behandlungs­ situation besser zu erfassen. Die medikamentöse Therapie erfolgt bei DSD mit Neben­ nierenrindeninsuffizienz mit Hydrocortison, Fludrocortison und Kochsalz. Irreversible Behandlungen mit Sexualhormonen im ­Neugeborenenalter sollten restriktiv gehandhabt werden. Im pu­ bertätsreifen Alter erfolgt bei fehlender Möglichkeit zur eigenen Sexual­ hormonbiosynthese (z. B. Steroidbiosynthesedefekt, Z. n. Gonad­ektomie) und unter Einbeziehung des zunehmend ent­ scheidungs­reifen Kindes die Pubertätseinleitung mit weiblichen oder männlichen Sexualhormonen. Sollte es zu unerwünschten Symptomen der ­Pubertätsentwicklung kommen, z. B. Virilisierung bei bisherigem Aufwachsen im weiblichen Geschlecht (z. B. 17βHSDIII-Defekt), so kommt passager eine Suppression durch GnRH-Analoga in B ­ etracht. Bei nicht einwilligungsfähigen Kindern mit DSD sollten Genitaloperationen zurückhaltend oder gar nicht empfohlen werden. Der Eingriff in die Autonomie des Kindes und der medizinische Nutzen für das Kind können im Widerspruch zum elterlichen Wunsch nach Eindeutigkeit stehen. Hier ist häufig ein längerer Entscheidungsprozess nötig, der der Begleitung durch ein intersdis­ ziplinäres Team und der chirurgischen Unterstützung bedarf. Die Diskussion zur Frühoperation ist insbesondere bei AGS kontrovers. Bei Aufwachsen im männlichen Geschlecht stehen bei DSD die ­Verfahren der Penisaufrichtung und Hypospadiekorrektur, bei ­Aufwachsen im weiblichen Geschlecht Vulva-, Klitorisreduktions-, Labien-, und Vaginalplastik zur Verfügung. Eine häufige Opera­ tionsindikation bei DSD auch vor Erreichen der Entscheidungsreife ist die Gonadektomie bei Gonadendysgenesie und weiblicher ­Geschlechtszuweisung aufgrund des erhöhten Entartungsrisikos der Gonade. Bei männnlicher Geschlechtszuweisung kann eine ­ rchidopexie, ggf. in Kombination mit einer Gonadenbiopsie, O ­indiziert sein. Jede Operation bei DSD oder AGS sollte nur durch qualifizierte Chirurgen an spezialisierten Zentren durchgeführt ­werden.

26

677 Endokrinologie interdisziplinär

26.9

Endokrine Neoplasiesyndrome ­ und ­autoimmune polyglanduläre Endo­ krinopathien

J. Wölfle 26.9.1

Endokrine Neoplasiesyndrome

jjHintergrund Neoplasien endokriner Organe, die sich bereits im Kindesalter ­manifestieren sind sehr selten. Diese können sporadisch oder im Rahmen familiärer Erkrankungen auftreten, die u. a. mit Ent­ artungen von endokrinen Drüsen einhergehen. Im Rahmen der in . Tab. 26.12 aufgeführten Neoplasiesyndrome kann es u. a. zu Neoplasien der Hypophyse, der Schilddrüse, der Nebenschilddrüse und der Nebenniere kommen. Häufig führt die Diagnose eines dieser seltenen Tumorsyndrome bei betroffenen Erwachsenen zur genetischen Diagnostik bei anderen Familienmitgliedern, mit Konsequenzen hinsichtlich Monitoring und potenziell präventiver oder therapeutischer Interventionen bei mutationstragenden Kindern. Unter den genannten Tumoren treten Neoplasien der Schild­ drüse am häufigsten auf, sodass auf diese hier gesondert eingegangen wird. 26.9.2

Maligne Erkrankungen der Schilddrüse

jjPathogenese Maligne Schilddrüsentumoren sind im Kindesalter selten. Allerdings wird basierend auf der Beobachtung, dass nach Strahlenexposition durch den AKW-Unfall in Tschernobyl insbesondere exponierte Kleinkinder eine erhöhte Inzidenz von Schilddrüsenkarzinomen aufwiesen, vermutet, dass die Mehrzahl der papillären Schilddrüsenkarzinome bereits im Kindesalter entsteht. Neben Strahlenunfällen kann auch eine Bestrahlung der Kopf-/Halsregion im Kindesalter die spätere Entstehung von Schilddrüsenmalignomen begünstigen. Ur-

sächlich hierfür könnte das Wachstumsverhalten follikulärer Schilddrüsenzellen sein, die im Kleinkindesalter eine hohe mitotische Rate aufweisen; diese fällt dann zum Erwachsenenalter auf eine geringe Rate ab. In vielen Fällen papillärer Schilddrüsenkarzinome finden sich genetische Veränderungen des RET/PTC, oder des BRAF-Gens. Familiäre Fälle kommen im Rahmen der in . Tab. 26.12 gezeigten endokrinen Neoplasiesyndrome vor. Das medulläre C-Zellkarzinom kommt insbesondere im Rahmen einer endokrinen Neoplasie, entweder isoliert oder kombiniert mit anderen Neoplasien vor (Wichtig: Bestimmung der Kalzitoninkonzentration!). Das papilläre Schilddrüsenkarzinom ist das im Kindesalter am häufigsten vorkommende Schilddrüsenmalignom. Es tritt meist sporadisch auf, kann aber auch im Rahmen von Neoplasiesyndromen wie dem PHTS auftreten. Nicht selten ist bei Diagnosestellung bereits eine Metastasierung in die regionalen Lymphknoten erfolgt. Follikuläre Schilddrüsenkarzinome betreffen meist Jugendliche oder Erwachsene. Eine Fernmetastasierung dieses Tumors betrifft u. a. Lunge und Skelett. Anaplastische Karzinome der Schilddrüse sind im Kindesalter eine extreme Rarität. jjDiagnostik und klinisches Bild Häufig erfolgt die Diagnosestellung zufällig im Rahmen der Abklärung eines Schilddrüsenknotens oder der Abklärung eines Indexfalles bei Patienten mit einer MEN. Die Schilddrüsenknoten sind dabei oft derb und schmerzlos; verdächtig ist eine rasche Größenzunahme. Bei der Diagnostik steht die sonographische Untersuchung im Vordergrund. Nach Sicherung des Befunds eines Schilddrüsenknotens sollte eine Bestimmung von TSH und Kalzitonin als Marker für medulläre Schilddrüsenkarzinome erfolgen. Im Falle einer TSH-Suppression sollte eine Szintigraphie zum Ausschluss eines hormonaktiven Schilddrüsenadenoms erfolgen. Bei über 1 cm großen Schilddrüsenknoten sollte eine Feinnadelaspirationsbiopsie durch einen hierin geübten Untersucher erfolgen.

..Tab. 26.12  Familiäre Neoplasiesyndrome mit möglicher Beteiligung des Endokriniums Erkrankung

Betroffene Organsysteme

Multiple endokrine Neoplasie-1

Nebenschilddrüsenadenom Hypophysenadenom pankreatische Tumoren

Multiple endokrine Neoplasie-2a

medulläres SD-Ca Nebenschilddrüsenhyperplasie Phäochromozytom

Multiple endokrine Neoplasie-2b

medulläres SD-Ca Nebenschilddrüsenhyperplasie

Nichtendokrine Klinik:

Genprodukt

Erbgang

Menin

AD

AD

Ganglioneurome

Fam. medulläres SD-Ca.

Medulläres SD-Ca

Gardner-Syndrom

Papilläres SD-Ca Nebenierenrinden-Ca

Polyposis des Kolons

PTEN-Hamartoma-Tumor-Syndr. (PHTS)

SD-Ca Gonadale Tumoren Mamma-Ca

Carney-Komplex

Von-Hippel-Lindau-Syndrom

AD RET

AD

Lipome, Makrozephalie Polyposis

PTEN

AD

Hypophysenadenome Pigmentiert noduläre Neben-nierenerkrankung mit atypischem Cushing-Syndrom

Lentigines

PRKAR1A

AD

Phäochromozytome

Nierenkarzinome, andere Tumore

VHL

AD

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J. Wölfle et al.

j jTherapie Die Therapie differenzierter Schilddrüsenkarzinome erfolgt durch vollständige Tumorentfernung (Thyreoidektomie). Das Vorgehen und die Radikalität des chirurgischen Eingriffs werden mitbestimmt durch Tumorgröße und potenzielle Metastasierung. Bei postoperativ noch nachweisbarer Jodspeicherung als Hinweis auf einen Tumorrest oder eine Fernmetastasierung sollte eine Radiojodtherapie mit J131 erfolgen. Postoperativ ist eine Substitution mit Levothyroxin notwendig; hierunter wird eine Suppression der TSH-Konzentration angestrebt. Die Prognose ist gut (außer bei dem im Kindesalter praktisch nicht vorkommenden anaplastischen Karzinom). 26.9.3

Autoimmunität und endokrine ­Erkrankungen

Autoimmune Endokrinopathien werden durch eine immunologisch vermittelte Zerstörung endokriner Organe ausgelöst. Aktuell werden verschiedene Syndrome unterschieden, die mit einer autoimmunvermittelten Polyendokrinopathie einhergehen (. Tab. 26.13). Vermutlich wird in den nächsten Jahren ein deutlich detaillierteres Verständnis der Ätiopathogenese dieser seltenen ­familiären Endokrinopathien durch die breite Verfügbarkeit gene­ tischer Diagnostik möglich werden. 26.10

Diabetes mellitus

j jDefinition und Grundlagen Der Begriff Diabetes mellitus beschreibt eine Stoffwechselstörung, die durch das Vorliegen einer Hyperglykämie infolge Insulinmangel oder Insulinresistenz oder eine Kombination beider Bedingungen gekennzeichnet ist.

jjDiagnosekriterien Nach der aktuellen Klassifikation der WHO werden 3 Stadien des Diabetes unterschieden: a. Stadium mit noch normaler Glukoseregulation und Normo­ glykämie, b. Stadium mit gestörter Glukoseregulation und Hyper­glykämie, c. Stadium des Diabetes. Der orale Glukosetoleranztest mit 1,75 g/kgKG bzw. max. 75 g Glukose wird diagnostisch zur Einordnung des Kohlehydratstoffwechsels herangezogen: Eine Normoglykämie liegt vor bei einem Nüchternblutzucker von Alle Kinder und Jugendliche sollten einen Notfallausweis mit sich führen, aus dem hervorgeht, dass sie an einem Typ-1-­ Diabetes leiden und wer im Notfall verständigt werden sollte.

jjPathogenese Neben den immunologisch vermittelten Formen des Typ-1-Diabetes-mellitus (T1DM) gibt es idiopathische, nichtimmunologisch vermittelte Formen des T1DM, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Aus heutiger Sicht handelt es sich beim immunologisch vermittelten T1DM um eine Autoimmunerkrankung, bei der es durch eine gesteigerte zelluläre Immunität zu einer schubweisen Zerstörung der pankreatischen β-Zellen kommt. Die Auslösung des Krankheitsprozesses beruht dabei auf einer komplexen Interaktion von genetischen und Umweltfaktoren.

681 Endokrinologie interdisziplinär

..Tab. 26.14  Risiko an T1DM zu erkranken in Relation zu betroffenen Verwandten Diabetesrisiko

Allgemeines Risiko in Gesamtbevölkerung > Als Differenzialdiagnose bei abdominellen Beschwerden in Kombination mit einer Dehydratation sollte an die Ketoazi­ dose gedacht werden!

Therapeutisch ist bei Kindern mit Ketoazidose zunächst eine Flüssigkeitstherapie und Kreislaufstabilisierung indiziert. In Abhängigkeit vom Ausmaß der Kreislaufbeeinträchtigung kann initial eine Bolusgabe isotoner Lösung von 10–20 ml/kgKG über 1–2 h notwendig sein. Anschließend erfolgt ein Ausgleich des Flüssigkeitsdefizits über einen Zeitraum von 36–48 Stunden unter Verwendung plasmaisotoner Elektrolytlösungen (NaCl 0,9% oder Ringerlösung). Um das Risiko eines Hirnödems zu reduzieren, sollte die tägliche Infusionsmenge das 1,5- bis 2-fache des normalen Tagesbedarfs in Bezug auf Alter und Gewicht nicht übersteigen. Azidosekorrektur und Beginn der Insulintherapie bedingen eine Verschiebung von Kalium von extra- nach intrazellulär, sodass hier ggf. ein entsprechender Ausgleich notwendig wird. Deshalb ist ein >> Ziel einer Diabetestherapie muss daher sein, dass die psychoKaliumersatz bei der Behandlung der diabetischen Ketoazidose soziale Entwicklung diabeteserkrankter Kinder durch den ­erforderlich. Bei Ketoazidose und Hypokaliämie sollte die Kalium­Diabetes mellitus und seine Therapie geringstmöglich substitution bereits im Rahmen der initialen Flüssigkeitstherapie beeinträchtigt und die Integration in Kindergarten, Schule erfolgen, bei Normokaliämie sollte diese mit der Insulintherapie ein­sowie die spätere berufliche Ausbildung gewährleistet wird. setzen. Lediglich im Falle einer Hyperkaliämie sollte das WiedereinUm dies zu erreichen muss unter Berücksichtigung der individuellen setzen der Diurese abgewartet werden bis dann die KaliumsubstituBedingungen und Ressourcen eine optimale Anleitung von Patient tion erfolgt. Aufgrund der genannten Verschiebungen unter Flüssigund Familie zu möglichst selbständig und selbstbestimmtem Um- keits- und Insulintherapie sollte die Kaliumkonzentration zu Beginn der Therapie engmaschig kontrolliert werden. gang mit der Erkrankung erfolgen. Darüber hinaus sollte die Natriumserumkonzentration überMit dem Kind/Jugendlichen und dem jeweiligen familiären Umfeld werden individuelle Therapieziele formuliert, die eine weitge- wacht werden, da das Absinken des Blutzuckers und der damit verhende Normoglykämie bei gleichzeitiger Minimierung des Risikos bundene Abfall der Serumosmolalität zu einer Verschiebung freien von Hypoglykämien zum Ziel haben. Typischerweise wird dabei­ Wassers und damit zu einem Anstieg der gemessenen Serumnatriein Nüchternblutzucker von 90–145 mg/dl bzw. ein postprandialer umkonzentration führt. Gerade bei initial sehr hohen BlutzuckerButzucker von 90–180 mg/dl angestrebt; bei guter Stoffwechselein- werten ist die Berechnung der korrigierten Natriumkonzentration stellung ist ein HbA1c-Wert > Die Vitamin-D-Prophylaxe im 1. Lebensjahr ist die wichtigste Maßnahme zur Vermeidung einer Vitamin-D-Mangelrachitis.

Die Behandlung der Vitamin-D-Mangelrachitis erfolgt mit erhöhten Vitamin-D-Dosen über 3–6 Wochen. Anschließend wird im 1. Lebensjahr eine Vitamin-D-Prophylaxe mit 500 Einheiten pro Tag fortgesetzt. Die Initialphase der Behandlung hat stationär zu erfolgen. Insbesondere muss auf einen initialen Abfall des Kalziumserumspiegels im Rahmen der beschleunigten Knochenmineralisation geachtet werden. Für die Behandlung der Vitamin-D-Mangel-­ Rachitis wurde ein globales Consensus-Papier erstellt das eine Gabe von 2.000–6.000 IE täglich über 90 Tage empfiehlt. !! Cave Bei Missachtung droht die Gefahr schwerer Herzrhythmus­ störungen. ..Abb. 26.24  Diagnostische Abklärung einer Rachitis

Zur Vermeidung einer Hypokalzämie wird die Kombination von Vitamin D mit Kalzium empfohlen. Bei Hypokalzämien mit klinischer Symptomatik (Tetanie) erfolgt eine intravenöse Kalziumsubstitution. Unter diesem Regime normalisieren sich die Laborparameter (alkalische Phosphatase) und die klinischen Symptome in der Regel in den ersten 6–12 Wochen. Die Achsenabweichungen und Fehlstellungen der Extremitäten heilen meist im ersten Behandlungsjahr aus. Bei frühzeitiger Diagnose und Therapie sind spätere operative Korrekturen selten notwendig. 26.11.2

Vitamin-D-abhängige Rachitis

jjPathophysiologie Vitamin-D-abhängige Rachitiden werden heute in Typ I und Typ II unterteilt. Beide Krankheitsbilder werden autosomal-rezessiv vererbt und sind extrem selten. Bei der Vitamin-D-abhängigen Rachitis Typ I handelt es sich um Störung der renalen 1α-Hydroxylase. Dies führt zu einer ungenügenden Synthese des biologisch aktiven Vitamin-D-Metaboliten 1,25-(OH)2-Vitamin D. Dem ebenfalls sehr seltenen Typ II liegt ­dagegen eine Endorganresistenz gegenüber 1,25-(OH)2-D zu G ­ runde. In Hautfibroblasten konnten entsprechende Rezeptor- und auch Postrezeptordefekte nachgewiesen werden, die v. a. den Intestinaltrakt betreffen und mit einer deutlich verminderten Kalziumabsorption einhergehen. Beschrieben wurde der Typ II in erster ­Linie bei arabischen Familien. Für die Vitamin-D-abhängigen R ­ achitis-Typen I und II wurden entsprechende Mutationen des 1α-Hydroxylasegens bzw. des Vitamin-D-Rezeptorgens nachge­wiesen. jjKlinik Die klinischen Zeichen der Rachitis und die neurologischen Folgen der Hypokalziämie sind bei Typ I und II identisch mit denen des schweren Vitamin-D-Mangels. Beide Krankheitsbilder werden in der Regel im 2. Lebensjahr manifest. Bei Typ II tritt bei über 50% der Fälle eine totale Alopezie auf. jjTherapie Die Therapie bei der Vitamin-D-abhängigen Rachitis Typ I erfolgt durch tägliche und lebenslange Substitution mit dem aktiven Vitamin-D-Metaboliten 1,25-(OH)2-D. Nach Ausheilung der Rachitis muss die individuelle Erhaltungsdosis, die zur Aufrechterhaltung einer Normokalzämie und zur ausreichenden Skelettmineralisation notwendig ist, durch schrittweise Reduktion des zugeführten Vita-

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J. Wölfle et al.

min D ermittelt werde. Die Beurteilung des Parathormonspiegels ist hierbei hilfreich. Die Behandlung der Endorganresistenz (Typ II) ist schwieriger. Aufgrund einer meist inkompletten Resistenz ist ein Therapieversuch mit extrem hohen Dosen des aktiven Metaboliten 1,25-(OH)2Vitamin D möglich. Bei Misserfolg sind hochdosierte orale oder intravenöse Kalziumgaben notwendig. 26.11.3

Sekundärer Vitamin-D-Mangel

Nierenerkrankungen und renale Osteodystrophie j jDefinition, Pathogenese Der Begriff Osteodystrophie beschreibt im Kindesalter Störungen des Skelettwachstums und Knochenumbaus (Remodeling), die in der Folge einer chronischen Niereninsuffizienz auftreten. Multiple Faktoren wie verminderte Phosphatausscheidung, sekundärer ­Hyperparathyreoidismus und herabgesetzte renale 1,25-(OH)2-DSynthese mit verminderter intestinaler Kalziumresorption sind für die Pathogenese dieses Krankheitsbildes verantwortlich. Hinzukommen die direkten Störungen durch Urämietoxine. jjKlinik Klinisch zeigen sich wie bei der Rachitis ein gestörtes Längenwachstum und Gelenkfehlstellungen im Bereich der langen Röhrenknochen. Die radiologischen Befunde erinnern an einen alimentären Vitamin-D-Mangel, jedoch fallen die Auftreibungen der Wachstumsfugen diskreter aus. Umbaustörungen der trabekulären Strukturen (metaphysäre Fibrose) und subperiostale Resorptionen aufgrund der erhöhten Parathormonwirkungen stehen bei der renalen Osteodystrophie im Vordergrund. Hauptverantwortlich für den sekundären Hyperparathyreoidismus ist in der Initialphase der ­Niereninsuffizienz die verminderte Ausscheidung von Phosphat mit erhöhten Serumphosphatwerten. jjTherapie Die wichtigste Maßnahme in der Frühphase einer Niereninsuffizienz ist die diätetische Phosphateinschränkung. Werden dazu orale Phosphatbinder eingesetzt, sollten diese kein Aluminium enthalten. Im weiteren Verlauf der Niereninsuffizienz ist eine zusätzliche Vitamin-D-Substitution unter Kontrolle der Parathormonserumspiegel notwendig. Die zusätzliche Gabe von Kalzium ist ebenfalls in vielen Fällen notwendig. Die Parathormonwerte sollten im oberen Normbereich liegen, da ein zu stark supprimiertes Parathormon den Stoffwechsel des Skelettsystems inaktiviert. Parathormon, in seiner physiologischen, pulsatilen Wirkungsweise, ist eines der wichtigsten knochenanabolen Hormone.

Gastrointestinale Erkrankungen Nach Aufnahme mit der Nahrung wird Vitamin D in Chylomikronen angereichert und erreicht über das Lymphsystem die Blutzirkulation. Bei intestinalen Malabsorptionssyndromen sowie bei unzureichender Galleproduktion mit Absorptionsstörungen von fettlöslichen Vitaminen kann es daher zu einem Vitamin-D-Mangel kommen. Klinisch relevant sind Krankheitsbilder mit Cholestase und Störungen der Gallensäurenproduktion und -sekretion wie z. B.: 44 kongenitale Leberzirrhosen, 44 Gallengangsatresien, 44 Mukoviszidose. Regelmäßige Kontrollen von Parathormon und alkalischer Phosphatase sind zur Früherkennung einer Mangelsituation notwendig. Je

nach Schweregrad der gastrointestinalen Störungen wird Vitamin D mit den anderen fettlöslichen Vitaminen (A, E, K) hochdosiert oral oder alle 2–3 Wochen i.m. verabreicht.

Antiepileptikarachitis Kinder mit Anfallsleiden unter chronischer Therapie mit Anti­ konvulsiva sind gefährdet, rachitische Krankheitsbilder zu ent­ wickeln. Diskutiert wird ein gestörter Vitamin-D-Metabolismus durch Leberenzyminduktion. Unklar ist zurzeit, ob die Hauptur­ sache die antikonvulsive Therapie darstellt oder die zusätzlichen Mehrfachbehinderungen der Kinder, die häufig mit einer unzu­ reichenden Sonnenexposition und insbesondere verminderter ­körperlicher Aktivität (Inaktivitätsosteoporose?) verbunden sind. Die Behandlung erfolgt wie bei einer Vitamin-D-Mangelrachitis in Verbindung mit krankengymnastischen Maßnahmen. 26.11.4

Frühgeborenenosteopathie

Osteopenische (Knochensubstanz fehlt) und rachitische (vermin­ derte Mineralisation vorhandener Strukturen) Veränderungen werden bei extremen Frühgeborenen mit weniger als 1.500 g Geburtsgewicht und einem Gestationsalter unterhalb der 28. SSW beobachtet. Die Pathogenese der Frühgeborenenosteopathie ist multifaktoriell: 44 unzureichende Zufuhr von Phosphat und Kalzium, 44 Langzeitbeatmung, 44 Azidose, 44 Therapien mit Diuretika und Glukokortikoiden, 44 motorische Inaktivität im Vergleich zu intrauterinen Bewegungsmustern. Im letzten Schwangerschaftstrimenon liegt der tägliche Kalziumeinbau in den fetalen Knochen bei ca. 130 mg/kgKG und der Phosphat­ einbau bei 70 mg/kgKG. Dieser Bedarf wird bei Frühgeborenen durch Muttermilch allein nicht gedeckt. Mit Kalzium und Phosphat angereicherte Frühgeborenennahrung oder/und die individuelle Substitution sollen eine entsprechende Zufuhr von Kalzium und Phosphat gewährleisten. Zusätzlich erfolgt eine Substitution mit ­Vitamin  D. !! Cave Regelmäßige Messungen von Kalzium und Phosphat im Urin sind notwendig, um insbesondere auch Überdosierungen (Entwicklungen von Nephrokalzinosen) durch Ausfall von ­Kalziumphosphatkristallen zu erkennen.

Mäßige Mineralisationsstörungen haben bei Frühgeborenen eine gute Prognose und können in den ersten Lebensmonaten ausheilen. Schwere Formen müssen durch konsequente Kalzium- und Phosphatbilanzierungen vermieden werden. Diese führen zu permanenten Schäden, die insbesondere das weiche Schädelskelett betreffen. Augenfehlstellungen und Sehstörungen können Sekundärfolgen darstellen. Neue Studien zeigen einen verbesserten Skelettaufbau durch früh einsetzende Physiotherapie bei Frühgeborenen. 26.11.5

Hypophosphatasie

Die alkalischen Phosphatasen sind Enzyme, die in der Plasmamembran von Zellen, auch von Osteoblasten, lokalisiert sind. Die alkalische Knochenphosphatase ist auf bisher unklare Weise an dem Mineralisationsprozess beteiligt. Liegt aufgrund eines genetischen Defekts eine verminderte Aktivität des in der Leber, im Knochen

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und im Knorpel gebildeten Isoenzyms der alkalischen Phosphatase vor, ist die Mineralisierung der Knochenmatrix gestört. jjKlinik Die klinische Symptomatik der Hypophosphatasie ist sehr variabel, auch das Manifestationsalter kann unterschiedlich sein. Im Vor­ dergrund stehen rachitisähnliche Skelettbefunde und Wachstumsstörungen. Besonders auffällig sind dabei schwere Mineralisationsdefekte mit ausgeprägten Ausfransungen der Metaphysen. Je nach Manifestationsalter werden 3 Formen unterschieden: 44 Infantile Form: Symptome einer schweren Mineralisations­ störung wie Frakturen und Knochenverbiegungen sind bereits bei der Geburt vorhanden oder entwickeln sich im Säuglings­ alter. Viele dieser Kinder sterben sehr früh an pulmonalen Komplikationen in Folge von Rippenfrakturen und Thoraxinstabilität. Weitere Probleme sind Gedeihstörungen, vorzeitiger Verschluss der Schädelnähte, Krampfanfälle, Herzrhythmusstörungen, Hyperkalzämie und Nephrokalzinose. 44 Juvenile Form: Zeichen der juvenilen Form sind Kleinwuchs, Rachitis, vorzeitiger Ausfall der Milchzähne, Bewegungs­ störung in Verbindung mit Knochenschmerzen und reduzierte Muskelkraft. 44 Adulte Form: Es handelt sich hierbei um eine milde Verlaufsform mit Knochenschmerzen, Fehlstellungen, möglicherweise Zeichen einer generalisierten Osteoporose und dentalen ­Problemen. jjDiagnose Die Diagnose ist leicht anhand der verminderten Aktivität der alkalischen Phosphatase im Serum zu stellen und über Genmutationen zu bestätigen. Wichtig ist hierbei die Berücksichtigung alters- und geschlechtsspezifischen Normalwerte für die Enzymaktivität der ­alkalischen Phosphatase. jjTherapie Eine kausale Therapie der Hypophosphatasie existiert derzeit nicht, aber es ist für infantile und juvenile Formen eine Enzymersatztherapie verfügbar. Diese ersetzt die Funktion der alkalischen Phosphatase und bewirkt eine Mineralisierung des Knochens. Durch diese Therapie konnte das Überleben von Patienten mit schwersten Verlaufsformen ermöglicht werden und auch die Mobilität und Muskelfunktion wird mit dem Medikament verbessert. Zusätzlich sind ­orthopädische Maßnahmen zur Korrektur von Fehlstellungen oft erforderlich. Einen positiven Einfluss auf Knochenschmerzen, Bewegungsstörung und der Knochenmineralisation zeigen nichtsteroidale Antiphlogistika. Physiotherapeutische und schmerztherapeutische Ansätze gehören genau zu der multimodalen Betreuung dieser Patienten wie eine pulmonologische und neuropädiatrische Anbindung. !! Cave Aufgrund der Hyperkalzämieneigungen ist eine Vitamin-DBehandlung kontraindiziert.

26.11.6

Phosphopenische Rachitisformen – ­Phosphatdiabetes

jjPathophysiologie Phosphat ist einer der Hauptbestandteile des Knochenminerals ­Hydroxylapatit [Ca10(PO4)6(OH2)]. Der Phosphatmangel hat somit unmittelbar eine Störung der Mineralisation zur Folge. Die hypophos-

phatämischen Rachitisformen zeigen charakteristischerweise erniedrigte Serumphosphatspiegel und in der Regel eine gestörte renale Phosphatausscheidung. Es liegt primär oder sekundär eine inadäquat erhöhte renale tubuläre Phosphatausscheidung vor. Diese kann als isoliert gesteigerte Phosphatausscheidung nachgewiesen werden bzw. mit komplexen renal-tubulären Funktionsstörungen einhergehen (Verlust von Glukose, Aminosäuren, Bikarbonat). Die häufigsten Ursachen sind die isolierten renal-tubulären Phosphatverluste. Im Vordergrund steht der Phosphatdiabetes – auch als familiäre hypophosphatämische Rachitis oder als Vitamin-D-resistente Rachitis bezeichnet. Eine Sonderform stellt der Phosphatdiabetes in Kombination mit einer Hyperkalziurie dar. Ursache eines renalen Phosphatverlusts 55Störungen der renalen tubulären Phosphatreabsorption 55Phosphatdiabetes (Vitamin-D-resistente Rachitis) (PHEX Gen) –– Familiäre Form (dominant: FGF 23 Gen; rezessiv: DMP1/ ENPP1 Gen) –– Mit Hyperkalziurie (SLC34A3 Gen) –– Bei Tumoren –– Fanconi-Syndrom (SLC34A1 Gen) 55Primäres Fanconi-Syndrom 55Sekundäres Fanconi-Syndrom –– Stoffwechselkrankheiten (Zystinose, Tyrosinämie u. a.) –– Vergiftungen (Schwermetall) –– Zytostatika –– Nach Nierentransplantation –– Nierenvenenthrombose –– Hyperparathyreoidismus –– Hypokaliämie, Hyperkalziurie –– Kortisonbehandlung

jjEpidemiologie Beim Phosphatdiabetes handelt es sich um die häufigste der angeborenen Rachitisformen mit einer Häufigkeit von ca. 1:25.000 Neugeborenen. Dieses Krankheitsbild wird X-chromosomal-dominant vererbt. Das am häufigsten veränderte Gen zeigt Homologien zur Familie der Endopeptidasengene und wird als PHEX („phosphate regulating with homologies to endopeptidases on the X-chromosome“) bezeichnet. PHEX beeinflusst über den Fibroblastenwachstumsfaktor 23 („fibroblast growth factor“ 23, FGF-23) die Rückresorption von Phosphat aus dem Primärharn. Bei einem Funktionsverlust von PHEX kommt es über einen Überschuss an FGF23 zu einer vermehrten Phosphatausscheidung . Bei der sporadisch auftretenden adulten Form des Phosphatdiabetes handelt es sich um ein sehr seltenes Krankheitsbild. Dabei sind immer tumorassoziierte Formen abzugrenzen. Verschiedene mesenchymale Tumoren wurden hierbei beschrieben. Nachgewiesen wurde FGF-23 als humoraler Faktor, der für die vermehrte renale Phosphatausscheidung verantwortlich ist. jjKlinik Die Diagnose des Phosphatdiabetes wird am häufigsten im 2. Lebensjahr gestellt. Die auffallenden Symptome sind ein sich ent­ wickelnder Kleinwuchs bzw. eine verminderte Wachstums­ geschwindigkeit (7 Abschn. 26.1). Phänotypische stehen Achsabweichungen besonders der unteren Extremität im Vordergrund. Die zunehmende O-Bein-Stellung ist der wesentliche Grund für die bestehenden Wachstumsstörungen. Diese Fehlstellung ist ­progredient unter der wachsenden biomechanischen Belastung

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chenheilung und Wachstum. Kürzlich wurde ein FGF23-Antikörper für die Behandlung im Kindes- und Jugendalter zugelassen, das eine Steigerung der Phosphatrückresorption bewirkt.

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!! Cave Unter der Therapie mit Phosphat und Vitamin D kann es zur Ausbildung einer Nephrokalzinose kommen (regelmäßige ­Ultraschallkontrollen und Bestimmung der Kalziumausscheidung im Urin zur Therapieüberwachung!).

..Abb. 26.25  Diagnostisches Vorgehen bei Phosphatverlust

(­ Gewichtszunahme und Muskelkraftzunahme) der unteren Extremität. In vielen Fällen zeigt sich bei sorgfältiger Untersuchung bereits im 1. Lebensjahr eine verzögerte Wachstumsentwicklung. Im Schul- und Jugendalter kann sich der Phosphatdiabetes auch mit Valgusstellung der unteren Extremität manifestieren. Weitere skelettale Symptome sind bei unbehandelten Patienten Knochenschmerzen, Frakturen oder Pseudoarthrosen. Im höheren Lebensalter kann ein vermehrtes Wachstum der Knochen im Bereich der Muskelansätze auftreten. Vereinzelt wurden knöcherne Einengungen des Spinalkanals beschrieben. Im Kindesalter zeigt sich ein verspäteter Zahndurchbruch und Zahnwechsel mit Zahnschmelzdefekten und bei älteren Kindern und Erwachsenen vermehrte Neigung zu Zahnwurzelabszessen. Bei der Form des Phosphatdiabetes in Verbindung mit Hyperkalziurie ist die Entwicklung einer Nephrokalzinose möglich. jjDiagnose . Abb. 26.25 zeigt das diagnostische Vorgehen bei den aufgeführten klinischen Symptomen, die an eine generalisierte Skeletterkrankung bei Phosphatverlust denken lassen. Bei den phosphorpenischen Rachitisformen zeigen sich eine verminderte Phosphatrückresorption und ein vermindertes Phosphattransportmaximum des tubulären Systems. Die prozentuale tubuläre Phosphatrückresorption (TRP%) berechnet den Anteil des Phosphats im Primärharn, der tubulär rückresorbiert wird. Das tubuläre Maximum der Phosphatrückresorption (TmP/GFR) bezeichnet die renale Phosphatschwelle unterhalb derer alles filtrierte Phosphat tubulär absorbiert wird. Charakteristischerweise liegen bei phosphorpenischen Rachitisformen normale Parathormonserumspiegel vor. Anhand der Beurteilung der Ausscheidung von Aminosäuren, Glukose und Bikarbonat erfolgt die Unterteilung in generalisierte tubuläre Funktionsstörungen (Fanconi-Syndrom) und dem isolierten Phosphatverlust. Hierbei ist noch anhand der Kalziumausscheidung eine assoziierte Hyperkalziurie auszuschließen. Die Untersuchungen des PHEX-Gens ist ebenfalls möglich. j jTherapie Im Vordergrund der Therapie steht die orale Verabreichung von elementarem Phosphor. Ganz wesentlich ist die Verteilung auf 5–6 Einzelgaben über den Tag. Zur Vermeidung eines durch die Phosphatgabe induzierten sekundären Hyperparathyreoidismus und zur Steigerung der intestinalen Phosphatresorption wird die Phosphatsubstitution kombiniert mit aktivem Vitamin  D [1,25(OH)2-D]. Im Falle einer begleitenden Hyperkalziurie bzw. bei unter Therapie auftretender Hyperkalziurie kann zusätzlich Hydrochlorothiazid eingesetzt werden. Hydrochlorothiazid stimuliert die renale Kalziumretention und verbessert damit möglicherweise Kno-

Grundsätzlich dauert die Substitution bis zum Abschluss des Wachstums. In Einzelfällen ist die Fortführung einer Therapie bei erwachsenen Patienten indiziert (z. B. bei Knochenschmerzen). Eine chirurgische Korrektur der Fehlstellungen ist trotz medikamentöser Behandlung in Einzelfällen nicht zu umgehen. Eines der wichtigsten Therapieziele ist das Erreichen einer normalen Wachstumsgeschwindigkeit und Normalisierung der Achsenfehlstellung. Die Aktivität der alkalischen Phosphatase sollte im oberen Normbereich liegen bzw. kann leicht erhöht sein. !! Cave Bei Vitamin-D-Therapie müssen initial engmaschige Kontrollen des Serumkalziumspiegels und der renalen Kalzium­ ausscheidung eine Hyperkalziämie und Hyperkalziurie ausschließen. Dies trifft für alle mit Vitamin D und insbesondere mit aktivem Vitamin D behandelten Krankheitsbilder zu.

26.11.7

Knochenerkrankungen mit Fraktur­ häufungen – Osteopenie, Osteoporose

jjDefinitionen Frakturen treten in der Regel bei außergewöhnlichen Kraftbelastungen auf. Man spricht von pathologischen Frakturen, wenn kein adäquates Trauma vorlag. Bei den pathologischen Frakturen und Spontanfrakturen liegt eine verminderte Festigkeit des Knochengewebes vor. Die verminderte Stabilität kann lokal oder generalisiert vorkommen. Als Osteopenie wird das Stadium bezeichnet, in dem die Knochenmasse reduziert ist, aber noch kein Bruch eingetreten ist. Als Osteoporose bezeichnet man in der Pädiatrie die Erkrankung, die mit niedriger Knochenmasse und mikroarchitektonischer Minderung des Knochengewebes und mit nachfolgend erhöhtem Frakturrisiko einhergeht. In der Regel entstehen diese Krankheitsbilder nicht durch ein reduziertes Mineralangebot, sondern durch 44 eine Störung der Knochengrundsubstanz (Kollagensynthese), 44 Störung der biomechanischen Adaption (Mechanostat, ­Knochenzellen), 44 durch verminderte mechanische Stimulationen (körperliche Inaktivität, Muskelerkrankungen). . Abb. 26.26 zeigt die Regulation der Skelettentwicklung. Die wichtigsten Beispiele für Störungen in dem Regelkreis sind aufgeführt und werden im Folgenden beschrieben. >> Bei allen unklaren Frakturen muss eine Kindesmisshandlung ausgeschlossen werden.

Die Kinder müssen nach weiteren Zeichen äußerer Gewaltanwendung wie Hämatomen untersucht werden. Umfangreichere radiologische Untersuchungen und die Durchführung einer Skelettszintigraphie sind zum Nachweis weiterer z. B. älterer Frakturen gelegentlich notwendig, sollten aber wegen der Strahlenbelastung gegen ­andere bildgebende (MRT) oder genetische Untersuchungsmethoden abgewogen werden.

693 Endokrinologie interdisziplinär

..Abb. 26.26  Regulation der Skelettentwicklung: typische Krankheitsbilder für verschiedene Glieder des Regelkreises

26.11.8

Osteogenesis imperfecta ­(Glasknochenkrankheit)

a

jjÄtiologie Bei den sehr heterogenen Phänotypen liegen unterschiedliche ­Gendefekte zu Grunde (. Tab. 26.17). Für alle Formen dieser osteoporotischen Erkrankung findet sich eine Häufigkeit von etwa 4–10:100.000. jjKlinik Die Osteogenesis imperfecta äußert sich in einer sehr variablen ­klinischen Form mit mehr oder weniger ausgeprägter erhöhter ­Knochenbrüchigkeit. Die Spannbreite reicht vom intrauterinen Tod bis hin zur milden Manifestation im höheren Lebensalter. Die Einteilung der Erkrankung erfolgt nach Sillence in 4 Verlaufsformen nach klinischen Gesichtspunkten. In Ergänzung zu dieser Einteilung wurden anhand von weiteren Symptomen, histologischen und molekulargenetischen Befunden zusätzliche Formen beschrieben. Die klassischen Symptome sind: 44 häufige Frakturen, 44 Skelettdeformitäten, 44 oftmals erhebliche Wachstumsretardierungen. Man findet zusätzliche Schaltknochen der Kalotte und Zahnanomalien (Dentinogenesis imperfecta). Extraskelettäre Zeichen einer generalisierten Bindegewebsschwäche sind Bänderschlaffheit, Neigung zu Hämatomen, blaue Skleren, Myopie, Hernien, kardiovaskuläre Fehlbildungen und eine mittelohrbedingte Schwerhörigkeit, zumeist ab dem mittleren Lebensalter. Als frühes Zeichen bei Neugeborenen kann eine muskuläre Hypotonie auffallen. Die Mutationen im Kollagengen führen zu quantitativen (Kollagensynthese vermindert) und qualitativen (pathologische Kollagenstruktur) Störungen des Skelettsystems. jjDiagnose Radiologisch diagnostiziert man eine generalisiert erhöhte Strah-

lentransparenz des Skeletts im Sinne einer Osteopenie, frische und alte Frakturen mit guter Kallusbildung, Deformitäten von Extremitätenknochen und Wirbelsäule (Kyphoskoliose) sowie der Kalotte

b ..Abb. 26.27  Osteogenesis imperfecta Typ II. Ein 6 Monate alter Säugling mit multiplen Frakturen und Deformierungen

mit Nachweis von Schaltknochen (. Abb. 26.27). Ein charakteristisches Merkmal für eine reduzierte Knochenstabilität sind Sinterungsfrakturen der Wirbelkörper im lateralen Strahlengang. Die Diagnose wird durch klinische und radiologische Befunde gestellt. Elektronenmikroskopische, histologische und molekularbiologische Untersuchungen können die Diagnose bestätigen.

26

694

J. Wölfle et al.

..Tab. 26.17  Modifizierte Klassifikation des Phänotyps der Osteogenesis imperfecta. (Mod. nach Forlino et al. 2014)

26

Name (OI)

Typ

Ursächliches Gen

Vererbungsmodus

Beeinträchtigtes Protein

„Non-deforming OI with blue sclerae”

1

COL1A1

AD

Collagen alpha-1(I) chain

COL1A2

AD

Collagen alpha-2(I) chain

„Perinatally lethal OI“

2

COL1A1

AD

Collagen alpha-1(I) chain

COl1A2

AD

Collagen alpha-2(I) chain

CRTAP

AR

Cartilage-associated protein (CRTAP)

LEPRE1

AR

Prolyl 3-hydroxylase 1 (P3H1)

PPIB

AR

Cyclophilin B (CyPB)

COL1A1

AD

Collagen alpha-1(I) chain

COl1A2

AD

Collagen alpha-2(I) chain

BMP1

AR

Bonemorphogenetic protein 1

CRTAP

AR

Cartilage-associated protein (CRTAP)

FKBP10

AR

Peptidyl-prolyl cis-transisomerase FKBP10

LEPRE1

AR

Prolyl 3-hydroxylase 1 (P3H1)

PLOD2

AR

Procollagen-lysine, 2-oxoglutarate 5-dioxygenase 2

PPIB

AR

Cyclophilin B (CyPB)

SERPINH1

AR

Heat shock protein 47 (HSP47)

TMEM38B

AR

Trimeric intracellular cation channel B (TRIC-B)

WNT1

AR

Wingless-type MMTV integration site family member 1

CREB3L1

AR

Old Astrocyte Specifically induced substance (OASIS)

COL1A1

AD

Collagen alpha-1(I) chain

COL1A2

AD

Collagen alpha-2(I) chain

WNT1

AD

Wingless-type MMTV integration site family member 1

CRTAP

AR

Cartilage-associated protein (CRTAP)

PPIB

AR

Cyclophilin B (CyPB)

SP7

AR

Osterix

PLS3

XL

Plastin 3

„Progressively deforming“

„Common variable OI with normal sclerae“

3

4



5

IFITM5

AD

Interferon-induced transmembrane protein 5



6

SERPINF1

AR

Pigment-epithelium-derived factor (PEDF)

„Unclassified new forms of OI“

?

SPARC

AR

Secreted Protein, Acidic, Cysteine-Rich (SPARC)

?

SEC24D

AR

SEC24 COP-II-Component

?

P4HB

AR

Protein Disulfide Isomerase (PDI)

?

XYLT2

AR

Xylosyltransferase 2 (XYLT)

OI Osteogenesis imperfecta, AD autosomal-dominant, AR autosomal-rezessiv

j jTherapie Die interdisziplinäre Behandlung beinhaltet neben orthopädischen Maßnahmen zur Frakturversorgung und Behandlung von Deformierungen und einer kontinuierlichen Aktivierung der Muskulatur durch physiotherapeutische Maßnahmen, eine medikamentöse, antiresorptive Therapie. Die i.v.-Gabe von Bisphosphonaten zur Steigerung der Knochenmasse, Reduktion von Frakturen und Verbesserung von Skelettschmerzen im Rahmen individueller Heilversuche, zeigt gute Erfolge (. Abb. 26.28). Die fehlende Zulassung der Medi-

kamente im Kindesalter und die geringen Langzeiterfahrungen müssen beachtet und mit den Familien besprochen werden. !! Cave Bei schweren Verlaufsformen sind antiresorptive Medika­ mente und operative Maßnahmen, neben einer kontinuier­ lichen Physiotherapie etablierte Maßnahmen. Zu vermeiden sind langfristige Immobilisierungen, die zusätzlich zur Inak­ tivitätsosteoporose und muskulären Hypotonie führen.

695 Endokrinologie interdisziplinär

..Abb. 26.28  Abgeflachte Wirbelkörper und Keilwirbel bei deutlicher Transparenzminderung. Nach 9-monatiger Behandlung mit Bisphosphonaten zeigt sich eine Zu­ nahme von Wirbelkörperhöhen und Knochendichte sowie eine Aufrichtung des Keilwirbels

26.11.9

Osteopetrose ­ (Albers-Schönberg-Krankheit)

jjPathophysiologie Die Osteopetrose ist ein seltenes Krankheitsbild aus der Gruppe der sklerosierenden Osteochondrodysplasien. Genaue Zahlen zur Prävalenz liegen nicht vor. Es werden 4 Formen unterschieden, die autosomal-rezessiv (schwerere Formen) oder autosomal-dominant (leichtere Formen) vererbt werden. Die Verdickungen des Knochens (Hyperostose) und verstärkte Mineralisation (Osteosklerose) wird durch einen funktionellen ­Defekt der in normaler Zahl vorhandenen Osteoklasten verursacht. Dies führt zu einer Störung des Knochenumbaus (Remodeling), bei dem Osteoklasten und Osteoblasten für den ständigen Umbau der Knochenstrukturen verantwortlich sind. Bedingt durch die Osteoklastenschwäche entsteht eine „Anhäufung“ von Knochensubstanz. Aufgrund der Tatsache, dass Osteoklasten von Makrophagen abstammen, zeigt sich auch eine Störung der Makrophagenfunk­ tion mit erhöhter Infektanfälligkeit. Durch den verminderten Knochenabbau wird die Markhöhle zunehmend durchbaut mit der Folge einer verminderten Blutbildung. Die Einengung der Foramina der Hirnnerven im Schädelbasisbereich kann zu entsprechenden neurologischen Komplikationen führen. Insbesondere können Störung des N. opticus und des N. acusticus auftreten. jjDiagnose Radiologisch imponiert die Osteosklerose mit nicht abgrenzbarer Markhöhle, Aufweitung und horizontaler Streifenzeichnung der Metaphysen der langen Röhrenknochen sowie betonten Deck- und Grundplatten der Wirbelkörper (. Abb. 26.29). Laborchemisch ­fallen niedrig normale Spiegel von Kalzium und Phosphat im Serum bei erhöhtem Parathormon und 1,25(OH)2-Vitamin D auf. Osteoblastenmarker (knochenspezifische alkalische Phosphatase, Osteokalzin) sind normwertig. Osteoklastenmarker wie das knochenspezifische Isoenzym der sauren Phosphatase sind erniedrigt. jjKlinik Die weitaus häufigste Form ist die Osteopetrosis tarda und verläuft oft asymptomatisch und wird meist zufällig radiologisch bei erhöh-

..Abb. 26.29  Unterschenkel bei generalisierter Osteosklerose. (Mit freundl. Genehmigung von Prof. Kemperdick, Radiologisches Institut der Universität Düsseldorf )

ter Knochendichte entdeckt. Symptome können Anämie (30%), verstärkte Kariesanfälligkeit und erhöhte Knochenbrüchigkeit sein. Seltener tritt die „kongenitale“ oder „maligne“ Osteopetrose auf, die sich postpartal zusätzlich durch Hepatosplenomegalie, Panzytopenie, Lymphknotenschwellung, Zahnanomalien, Hirnnervenausfälle, Hydrocephalus internus und Infektanfälligkeit oder auch in einer Totgeburt äußern kann. Die Fazies der Patienten ist durch

26

696

26

J. Wölfle et al.

­ akrozephalie, prominente Stirn, Hypertelorismus, Ptosis und StraM bismus typisch verändert. Eine intermediäre Form und eine Form mit renaler und zerebraler Beteiligung treten seltener auf. Weitere Komplikationen sind Hirnnervenausfälle wie Fazialisparese, Schädigung des N. acusticus mit Ertaubung und Optikusatrophie mit ­konsekutiver Erblindung. j jTherapie Leichte Formen werden symptomatisch mit Transfusionen, Antibiotika und Osteosynthese bei Frakturen therapiert. Für schwere Formen gilt inzwischen die frühzeitige Knochenmarktransplantation als Mittel der Wahl, die in manchen Fällen eine vollständige Heilung herbeiführt. Die Lebenserwartung der kongenitalen Form ist ohne intensive Therapie durch Anämie, Blutungen oder Infektion deutlich eingeschränkt (> Eine Therapie der idiopathischen juvenilen Osteoporose sollte nur in besonders schweren Fällen erwogen werden, da nach Abschluss der Pubertät häufig eine Spontanremission eintritt. Wenn nötig erfolgt sie analog der Therapie der Osteogenesis imperfecta.

Standardisierte Therapien gibt es nicht. Eine antiresorptive Therapie kann wie bei der Osteogenesis imperfecta durchgeführt werden und es sollte auf eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D und ­Kalzium geachtet werden. Die Schaffung eines osteoanabolen Stimulus über die Aktivierung der Muskulatur spielt die zentrale Rolle im Therapieregime.

..Abb. 26.30  Seitliche Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule bei einem 12-Jährigen mit Rückenschmerzen und mehrfachen Frakturen langer Röhrenknochen: typische Fischwirbelkörper im Sinne einer ausgeprägten Osteoporose ..Tab. 26.18  Sekundäre Ursachen der juvenilen Osteoporose Endokrine Störungen

Cushing-Syndrom Thyreotoxikose Diabetes mellitus Hypogonadismus Kortikoidtherapie

Gastrointestinale Störungen

Hepatitis Malabsorption Gallengangsatresie

Stoffwechsel­ erkrankungen

Glykogenose Homozystinurie Lysinurische Proteinintoleranz Tyrosinämie Osteogenesis imperfecta Typ I

Andere Störungen

Leukämien Immobilisation Anorexia nervosa Therapie mit Antikonvulsiva Zyanotische Herzfehler

26.11.11

Inaktivitätsosteoporose

Hierbei handelt es sich um die häufigste Ursache für eine Osteoporose im Kindes- und Jugendalter. In der Übersicht sind die wesentlichen Krankheitsbilder, die zur Inaktivierung des Skelettsystems führen, aufgelistet. Besonders bedeutsam sind langfristige Immobilisation durch Bettlägerigkeit wie z. B. bei neurologischen Krankheitsbildern. Die unzureichende Entwicklung der Muskulatur bzw. Störungen des Muskeltonus sind verantwortlich für eine vermin­ derte Stimulation des Skelettsystems. Bei akuten Krankheits­ bildern führt dies zum vermehrten Knochenabbau und bei chro­ nischen Krankheitsbildern zu einem unzureichenden Aufbau des Skelettsystems. Die biomechanische Stimulation stellt das wichtigste Steuerungssystem für das Skelettsystem dar. Bei fehlender Muskelaktivität existieren auch keine therapeutischen Möglichkeiten wie

26

697 Endokrinologie interdisziplinär

..Abb. 26.31  Sonographie bei Nephrokalzinose bei einem Patienten mit Hypoparathyreoidismus. Der Patient wurde seit einem halben Jahr mit 1,25-(OH)2-Vitamin-D bei ausgeprägter Hypokalzämie behandelt. In der ­Folge stellte sich eine Hyperkalzämie mit den klinischen Symptomen einer Hypertonie und Polyurie ein. Im Rahmen der ­Hyperkalzämie und Hyper­ kalziurie entwickelte sich die dargestellte N ­ ephrokalzinose. Die Darstellung zeigt die Schallresonanzphänomene bei Kalkablagerung im Bereich des Nierenmarks und der Rindenmarkgrenze. Die echodichten Strukturen mit einer dorsalen Schallauflösung sind als ­typische Veränderungen der ­Nephrokalzinose vorhanden

z. B. Hormone zur Modellierung des Regelkreises. Im Vordergrund steht die Behandlung der Grunderkrankung und physikalische ­Therapie (Krankengymnastik).

Von den genitalen Fehlbildungen abzugrenzen sind die sehr ­heterogenen Gruppe der DSD („disorders of sexual development“; 7 Abschn. 7.7) bei denen es zu einer fehlenden Übereinstimmung von chromosomalem, gonadalem und phänotypischem Geschlecht kommt. Das Leitsymptom genitaler Fehlbildungen ist die primäre ­Amenorrhö, die mit oder ohne Schmerzen einhergehen kann. Als weitere Symptome finden sich: Schwierigkeiten bei der Nutzen­ von Tampons (erschwertes Einführen bzw. Entfernen) oder­ auch Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Aus diesem Grund ­werden genitalen Fehlbildungen häufig erst in der Pubertät diagnostiziert. Als Unterscheidung von ovariellen also hormonellen Gründen der primären Amenorrhö findet sich bei genitalen Fehlbildungen meist ein bisher unauffälliger Pubertätsverlauf mit zeitgerechtem Beginn von Brustwachstum, Pubesbehaarung und normalem Längenwachstum. Deshalb ist es für die Diagnostik wichtig sich immer wieder die Meilensteine der Pubertätsentwicklung zu vergegenwärtigen: Als Faustregel gilt, dass ca. nach 2,5–3 Jahren nach Beginn der Thelarche die Menarche einsetzt. Die normale embryonale Entwicklung des inneren Genitals wird in 7 Abschn. 7.7 beschrieben (. Abb. 26.32). Für das äußere Genital liegt ein Indifferenzstadium vor. Es bilden sich primär zwei innenliegende Genitalfalten, zwei Geschlechtswülste (Labiosakralwülste) und mittig ein unpaarer Genitalhöcker (Genitaltuberkulum). Die Genitalfalten umschließen die Öffnung des Sinus urogenitals. Bei Abwesenheit von Androgenen bildet sich aus den Geschlechtsfalten die Labia minora, aus den Geschlechtswülsten die Labia majora und aus dem Geschlechtshöcker die Klitoris (Schwellkörper). Der Sinus urogenitalis bildet die Harnröhre mit Harnblase und den unteren Anteil der Scheide sowie die Bartholini-Drüsen (Glandula vestibu-

Ursachen der Inaktivitätsosteoporose 55Muskelerkrankungen –– Z. B. Muskeldystrophie Duchenne –– Dermatomyositis 55Nervenerkrankungen –– Z. B. konnatale Paresen –– Spinale Muskelatrophie 55Bewegungsmangel –– Immobilisation bei Bettlägerigkeit –– Immobilisation nach Frakturen –– Übermäßiger Medienkonsum

Niere Ureter

Ovar Lig.suspensorium ovarii

26.12

Fehlbildungen der Genitalorgane

Paroophoron Tuba uterina Gartner-Gang

Uterus

P.G. Oppelt jjAllgemeines Weibliche genitale Fehlbildungen sind angeborene Malformationen des inneren und/oder äußeren Genitals deren Ursachen bisher weitgehend ungeklärt sind. Genitale Fehlbildungen beruhen auf einer Hemmungsfehlbildung der Müller-Gänge in der Embryonalzeit. Je nach Zeitpunkt und Ausmaß kommt es zu unterschiedlichen Ausprägungsgraden der Fehlentwicklung. Fehlbildungen des weiblichen Genitaltrakts sind häufig mit Fehlbildungen des Nierentrakts assoziiert. Die Prävalenz wird in der weiblichen Gesamtbevölkerung mit 0,1–5% angegeben, bei Frauen mit Infertilität/Sterilität liegt die Zahl deutlich höher bei 3,5–6,5%.

Harnblase Urethra Klitoris Labium minus Labium majus

Lig.ovarium proprium Leistenkanal Lig.teres uteri Vagina Ostium vaginae

..Abb. 26.32  Embryonale Entwicklung des weiblichen Genitals. rot ­Müller-Gänge

698

26

J. Wölfle et al.

laris major). Die Gänge der Harnröhre und der Vagina trennen sich und enden in das Vestibulum vaginae. Die Diagnosefindung genitaler Auffälligkeiten erfordert nur wenig Diagnostik. Eine ausführliche Anamnese v. a. des bisherigen Pubertätsverlaufs, die körperliche Untersuchung mit Festlegung der Tanner-Stadien (. Abb. 26.6) sowie die Inspektion des äußeren Genitals mit Beurteilung von Mons pubis, Leiste, Labia majora und minora, Harnröhre, Hymen und Introitus vaginae und die Sonographie von abdominal bei gefüllter Blase reichen häufig selbst für die Diagnostik komplexer Fehlbildungen aus. Selten muss ein MRT des kleinen Beckens angefertigt werden. Als Untersuchungstechnik des äußeren Genitals dient die Separations- (Spreizen der Labien) und Traktionsmethode (Zug an den großen Labien) da sie eine optimale Beurteilung der Vulva und des Vestibulums ermöglichen. Die Traktionsmethode, v. a. bei entspannter Patientin, erlaubt einen guten Einblick in die distale, z. T. auch in die proximale Vagina. 26.12.1

a

Fehlbildungen des Hymens

Hymen (syn. Jungfernhäutchen) bezeichnet eine Hautfalte die die Vaginalöffnung teilweise überdeckt. Die Beschaffenheit ist abhängig vom Östrogenisierungsgrad. Im östrogensisierten Zustand ist das Hymen sukkulent und weich, in der hormonellen Ruhephase ist es rigide und straff. Die Berührung des Hymens in der hormonellen Ruhephase ist extrem schmerzhaft. Dies sollte bei der Untersuchung Beachtung finden. Die Größe und Form des Hymens unterscheidet sich sehr stark und es existiert eine Vielfalt an Normvarianten ohne Krankheitswert. Wesentlich für die Beurteilung von Fehlbildungen des Hymen ist, ob der Zugang zu Scheide besteht, ob der Zugang verengt ist, ob Menstruationsblut abfließen kann und ob Geschlechtsverkehr möglich ist.

Hymenalseptum j jLeitsymptom Schwierigkeiten beim Tamponentfernen oder Schmerzen mit ­Blutung beim ersten Geschlechtsverkehr bzw. Unvermögen von Geschlechtsverkehr.

b ..Abb. 26.33 Hymenalseptum. a Darstellung nach Separations- und Trak­ tionsmethode. b Darstellung mit Tupfer. [Aus: Oppelt PG, Dörr HG (2014) Kinder- und Jugendgynäkologie. Thieme, Stuttgart, mit freundl. Genehmigung]

werden. Auch in diesem Fall wird für ca. 14 Tage estriolhaltige Creme gegeben. >> Operative Eingriffe bei Hymenalfehlbildungen sollten im gut östrogenisiertem Zustand, also frühestens ein Jahr nach Einsetzen der Thelarche durchgeführt werden.

Das Hymenalseptum ist mit keiner höher gelegenen Fehlbildung assoziiert.

Hymenalatresie

j jKlinik Der Scheideneingang ist durch einen häutigen Steg unterteilt. Die Septen verlaufen häufig längs, unterteilen den Scheideneingang­ aber nicht immer symmetrisch. Das Einführen von Tampons gelingt häufig, da das Septum zur Seite weicht.

jjLeitsymptom Primäre Amenorrhö teilweise mit Angabe von Unterbauchschmerzen bei völlig normalem Pubertätsverlauf oder Mukokolpos beim Neugeborenen. Letzteres meint die Vorwölbung des häutigen Verschlusses durch den vorhandenen Schleim in der Scheide.

j jDiagnostik Darstellung des äußeren Genitals mit Separations- und Traktionsmethode, sodass sich meist der Introitus vaginae entfalltet und ein Septum gut sichtbar ist (. Abb. 26.33a). Zur besseren Darstellung kann ein Septum auch mit einem Stieltupfer „aufgefädelt“ werden (. Abb. 26.33b). Letzteres sollte aber nur im östrogenisiertem Zustand durchgeführt werden, da dies in der hormonellen Ruhephase schmerzhaft sein kann.

jjKlinik Kompletter, häutiger Verschluss der Scheidenöffnung. Häufigste Verschlussstörung bei normaler Uterus und Vaginalanlage. Es findet sich je nach Ausmaß des Blutaufstaus ein Hämatokolpos (blutge­ füllte Scheide), eine Hämatometra (Aufstau in die Gebärmutter), eine Hämatosalpinx (Aufstau in die Eileiter) oder auch Blut im ­Douglas-Raum. Während sich der Hämatokolpos nach Eröffnung komplett zurückbildet, kann der Blutaufstau in den Tuben oder des kleinen Beckens zu Verwachsungen mit daraus resultierender ­Sterilität ­führen.

jjTherapie Je nach Lage und Symptomen sollte das Hymenalseptum entfernt werden. Dies geschieht durch operative Exzision des Septum. Postoperativ sollte für ca. 14 Tage eine estriolhaltige Creme auf die Wundräder gegeben werden. Je nach Ansatz des Septums kann auch nach Abbinden der Durchtrennungsstelle das Septum mit einem Scherenschlag, nach Gabe eines Lokalanästhetikums, abgetrennt

jjDiagnostik Bei sonst unauffälligem äußerem Genital, zeigt sich unter der Separations- und Traktionsmethode eine dünn ausgezogene Membran, die den gesamten Scheideneingang verschließt und sich bläulich-­ livide vorwölbt (. Abb. 26.34).

699 Endokrinologie interdisziplinär

..Abb. 26.34  Hymenalatresie eines 15-jährigen Mädchens. [Aus: Oppelt PG, Dörr HG (2014) Kinder- und Jugendgynäkologie. Thieme, Stuttgart, mit freundl. Genehmigung]

Im abdominellen Ultraschall zeigt sich ein Hämatokolpos, ggfs. auch eine Hämatometra, Hämatosalpinx und/oder freie Flüssigkeit im Douglasraum. jjTherapie Da ein verschlossenes Hymen bis zum Einsetzen der Menarche keinen Krankheitswert hat, sollte eine Eröffnung auch wegen der besseren Wundheilung immer erst im östrogenisiertem Zustand (nach Beginn Thelarche) durchgeführt werden. Als Technik empfiehlt sich das halbmondförmige Ausschneiden des Verschlusses. Zur Wundheilung empfiehlt sich die Gabe von estriolhaltiger Creme auf die Wundränder einmal täglich bis zu 14 Tage post­ operativ. >> Auch die Hymenalatresie ist mit keiner höher gelegenen Fehlbildung assoziiert.

26.12.2

Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-­ Syndrom (MRKH-Syndrom)

jjLeitsymptom Primäre Amenorrhö bei sonst unauffälligem Pubertätsverlauf. jjKlinik Die Verschmelzung der Müller-Gänge bleibt aus (Hemmungsfehlbildung), somit werden die Hohlorgane Uterus, Cervix und Scheide nicht ausgebildet. Das MRKH-Syndrom tritt bei 1:4.500 weiblichen Lebendgeburten auf. Die Ovarien sind beim typischen MRKH-Syndrom voll funktionsfähig, weshalb die Pubertätsentwicklung unauffällig ist. Es liegt ein unauffälliger weiblicher Karyotyp (46,XX) vor. >> Das MRKH-Syndrom ist in bis zu 40% der Fälle mit Malformationen der Nieren- oder Harnwege assoziiert. Zu diesen Malformationen zählen z. B. Nierenagenesien oder auch die Beckenniere.

Daneben finden sich in 20–30% Fehlbildungen des Skelettsystems und seltener des Herz-Kreislauf-Systems oder des ZNS. Beim atypischen MRKH-Syndrom finden sich auch Veränderungen der Eierstöcke und/oder der Eileiter. Die wichtigste Differenzialdiagnose zum MRKH-Syndrom ist die komplette Androgenresistenz (CAIS; 7 Abschn. 7.7.2), eine Stö-

..Abb. 26.35  Inspektion des äußeren Genitals beim MRKH-Syndrom

rung des sexuellen Differenzierung. Aufgrund eines kompletten Androgenrezeptordefekts kommt es trotz männlichen Karyotyp zur weiblichen Ausbildung des äußeren Genitals mit Aplasie von Uterus, Cervix und Scheide. jjDiagnostik Das äußere Genital erscheint auf den ersten Blick bei Inspektion unauffällig. Erst bei Separation und Traktion fällt auf dass sich das Hymen in den meisten Fällen „nicht entfaltet“ und kein Scheideneingang zu sehen ist (. Abb. 26.35). In einigen Fällen ist ein kleines blind endendes Scheidengrübchen vorhanden. Im Ultraschall lässt sich kein altersentsprechender Uterus darstellen. In einigen Fällen kann sich eine rudimentäre Uterusanlage darstellen. Die Ovarien sind regelgerecht darstellbar. Zum Ausschluss von assoziierten Nierenfehlbildungen sollte immer ein Ultraschall der Nieren erfolgen. Die weiterführende Diagnostik richtet sich je nach Verdacht auf assoziierte Malformationen. >> Die Diagnose des MRKH-Syndroms kann trotz der Komplexität der Fehlbildung allein durch die Kombination aus Anamnese der Pubertätsentwicklung, der klinischer Untersuchung (Inspektion) und des abdominalem Ultraschalls des kleinen Beckens gestellt werden.

jjTherapie Für die Möglichkeit der Kohabitation ist beim MRKH-Syndrom und meist auch bei der kompletten Androgenresistenz (7 Abschn. 7.7.2) die Anlage einer Neovagina erforderlich. Als Methoden stehen das nichtoperative Dehnungsverfahren nach Frank und die operativen Rekonstruktionsverfahren mit oder ohne Verwendung von Transplantaten zur Verfügung. Beim konservativen Dehnungsverfahren nach Frank wird das Scheidengrübchen mehrmals täglich mit Hütchen/Dilatatoren gedehnt. Diese Verfahren setzt eine hohe Motivation der Patientin voraus, ist häufig schmerzhaft, langwierig und belastend, zusätzlich besteht hier das Risiko eines Scheidenprolapses. Bei den operativen Verfahren zur Bildung einer Neovagina gibt es zahlreiche Methoden. In Deutschland hat sich in den letzten ­Jahren die laparoskopisch assistierte Neovaginaanlage modifiziert nach Vecchietti durchgesetzt. Diese Methode stellt ein operatives Dehnungsverfahren dar. Daneben ist ein sensibler Punkt der Betroffenen die Frage nach Erfüllung des Kinderwunsches. Da die Patientinnen aber funktionsfähige Ovarien mit einem normalen Follikelpool besitzen, besteht

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J. Wölfle et al.

generell die Möglichkeiten auf genetisch eigene Nachkommen durch eine Leihmutterschaft, diese ist in Deutschland verboten, sodass in Deutschland aktuell nur die Adoption bleibt. 26.13

Zyklusstörungen

Wegen Menstruationsstörungen suchen bis zu 75% aller Mädchen einen Arzt auf. In diesem Kapitel soll auf praxisrelevante Zyklusstörungen und deren Therapie eingegangen werden. Das mittlere Alter, in dem die Menarche einsetzt, beträgt in Deutschland aktuell 12,2 Jahre. Die Menarche tritt ca. 2½ Jahre nach Beginn der Thelarche auf. Mädchen empfinden die Menstruation einerseits als Geschenk, welches ein Gefühl der Unversehrtheit und Intaktheit vermittelt, und sehen sie als Symbol von Fruchtbarkeit und weiblicher Gesundheit. Andererseits erleben Mädchen die ­Monatsblutungen auch als Hygienekrise, Einschränkung der sexu­ ellen Attraktivität und Bewegungsfreiheit. Von einer normalen Zyklus­länge spricht man, wenn die Blutungsabstände zwischen 25 und 33 Tage betragen. Zyklusstörungen bei Jugendlichen unterscheiden sich nicht von denen im Erwachsenenalter. Die Blutungsstörungen werden eingeteilt in Amenorrhö (primär und sekundär), Regeltempostörungen (Oligomenorrhö und Polymenorrhö), Regeltypusstörungen (Hypermenorrhö und Hypomenorrhö), Zusatzblutungen, Dauerblutungen und die Dysmenorrhö (primär und sekundär). Lediglich die pri­ märe Amenorrhö (Fehlbildung als Ursache: 7 Abschn. 7.11) und die juvenile Dauerblutung (7 Abschn. 7.12.1) sind typische Zyklus­ störungen des jugendlichen Mädchens. In den ersten 2 Jahren nach der Menarche sind unregelmäßige Blutungen physiologisch, dahinter verbergen sich häufig anovulatorische Zyklen. Eine Diagnostik von Blutungsstörungen vor Ablauf von 3 Jahren nach Beginn der Menarche empfiehlt sich deshalb nur bei sich entwickelten Androgenisierungszeichen (Akne, Hirsutismus). In diesem Fall sollte auf eine Hyperandrogenämie abgeklärt werden. 26.13.1

Juvenile Dauerblutung

j jLeitsymptom Unter einer juvenilen Dauerblutung versteht man eine zyklusunabhängige, anhaltende Blutung in der Adoleszenz, häufig tritt diese in den ersten beiden Jahren nach Eintritt der Menarche auf. Eine Anovulation mit Follikelpersistenz ist die häufigste Ursache der juvenilen Dauerblutung, die dysfunktionelle juvenilen Dauerblutung. Ansonsten muss auch an eine Hämophilie gedacht werden. Im Falle einer anovulatorischen Dauerblutung kommt es zu einer Östrogendominanz mit Überproliferation des Endometriums und aufgrund der nicht vorhandenen Gestagenwirkung (ohne Ovulation keine Gestagenbildung) bleibt die sekretorische Transformation des Endometriums aus. Die Mädchen entwickeln rasch eine Anämie und fallen durch Müdigkeit und Leistungsminderung auf. j jDiagnostik 44 Anamnese (v. a. vorangegangene Blutungsneigung, Zyklus­ anamnese), 44 Schwangerschaftstest, 44 Inspektion äußeres Genital u. a auch zum Ausschluss von genitalen Verletzungen, 44 Sonographie abdominal (falls Geschlechtsverkehr erfolgt von vaginal): Endometriumsdicke!!!

44 Blutentnahme: 55BB, Ferritin, Gerinnungsscreening bei V. a. Blutungs­ neigung, 55primär keine Hormonbasisdiagnostik notwendig. 44 Spekulumuntersuchung nur nötig, falls die sonstigen Unter­ suchungen keine aussagekräftige Ursache erbringen. jjTherapie Die Therapie sieht zum einen den Blutungsstopp und zum anderen die Behandlung der Anämie vor. Die Therapie der Dauerblutung ist primär abhängig von der Endometriumsdicke, somit ist die Ultraschalluntersuchung das wichtigste Diagnostikum. Bei flachem Endometrium wird mit einer Estrogenmonotherapie (z. B. Estradiolvalerat 2 mg) für 10 Tage gefolgt von einer Kombinationstherapie (Östrogen-Gestagen-Kombination) von mindestens 12 Tagen therapiert. Bei hochaufgebautem Endometrium ist die Monotherapie mit Gestagenen (z. B. Dydrogesteron 10 mg oder Chlormadinonacetat 2 mg) indiziert. Sollte die Dauerblutung schon länger bestehen, so empfiehlt sich auch bei hochaufgebauten Endometrium die primäre Behandlung mit einer Kombinationstherapie (z. B. Estradioldvalerat + Dienogest). Bei bestehender Hämophilie muss eine kausale Therapie zusammen mit den Hämostaseologen festgelegt werden. Kommt es auch hierunter nicht zum erwünschten Erfolg, kann zusätzlich Tranexamsäure gegeben werden. In absoluten Ausnahmefällt kommt es trotz eingeleiteter hormoneller Therapie nicht zum Blutungsstopp, in diesem Fall muss eine Hysteroskopie mit Abrasio durchgeführt werden. Eine weiterführende Therapie nach erfolgreicher Behandlung ist abhängig 1. vom Ausmaß der Anämie: besteht eine ausgeprägte Anämie würde sich die Weiterführung kombinierten Hormontherapie oder eines kombinierten Kontrazeptivums anbieten. Besteht keine ausgeprägte Anämie muss die initiale Therapie nicht fortgesetzt werden. 2. Von einer bestehender Hämophilie: bei bestehender Hämophilie bieten sich am ehesten kombinierte Kontrazeptiva an, die kontinuierlich (im Langzyklus) gegeben werden sollten. Besteht keine ausgeprägte Anämie oder ist keine Hämophilie bekannt, so muss nicht zwingende eine fortbestehende Hormontherapie eingeleitet werden. Die Therapie der Anämie wird mit den üblichen Eisenpräparaten primär oral bis zur Normalisierung des Hb-Werts durchgeführt. 26.13.2

Dysmenorrhö

Die Dysmenorrhö ist definiert als Unterbauchschmerzen während der Menstruation, die nicht selten kolikartig ablaufen. Zusätzlich kommt es häufig zu Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Kopfschmerzen oder Migräneattacken und auch psychovegetativen Beschwerden wie Niedergeschlagenheit. Nicht selten sind die Beschwerden so massiv, dass die Betroffenen im Alltag eingeschränkt sind und somit in der Schule fehlen oder nicht am Sportunterricht teilnehmen können. Die Dysmenorrhö ist die häufigste gynäkologische Erkrankung von Jugendlichen, aber lediglich 15% der betroffenen Mädchen ­konsultieren aufgrund der Schmerzen einen Arzt. Ein Großteil der betroffenen Jugendlichen wird erst durch die Anamnese, also das aktive danach fragen, diagnostiziert. Lediglich ⅓ der Mädchen mit Dysmenorrhö nutzen vor Erstdiagnose durch den Arzt ein Schmerzmittel. Es scheint in den Köpfen der Betroffenen, wie auch deren

701 Endokrinologie interdisziplinär

Mütter, die Meinung vor zu herrschen: Schmerzen, egal wie stark, gehören zur Regelblutung dazu. Unterschieden wird die primäre Dysmenorrhö, ohne organische Ursachen und ab Menarche bestehend, von der sekundären Dysmenorrhö mit organischen Ursachen wie z. B. Myome oder Endometriose. Die Inzidenz der Dysmenorrhö durch Endometriose scheint bei Jugendlichen wesentlich höher zu sein, als von uns Ärzten angenommen. Endometriose ist eine gutartige Erkrankung, bei der sich ­Gebärmutterschleimhaut (Endometrium) an den Eierstöcken, Eileitern, Darm, Blase und/oder dem Bauchfell ansiedelt. Als typisches Symptom kommt es zu Unterbauchschmerzen anfangs zyklisch während der Regelblutung. Langfristig leiden die Patientinnen aber auch an Unterbauchschmerzen außerhalb der Blutung. Daneben finden sich Schmerzen beim Wasserlassen, Stuhlgang und Geschlechtsverkehr. Die Erkrankung geht mit hohem Lebensqualitätsverlust einher und nicht selten können die Betroffenen nicht am Schul- und/oder Berufsleben teilnehmen. Einige Frauen werden erst aufgrund einer Sterilitätsproblematik diagnostiziert. jjLeitsymptom Symptome, die für eine Endometriose bei Jugendlichen sprechen, unterscheiden sich teilweise von denen bei Erwachsenen und sind: 44 nichtzyklische Unterbauchschmerzen, 44 schwere Dysmenorrhö, 44 Einfluss der Symptome auf das Fehlen in der Schule oder ­generell auf das Alltagsleben, 44 Nichtansprechen auf nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAR) oder kombinierte orale Kontrazeptiva, 44 Dyschezie während Menstruation, 44 Darmkrämpfe, 44 Blasenschmerzen, 44 Depression und Angstzustände. jjDiagnostik Der Goldstandard für die Diagnostik ist die Laparoskopie mit Gewinnung einer Histologie, diese Tatsache erschwert die Diagnose. Per Palpation können bei ausgeprägter Endometriose Knötchen bzw. Verhärtungen im kleinen Becken getastet werden. Bei ovarieller ­Endometriose können per Ultraschall Endometriosezysten dargestellt werden. Bei Mädchen mit Dysmenorrhö sollte eine gynäkologische ­Untersuchung mit Inspektion, ggf. Spekulum, Palpation und Ultraschall durchgeführt werden. jjTherapie Unabhängig ob von einer primären oder sekundären Dysmenorrhö aufgrund von Endometriose ausgegangen wird empfiehlt sich nachfolgendes Schema: 1. Bei milden Beschwerden sollte eine Einstellung oder auch ­Optimierung mit Schmerzmitteln v. a. NSAR (z. B. Ibuprofen) gewichtsadaptiert erfolgen. Wichtig ist es, diese Schmerzmittel an den Tagen der Beschwerden so früh wie möglich zu beginnen und an diesen Tagen kontinuierlich zu verabreichen. 2. Bei stärkeren Beschwerden oder ausbleibendem Erfolg mit Schmerzmitteln, ist die Gabe von kombinierten oralen Kontrazeptiva indiziert. Zur Therapie der Dysmenorrhö eignen sich besonders Präparate mit den Gestagenen Dienogest, Chlormadinonacetat oder Drospirenon, aber auch Präparate mit Levonorgestrel haben einen Einfluss auf die Dysmenorrhö. Natürlich sollte zuvor das Thromboserisiko abgeschätzt und hiernach verordnet werden. Die erste Kontrolle sollte nach 3 Monaten

erfolgen. Bei Besserung ohne komplette Beschwerdefreiheit empfiehlt sich, frühestens nach 3, besser nach 6 Monaten, die kontinuierliche Gabe des Kombinationspräparats, um eine ­Blutung zu unterdrücken oder eine Umstellung auf ein anderes Gestagen. 3. Sollte es hiermit erneut zu keiner Besserung kommen, empfiehlt sich die Laparoskopie zur Diagnose einer Endometriose und gleichzeitiger Entfernung von Endometrioseherden. Postoperativ kann prophylaktisch ein kombiniertes Kontrazeptivum zur Prophylaxe indiziert sein. Bei Anwendung dieses Schemas können unnötige operative Ein­ griffe verhindert werden. Nach einem Review 2013 hierzu konnte bei Mädchen, die bei therapierefraktären chronischen Unterbauchschmerzen laparoskopiert worden waren, bei 75% eine Endometriose gesehen und entfernt werden. Wurden Mädchen lediglich ­aufgrund einer Dysmenorrhö laparoskopiert, wurde nur noch bei 49% eine Endometriose diagnostiziert.

26

703

Interdisziplinäre Pädiatrie Inhaltsverzeichnis Kapitel 27

Orthopädie – 705 F. Thielemann

Kapitel 28

Ophthalmologie – 729 F. Grehn, W.E. Lieb, H. Steffen

Kapitel 29

Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie – 759 R. Lang-Roth, M. Dübbers

Kapitel 30

Dermatologie – 777 M. Meurer, R. Aschoff, M. Gahr

Kapitel 31

Zahnmedizin – 799 G. Krastl, A. Stellzig-Eisenhauer

XIII

705

Orthopädie F. Thielemann

27.1

Obere Extremität  – 707

27.1.1 Subluxation des Radiusköpfchens ­(Chassaignac)  – 707

27.2

Wirbelsäule  – 707

27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.2.4 27.2.5

Haltungsschwäche  – 707 Idiopathische Skoliose  – 707 Säuglingsskoliose  – 708 Muskulärer Schiefhals (Tortikollis)  – 709 Spondylolisthesis, Spondylolyse  – 709

27.2.6 M. Scheuermann  – 710

27.3

Hüfte  – 711

27.3.1 27.3.2 27.3.3 27.3.4

Coxitis fugax  – 711 Hüftreifungsstörungen, Hüftgelenk­dysplasie und Hüftgelenkluxation  – 711 Morbus Perthes  – 714 Epiphyseolysis capitis femoris (Ecf )  – 714

27.4

Knie und Unterschenkel  – 715

27.4.1 27.4.2 27.4.3 27.4.4 27.4.5

Wachstumsschmerz  – 715 Vorderer Knieschmerz  – 716 Patellaluxation  – 716 Morbus Osgood-Schlatter  – 717 Osteochondrosis dissecans ­des Kniegelenks  – 717

27.5

Fuß  – 718

27.5.1 27.5.2 27.5.3 27.5.4 27.5.5

Kindlicher Knick-Senk-Fuß  – 718 Sichelfuß  – 719 Kongenitaler Klumpfuß  – 719 Kongenitaler Plattfuß  – 720 Hohlfuß  – 721

27.6

Achsen-, Längen- und Torsionsprobleme  – 721

27.6.1 Idiopathische Coxa antetorta  – 721 27.6.2 Beinachsenfehlstellung  – 722 27.6.3 Beinlängendifferenz  – 722

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_27

27

27.7

Angeborene Systemerkrankungen ­des Skeletts  – 724

27.7.1 Osteochondrodysplasien  – 724 27.7.2 Dysostosen  – 724

27.8

Angeborene Fehlbildungen  – 724

27.9

Tumoren  – 725

27.9.1 Gutartige Knochentumoren  – 725 27.9.2 Bösartige Knochentumoren  – 726

707 Orthopädie

27.1

Obere Extremität

27.1.1

Subluxation des Radiusköpfchens ­(Chassaignac)

Erfolgt ein abrupter Zug am gestreckten Arm, kann beim Kleinkind das Radiusköpfchen subluxieren, und das Lig. anulare zwischen ­Capitulum humeri und Radiusköpfchen wird eingeklemmt. jjKlinik Der betroffene Arm wird geschont; der Unterarm wird im Ellbogengelenk leicht gebeugt und in Pronation gehalten. jjTherapie Schnelle Supination und gleichzeitige Streckung im Ellbogengelenk führt zur Reposition. Eine Ruhigstellung ist nicht notwendig. Ist die Anamnese eindeutig, so ist kein Röntgenbild vor oder nach der ­Reposition erforderlich. Der Arm wird bei erfolgreicher Reposition nach kurzer Zeit wieder normal bewegt. 27.2

Wirbelsäule

Rückenschmerzen im Kindes- und Jugendalter sind nicht so selten.

Nationale Studien zeigen eine mit dem Alter zunehmende Prävalenz von ca. 1% bei bis 7-jährigen Kindern und 18% und mehr bei ­Adoleszenten. Es gibt zahlreiche Ursachen für Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen, die meist vom Bewegungsorgan ausgehen. Die häufigste Ursache ist eine funktionelle Störung mit Myogelose, Spondylolyse mit Olisthese, M. Scheuermann oder eine Skoliose. Selten müssen differenzialdiagnostisch Erkrankungen im Bereich des Rumpfs und der Wirbelsäule in Betracht gezogen werden wie Frakturen, Spondylodiszitis, Spondylitis ankylosans, Bandscheibenvorfall oder primäre benigne und maligne Tumoren. Bei 15–20% der Kinder sind die Beschwerden trotz kompetenter Diagnostik nicht eindeutig zu klären. 27.2.1

Haltungsschwäche

jjDefinition, Klinik Als Haltungsschwäche wird eine konstitutionell bedingte Abweichung der Wirbelsäule im sagitalen Profil von der Norm bezeichnet. Sie kann aktiv korrigiert werden, manifestiert sich häufig im Schuloder Jugendalter, verursachen nur selten Beschwerden und ist meist passager. Morphologische Veränderungen sind im Röntgenbild nicht feststellbar. >> Flachrücken mit entlordosierter oder gar kyphosierter ­Lendenwirbelsäule sind häufiger mit Beschwerden assoziiert als Rundrücken.

Eine Flexibilitätsprüfung der WS („Katzenbuckel“ und „Rutsch­ halte“) deckt fixierte Wirbelsäulenabschnitte auf. In diesem Fall sollte die Wirbelsäule geröntgt werden. Der Armvorhaltetest nach Matthiass dient zur Feststellung der Leistungsfähigkeit der Muskulatur. jjTherapie Nach Ausschluss myogener und neuromuskulärer Ursachen sollten schwere Haltungsschwächen durch systematisches, regelmäßiges, aktives Muskeltraining (Physiotherapie) behandelt werden. Zusätzlich sollten von den Eltern eine gesunde Ernährungs-, Sport- und Freizeitgestaltung gefördert werden. 27.2.2

Idiopathische Skoliose

jjDefinition Skoliosen sind Deformitäten der Wirbelsäule mit fixierter Seitausbiegung in der frontalen Ebene, Torsion der Wirbel und Rotation des Achsenorgans. jjEpidemiologie Die Prävalenz liegt bei ca. 1% der Normalbevölkerung. Etwa 90% aller Skoliosen sind idiopathisch, das Geschlechtsverhältnis Mädchen : Jungen ist ca. 5:1 (. Tab. 27.1). jjÄtiologie Die Ätiologie der idiopathischen Skoliose ist trotz intensiver Forschungsarbeit bisher nicht eindeutig geklärt. Eine familiäre Häufung ist nachgewiesen. Demgegenüber haben sekundäre Skolioseformen, wie z. B. kongenitale Formen (Formations- und Segmentationsstörungen mit Keil- und Blockwirbelbildung), neuromuskuläre Formen (z. B. Zerebralparese, Muskeldystrophie-Duchenne), mesenchymale Formen (Marfan-Syndrom, Ehlers-Danlos-Syndrom, Neurofibromatose, Osteogenisis imperfecta), Skolioseformen nach Voroperationen, Radiatio, Trauma und Entzündungen klar zuordnungsbare Ursachen. jjPathogenese Die Deformität in der Sagittalebene führt zur Rotation in die Frontalebene, so entsteht aus einer lordotischen Fehlstellung eine skoliotische. Die Rotation der Wirbel verläuft immer in einer konstanten Richtung. Die hinteren Elemente drehen sich zur Konkavität und die Wirbelkörpervorderseiten zur Konvexität der Krümmung. Eine Progression bis zur Skelettreife ist immer anzunehmen. jjKlinik Die meisten Skoliosen werden im Alter von 10–12 Jahren oft zufällig entdeckt, aber auch durch gezieltes Screening durch Schulärzte. Nur selten bestehen Beschwerden. Bei Mädchen muss nach der ­Menarche gefragt werden, was von prognostischer Bedeutung ist: das Wirbelsäulenwachstum hält vom Zeitpunkt der Menarche noch ca. 2 Jahre an.

..Tab. 27.1  Einteilung der idiopathischen Skoliose in Abhängigkeit des Entstehungsalters Typ

Alter

Form

Geschlechtsverhältnis

Häufigkeit

Infantile Skoliose

0–3

Überwiegend thorakal, meist linkskonvex

Jungen : Mädchen = ca. 1:1,5

Selten

Juvenile Skoliose

4–10

Thorakale wie lumbale Skoliosen

Jungen = Mädchen

Selten

Adoleszente Skoliose

>10

Meist thorakal, meist rechtskonvex

Mädchen > Jungen

Häufig

27

708

F. Thielemann

j jDiagnostik

27

Klinische Untersuchung  Bei der Inspektion achtet man u. a. auf Schulterstand, Taillendreiecke, Beckenstand, Hautveränderungen (Neurofibromatose?) und ob die Wirbelsäule im Lot ist (Lot fällen vom Dornfortsatz des 7. HWK in die Rima ani). Beim wichtigen Vorneigetest sitzt der Untersucher hinter dem, sich nach vorne bückenden Patienten. Beim Blick über das Rückenprofil ist ein Rippenbuckel und/oder Lendenwulst zu erkennen (. Abb. 27.1). Zusätzlich sollte eine orientierende neurologische Untersuchung durchgeführt werden. Bildgebende Verfahren  Durchzuführen ist eine Röntgenunter­ suchung der gesamten Wirbelsäule a.p. und seitlich im Stehen.

jjTherapie Therapieziele sind: 44 Das Aufhalten einer nachgewiesenen Progredienz, 44 Korrektur der bestehenden Krümmung oder mindestens ­Halten des Korrekturergebnisses, 44 Verhütung von Spätfolgen. Es gibt 3 wesentliche Therapiearten: Physiotherapie, Korsettbehandlung und Operation. Physiotherapie  Die Physiotherapie sollte als begleitende Therapie grundsätzlich durchgeführt werden, wobei ein Wachstumspotenzial von mindestens 2 Jahren vorhanden sein sollte. Sämtliche Methoden (Vojta, Klapp, Schroth u. a.) sind jedoch nicht in der Lage, eine ­Skolioseprogression aufzuhalten.

a

Korsettbehandlung  Die Wirksamkeit der Korsettbehandlung ist wissenschaftlich erwiesen. Sie sollte von einem erfahrenen Orthopäden in Zusammenarbeit mit einem Orthopädietechniker durchgeführt werden. Die Aufklärung der Patienten und der Eltern ist sehr wichtig, um die Compliance zu erhöhen. Als Therapieerfolg gilt schon das Aufhalten der Progression der Skoliose. Operative Therapie  Eine operative Therapie ist nur bei wenigen Patienten notwendig. Die Indikation dazu wird bei idiopathischen Skoliosen im Adoleszentenalter d. h. vorhandener Wachstumsre­ serve, nachgewiesener Progredienz der Krümmung und einem nach der Cobb-Methode gemessenen Skoliosewinkel von >40° gestellt. Die Ziele der operativen Therapie sind die Korrektur und Stabilisation (knöcherne Versteifung = Spondylodese) der verkrümmten Wirbelsäulensegment bei Erhalt eines möglichst physiologischen sagitalen Wirbelsäulenprofils.

jjPrognose Die Therapie ist abhängig vom Alter des Patienten und der Progredienz der Skoliose. Wichtige zusätzliche Prognosekriterien sind Wachstumsreserve, Geschlecht, Schweregrad und Lokalisation. Gerade während der Pubertät ist mit einer raschen Zunahme der Krümmung innerhalb eines kurzen Zeitraums zu rechnen. Eine progrediente Skoliose kann zum zunehmenden ästhetischen, psychosozialen (Partnerprobleme) und körperlichen Problem werden. Unbehandelt führen progrediente, schwere Skoliosen durch die Thoraxdeformierung zu Lungenfunktionsstörungen mit Einschränkung der Vitalkapazität. Die Lebenserwartung ist bei sehr schweren Skoliosen herabgesetzt (Cor pulmonale). Pro ca. 10° Krümmung kommt es zu einer Verminderung der Vitalkapazität um ca. 10%. Nach Wachstumsabschluss ist bei Skoliosen über 50° eine geringe Krümmungsprogression der Skoliose von ca. 1° jährlich zu erwarten. Skoliosen führen im Alltag Erwachsener regelmäßig zu Schmerzen.

b ..Abb. 27.1  Klinisches Bild einer thorakalen Skoliose. a Rückenprofil im Stand, b Vorbeugetest (Rippenbuckel)

27.2.3

Säuglingsskoliose

Die Säuglingsskoliose ist eine teilfixierte seitliche Wirbelsäulenverkrümmung ohne Torsion und ohne strukturelle Veränderungen im Säuglingsalter. Sie ist wahrscheinlich Folge einer Störung der neuromotorischen Entwicklung mit einseitiger Kontraktur der Stammmuskulatur. Die gewohnheitsmäßige Schräglage des Säuglings fördert eine Fehlhaltung. jjDiagnose Der Säugling muss komplett entkleidet und untersucht werden. Hierbei ist u. a. auf motorische Entwicklung, Fehlbildungen (Klumpfuß, Spitzfuß), Körperhaltung, aktiven und passiven Muskeltonus zu achten. Bei der Untersuchung der Wirbelsäule ist eine Schräglage des Säuglings und die meist C-förmige, großbogige Skoliose auffällig. Apparative Untersuchung: Röntgenaufnahme der Wirbelsäule in 2 Ebenen oder MRT zum Ausschluss angeborener Block- oder Keilwirbel.

709 Orthopädie

jjTherapie Die Spontanheilungstendenz liegt bei >90%. Die Eltern können diese durch eine gezielte Lagerung und die regelmäßige Stimulation der konvexseitigen Rumpfmuskulatur unterstützt. Krankengymnastische Beübungen (z. B. auf neurophysiologischer Basis) oder die passive Umkrümmung in Liegeschalen oder mit Bandagen sind ­allenfalls in ausgeprägten Fällen nötig. >> Regelmäßige Verlaufskontrollen sind wichtig, um keine infantile progrediente Skoliose zu übersehen!

Die Lagerung sollte so erfolgen, dass der Säugling bei Zuwendung den Rumpf zur konvexen Seite aktiv korrigieren muss. 27.2.4

Muskulärer Schiefhals (Tortikollis)

Der muskuläre Schiefhals ist die Folge einer angeborenen einseitigen Tonusstörung bzw. bindegewebigen Verkürzung des M. sternocleidomastoideus mit fixierter Neigung des Kopfs zur erkrankten und Rotation zur gesunden Seite. jjÄtiologie Als Ursache des Tortikollis werden persistierende tonische Reflexe im Kleinkindalter (neurologische Ursachen) angenommen. Weiterhin können ein Geburtstrauma (Kopfnickerhämatom), eine intrauterine Zwangslage (Beckenendlage) oder genetische Faktoren der Pathologie zugrunde liegen. Die Asymmetrie des Halses ist häufig mit einer Fehlform des Schädels (Plagiozephalus), des gesamten Körpers, einer Hüftdysplasie oder Fußfehlstellung, z. B. Klumpfuß oder Knick-Platt-Fuß assoziiert. jjDiagnose Die Diagnosestellung erfolgt klinisch durch Inspektion und Palpation der paravertebralen Muskulatur: typische Kopfstellung mit eingeschränkter Beweglichkeit der HWS, seitendifferenter Tonussteigerung der Kopf-Nacken-Muskulatur, Kopfneigung zur Seite des erkrankten Muskels, Rotation zur Gegenseite, evtl. Gesichtsasymmetrie. In ca. 15% ist eine Schwellung im distalen M. sternocleidomastoideus (ab ca. 2. Lebenswoche) zu tasten. Der Muskel ist bei der Palpation verhärtet und verkürzt. Wichtig ist auch die Untersuchung der Hüften und Füße, um mögliche assoziierte Erkrankungen auszuschließen. Bei begründetem Verdacht auf eine andere Ursache erfolgt eine primäre apparative Untersuchung durch Röntgen der HWS in 2 Ebenen. jjDifferenzialdiagnose Das Symptom „Schiefhals“ kann zahlreiche andere Ursachen haben: z. B. Torticollis spasmodicus, knöcherne Fehlbildungen, akuter Schiefhals, rheumatischer Schiefhals, okuläre und otogene Ursachen, Tumoren, Infekte des Nasen-Rachen-Raums (Torticollis nasopharyngealis, Torticollis atlantoepistrophealis = Grisel-Syndrom). Interdisziplinäre fachübergreifende Untersuchungen sind im Zweifelsfalle anzuraten. jjTherapie Sie besteht in konsequenter Krankengymnastik, z. B. Bobath- oder Vojta-Therapie mit Aktivierung der gegenseitigen Kopfnickermuskulatur, Dehnung des hypertonen M. sternocleidomastoideus sowie in der gegensinnigen Lagerung des Säuglings: In der Fehlhaltung schaut das Kind z. B. eine „uninteressante“ Wand an und wird so angeregt, sich aktiv in die Richtung akustischer und optischer Reize zu drehen.

jjPrognose Bei sehr früher, konsequenter, konservativer Therapie sind gute ­Resultate zu erwarten, nur ca. 10% der Kinder müssen operiert werden. Mit steigendem Alter bei Therapiebeginn steigt die Operationsrate deutlich. Unbehandelt kommt es zu sekundären Fehlentwicklungen von HWS und Gesichtsschädel (Gesichtsskoliose, HWS-Skoliose) und evtl. vorzeitiger funktioneller Einschränkungen der HWS. 27.2.5

Spondylolisthesis, Spondylolyse

jjDefinition Als Spondylolyse wird eine meist beidseitige Spaltbildung in der Interartikularportion eines Wirbelbogens bezeichnet. Diese Schwächung kann eine Spondylolisthesis, eine in der Regel ventrale Verschiebung eines Wirbelkörpers (Olisthesis = Gleiten) mit seinen Bogenwurzeln, Querfortsätzen und oberen Gelenkfortsätzen über den nächsttieferen Wirbel, auslösen. Als Spondyloptose bezeichnet man das Abkippen eines Wirbelkörpers vom Sakrum. jjEpidemiologie Prävalenz einer Spondylolyse 5–7%. Bei 2–4% liegt eine Olisthesis vor. In ca. 80% ist der 5. LWK, in 15% der 4. LWK betroffen. jjÄtiopathogenese Zu den Ursachen gehören genetische Disposition mit Dysplasie der Pars interarticularis, Bogenschlussanomalien, lumbosakrale Übergangsstörungen, Hyperlordose, Sagittalstellung der Wirbelgelenke, Skoliose, M. Scheuermann, mechanische Faktoren (Trauma, starke Reklinationsübungen). Auffällig ist die hohe Rate bei Leistungssportlern mit Hyperlordosierungsbelastung der LWS, wie Judokas, Kunstturner, Delphinschwimmer, Balletttänzer. jjKlinik Verdächtig sind belastungsabhängige, eher pseudoradikuläre, selten radikuläre Kreuzschmerzen (Nervenwurzelkompression) und Instabilitätsgefühl. Bei höhergradiger Olisthese resultiert immer eine lumbale Stufenbildung und Verkürzung der ischiokruralen Muskulatur (M. semimembranosus und M. semitendinosus) mit positiver Hüft-Lenden-Strecksteife. Der Lasègue-Test ist manchmal positiv. jjDiagnose Die Sportanamnese ist wichtig. Die Diagnostik umfasst die Beurteilung der Haltung, des Beckenstands und der Rückenmuskulatur, das Abtasten der Dornfortsätze, Prüfung eines Stauchschmerzs der LWS und eine orientierende neurologische Untersuchung. Apparative Untersuchungen  MRT bei Sportlern oder positiver

Traumaanamnese zum Nachweis einer Signalalteration im Bereich der Interartikularportion, Röntgen der Lendenwirbelsäule a.p. und seitlich (. Tab. 27.2). jjTherapie

Therapieziele sind die Schmerzbeseitigung, das Verhindern der

­ anifestation bzw. die Progression einer Lyse. Bei positiver TraumaM anamnese und Nachweis einer Signalalteration im MRT ist die Sportkarenz und Ruhigstellung im Lendenstützmieder für 3 Monate indiziert. Bei Lyse oder geringgradiger Olisthese ohne Beschwerden (Zufallsbefund) ist keine Therapie erforderlich, allerdings sollte eine jährliche klinische Kontrolle erfolgen, um eine evtl. Progredienz frühzeitig zu erfassen. Rückenschwimmen ist zu empfehlen, keine

27

710

F. Thielemann

..Abb. 27.2  Schmerzhafte Spondylolisthese Grad I. a Spondylolyse mit gut erkennbarer Spaltbildung im Wirbelbogen. b Röntgen­ befund 3 Jahre postoperativ nach Spongiosaplastik und Schraubenosteosynthese

27

a

reklinierenden Sportübungen. Die Patienten sollten über die Gutartigkeit dieses Zustands aufgeklärt werden. Bei Nachweis einer Spondylolyse und Schmerzen empfiehlt sich für 6 Monaten der Versuch der Ruhigstellung im Korsett. Die Indikation zur operativen Therapie ist bei persistierenden Beschwerden, bei Versagen der konservativen Therapie und/oder bei Progredienz im Kindesalter und/oder neurologischen Ausfällen gegeben. j jPrognose Nach dem 20. Lebensjahr meist spontaner Stillstand des Gleitvorgangs. Fusionsoperationen bei Spondylolisthesis haben in ca. 80% gute Ergebnisse, häufig bessern sich evtl. vorhandene neurologische Symptome. 27.2.6

M. Scheuermann

j jDefinition Der M. Scheuermann (Synonym: Adoleszentenkyphose, Kyphosis juvenilis) ist eine in der Adoleszens auftretende Wachstumsstörung an Grund- und Deckplatten der Brust- und/oder Lendenwirbel­ säule mit fixierter Rundrückenbildung (Kyphosewinkel >40°). jjEpidemiologie Die Angaben zur Prävalenz schwanken stark: 1% (0,5–8%). Häu­figste Wirbelsäulenerkrankung im Jugendalter. Jungen > Mädchen. jjÄtiopathogenese Die Ätiologie ist unklar. Einflussfaktoren sind Haltung (vermehrte kyphotische Haltung führt zu vermehrtem Druck auf ventrale ­Anteile der Wirbelsäule), mechanische Faktoren (hohe Körper­ größe), genetische Faktoren (familiäre Häufung). Es kommt zu ­einem Circulus vitiosus: reduzierte Belastbarkeit der knorpligen Abschlussplatten, Bandscheibengewebe bricht in den Wirbelkörper ein aufgrund relativ hohen Binnendrucks des Nucleus pulposus, hierdurch kann es zur Bildung von sog. Schmorl-Knötchen kommen, in

b

Folge Verschmälerung und Fibrosierung der betreffenden Bandscheibenräume. Da v. a. die ventralen Wachstumszonen der Wirbelkörper geschädigt werden, kommt es zu einer zunehmenden Keilwirbelbildung und fixierten Kyphosierung. Bei asymmetrischer Keilwirbelbildung entstehen in ca. 30% leichtere Skoliosen meist ohne Torsionskomponente. jjKlinik Nur ca. ⅓ der Erkrankten im Wachstumsalter haben Beschwerden, wobei die Lumbalform schmerzanfälliger ist. Man achtet auf die ­Rückenform (Rundrücken, Flachrücken) und auf die Beweglichkeit der Wirbelsäule. Nach einer segmentalen Fixation (Brustkyphose) bei den oft muskelschwachen Jugendlichen ist zu fahnden. jjDiagnose Die Diagnosesicherung erfolgt mittels Röntgenaufnahme von LWS und BWS in 2 Ebenen. jjTherapie Die Therapie des Morbus Scheuermann ist in der Regel konservativ. 44 Leichtere Erkrankungsformen (bis 50° Kyphosewinkel): Schwimmen, insbesondere Rückenschwimmen ist günstig; ­keine Sprungdisziplinen. Abraten von körperlich anstrengenden Berufen mit Tragen schwerer Lasten. Konsequente Rücken­ disziplin und entkyphosierende Krankengymnastik mit Kräftigung der Rumpfmuskulatur. 44 Schwerere, progrediente Kyphosen (50°–75° Kyphosewinkel) und Wachstumspotenz >2 Jahre: Physiotherapie, Gips und/ oder Korsettbehandlung bei ausreichender, passiver Korrigierbarkeit. 44 Symptomatische Kyphose >75°: Operationsindikation. Bei erwachsenen Patienten kombinierte ventrodorsale Aufrichtungsspondylodese mit dorsalen Kompressionssystemen. jjPrognose Die Prognose bei natürlichem Verlauf ist meist gut. Die Erkrankung erlischt in der Regel nach dem 18. Lebensjahr mit mehr oder weniger

711 Orthopädie

starker segmentaler Fixation der Kyphose. Beschwerdefreie, leicht Erkrankte sollten nicht unnötig stigmatisiert werden. Bei ausgeprägtem M. Scheuermann (Kyphose >65°) kann die Krümmung auch nach Wachstumsabschluss progredient sein und es kommt aufgrund degenerativer Veränderungen zu schmerzhaften Rückenbeschwerden. Bei der lumbalen Form des M. Scheuermann sind Schmerzen im Verlauf häufiger zu erwarten. Die Lungenfunktion ist in der Regel nicht beeinträchtigt. Restriktive Lungenfunktionsstörungen wurden bei Kyphosen >100° beschrieben. 27.3

Hüfte

27.3.1

Coxitis fugax

jjDefinition Flüchtige abakterielle Entzündung der Hüftgelenkskapsel („Hüftschnupfen“, engl. „transient synovitis“), häufig nach einem unspezifischen Infekt. jjEpidemiologie Prädilektionsalter 4–8 Jahre, jahreszeitliche Häufung im Herbst und Frühjahr. Auftreten oft im Anschluss an einen Infekt der oberen Luftwege oder des Gastrointestinaltrakts, z. T. zeitversetzt (2–3 Wochen später). jjKlinik Symptome sind plötzlich auftretende Hüftschmerzen, die auch in den Kniebereich projiziert werden können, sowie Hinken. Kleinkinder weigern sich – bei ansonsten gutem Allgemeinbefinden – das betroffene Bein zu belasten. Ob Hüft-, Knie- oder Sprunggelenk betroffen ist, kann manchmal schwer zu klären sein, wobei ein der Coxitis fugax entsprechendes Krankheitsbild am Knie- bzw. Sprunggelenk sehr selten ist. jjDiagnose Die Coxitis fugax ist eine weitgehend klinische Diagnose, bei der die Verlaufsbeobachtung an erster Stelle steht. Bei der Inspektion achtet man auf Hinken und Schonung des betroffenen Beins. Es besteht ein ungestörtes Allgemeinbefinden, die Kinder machen nicht den Eindruck schwer krank zu sein. Die betroffene Hüfte ist deutlich schmerzhaft bewegungseingeschränkt, insbesondere die Innen­ rotation. Die Ultraschalluntersuchung der betroffenen Hüfte (Ergussnachweis) sowie Laboruntersuchungen (CRP, Blutbild) sollten durchgeführt werden. Die Entzündungszeichen sind meist nur geringfügig erhöht oder normal. Bei Verdacht einer differenzialdiagnostisch in Frage kommenden Erkrankung sollten geeignete bildgebende Verfahren (Röntgen, MRT) zur Komplementierung der Diagnostik erfolgen. jjDifferenzialdiagnose Die wichtigen Differenzialdiagnosen umfassen vor allem die eitrige Koxitis, die einen Notfall darstellt mit der Konsequenz der Punktion und Arthrotomie sowie M. Perthes, rheumatoide Arthritis, Epiphyseolysis capitis femoris, akute hämatogene Osteomyelitis, Leukämie und Lyme-Borreliose. jjTherapie Bei leichter Symptomatik 2–3 Tage Bettruhe. Bei deutlicher Sympto­ matik über mehrere Tage mit mäßigem bis starkem Erguss ggf. Punktion in Kurznarkose zur Entlastung des Gelenks (mit Entnahme

­eines Abstrichs zur Bakteriologie) sowie Antiphlogistika über ca. 3–8 Tage (z. B. Nurofensaft). Verlaufsbeobachtung und Laborkontrollen! jjPrognose In der Regel problemlose Ausheilung nach wenigen Tagen. Rezidive sind möglich. 27.3.2

Hüftreifungsstörungen, Hüftgelenk­ dysplasie und Hüftgelenkluxation

jjDefinition Eine Hüftreifungsstörung mit Ossifikationsstörung der knorpelig angelegten Hüftpfanne führt zur Hüftdysplasie (Pfanne zu steil, abgeflacht, nach kranial ausgezogen, unvollständige Ausbildung des Pfannenerkers) mit oder ohne Luxation des Hüftkopfs (Verrenkung aus der dysplastischen Pfanne). Im angloamerikanischen Sprachgebrauch werden Hüftreifungsstörungen bzw. Dysplasien heute als „developmental dysplasia of the hip“ (DDH) bezeichnet. Die Hüftreifungsstörung ist mit einer Inzidenz von 2-4% in Mitteleuropa die häufigste kongenitale Skelettfehlentwicklung. jjÄtiopathogenese Genetische (hierfür sprechen ein konstantes Geschlechtsverhältnis Mädchen : Knaben = 6:1, Doppelseitigkeit in ca. 40%, familiäre und geographische Häufung) und mechanische Faktoren (intrauterine Beckenendlage, Verhinderung der physiologischen Hock-SpreizStellung durch falsche Wickeltechnik der Beine in Anspreizung und Streckung, sog.“Pucken“) spielen eine Rolle. Postnatal besteht bei vielen Kindern eine muskuloligamentäre Hüftinstabilität, die bei tonusbedingter Asymmetrie zu einer progredienten Dezentrierung des Hüftkopfs führen kann. Somit geht dem Hüftgelenk ein für die regelrechte Weiterentwicklung wichtiger, ­mechanischer Reiz verloren. Ohne abspreizende Maßnahmen führt der Druck des dezentrierten Hüftkopfes auf den knorpelig präformierten Pfannenrand zur Pfannendysplasie, der Hüftkopf verliert seinen Halt und wird durch vermehrte Aktivität der Adduktoren nach dorsokranial luxiert. Sekundär können sich bei Dezentrierung (zunehmender Luxation) Veränderungen an Hüftpfanne und Hüftkopf, Gelenkkapsel und Muskulatur entwickeln. Langfristig entsteht aufgrund der Gelenkinkongruenz eine ­sekundäre Koxarthrose. Bei sog. hoher Luxation stehen die dysplastischen Hüftköpfe in Höhe der Darmbeinschaufeln. jjDiagnostik Anamnese  Besonderheiten der Geburt und Schwangerschaft, Be-

ckenendlage, Sectio, Erstgeburt, Hüfterkrankungen in der Familie.

Klinische Untersuchung  Wesentliche (unsichere) klinische Früherkennungszeichen, Hinweise und Tests (. Abb. 27.3): 44 Beinverkürzung 55Technik: Beugung beider angespreizter Hüft- und Knie­ gelenke mit leichtem dorsalen Druck durch Auflegen der Finger beider Hände auf die Kniegelenke, der Betrachter muss sich auf das Niveau der Kniegelenke begeben und ­beide vergleichend betrachten. 55Cave: beidseitige Luxation – gleiches Niveau der Beine! 44 Ortolani-Zeichen (M. Ortolani, Pädiater, Italien) 55Instabilitätszeichen [spür- und hörbares Schnappen = (Sub) luxation des Hüftkopfs], das in der Regel nur in den ersten

27

712

F. Thielemann

Hüfte und gebeugtem Knie, adduziert das Bein und drückt es von ventral nach dorsal: bei entsprechender Instabilität kommt es dadurch zu einer Subluxation oder Luxation des Hüftkopfs. Beim anschließenden Abspreizen des Beins rutscht der zuvor dislozierte Hüftkopf wieder in die Pfanne, was mit einem spür- und manchmal auch hörbaren „Schnappen“ einhergeht. 44 Abspreizbehinderung nach wenigen Tagen wird dieses klinische Zeichen bei dezentrierter Hüfte infolge vermehrter ­Anspannung der Hüftadduktoren positiv. Abduktion bei Neugeborenen: normal 80–90° (Cave: beidseitige Dysplasie oder Luxation), ab 2. Monat physiologisch nur ca. 65°, sicher pathologisch bei > Durch die Früherkennung ist auch die Frühtherapie möglich geworden (in Deutschland sonographisches Hüftscreening im Rahmen der U3, d. h. während der 4.–6. Lebenswoche).

..Abb. 27.3  Untersuchung der Säuglingshüfte. a Beinlängendifferenz, ­ b Abspreizbehinderung

Die standardisierte Befunderhebung berücksichtigt die knöcherne Formgebung, den knöchernen Erker, das knorpelige Pfannendach, den Knochenwinkel α (Winkel zwischen Iliumpunkt, Pfannenerker und lateraler Begrenzung des Os ilium), den Knorpelwinkel β (Winkel zwischen lateraler Begrenzung Os ilium und Verbindungslinie Pfannenerker–Labrum; . Tab. 27.2). Neben der rein statischen Untersuchung kann die Sonographie auch dynamisch durchgeführt werden. Eine Sonographie ist bis zum Alter von ca. 1 Jahr sinnvoll (. Abb. 27.4a, b).

Lebenstagen nachweisbar ist (hypotoner Muskeltonus des Neugeborenen). 55Technik: Das Neugeborene liegt ausgezogen auf dem Rücken. Jedes Hüftgelenk wird einzeln untersucht. Die Hand des Untersuchers umfasst den Oberschenkel bei gebeugter

Röntgenuntersuchung  Eine Röntgenuntersuchung zur Frühdiagnostik ist heute selten erforderlich (. Abb. 27.4c). Zur Kontrolle bei stationären Therapieverfahren sowie nach Abschluss einer ambulanten Behandlung ist sie jedoch zu empfehlen (Beckenübersicht). Der AC-(Pfannendach)-Winkel sollte nach dem 1. Lebensjahr Belastungsabhängige Hüft- und insbesondere auch Knieschmerzen, Hinken und rasche Ermüdbarkeit müssen im Vorschul- und Grundschulalter an einen M. Perthes denken lassen.

Die klinische Untersuchung ergibt meist eine schmerzhafte Einschränkung der Innenrotation und Abduktion an der betroffenen Hüfte (Vierer-Zeichen positiv). j jDiagnose Röntgenaufnahme Beckenübersicht und axial. Alle prognostischen Kriterien beziehen sich auf radiologische Klassifikationen. Das MRT ist lediglich bei unklaren differenzialdiagnostischen Fragestellungen indiziert. Zur Verlaufskontrolle ist es in der betref-

fenden Altersgruppe ungeeignet, da jeweils eine Untersuchung in Narkose bzw. tiefer Sedierung erforderlich ist. Differenzialdiagnose  Coxitis fugax, septische Arthritis, epiphy­ säre Dysplasien (bilateral), Hüftdysplasie, Tumoren, juvenile idio­ pathische Arthritis.

jjTherapie Hauptbehandlungsziele sind der sphärische Wiederaufbau des Hüftkopfs und die Verhinderung einer Deformierung. Eine einheitliche Meinung über das „richtige“ Therapieregime gibt es nicht. Prognostische Faktoren wie Alter, Größe des nekrotischen Bezirks, Lateralisation, Bewegungseinschränkung u. a. geben jedoch eine Orientierung. >> Je älter das Kind bei Erkrankungsbeginn ist, desto geringer ist die Chance für eine befriedigende Ausheilung der Erkrankung.

Folgendes Vorgehen hat sich bewährt: In Frühstadien werden Kinder unter 6 Jahren meist konservativ behandelt (. Abb. 27.5). Eine alleinige Beobachtung reicht aus bei Frühformen ohne Risikozeichen mit freier Hüftgelenksbeweglichkeit. Andernfalls muss eine funktionelle Therapie mit Kranken­ gymnastik (u. U. stationär mit kurzzeitiger begleitender Extension) eingeleitet werden, unterstützend wirkt Schwimmen. Sprungbelastungen sind zu vermeiden. Die „entlastende“ Orthesenbehandlung ist heute obsolet. Bei stärkeren Beschwerden erfolgt die temporäre Entlastung an Gehstützen. Bei ungenügender Überdachung des Hüftkopfs empfehlen wir eine operative Rezentrierung (Wiederherstellung des sog. „Containment“) mit Hilfe einer Neuausrichtung des proximalen Femur oder der Hüftpfanne. jjPrognose Eine vollständige Ausheilung ist möglich. Patienten mit chronologischem Alter 50°: intertrochantäre oder subkapitale Korrekturosteotomie

jjTherapie Die Therapie der Ecf ist immer operativ (. Abb. 27.6b). Die Dringlichkeit der Operation und die Wahl des Operationsverfahrens richten sich nach der Art der Ecf (Ecf acuta oder Ecf lenta), dem Ausmaß des Gleitwinkels in beiden Projektionsebenen und dem Alter des Patienten (. Tab. 27.3). jjPrognose Die Prognose ist gut bei Frühdiagnose und korrekter operativer Therapie. Höhergradige Abrutschwinkel führen zu schwerwiegenden Funktionsstörungen der Hüfte und erhöhen das Risiko einer frühen Arthrose. Akute und akut auf chronischen Formen der Ecf bein­ halten das hohe Risiko einer Durchblutungsstörungen an der Hüftkopfepiphyse mit avaskulärer Nekrose (AVN/Chondrolyse) und schwerer Deformierung des Hüftkopfs führen. 27.4

Knie und Unterschenkel

>> Der Knie- oder Beinschmerz ist ein häufiges und vieldeutiges Symptom im Wachstumsalter; Ursache derartiger Beschwerden können nicht nur im Knie-, sondern auch im Hüft- und Fußbereich liegen (. Tab. 27.4).

27.4.1

Wachstumsschmerz

Die Diagnose „Wachstumsschmerz“ ist eine gefährliche Diagnose, weil sie bei den Eltern und den behandelnden Ärzten etwas Harmloses impliziert und damit schwere Erkrankungen nicht selten übersehen werden können. Sinnvoller wäre es, von einem im Wachs­ tumsalter häufigen Bein- oder Knieschmerz zu sprechen, dessen Ursache unklar ist. jjAnamnese Schmerzen im Bein oder Knie vor dem Einschlafen oder beim nächtlichen Aufwachen. Durch Beruhigung des Kindes, leichtes Massieren oder Streicheln der betroffenen Region, evtl. auch kühlende Umschläge verschwindet der Schmerz, und das Kind schläft wieder ein. Am nächsten Tag ist es voll belastbar und hat keine Schmerzen.

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F. Thielemann

..Tab. 27.4  Häufige und wichtige Differenzialdiagnosen des Knieschmerzes

27

Hüfte

Koxitis, M, Perthes, Epiphysenlösung

Knie

„Wachstumsschmerz“, vorderer Knieschmerz („anterior knee pain“), knienahe Knochentumoren, rezidivierende Patella­ luxation, Osteochondrosis dissecans, Scheibenmeniskus, M. Osgood-Schlatter, juvenile rheumatoide Arthritis, ­ M. Sinding-Larsen-Johannson

Fuß

Tumoren, Deformitäten, Infektionen

Diese nächtliche Episode tritt höchstens einmal pro Woche, oft nur einmal im Monat auf. jjKlinik Die klinische Untersuchung sollte unauffällig sein. jjDifferenzialdiagnose Eine Abweichung von dieser typischen Anamnese verlangt eine eingehende differenzialdiagnostische Klärung insbesondere in Bezug auf Knochentumoren und -entzündungen. j jTherapie Nach sicherem Ausschluss pathologischer Veränderungen unter Berücksichtigung der Differenzialdiagnosen bei Knie- und Beinschmerz kann man die Eltern aufklärend beruhigen. Bei Beschwerdepersistenz, Häufung und Verstärkung der Symptomatik sind ­unbedingt Kontrollen erforderlich, um keine ernste Erkrankung zu übersehen. Nützlich sind Zuwendung der Eltern und z. B. das lokale Einreiben mit antiphlogistischen Salben und Wärme. jjPrognose Die Beschwerden sind selbstlimitierend und verschwinden relativ rasch. 27.4.2

Vorderer Knieschmerz

j jDefinition Der vordere Knieschmerz („anterior knee pain“, früher als Chondropathia patellae bezeichnet) ist eine sehr häufige, nicht vollständig geklärte, typische Erkrankung des Jugendalters mit Schmerzen in Bereich der Patella mit hoher Spontanheilungstendenz. jjÄtiologie Die Ätiologie ist multifaktoriell. Gleichgewichtsstörung des femoropatellären Systems können u. a. durch knöcherne (z. B. Formvarianten der Patella, Genua valga), muskuläre (Insuffizienz M. vastus medialis) und ligamentäre Abnormitäten (Bandlaxität) zu einer Knorpelschädigung führen. Als Ursachen einer Chondromalazie werden auch Überbelastungen mit „Mikrotraumatisierung“ und traumatische Ereignisse („Makrotrauma“) mit Knorpelkontusion in Betracht gezogen. j jKlinik, Diagnose Gehäuft betroffen sind Mädchen. Typisch sind Spontanschmerzen im Patellabereich meist beidseits bei oder nach längerer Knie­ beugung (z. B. Kino), bei Treppab- oder Bergabgehen. Nicht selten werden auch ein Nachgeben des Kniegelenks („giving way“) bzw.

Blockierungsphänomene angegeben. Die Diagnose wird erhärtet v. a. durch Auslösen eines Patellaanpress- oder -verschiebeschmerzes. Bei der Chondromalazie spürt man ein mehr oder weniger ­starkes Reiben der Patella bei Kniegelenkbewegungen. Eine evtl. Lateralisation der Patella (Patellasubluxation) ist zu prüfen. Das Röntgenbild kann auf der axialen Patellaaufnahme Formvarianten und Subluxationen des Femoropatellargelenkes zeigen. jjTherapie Zunächst immer konservativ: Vermeiden von längerem Sitzen in Kniebeugung, Hockstellung, sportlicher Überlastung, z. B. bei Sprungdisziplinen, alpinem Skilauf. Auf die hohe Spontanheilungstendenz ist hinzuweisen. Eine krankengymnastische Übungsbehandlung dehnt schwerpunktmäßig verkürzte Muskulatur auf und kräftigt insbesondere den M. vastus medialis. Auch Antiphlogistika in Form von Salben oder Tabletten können hilfreich sein. jjPrognose Die Prognose des vorderen Knieschmerzes beim Jugendlichen ist gut, die Selbstheilungsrate hoch. Bei Chondromalazie im Erwachsenenalter ist sie deutlich schlechter (Femoropatellararthrose). 27.4.3

Patellaluxation

jjDefinition Eine Patellaluxation ist eine in der Regel laterale Verrenkung der Kniescheibe aus ihrem femoralen Gleitlager aufgrund einer Imbalance der Kniescheibenstabilisatoren infolge einer oder mehrerer anatomischer Fehlbildungen und/oder eines Traumas, wobei es nicht selten zu Begleitverletzungen kommt: osteochondrale Frakturen an Patella und Femurkondylen und konsekutiv die Bildung f­ reier Gelenkkörper. Man unterscheidet verschiedene Formen: 44 Habituelle Patellaluxation: bei der habituellen Luxation springt die Patella bei jeder Bewegung des Kniegelenks nach außen. Dieser Vorgang ist in der Regel schmerzfrei. Die Erkrankung tritt gehäuft bei einer konstitutionellen Bänderlaxität auf bzw. bei Erkrankungen, die mit einer generellen Schwäche des Bindegewebes einhergehen (z. B. Trisomie 21, Ehlers-­ Danlos-Syndrom, Larsen-Syndrom). 44 Rezidivierende Patellaluxation: wiederholtes Auftreten einer Patellaluxation, meist nach traumatischer Luxation. 44 Traumatische Patellaluxation: eine echte traumatische Patellaluxation ohne eine vorbestehende Dysplasie des patellofemoralen Gelenks ist sehr selten. 44 Angeborene Patellaluxation: meist im Zusammenhang mit ­einer Systemkrankheit des Bewegungsorgans mit weiteren ­Deformitäten, Rarität. jjDiagnose Eine nicht reponierte Patellaluxation ist eine Blickdiagnose. Generell sind Gangbild, Beinachsen, Beinlängendifferenz, Rotationsfehlstellungen, atrophe Muskelgruppen, Knieschwellung, möglicher Erguss und Krepitationen zu beurteilen. Ebenso sind Patellamobilität, Verschiebeschmerz der Patella (Zohlen-Zeichen), Bewegungsumfang und Bewegungsschmerz, Bandstabilität des Kniegelenks, eine evtl. generalisierte Bandlaxität, Meniskuszeichen, Lateralisa­ tionstendenz bei Beugung sowie der sog. Apprehensions-Test zu prüfen. Notwendige apparative Untersuchungen sind Röntgen des Kniegelenks in 2 Ebenen und der Patella tangential. Im Vorfeld einer

717 Orthopädie

operativen Maßnahme erfolgt immer ein MRT des Kniegelenks, um knöcherne Fehlformen oder intraartikuläre Pathologien (osteocartilaginäre Verletzung am lateralen Kondylus) abzuklären. Häufige Differenzialdiagnosen umfassen Patellafraktur, Meniskusläsion, Kreuzbandruptur sowie Seitenbandruptur. jjTherapie Die Therapie unter Notfallbedingungen bei akuter Luxation ist die sofortige Reposition. Bei starkem Erguss Kniegelenkpunktion: Fettaugen bei blutigem Erguss sprechen für osteochondrale Fraktur (meist gleichzeitige Fraktur mediale Patella oder lateraler Femurkondylus); in diesem Fall sofortige Intervention (Arthroskopie, Arthrotomie). Nach Erstluxation erfolgt Ruhigstellung in Oberschenkeltutor oder Gipsschale. Physiotherapie, Mobilisierung, Muskelkräftigung (speziell des M. vastus medialis), Muskeldehnung und Koordinationsschulung sowie ggf. Patellabandage sind weitere, wichtige Maßnahmen. Operative Therapie  Verfügbare operative Eingriffe können nach Art der Durchführung in knöcherne und weichteilige Korrekturen unterteilt werden. Häufig sind auch unterschiedliche Techniken miteinander kombinierbar.

jjPrognose Bei rezidivierender oder habitueller Patellaluxation ist ohne Therapie häufiger mit Knorpel- ggf. osteochondralen Frakturen und einer frühzeitigen Retropatellararthrose zu rechnen. Die Langzeitresultate sind vom Ausmaß des Knorpelschadens abhängig. Die Reluxationsraten, insbesondere bei einer habituellen Patellaluxation, sind bei isolierten, proximalen oder distalen Rekonstruktionen und reinen Weichteileingriffen höher als bei einer Kombination mehrerer Verfahren. 27.4.4

Morbus Osgood-Schlatter

jjDefinition Gehäuft bei Jungen im Schulalter auftretende aseptische Knochennekrose der Tibiaapophyse. jjPathogenese Als auslösendes Moment gilt ein verstärkter Zug des Lig. patellae z. B. durch sportliche Überbelastung. Typischer stadienhafter Verlauf. jjKlinik Bevorzugt sind 10- bis 14-jährige, sportlich aktive Jungen betroffen. Leitsymptom: Belastungsschmerz lokal im Bereich der Tuberositas tibiae. Es besteht eine druckschmerzhafte Schwellung mit Schmerzverstärkung bei Streckung des Kniegelenks gegen Widerstand. Die apparative Untersuchung erfolgt durch Röntgen des Kniegelenks in 2 Ebenen; die Tuberositas tibiae zeigt eine Fragmentierung der Tibiaapophyse. jjTherapie Symptomatische Behandlung aufgrund der meist völlig problemlosen Ausheilung: partielle Sportkarenz v. a. bei Sprungdisziplinen, evtl. Schuhzurichtung in Form eines Negativabsatzes. Lokale, antiphlogistische Salbenanwendungen. Selten ist nach Wachstumsabschluss die operative Abtragung einer schmerzhaften knöchernen Ausziehung bzw. freien Knochenstücks erforderlich.

..Abb. 27.7  Tunnelaufnahme einer fortgeschrittenen Osteochondrosis dissecans

27.4.5

Osteochondrosis dissecans ­ des Kniegelenks

jjDefinition Eine Osteochondrosis dissecans ist eine im Wachstumsalter vorkommende, aseptische Knochen-Knorpel-Nekrose (Osteonekrose) eines umschriebenen Gelenkflächenbezirks mit der Möglichkeit der Abstoßung eines Fragments in die Gelenkhöhle. Die Femurkondylen sind am häufigsten betroffen. jjÄtiopathogenese Eine lokale Überlastung der Epiphyse mit Störung der lokalen Durchblutung scheint die wahrscheinlichste Ursache zu sein. jjKlinik Die Symptomatik ist relativ unspezifisch: Schwellung Kniegelenk, Gangbild (Schonhinken), Druckschmerz, Gelenkerguss, Blockierung bei freien Gelenkkörpern. jjDiagnose Notwendig ist eine Röntgenaufnahme des Kniegelenks in 2 Ebenen. Die Untersuchung im MRT folgt als zweiter Schritt. Wesentliche Beurteilungskriterien sind Lokalisation (typisch: laterale Begrenzung des medialen Femurkondylus) und Größe des OD-Herds sowie Stadium der Erkrankung (. Abb. 27.7). jjDifferenzialdiagnose Meniskusschaden, osteochondrale Frakturen, Chondromatose, ­Monarthritis, Tumoren. jjTherapie Therapieziele sind Revitalisierung des osteochondralen Bezirks, Verhinderung einer Progression (Dissekatbildung) und Prävention einer Arthrose. Die Therapieprinzipien bestehen in einer Belastungsreduktion (ggf. mit Gehstützen, Sportkarenz), Revitalisierung des Herds und Refixation des Dissekats.

27

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F. Thielemann

Die konservative Therapie wird insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit offenen Wachstumsfugen und festem Dissekat empfohlen. Bei Verdacht auf eine Lösung des Dissekates ist eine operative Therapie zu wählen.

27

j jPrognose Die Prognose der Erkrankung hängt vor allem vom Stadium sowie vom Alter des Patienten ab. Je jünger der Patient, desto besser die Prognose, beim Erwachsenen daher eher ungünstig (sekundäre ­Arthrose). Bei vollständiger Wiedereinheilung ist die Prognose gut. Bei Kindern und Jugendlichen ist bei Einhaltung des Therapie­ regimes die Restitutio ad integrum in 80% der Fälle möglich. 27.5

Fuß

>> Fußprobleme im Kindesalter sind häufig. Eines der Hauptprobleme ist, zu entscheiden, ob der Zustand eher harmlos ist oder diagnostische und therapeutische Konsequenzen hat.

Das differenzialdiagnostische Spektrum reicht vom physiologischen Knick-Senkfuß ohne Krankheitswert über den schweren, flexiblen Knick-Senkfuß (mobilen Plattfuß) bis zum schweren, rigiden Plattfuß (. Tab. 27.5). Fünf Grundsätze sollten beachtet werden: 44 Die Grenzen zum Pathologischen sind fließend, die physiologischen Gegebenheiten eines Neugeborenen-, Säuglings- und Kinderfußes sind zu beachten. 44 Haltungsanomalien (z. B. Klumpfuß- oder Sichelfußhaltung, die aktiv und passiv völlig ausgleichbar sind) müssen gegen echte Deformitäten abgegrenzt werden. 44 Ein persistierender Schmerz bedarf immer der weiteren Klärung. 44 Die Beurteilung des Untersuchers, ob eine Deformität flexibel oder rigide kontrakt ist, ist von entscheidender Bedeutung für die Therapie. 44 Klärung, ob es sich um eine neuromuskuläre Erkrankung oder ein Syndrom handeln könnte. 27.5.1

Kindlicher Knick-Senk-Fuß

j jDefinition Der kindliche Knick-Senkfuß ist eine bei Gehbeginn erkennbare, meist harmlose, bis zu einem gewissen Grad physiologische Fuß­ fehlstellung mit verstärkter Valgusstellung des Fersenbeins (Knickfuß), Abflachung der medialen Fußwölbung (Senkfuß) und Abweichung des Vorfußes in Abduktion. jjEpidemiologie Während der physiologische Knick-Senk-Fuß sehr häufig zu be­ obachten ist, stellt die schwere, rigide Form eine Seltenheit dar mit einer Prävalenz von ca. 1 auf 1.000 Kinder. jjPathogenese Beim Kleinkind bestehen physiologisch eine verstärkte Valgusstellung der Ferse, eine vermehrte Antetorsion des Schenkelhalses, ein vermehrtes Fettpolster im Bereich des Fußlängsgewölbes sowie physiologisch verstärkte Genua valga. Ursache eines verstärkten Knick-Senk-Fußes (flexibler Plattfuß) sind Bandlaxität (z. B. familiäre Disposition, Trisomie 21, ­Ehlers-Danlos-Syndrom, Larsen-Syndrom), Muskelschwäche, Übergewicht, Genua valga oder vara. Es handelt sich bei ausgepräg-

..Tab. 27.5  Häufige und wichtige Differenzialdiagnosen von Fußproblemen Fußschmerz

Trauma, aseptische Osteochondrosen (Osteochon­ drosis dissecans des Talus, M. Köhler, M. Freiberg), Infektionen, akzessorische Knochenkerne (z. B. ­ Os naviculare), juvenile rheumatoide Arthritis, Tumoren, tarsale Koalitionen

Fuß­ deformitäten

Klumpfuß, Plattfuß, Knick-Senk-Fuß, Hohlfuß, Fußfehlform bei angeborener Reduktionsfehlbildung der Fibula oder Tibia

Zehendeformitäten

Polydaktylie, Syndaktylie, Digitus superductus, Makrodaktylie

Vorfuß­ deformitäten

Sichelfuß, Metatarsus varus, Metatarsus primus varus, Spaltfuß

ten Befunden um eine komplexe Deformität des Fußes in allen 3 Ebenen: Valgus des Rückfußes, Abduktion und Supination des Vorfußes. Die Wadenmuskulatur ist verkürzt, die Dorsalextension eingeschränkt. jjKlinik, Diagnose Der physiologische Knick-Senk-Fuß macht selten Beschwerden. Die Fußdeformität fällt meist den Eltern auf. Die Sohlen der Schuhe sind medial stärker abgenutzt. Beurteilung der medialen Fußwölbung (abgeflacht beziehungsweise aufgehoben), Vorfuß abduziert, Valgusstellung der Ferse verstärkt. Beurteilung des Fußes beim Stehen, Gehen und Liegen. Der pathologische Fersenvalguswinkel ist beim Kind im 2.–5. Lebensjahr >20°, im Schulalter >10°, beim Erwachsenen >5°. Beurteilung des Gangbilds; Beurteilung der Beweglichkeit aller Fußgelenke: eine verminderte Beweglichkeit der Fußgelenke ist pathologisch. >> Bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen flexiblem ­ (ca. 99% der Fälle) und rigidem (kontraktem) Knick-Senk-Fuß.

Funktionstest  Zehenspitzenstand: beim physiologischen und f­ lexiblen Knick-Senk-Fuß korrigiert sich die Ferse in eine Varusstellung, und der mediale Fußrand wölbt sich (. Abb. 27.8). Weitere Diagnostik  Beim schmerzfreien flexiblen Knick-SenkFuß ist üblicherweise keine apparative Diagnostik notwendig. Nur im Einzelfall sind weiterführende Verfahren indiziert: Röntgen, ­Podoskop, Podogramm oder auch eine Pedobarographie.

jjTherapie Therapieziel ist die Entwicklung einer normalen Fußform und -funktion. 44 Physiologischer Knick-Senk-Fuß: Aufklärung der Eltern über gute Prognose und Spontanverlauf. Befundabhängig klinische Kontrollen. Barfuß gehen, spielerische Fußgymnastik (Greifübungen der Zehen, Zehenspitzenstand), fußgerechte Schuhe. Einlagen sind nicht indiziert. 44 Flexibler Knick-Senk-Fuß (Plattfuß): Spielerische Fußgymnastik (Greifübungen der Zehen, Zehenspitzenstand, Gehen auf Zehenspitzen), Physiotherapie, Dehnungsübungen der Wadenmuskulatur bei Verkürzung. Gewichtsreduktion bei Adipositas. Bei Fußbeschwerden korrigierende Einlagenversorgung.

719 Orthopädie

>> Bei leichten und mittelschweren Fällen ist oft das Bestreichen (Stimulation) des lateralen Fußrands durch die Mutter ausreichend (zeigen!).

Unterschenkelschaumstoffringe verhindern in Bauchlage ein Auf­ liegen der Füße auf dem Außenrand. Bei schweren, rigiden Sichel­ füßen: sofortige Gipsredression, danach Nachtlagerungsschalen. jjPrognose Unter konsequenter frühestmöglicher Therapie gute Ergebnisse bei generell hoher Rezidivfreudigkeit der Deformität. 27.5.3 ..Abb. 27.8  Schematisch dargestellter Knick-Senk-Fuß: die Valgusstellung der Ferse und die Abflachung der medialen Fußwölbung korrigieren sich im Zehenspitzenstand

Operative Therapieverfahren  Diese sind nur bei sehr ausgeprägten Formen mit klinischen Beschwerden indiziert.

jjPrognose Die Prognose eines flexiblen Knick-Senk-Fußes ist gut. Die meisten Knick-Senk-Füße bedürfen keiner Therapie, da eine Spontankorrektur über die Wachstumsphase erfolgt. >> Barfußlaufen und Laufen auf Naturboden führt zur Kräftigung der Fußmuskulatur und damit zur Prävention von Fußdeformitäten, ebenso bequemes, nicht funktionsbehinderndes Schuhwerk.

27.5.2

Sichelfuß

jjDefinition Der Sichelfuß (Synonym: Metatarsus adductus, Pes adductus) ist eine angeborene, häufig doppelseitige Fußfehlhaltung mit vermehrter, kontrakter Adduktion des Mittel- und Vorfußes. jjKlinik Der Sichelfuß ist bei Geburt auffällig. Im Laufalter Einwärtsgang. Vorfußadduktion distal vom Chopart-Gelenk mit sichtbarer Hautfalte am medialen Fußrand. Rückfuß bei erhaltener Mobilität in Neutralstellung. Im oberen Sprunggelenk ist die Dorsalextension im Unterschied zum Klumpfuß frei. Wichtig ist die Unterscheidung der kontrakten Vorfußadduktion (mediale Hautfalte) gegenüber einer postnatal häufig zu beobachtenden passageren Haltungsanomalie. jjDiagnose Die Diagnose erfolgt postnatal klinisch durch Inspektion und Palpation. jjDifferenzialdiagnose Einwärtsgang bei Coxa antetorta, Unterschenkeltorsionen, Kletterfuß (Pes supinatus), Klumpfuß (Fersenhochstand und Varusposition), Knick-Senk-Fuß (Fersenvalgus). jjTherapie Bei Neugeborenen sofortige manuelle Redression und Immobilisation im Gipsverband (Dauer der Behandlung abhängig vom Schweregrad).

Kongenitaler Klumpfuß

jjDefinition Der kongenitale Klumpfuß (primärer idiopathischer Klumpfuß, Pes equinovarus adductus et excavatus) ist eine komplexe, passiv nicht vollständig ausgleichbare Fehlstellung im Talokalkanealgelenk, ­Talonavikulargelenk und Kalkaneokuboidgelenk („subtalarer Gelenkkomplex“) mit Kontrakturen der Gelenkkapseln und Sehnenverkürzungen unterschiedlicher Ausprägung mit den Komponenten: 44 Pes equinus: Spitzfuß, 44 Pes varus: Supinationsstellung im unteren Sprunggelenk, 44 Pes adductus: Adduktion des Vorfußes, 44 Pes cavus: Hohlfuß. jjEpidemiologie >> Der Klumpfuß ist die zweithäufigste Skelettfehlbildung und die wichtigste und häufigste angeborene Fußdeformität.

Prävalenz ca. 0,1–0,2% der Neugeborenen, 50% doppelseitig. In ­Statistiken werden leider häufig Fehlhaltungen von echten Deformitäten nicht getrennt. jjÄtiologie Die Ätiologie des primären idiopathischen Klumpfußes konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden. Sekundäre Klumpfüße treten bei einer Reihe von neuromuskulären Erkrankungen wie Spina bifida, Sakraldysgenesie, -agenesie, infantile Zerebralparese, Muskeldystrophie, Arthrogryposis multiplex congenita u. a. auf. jjPathogenese Es kommt zu einem Fehlwachstum der Knochen bei Störung der enchondralen Ossifikation, Kontrakturen im unteren Sprunggelenkkomplex mit (primären und/oder sekundären) Sehnenverkürzungen, Verformung zahlreicher Knochen des Fußskelettes (u. a. Talus, Kalkaneus). Beim neuromuskulären Klumpfuß liegt der Deformität ein Muskelungleichgewicht zugrunde. jjKlinik Die Deformität ist augenfällig und daher nicht zu übersehen. Die Untersuchung erfolgt in Rückenlage bei 90°-Knie- und Hüft­ beugung, wobei immer beide Seiten zu untersuchen sind. Wichtig ist die Prüfung einer passiven Redressierbarkeit. Es werden die typischen Komponenten des Klumpfußes verifiziert (. Abb. 27.9): 44 Spitzfuß, kontrakter M. triceps surae bei fixierter Plantar­ flexion des Gesamtfußes. Tuber calcanei hoch stehend. Man tastet die durch plantares Fett besetzte Ferse mit der ver­ kürzten Achillessehne als relativ derben Strang,

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..Abb. 27.9  Beidseitiger Klumpfuß

44 Varus des Rückfußes (horizontal verlaufende Hautfalte an der Rückfußinnenseite), 44 Adduktus im Mittelfuß und Vorfuß, 44 Supinatus: Supination des gesamten Fußes, querverlaufende Hautfalten an Fußinnenseite, 44 Exkavatus: Hohlfuß mit Vertiefung des Längsgewölbes. 44 Zusätzlich Klumpfußwade: bleibende Atrophie des M. triceps surae. Bäuche des M. gastrocnemius nach proximal verschoben.

längerung der Achillessehne die letzte Komponente des Klumpfußes beseitigt. Für den Erfolg der Behandlung sind nach Beendigung der Redressionsgipse eine konsequente nächtliche Schienenlagerung sowie die Fortführung der manuellen Redressionsmanöver des ­Fußes in die Vorfußabduktion und Dorsalextension zwingend erforderlich. In Studien konnte ein eindeutiger Zusammenhang zwischen schlechten Behandlungsergebnissen und einer fehlenden Nachbetreuung der betroffenen Familien gezeigt werden. Zur weiteren ambulanten Betreuung gehört auch regelmäßige Physiotherapie, die anfangs kurzfristig die Redression des Fußes fortsetzt (manuelle Therapie), das Kind aktiv beübt (z. B. nach Vojta oder Bobath) und gleichzeitig die Eltern anleitet, um mittelfristig die Therapie eigenständig zu Hause fortsetzen zu können. Die nächtliche Schienenanlage und täglichen Übungsanwendungen werden bis zum Abschluss des 4. Lebensjahres empfohlen. Operative Therapie  Die Notwendigkeit umfangreicher operativer

Korrekturen wurde seit Einführung dieser verbesserten konserva­ tiven Techniken an den jeweiligen Zentren auf unter 5% gesenkt. Diese Eingriffe betreffen insbesondere schwere Rezidivklumpfüße und sekundäre Klumpfüße (z. B. Arthrogryposis multiplex con­ genita, Spina bifida u. a.).

jjPrognose Unbehandelt nimmt die Fehlbildung zu, wobei manche Patienten auf >> Je stärker die Atrophie der Wadenmuskulatur, desto größer dem äußeren Fußrand bzw. komplett auf dem Fußrücken gehen. die Therapieresistenz. Aufgrund der Deformierung werden die betreffenden Gelenke Wichtig ist die Suche nach begleitenden Deformitäten oder Fehl- ­arthrotisch und sind schmerzhaft. Die Schuhversorgung ist schwiebildungen (in 5% der Fälle), z. B. Hüftluxation, Hüftdysplasie (im- rig. Die individuelle Prognose des Behandlungserfolgs ist abhängig mer auch Sonographie der Hüften!), Spina bifida occulta, Arthro- vom Schweregrad der Fehlstellung, vom Resultat der initialen Korgryposis multiplex congenita, neurologische Defekte, oder auch der rektur aber auch von der Mitarbeit der Eltern und Kinder über die Ausschluss von Syndromen (z. B. Larsen-Syndrom, Möbius-­ gesamte Nachbehandlungszeit. Bei konsequenter Frühbehandlung und regelmäßigen Kontrolluntersuchungen zur frühen Rezidiver­ Syndrom). fassung und -behandlung werden heute in >95% sehr gute bis zufriej jDiagnose denstellende Resultate erzielt. Postpartal wird die Diagnose nach dem klinischen Befund gestellt. j jDifferenzialdiagnose Klumpfußhaltung, neurogener Klumpfuß, Sichelfuß/Metatarsus ­varus, Kletterfuß/Pes supinatus. j jTherapie Entscheidend zum Erreichen der Therapieziele sind die Sofort­ behandlung mit vollständiger Korrektur aller Teilkomponenten der Klumpfußfehlstellung, die konsequente Schienenbehandlung während der Ruhephasen bis zum 4. Lebensjahr sowie die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen zur frühen Rezidiverfassung bis zum Wachstumsabschluss. Die Ziele der heutigen Behandlung sind die komplette Korrektur der Klumpfußfehlstellung, der langfristig schmerzfrei funktionsfähige Fuß mit plantigrader Belastung sowie das Tragen von Konfektionsschuhen von Laufbeginn an. Konservative Therapie  Redression mit Beginn der Therapie in-

nerhalb der ersten 2 Wochen nach der Geburt. Heute wird initial immer die Ponseti-Redressionstechnik angewendet. Beim Gipsen wird zunächst die Hohlfußstellung (Cavus) und nachfolgend schrittweise die Vorfußadduktion bis etwa 70°-Vorfußabduktion überkorrigiert. Dadurch gelingt es, durch 5- bis 10-malige Gipsredressionen den subtalaren Fußkomplex (Kalkaneus, Mittelfußknochen) in die anatomisch korrekte Position unter bzw. vor den Talus zu derotieren. Bei 50–70% der betroffenen Kinder besteht eine Verkürzung der Wadenmuskulatur. In diesen Fällen wird mit einer perkutanen Ver-

27.5.4

Kongenitaler Plattfuß

jjDefinition Angeborene, schwerwiegende Deformität des Fußes mit Steil­stellung des Talus bei hoch stehendem Kalkaneus und Luxation im Talonavikulargelenk; dadurch Abflachung des Fußlängsgewölbes und Fersenhochstand, Abduktion und Pronation des Vorfußes. jjEpidemiologie Der angeborene Plattfuß (Pes planovalgus congenitus, Pes planus congenitus, Talipes planovalgus, Talus verticalis, Tintenlöscherfuß) ist selten und wird allenfalls 1- bis 2-mal jährlich in einer Klinik gesehen. In ca. 50% der Fälle besteht eine Assoziation mit zusätzlichen Fehlbildungen und Systemerkrankungen (z. B. Myelomeningozele, Arthrogrypose, Neurofibromatose). jjPathogenese Das Os naviculare und das Os cuboideum luxieren im ChopartGelenk nach dorsokranial, der Talus kippt nach mediokaudal und steht damit vertikal in Verlängerung der Tibia. Der Kalkaneus steht bei verkürzter Wadenmuskulatur im Equinus (Fersenhochstand). jjDiagnose Die Diagnose wird bei Geburt überwiegend klinisch gestellt. Die meist einseitig konvex gebogene Fußsohle ist auffällig (Tinten­

721 Orthopädie

löscherfuß). Der Talus ist am medialen Fußgewölbe zu tasten; die Ferse steht hoch, der Vorfuß in Abduktion. Röntgen des Fußes in 2 Ebenen: Talus verticalis. (Sub)luxation des Talokalkaneonavikulargelenks. Winkel zwischen Längsachse Kalkaneus-Talus >40° (maximal 90°). jjDifferenzialdiagnose Physiologischer Scheinplattfuß des Neugeborenen, flexibler Plattfuß. jjTherapie Das Therapieziel ist eine möglichst gute Stellungskorrektur. Sofort nach Geburt manuelle Redression und Gipsbehandlung nach­ der „Reversed“-Ponseti-Methode. Danach Schienenbehandlung. Gelingt mittels der konservativen Behandlung keine Reposition des Os naviculare, empfiehlt sich die baldige operative Korrektur ­(Reposition des Talonavikulargelenks und Raffung der Gelenkkapsel ggf. mit Verlängerung und Transfer einzelner Sehnen). 27.5.5

Hohlfuß

jjDefinition Der Hohlfuß (Pes cavus) ist gekennzeichnet durch ein überhöhtes Fußlängsgewölbe mit plantarflektiertem ersten Strahl, Inversion des Fußes im unteren Sprunggelenk mit varischer Ausrichtung des Rückfußes und Tendenz zur Ausbildung von Krallenzehen. Man kann von der Form und Ursache her den häufigeren Ballen- vom Hackenhohlfuß unterscheiden. jjÄtiologie Milde Formen treten häufig idiopathisch auf. Bei schweren Verlaufsformen bzw. Progredienz im Wachstumsalter liegt jedoch meist eine neurologische Ursache zugrunde (z. B. Gruppe der hereditär sensorischen und motorischen Neuropathien, Friedreich-Ataxie, Dysraphien, periphere Lähmungen, Rückenmarkstumoren). jjKlinik Auffällig ist das übermäßig hohe Längsgewölbe mit stark be­ schwieltem und schmerzhaftem Ballen (Ballenhohlfuß). Leichte Fälle sind oft konstitutionelle Varianten; es lohnt sich, die Füße der Eltern zu begutachten. jjDiagnose Zur ätiologischen Abklärung sind erforderlich: 44 neurologische Untersuchung, Inspektion des Rückens (z. B. Hautauffälligkeiten in der Mittellinie), 44 Röntgenaufnahmen der LWS (z. B. Spina bifida), evtl. Kernspintomographie, spezielle Diagnostik, z. B. EMG, 44 Röntgen des Fußes in 2 Ebenen, 44 molekulargenetische und neuropathologische Untersuchung.

27.6

Achsen-, Längen- und Torsionsprobleme

Gerade im Bereich der unteren Extremität ist die Kenntnis der normalen Entwicklung von Achsen- und Torsionsverhältnissen wichtig. 44 Beinachse: anatomische Achse in der Frontalebene d. h. radiologischer Winkel zwischen Femur- und Tibiaschaftachse. Säugling: O-Beine, Alter von 3 Jahren: ca. 10-15° Valgus, Schulalter: ab ca. 7. bis 10. Lebensjahr physiologischer Valgus (ca. 5–7°). 44 Ober- und Unterschenkeltorsion: zu Beginn Laufalter Innendrehung der Füße, beim Erwachsenen 10–20° Außendrehung. 27.6.1

Idiopathische Coxa antetorta

jjDefinition Der Einwärtsgang ist ein sehr häufiges Symptom im Wachstums­ alter, von dem etwa 13% aller Kinder betroffen sind. Ursachen für ein vermehrt innen rotiertes Gangbild sind die im Kindesalter vermehrte Ausrichtung der Schenkelhalsebene nach ventral (Coxa ­antetorta) und die hohe Gelenkbeweglichkeit insgesamt. Insbesondere die Fähigkeit zur Innendrehung der Hüftgelenke nimmt über die Wachstumsphase ab. jjÄtiologie Die Ursache ist eine genetische Disposition. jjKlinik, Diagnose Symptome sind Einwärtsgang und Stolpern. Die Diagnostik umfasst die Beurteilung der Beinachse (Varus- oder Valgusdeformität, physiologische Beinachse, Antekurvation und Rekurvation) und des Gangbilds. Beim Gangbild muss man differenzieren, ob ein Einwärtsgang des ganzen Beins, d. h. Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß („toeing in“, typisch für idiopathische Coxa antetorta) oder ein Kniebohrergang („kneeing in“), d. h. innengedrehter Oberschenkel mit Knie bei gerader Unterschenkel- und Fußstellung besteht. Der Kniebohrergang spricht eher für eine verstärkte Außentorsionsfehlstellung des Unterschenkels und/oder der Füße bei normaler Antetorsion des Schenkelhalses. Weiterhin sind Füße (z. B. Sichelfuß) und Wirbelsäule sowie Funktionsausmaße der Hüft- und Kniegelenke und Beinlängen zu beurteilen. Die Rotation der Hüftgelenke wird in Bauchlage geprüft. Bei idiopathischer Coxa antetorta findet sich nicht selten eine Innenrotation von 70–90° bei stark verminderter Außenrotation. Eine Beckenübersichtsröntgenaufnahme zum Ausschluss einer behandlungsbedürftigen Hüftdysplasie ist sinnvoll (ggf. ergänzt durch eine Antetorsions- (AT-)aufnahme nach Rippstein (. Abb. 27.10) bzw. Schnittbildverfahren zur genauen Vermessung des Drehfehlers).

jjTherapie In nahezu 90% tritt eine Spontankorrektur der idiopathischen Coxa antetorta durch die physiologische Detorsion des Femur während jjTherapie des Wachstums ein. Daher genügen zunächst Aufklärung und BeraBei leichten Fällen genügt zunächst eine Stufeneinlage. Bei schwere- tung. Die Rückbildung der verstärkten Antetorsion verläuft in ren Hohlfüßen hat sich als symptomatischer Eingriff die Durchtren- 2 Schüben (6.–8. Lebensjahr, Pubertät). Bei der typischen idiopathischen Coxa antetorta ist eine krannung der Plantarfaszie ggf. in Kombination mit Sehnentransfers bewährt. Bei kontrakten Hohlfüßen im Jugendalter empfehlen­ kengymnastische oder eine orthopädietechnische Therapie unnötig sich Korrekturosteotomien am Metatarsale I sowie am Mittel- und und eher kontraproduktiv, weil durch das Einwärtsgehen die verstärkte Antetorsion funktionell korrigiert und der Hüftkopf besser Rückfuß. in der Pfanne zentriert wird. Die intertrochantere Derotationsosteotomie ist nur sehr selten erforderlich und auch nur dann, wenn nach mindestens 4- bis 6-jäh-

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44 posttraumatisch: v. a. epiphysäre, aber auch meta- und diaphysäre Frakturen großer Röhrenknochen, 44 kompensatorisch: bei Fehlstellungen benachbarter Gelenke ipsi- oder kontralateral. >> Durch Achsenfehlstellungen kommt es nicht selten zu einem progredienten Fehlwachstum, ausgehend von den kniegelenk­ nahen Wachstumsfugen mit nachfolgender Bandinstabilität, Meniskusläsion und vorzeitiger Arthrose.

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jjKlinik, Diagnose Anlass einer Vorstellung beim Arzt sind selten Beschwerden, vielmehr die Sorge der Eltern wegen der auffälligen Deformität. Die klinische Untersuchung beinhaltet die exakte Messung und Dokumentation der Beinachsen (Kondylen-, Knöchelabstand). Hüften und Sprunggelenke müssen mit untersucht werden: X-Beine sind häufig mit Knick-Senk-Füßen vergesellschaftet und können sich sogar gegenseitig verschlimmern, andererseits kann eine Hüftadduktionskontraktur zu einem kompensatorischen X-Bein führen. Die apparative Diagnostik umfasst in der Regel Röntgenaufnahmen des Kniegelenks in 2 Ebenen, der Patella tangential und eine Ganzbeinaufnahme unter Belastung. Nützlich zur Verlaufskontrolle sind auch Photographien der Beine.

..Abb. 27.10  Rippstein-Aufnahmen zeigen die spontane Korrektur einer idiopathischen Coxa antetorta zwischen dem 6. und 15. Lebensjahr (Reduktion des reellen AT-Winkels von 56° auf 25°)

riger Beobachtung keine Rückbildungstendenz erkennbar ist, Schmerzen in der Knie-, Hüft- oder LWS-Region bestehen und der reell gemessene AT-Winkel deutlich über 50° liegt. j jPrognose In den meisten Fällen stellt sich mit dem Ende der Pubertät spontan die physiologische Antetorsion des Femur ein, die Innendrehfähigkeit der Hüften nimmt ebenfalls ab und das innen gedrehte Gangbild verliert sich. Eine über den Wachstumsabschluss hinaus persistierende idiopathische Coxa antetorta führt als isolierte Deformität kaum zu späterer Koxarthrose. 27.6.2

Beinachsenfehlstellung

j jDefinition Abweichung der Beinachse im Sinne eines Genu valgum (X-Bein), Genu varum (O-Bein) oder Genu recurvatum von ihren physiologischen Maßen aus unterschiedlichen Ursachen. j jÄtiolopathogenese 44 Idiopathisch: konstitutionell bedingt (familiäre Disposition), 44 angeboren: Genu recurvatum (hyperextendiertes Knie – angeborene Kniegelenksluxation), 44 symptomatisch: metabolische (Rachitis, Phophatdiabetes, ­Nephropathie), entzündliche (idiopathische juvenile Arthritis, Osteomyelitiden, bakterielle Gelenkinfektion), myopathische und neurogene Erkrankungen, Tumoren (multiple hereditäre Exostosen), Systemerkrankungen (z. B. Achondroplasie, Osteogenesis imperfecta),

jjDifferenzialdiagnose Skoliose, Hüftdysplasie, Schenkelhalsfehlformen im Rahmen angeborener Femurdefekte, Malrotationssyndrom der unteren Extremitäten mit verstärkter Torsion der Tibia, Fußfehlstellungen. jjTherapie Die Therapie ist abhängig von der Ursache und Ausmaß der Deformität. Bei nicht zu schweren Fehlstellungen sind beim X-Bein Schuh­ innenranderhöhung, beim O-Bein Schuhaußenranderhöhung bzw. entsprechende Einlagen gerechtfertigt. Nächtliche Orthesen zur Wuchslenkung sind unbequem, haben keine gesicherte Wirksamkeit und sollten deshalb nicht verordnet werden. Eine Korrekturosteotomie wird bei progredienter Deformität ohne spontane Besserungstendenz (O-Bein Kondylenabstand, XBein mit über 10 cm Innenknöchelabstand) am Ort der Achsabweichung durchgeführt. Eine minimalinvasive und elegante Alternative zur Korrekturosteotomie ist die Hemiepiphyseodese (medial oder lateralseitiger Stopp der Wachstumsfuge). Diese Technik bedarf einer präzisen Berechnung des richtigen Korrekturzeitpunkts und wird in der Regel in einem engen therapeutischen Zeitfenster zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr durchgeführt. jjPrognose Sie kann nur individuell in Abhängigkeit von der Kausalität, dem Ausmaß der Fehlstellung, der Progredienz und der Wachstumspotenz eingeschätzt werden. Bei Operation vor Wachstumsabschluss sind die Eltern auf das Auftreten eines Rezidivs und die Notwendigkeit einer evtl. weiteren OP nach Wachstumsabschluss hinzuweisen. 27.6.3

Beinlängendifferenz

jjDefinition Eine Beinlängendifferenz (BLD, Verkürzung bzw. Verlängerung des Beins) ist eine scheinbare oder tatsächlich unterschiedliche Bein­ länge im Vergleich zur Gegenseite. Hierbei sind zu unterscheiden:

723 Orthopädie

..Tab. 27.6  Konservative Therapie von Beinlängendifferenzen (BLD) BLD ≤1 cm

Kein Ausgleich bei Beschwerdefreiheit

BLD 1,0–1,5 cm

Zurichtungen am Konfektionsschuh

Absatzerhöhung 1 cm und Einlage 0,5 cm

BLD 1,5–3 cm

Zurichtungen am Konfektionsschuh

Absatzerhöhung 1 cm, Ballenrolle 1 cm, Zwischensohle ca. 0,5 cm oder Fersenkeil bis 1 cm, Absatzerniedrigung der Gegenseite von ca. 0,5 cm

BLD >3 cm

Orthopädischer Schuh, Orthoprothese

Orthopädische Schuhe mit Innenschuh (bis max. 5 cm), Orthoprothese (Etagenschuh ab 5 cm)

44 Funktionelle oder scheinbare Beinlängendifferenzen: Ur­ sachen sind in der Regel Kontrakturen in Hüft-, Knie- oder oberem Sprunggelenk, z. B. ist bei Adduktionskontraktur einer Hüfte das entsprechende Bein scheinbar kürzer. 44 Echte (reelle) Beinlängendifferenzen: anatomisch bedingte Verlängerung oder Verkürzung eines Beinabschnitts oder der gesamten unteren Extremität. Durch Wachstumsrückstand, -stimulation oder auch wachstumsunabhängig bedingt. ­Kleinere BLD von wenigen mm bis 2 cm sind überwiegend idiopathisch. jjEpidemiologie Ca. 75% der Bevölkerung haben eine BLD > Orthopädietechnische Maßnahmen ergeben bei Beinlängendifferenz >3 cm ästhetische und funktionelle Probleme, weshalb eine operative Beinlängenkorrektur zu diskutieren ist.

Verkürzende Eingriffe  Die permanente Epiphyseodese (Stopp der gesamten Wachstumsfuge) am gesunden langen Bein ist wiederum eine minimalinvasive und elegante Methode zur Korrektur von Beinlängendifferenzen bis etwa 3 cm. Die Technik wird in der Regel in einem engen therapeutischen Zeitfenster zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr durchgeführt. Verlängernde Eingriffe  Die Indikation zur Verlängerung eines zu kurzen Beins (Kallusdistraktion) kann ab Beinlängendifferenzen von ca. 2 cm gestellt werden. Die Entscheidung ist prinzipiell ab­hängig von Alter, Grunderkrankung, Wachstum, Größe der Längendifferenz, Zustand der angrenzenden Gelenke und zu erwartender Körperlänge nach Wachstumsabschluss sowie Compliance. Wünsche des Patienten sowie Körpergröße und Körperproportionen sind zu beachten. Die Kallusdistraktion ist heute ein international anerkanntes Verfahren. Hierbei wird eine Osteotomie des Röhrenknochens durchgeführt (Kortikotomie) mit anschließend schrittweiser Ver­ längerung (max. 1 mm pro Tag). Im Kindesalter können Beinverlängerungen nur über externe Fixateure erfolgen. Mit Verschluss der Wachstumsfugen besteht die Möglichkeit der Anwendung eines ­intramedullär implantierten Distraktionsnagels. Bei zu erwartenden großen Längendifferenzen, z. B. >10 cm sind mehrzeitige Verlängerungen während des Wachstumsalters anzustreben, um nachteilige Auswirkungen auf die Gelenkfunktion zu vermeiden. Bestehen ausgeprägte Achsfehlstellungen (z. B. angeborene Fibulaaplasie), die eine Achskorrektur erforderlich machen, so ist diese in Kombination mit einer Verlängerung schon ab dem 1. Lebensjahr möglich. Generell gilt, dass je jünger das Kind bzw. der Jugendliche ist, desto weniger Probleme treten bei der knöchernen Regeneratbildung auf.

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Die Verlängerungen mit Distraktionsverfahren durch Fixateur extern oder Distraktionsnägel sind komplikationsträchtig. Die Indikation zu einer operativen Verlängerung sollte sorgfältig gestellt werden und spezialisierten Einrichtungen vorbehalten sein.

Operationen sind bei schweren Deformitäten mit Funktionsbehinderung erforderlich: Korrektur der Verbiegungen durch multiple Osteotomien und intramedulläre Schienung durch z. B. KirschnerDrähte oder „mitwachsende“ Teleskopnägel. 27.7.2

27.7

Angeborene Systemerkrankungen ­ des Skeletts

27.7.1

Osteochondrodysplasien

Achondroplasie Es handelt sich hierbei um eine schon bei Geburt erkennbare, generalisierte Skeletterkrankung (häufigste Skelettdysplasie; 2–3 auf 100.000 Geburten), die zu dysproportionalem Zwergwuchs führt. jjKlinik Bei nahezu normaler Rumpflänge Verkürzung besonders der rumpfnahen Gliedmaßen, außerdem ein vergrößerter Hirnschädel mit sog. Balkonstirn und Sattelnase, eine „Dreizackhand“ und meist Genua vara. Die Intelligenz ist normal. Die Endlänge liegt meist unter 130 cm. Von wesentlicher, praktischer Bedeutung sind der enge Spinalkanal, eine verstärkte Brustkyphose und Lendenlordose sowie Beinachsdeformitäten. Röntgenologisch sind die Veränderungen an Becken und Wirbelsäule pathognomonisch. jjTherapie Bei engem Spinalkanal (zusätzlich sind Bandscheibenvorfälle relativ häufig) mit Beschwerden bzw. neurologischen Ausfällen ist die Dekompression indiziert. Beinachsendeformitäten werden operativ korrigiert. Zunehmend werden operative Verfahren zur Beinverlängerung eingesetzt.

Dysostosen

Klippel-Feil-Syndrom Es handelt sich um eine angeborene Fehlbildung der Halswirbel­ säule  (vertebrale Segmentationsstörung) mit Blockwirbelbildung unterschiedlicher Lokalisation bis in den BWS-Bereich, die oft in Kombination mit anderen Fehlbildungen (z. B. Sprengel-Deformität = Schulterblatthochstand bei dysplastischer Skapula, Gaumenspalte, Spina bifida, Herz- und Nierenmissbildungen) auftritt. jjKlinik Auffällig sind der Kurzhals aufgrund Blockwirbelbildung mit tiefem Haaransatz und die eingeschränkte HWS-Beweglichkeit. Das Röntgenbild der HWS ist beweisend und zeigt das Ausmaß der Fehlbildung. Ein ossärer Schiefhals entsteht bei Asymmetrie der Synostose. jjTherapie In der Regel lassen sich prophylaktisch nur sekundäre Fehlhaltungen der Wirbelsäule durch Krankengymnastik beeinflussen.

Syndaktylie Die Syndaktylie ist eine der häufigsten Fehlbildungen der Hand. Es besteht ein häutiger oder knöcherner Verbund von Fingern oder Zehen. Dieser reicht von nur geringen Hautverbindungen bis zu Löffelhand (-fuß) als schwerste Form (alle Finger oder Zehen sind verbunden). Aufgrund drohenden Fehlwachstums strebt man v. a. bei ossären Syndaktylien an der Hand die frühe operative Trennung an.

Multiple epiphysäre Dysplasie

Angeborene Fehlbildungen

Aufgrund einer Störung der Epiphysenossifikation unterschiedlichen Schweregrads (bevorzugt Femurköpfe, Abgrenzung zum beidseitigen M. Perthes) kommt es zu Gelenkdeformierungen und zu frühzeitiger Arthrose. Typ Ribbing: leichte, Typ Fairbank: schwere Verlaufsform.

27.8

Osteogenesis imperfecta (Glasknochenkrankheit)

Je früher die Schädigung einsetzt, desto schwerer ist im Allgemeinen die Missbildung. Die Dysmelie ist eine Defektbildung an Extremitäten mit großem Variantenreichtum. Die Dysmelie war das Leitsymptom bei der Thalidomid-Embryopathie.

Im Vordergrund steht eine vermehrte Knochenbrüchigkeit bei Osteoporose (Störung der Osteoblastenfunktion) und Minderwuchs (fakultativ). Mehr oder weniger blaue Skleren fallen auf. Die Intelligenz ist normal. j jKlassifikation Man unterscheidet in Abhängigkeit von Ausmaß des Befalls, Begleit­ erkrankungen und Vererbungsmodus 4 Verlaufsformen. j jTherapie Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Ziele sind u. a. Frakturvermeidung, Prophylaxe von Deformitäten und Mobilisation. Die konservative Therapie besteht zunächst im Anpassen von Liegeschalen mit Kopfstützen. Falls das Steh- und Gehalter erreicht wird, werden Orthesen, Steh- und Gehapparate sowie Krankengymnastik einbezogen. Durch medikamentöse Therapie (Bisphosphonate) wird versucht, eine Verbesserung der Knochenqualität zu erreichen.

Fehlbildungen können folgende Ursachen haben: 44 endogene, ca. 90% (genbedingt, vererbbar) oder 44 exogene, ca. 10% (z. B. Röntgen, Medikamente, Infekte).

>> Generell gilt, dass die funktionelle Beeinträchtigung durch operative und/oder prothetische Maßnahmen vor dem Schulalter verbessert werden sollte.

Verschiedene Klassifikationen (formale grobe Einteilung in Plusund Minusbildungen) sind gebräuchlich. Unterschieden wird zwischen dem Fehlen einer ganzen Extremität (Amelie) und Fehlbildungen (Phoko-, Ektro- und Peromelien) an den Gliedmaßen (. Abb. 27.11).

725 Orthopädie

jjDefinition Ein benigner Knochentumor ist „eine spontan entstehende Gewebeformation aus ortsständigem Gewebe mit autonomem, langsamem, z. T. expansivem Wachstum und mit einem dem Ursprungsgewebe entsprechendem Zell- und Matrixbild ohne Metastasierungstendenz. jjKlinik Die Symptome sind meist unspezifisch, oft wird der Tumor zufällig entdeckt. jjDiagnose Ein Röntgenbild der betroffenen Region in 2 Ebenen ist immer notwendig. Für zusätzliche Fragestellungen wird ein MRT durchgeführt. >> Als Regel gilt, dass bei Patienten mit nicht eindeutig belastungsabhängigen, insbesondere auch einseitigen Schmerzen am Bewegungsorgan eine Röntgenaufnahme des betroffenen Körperteils in 2 Ebenen erfolgen muss.

Bei unklarer Diagnostik sollte eine Biopsie vor der definitiven Operation durchgeführt werden. Die histologische Aufarbeitung und Beurteilung sollte in spezialisierten pathologischen Instituten durchgeführt, zumindest jedoch ein Referenzpathologe hinzugezogen werden.

..Abb. 27.11  Beispiele für Dysmelien

27.9

Tumoren

27.9.1

Gutartige Knochentumoren

Primäre Knochentumoren sind selten; die benignen, bevorzugt metaphysär gelegenen Knochentumoren und tumorähnlichen Erkrankungen (. Tab. 27.7) sind hierbei wesentlich häufiger als die raren primären, malignen Knochentumoren (7 Kap. 24).

jjDifferenzialdiagnose Primär maligne Knochentumoren, Tumoren unklarer Dignität, sekundär maligne Knochentumoren, tumorsimulierende Knochenveränderungen. jjTherapie Ziele sind Schmerzbeseitigung, Erhaltung oder Wiederherstellung eines funktionsstabilen Skelettabschnittes und Diagnosesicherung.

..Tab. 27.7  Klassifikation häufiger und wichtiger benigner Knochentumoren Ursprungs­ gewebe

Diagnosetyp

Charakteristika

Osteogen

Osteom

Kompakter oder spongiöser Tumor des reifen Kochengewebes und des Knochenmarks

Osteoidosteom

Exzentrisch oder zentral in Knochen gelegener, ca. 1–2 cm großer Aufhellungsherd (Nidus), umgeben von einer ausgeprägten Sklerosierung. Typisch: Starker Nachtschmerz, der auf Salizylate anspricht. Bei Lokalisation an Wirbelsäule (Wirbelbögen) häufig Skoliose. Im Szintigramm erhebliche Anreicherung. Resektion des Nidus führt zur Schmerzbeseitigung

Osteoblastom

„Größerer Bruder“ des Osteoidosteoms, oft in Wirbelsäule (Wirbelbögen)

Chondrom, zentral (Enchondrom), juxtakortikal, systemisch z. B. Enchondromatose, Ollier-Syndrom, ­Maffucci-Syndrom

Enchondrom häufigster Tumor im Handbereich. Meist zentrale, ovaläre, scharf begrenzte Osteolyse. Kortikalis kann verdünnt sein: Spontanfraktur! Häufig zentrale, stippchenförmige Verkalkungen Therapie: An Hand und Fuß Kürettage und Spongiosaauffüllung Prognose: Von Lokalisation abhängig: an Hand und Fuß gut, bei Lokalisation am Stammskelett und langen Röhrenknochen potenziell maligne Entartung

Chondroblastom

Epiphysäre Lokalisation in Humerus, Hüftkopf, Kniegelenkregion. Macht Gelenkschmerzen! Röntgen: Exzentrische Osteolyse. Rezidivgefahr bei nicht gründlicher Ausräumung groß

Chondromyxoidfibrom

Exzentrisch in Metaphyse, meist Tibia

Osteochondrom, kartilaginäre Exostose, solitär

Häufigster Knochentumor. Mit einer Knorpelkappe überzogener, knöcherner Stiel. Röntgenbild typisch. Maligne Entartung äußerst selten

Multipel hereditär

Multipel an fast allen Skelettteilen. Induzieren häufig Fehlwachstum bei Befall der Röhrenknochen, z. B. Genu valgum. Maligne Entartung nach Wachstumsabschluss ist möglich, aber selten

Chondrogen

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..Tab. 27.7 (Fortsetzung)

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Ursprungs­ gewebe

Diagnosetyp

Charakteristika

Vasogen

Glomustumor

Kleiner, gutartiger Gefäß-Nerven-Muskel-Tumor, der bevorzugt subungual an Zehen oder Fingern auftritt (schmerzhaft)

Anderer ­Ursprung

Benignes, fibröses Histio­z ytom

Sehr seltener Tumor vorwiegend im Epi- und Diaphysenbereich langer Röhrenknochen

Fibröser Kortikalisdefekt, nicht ossifizierendes Osteofibrom

Wahrscheinlich häufigster, gutartiger „Tumor“. Bevorzugt im Bereich der Metaphyse randständig an der Kortikalis. Diagnose: Mit hoher Sicherheit über Röntgenbild zu stellen: scharf begrenzte Aufhellung. Meist Zufallsbefund Therapie: Nur bei größerer Ausdehnung mit Gefahr einer Spontanfraktur ist die operative Aus­ räumung mit anschließender Knochentransplantation erforderlich

Fibröse Dysplasie (solitär; multipel: AlbrightSyndrom)

Erkrankung mit fortschreitender Skelettfehlbildung infolge fibrösen Ersatzes eines Knochens durch faserreiches Bindegewebe mit sekundärer Arrosion der Kortikalis. Beginn meist im Kindesalter, schleichend an einem Knochen (hauptsächlich lange Röhrenknochen der unteren Extremität). Evtl. Fraktur, Deformität. In ca. 40% auffällige Hautpigmentflecken

Juvenile Knochenzyste

Entwickelt sich metaphysär (meist Humerus, Femur), kann erheblich an Größe zunehmen mit oft papierdünner Kortikalis. Wandert allmählich diaphysenwärts. Meist keine Beschwerden, aber Stabilitätsminderung. Diagnose: Häufig erst bei Spontanfraktur Therapie: Operative Verfahren: Kortisoninstillation. Kürettage mit Spongiosaauffüllung oder/und intramedulläre Stabilisierung bei Frakturgefahr

Aneurysmatische ­Knochenzyste

Osteolytischer Knochenprozess, expandierend mit mehrkammerigen, blutgefüllten Hohlräumen. Am häufigsten in Metaphyse langer Röhrenknochen. Verursacht Schmerzen Therapie: Operation in der Regel notwendig

Intraossäres Ganglion

Tumorähnliche, in Gelenknähe auftretende Knochenläsion mit Bildung einer Zyste Lokalisation: Subchondraler Bereich größerer Gelenke

Riesenzelltumor

Osteolytischer, fast ausschließlich epiphysär gelegener, lokal aggressiver Knochentumor mit wechselnder Dignität (benigne, semimaligne, maligne) mit starker Neigung zu Rezidiven. Ca. 15% aller benignen Knochentumoren Probleme: Häufige Rezidive, leichte Implantationsmöglichkeit: Primärbehandlung entscheidend

Tumorähnliche

Semimaligne

Gutartige Tumoren mit eindeutigem Befund der bildgebenden Verfahren ohne klinische Symptomatik und ohne Stabilitätsgefährdung (z. B. Osteochondrom, fibröser Kortikalisdefekt) sind häufig nicht operationsbedürftig. Radiolologisch nicht eindeutig zuordenbare oder funktionell störende Befunde sollten immer einer operativen Entfernung mit histologischer Sicherung zugeführt werden. jjPrognose Die Prognose ist abhängig von der Diagnose, der Ausdehnung des Tumors und der damit einhergehenden Frakturgefährdung. Sekundäre, maligne Entartungen v. a. bei knorpeligen Tumoren und ­Riesenzelltumoren sind bekannt, jedoch sehr selten. Bei exakter Exkochleation oder En-bloc-Resektion ist ein Rezidiv selten.

27.9.2

Bösartige Knochentumoren

Die Grundzüge der Diagnostik und Therapie von Osteosarkomen und Ewing-Sarkomen (. Abb. 27.12) als den beiden wichtigsten ­malignen Tumoren im Kindes- und Jugendalter sind in 7 Abschn. 24.3 beschrieben. Die operative Versorgung erfolgt unter der onkologischen Zielstellung einer vollständigen Entfernung des ­Tumors und funktionell optimalen Rekonstruktion. Die Planung und Durchführung dieser operativen Verfahren erfolgt in enger Abstimmung mit den pädiatrischen Onkologen im Tumorboard und im Rahmen aktuell gültiger Behandlungsprotokolle.

727 Orthopädie

a

b

c

d

..Abb. 27.12  6-jähriges Kind mit Ewing-Sarkom Os pubis und Os ischium links. a Initialer Ultraschall Becken mit ausgedehntem extraossärem Tumoranteil. b Präoperatives MRT des Beckens, koronare Ebene. c Postoperative

Beckenübersichtsröntgenaufnahme nach selektiver Resektion der vom­ ­Tumor befallenen Becken- und Weichteilanteile. d Kind zum Zeitpunkt der Mobilisation postoperativ

27

729

Ophthalmologie F. Grehn, W.E. Lieb, H. Steffen

28.1

Anatomie des Auges  – 731

28.2

Untersuchungsmethoden  – 731

28.3

Erkrankungen der Orbita  – 732

28.3.1 Entzündliche Erkrankungen der Orbita  – 732 28.3.2 Tumoren der Orbita  – 733

28.4

Erkrankung der Lider und ableitenden Tränenwege  – 734

28.4.1 Entzündliche Liderkrankungen  – 734 28.4.2 Lidtumoren  – 734 28.4.3 Fehlstellungen und Fehlbildungen ­der Lider  – 736 28.4.4 Tränenwege  – 736

28.5

Erkrankungen der Bindehaut ­und Hornhaut  – 737

28.5.1 Ophthalmia neonatorum  – 737 28.5.2 Conjunctivitis vernalis  – 738 28.5.3 Hornhautdystrophien  – 738

28.6

Erkrankungen der Linse ­und des Glaskörpers  – 739

28.6.1 Kongenitale Katarakt (Linsentrübung)  – 739 28.6.2 Persistierender hyperplastischer ­primärer Glaskörper (Vitreus) = PHPV  – 740 28.6.3 Lageveränderungen der Linse  – 740

28.7

Glaukom  – 740

28.7.1 Kongenitales Glaukom (Hydrophthalmie, Buphthalmus)  – 740 28.7.2 Sonderformen des kongenitalen ­Glaukoms  – 741

28.8

Uveitis  – 742

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_28

28

28.9

Erkrankungen der Netzhaut ­und Aderhaut  – 743

28.9.1 28.9.2 28.9.3 28.9.4 28.9.5 28.9.6 28.9.7 28.9.8 28.9.9

Retinoblastom  – 743 Retinopathia praematurorum  – 744 Speicherkrankheiten  – 744 Morbus Coats  – 744 Makuladegeneration  – 744 Retinopathia pigmentosa  – 745 Kolobom der Aderhaut  – 746 Battered-child-Syndrom  – 746 Albinismus  – 746

28.10 Erkrankungen des Sehnervs  – 747 28.10.1 Stauungspapille  – 747 28.10.2 Papillitis  – 748 28.10.3 Optikusatrophie  – 748

28.11 Strabismus und Motilitätsstörungen  – 749 28.11.1 Strabismus concomitans  – 749 28.11.2 Strabismus paralyticus, Augenmuskel­paresen  – 750

28.12 Ophthalmologische Veränderungen ­ bei Systemerkrankungen  – 750 28.13 Neuroophthalmologische Erkrankungen im Kindesalter  – 750 28.13.1 Störungen der Pupillomotorik  – 750 28.13.2 Stellungsanomalien der Augen und ­Motilitätseinschränkungen  – 752 28.13.3 Nystagmus  – 755 28.13.4 Kindliche Optikusatrophie  – 756 28.13.5 Psychogene Sehverschlechterung  – 757 28.13.6 Abklärung von Kindern mit ­Kopfschmerzen  – 758

28

731 Ophthalmologie

Anatomie des Auges

F. Grehn, W. Lieb Das Auge eines Neugeborenen ist etwa 17 mm lang und wächst bis zum 10. Lebensjahr auf die normale Größe von 24 mm. Der Hornhautdurchmesser eines Neugeborenen beträgt etwa 9,5 mm, beim Erwachsenen etwa 11,5 mm. Die anatomischen Strukturen des Auges sind in . Abb. 28.1 schematisch dargestellt. 28.2

Untersuchungsmethoden

Refraktionsprüfung/Brillenverordnung  Bereits bei der allerers-

F. Grehn, W. Lieb Die ophthalmologischen Untersuchungsmöglichkeiten sind bei ­Kindern oft eingeschränkt, dennoch ist meist schon bei der 1. Untersuchung eine Erfassung der wesentlichen Befunde möglich. Bei Verdacht auf einen pathologischen Befund kann eine Narkoseuntersuchung erforderlich werden. Visusprüfung  In der Regel beginnen Kinder im 2. Lebensmonat zu fixieren. Mit 2½ Monaten folgen sie bewegten Gegenständen, insbesondere Gesichtern. Mit 1 Jahr ist etwa eine Sehschärfe von etwa 0,5 zu erwarten, mit 4 Jahren eine Sehschärfe von 1,0. >> Die entscheidende Phase zur Prägung der Sehschärfe sind die ersten Lebensmonate und -jahre des Kindes.

Daher müssen Veränderungen, die die Entwicklung der Sehschärfe behindern, wie Schielen, Linsentrübung oder Ptosis, rasch erkannt und ggf. operiert werden. Die Visusprüfung im frühen Kindesalter beginnt mit der Reaktionsprüfung auf Lichtquellen, am besten mit Visitenlampe. Hierbei wird beobachtet, ob das Kind das Licht fixiert. Bei etwas größeren Kindern werden interessante Gegenstände, z. B. Spielzeug, angeboten und dabei Fixation und Blickfolge beobachtet. Zusätzlich wird geprüft, wie das Kind bei Abdeckung eines Auges reagiert. Bei beidseitig etwa gleich gutem Sehvermögen wird das Kind keinen Unterschied in seiner Reaktion zeigen. Sieht allerdings ein Auge deutlich schlechter, dann wird das Kind bei Abdecken des besseren Auges sich wehren oder weinen. ..Abb. 28.1  Schematischer Querschnitt der anatomischen Strukturen eines rechten Auges von oben gesehen

Bei Säuglingen und Kleinkindern bis 2 Jahren ist oft eine Sehschärfentestung mit dem „preferential looking test“ möglich. Hierbei werden vor neutralem Hintergrund Tafeln mit unterschiedlich feinem Streifenmuster gezeigt und beobachtet, ob das Kind in Richtung des Streifenmusters blickt. Erkennt das Kind die Streifen, wird es unwillkürlich dorthin blicken, da die Streifen „interessanter“ sind als die daneben angebotene homogene Fläche. Das feinste Streifenmuster mit eindeutiger Blickbewegung des Kindes gibt die Sehschärfe an. Ab dem Alter von etwa 2 Jahren erfolgt die Visustestung spielerisch mit aktiver Mitarbeit des Kindes durch Erkennen von Kinderbildern oder E-Haken, deren Ausrichtung von dem Kind so gedreht werden muss, wie das dargebotene E es zeigt.

M. rectus lateralis Pars plana Bindehaut Ziliarmuskel Schlemm-Kanal Hornhaut Regenbogenhaut Linse

ten ophthalmologischen Untersuchung muss die Bestimmung der Refraktion erfolgen, um eine ausgeprägte Kurzsichtigkeit (Myopie), Weitsichtigkeit (Hyperopie) oder Stabsichtigkeit (Astigmatismus) zu erkennen. Am besten eignet sich die Skiaskopie (Schattenprobe). Mit Hilfe der Licht-Schatten-Phänomene in der Pupille kann der Untersucher das richtige Brillenglas ermitteln. Die Refraktions­ bestimmung kann bei älteren Kindern auch mit automatischen ­Refraktometernerfolgen. Hyperopie ohne Schielen sollte bei ­Kindern ab etwa 2–3 Dioptrien, Astigmatismus und Myopie ab­ 1 Dioptrie mit einer Brille korrigiert werden. >> Die Brillen müssen kindgerecht gestaltet sein, d. h. mit speziellem Nasensteg und Brillenbügeln. Kunststoffgläser sind ­wegen der Bruchgefahr vorzuziehen.

Spaltlampenuntersuchung  Details im Rahmen der ophthalmologischen Untersuchung kann man nur an dem Spaltlampenmikroskop erkennen. Hierbei wird mit Hilfe eines schmalen, spaltartigen Lichtbüschels ein optischer Schnitt durch die transparenten Augengewebe gelegt und durch das Mikroskop betrachtet. Diese Unter­ suchung ist bei kleinen Kindern wegen der Abwehr nicht möglich, jedoch meist mit der sog. Handspaltlampe, die lageunabhängig anwendbar ist. Grobe Veränderungen der vorderen Augenabschnitte, insbesondere eine Trübung der brechenden Medien sind auch ohne Spaltlampe, bei seitlicher fokaler Beleuchtung mit einer hellen ­fokussierten Lichtquelle, und im durchfallenden Licht mit dem ­ irekten Ophthalmoskop sichtbar. Dies wird von Kindern meist gut d toleriert.

Fovea Sehachse

K vordere Augenkammer hintere Augenkammer Zonulafasern Ziliarkörper M. rectus medialis

K

28.1

Papille Glaskörper

Macula lutea Lamina cribrosa N. opticus Netzhaut Aderhaut Lederhaut

732

F. Grehn et al.

Augeninnendruckmessung  Die Augeninnendruckmessung mit der Applanationstonometrie nach Goldmann an der Spaltlampe

28

wird nur von größeren Kindern toleriert. Hierzu ist ein direkter ­Kontakt des Messkörperchens mit der zuvor durch Tropfen anästhesierten Hornhaut nötig. Das Handapplanationstonometer ist ­lageunabhängig und wird auch bei Narkoseuntersuchung eingesetzt. Das „Rebound-Tonometer“ erfordert keine Tropfanästhesie und wird in vielen Fällen auch von kleinen Kindern und Säuglingen ­toleriert. Hierbei wird ein sehr kleiner, leichter Stift gegen die Hornhaut „geschossen“ und aus den Rückpralleigenschaften der Augen­ innendruck ermittelt. Bei höheren Druckwerten ist die Genauigkeit eingeschränkt. Deshalb muss bei Verdacht auf erhöhten Augen­ innendruck und angeborenes Glaukom meist eine Messung in ­Narkose erfolgen, wobei Sedativa und Inhalationsnarkotika den ­Augeninnendruck artifiziell senken können. Eine orientierende Abschätzung des Augeninnendrucks ist durch die Palpation der Härte des Augapfels durch das geschlossene Oberlid mit den beiden ­Zeigefingern möglich, erfordert aber einige Erfahrung.

Pseudotumor orbitae Es handelt sich um eine im Kindesalter häufige nicht spezifische orbitale Entzündung. Die Patienten werden mit Schmerzen, Exophthalmus, Lidschwellung, Beweglichkeitseinschränkung und ggf. sogar Visusreduktion vorgestellt. Je nach Lokalisation kann sich die Entzündung als orbitale Myositis, Skleritis oder als Dakryoadenitis manifestieren. jjDiagnose Neben der klinischen Untersuchung sind bildgebenden Verfahren (Ultraschall, Computer- und Kernspintomographie der Orbita) wegweisend. jjTherapie Die Mehrzahl der nicht spezifischen orbitalen Entzündungen reagieren rasch auf Kortikosteroide, z. B. Prednisolon 1 mg/kgKG/Tag, die über einen Zeitraum von mehreren Wochen reduziert werden sollten.

Präseptale Zellulitis

Untersuchung des Augenhintergrundes  Für eine genaue Untersuchung muss die Pupille medikamentös erweitert werden. Die direkte Ophthalmoskopie im aufrechten Bild lässt sich bei größeren Kindern oft problemlos durchführen. Die indirekte Ophthalmoskopie im umgekehrten Bild ergibt für die Fundusperipherie einen

jjÄtiologie Bei der präseptalen Zellulitis ist Orbitainfektion auf den Bereich vor dem orbitalen Septum begrenzt. Ätiologisch kommen insbesondere Lidinfektionen infrage (akute Blepharitis, Insektenstich, infiziertes Chalazion, Herpes simplex, Hautabszess). Weitere Ursachen können eine Dakryozystitis oder eine Infektion der oberen Atemwege durch Haemophilus oder Streptokokken sein.

Prüfung der Augenstellung  Eine Schielstellung erkennt man zunächst an den Hornhautreflexbildern. Dazu visiert man über einer Visitenlampe auf die Hornhautoberfläche und beobachtet die Hornhautreflexbilder beider Augen. Diese liegen normalerweise zentriert und symmetrisch. Ist der Hornhautreflex an einem Auge verschoben, liegt ein Schielen vor. Schielen wird mit dem Abdecktest und dem Aufdecktest untersucht. Beim Abdecktest wird ein Auge abgedeckt. Die Aufmerksamkeit gilt der Bewegung des nicht abgedeckten Auges. Führt dieses Auge eine Einstellbewegung aus, so besteht ein manifestes Schielen (Heterotropie): Durch Abdeckung des nicht schielenden Auges nimmt das schielende Auge erst die Fixation auf und führt deshalb in dem Moment der Abdeckung des nicht schielenden Auges eine ruckartige Einstellbewegung aus. Der Aufdecktest dient dem Erkennen eines latenten Schielens (Heterophorie). Latentes Schielen wird erst dann manifest, wenn die Bildfusion beider Augen aufgehoben wird. Man deckt ein Auge einige Sekunden ab. Liegt latentes Schielen vor, dann weicht das Auge unter der Abdeckung ab, da die Fusion aufgehoben ist. Wird das Auge wieder aufgedeckt, sieht man eine Fusionsbewegung des aufgedeckten Auges, wobei durch Bildverschmelzung wieder Parallelstand entsteht. Man achtet weiter auf Nystagmus. Angeborener Nystagmus ist meist pendelförmig, erworbener oft ruckförmig. Als „latenten Nystagmus“ bezeichnet man einen Rucknystagmus, der nur manifest wird, wenn ein Auge abgedeckt ist.

jjKlinik Das Kind wird mit einseitiger Lidschwellung, Fieber, Leukozytose und lokalen Veränderungen, z. B. Chalazion, vorgestellt. Tränenlaufen und Absonderungen können vorhanden sein.

­ esseren Überblick, wird wegen der stärkeren Blendung aber von b kleineren Kindern oft nicht toleriert.

28.3

Erkrankungen der Orbita

F. Grehn, W. Lieb 28.3.1

Entzündliche Erkrankungen der Orbita

Entzündungen der Orbita lassen sich unterteilen in unspezifische orbitale Entzündungen oder spezifische Ursachen wie z. B. Sarkoidose und Wegner-Granulomatose.

jjDiagnose Abstrich aus dem Bindehautsack, mikroskopische Keimdiagnostik und Antibiogramm. Eine Computertomographie oder Kernspintomographie zum Ausschluss assoziierter Entzündungen im Bereich der Nebenhöhlen ist bei schweren Formen erforderlich. jjTherapie Antibiotische Behandlung entsprechend Antibiogramm bzw. Blutkultur. Eine chirurgische Abszessdrainage ist nur selten erforderlich.

Orbitalphlegmone Die Orbitalphlegmone ist eine eitrige Infektion des Orbitagewebes, die sich hinter dem orbitalen Septum ausbreitet. Eine Kombination mit einer präseptalen Entzündung ist häufig. jjÄtiologie Häufig assoziiert mit Nasennebenhöhlenerkrankungen oder durch Traumen, Fremdkörper, hämatogene Infektionen. Häufige Erreger sind: Haemophilus influenzae, Staphylococcus aureus, Streptococcus pyogenes, Streptococcus pneumoniae und Escherichia coli. jjKlinik Schweres allgemeines Krankheitsbild mit Exophthalmus, Rötung und Schwellung der Lider, Bindehautchemosis, oft Visusminderung. Die Augenbeweglichkeit ist charakteristischerweise eingeschränkt. Hinzu kommen systemische Zeichen: allgemeines Krankheitsgefühl, Schmerzen, Fieber, erhöhte BSG und CRP-Anstieg. !! Cave Als Komplikationen können eine Sinus-cavernosus-Throm­ bose oder eine Meningitis auftreten.

733 Ophthalmologie

jjDiagnose Die Diagnostik erfordert einen Erregerabstrich mit kultureller ­Anzüchtung, ein HNO-ärztliches Konsil zur Fokussuche, ggf. Computertomogramm der Orbita und der angrenzenden Nasennebenhöhlen. jjTherapie Bei noch unbekanntem Erreger eine empirische antibiotische Therapie, bei Abszess ist die chirurgische Drainage erforderlich. Engmaschige klinische Verlaufskontrollen des Auges zur Funktion sind notwendig, ggf. kann auch zu der Verlaufskontrolle eine Bildgebung erforderlich werden. 28.3.2

Tumoren der Orbita

Rhabdomyosarkom jjEpidemiologie Das Rhabdomyosarkom ist der häufigste maligne Orbitatumor im Kindesalter. Seine Inzidenz schwankt zwischen 1–4% aller biopsierten Orbitatumoren. Das männliche Geschlecht überwiegt im Verhältnis 5:3. Durchschnittsalter bei Diagnose ist das 7.–8. Lebensjahr. jjKlinik Die charakteristische Erstmanifestation des orbitalen Rhabdomyosarkoms ist ein rasch auftretender und progredienter Exophthalmus mit Verlagerung des Auges (. Abb. 28.2) bzw. eine rasch wachsende Raumforderung oder einseitige plötzliche Ptosis. Im Anfangsstadium kann die Symptomatik als entzündlich fehlgedeutet werden. Besonders häufig ist das embryonale Rhabdomyosarkom in der medial oberen Orbita. jjDiagnose Magnetresonanztomographie und Computertomographie ermög­ lichen die exakte Größen- und Lagedefinition des Tumors. Zur endgültigen Diagnostik muss eine chirurgische Biopsie mit gleichzeitiger Tumorverkleinerung erfolgen. jjTherapie Die Therapie erfolgt interdisziplinär zwischen Augenarzt und einem kinderonkologischen Zentrum, wobei Chemotherapie und ggf. Strahlentherapie eingesetzt werden. jjPrognose Die Prognose der Patienten mit orbitalem Rhabdomyosarkom hat sich in den letzten Jahren sehr stark verbessert. Während früher eine Exenteratio orbitae vorgenommen wurde, ist diese heute fast nie mehr erforderlich. Neuerdings liegt die 3-Jahresüberlebensrate des orbitalen Rhabdomyosarkoms bei 93%. >> Die hohen Überlebensraten sind jedoch nur bei frühzeitiger Diagnose und rasch durchgeführter interdisziplinärer Therapie zu erzielen.

Knochentumoren Einer der häufigsten vom periorbitalen Knochen ausgehenden ­Tumoren im Kindesalter ist die Langerhanszell-Histiozystose (syn. Histiozytosis X). jjDiagnose Radiologische Untersuchungen zeigen scharf demarkierte Osteo­ lysen ohne umgebende Sklerose. 25% der Patienten mit simultaner

..Abb. 28.2  Rasch zunehmender Exophthalmus links mit zarter Bindehautchemosis bei einem 12-jährigen Mädchen. Im CT zeigte sich eine große Raumforderung in der medial oberen Orbita, histologisch ergab sich ein embryonales Rhabdomyosarkom

Knochen- und Weichteilbeteiligung haben auch eine Orbitabeteiligung. Die Diagnose wird durch eine Biopsie gesichert, wobei im Bereich der Läsion gleichzeitig Kortikosteroide instilliert werden können. jjTherapie Systemische Kortikosteroidtherapie, ggf. Kürettage der Läsion und

abhängig von der sonstigen Beteiligung Chemotherapie.

jjPrognose Die Überlebensrate von Patienten, die mit Chemotherapie behandelt wurden, beträgt 70%. Die Prognose ist bei Kindern mit multifokaler Beteiligung innerhalb der ersten Lebensjahre schlecht, da auch ­Leber, Lunge und das hämatopoetische System beteiligt sein können. Seltene Knochentumoren  Fibröse Dysplasie und ossifizierendes Fibrom sind seltene Erkrankungen. Diese führen häufig zur Ge-

sichtsasymmetrie mit dem Risiko der Optikuskompression.

Optikusgliom Das Gliom des Sehnervs ist ein wichtiger Orbitatumor. 90% dieser Tumoren entstehen innerhalb der ersten 2 Lebensdekaden. Eine Häufung besteht zwischen dem 2. und 6. Lebensjahr. jjKlinik Charakteristische klinische Zeichen sind Exophthalmus, Visusreduktion, Strabismus und ein afferenter Pupillendefekt. Am Fundus kann man Aderhautfalten, ein Papillenödem, Umgehungskreislauf an der Papille oder eine Optikusatrophie sehen. jjDiagnose Sie stützt sich auf die charakteristischen klinischen Befunde sowie ein typisches Computer- bzw. Kernspintomogramm. Sehnervengliome im Kindesalter sind histologisch gutartig und zeigen keinerlei Mitosen. jjTherapie Die Therapie des Optikusglioms wird noch immer kontrovers diskutiert. Bei Verlust der Sehfunktion ist eine komplette Exzision des Tumors inklusive des Sehnervs denkbar. Die radikale Exzision kann aber aufgrund einer Durchblutungsstörung des Augapfels zu einer Phthisis (Schrumpfung) des blinden Auges führen. Kontinuierliche regelmäßige Beobachtung ist insbesondere bei gut abgegrenzten, auf die Orbita beschränkten Tumoren ausreichend.

28

734

F. Grehn et al.

Optikusmeningeom

28

Meningeome des Sehnerven kommen bereits im Kindesalter vor, häufiger bei Mädchen.Typisch sind erweiterte Venen auf der Papille (Shunt-Gefäße), da die V. centralis retinae durch den Tumor stranguliert wird. Die Therapie des Optikusscheidenmeningeoms besteht bei schlechter Sehschärfe in der radikalen Exzision, wenn der Tumor ins Chiasma einzuwachsen droht (Gefährdung des anderen Auges). Bei noch gut erhaltenem Visus muss ggf. eine Strahlentherapie in Erwägung gezogen werden.

Weitere Tumoren der Orbita Vaskuläre Tumoren machen etwa 10% aller Orbitatumoren im Kindesalter aus. Häufig ist das kapilläre Hämangiom (7 Abschn. 28.4.1). Lymphangiome werden typischerweise vor dem 5. Lebensjahr ma-

nifest. Die darüber liegende Haut ist vielfach bläulich verfärbt. Lymphangiome neigen – anders als Hämangiome – nicht zur Spontanregression. Neurofibrome sind die fünfthäufigsten Orbitatumoren im Kindesalter. Sie bestehen aus Perineuralzellen und Axonen. In 13–30% liegt eine Neurofibromatose Recklinghausen zu Grunde. Neurofibrome der Orbita sind manchmal mit einem angeborenen Glaukom assoziiert.

Metastasen Orbitametastasen entstehen aus einem Neuroblastom, aus Lymphomen oder anderen Primärtumoren, z. B. Wilms-Tumor. In der Mehrzahl der Fälle ist die Diagnose nur im Rahmen des klinischen Kontextes bzw. durch eine Orbitabiopsie zu sichern. 28.4

Erkrankung der Lider und ableitenden Tränenwege

F. Grehn, W. Lieb Erkrankungen der Lider sind im Kindesalter relativ häufig, insbesondere angeborene Fehlbildungen und kongenital angelegte Tumoren sowie eine Vielzahl von Infektionserkrankungen. >> Die Mehrzahl der Liderkrankungen lässt sich bereits durch ­Inspektion diagnostizieren.

28.4.1

Entzündliche Liderkrankungen

Bakterielle Entzündungen Häufig und wichtig sind die Entzündungen der Meibom-Drüsen (Hordeolum, Chalazion) sowie die akute Lidrandentzündung (akute Blepharitis). j jÄtiologie Diese Entzündungen werden vornehmlich durch Staphylococcus aureus oder andere bakterielle Erreger hervorgerufen. jjKlinik Das typische Hordeolum ist ein insbesondere auf Berührung schmerzhafter roter Knoten am Lidrand, der einer entzündeten, geschwollenen Meibom-Drüse entspricht. Nach Rückgang der Entzündung entsteht ein derber schmerzloser Knoten (Chalazion). Bei akuter Blepharitis bestehen Ulzerationen entlang der Wimpernränder mit Lidrötung, Lidschwellung und Bindehautinjektion.

..Abb. 28.3  Multiple weißliche Mollusca contagiosa im Bereich der Lidkante und Lidhaut. Geringgradige Rötung der Bindehaut durch begleitende Konjunktivitis

jjTherapie Hordeolum: Lokale Antibiotikatherapie, z. B. Erythromycin-AT und Überwärmung mittels Rotlicht. Bei Lidrandentzündung: Antibiotika in Kombination mit Lidrandhygiene. Hierbei werden die Lidränder mit verdünnter Babyshampoo-Lösung massiert. Das abgekapselte Chalazion wird von der Lidinnenseite her chirurgisch exzidiert.

Virale Entzündungen Herpes simplex  Bei Kindern ist die Eintrittspforte einer primären

Herpesinfektion im Gesichtsbereich häufig das Lid oder die Bindehaut. Die herpetische Lidentzündung wird durch das Herpes-simplex-Virus Typ I hervorgerufen. Man erkennt die Erkrankung an der charakteristischen Bläschenbildung der Lidhaut. Therapie der Wahl ist die lokale antivirale Augensalbe (Aciclovir-AS). Nach einmal erfolgter und wieder abgeheilter Herpesinfektion wird das Virus latent im Ganglion trigeminale beherbergt. Es wird bei verschiedenen Stressoren freigesetzt und kann auch die Hornhaut und das Augen­ innere befallen. !! Cave Die Kinder sollten stets auf einen zugrunde liegenden Immundefekt untersucht werden!

Molluscum contagiosum  Die Infektion mit Molluscum contagiosum ist eine häufige virale Lidentzündung im Kindesalter. Ursache ist ein DNS-Virus der Pockengruppe. Die Übertragung erfolgt bei Kindern durch direkten Kontakt oder Autoinokulation. Klinisch bestehen disseminierte, grau-gelbliche, halbkugelige Effloreszenzen mit typischerweise eingedelltem Zentrum (Dellwarze; . Abb. 28.3). Bei Befall der Lidkante ist eine Absonderung von Virusmaterial in den Bindehautsack mit follikulärer Konjunktivitis häufig. Zur Therapie werden Inzision, Kürettage und lokale Desinfektion mit Jodpolyvidon oder Lokaltherapie z. B. mit 0,1%iger Vitamin-A-Säure eingesetzt.

28.4.2

Lidtumoren

Kapilläres Hämangiom Das kapilläre Hämangiom ist einer der häufigsten Tumoren im Kindesalter. Es besteht bereits bei der Geburt oder tritt in den ersten Lebenswochen auf. Die Häufigkeit beträgt etwa 1:200 Lebendgeburten, etwa 7% der histopathologisch nachgewiesenen Lidtumoren sind Hämangiome.

735 Ophthalmologie

..Abb. 28.4  Kapilläres Hämangiom des linken Oberlides bei einem ­ 9 Monate alten Kind: deutliche Ptosis und Schwellung des Lides. Trotz freier Sehachse ist die Sehschärfe des linken Auges reduziert und damit eine ­Therapie indiziert

jjÄtiologie Es handelt sich um ein endotheliales Hamartom. Kapilläre Hämangiome in Verbindung mit einer thrombozytopenischen Purpura bilden das Kasabach-Merritt-Syndrom. jjKlinik Häufig findet man eine Beteiligung der Ober- oder Unterlider, auch eine Manifestation im Augenbrauenbereich oder in den Lidwinkeln kann vorkommen (. Abb. 28.4). Zuweilen dehnt sich der Tumor in die Orbita aus. Meist erfolgt innerhalb der ersten Lebensmonate ein erhebliches Tumorwachstum, sodann eine Phase der Wachstumspause und eine langsame Regression. Etwa 30% der Läsionen sind im Alter von 3 Jahren und 70–90% im Alter von 7 Jahren zurückgebildet, ­wobei gelegentlich geringe Hautveränderungen zurückbleiben. jjDiagnose Die Einordnung erfolgt zumeist aufgrund des klinischen Bilds, u. U. ist bei tiefer gelegenen Tumoren die A- und B-Bild-Ultraschalldiagnostik sowie eine Kernspintomographie zur Beurteilung der Ausbreitung und ggf. vorhandener ZNS-Mitbeteiligung notwendig. jjDifferenzialdiagnose Blutgefülltes Lymphangiom, kavernöses Hämangiom, vaskuläre Malformationen. jjTherapie Sofern keine Gefahr für die visuelle Funktion besteht, kann man bei kleineren Läsionen die spontane Tumorregression abwarten. Für frühe Stadien hat sich eine systemische Therapie mit Betablockern (Propranolol) bewährt. Alternativ kommen die systemische oder intraläsionale Verabreichung von Kortikosteroiden in Betracht. Bei intraläsionalen Gaben von Kristallsuspension sind Gefäßverschlüsse anderer Gefäßgebiete in der Literatur beschrieben. Die chirurgische Entfernung sowie Kryo- und Strahlentherapie haben durch die konservativen Therapien an Stellenwert verloren. Die Koagulation mit einem Infrarot-Laser kann bei voluminösen Tumoren ebenfalls zur Tumorverkleinerung eingesetzt werden. jjPrognose Im Allgemeinen ist die Prognose von Lidhämangiomen günstig, maligne Transformationen sind ungewöhnlich , in etwa 50% der Fälle weist das betroffene Auge eine Refraktionsanomalie mit höherer Kurzsichtigkeit (Myopie) oder Astigmatismus auf. Die Achse des Astigmatismus korreliert gut mit der Lage des Tumors, daher ist insbesondere bei konservativem Vorgehen eine frühzeitige Refrak­ tionsbestimmung und kontinuierliche Visusüberprüfung, ggf. mit Amblyopiebehandlung erforderlich.

..Abb. 28.5  Prominente, seit einem Jahr zunehmende, scharf begrenzte Schwellung des temporalen oberen Orbitarandes bei einem 2-jährigen Kleinkind: klassisches Dermoid im Bereich der Sutura frontozygomatica

!! Cave Kapilläre Hämangiome führen zu Refraktionsanomalien, ­insbesondere zu Astigmatismus. Werden diese nicht durch Brillenanpassung korrigiert, entsteht eine Amblyopie!

Dermoidzyste Dermoidzysten machen etwa 16% der Lidtumoren bei Kindern aus, sie treten von der Geburt bis zum frühen Erwachsenenalter auf. Die Manifestation ist umso früher, je oberflächlicher das Dermoid gelegen ist. jjKlinik Die Dermoide können entweder weit vorne am Orbitaeingang ­liegen, also als Lidtumor imponieren, oder tiefer in der Orbita lokalisiert sein. Sie entstehen typischerweise durch Versprengung von epidermalen Gewebeanteilen in die Tiefe entlang der knöchernen Suturen. Meist kommt es zu einer langsamen Größenzunahme ­innerhalb der ersten Lebensjahre, nur selten erst nach der Pubertät. Im Lidbereich zeigen sich die Dermoide typischerweise als prallelastische Tumoren im temporal oberen oder nasal oberen Quadranten (. Abb. 28.5). Bei Ruptur oder Irritation der Zyste kann es zum ­Austritt von Zysteninhalt und erheblicher Fremdkörperreaktion kommen. jjDiagnose Aufgrund des typischen klinischen Bilds sind meistens keine bildgebenden Verfahren erforderlich, im Zweifelsfall kann die Kern­ spintomographie oder aber auch die Ultraschalldiagnostik hilfreich sein. jjTherapie Die Therapie besteht in der chirurgischen Exzision über einen transkutanen Zugang. !! Cave Bei der Operation muss darauf geachtet werden, dass die ­Zyste vollständig und unversehrt entfernt wird.

Sonstige Tumore Neben diesen häufigen Tumoren treten insbesondere Naevi der ­Lidkante sowie juvenile Xanthogranulome oder das Epithelioma calcificans Malherbe auf.

28

736

F. Grehn et al.

28 ..Abb. 28.6  Beidseitige kongenitale Ptosis: Tiefstand beider Lider und fehlende Lidfalte mit reaktivem Hochstand der Augenbrauen bei sehr schlechter Levatorfunktion

28.4.3

Fehlstellungen und Fehlbildungen ­ der Lider

Es gibt eine Vielzahl von Lidfehlstellungen, die z. T. mit anderen Fehlbildungen assoziiert sind.

Kongenitale Defekte und Fehlbildungen Beim kompletten Fehlen der Lider spricht man von Ablepharon, das z. B. auch beim Kryptophthalmus (verkleinertes Auge) vorkommt. Lidkolobome können isoliert oder assoziiert mit anderen Spalt­ bildungen vorkommen, besonders häufig sind sie mit dem Goldenhar-Syndrom oder dem Treacher-Collins-Syndrom verbunden. Die chirurgische Versorgung bei fehlender Symptomatik wird erst ab dem 2.–3. Lebensjahr durchgeführt. Beim Blepharophimose-Syndrom besteht ein Epikanthus ­inversus, ein Telekanthus und eine Ptosis. Das BlepharophimoseSyndrom wird autosomal dominant vererbt. 50% treten sporadisch auf.

Ptosis Eine der häufigsten Lidfehlstellungen ist die kongenitale Ptosis (. Abb. 28.6). Im Kindesalter liegt hierbei eine Dysplasie des Levatormuskels zugrunde. Vielfach fehlt die normale Lidfalte. Eine kongenitale Ptosis kann mit dem Marcus-Gunn-Phänomen verbunden sein. Hierbei öffnet sich das Lid, wenn der Mund geöffnet oder bei Kaubewegungen zur Seite bewegt wird. Ursache ist eine Fehlinnervation, wobei es noch unklar ist, wie es zu der Koppelung von N. oculomotorius (M. levator palpebrae) und N. mandibularis (M. pterygoideus lateralis) kommt. Andere Formen der Ptosis können beim kongenitalen oder erworbenen Horner-Syndrom, bei der Myasthenie, bei neurologischen Erkrankungen, oder mechanisch bedingt auftreten. Nach sorgfältiger Analyse ist die chirurgische Therapie bei Kleinkindern und Säuglingen mit kongenitaler Ptosis frühzeitig indiziert, wenn die Gefahr der Amblyopie durch Okklusion des Auges gegeben ist. Die Wahl des Operationsverfahrens ist von der Levatorfunktion abhängig und besteht entweder in einer lidverkürzenden Operation des M. levator palpebrae (bei noch vorhandener Levatorfunktion) oder in einer Suspension des Lides im Bereich der Braue (bei völlig fehlender Levatorfunktion).

..Abb. 28.7  Dakryoadenitis bei einem 4-jährigen Kind mit schmerzhafter Schwellung im Bereich der rechten Tränendrüse und typischer Paragraphenlidform

28.4.4

Tränenwege

Tränenmangel Eine Reihe von Syndromen, z. B. Riley-Day-Syndrom und SjögrenSyndrom, führen zu Störungen der Tränenproduktion. Die Therapie ist zunächst ursächlich (z. B. Vitamin-A-Defizit in Entwicklungsländern), dann symptomatisch durch Substitution von Tränenflüssigkeit z. B. Polyvenylalkohole, Methylzellulosepräparate, Hyaluron­ säurepräparate.

Dakryoadenitis Die Dakryoadenitis ist eine sehr schmerzhafte Entzündung der ­Tränendrüse. Sie tritt meist einseitig auf und ist typisch bei Virus­ erkrankungen wie Mumps, Mononukleose, seltener bei bei Streptokokken- oder Staphylokokkeninfektionen und Sarkoidose.

jjKlinik Eine schmerzhafte Schwellung und Rötung in der Region der Tränendrüse führt zur Paragraphenform des Oberlids (. Abb. 28.7). jjDiagnose Bildgegebene Verfahren sind nur ausnahmsweise erforderlich, um eine leukämische Infiltration oder einen Tumor auszuschließen. jjTherapie Lokale antientzündliche Maßnahmen evtl. in Kombination mit systemischer antientzündlicher Therapie (Ibuprofen).

Fehlbildungen der ableitenden Tränenkanälchen Wenn die Tränenkanälchen nicht oder fehlerhaft ausgebildet sind, kann Epiphora (Tränenträufeln) entstehen. Häufig sind auch nasolakrimale Fisteln, bei denen der Tränensack durch eine kleine Hautöffnung unterhalb des medialen Lidbändchens nach außen verbunden ist. Diese können sich entzünden und müssen dann exzidiert werden.

Stenose der ableitenden Tränenwege jjGrundlagen Neugeborene haben bereits bei Geburt eine normale Tränensekre­ tion. Bei 96–98% der Kinder sind die ableitenden Tränenwege offen. Sind die Tränenwege nicht durchgängig, so besteht meist ein inkompletter Verschluss des Ductus lacrimalis am unteren Ende kurz vor der Einmündung in die Nase, Der Verschluss ist verursacht durch Residuen einer Schleimhautmembran, der sog. Hasner-Klappe, die sich normalerweise bis zur Geburt ganz zurückbildet.

737 Ophthalmologie

diese nicht erfolgreich ist, eine Dakryozystorhinostomie (knöcherne Öffnung zwischen Tränensack und Nase) durchgeführt werden.

Kongenitale Dakryozystozele Die kongenitale Dakryozystozele des Tränensacks, manifestiert sich bereits in der frühen Neonatalperiode als bläulich-livide Schwellung im medialen Lidwinkel. Sie ist nicht pulsierend und nicht entzündlich und bildet sich oft nicht spontan zurück. Dann ist eine Massage bzw. Sondierung der ableitenden Tränenwege erforderlich. ..Abb. 28.8  9 Monate altes Kind mit Epiphora seit dem 3. Lebensmonat rechts > links: deutliche chronische Entzündungszeichen rechts (→) mit Lidverklebungen und Tränenträufeln bei Tränengangsstenose. Nebenbefund: kleines Hämangiom an der Nasenwurzel

Dakryozystitis

jjKlinik Die Kinder mit kongenitaler Tränenwegsstenose haben persistierendes Tränenlaufen, chronisch eitrige Absonderungen und Ver­ klebungen der Lider (. Abb. 28.8). Weitere Zeichen sind Rötung­ der umgebenden Lidhaut sowie eine Rötung und Schwellung im medialen Kanthus. Aus dieser chronischen Dakryozystitis kann sich eine präseptale Orbitazellulitis entwickeln.

jjKlinik Symptome sind Schmerzen, Rötungen und Schwellungen in der ­Region des Tränensacks verbunden mit allgemeinem Krankheitsgefühl und ggf. Fieber.

jjDiagnose Die Diagnose lässt sich meist durch Inspektion stellen. In den ersten Wochen nach der Geburt kommt es zum Rückstau von Schleim und eitrigem Sekret am unteren Lidwinkel mit Tränenträufeln. Bei Druck auf den Tränensack lässt sich Sekret aus den Tränenpünktchen ­exprimieren. Bei Epiphora muss man differenzialdiagnostisch an ein kongenitales Glaukom denken (7 Abschn. 28.7). jjTherapie Die Behandlung besteht zunächst in digitaler Massage 2- bis 4-mal pro Tag, wobei die Eltern instruiert werden, mit ihrem Zeigefinger im medialen Lidwinkel des Kindes kräftig nach unten zu massieren. Damit wird Sekret nasenwärts transportiert und ggf. die HasnerKlappe aufgesprengt. Zusätzlich sollten bei erheblicher, eitriger Absonderung Erythromycin-Augentropfen 2- bis 3-mal/Tag für eine Woche gegeben und die Lider mit feuchten Kompressen gereinigt werden. Der Zeitpunkt der Tränenwegsspülung und Tränenwegssondierung im Kindesalter wird kontrovers beurteilt. Sie gehört immer in die Hände eines Augenarztes. Bei ausgeprägter Symptomatik über einige Wochen und fehlgeschlagener konservativer Therapie ist eine Sondierung auch schon in den ersten Lebensmonaten zu empfehlen. Als Intervention ist meist eine Überdruckspülung über das obere oder untere Tränenkanälchen ausreichend oder eine Sondierung erforderlich. Dieser sehr kurze Eingriff kann bei Säuglingen bis zu einem Jahr auch unter lokaler Tropf- und Spülanästhesie ohne ­großen Aufwand erfolgen, weil die Säuglinge noch gut festgehalten werden können. Zwar öffnen sich ein Teil dieser Verschlüsse während des 1. Lebensjahres spontan, eine langdauernde chronische Entzündung ist aber langfristig nachteilig. Bei Kindern über einem Jahr ist eine Vollnarkose erforderlich. Die Nachbehandlung besteht in Erythromycin-Augentropfen 2- bis 3-mal/Tag für eine Woche und Otriven 0,05%ig Augen- und Nasentropfen 3-mal/Tag. jjPrognose In über 90% ist die Sondierung und Spülung kurativ. Bei komplizierteren Fehlbildungen, z. B. auch in Verbindung mit Gesichtsspalten, müssen ggf. weiterreichende Maßnahmen, insbesondere die Silikonschlauchintubation der ableitenden Tränenwege oder, sofern auch

Eine akute bzw. chronische Tränensackentzündung entsteht im ­Kindesalter häufig im Zusammenhang mit Stenosen des Ductus nasolacrimalis.

jjTherapie Nach Anlegen von Bakterienkulturen werden lokale und systemische Antibiotika gegeben, ggf. ist eine Abszessinzision notwendig. !! Cave Im akuten Stadium ist eine Sondierung kontraindiziert.

28.5

Erkrankungen der Bindehaut ­ und Hornhaut

F. Grehn, W. Lieb 28.5.1

Ophthalmia neonatorum

jjGrundlagen Die Konjunktivitis des Neugeborenen (Ophthalmia neonatorum) muss kurzfristig vom Augenarzt untersucht und adäquat behandelt werden. Definitionsgemäß tritt die Ophthalmia neonatorum innerhalb des 1. Lebensmonats auf. jjÄtiologie Hauptursachen sind Infektionen mit Chlamydien, seltener sind Staphylococcus aureus und Herpes simplex. Gonokokken sind selten, müssen aber wegen der akuten Gefahr einer Hornhautperforation mit Verlust des Auges differenzialdiagnostisch bedacht werden. Als chemische Ursache ist die Credé-Prophylaxe bei Verwendung von Silbernitrat häufig, bei Verwendung von Antibiotika selten. jjKlinik Der Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung ist differenzialdiagnostisch von großer Bedeutung: 44 Chlamydienkonjunktivitis: 5.–14. Tag, 44 Gonokokkenkonjunktivitis: 1.–3. Tag, 44 chemische Konjunktivitis: innerhalb weniger Stunden und am 1. Tag, 44 Herpes simplex: 5.–7. Tag, 44 Staphylococcus aureus: variabler Zeitpunkt. Die Chlamydienkonjunktivitis tritt als akute mukopurulente Konjunktivitis mit Papillenbildung der Bindehaut in Erscheinung. Im weiteren Verlauf können sich Vernarbungen im Bereich der Bindehaut und Hornhauttrübungen entwickeln.

28

738

28

F. Grehn et al.

Eine Gonokokkeninfektion manifestiert sich als akute puru­ lente Konjunktivitis mit Bindehautschwellung (Chemosis) und Membran- oder Pseudomembranbildung. Eine baldige Behandlung ist zwingend, da ansonsten schnell eine sekundäre Keratitis mit Einschmelzen der Hornhaut eintritt. Die chemische Konjunktivitis ist durch eine lokale Irritation durch Silbernitrat (Credé-Prophylaxe gegen Gonokokken) oder ­lokale Antibiotika bedingt und zeigt sich deutlich weniger dramatisch in Form einer konjunktivalen Hyperämie, die selten länger als 24 h anhält. Die Herpes-simplex-Konjunktivitis tritt als Konjunktivitis mit Beteiligung der Lider auf (Blepharokonjunktivitis). Häufig ist sie von einer Keratitis begleitet. jjTherapie Bei Auftreten einer Chlamydien- oder Gonokokkenkonjunktivitis und anderer bakterieller Konjunktivitiden muss die Mutter mitbehandelt werden, da die Übertragung auf das Kind im infizierten Geburtskanal während der Geburt erfolgt ist. Die Behandlung erfolgt mittels lokaler und systemischer Antibiotika, im Fall einer Gonokokkenkonjunktivitis mit Penicillin, im Fall einer Chlamydienkonjunktivitis mit Erythromycin lokal und systemisch. Die chemische Konjunktivitis bedarf lediglich einer oberflächenpflegenden Therapie. Die Herpes-simplex-Konjunktivitis wird lokal antiviral behandelt (Acicloviraugensalbe). !! Cave Die Gonokokkenkonjunktivitis des Neugeborenen ist bedrohlich und muss baldmöglichst erkannt und behandelt werden.

28.5.2

Conjunctivitis vernalis

j jDefinition Die Conjunctivitis vernalis ist eine beidseitige Konjunktivitis, die bei Jungen typischerweise im Frühjahr isoliert oder kombiniert mit ­einer generalisierten Atopie (z. B. Asthma) auftritt (Frühjahrskatarrh). j jKlinik Die Betroffenen klagen über starke Lichtempfindlichkeit und Juckreiz. Die Oberlider sind durch pflastersteinähnliche Wucherungen der Bindehaut verdickt und hängen deshalb herab (. Abb. 28.9). Zusätzlich können Knötchen am Übergang der Bindehaut zur Hornhaut oben (Trantas-Flecken) und Hornhauterosionen mit anhaftendem Schleim (Vernalis-Plaques) auftreten. Der Bindehautabstrich zeigt eosinophile Granulozyten.

..Abb. 28.9  Conjunctivitis vernalis: pflastersteinähnliche Wucherungen der tarsalen Bindehaut

jjTherapie Kurzfristig werden lokale Steroide gegeben. Zusätzlich kann die Schleimbildung mit Acetylcysteingel verhindert werden. Antiallergisch wird mit unkonservierten Chromoglicinsäureaugentropfen oder Mastzellstabilisatoren behandelt. 28.5.3

Hornhautdystrophien

Die zahlreichen Formen der Hornhautdystrophien werden nach ihrer Lokalisation (epitheliale [vordere], stromale und endotheliale [hintere]) unterteilt. Die meisten Dystrophien werden erst im Erwachsenenalter manifest, einige sind aber bereits im Kindesalter von Bedeutung (. Tab. 28.1). Fast alle diese Dystrophien werden autosomal-dominant vererbt. jjTherapie Bei asymptomatischem Verlauf ist keine Therapie erforderlich.­ Bei rezidivierenden Hornhauterosionen ist eine intensive Ober­ flächenpflege und gelegentlich eine therapeutische Kontaktlinse erforderlich. Bei zunehmender Visusverschlechterung muss eine perforierende Keratoplastik durchgeführt werden, Frühstadien mit oberflächlichen Herden können mit dem Excimerlaser behandelt werden. Beides ist jedoch in der Regel erst im Erwachsenenalter notwendig.

..Tab. 28.1  Hornhautdystrophien im Kindesalter (Auswahl) Dystrophie

Manifestationsalter

Klinik

Reis-Bückler-Dystrophie

3.–5. Lebensjahr

Oberflächliche honigwabenartige Trübungen, rezidivierende Hornhauterosionen, reduzierte Hornhautsensibilität, progredienter Verlauf, zunehmende Visusminderung im Verlauf

Meesmann-Dystrophie

1.–3. Lebensjahr

Feine epitheliale Zysten im Lidspaltenbereich, nur leichte okuläre Irrita­ tionen, guter Visus

Stromale Dystrophie

Granuläre Dystrophie Typ 1

1. Lebensjahrzehnt

Kleine, weiße Granula im vorderen Stroma, rezidivierende Hornhauterosio­ nen, progredienter Verlauf, Visusabfall auf 0,5–0,1 im 4. Lebensjahrzehnt

Endotheliale Dystrophie

Posteriore polymorphe ­Dystrophie

1. Lebensjahrzehnt

Vesikuläre, geographische oder bandförmige Trübungen der Hornhautrückfläche, selten Quellung der Hornhaut, selten Glaukom, meist asymptomatisch, Assoziation mit Alport-Syndrom möglich

Epitheliale Dystrophien

739 Ophthalmologie

..Tab. 28.2  Differenzialdiagnose Leukokorie

..Abb. 28.10  Kongenitale Katarakt mit zentral gelegener weißlich-grauer Trübung

28.6

Erkrankungen der Linse ­ und des Glaskörpers

F. Grehn, W. Lieb 28.6.1

Kongenitale Katarakt (Linsentrübung)

jjGrundlagen Kongenitale Katarakte können schon bei Geburt vorhanden sein oder entwickeln sich in der Kindheit. Die angeborene Linsentrübung kommt mit einer Häufigkeit von 1 auf 10.000–16.000 Geburten vor, bei Konsanguinität häufiger. Sie kann zu einer schweren irreversiblen Amblyopie führen. Bei früher Diagnosestellung und Therapie kann dagegen die Prognose sehr gut sein, sodass bereits Neugebo­ rene untersucht werden sollten. jjÄtiologie Am häufigsten sind kindliche Linsentrübungen sporadisch (¾), oder sie sind genetisch (¼) bedingt (meist autosomal-dominant, selten autosomal-rezessiv oder als Folge einer Neumutation). Eine einseitige Linsentrübung entsteht durch lokale Störungen während der Embryogenese und ist meist von weiteren Veränderungen des Auges begleitet (z. B. persistierender hyperplastischer primärer Glaskörper, Cave: Retinoblastom; 7 Abschn. 28.9.1). Zuweilen tritt die Linsentrübung beidseitig als Folge eines Infekts im 1. Trimenon der Schwangerschaft durch Toxoplasmose, Röteln, Zytomegalie, Herpes oder Syphilis auf. Zusätzlich kann sie bei Chromosomen­ aberrationen (z. B. bei Trisomie 21, 13 und 18) und Stoffwechsel­ erkrankungen (z. B. bei Galaktosämie, Diabetes mellitus, Hypo­ parathyreoidismus, M. Fabry) vorkommen. jjKlinik Linsentrübungen können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Zentrale dichte Linsentrübungen bergen eine hohe Amblyopiegefahr. Periphere Linsentrübungen sind meist wenig visusrelevant. Zentrale dichte Linsentrübungen machen sich durch einen abgeschwächten Rotreflex bei Untersuchung im durchfallenden (regredienten) Licht bemerkbar (. Abb. 28.10). Die Pupille hat dann einen weißen Reflex (Leukokorie). Periphere Linsentrübungen sind meist nur bei erweiterter Pupille zu erkennen. Bei deutlich reduzierter Sehschärfe kann ein Nystagmus auftreten, der Zeichen einer schlechten Prognose ist. Einseitige Linsentrübungen fallen manchmal erst durch die konsekutive Schielstellung auf.

Kongenitale Katarakt

Säuglingsalter, einseitig oder beidseitig

PHPV (persistierender hyperplastischer ­primärer Glaskörper/ Vitreus)

Säuglingsalter, einseitig, Mikrophthalmus, Katarakt

Retinoblastom

Säuglings- oder Kleinkindesalter, häufig einseitig, auch beidseitig möglich (ca. 25%), Verkalkungen im Ultraschall und CT

Retinopathia ­praematurorum

Säuglingsalter, beidseitig mit evtl. unterschiedlicher Ausprägung; Frühgeburt, Sauerstoffbeatmung

Morbus Coats

Kindesalter, fast immer einseitig, bevorzugt Jungen

Kolobom der Aderhaut/Netzhaut oder der Papille

Säuglingsalter, meist einseitig, evtl. Fehlbildungen der vorderen Augenabschnitte

Markhaltige Nervenfasern

Kindesalter, meist einseitig, harmlos

kkLeukokorie Leukokorie bezeichnet das weiße Aufleuchten der Pupille. Nicht selten fällt sie den Eltern bei Fotos mit Blitzlicht durch die koaxiale Beleuchtung auf (eine Pupille rot, die andere weiß). >> Eine Leukokorie erfordert eine sofortige Abklärung der ­Ätiologie (. Tab. 28.2).

jjTherapie Kinder mit Linsentrübung müssen zur Klärung der Ätiologie kinderärztlich untersucht werden. >> Da sich die Linsentrübung bei Galaktosämie durch galaktosefreie Diät zurückbilden kann, muss bei kongenitaler Katarakt der Ausschluss einer Stoffwechselerkrankung erfolgen.

Zentrale, insbesondere einseitige Linsentrübungen haben ein hohes Amblyopierisiko und müssen deshalb früh operiert werden (Lentektomie). Hierbei wird die getrübte Linse mit einem Vitrektomie­ gerät so entfernt, dass nur noch ein schmaler Ring an Kapsel und Zonula stehen bleibt. Bis zum 2. Lebensjahr wird die Linsenlosigkeit (Aphakie) mit einer Kontaktlinse oder bei beidseitiger Katarakt evtl. auch mit einer Starbrille ausgeglichen. Bei guter Verträglichkeit sollte die Kontaktlinse der Starbrille vorgezogen werden, da die Kontaktlinse eine deutlich bessere Sehschärfe ergibt und das Gesichtsfeld des Kindes durch die Starbrille eingeschränkt ist. Ab dem 3. Lebensjahr ist eine Korrektur mit Kunstlinsenimplantation möglich. Wenn man Kindern schon in jüngerem Alter eine Kunstlinse implantiert, lässt sich die spätere Refraktion (Myopie oder Hyperopie) wegen des Wachstums des Auges schlecht vorausberechnen. Zusätzlich reagieren kindliche Augen häufig mit einem intraokularen Reizzustand auf die implantierte Kunstlinse. Wenn eine Linsenentfernung ohne Kunstlinsenimplantation durchgeführt wurde und eine Amblyopie vermieden werden konnte, kann im ­jugendlichen oder Erwachsenenalter eine sekundäre Implantation einer genau berechneten Kunstlinse erfolgen. Nach der Operation einer einseitigen Katarakt ist wegen der erhöhten Gefahr der Amblyopie eine Okklusionsbehandlung mit engmaschiger Kontrolle der

28

740

F. Grehn et al.

..Tab. 28.3  Lageveränderungen der Linse

28

..Abb. 28.11  Subluxatio lentis bei Homozystinurie: die Linse ist nach ­nasal unten verlagert. Temporal sind gedehnten Zonulafasern zu erkennen, die normalerweise als Halteapparat der Linse dienen

Visusentwicklung erforderlich. Bei Operation der angeborenen ­Katarakt vor dem 9. Lebensmonat besteht in 10–25% das zusätzliche Risiko eines späteren Sekundärglaukoms. !! Cave Eine nicht erkannte kongenitale Katarakt kann bei starker Ausprägung zu einer irreversiblen schweren Amblyopie führen.

28.6.2

Persistierender hyperplastischer ­primärer Glaskörper (Vitreus) = PHPV

j jÄtiologie Die Ursache des PHPV ist die fehlende Rückbildung des embryonal angelegten Glaskörpers im 8. Embryonalmonat. Die Ausprägung kann sehr unterschiedlich sein. j jKlinik In 90% der Fälle tritt die Fehlbildung einseitig auf. Augen mit PHPV sind klein (Mikrophthalmus). Bei leichter Ausprägung besteht nur ein Fleck auf der hinteren Linsenkapsel (Mittendorf-Fleck), bei stärkerer Ausprägung bilden sich fibrovaskuläre Membranen hinter der meist eingetrübten Linse, die durch Schrumpfung die Ziliarzotten den Ziliarkörper abziehen. Die Pupille erscheint weiß (Leukokorie, 7 Abschn. 28.6.1). Das Sehvermögen ist deutlich reduziert. Sekundär kann sich eine traktive Netzhautablösung ausbilden. jjTherapie Zur Vermeidung eines Sekundärglaukoms mit nachfolgender Phthisis bulbi (Schrumpfung des Augapfels) sollte in schweren Fällen eine Linsenentfernung mit Ausschneiden der fibrovaskulären Membranen erfolgen. Bei starker Ausprägung ist die Prognose bzgl. der ­Visusentwicklung ungünstig. 28.6.3

Lageveränderungen der Linse

j jÄtiologie Lageveränderungen der Linse treten im Zusammenhang mit dem Marfan-Syndrom, der Homozystinurie (. Abb. 28.11) und dem Weill-Marchesani-Syndrom auf (Klinik: . Tab. 28.3). Sie können auch nach Traumen vorkommen.

Ätiologie

Art der ­Verlagerung

Besonderheiten

Marfan-Syndrom

Nasal oben

Homozystinurie

Unten

Zuweilen Spontanluxation in den Glaskörper, nach Operation erhöhte Amotiogefahr

Weill-Marche­ sani-Syndrom

Unten

Iris- und Linsenschlottern, Kugellinse, akute Augendrucksteigerung durch komplette Verlagerung der Linse in die Pupille oder Vorderkammer

jjTherapie Je nach Ausmaß der Linsenverlagerung und auftretender Sekundärkomplikationen kann eine Kataraktoperation erforderlich werden, wobei der instabile Halteapparat der Linse dann oft keine einfache Linsenimplantation erlaubt. 28.7

Glaukom

F. Grehn, W. Lieb 28.7.1

Kongenitales Glaukom (Hydrophthalmie, Buphthalmus)

jjDefinition Das kongenitale Glaukom entsteht durch erhöhten Augeninnendruck mit nachfolgender Schädigung des Sehnerven. Es ist häufig schon bei der Geburt erkennbar oder wird im ersten Lebensjahr manifest. Aufgrund eines erhöhten intraokularen Drucks kommt es zur Bulbusvergrößerung (den vermeintlich schönen großen Augen) und Einrissen der Descemet-Membran der Hornhaut. >> Unerkannt und unbehandelt führt die Erkrankung zur Erblindung – allen Kinderärzten sollte daher die klassische Symptomatik des kongenitalen Glaukoms geläufig sein.

jjÄtiologie Das frühkindliche Glaukom beruht meist auf einer fehlgesteuerten Entwicklung des Kammerwinkels. Während der Entwicklung des Auges ist der Kammerwinkel mit embryonalem uvealem Gewebe ausgefüllt. Durch persistierendes embryonales Gewebe entsteht eine Blockade des Kammerwasserabflusses. Dadurch steigt der Augeninnendruck an, das Auge vergrößert sich (Hydrophthalmie, Buphthalmus). jjEpidemiologie Die Inzidenz des kongenitalen Glaukoms liegt bei etwa 1:10.000– 18.000, bei Konsanguinität deutlich höher. Der Erbgang ist auto­ somal-rezessiv mit inkompletter Penetranz. Bisher wurden meh­ rere Genloci nachgewiesen, am häufigsten GLC3A auf Region 2p21 und GLC3B auf Region 1p36. jjKlinik, Diagnose Kinder mit Glaukom fallen durch Lichtscheu, tränende Augen und evtl. Lidkrampf auf. Diagnostisch wegweisend ist die Aug­ apfelvergrößerung: Der Hornhautdurchmesser (Neugeborene normal 10–11 mm) beträgt bis 16 mm. Verdacht besteht insbeson­

741 Ophthalmologie

..Abb. 28.12  Kongenitales Glaukom des linken Auges mit Vergrößerung von Bulbus und Hornhautdurchmesser. Mit Hilfe des Maßbands kann der Hornhautdurchmesser quantitativ dokumentiert werden

..Abb. 28.13  Glaumkomatöse Papillenexkavation: tiefe zentrale Aushöhlung und scharfkantig in die Tiefe ziehende Gefäße

..Abb. 28.14  Axenfeld-Rieger-Syndrom: prominente Schwalbe-Linie und gonioskopisch im Kammerwinkel erkennbare Anheftung der Irisperipherie an die Schwalbe-Linie

dere,  wenn eine Hornhauttrübung (Epithel- und Stromaödem) sichtbar ist oder/und eine Seitendifferenz der Augapfelgröße vorliegt  (. Abb.  28.12). Die Descemet-Membran der Hornhaut weist typischerweise Risse auf (Haab-Linien). Bei Verdacht auf ein kongenitales Glaukom muss zusätzlich eine Augeninnendruckmessung erfolgen. Bei Kindern >½ Jahr ist dies meist nur in Narkose möglich, die allerdings den Augeninnendruck künstlich senken kann. Mit dem „Rebound Tonometer“ ist auch bei wachem Säugling eine orientierende Druckmessung ­möglich. Im Rahmen der Narkoseuntersuchung müssen zusätzlich der Hornhautdurchmesser mit dem Zirkel und die Bulbuslänge mit Ultraschall zur Verlaufsdokumentation gemessen werden. ­Häufig entsteht durch die Vergrößerung des Augapfels eine Myopie, die mittels Skiaskopie erfasst und korrigiert werden muss. Neben dem erhöhten Augeninnendruck ist eine glaukomatöse Exkavation des Sehnervs bei älteren Kindern für die Diagnose beweisend (. Abb. 28.13). Eine Gesichtsfelduntersuchung ist im frühen Kindesalter nicht möglich. jjTherapie, Prognose Im Gegensatz zum Glaukom im Erwachsenenalter ist beim kongenitalen Glaukom der operative Eingriff die Methode der ersten Wahl. Hierbei wird das fehlgebildete Trabekelwerk eröffnet und eine direkte Kommunikation zwischen Vorderkammer und SchlemmKanal hergestellt. Als Operationsmethoden sind die Trabekulotomie oder die Goniotomie gebräuchlich. Beide Eingriffe können

wiederholt werden. Bei beidseitigem Glaukom müssen die beiden Augen in relativ kurzem Abstand operiert werden. Bei einseitigem Glaukom oder unterschiedlicher Visusentwicklung ist eine Okklu­ sionsbehandlung zur Amblyopieprophylaxe unbedingt erforderlich. In den meisten Fällen kann bei rechtzeitiger Diagnosestellung eine komplette Erblindung verhindert werden, allerdings resultiert meist eine deutliche Visusminderung (ca. 0,4). Lebenslange augenärztliche Kontrollen sind notwendig, da auch bei jahrelang regulierten Augeninnendruckwerten ein erneuter Augendruckanstieg auftreten kann. !! Cave Kinder mit vermeintlich großen, schönen Augen in Kombination mit Lichtscheu und Tränenlaufen müssen unverzüglich augenärztlich untersucht werden, um ein kongenitales Glaukom auszuschließen.

28.7.2

Sonderformen des kongenitalen ­Glaukoms

Axenfeld-Rieger-Syndrom Das Axenfeld-Rieger-Syndrom weist neben der Kammerwinkel­ fehlbildung zusätzliche ophthalmologische Veränderungen auf (. Abb.28.14): 44 Irisanomalien mit Stromahypoplasie und Pupillenverlagerung, 44 Embryotoxon posterius, entsprechend einer prominenten Schwalbe-Linie (→), 44 Anheftung der Irisperipherie an die vorverlagerte Schwalbe-­ Linie (rechte Seite →). Folgende systemischen Veränderungen kommen vor: 44 verminderte Anzahl der Zähne (Hypodontie), 44 verminderte Größe der Zähne (Mikrodontie), 44 Gesichtsmissbildungen mit Hypoplasie der Maxilla, breiter und flacher Nasenrücken, Telekanthus und Hypertelorismus.

28

742

F. Grehn et al.

Der Erbgang ist meist autosomal-dominant. Die Gene liegen auf Chromosom 4q25 (PITX2) und 13q14 (RIEG2). Die Therapie entspricht der des kongenitalen Glaukoms.

Peters-Anomalie Die Peters-Anomalie ist eine seltene, aber schwere Entwicklungsanomalie des Auges. Verbindungen zum Axenfeld-Rieger-Syndrom

28

sind genetisch nachgewiesen (PITX2). In 50% der Fälle ist sie mit einem Glaukom assoziiert. Die folgenden Veränderungen sind zu finden: zentrale Hornhauttrübung mit Stromaverdünnung, Irisanheftung an der Hornhautrückfläche im Zentrum, Anlagerung der Linse an die Hornhautrückfläche, Verlagerung der Pupille, vorderer Polstar der Linse und Mikrophthalmus. Fehlbildungen des ZNS und Kreislaufsystems können vorkommen. Die Vererbung ist autosomal-rezessiv oder autosomal-dominant. In 80% der Fälle ist die Fehlbildung bilateral. Die operative Versorgung ist schwierig, insbesondere wenn die Hornhauttrübung sehr ausgeprägt ist.

Sekundärglaukome

Morbus Still (systemische juvenile rheumatoide Arthritis) liegt die Häufigkeit der Uveitis bei etwa 6%, bei der frühkindlichen Oligoarthritis bei >50%. Bei diesen Erkrankungen ist der Verlauf der Uveitis typischerweise chronisch. Die HLA-B27-positive ankylosierende Spondylitis (M. Bechterew) kann bereits im späteren jugendlichen Alter vorkommen. Virusinfektionen wie Herpes simplex, Masern und Mumps sind als Ursache selten. Diese sind in der Regel akut und heilen kurzfristig wieder ab. Als seltene Ursache einer chronischen Uveitis anterior muss die Sarkoidose berücksichtigt werden. Die Uveitis intermedia ist im jugendlichen Alter relativ häufig, meist zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr. Die Ätiologie ist unklar. In der Regel kann kein Zusammenhang mit Infektionen oder Sys­ temerkrankungen nachgewiesen werden. Daher werden immun­ pathologische Prozesse angenommen. Die Uveitis posterior entwickelt sich meist im Zusammenhang mit einer erregerbedingten Infektion. Am häufigsten sind Toxo­ plasmose und Toxocara, unter Immunsuppression Candida und Tuberkulose.

Sekundärglaukome im Kindesalter können bei Aniridie, im Rahmen des Sturge-Weber-Syndroms und der Neurofibromatose Typ 1 sowie nach Traumen mit Verletzung der Kammerwinkelstrukturen und nach pränatalen intraokularen Entzündungen (z. B. mit Toxoplasmose, Röteln, CMV) vorkommen. Nach operativer Linsenentfernung bei kongenitaler Katarakt und daraus resultierender Aphakie besteht ein deutliches Risiko eines Sekundärglaukoms, insbesondere, wenn die Operation vor dem 9. Lebensmonat erfolgen musste.

jjKlinik Typische Symptome einer Uveitis sind Lichtscheu, Sehverschlechterung durch Eiweiß in Kammerwasser oder Glaskörper sowie ­Augenschmerzen bei Akkommodation (z. B. beim Lesen). Im Falle einer Uveitis anterior sind Schmerzen und Lichtscheu meist stärker ausgeprägt als bei Uveitis intermedia oder Uveitis posterior. Im ­Gegensatz dazu zeichnet sich die Uveitis anterior bei mit juveniler rheumatoider Arthritis durch einen asymptomatischen Verlauf aus, insbesondere bei Mädchen, die ANA-positiv sind.

Aniridie  Die Aniridie ist eine Fehlbildung, bei der die Iris beidseits

>> Die Uveitis anterior bei juveniler rheumatoider Arthritis ist meist asymptomatisch; daher müssen Kinder auch ohne Beschwerden regelmäßig ophthalmologisch untersucht werden.

vollständig fehlt oder nur ein kleiner Stumpf gonioskopisch sichtbar ist. Sie wird in >60% der Fälle autosomal-dominant vererbt und tritt in etwa 25% sporadisch auf. Zusätzlich können periphere Hornhautvaskularisationen, Katarakt, Glaukom und eine Makulahypoplasie vorliegen. Wichtig ist die mögliche Assoziation zwischen sporadisch auftretender Aniridie und Wilms-Tumor der Niere, sodass alle Kinder mit Aniridie regelmäßig pädiatrisch untersucht werden müssen. Oft besteht eine stark herabgesetzte Sehschärfe sowie ein Nystagmus (7 WAGR-Syndrom). 28.8

Uveitis

F. Grehn, W. Lieb j jGrundlagen Entzündungen der Uvea, also von Iris, Ziliarkörper und Aderhaut (Chorioidea), werden als Uveitis bezeichnet. Etwa 6% aller Uveitiden betreffen Kinder. j jEinteilung Nach anatomischer Einteilung werden die Uveitis anterior (Vor­ derkammer, Iris, Ziliarkörper), Uveitis intermedia (Pars plana des Ziliarkörpers und vorderer Glaskörper) und Uveitis posterior (Aderhaut/Netzhaut) sowie die Panuveitis (alle Bezirke) unterschieden. Klinisch werden die akute und die chronische Uveitis voneinander abgegrenzt. Die histopathologische Einteilung unterscheidet die granulomatöse von der nicht granulomatösen Uveitis. j jÄtiologie Die bei weitem häufigste Ursache der Uveitis anterior im Kindes­ alter ist die chronische juvenile rheumatoide Arthritis (80%). Bei

Uveitis anterior  Objektive Zeichen einer Uveitis anterior sind: 44 ziliare Injektion mit vermehrter Füllung der Gefäße der tiefen

Skleraschichten nahe dem Limbus corneae, 44 enge Pupille (Reizmiosis) mit träger Lichtreaktion, 44 Ablagerungen auf der Hornhautrückfläche (Präzipitate), 44 Lichtweg im Kammerwasser als Hinweis auf erhöhten Eiweißgehalt und Zellen im Kammerwasser, 44 im weiteren Verlauf Verklebungen der Iris an der Linsenvorderfläche (hintere Synechien) mit Entrundung der Pupille. Als Spätkomplikationen können sich eine bandförmige Hornhautdegeneration, eine Katarakt und ein Glaukom entwickeln. Uveitis intermedia  Objektive Zeichen der Uveitis intermedia sind:

44 weißliche Ablagerungen im Glaskörper über der äußersten Netzhautperipherie („Schneebälle“), 44 Verdichtung des Glaskörpers mit Schlierenbildung, 44 Papillenschwellung, 44 Makulaödem.

Uveitis posterior  Die posteriore Uveitis betrifft die Aderhaut und

kann fokal oder diffus verteilt sein. Häufig besteht eine begleitende Infiltration des Glaskörpers. Bei der Toxoplasmose-Retinochorioiditis finden sich typischerweise Herde im Bereich der zentralen Netzhaut. Bei papillennaher Lokalisation wird sie als „Retinochorioiditis juxtapapillaris Jensen“ bezeichnet. Häufig treten am Rand von scharf abgegrenzten grau-weißen Narben neue gelb-weiße ­randunscharfe Herde auf (. Abb. 28.15). Der Glaskörper ist meist stark infiltriert. Bei konnataler Toxoplasmose ist der Herd häufig im

743 Ophthalmologie

..Abb. 28.15  Toxoplasmose-Retinochorioiditis mit 2 alten, scharf begrenzten teils pigmentierten Narben und einem nasal oberhalb der Papille gelegenen frischem, flauschigem Herd

..Abb. 28.16  Leukokorie bei einem 1½-Jährigem. Bei dem weißlichen ­Tumor, der zur Netzhautablösung und Glaskörperinfiltration geführt hat, handelt es sich um ein ausgedehntes einseitiges Retinoblastom

Zentrum der Makula lokalisiert, so dass eine massive Sehstörung die Folge ist. Die Toxocariasis wird am Auge durch eine einseitige Sehverschlechterung, typischerweise zwischen dem 6. und 14. Lebensjahr klinisch manifest. Im Bereich der Makula findet sich ein gelb-weißes Granulom.mit Verziehung der Netzhautgefäße. Periphere Granu­ lome sind meist nicht visusrelevant. Als Komplikation kann eine Netzhautablösung entstehen.

Der Tumor entsteht relativ häufig in beiden Augen (25–35%). Das Durchschnittsalter liegt zum Diagnosezeitpunkt bei 18 Monaten, 90% der Tumoren werden vor dem 3. Lebensjahr diagnostiziert. Nur selten entsteht der Tumor bei Kindern jenseits des 7. Lebensjahres.

jjTherapie Die Uveitis anterior wird zunächst mit Atropin zur Ruhigstellung von Ziliarkörper und Pupille behandelt. Zusätzlich sind bei leichter Ausprägung lokale nichtsteroidale Antiphlogistika oder lokale ­Steroide, bei schwerem Verlauf systemische Steroide und ggf. Immunsuppressiva angezeigt. Bei infektiöser Ätiologie muss zusätzlich erregerspezifisch therapiert werden. Die Uveitis intermedia heilt häufig spontan aus. Bei schweren Fällen kann eine Behandlung mit subkonjunktivalen und/oder systemischen Steroiden oder eine Vitrektomie (Entfernung des Glaskörpers) erforderlich werden. Die Behandlung der Uveitis posterior richtet sich nach der Grunderkrankung und nach der Gefahr der Visusbedrohung, die durch die Lokalisation bedingt ist. Für die Toxoplasmose wird ­Clindamycin oder Pyrimethamin plus Sulfadiazin jeweils in Kombination mit Steroiden empfohlen. Bei Toxocara kommt in Einzel­ fällen bei zentraler Lage des Herdes neben Steroiden eine Therapie mit Thiabendazol in Frage, allerdings sind erhebliche systemische Nebenwirkungen zu berücksichtigen. 28.9

Erkrankungen der Netzhaut ­ und Aderhaut

F. Grehn , W. Lieb 28.9.1

Retinoblastom

jjEpidemiologie Das Retinoblastom ist der häufigste maligne intraokulare Tumor bei Kindern, mit einer Häufigkeit von 1:14.000–20.000 Lebendgeborenen. Eine Geschlechts- oder Rassenprädelektion besteht nicht.

jjGenetik Nur 6% der Patienten haben eine positive Familienanamnese. Diese Fälle werden autosomal-dominant mit über 80%iger Penetranz vererbt. Schätzungsweise 40% der neu diagnostizierten Retinoblastomfälle haben eine erbliche Mutation. Das Retinoblastom entsteht aufgrund des Fehlens eines Tumorsuppressorgens, das auf der q14-Region des Chromosoms 13 lokalisiert ist (13q14). Dieses Gen muss auf beiden Chromosomen 13 fehlen oder defekt sein, um ein Retinoblastom entstehen zu lassen. Entsprechend der Theorie von Knudson ist ein 2. Defekt zur Tumor­ entstehung erforderlich. Nur 7% sind vererbte Keimzellmutationen. Sporadische Fälle machen 93% aller Retinoblastomfälle aus, allerdings diese sind ¼ dieser Fälle genetische Mutationen, d. h. können weitervererbt werden. ¾ der Fälle sind somatische Mutationen, d. h. die Mutation erfolgt im Retinoblasten und ist deshalb nicht erblich. Klinisch lassen sich beide Formen nicht unterscheiden. Sind beide Augen betroffen oder finden sich an einem Auge mehrere Tumoren, muss man von einer genetischen Mutation ausgehen. jjKlinik Patienten mit kleinen Retinoblastomen fallen klinisch primär durch Visusminderung oder Strabismus auf. Bei größeren Tumoren findet man eine Leukokorie (weiße Pupille; . Abb. 28.16). Bei älteren Kindern kann ein Pseudohypopyon auftreten, wenn Tumorzellen in die Vorderkammer gelangen. Sekundärglaukom und Rubeosis iridis sind häufige Komplikationen und betreffen etwa 50% der Fälle. Am Augenhintergrund sieht man bei Retinoblastom einen typisch weiß-gräulichen Tumor, der sich aus der Netzhaut vorwölbt. Kalzifikationen des Tumors und Infiltration des Glaskörpers sind charakteristische Zeichen des Retinoblastoms. Die Wachstumsformen des Retinoblastoms können unterschiedlich sein. Bei Wachstum des Tumors aus der Netzhaut in Richtung Glaskörper spricht man von endophytischem Wachstum. Wächst der Tumor von der Netzhaut nach außen, spricht man von exophytischem Wachstum. Diese Patienten haben eine totale Netzhautablösung und subreti­nale

28

744

F. Grehn et al.

Exsudate, ähnlich denen bei Morbus Coats. Wenn sich der Tumor in den Subretinalraum erstreckt, kann er auch die Bruch-Membran durchbrechen und die Aderhaut infiltrieren. Relativ häufig sind die direkte Infiltration des Sehnervenkopfs und die Ausbreitung von dort in den Subarachnoidalraum und damit in das Gehirn. Beim sog. trilateralen Retinoblastom entsteht der Tumor simultan in der Netzhaut und der Zirbeldrüse (Pinealis), die phylogenetisch ein altes „Sehorgan“ ist.

28

>> Neu aufgetretenes Schielen und Leukokorie können Folge ­eines Retinoblastoms sein.

Daher muss bei der ersten augenärztlichen Untersuchung wegen Schielens immer auch eine Fundusuntersuchung erfolgen. j jDiagnose Die Diagnostik basiert auf der klinischen ophthalmologischen Untersuchung, insbesondere mit indirekter Ophthalmoskopie. Durch Ultraschalluntersuchung kann man die Größe, Lokalisation und Ausbreitung des Tumors dokumentieren sowie die für die Diagnose typischen Verkalkungen erkennen. Im Computertomogramm lassen sich Kalzifikationen genauer darstellen bzw. ausschließen und ggf. ein Einbruch in die Orbita entlang des Sehnervs nachweisen. Die zerebrale Kernspintomographie ist insbesondere zur Darstellung oder Ausschluss eines trilateralen Retinoblastoms erforderlich. Eine Vorderkammerpunktion oder eine Tumorbiopsie ist aufgrund des hohen Risikos der Tumorverschleppung absolut kontraindiziert. Neben der ophthalmologischen Abklärung müssen die Kinder kontinuierlich kinderonkologisch mitbetreut werden. Eine genetische Beratung ist empfehlenswert. jjTherapie Bei sehr großen einseitigen Retinoblastomen ist die Enukleation manchmal auch heute noch erforderlich. Im Falle eines beidseitigen Tumors ist die Behandlung des Auges stark von der Ausdehnung des Tumors abhängig. Bei sehr weit fortgeschrittenem Tumorbefall eines Auges wird dieses enukleiert und das andere lokal therapiert. Bei kleineren lokalisierten Tumoren ist eine Brachytherapie mit episkleral aufgebrachten Strahlenträgern durchführbar. Photokoagulation und Kryotherapie sind für Tumoren vorbehalten, die auf das Niveau der Netzhaut beschränkt sind. Die systemische Polychemotherapie ist bei sehr fortgeschrittenen Tumoren mit extraokularem Wachstum oder Infiltration des Sehnervs sinnvoll. Durch eine sog. Chemoreduktionstherapie wird zunächst eine Tumorverkleinerung erzielt, um dann den Tumor mit anderen Verfahren, z. B. Strahlentherapie, Photokoagulation und Kryotherapie zu zerstören. Damit sind z. T. auch sehr große Tumoren noch unter Erhalt des Auges behandelbar. Durch die kombinierte interdisziplinäre Zusammenarbeit von Augenarzt, pädiatrischem Onkologen, Strahlentherapeut und Humangenetiker kann heute eine Überlebenschance von 95% erreicht werden. Die perkutane Strahlentherapie ist zwar bezüglich Tumorregression und Bulbuserhalt sehr wirksam, jedoch mit einem lebenslangen hohen Risiko (kumulativ 1% pro Jahr) von malignen, nichtokulären Zweittumoren belastet (z. B. Osteosarkom) und wird deshalb weitgehend durch die anderen Therapieoptionen ersetzt. 28.9.2 7 Kap. 4.

Retinopathia praematurorum

28.9.3

Speicherkrankheiten

jjÄtiologie Bei diesen Sphingolipidosen (Tay-Sachs-Erkrankung und NiemannPick-Erkrankung) werden Sphingolipide in den Ganglienzellen der Netzhaut gespeichert. jjKlinik Die Netzhaut erscheint bei der Ophthalmoskopie grau und die Aderhaut leuchtet nur im Foveabereich rot durch, weil sich dort keine Ganglienzellkörper befinden („kirschroter Fleck der Makula“). Die Sehschärfe ist herabgesetzt. Weitere Informationen 7 Kap. 3.15. 28.9.4

Morbus Coats

jjDefinition Beim Morbus Coats (Retinopathia exsudativa) handelt es sich um eine idiopathische Erkrankung des Gefäßendothels. Durch die ­ törung der Blut-Retina-Schranke kommt es zur Ablagerung von S Lipidexsudaten. jjKlinik Die Erkrankung ist fast immer einseitig und betrifft männliche ­Jugendliche im 1. und 2. Lebensjahrzehnt. Häufig wird die Erkrankung durch eine Leukokorie (weißes Aufleuchten der Pupille) und eine Schielstellung bei bereits sehr schlechtem Sehvermögen auf­ fällig. Ophthalmoskopisch zeigen sich großflächige weißliche Exsudate der Netzhaut, die auf die Makula übergreifen können. In der Peripherie sind die Gefäße aneurysmatisch ausgesackt und zeigen eine Vergröberung des Kapillarmusters. Im weiteren Verlauf entwickelt sich oft sich eine exsudative Netzhautablösung mit Erblindung des Auges. jjTherapie Die peripheren Gefäßveränderungen müssen mit Laserkoagulation oder Kryotherapie verödet werden. Bei frühem Therapiebeginn können sich die Exsudate zurückbilden und eine Sehverbesserung erreicht werden. Im späten Stadium ist die Prognose ungünstig. 28.9.5

Makuladegeneration

Makuladegenerationen sind meist Erkrankungen des älteren ­Menschen (altersbezogene Makuladegeneration, AMD). Hereditäre Formen treten bereits im Kindesalter auf und werden oft auch als Dystrophien bezeichnet. Die beiden wichtigsten Makuladegenera­ tionen im Kindesalter sind der Morbus Stargardt und der Morbus Best.

Juvenile Makuladegeneration (Morbus Stargardt, Fundus flavimaculatus) jjÄtiologie Die juvenile Makuladegeneration wird meist autosomal-rezessiv vererbt, selten autosomal-dominant. Ursächlich sind Lipofuszinablagerungen im retinalen Pigmentepithel. Ein häufiger Gendefekt wurde auf Chromosom 1p22 (ABCA4-Gen) nachgewiesen. jjKlinik Die Krankheit beginnt im 1.–3. Lebensjahrzehnt. Sie tritt beidseitig auf. Es kommt zu einem Abfall der zentralen Sehschärfe auf etwa 0,2,

745 Ophthalmologie

jjTherapie Vergrößernde Sehhilfen. Eine humangenetische Untersuchung ist anzuraten. 28.9.6

Retinopathia pigmentosa

jjDefinition Es handelt sich um eine hereditäre, progrediente Dystrophie der ­Rezeptoren (vorwiegend Stäbchen) der Netzhaut und des retinalen Pigmentepithels, die mit Nachtblindheit, hochgradiger konzentrischer Gesichtsfeldeinschränkung und erheblicher Visusherabsetzung einhergeht.

..Abb. 28.17  Fluoreszenzangiographie bei Morbus Stargardt: Abschattung der Aderhaut („dark choroid“) mit ringförmig angeordneten Hyper­ fluoreszenzen im Zentrum

das äußere Gesichtsfeld bleibt erhalten. Ophthalmoskopisch sind­ 3 hauptsächliche Veränderungen zu erkennen, die nicht alle gleichzeitig vorhanden sein müssen: 44 Pigmentverschiebungen im Bereich der Makula, 44 gelbliche, unscharfe Flecken am gesamten hinteren Pol ­(Fundus flavimaculatus), 44 dunkelroter, im Zentrum stark pigmentierter Fundus. Die Diagnose wird neben dem klinischen Fundusbild durch die

­ luoreszenzangiographie gestellt, die ein typisches Bild des hinteF ren Pols zeigt (ringförmige Hyperfluoreszenz und „dark choroid“; . Abb. 28.17).

jjTherapie Eine ursächliche Therapie gibt es nicht. Die Familie sollte genetisch beraten werden. Durch vergrößernde Sehhilfen kann Lesefähigkeit erreicht werden.

Vitelliforme Makuladegeneration (Morbus Best) jjÄtiologie Bei dieser Erkrankung handelt es sich möglicherweise um einen Enzymdefekt im retinalen Pigmentepithel, der zu Ablagerungen von Lipofuszin führt. Diese Makuladegeneration wird autosomal-dominant mit wechselnder Penetranz vererbt (11q13-Gen: BEST1).

jjEpidemiologie Die Retinopathia pigmentosa ist mit einer Prävalenz von ca. 1:4.000 die häufigste hereditäre Netzhautdystrophie. Beide Augen werden gleichermaßen betroffen. Viele dieser Patienten werden im Laufe des Lebens im Sinne des Gesetzes blind. jjÄtiologie Bei der Retinopathia pigmentosa wurde eine Vielzahl von Defekten im Rhodopsin-Gen gefunden. Die autosomal-rezessive Form (40%) verläuft schwer. Die autosomal-dominante Form ist seltener (ca. 20%) und verläuft gutartiger. Die seltene X-chromosomal-rezessive Form (8%) verläuft ebenfalls schwer. Konduktorinnen weisen nicht selten geringe Funduszeichen auf. Etwa ⅓ der Fälle kommt sporadisch vor. jjKlinik Der Patient bemerkt oft schon in der Kindheit schlechtes Sehen bei Dämmerung (Hemeralopie, Nachtblindheit). Im späteren Verlauf ist er durch das konzentrisch eingeengte Gesichtsfeld behindert. Anfangs können die Patienten die Sehstörung erstaunlich gut kompensieren. Wenn nur noch ein röhrenförmiger zentraler Gesichts­ feldrest besteht, ist ein Zurechtfinden im Raum nicht mehr möglich. Am Augenhintergrund sieht man Pigmentverklumpungen der mittleren und äußeren Netzhautperipherie, die treffend als „Knochenkörperchen“ beschrieben werden. Die Netzhautarterien sind sehr eng, die Papille sieht wachsgelb aus und ist atrophisch. Die Dunkeladaptationsstörung kann mit dem Adaptometer nach Goldmann-Weekers quantifiziert werden. Für die Diagnose im Frühstadium ist das Elektroretinogramm (ERG) wegweisend, das bereits erloschen ist, wenn das klinische Bild noch nicht eindeutig einzuordnen ist. Häufig besteht eine Myopie, im späteren Alter entwickelt sich eine Katarakt.

jjTherapie Eine kausale Therapie ist bisher noch nicht möglich. Da die retinalen jjKlinik Ganglienzellen lange Zeit intakt bleiben, kann die innere Netzhaut Die Erkrankung beginnt ein- oder beidseitig im 1. Lebensjahrzehnt durch Implantation einer Stimulationselektrode elektrisch gereizt und weist eine langsam progrediente Visusverschlechterung auf. und auf diese Weise ein Bild auf die Netzhaut übertragen werden Infolgedessen nehmen die Betroffenen die Visusminderung oft­ („Retina-Chip“). Diese Technologie ist aber noch im Entwicklungserst im Erwachsenenalter wahr. Neben dem Fundusbild und der stadium. ­Familienanamnese sind das Elektrookulogramm und das Fluoreszenzangiogramm diagnostisch wegweisend. Ophthalmoskopisch Syndromale Retinopathia pigmentosa können 4 Stadien unterschieden werden: Usher-Syndrom  Hierbei ist eine progrediente rezessiv vererbte 1. pathologisches Elektrookulogramm ohne Funduszeichen, Retinopathia pigmentosa mit einer Innenohrschwerhörigkeit kom2.  vitelliformes Stadium („Eidotterstadium“) mit Zyste im Zentbiniert. Die Patienten sind frühzeitig taub und werden im Laufe der rum, Jahre blind, sodass sie allein auf taktile Kommunikation mit ihrer 3. „Pseudohypopyon“-Stadium mit Absacken des Lipofuszin und Umwelt angewiesen sind. Die Taubheit kann heute durch das Hörevtl. Ruptur der Blase, screening früh entdeckt werden und durch eine Cochleaimplanta­ 4. Narbenstadium: Makulanarbe, Visus etwa 0,1. tion (7 Kap. 29) kompensiert werden.

28

746

F. Grehn et al.

28

..Abb. 28.19  Albinismus mit vollständig durchleuchtbarer Iris. Der Rand der Linse ist sichtbar (→)

..Abb. 28.18  Kolobom der Aderhaut

Laurence-Moon-Biedl-Bardet-Syndrom  Es handelt sich um eine

autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, bei der neben den typischen Symptomen: kurzer gedrungener Körperbau, Polydaktylie, mentale Retardierung, Nierenfunktionsstörung, Hypogenitalismus auch eine atypische Retinopathia pigmentosa mit schwerem Verlauf vorkommt. Die Lebenserwartung ist reduziert.

Leber-Amaurose  Hierbei besteht eine atypische Retinopathia pig-

mentosa seit Geburt oder entwickelt sich im 1. Lebensjahr. Wegen der frühen Erblindung entwickeln diese Kinder Nystagmus und Strabismus sowie psychomotorische Auffälligkeiten („Augenbohren“ okulodigitales Phänomen, bei frühzeitiger Erblindung typisch). Für Fälle mit defektem RPE65-Gen steht in Zukunft möglicherweise eine Gentherapie zur Verfügung. 28.9.7

Kolobom der Aderhaut

j jÄtiologie Das Kolobom der Aderhaut entsteht durch einen inkompletten Schluss der Augenbecherspalte. j jKlinik Je nach Lokalisation besteht eine Visusminderung oder nur ein Gesichtsfeldausfall. Wegen des hellen Reflexes im betroffenen Fundus­ areal können die Kinder durch eine Leukokorie auffällig werden. Der Fundus zeigt ein weißes, scharf begrenztes Areal mit pigmentiertem Rand in der unteren Netz- und Aderhaut (. Abb. 28.18). Makula und Sehnervenkopf können beteiligt sein. jjTherapie Es besteht keine Therapiemöglichkeit. 28.9.8

Battered-child-Syndrom

>> Bei etwa 40% der misshandelten Kinder bestehen Veränderungen am Augenhintergrund.

Typisch sind Netzhautblutungen, Cotton-wool-spots, Papillenschwellung, Glaskörperblutungen und in schweren Fällen Netzhautablösungen. Wird der Kopf des Kindes heftig geschüttelt („shaken baby“), kommt es zu Gefäßeinrissen und zu Glaskörperblutungen. Zusätzlich können durch erhöhten venösen Druck oder durch Akzeleration und Dezeleration Netzhautblutungen auftreten. 28.9.9

Albinismus

jjÄtiologie Der Albinismus beruht auf einer fehlerhaften Melaninproduktion. Im Chiasma kreuzen dann mehr als 50% der Nervenfasern. Es werden 2 Formen unterschieden: 44 der okulokutane Albinismus mit autosomal-rezessivem Erbgang, 44 der okuläre Albinismus mit X-chromosomaler Vererbung. jjKlinik Der okulokutane Albinismus weist eine fehlerhafte Melaninsyn­ these am Auge und an der Haut auf. Die Patienten haben helle Haut und weiße Haare. Am Auge findet sich wegen fehlender Pigmen­ tierung der Irisrückfläche eine durchleuchtbare Iris (. Abb. 28.19) und ein pigmentarmer Fundus mit Makulahypoplasie. Die Sehschärfe ist deutlich herabgesetzt, die Blendungsempfindlichkeit ist verstärkt und es besteht ein Pendelnystagmus sowie häufig ein Strabismus convergens. Der okuläre Albinismus weist nur die beschriebenen Augenveränderungen, aber ohne Hautveränderungen auf. Albinismus kann bei Chediak-Higashi-Syndrom mit vermehrter Infektionsneigung und bei Hermansky-Pudlak-Syndrom mit Thrombozytendefekt assoziiert sein. Daher muss immer eine pädiatrische Untersuchung erfolgen und dabei auch ein Defekt des Tyrosinasestoffwechsels abgeklärt werden. jjTherapie Es existiert keine kausale Therapie. Die Blendungsempfindlichkeit kann mit getönten Brillengläsern und Kantenfiltergläsern gemindert werden.

747 Ophthalmologie

28.10

Erkrankungen des Sehnervs

F. Grehn, W. Lieb Der N. opticus verbindet die Netzhaut mit dem Corpus geniculatum laterale. Er wird durch etwa 1,1 Mio. Axone der retinalen Ganglienzellen gebildet und ist ist von einer Ausstülpung der Hirnhäute umgeben (Optikusscheide). Der dadurch entstehende Subarachnoidalraum ist mit dem Liquorraum verbunden. Der am Augenhintergrund sichtbare Sehnervenkopf wird als Papille bezeichnet. Die normale Papille ist randscharf begrenzt und von gelb-rosa Färbung. Im Zentrum der Papille treten die Gefäße ein (A. und V. centralis retinae). Die meisten Erkrankungen des Sehnervs im Kindesalter sind angeborene Fehlbildungen (. Abb. 28.20). Die funktionelle Störung kann sehr unterschiedlich sein: sie reicht vom Fehlen jeglicher Sehstörung bis zur kompletten Blindheit. Die kongenitale Anomalien des Sehnervs sind in . Tab. 28.4 und 7 Abschn. 28.13.4 dargestellt. 28.10.1

Stauungspapille

jjPathogenese und Ätiologie Die Stauungspapille entsteht durch erhöhten Hirndruck. Der erhöhte Liquordruck wird in die Sehnervenscheide fortgeleitet. Durch den

..Abb. 28.20  Drusenpapille: die Drusen erscheinen als buckelige Vorwölbungen am Papillenrand

..Tab. 28.4  Kongenitale Anomalien des Sehnervs Name

Pathogenese

Morphologie

Klinik

Schräger Sehnerveneintritt („tilted disc“)

Häufiger bei hoher Myopie

Papille oval, peripapillärer Konus, evtl. Situs inversus der retinalen Gefäße

Gesichtsfeldausfälle möglich

Drusenpapille (. Abb. 28.20)

Ablagerung von hyalinem, verkalktem Material

Papille buckelig prominent (bei oberflächlicher Lage), randunscharf, evtl. Blutungen

Gesichtsfeldausfälle möglich

Diagnose: Sonographie, ggf. CT

Papillenrand­ unschärfe bei ­Hyperopie (Pseudoneuritis)

Zusammendrängen der Nervenfasern bei Hyperopie (kurzes Auge)

Randunscharfe Papille

Papillenkolobom

Inkompletter Schluss des Augenbechers

Meist unten gelegene Aushöhlung der Papille, Gefäße radspeichenartig am Papillenrand

Oft Visusminderung

Neurologische Anomalien möglich; Mikrophthalmie

Deutlich vergrößerte Papille, kolobomatöse Exkavation mit zentralem Gliagewebe, radspeichenartiger Gefäßaustritt, meist einseitig

Visus deutlich reduziert

Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, basale Enzephalozele

Morning-GloryPapille

Grubenpapille

Inkompletter Schluss des Augenbechers

Gelblich-graue Aushöhlung innerhalb der Papille, exsudative Netzhautablösung häufig

Ungünstige Visusprognose bei Netzhautablösung

Markhaltige Nervenfasern

Markhaltige Nerven­ fasern im Bereich der Papille und Netzhaut

Weiße, schweifförmige, gefiederte Ausläufer von der Papille ausgehend oder knapp daneben

Gesichtsfeldausfälle, meist Vergrößerung des blinden Flecks, möglich

Hypoplasie des Sehnerven

Verminderte Anzahl von Nervenfasern

Papille klein, hypopigmentierter Halo

Visus normal bis fehlende Lichtscheinwahrnehmung

Besonderheiten

De-Morsier-Syndrom, neurologische Missbildungen, fehlendes Corpus callosum, ätiologisch evtl. relevant: Alkohol, LSD, Steroide, Diuretika, Chinin in der Schwangerschaft

28

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F. Grehn et al.

manschettenartigen Druck um den Sehnerv wird der Axoplasmastrom der retinalen Ganglienzellen an der Papille aufgestaut, wodurch die Papille anschwillt und vor die Netzhautebene hervortritt. Bei noch offenen Schädelnähten und bei Hydrozephalus entsteht meist keine Stauungspapille

28

Hirntumor  Häufigste Ursache der Stauungspapille ist der Hirn­ tumor (70–80%). Allerdings verursacht nicht jeder Hirntumor eine Stauungspapille (bei etwa 40%)! >> Liegt bereits eine Optikusatrophie vor, kann trotz erhöhtem Hirndruck keine Stauungspapille mehr entstehen!

Entzündungen  Entzündungen wie Meningitis, Enzephalitis,

Hirnabszess und Tuberkulose können mit einer Stauungspapille einhergehen.

Orbitatumor  Hierbei kann sich eine einseitige Stauungspapille ausbilden, häufig begleitet von Exophthalmus, Motilitätsstörung und Fältelung der Aderhaut am hinteren Pol.

Idiopathische intrakranielle Hypertension ­ (IIH, Pseudotumor cerebri) Das Krankheitsbild ist charakterisiert durch Zeichen einer Hirndrucksteigerung ohne Tumor. Die schon älteren Kinder oder ­Jugendlichen sind meist stark übergewichtig. In manchen Fällen werden Tetrazykline als Ursache angeschuldigt (Aknebehandlung). Vermutlich kommt es durch eine Resorptionsstörung des Liquors zu einer Liquordruckerhöhung und chronischen Stauungspapille. Meist sind beide Augen betroffen. Im späteren Verlauf kann es zu einer Optikusatrophie kommen. jjKlinik Das Sehvermögen ist zu Beginn immer normal. Patienten mit chronischer Stauungspapille klagen über kurzdauernde Verdunkelungen des Gesichtsfelds (Obskurationen), die beim Bücken auftreten, die als Durchblutungsstörungen des Sehnervenkopfs zu bewerten sind. Zeichen der Hirndrucksteigerung sind außerdem Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und gelegentlich Doppelbilder. Das ophthalmoskopische Bild der Stauungspapille kann unterschiedlich sein: 44 Anfangs besteht eine Randunschärfe der Papille mit leichter Hyperämie der dilatierten Kapillaren. Wenn Blutungen fehlen, ist die differenzialdiagnostische Abgrenzung schwierig. 44 Das Vollbild zeigt eine Prominenz der Papille mit ausgeprägter Randunschärfe, radiären Blutungen am Papillenrand und gelegentlich Cotton-wool-Flecken (. Abb. 28.21). Blutungen sind ein eindeutiger Hinweis auf Stauungspapille. Bei einer chronischen Stauungspapille ragt die Papille pilzförmig vor, die Kapillaren sind massiv dilatiert, Blutungen fehlen meist. 44 Im Spätstadium ist die Papille durch die sekundäre Optikusatrophie abgeblasst, es entwickeln sich bogenförmige Gesichtsfelddefekte wie bei Glaukom. jjTherapie Die Therapie richtet sich nach der Grunderkrankung (z. B. Gewichtskontrolle, Aussetzen der Aknetherapie mit Tetrazyklinen). Zusätzlich ist eine Therapie mit Acetazolamid wirksam. Steroide sind umstritten. Eine operative Fensterung der Sehnervenscheide oder ein lumboperitonealer Shunt können den Liquordruck ­senken.

..Abb. 28.21  Vollbild einer Stauungspapille mit ausgeprägter Papillenprominenz, Cotton-wool-Flecken und feinen Blutungen

>> Eine Optikusatrophie kann als Rückgang der Stauungspapille missinterpretiert werden, während die Grundkrankheit fortbesteht.

28.10.2

Papillitis

Die Papillitis ist eine Entzündung des vordersten Sehnervenabschnitts (Papille). Bei Kindern ist diese Form der Sehnerventzündung häufiger als eine Retrobulbärneuritis. jjÄtiologie Die Papillitis bei Kindern steht meist im Zusammenhang mit einem Infekt, häufig im oberen Respirationstrakt. Ätiologisch berücksichtigt werden müssen aber auch immunologische Grunderkrankungen sowie Borreliose und Lues. jjKlinik Anfangs besteht eine massive Sehstörung (Zentralskotom) mit afferenter Pupillenstörung. Bei Kindern ist der Befund nicht selten bilateral. Ophthalmoskopisch zeigt sich ein Papillenödem mit Rand­ unschärfe. Die Prominenz ist im Vergleich zu der Stauungspapille geringer, Blutungen sind selten. Meist ist die Visusprognose gut, auch wenn sich später eine partielle Optikusatrophie entwickelt. Im Verlauf der Rückbildungsphase tritt bei Kindern häufig eine Stern­ figur im Bereich der Makula auf, bedingt durch Lipidexsudate bei Schrankenstörung am Papillenrand. jjTherapie Die Therapie richtet sich nach der Grunderkrankung. Bei fehlender eindeutiger Ätiologie wird häufig ein spontaner Heilungsverlauf ohne Spätschäden beobachtet. 28.10.3

Optikusatrophie

7 Abschn. 28.13.4.

749 Ophthalmologie

28.11

Strabismus und Motilitätsstörungen

F. Grehn, H. Steffen Schielen bezeichnet die Abweichung der Sehachse eines Auges von der Sollrichtung. Die häufigste Form des Schielens ist das Begleitschielen (Strabismus concomitans). Das Begleitschielen beginnt fast immer in der frühen Kindheit. Abgegrenzt werden muss hiervon das Lähmungsschielen (Strabismus paralyticus = Strabismus incomitans), das mit einer Augenmuskellähmung assoziiert ist sowie das sekundäre Schielen durch andere Augenerkrankungen (z. B. Retinoblastom, M. Coats etc.). 28.11.1

Strabismus concomitans

jjÄtiologie Die Ursache des Strabismus concomitans ist nicht bekannt. Es werden Störungen der komplexen Steuerungsmechanismen des Hirnstamms angenommen. Eine familiäre Häufung ist beschrieben, ein Erbgang ist nicht bekannt. jjKlinik Beim Strabismus concomitans bleibt der Schielwinkel in alle Blickrichtungen gleich (concomitans, begleitend). Es existieren unterschiedliche Formen des Strabismus concomitans: 44 Einwärtsschielen = Strabismus convergens = Esotropie, 44 Auswärtsschielen = Strabismus divergens = Exotropie, 44 Höhenschielen = Hypertropie, bzw. Hypotropie, 44 latentes Schielen = Heterophorie. Das Einwärtsschielen (Strabismus convergens) ist die häufigste Form des Schielens (. Abb. 28.22). Hierbei kommen verschiedene Formen vor, die unterschiedlich behandelt werden müssen. Frühkindliches Schielsyndrom  Diese Schielform entsteht meist

innerhalb der ersten 6 Monate. Es zeigen sich: 44 Strabismus convergens, 44 fehlendes Binokularsehen, 44 latenter Nystagmus, 44 häufig Höhenabweichungen (Strabismus sursoadductorius).

Normosensorisches Spätschielen  Dieses Einwärtsschielen tritt nach dem 2. oder 3. Lebensjahr auf, also wenn sich das Binokular­ sehen entwickelt hat. Es ist nicht sehr häufig (ca. 5% der Schielpa­

tienten), muss aber rechtzeitig erkannt werden, da im Gegensatz zu den anderen Schielformen möglichst bald operiert werden muss, um die Binokularfunktion zu erhalten. Die Kinder bemerken zunächst Doppelbilder und kneifen deshalb oft das Auge zu. Erst später folgt die Suppression des schielenden Auges und somit die Gefährdung des Binokularsehens. !! Cave Normosensorisches Spätschielen fordert eine baldige Operation, da sonst die Binokularfunktion gefährdet ist.

Mikrostrabismus  Der Mikrostrabismus wird wegen des sehr klei-

nen Schielwinkels (> Eine Okklusionsbehandlung erfordert eine strenge augenärztliche Betreuung, da sonst die Gefahr einer Amblyopie­ entwicklung des besseren Auges besteht.

Die Eltern müssen die Bedeutung der Maßnahme verstehen, damit eine konsequente Behandlung erfolgt, denn das Kind wird sich zunächst gegen die Okklusionsbehandlung wehren. Eine Okklusionsbehandlung wird in der Regel bis zum Schul­ alter durchgeführt, kann aber je nach Befund selten auch bis zum 10.–12. Lebensjahr sinnvoll sein. Durch die Schieloperation kann der Schielwinkel korrigiert werden. Meist empfiehlt sich eine Schieloperation im Vorschulalter, damit die Kinder wegen ihres Schielens in der Schule nicht gehänselt werden. Eine frühere Operation ist möglich, allerdings sind funk­ tionelle Tests und Schielwinkelmessung umso schwieriger, je jünger das Kind ist. Ausnahme ist das normosensorische Spätschielen, bei dem eine frühe Operation notwendig ist, um den Verlust des Binokularsehens zu verhindern. Bei einer Schieloperation wegen Einwärtsschielen wird je nach Größe des Schielwinkels der innere Augenmuskel (M. rectus medialis) gelockert (Rücklagerung) und der äußere Augenmuskel (M. rectus lateralis) verkürzt. Bei Auswärtsschielen erfolgt dies umgekehrt.

28

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F. Grehn et al.

28.11.2

Strabismus paralyticus, Augenmuskel­ paresen

7 Abschn. 28.13.2.

28.12

28

Ophthalmologische Veränderungen bei Systemerkrankungen

F. Grehn, G. W. Lieb Viele Systemerkrankungen im Kindesalter gehen mit ophthalmologischen Veränderungen einher, die zu kennen differenzialdiagnostisch wichtig ist. Die ophthalmologischen Veränderungen bei Sys­ temerkrankungen werden in . Tab. 28.5 aufgeführt. Die Darstellung der allgemeinen Krankheitsbilder wird in den jeweiligen Kapiteln besprochen. 28.13

Neuroophthalmologische Erkrankungen im Kindesalter

H. Steffen 28.13.1

Störungen der Pupillomotorik

Bei der Beurteilung der Pupillen und ihrer Reaktion auf Licht vergleicht man den Pupillendurchmesser beider Augen. Ist dieser

gleich, spricht man von Isokorie. Unterschiedlich große Pupillendurchmesser (Anisokorie) sind entweder physiologisch oder auf deuten eine efferente Störung wie das Horner-Syndrom hin. Bei der Beurteilung der Pupillen wird neben dem Pupillendurchmesser auch die Reaktion der Pupille auf Licht untersucht. Die direkte Lichtreaktion und die konsensuelle Lichtreaktion eines ­Auges (durch Beleuchtung des Partnerauges) sind normalerweise gleich. Von einem relativen afferenten Pupillendefizit (RAPD) spricht man, wenn der Vergleich der direkten Lichtreaktion beider Pupillen unterschiedlich oder aber beim Vergleich der direkten und konsensuellen Lichtreaktion einer Pupille ein Unterschied der ­Pupillenverengung zutage tritt. >> Eine afferente Störung auf einem Auge führt niemals zu einer Anisokorie.

Anisokorie im Kindesalter und ihre Abklärung jjDefinition Eine Anisokorie liegt vor, wenn sich der Durchmesser beider Pupillen um ≥0,4 mm unterscheidet. jjKlinik und Ursachen Eine Anisokorie ist entweder Ausdruck einer physiologischen Anisokorie oder deutet auf eine efferente Störung, z. B. ein HornerSyndrom oder eine Pupillotonie hin. Eine afferente Störung, z. B. eine Neuritis nervi optici oder ein Sehnerventumor (Gliom des Nervus opticus) führt nicht zu einer Anisokorie. Sehr selten können anatomische Veränderungen der Iris, wie hintere Synechien (Ver­

..Tab. 28.5  Ophthalmologische Veränderungen bei pädiatrischen Systemerkrankungen Aicardi-Syndrom

Chorioidale Lakunen (aderhautatrophische Areale), Hypoplasie des Sehnervs

Albinismus

Nystagmus, Makulahypoplasie, fehlende Pigmentierung der Irisrückfläche

Dysostosis craniofacialis Crouzon

Exophthalmus, Atrophie des Sehnervs, Auswärtsschielen, Nystagmus

Galaktosämie

Linsentrübung, anfangs reversibel!

Goldenhar-Syndrom

Epibulbäres Dermoid, Lidkolobom, Hornhautsensibilitätsstörung, Iris- und Aderhautkolobom, Hypoplasie des Sehnervs, Schielen, HNO: Ohrmuschel-Missbildungen

Homozystinurie

Linsenektopie

Laurence-Moon-Bardet-Syndrom

Nachtblindheit, Retinopathia pigmentosa

Lipidosen (Tay-Sachs, Niemann-Pick)

Makula mit rotem Fleck, graue Verfärbung der Netzhaut, Erblindung im weiteren Verlauf

Lowe-Syndrom

Katarakt, Glaukom, Optikushypoplasie, retinale Pigmentdegeneration

Marfan-Syndrom

Subluxation der Linse (meist nach oben und nasal), hohe Myopie, Megalokornea

Mukopolysaccharidosen

Hornhauttrübungen

Trisomie 21

Katarakt, Keratokonus

Weill-Marchesani-Syndrom

Kugellinse, Irisschlottern, Linsensubluxation, Sekundär-Glaukom

Kongenitale Infektionen Toxoplasmose

Retinochorioidale Narben im Makulabereich

Röteln

Katarakt, Glaukom, Mikrophthalmus, „Pfeffer- und Salz-Fundus“ durch Chorioretinitis

Zytomegalie

Nekrotisierende Chorioretinitis mit streifigen Blutungen und weißen Flecken („cotton cheese ketchup“)

Herpes simplex

Blenorrhö (Ophthalmia neonatorum), primäre Herpesinfektion mit Blepharitis und Konjunktivitis

Lues

Tiefe interstitielle Keratitis (Keratitis parenchymatosa), „Pfeffer- und Salz-Fundus“ durch Chorioretinitis, tabische Atrophie des Sehnervs

HIV

Unspezifische Veränderungen (Vaskulitis), spezifisch im Rahmen einer Infektion (z. B. Zytomegalie)

751 Ophthalmologie

a ..Abb. 28.24  11-jähriges Kind mit einem voll ausgebildeten Horner-­ Syndrom

b ..Abb. 28.23  18-Monate altes Kind, a bei dem zufällig eine Anisokorie bemerkt wurde. b Die Anisokorie vergrößerte sich bei Dunkelheit. Aufnahmen mit einer Infrarotkamera zeigten kein Dilatationsdefizit. Ein durchgeführter Kokaintest war negativ

klebung der Iris mit der Linsenvorderfläche, z. B. im Rahmen einer Uveitis bei juveniler rheumatoider Arthritis) zum Bild einer Anisokorie führen. Schließlich kann auch eine iatrogene Mydriasis, z. B. durch Kontakt mit atropinhaltigen Substanzen, zu einer Anisokorie führen. >> Bei niedriger Umfeldleuchtdichte haben 15–20% der bis zu 15-Jährigen eine sichtbare Anisokorie, die nicht krankhaft ist. Bei Helligkeit sinkt diese Prozentzahl auf 5–10% (sog. physiologische Anisokorie).

Die häufigsten Ursachen einer Anisokorie im Kindesalter sind: 44 physiologische Anisokorie, 44 Horner-Syndrom, 44 Pupillotonie, 44 iatrogene Mydriasis, 44 hintere Synechien. Physiologische Anisokorie  Die physiologische Anisokorie ist

s­ymptomlos und wird meist zufällig vom Kinderarzt oder einem Familienmitglied spontan oder nach einem leichteren Schädel­ trauma entdeckt. Nicht selten wird auch ein irrtümlicher Zu­ sammenhang zwischen einer Kopfschmerzsymptomatik und dem zufälligen Vorhandensein einer (physiologischen) Anisokorie her­ gestellt. Für die physiologische Anisokorie sind Fluktuationen der Pupillenweite bei gleicher Umfeldleuchtdichte typisch, die bei allen anderen Ursachen einer Anisokorie fehlen. Häufig ist sie auf älteren ­Porträtaufnahmen des Kindes bereits die Anisokorie zu erkennen (sog. „FAT-Scan, Family Album Tomography“). Die Differenz des Pupillendurchmessers ist bei der physiologischen Anisokorie selten größer als 1,0 mm. Als Ursache der physiologischen Anisokorie wird eine ungleiche Hemmung der prätectalen Kerngebiete im Mittelhirn diskutiert.

jjDiagnostik Eine in der Praxis häufige Fragestellung ist die Einordnung einer Anisokorie als physiologisch oder als krankhaft, d. h. als Ausdruck einer efferenten Pupillenstörung. Insbesondere gilt es, ein HornerSyndrom auszuschließen, bei dem eine unterschiedliche Lidspaltenweite fehlt. Zunächst wird beurteilt, ob die Ansiokorie bei dunklerer Umfeldleuchtdichte zu- oder abnimmt (. Abb. 28.23). Die Zunahme einer Anisokorie bei Dunkelheit ist beim Horner-Syndrom immer, bei der physiologischen Anisokorie häufig zu beobachten. >> Die Zunahme der Anisokorie bei Dunkelheit ist kein zuverlässiges klinisches Zeichen, um zwischen einem Horner-Syndrom und einer physiologischen Anisokorie zu unterscheiden.

Hingegen gehört zum Horner-Syndrom eine sog Dilatationsdefizit der Pupille, das durch die Funktionsstörung des sympathisch innervierten M. dilatator pupillae entsteht: Eine durch Licht verengte Pupille braucht sehr viel mehr Zeit, um sich in Dunkelheit wieder zu erweitern (10–12 s) als eine normal innervierte Pupille (5–6 s). Dieses Dilatationsdefizit kann gut mit dem Infrarotmodus einer herkömmlichen Videokamera dokumentiert werden. Falls (Foto)anamnese, klinischer Befund und Pupillenuntersuchung eine zweifelfreie Differenzialdiagnose nicht zulassen, kann eine pharmakologische Prüfung mit dem Kokain-Test oder aber mit Apraclonidin-Augentropfen erfolgen. Allerdings bietet auch die pharmakologische Prüfung keine 100%ige Spezifität und Sensitivität. Horner-Syndrom >> Bei klinisch eindeutigem Horner-Syndrom mit Anisokorie von über 1,0 mm sowie engerer Lidspalte (. Abb. 28.24) und typischem Pupillenverhalten bei Veränderung der Umfeldleuchtdichte kann auf eine pharmakologische Prüfung verzichtet werden.

Ein kongenitales oder früh erworbenes Horner-Syndrom kann durch ein Geburtstrauma mit Zug auf den Plexus brachialis oder aber eine Herzoperation mit Manipulation an den großen Herzge­ fäßen entstehen. Sollte bei Vorliegen eines Horner-Syndroms die Ursache nicht eindeutig sein, muss immer ein Neuroblastom (oder ein anderer Tumor) durch Ganzkörperkernspintomographie ausgeschlossen werden. >> Bei fast 1⁄3 aller Horner-Syndrome lässt sich keine genaue ­Ursache eruieren.

Puppillotonie  Bei Zunahme einer Anisokorie bei hellerer Umfeldleuchtdichte ist die weitere Pupille die pathologische. Diagnostisch kommen entweder eine Pupillotonie (im Kindesalter selten!), eine

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innere Ophtalmoplegie im Rahmen einer Okulomotoriusparese oder eine iatrogene Mydriasis infrage. Wegen einer Denervierung des parasympathisch innervierten M. sphincter pupillae kommt es zu einer Erweiterung der Pupille auf der betroffenen Seite. Ursächlich werden Entzündungen parasympathischer Nervenzellen durch neurotrope Viren diskutiert. Eine isolierte Pupillotonie ohne neurologische Symptomatik erfordert keine weitere Diagnostik. Die Diagnose der Pupillotonie erfolgt klinisch. Typisch ist die plötzliche Pupillenerweiterung in Verbindung mit einer fehlenden oder trägen Reaktion auf Licht. Die Pupillenverengung bei Naheinstellung ist meist besser. Pharmakologisch kann die Diagnose durch die starke Pupillenverengung nach Tropfen von 0,1% Pilocarpin-AT gesichert werden. Innerer Ophthalmoplegie bei Okulomotoriusparese  Die Unterscheidung zwischen Pupillotonie und innerer Ophthalmoplegie bei Okulomotoriusparese erfolgt ebenfalls klinisch. Letztere ist nahezu immer mit einer Motiliätsstörung des Auges (= äußere Ophthal­ moplegie) assoziiert. >> Eine Mydriasis, hervorgerufen durch eine innere Ophthal­ moplegie im Rahmen einer Okulomotorisparese geht nahezu immer mit einer Motilitätseinschränkung des Auges einher.

Iatrogene Mydriasis  Eine Anisokorie kann auch durch eine iatro-

gene Mydriasis entstehen. Der Kontakt mit Nachtschattengewächsen, z. B. beim Spielen im Garten und anschließendem Augenreiben führt zu einer pharmakologischen Mydriasis. Typisch für die pharmakologische Mydriasis ist eine sehr weite Pupille. Anamnese und fehlende Pupillenverengung auf 1%iges Pilocarpin sichern die Diagnose. >> Eine neurologisch bedingte Mydriasis verengt sich immer bei Lokalapplikation eines Tropfens von 1%igem Pilocarpin. ­Diese Pupillenverengung bleibt bei einer pharmakologischen Mydriasis aus.

Afferente Pupillenstörungen j jDefinition Eine gestörte Lichtreaktion auf einer Seite bezeichnet man (normale anatomische Verhältnisse vorausgesetzt) als afferente Pupillen­ störung. Liegt z. B. eine afferente Störung des rechten Auges vor, so verengt sich die Pupille rechts bei Beleuchtung des rechten Auges weniger als die linke Pupille bei Beleuchtung des linken Auges (Vergleich der direkten Lichtreaktion beider Pupillen, Wechselbelichtungstest). Außerdem verengt sich die Pupille des rechten Auges bei Beleuchtung des rechten Auges weniger als bei Beleuchtung des linken Auges (Vergleich der direkten und konsensuellen Lichtreaktion einer Pupille). jjUrsachen Ein relatives afferentes Pupillendefizit spricht für eine einseitige oder einseits betonte Erkrankung, z. B. für eine Neuritis nervi optici. Sie kann aber auch bei einer kontralateralen Tractus-opticus-Läsion beobachtet werden, also einer Läsion hinter der Sehnervenkreuzung. >> Eine Amblyopie führt in der Regel nicht zu einer afferenten Pupillenstörung.

Außerdem kann mit der Pupillomotorik eine psychogene einseitige Sehminderung oder ein psychogener einseitiger Gesichtsfeldausfall von einer tatsächlichen Läsion unterschieden werden. Bei psychogener Genese kommt es nicht zu einer Pupillenstörung.

Bei einem afferenten Pupillendefizit sollte immer eine Kernspintomographie durchgeführt werden, wenn die Ursache hierfür unbekannt ist.

Visuelle Entwicklung bei Pupillenstörungen >> Eine physiologische Anisokorie oder ein Horner-Syndrom ­beeinträchtigen die visuelle Entwicklung nicht.

Die beim Horner-Syndrom assoziierte Ptosis ist so gering ausgeprägt, dass sie nicht zu einer Deprivationsamblyopie führt. Allerdings kann durch den veränderten Druck des ptotischen Lids auf das Auge ein einseitiger Astigmatismus entstehen, den man dann ausgleichen sollte. Bei der Pupillotonie und einer inneren Ophthal­ moplegie ist durch Befall der parasympathisch innervierten Fasern des Musculus ciliaris die Akkommodation eingeschränkt, was zu Verschwommensehen in der Nähe führt. Dem sollte mit entsprechenden Maßnahmen (Bifokalbrille, Nahadditionsfolie, begegnet werden. 28.13.2

Stellungsanomalien der Augen und ­Motilitätseinschränkungen

jjUrsachen Bei einer neu aufgetretenen Stellungsanomalie der Augen (sog. Schielen) sollte umgehend abgeklärt werden, ob es sich um einen sog. sekundären Strabismus handelt (7 Abschn. 28.11). Ausschließen sollte man neben angeborenen Anomalien wie ­einer Optikushypoplasie und erworbenen Erkrankungen wie z. B. einem Augentumor (Retinoblastom) auch neurologische/neuro­ chirurgische Erkrankungen. So kann z. B. ein plötzlich auftretendes nichtparetisches Innenschielen Erstsymptom eines Kleinhirntumors sein. >> Jedes neu aufgetretene Schielen erfordert eine sorgfältige ophthalmologische und neuropädiatrische Untersuchung ggf. mit neuroradiologischer Diagnostik.

Ursachen einer Stellungsanomalie im Kindesalter sind: 44 nichtparetisches Schielen, 44 sekundäres Schielen bei Augenerkrankungen, 44 sekundäres Schielen bei Allgemeinerkrankungen, 44 Augenmuskelparesen.

Augenmuskelparesen Nach Ausschluss eines sekundären Strabismus sollte bei einer neu aufgetretenen Stellungsanomalie immer gefahndet werden, ob eine Augenmuskelparese dahinter steckt. Augenmuskelparesen können angeboren oder erworben sein. jjKlinik Eine erworbene Augenmuskelparese kann sich durch die Wahr­ nehmung von Doppelbildern, einer plötzlichen Kopfzwangshaltungshaltung, einer Ptosis oder einer offensichtlichen Schielstellung manifestieren oder symptomfrei bleiben. Kinder können den Seheindruck des nichtfixierenden Auges innerhalb kürzester Zeit zu unterdrücken (sog. Suppression). Ein kurzzeitiges Zukneifen eines Auges ist manchmal der einzige Hinweis auf eine frisch erworbene Augenmuskelparese. >> Bei jeder erworbenen Augenmuskelparese sollte immer eine neuropädiatrische Untersuchung einschließlich einer neuroradiologischen Diagnostik (MRT) erfolgen.

753 Ophthalmologie

jjUrsachen Häufige Ursachen von Augenmuskelparesen im Kindesalter sind: 44 Ursachen für Abduzensparesen: 55Tumoren (Hirnstammgliome), 55Kleinhirntumore, 55erhöhter intrakranieller Druck, 55Schädel-Hirn-Trauma, 55Liquorzirkulationsstörungen. 44 Ursachen einer Okulomotoriusparese: 55meist Kongenitaltraumata, 55Aneurysmata (sehr selten). 44 Ursachen einer Trochlearisparese: 55meist traumatisch. jjTherapie >> Wichtigstes Ziel bei einer Augenmuskelparese ist die Ver­ meidung einer Amblyopie.

Wird eine kleinwinklige Parese durch eine Kopfzwangshaltung kompensiert, besteht kein Amblyopierisiko. Ohne Kopfzwangshaltung kann durch Suppression des nichtfixierenden Auges eine Amblyopie entstehen, die durch zeitweise Okklusion des Führungsauges be­ handelt wird. Bildet sich die Parese nicht zurück, kann durch einen operativen Eingriff an den Augenmuskeln das Auge so verschoben werden, dass die Kopfzwangshaltung verschwindet oder aber erneuter Parallelstand mit Binokularfunktionen entsteht. >> Die Remission einer Augenmuskelparese kann bis zu einem Jahr dauern. Erst danach darf ein operativer Eingriff durchgeführt werden.

Abduzensparese Eine Abduzensparese im Kindesalter ist fast immer erworben. jjUrsachen Häufigste Ursachen sind Tumoren (Hirnstammgliome), Traumata, Entzündungen, Paresen unklarer Genese. Ein erhöhter intrakranieller Druck mit einer Verdrängung des Hirnstamms nach kaudal und einer Überdehnung des VI. Hirnnerven kann ebenfalls zu einer ein-, häufig auch beidseitigen Abduzens­ parese führen, die im Zusammenhang mit Tumoren der hinteren Schädelgrube, neurochirurgischem Trauma, Shuntinsuffizienz bei Pseudotumor cerebri und Sinusvenenthrombose auftreten kann. In diesem Zusammenhang ist auch die Chiari-I-Malformation zu erwähnen. >> Hirndruckerhöhungen können zu einer ein- oder beidseitigen Abduzensparese führen.

jjKlinik Klinisch macht sich eine Abduzensparese durch eine konvergente ­Augenstellung bemerkbar, insbesondere bei Fernblick und in Blickrichtung des betroffenen Muskels. Ist die Parese kleinwinklig, nimmt das Kind eine entsprechende Kopfdrehung in Richtung des betroffenen Auges ein, um so das Auge aus dem paretischen Bereich heraus zu bringen und mit beiden Augen zu schauen (Kopfzwangshaltung). Eine angeborene Abduzensparese ist selten und meist geburtstraumatisch bedingt. Meist bildet sie sich in den ersten Lebenswochen zurück. jjDifferenzialdiagnose Die wichtigste Differenzialdiagnose der erworbenen Abduzenspa­ rese im Kindesalter ist das Retraktionssyndrom nach Stilling-Türk-

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Duane. Bei dieser Erkrankung kommt es zu einer angeborenen Fehlinnervation des M. rectus lateralis, der Fasern enthält, die fälschlicherweise vom N. oculomotorius innerviert werden. Am häufigsten ist das konvergente Retraktionssyndrom, bei dem es beim Versuch der Adduktion des Auges durch Koinnervation des M. rectus medialis und des gleichzeitig innervierten M. rectus lateralis zu einer Retraktion des Auges kommt. Klinisch ist der Zug des Auges nach „hinten“ durch eine Verengung der Lidspalte gut sichtbar. Kinder mit einem Retraktionssyndrom nehmen häufig eine kompensatorische Kopfhaltung ein, die gut einer operativen Therapie durch Augenmuskelchirurgie zugänglich ist. Die Unterscheidung zwischen Abduzensparese und Retraktionssyndrom erfolgt klinisch.

Okulomotoriusparese jjUrsachen Die Ursachen einer Okulomotoriusparese im Kindesalter sind von denen einer Abduzensparese und der Trochlearisparese unterschiedlich. Die meisten Okulomotoriusparesen im Kindesalter sind entweder angeboren oder aber traumatischer Genese. Tumoren und Aneurysmata sind seltener. Das klinische Vollbild einer Okulomotoriusparese stellt diagnostisch meist kein Problem dar. Schwieriger wird es, wenn einzelne, vom N. okulomotorius innervierte Augenmuskeln eine isolierte Schwäche aufweisen. So kann z. B. die ­Schwäche des M. rectus medialis im Rahmen einer partiellen Okulomotoriusparese klinisch als dekompensierendes Außenschielen imponieren oder auch mit einer internukleären Ophthalmoplegie verwechselt werden. Eine nukleäre Okulomotoriusparese imponiert häufig mit einer ein- oder beidseits asymmetrischen Ptosis sowie einer ausgeprägten Vertikaldeviation der Augen, weil ausschließlich die Fasern des M. superior kreuzen. kkKongenitale Okulomotoriusparese >> Die häufigsten Okulomotoriusparesen im Kindesalter sind ­angeboren.

jjUrsache Kongenitale Okulomotoriusparesen können mit einer Fehlregeneration einhergehen, d. h. der Entstehung nichtphysiologischer Innervationsmuster. Dies kann als Hinweis für eine Unterbrechung der Axone und ihre Wiederaussprossung bei kongenitaler Okulomotoriusparese dienen. Einige Fälle von Okulomotoriusparese sind wahrscheinlich geburtstraumatischer Natur, wobei es zur Kompression des Nerven am Tentorium beim Übergang von der hinteren in die mittlere Schädelgrube kommen kann (. Abb. 28.25). jjKlinik Nach traumatischer Okulomotoriusparese kommt es häufig zu­ einer Fehlregeneration mit z. B. sichtbarer Retraktion des Oberlids bei intendierter Blicksenkung oder aber Hebung einer Ptosis bei Adduktion. >> Die funktionelle Prognose einer Okulomotoriusparese im ­Kindesalter ist deutlich schlechter als die der Abduzensparese.

Ein Grund hierfür ist die seltenere Rückbildung im Vergleich zur Abduzensparese und die Lidbeteiligung, die neben der Stellungsanomalie ein zusätzlich amblyogener Faktor ist. Bei der Amblyopietherapie und -prophylaxe einer Okulomotoriusparese sollte man sich nicht ausschließlich mit der Okklusion des nichtbetroffenen Auges begnügen, sondern wegen der assoziierten Akkommodationslähmung auch an den Refraktionsausgleich und die Anpassung einer Nahaddition denken.

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b

c ..Abb. 28.25  2-jähriges Kind mit früh erworbener Okulomotoriusparese des rechten Auges. a Man erkennt neben der Bewegungseinschränkung nach oben, unten und nasal eine Fehlregeneration, die durch Erweiterung der Lidspalte im Abblick imponiert. b Neurinom des III. Hirnnerven (rechts)

als Ursache einer Okulomotoriusparese mit Fehlregenenaration. c Kind 5 Jahre später nach einer Augenmuskeloperation auf dem rechten Auge zur Beseitigung der divergenten Augenstellung. Bewegungseinschränkung und Fehlregenerationsmuster sind nach wie vor erkennbar

Differenzialdiagnostisch kommt bei einer partiellen Okulomotoriusparese neben einer Myastenia gravis ein kongenitales Fibrosesyndrom, eine internukleäre Ophthalmoplegie oder auch ein divergentes Retraktionssyndrom in Frage.

Strabismus sursoadductorius fallen betroffene Kinder schon früh durch eine Kopfneigung zur nicht betroffenen Seite auf. Ursächlich ist bei einem isolierten Strabismus sursoadduktorius häufig ein Fehlen des IV. Hirnnerven. Die erworbene Trochlearisparese und der einseitige Strabismus sursoadduktorius unterscheiden sich klinisch durch die Verteilung der Höhen und Verrollungsschielwinkel in den verschiedenen Blickrichtungen. Anamnese, Beschwerden des Patienten und der klinische Befund erlauben es dem Augenarzt in den meisten Fällen, eine Unterscheidung zwischen beiden Entitäten zuverlässig zu treffen. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil eine neuroradiologische und neuropädiatrische Abklärung bei der erworbenen Trochlearisparese zwingend, beim angeborenen Strabismus sursoadduktorius hingegen überflüssig ist. Sowohl der Strabismus sursoadductorius als auch die erworbenen Trochlearisparese einschließlich der Kopfzwangshaltung sind mit hohen Erfolgsaussichten durch Augenmuskelchirurgie behandelbar.

Trochlearisparese Eine erworbene Trochlearisparese im Kindesalter ist seltener als im Erwachsenenalter. j jUrsache Ursächlich hierfür ist meist ein Schädel-Hirn-Trauma gefolgt von vaskulären, neoplastischen oder neurologischen Erkrankungen. j jKlinik Klinisch manifestiert sich eine erworbene Trochlearisparese durch die akute Wahrnehmung vertikaler und verkippter Doppelbilder, v. a. im Abblick. Kompensatorisch wird eine Kopfneigung zur nicht betroffenen Seite eingenommen. Die Kopfhaltung ist häufig das (einzige) (Leit)symptom, das den Arztbesuch auslöst. jjDifferenzialdiagnose Die wichtigste Differenzialdiagnose der erworbenen Trochlearisparese ist der isolierte Strabismus sursoadductorius (syn. kongenitale Trochlearisparese, kongenitale Obliquus-superior-Parese). Die kompensatorische Kopfneigung zur Gegenseite sowie das positive Bielschowsky-Kopfneige-Phänomen, bei dem es bei Kopfneigung zur betroffenen Seite zu einer sichtbaren Höhenabweichung des betroffenen Auges kommt, hat der Strabismus sursoadductorius mit der erworbenen Trochlearisparese gemeinsam. Beim einseitigen

Blickparesen und supra(inter)nukleäre Störungen Von den Paresen abzugrenzen sind die sog. Blickparesen und supranukleären Augenbewegungsstörungen. jjDefinition Während bei einer Augenmuskelparese alle Augenbewegungen ausfallen, ist das Kennzeichen einer Blickparese, dass nur bestimmte Augenbewegungstypen ausfallen während andere Augenbewegungstypen noch möglich sind.

755 Ophthalmologie

a

b

..Abb. 28.26  Strabismus sursoadductorius. a 6-jähriger Junge mit Kopfrechtsneigung, mit der das Höhenschielen kompensiert. b Im Rechtsblick

M. rectus lateralis

M. rectus medialis

Okulomotoriuskerngebiet 3

1

Rostraler interstitieller Kern des medialen longitudinalen Faszikel (riMLF) (‚vertikales Blickzentrum‘) Parapontine retikuläre Formation (‚horizontales Blickzentrum‘)

2

Medialer longitudinaler Faszikel Abduzenskerngebiet

PPRF

4

Nucleus praepositus hypoglossi (NPH) Medialer vestibulärer Nucleus (MVN)

..Abb. 28.27  Schematische Darstellung des Hirnstamms mit für die ­Okulomotorik wichtigen Strukturen. Die arabischen Zahlen deuten auf umschriebene Läsionsorte bei Blickparesen hin. 1 Horizontale Blickparese; 2 internukleäre Ophthalmoplegie; 3 vertikale Blickparese; 4 Blickrichtungsnystagmus

jjKlinik Bei einem Mittelhirnprozess, durch ein Pinealom oder einen Tumor der hinteren Schädelgrube, der von hinten auf das Mittelhirn drückt, kann es zum dorsalen Mittelhirnsyndrom kommen. Kennzeichnend hierfür ist eine vertikale Blickparese, d. h., die Augen können entweder gar nicht oder nicht mehr so gut willkürlich gehoben werden. Zum voll ausgebildeten Mittelhirnsyndrom gehört auch eine beidseits weite, schlecht auf Licht reagierende Pupille, während die Nahreaktion erhalten ist (sog. Licht-Nah-Dissoziation). Fixiert ein Kind mit einer vertikalen Blickparese ein Objekt und wird der Kopf passiv unter Beibehaltung der Fixation nach unten bewegt (Auslösung des vertikalen vestibulookulären Reflexes), kommt es zu einer deutlichen Besserung der vertikalen Beweglichkeit. Eine erworbene horizontale Blickparese entsteht durch Läsion im unteren Hirnstamm, nahe dem Abduzenskerngebiet durch Läsion der soge. PPRF (parapontine retikuläre Formation). Isolierte PPRF-Läsionen sind selten. Häufiger sind Läsionen, die auch das Kerngebiert des N. abduzens oder die Faszikel des Nerven ­betreffen.

wird der Höherstand des linken Auges offensichtlich. Die Klinik erlaubt eine eindeutige Abgrenzung von einer Trochlearisparese

Eine wichtige supranukleäre Störung, die auch im Kindesalter vorkommen kann, ist die internukleäre Ophthalmoplegie. Hierbei kommt es zu einer Läsion des medialen longitudinalen Faszikel (MLF), der die Verbindung zwischen dem Abduzenskerngebiet ­einer Seite und dem Medialis(Okulomotorius)kerngebiet der anderen Seite herstellt. jjUrsache Blickparesen werden im Kindesalter durch Tumoren oder Entzündungen hervorgerufen. Eine beidseitige Internukleäre Ophthalmoplegie gilt klinisch als pathognomonisch für das Vorliegen einer multiplen Sklerose und zwar auch bei unauffälligem Kernspintomogramm. . Abb. 28.27 zeigt in einem Schema die Läsionsorte bei den genannten Blickparesen. 28.13.3

Nystagmus

Unter einem Nystagmus versteht man unwillkürliche, unkontrollierbare rhythmische Bewegungen beider Augen, die als Ruck- oder Pendelbewegungen imponieren und im Volksmund als sogenanntes Augenzittern bezeichnet werden. Ein Nystagmus kann angeboren oder früh erworben sein.

Angeborene bzw. früh erworbene ­Nystagmusformen Bei einem angeborenen Nystagmus ist der erste Schritt immer der Ausschluss möglicher ophthalmologischer Erkrankungen, die zu einer Sehbeeinträchtigung und damit auch zu einem Nystagmus führen. Beispiele hierfür sind der okuläre Albinismus, die beid­seitige Optikushypoplasie oder retinale Dystrophien. Man spricht dann von einem sensorischen Defektnystagmus. Bei morphologisch unauffälliger Untersuchung kann trotzdem eine Netzhautdystrophie vorliegen, die mit einem Elektroretinogramm ausgeschlossen werden kann. Ein angeborener Nystagmus ohne Begleiterkrankungen wird auch als idiopathischer Nystagmusoder kongenitaler Fixationsnystagmus bezeichnet. jjKlinik Tatsächlich sind Kinder mit einem solchen Nystagmus, nach der Geburt, zunächst völlig unauffällig. Ab der 4. bis 6. Woche setzten plötzlich großamplitudige pendelförmige Augenbewegungen ein, die im weiteren Verlauf an Amplitude ab und an Frequenz zunehmen. Kennzeichnend für diesen Nystagmustyp ist eine Verstärkung

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des Nystagmus bei Fixation. Beide Augen verschieben sich zeitgleich immer um den gleichen Betrag. Einen solchen Nystagmus bezeichnet man als konjugierten Nystagmus. Bei manchen Kindern kommt es zu einer Beruhigung der Nystagmusintensität in exzentrischer Blickrichtung, was zu einer entsprechenden Kopfzwangshaltung führt.

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j jTherapie Diese Kopfzwangshaltung kann dann später durch eine operative Verschiebung der Augen (Operation an den Augenmuskeln) beseitigt werden. Eine wichtige Differenzialdiagnose zum kongenitalen Nystagmus ist der Spasmus nutans, der plötzlich nach dem 8. Lebensmonat einsetzt. Typisch ist ein dissoziierter Nystagmus, d. h. die Nystagmusintensität ist auf einem Auge intensiver als auf dem anderen. Zum Spasmus nutans gehört auch ein rhythmisches Kopfwackeln und eine Kopffehlhaltung. In etwa 50% der Fälle ist der Spasmus nutans mit einem Strabismus assoziiert. >> Der Spasmus nutans wird häufiger bei entwicklungsretadierten Kindern beobachtet, ist prinzipiell gutartig und verschwindet spätestens bis zum 8. Lebensjahr.

Gliome der vorderen Sehbahn und des Chiasmas können, ein dem Spasmus nutans ähnliches Krankheitsbild hervorrufen. Bei jedem Kind mit Spasmus nutans sollte deshalb eine Kernspintomographie zum Ausschluss eines Glioms erfolgen.

Erworbene Nystagmusformen und Augen­ bewegungsstörungen Von einem Nystagmus abzugrenzen ist der Opsoklonus, bei dem ohne Intervall sakkadierte Augenbewegungen auftreten, die auch im Schlaf persistieren. Es handelt sich hierbei nicht um einen echten Nystagmus sondern um die ununterbrochene Ausführung von ­Sakkaden. Sind diese sakkadischen Augenbewegungen auf die ­Horizontalebene begrenzt, spricht man von einem „ocular flutter“. j jUrsache Bei einem „Occular flutter“ oder Opsoklonus sollte immer ein Neuroblastom ausgeschlossen werden. Ein Opsoklonus kann sich auch ohne jede fassbare Ursache oder parainfektiös nach einer Virusentzündung manifestieren.

a

28.13.4

Kindliche Optikusatrophie

>> Die Optikusatrophie und der ihr zugrunde liegende Verlust von retinalen Ganglienzellen ist der Endzustand einer ganzen Reihe von Erkrankungen, die sehr unterschiedliche Ursachen haben können.

Eine ausführliche Anamnese im Hinblick auf potenzielle Noxen während der Gestationsphase, der pränatalen Phase und der Neugeborenenphase ist bei der Diagnostik unerlässlich. Gezielt sollte nach Frühgeburt, perinataler Asphyxie, Schädel-Hirn-Trauma, entzündlichen Erkrankungen und Hydrozephalus gefragt werden. Nicht immer ist die Diagnose einer Optikusatrophie im Kindesalter zuverlässig zu stellen, da die Papille im Kindesalter häufig blasser erscheint als später. Der Einsatz optischer Kohärenztomographie (OCT), bei der die Nervenfasern des Sehnerven und der Netzhaut quantifiziert werden, schließt hier eine diagnostische Lücke. >> Die Optikusatrophie als Endzustand ist die häufigste Ursache für eine Sehminderung im Kindesalter, noch vor der Frühgeborenenretinopathie und der Amblyopie.

Die Optikusatrophie ist wahrscheinlich auch die häufigste Ursache einer Sehbehinderung bei geistig behinderten Kindern. jjUrsachen Der Zeitpunkt der Schädigung von Nervenfasern ist für Morphologie eines geschädigten Sehnerven von Bedeutung. Noxen im ersten und zweiten Trimenon der Gestationsphase führen eher zu einer Hypoplasie des N. opticus, die wegen möglicher assoziierter ZNSAnomalien und endokrinologischen Erkrankungen eine entsprechende Diagnostik verlangt. Eine Schädigung im letzten Trimenon, um die Geburt oder danach hat eher eine Opticusatrophie zur Folge. Ursachen einer Optikusatrophie im Kindesalter sind: 44 Kompressive Läsionen: 55Kraniopharyngeom, Optikusgliom, seltener Hypophysenadenom, 55Kraniosynostosen, 55Tumoren zentral des Corpus geniculatum laterlae mit transsynaptischer Degeneration. 44 Nichtkompressive Läsionen: 55längere Papillenschwellung,

b

..Abb. 28.28  Optikusatrophie bei einem 12-jährigen Jungen mit Hydrozephalus,der zu keinem Zeitpunkt eine Stauungspapille. a Rechtes Auge mit einem Visus von 0,1; b linkes Auge mit einem Visus von 0,3

757 Ophthalmologie

55Hydrozephalus (. Abb. 28.28), 55hereditäre Optikusatrophien, 55Retinadystrophien, 55Frühgeburt, 55peri-/postnatale Asphyxie, 55Schädel-Hirn-Trauma, 55entzündliche Erkrankungen, 55neurodegenerative Erkrankungen, 55Speichererkrankungen. Kompressive Läsionen des N. opticus  Eine beidseitige Optikus­

atrophie in den ersten Lebensjahren sollte immer zum Ausschluss einer intrakraniellen Raumforderung führen, die die vordere Sehbahn komprimiert. Hier ist an erster Stelle das Kraniopharyngeom als häufigster supratentorieller Tumor im Kindesalter zu nennen. Die meisten Betroffenen haben visuelle Probleme, die im Kleinkindesalter häufig lange unentdeckt bleiben. Der Optikusatrophie kann als Zeichen eines erhöhten Hirndrucks eine (chronische) Stauungspapille vorangehen, die jedoch nicht zwingend ist. Eine weitere wichtige Ursache, der ein- oder beidseitigen Optikusatrophie, im frühen Kindesalter, ist das Optikusgliom, insbesondere im Rahmen einer Neurofibromatose Typ I. Circa 15% aller Patienten mit einer Neurofibromatose Typ I entwickeln ein Optikusgliom. Die meisten dieser Gliome sind lange asymptomatisch. Wenn sie auf die vordere Sehbahn beschränkt sind und nicht das Chiasma erreichen, ist häufig eine Beobachtung der Gliome ausreichend. Eine Chiasmabeteiligung durch Optikusgliome reduziert erheblich die Prognose im ­Hinblick auf Sehvermögen und weiteren Krankheitsverlauf. Andere kompressive Läsionen, wie ein Hypophysenadenom oder ein Optikusscheidenmeningiom sind im Kindesalter selten. Optikusatro­ phien können auch bei Kraniosynostosen, entstehen, wobei der haupsächliche Schädigungsmechanismus ein erhöhter Hirndruck mit chronischer Stauungspapille und weniger eine direkte Kompression des Sehnerven durch einen zu engen Canalis opticus ist. Nichtkompressive Ursachen einer Optikusatrophie  Auch eine Chemotherapie, z. B. mit Vincristin, eine Bestrahlung oder eine ­paraneoplastische Schädigung kann ursächlich für eine Optikus­ atrophie sein. Eine länger bestehende Stauungspapille geht bei unbehandelter Ursache ebenfalls in eine Optikusatrophie über. >> Ein Fallstrick ist die Tatsache, dass eine abnehmende Stauungspapille nicht zwingend durch ein Beherrschen der Hirndrucksituation kommt, sondern auch einen Übergang in die Optikusatrophie anzeigen kann.

Wenn der Sehnerv keine Nervenfasern mehr enthält, kann er auch nicht mehr schwellen. >> Ein erhöhter Hirndruck im Kleinkindesalter führt sehr viel seltener und später zu einer Stauungspapille und kann manchmal den Sehnerven dahingehend schädigen, dass es direkt (ohne Stauungspapille) zur Entstehung einer Optikusatrophie kommt.

Dies sollte, wenn zum Beispiel bei Kontrolle von Kleinkindern, die an einem Shunt wegen eines Hydrocephalus operiert wurden, berücksichtigt werden.

Optikusatrophien bei Syndromen Die Liste der genetischen Erkrankungen, die mit einer Optikusatrophie im Kindesalter einhergehen können, scheint unendlich. Hierzu zählen neurodegenerative Erkrankungen, Speichererkrankungen, Enzymdefekte, mitochondriale Störungen, Phakomatosen.

Zu den sog. hereditären Optikusatrophien, die in der Regel ohne Begleiterkrankung einhergehen, gehört die autosomal dominante Optikusatrophie, der häufigsten erblichen Optikusatrophie mit ­einer Prävalenz von 1:15.000–1:50.000. Diese Erkrankung hat eine inkomplette Penetranz und eine variable Klinik. Die Sehverschlechterung wird in der Regel zwischen dem 4. und 8. Lebensjahr zufällig z. B. bei der Einschulung bemerkt. Bei Erstdiagnose schwankt die Sehschärfe zwischen 0,1 und 1,0, ist aber häufig im Größenbereich von 0,2–0,3. Manchmal ist eine leichte Blendungsempfindlichkeit vorhanden, ein Nystagmus fehlt meist. Typisch ist eine assoziierte Farbensinnstörung. Die meisten Kinder können ein normales Leben führen. Ursache ist ein Defekt im OPA-I-Gen auf dem Chromosom 3Q28, wobei mittlerweile mehr als 100 unterschiedliche Mutationen bekannt sind. Die zweite wichtige angeborene Optikusatrophie ist die sog. ­Leber-hereditäre Optikusneuropathie (LHON), die typischerweise junge Erwachsene aber durchaus auch Kinder betreffen kann. Klinisch manifestiert sich eine LHON durch eine plötzliche Sehverschlechterung. Fundoskopisch sieht man eine geschwollene Papille, wobei es sich jedoch nicht um ein echtes Papillenödem handelt, sondern um kleine erweiterte peripapilläre Gefäße. Ursächlich für die Leber-heriditäre Optikusatrophie sind Mutationen der mitochondrialen DNA, die zu einer zu einer Störung der Atmungskette führen. Bei einer bestimmten Mutation kann es zu einer Erholung kommen, beidseitiger Befall mit einem Intervall von bis zu einem Jahr ist häufig. Residualzustand ist eine mehr oder minder ausgeprägte partielle Optikusatrophie. Da die LHON mit Herzrhythmusstörungen assoziiert sein kann, empfiehlt sich eine diesbezügliche Diagnostik und ggf. Therapie. Die Gabe von Idebenon soll das funktionelle Ergebnis einer Erholung verbessern. Möglicherweise wird in Zukunft die LHON auch gentherapeutisch behandelt werden können. Die rezessive Optikusatrophie und die X-chromosomal vererbte Optikusatrophie sind, wie auch andere angeborene Optikus­ atrophien mit Allgemeinsymptomen und neurologischer Symptomatik (Behr-Syndrom, Wolfram-Syndrom) extrem selten. 28.13.5

Psychogene Sehverschlechterung

Kinder mit einer psychogenen Sehverschlechterung sind in der neuroophthalmologischen Sprechstunde immer häufiger, auch wenn genaue Prävalenzdaten fehlen. Meist sind es junge Mädchen im Alter zwischen 6 und 15 Jahren. Typischerweise wird eine Verschlechterung des Sehens oder aber ein Gesichtsfeldausfall als Beschwerde angegeben, ohne dass es dafür eine plausible Ursache gibt. >> Eine psychogene, bzw. funktionelle Sehstörung ist immer eine Ausschlussdiagnose!

Der Verdacht entsteht dann, wenn bei der Abklärung einer Seh­ verschlechterung und/oder eines Gesichtfeldausfalls sich widersprüchliche Befunde ergeben. Meist gelingt es bei gründlicher ­Untersuchung sehr schnell, die funktionelle Natur der Störung herauszubekommen. Die Prognose ist meist gut. Eine Brille mit einer schwachen Nahaddition, die bei Bedarf aufgesetzt werden kann (z. B. bei Hausaufgaben) oder die Verschreibung künstlicher Tränen haben sich in vielen Fällen als wirksame Placebomaßnahme bewährt. Die funktionelle Natur der Sehstörung sollte dem Kind gegenüber nicht ausdrücklich thematisiert werden. In jedem Fall sollte kurzfristig nachuntersucht werden, um 1. auszuschließen, dass nicht vielleicht doch eine organische ­Läsion vorliegt und 2. um sich von dem benignen Verlauf der funktionellen Seh­ störung zu überzeugen.

28

758

F. Grehn et al.

Die Zuhilfenahme eines Psychologen oder Psychiaters ist nur in Ausnahmefällen erforderlich. 28.13.6

28

Abklärung von Kindern mit ­Kopfschmerzen

Kopfschmerzen sind auch im Kindes- und Jugendalter weit verbreitet. Wenn man keinen richtungweisenden Befund hat, wird gerne der Augenarzt konsultiert. Grundsätzlich werden viel zu häufig harmlose Befunde, wie ein latentes Schielen oder eine nicht auskorrigierte Fehlsichtigkeit für die Natur der Kopfschmerzen verantwortlich gemacht. Ein latentes Schielen oder auch eine Brille, die nicht stimmt oder auch eine fehlende Brille führt normalerweise nicht zu Kopfschmerzen. Selbst eine höhere Weitsichtigkeit, die durch permanentes Akkommodieren ausgeglichen wird, kann zu Ermüdung der Augen führen oder zu sog. asthenopischen Beschwerden, aber nicht zu klassischen Kopfschmerzen.

759

Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie R. Lang-Roth, M. Dübbers

29.1

Ohr  – 761

29.1.1 29.1.2 29.1.3 29.1.4 29.1.5

Fehlbildungen  – 761 Äußeres Ohr (Ohrmuschel ­und Gehörgang)  – 761 Mittelohr  – 761 Traumata des Mittelohrs und Felsenbeins  – 763 Kindliche Hörstörungen  – 763

29.2

Nase  – 768

29.2.1 Fehlbildungen  – 768 29.2.2 Entzündungen  – 768 29.2.3 Epistaxis  – 769

29.3

Nasopharynx  – 769

29.3.1 Adenoide  – 769

29.4

Mundhöhle, Oropharynx  – 770

29.4.1 Fehlbildungen  – 770 29.4.2 Entzündungen  – 770

29.5

Erkrankungen der Kopfspeicheldrüsen  – 770

29.5.1 Angeborene Speicheldrüsen­erkrankungen  – 770 29.5.2 Entzündungen  – 770 29.5.3 Tumoren  – 770

29.6

Larynx  – 770

29.6.1 29.6.2 29.6.3 29.6.4 29.6.5

Fehlbildungen  – 770 Entzündungen  – 771 Tumore im Larynx  – 771 Fremdkörperaspiration  – 772 Kindliche Stimmstörungen  – 772

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_29

29

29.7

Hals  – 773

29.7.1 29.7.2 29.7.3 29.7.4 29.7.5

Kiemengangsanomalien  – 773 Mediane Halsfistel, mediane Halszyste  – 773 Dermoidzysten  – 773 Kongenitaler Torticollis  – 773 Lymphangioma colli  – 773

29.8

Kindlicher Spracherwerb  – 773

29.8.1 29.8.2 29.8.3 29.8.4

Sprachentwicklung  – 773 Linguistische Ebenen der Sprache  – 773 Sprachentwicklungsstörung  – 774 Redeflussstörungen  – 775

761 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie

29.1

Ohr

R. Lang-Roth 29.1.1

Fehlbildungen

Die Fehlbildungen der Ohrmuschel werden generell als Mikrotie bezeichnet. Sie treten überwiegend einseitig (70–90%) und auf der rechten Seite (ca. 60%) auf. Jungen sind häufiger betroffen (2:1 bis 3:1). Mit einer Ohrmuschelfehlbildung treten in 20–60% weitere Fehlbildungen, z. B. des Mittel- oder Innenohres auf. Die Mikrotie kann mit Fehlbildungen des Weichteilgewebes wie Ohranhängsel, Grübchen oder Fisteln einhergehen. Auch Fehlbildungen des Gesichtsschädels, Herz, Wirbelsäule sowie syndromalen Erkrankungen sind häufig. Genetische (familiär oder Spontanmutationen) wie ­teratogene Ursachen sind möglich. Die Klassifikationen der Mikrotie sind uneinheitlich und teilen die Fehlbildungen von geringgradigen Veränderungen der Ohrmuschel bis hin zum Fehlen der Ohrmuschel in meist 3–4 Grade ein. Bei höhergradigen Fehlbildungen liegt in der Regel eine Gehörgangsstenose oder Gehörgangsatresie vor, die mit einer Schallleitungs- oder kombinierten Schwerhörigkeit unterschiedlicher Ausprägung einhergeht. Fehlbildungen des Mittelohrs können isoliert in Form von ­Veränderungen der Paukenhöhle oder der Gehörknöchelchenkette vorkommen oder in Kombination mit Anomalien des Gehörgangs oder bei Syndromen auftreten. Fehlbildungen der Gehörknöchelchenkette führen zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit. Bei angeborenen Innenohrschwerhörigkeiten liegt selten eine radiologisch fassbare Fehlbildung der Cochlea vor, ursächlich sind Veränderungen im Corti-Organ. Liegen anatomische Veränderungen vor, betreffen diese häufiger die Cochlea sowie das Vestibularorgan, seltener den inneren Gehörgang, den Aquaeductus cochleae oder den Ductus endolymphaticus. 29.1.2

Äußeres Ohr (Ohrmuschel ­ und Gehörgang)

Entzündungen Ohrmuschelerysipel  Typischerweise ist die gesamte Ohrmuschel

gerötet, schmerzhaft geschwollen und überwärmt. Besonders be­ troffen sind junge oder immunsupprimierte Kinder. Ursächlich sind Infektionen durch β-hämolysierende Streptokokken der Serogruppe A, seltener B, C und G, die durch eine Eintrittspforte in die Haut gelangen. Therapie der Wahl ist die i.v.-Penicillingabe, bei Peni­cillinallergie Erythromycin und lokale Maßnahmen.

äußeres Ohr

Gleichgewichtsorgan

Mittelohr Hörnerv Hörschnecke (Cochlea)

..Abb. 29.1  Schematische Darstellung des Ohrs

oder virale Infektionen sehr selten. Die Schwellung der Gehörgangshaut ist sehr schmerzhaft und die zusätzliche Ansammlung von entzündlichem Sekret kann zu einer Hörminderung führen. Begleitend kann eine Lymphknotenschwellung auftreten. Die Therapie besteht aus fachärztlicher Reinigung des Gehörgangs sowie der Einlage von desinfizierenden Salbenstreifen oder der Gabe von antibakteriellen Ohrentropfen. Die Schmerzen machen eine suffiziente analgetische Therapie notwendig, eine systemische Antibiotikatherapie ist in der Regel nicht indiziert.

Fremdkörper im Gehörgang Häufig stecken sich kleine Kinder Gegenstände in den Gehörgang oder auch in die Nase. Es besteht die Gefahr, dass durch nicht fachgerechte Versuche, den Fremdkörper zu entfernen, dieser tiefer in den Gehörgang geschoben wird. Die Entfernung von Fremdkörpern ist daher dem HNO-Arzt vorbehalten, der diese mit einem Häkchen unter dem Mikroskop, teilweise in Sedierung, entfernt. 29.1.3

Mittelohr

Paukenerguss Der Paukenerguss ist eine Ansammlung von nichteitrigem Sekret im Mittelohr, hinter intaktem Trommelfell. Unterschieden wird dünnflüssiges Sekret (Serotympanon) und von zähem, bzw. mukösem Sekret (Mucotympanon), das sich im Verlauf entwickelt.

Perichondritis  Im Gegensatz zum Erysipel beschränkt sich die

jjEpidemiologie Etwa 80% aller Kinder haben bis zum 10. Lebensjahr zumindest einmal einen Paukenerguss. Der erste Erkrankungsgipfel liegt um das 2. Lebensjahr, der zweite um das 5. Lebensjahr. In der Nordhemisphäre verdoppelt sich die Prävalenz der Paukenergüsse in den ­Wintermonaten.

Otitis externa  Die Gehörgangsentzündung ist eine überwiegend

jjEntstehung Es werden zwei Entstehungsmechanismen für die Ausbildung von Paukenergüssen diskutiert. In erster Linie wird von einer Dysfunktion der Tuba auditiva, z. B. bei Spaltbildung im Gaumensegel oder einer Obstruktion der Tube durch Hyperplasie der Adenoide, ausgegangen. In zweiter Linie wird eine inflammatorische Komponente der Mittelohrschleimhaut diskutiert.

Entzündung auf den knorpeligen Anteil der Ohrmuschel, das Ohrläppchen bleibt reizlos. Die Konturen der Ohrmuschel sind ver­ strichen, die Haut ist hochrot, überwärmt und schmerzhaft. Die Perichondritis kann z. B. nach transcartilärem Piercing auftreten, hier sind Infektionen überwiegend mit Pseudomonaden und auch Staphylokokken beschrieben. bakterielle Entzündung (98%), die durch Manipulation im Gehörgang, starkes Schwitzen oder Otoplastiken von Hörgeräten sowie durch Schwimmen in Schwimmbädern oder durch sezernierende Mittelohrentzündungen ausgelöst sein kann. Pseudomonas aeruginosa und Staphylococcus aureus sind die häufigsten Erreger, oft kombiniert als Mischinfektionen. Hingegen sind Pilzinfektionen

jjKlinik und Diagnostik Das Leitsymptom ist oft die beidseitige Hörminderung. Bei jüngeren Kindern fällt diese häufig erst durch nicht altersgemäße Hörreak­ tionen und verzögerte Sprachentwicklung auf. Ältere Kinder beschreiben neben der Hörminderung ein Druck- oder Völlegefühl.

29

762

R. Lang-Roth und M. Dübbers

Meist stehen aber die typischen Symptome der vergrößerten ­Rachenmandel mit eitriger Rhinitis, gehäuften Infekten und nächtlichem Schnarchen im Vordergrund. Die Diagnose wird ohrmikroskopisch gestellt. Das Trommelfell ist typischerweise matt, gefäßinjiziert und nicht durchscheinend, teilweise auch vorgewölbt. Gelegentlich ist auch ein bernsteinfarbener Erguss zu sehen. Unterstützend kann eine Tympanometrie sowie Audiometrie sinnvoll sein.

29

j jTherapie Die nachhaltige Wirksamkeit von Antibiotika oder lokalen Steroiden auf den chronischen Paukenerguss hat sich nicht bestätigt. Daher sind bei einem Paukenerguss, der länger als 3 Monate besteht, oder bei dem Vorliegen besonderer Risikofaktoren, eine operative Mittelohrsanierung mit Parazentese und Absaugen des Mittel­ ohrergusses sowie die Einlage von Paukenröhrchen indiziert. Die gleichzeitige Entfernung der Rachenmandel ist der alleinigen Paukenröhrcheneinlage im Hinblick auf das Ausheilen des Mittelohrs überlegen. Paukenröhrchen

Paukenröhrchen werden als Platzhalter in das Trommelfell eingelegt, um die Belüftung über das Loch im Trommelfell auch mittel­ fristig zu sichern und dem Mittelohr die Möglichkeit zu geben, ­wieder auszuheilen. Es werden kurzliegende Paukenröhrchen, die üblicherweise für 3–6 Monate verbleiben, von Dauerpaukenröhrchen (T-Tubes) unterschieden. Die normalen Paukenröhrchen ­werden durch langsamen Verschluss des Trommelfells in den Gehörgang abgestoßen, während die T-Tubes in der Regel manuell entfernt werden müssen.

Akute, eitrige Mittelohrentzündung 7 Kap. 15.2.2.

Akute Mastoiditis 7 Kap. 15.2.4.

Chronische Otitis media mit Trommelfell­ perforation Die chronische Otitis media ist eine länger als 6 Wochen andauernde Entzündung der Schleimhaut des Mittelohrs sowie des Mastoids. Sie geht mit einer Trommelfellperforation und chronisch-rezidivierender Otorrhö einher. Eine Trommelfellperforation  kann auch Folge einer Paukenröhrcheneinlage sein, wenn nach Herausfallen des Paukenröhrchens ein Loch verbleibt (. Abb. 29.2). Häufiger tritt dies bei Kindern mit chronischer Tubenbelüftungsstörung auf, z.B. mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Im Verlauf kann eine Arrosion der Gehörknöchelchenkette eintreten, die zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit führt. Die häufigsten Erreger sind Pseudomonas aeruginosa (18–67%), Staphylococcus aureus (14–33%) und gramnegativen Erreger ­(4–43%) und Hämophilus influenza (1–11%). Ohrmikroskopisch zeigt sich eine zentrale Trommelfellperforation (. Abb. 29.2) und teilweise Sekret im Gehörgang sowie im Mittelohr. Die Therapie erfolgt durch den HNO-Arzt. Eine konservative Therapie mit lokalen, nicht ototoxischen Ohrentropfen ist oft nicht erfolgreich. Insbesondere bei zusätzlicher Schallleitungshörminderung ist ab dem 6. Lebensjahr eine Tympanoplastik indiziert. Es empfiehlt sich bei bestehender Trommelfellperforation zum Duschen, Baden und Haarewaschen einen Schwimmschutz zu verwenden, um den Übertritt von Wasser in das Mittelohr zu verhindern. Hierzu kann vom Akustiker ein individuell angepasster Schwimmschutz rezeptiert werden.

..Abb. 29.2  Ohrmikroskopische Darstellung einer Trommelfellperforation

!! Cave Bei einer Trommelfellperforation ist die Gabe von ototoxischen Ohrentropfen, z. B. mit Aminoglykosiden, kontraindiziert, da sie in die Cochlea gelangen und zu einer Zerstörung der Haarsinneszellen bis hin zur Ertaubung führen können.

Adhäsivprozesse und Retraktionstaschen des Trommelfells Adhäsivprozesse und Retraktionstaschen sind Invaginationen des Trommelfells in Richtung Mittelohr, die Pars flaccida oder Pars tensa des Trommelfells betreffen. Gering ausgeprägte Retraktionen können reversibel sein, ausgeprägte Retraktionstaschen schreiten zu fixierten Adhäsivprozessen fort. Aus progredient entzündeten ­Retraktionen entwickelt sich das Cholesteatom. Die Therapie ist stadienabhängig und erfolgt durch den HNOArzt. Im Anfangsstadium sind engmaschige Kontrollen mit regelmäßigen Ohrmikroskopien indiziert. Die Einlage von Paukenröhrchen wird kontrovers diskutiert und kann bei Retraktionen der Pars tensa sinnvoll sein. Durch eine Adenotomie kann die Mittelohr­ belüftung optimiert werden. Bei fortgeschrittenen Stadien mit ausgeprägter Schallleitungsschwerhörigkeit ist eine sanierende ­ ­Ohroperation zur Wiederherstellung des Hörens notwendig.

Cholesteatom Unterschieden wird das genuine Cholesteatom, ein aus der Embryonalentwicklung verbliebenes Dermoid, vom erworbenen Cholesteatom. Es stellt eine Form der chronischen Entzündung dar,­ die durch Anwesenheit von Plattenepithel im Mittelohr verursacht wird. Das genuine Cholesteatom ist hinter dem intakten Trommelfell anterior des Hammergriffs gelegen und fällt meist durch eine zunehmende Schallleitungsschwerhörigkeit um das 5. Lebensjahr herum auf, gelegentlich auch bei der Einlage von Paukenröhrchen. Mit 72% ist das männliche Geschlecht häufiger betroffen, beidseitiges Auftreten ist mit 3% selten. Das erworbene Cholesteatom ist die Folge einer unzureichenden Selbstreinigung einer sich tief einsenkenden Retraktionstasche mit Akkumulation von Keratin. Der ausgelöste Fremdkörperreiz führt pathognomonisch zur Knochenzerstörung. Eine seltene

763 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie

­ r­sache ist das Trauma, z. B. eine Felsenbeinfraktur oder die Pauken­ U röhrcheneinlage, mit Versprengung des Plattenepithels in das Mittelohr. Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte haben ein Risiko von 2,6%, ein Cholesteatom zu entwickeln, der Erkrankungsgipfel liegt um das 10. Lebensjahr. jjSymptome Während das genuine Cholesteatom durch die Schallleitungs­ hörminderung auffällt, ist das Kardinalsymptom des erworbenen Cholesteatoms die fötide Ohrsekretion, die bei Destruktion der Gehörknöchelchenkette auch mit einer Schallleitungsschwerhörigkeit einhergehen kann. Folgen eines unbehandelten Cholesteatoms können durch die lokal destruierende Entzündung Schwindel, Fazialisparese, Ertaubung, Meningitis und Enzephalitis sein. jjDiagnose Die Diagnose eines Cholesteatoms wird otoskopisch gestellt. Das genuine Cholesteatom ist häufig ein Zufallsbefund. Hier zeigt sich im vorderen oberen Quadranten des Trommelfells eine weißliche, kugelige Raumforderung hinter intaktem Trommelfell. Beim erworbenen Cholesteatom findet sich neben der fötiden Ohrsekretion ein sog. randständiger Trommelfelldefekt mit Keratinansammlung oder eine nicht mehr übersichtliche Einziehung der Pars flaccida des Trommelfells. Vor der Operation ist meist eine Röntgendiagnostik nach Schüller ausreichend, liegen weitere Komplikationen vor, ist eine CT-Untersuchung des Felsenbeins notwendig. jjTherapie Die einzige Therapieoption ist die vollständige operative Entfernung des gesamten Cholesteatoms. Da die Rezidivrate, je nach Operationstechnik, mit bis zu 70% sehr hoch ist, ist im Einzelfall eine Second-look-Operation notwendig. In jedem Fall sollte das Ohr ­regelmäßig otoskopisch kontrolliert werden. Meist lässt sich ein ­akzeptables Hören wiederherstellen. 29.1.4

Traumata des Mittelohrs und Felsenbeins

Verletzungen des Mittelohrs Verletzungen treten in Form von Rupturen des Trommelfells mit und ohne Beteiligung der Gehörknöchelchenkette auf. Sie können durch direkte, meist mechanische Verletzungen z. B. durch Fremdkörper im Gehörgang, wie auch durch indirekte Verletzungen, meist in Form eines plötzlichen Druckanstiegs, z. B. durch Schlag auf das Ohr, Barotrauma oder Explosionstrauma, entstehen. Typischerweise wird gleichzeitig ein stechender Schmerz mit Hörminderung, Tinnitus und z. T. blutiger Otorrhö sowie Schwindel bemerkt. Tiefreichende Verletzungen können zudem die Gehörknöchelchenkette und evtl. auch die Fenster des Innenohrs betreffen und somit eine Schallleitungs- oder sogar Innenohrschwerhörigkeit zur Folge haben. Trommelfellrisse und Perforationen werden nach Säuberung der Paukenhöhle von eindringenden Schmutz- und Epithelpartikeln mit einer Silikonfolie geschient. Eine Mitbeteiligung der Gehörknöchelchenkette ist operativ zu behandeln.

Felsenbeinfraktur Felsenbeinfrakturen treten bei etwa 6–8% der stumpfen SchädelHirn-Traumen auf und sind in über 95% mit einer Commotio ­cerebri assoziiert. Sie werden in eine Felsenbeinlängsfraktur, Querfraktur oder kombinierte Fraktur eingeteilt.

Die Felsenbeinlängsfraktur tritt etwa 4- bis 6-mal häufiger auf als die Querfraktur. Die Frakturlinie zieht von der hinteren Gehörgangswand aus, häufig durch das Dach des Mittelohrs, und umgeht das knöcherne Labyrinth, läuft weiter bis zur Pyramidenspitze. Meist tritt die Symptomentrias Schallleitungsschwerhörigkeit, Trommelfellruptur mit blutiger Otorrhö sowie Bewusstlosigkeit auf. Zusätzlich kommt in etwa 15% eine Fazialisparese und in 35% eine Innenohrschwerhörigkeit vor. Ohrmikroskopisch ist typischerweise neben der Perforation des Trommelfells eine Stufenbildung im Bereich des hinteren Gehörgangs zu sehen. Die Felsenbeinquerfrakturen werden in innere und äußere Frakturverläufe differenziert und ziehen typischerweise von der hinteren Schädelbasis quer über die Felsenbeinpyramide. Die innere Fraktur zieht durch den inneren Gehörgang und zerstört die neuralen Strukturen. Hingegen verläuft bei der äußeren Fraktur die Verletzung durch die Cochlea und das Labyrinth. Das Trommelfell ist meist intakt und im Mittelohr findet sich Blut (Hämatotympanon). Dieses Verletzungsmuster führt in der Regel zu einer Ertaubung ­sowie zu einem Gleichgewichtsausfall und in etwa 50% liegt gleichzeitig eine Fazialisparese vor. Die Diagnose erfolgt durch eine Computertomographie des Felsenbeins sowie eine HNO-ärztliche Untersuchung mit Otoskopie und Überprüfung des Gesichtsnervens. Auf eine Otoliquorrhö ist zu achten, ggf. ist eine β-Trace oder Präalbuminuntersuchung auf Liquor im Nasenrachen oder Ohrsekret notwendig. Sobald der Patient transportfähig ist, sollte eine Hörprüfung erfolgen. Bei Ertaubung ist eine frühzeitige Vorstellung in einem Cochlea-Implant-Zentrum zu erwägen. Therapeutisch erfolgt zunächst das steriles Abdecken des Ohrs sowie eine weitere Beobachtung. Liegt eine Parese des N. facialis innerhalb von 48 Stunden nach Verletzung vor, ist im CT auf eine direkte Beteiligung des N. facialis zu achten und ggf. ist eine chirurgische Intervention indiziert. Im Verlauf kann eine Tympanoplastik mit Rekonstruktion der Gehörknöchelchenkette und Liquorfistelverschluss notwendig werden. Eine typische Spätkomplikation der Längsfraktur ist das Cholesteatom, infolge der traumatischen Versprengung von Epithel aus dem Gehörgang ins Mittelohr. 29.1.5

Kindliche Hörstörungen

jjÄtiologie, Klassifikation 1–3/1.000 Neugeborenen sind beidohrig schwerhörig. Kranke ­Neugeborene bzw. sehr unreife Frühgeborene sind bis zu 10-mal häufiger betroffen. Die Ätiologie der Hörstörungen ist oftmals für den einzelnen Patienten nicht zu klären. 50–60% der Hörstörungen sind genetisch bedingt, hiervon werden 76% autosomal-rezessiv, 22% autosomal dominant und jeweils 1% X-chromosomal bzw. ­mitochondrial vererbt. Mit einem Anteil von über 50% sind die ­Mutationen im GBJ2-Gen (DFNB 1, Connexin 26) für die meisten autosomal-rezessiven, nichtsyndromalen Schwerhörigkeiten ver­ antwortlich. Die Betroffenen sind zu 90% bereits bei Geburt schwerhörig, jedoch entwickeln 10% die Hörstörung erst im Kindesalter. Die verbleibenden ca. 40% der Hörstörungen sind durch schädigende Umweltfaktoren bedingt. Hier sind perinatale Erkrankungen, ­insbesondere konnatale CMV-Infektionen, und Röteln zu nennen. Die Gabe von ototoxischen Medikamenten (z. B. Cisplatin, Gentamicin, Vancomycin, Furosemid) kann eine Hörstörung zur Folge haben. Die Gesamtheit der schwerhörigen Kinder ist zu 70% monosymptomatisch schwerhörig, in 30% der Betroffenen tritt die Hörstörung im Kontext einer syndromalen Erkrankung auf. Im Verlauf der

29

764

R. Lang-Roth und M. Dübbers

Kleinkind- und Vorschulphase können weitere Hörstörungen auftreten, die ebenfalls genetisch bedingt oder auch erworben sind. Der entscheidende Aspekt für die optimale Entwicklung eines schwerhörigen Kindes ist ein früher Diagnose- und Versorgungszeitpunkt. Dies wird seit 2009 durch das flächendeckend eingeführte Neugeborenenhörscreening ermöglicht.

29

j jNeugeborenenhörscreening (NHS) Der Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses (7 http:// www.g-ba.de/informationen/beschluesse/) regelt das NHS. Jedes Neugeborene hat ein Anrecht auf ein beidohriges NHS. Die Zielsetzung ist, Hörstörungen mit einem Hörverlust über 35 dB bis zum Ende des 3. Lebensmonats zu diagnostizieren und bis zum Ende des 6. Lebensmonats eine Therapie einzuleiten. Das Hörscreening wird in der Geburtsklinik bis zur U2 (3.–10. Lebenstag) durchgeführt. Bei kranken oder mehrfach behinderten Neugeborenen ist der Zeitrahmen bis zum Ende des 3. Lebensmonats und bei Frühgeborenen bis zum errechneten Geburtstermin erweitert. Ist das Ergebnis des Hörscreening kontrollbedürftig, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass das Kind eine Hörstörung aufweist. Amnionflüssigkeit im Mittelohr oder Käseschmiere im Gehörgang sowie Unruhe des Kindes können auch zu einem kontrollbedürftigen Ergebnis führen. Innerhalb von 14 Tagen sollte eine kontrollbedürftige Untersuchung wiederholt werden. Für das Hörscreening werden automatisierte Messverfahren eingesetzt: TEOAE-Screening  Das TEOAE-Screening überprüft die äußeren Haarsinneszellen im Innenohr und wird bei gesunden Neugeborenen im Primärscreening eingesetzt. Jedoch werden seltene, isolierte Schädigungen der inneren Haarsinneszellen und des Hörnervens nicht erkannt. BERA-Screening (AABR – „automatic auditory brainstem response“)  Das AABR-Screening überprüft über Hirnstammant-

worten das gesamte periphere Gehör bis zum Hirnstamm. Es kann bereits zum Primärscreening eingesetzt werden und ist für Risikokinder (7 Übersicht) und zum Kontrollscreening vorgeschrieben. Es werden die Synaptopathie/Neuropathie (AS/AN) und retroko­ chleäre Hörstörungen miterfasst. Die Untersuchung ist aufwändiger, jedoch weniger anfällig für Mittelohrbelüftungsstörungen. Indikationen zum BERA-Screening (in Anlehnung an: Joint Committee on Infant Hearing 2007, www.jcih.org) 55Kontrollhörscreening 55Familiäre Hörstörung 55Neonatale/intrauterine Infektionen (CMV) 55Kraniofaziale Fehlbildungen, Syndrome oder chromosomale Aberrationen 55Behandlungsbedürftige Hyperbilirubinämie (Phototherapie, Austauschtransfusion) 55Geburtsgewicht > Ein kontrollbedürftiges AABR-Screening kann nur durch ein erneutes AABR-Screening oder eine diagnostische BERA kon­ trolliert werden, da sonst seltene Formen der Schwerhörigkeit (auditorische Synaptopathie/Neuropathie, retrokochleäre Hörstörung) übersehen werden.

Tracking  Trotz kontrollbedürftigem Hörscreening werden viele Kinder nicht zeitnah zur weiteren Diagnostik und Therapie vor­ gestellt. Das Minimaltracking über die Dokumentation im gelben Vorsorgeheft reicht oft nicht aus, sodass die Zusammenarbeit mit regionalen Hörscreeningzentralen empfohlen wird, die u. a. diese Erinnerungsfunktion der Eltern an ausstehende Untersuchungen übernehmen. Nur durch zusätzliches Tracking ist das Hörscreening effektiv. Ein möglicher Ablauf ist in . Abb. 29.3 für das Hörscreening Nordrhein dargestellt.

jjKlinik Die Beeinträchtigung der Hör- und Sprachentwicklung durch eine Schwerhörigkeit hängt vom Beginn und der Ausprägung der Hör­ störung sowie deren Versorgungszeitpunkt ab. Einen weiteren Einfluss haben evtl. vorliegende Zusatzbehinderungen. Der Grad der Schwerhörigkeit wird bei Kindern durch die Hörschwelle im Hauptsprachbereich festgelegt (. Tab. 29.1).

Formen der Schwerhörigkeit Es lassen sich je nach Ursprungsort unterschiedliche Formen von Hörstörungen abgrenzen (. Tab. 29.2). jjDiagnostik Ursachenabklärung  Nach Feststellung einer Schwerhörigkeit ist eine (neuro)pädiatrische Untersuchung, kinderkardiologische sowie augenärztliche Untersuchung und ggf. eine humangenetische Vorstellung notwendig (. Tab. 29.3). Klinische Untersuchung  Neben einer Ohrmikroskopie ist die In-

spektion des äußeren Ohrs, des Gesichts sowie des Halses notwendig um evtl. weiter bestehende Fehlbildungen wie Ohranhängsel oder Fisteln zu erkennen. Etwa ab dem 3. Lebensjahr ist zusätzlich zur anamnestischen Erhebung der Sprachentwicklung eine differen­ zierte Sprachentwicklungsdiagnostik sinnvoll.

Audiometrie  Die pädaudiologische Diagnostik von Säuglingen bis

hin zu Schulkindern erfolgt in spezialisierten Ambulanzen, häufig mit Fachärzten für Stimm-, Sprach-, Sprech- und kindliche Hör­ störungen. Die Auswahl der Untersuchungsverfahren hängt vom Alter und der allgemeinen Entwicklung des Kindes ab. Während bei jungen Kindern überwiegend objektive Testverfahren eingesetzt werden und die subjektiven Untersuchungen als Plausibilitätskontrolle durchgeführt werden, nimmt die Bedeutung der subjektiven Audiometrie mit steigendem Alter zu. 44 Subjektive Audiometrie 55Reaktionsschwellen bzw. Tonaudiometrie: Beim Neugeborenen stellt die Reflexaudiometrie (Moro-Reflex, Lidreflex) nur einen kleinen Baustein in der Diagnostik dar und unterscheidet nicht zwischen normalem Hörvermögen und Schwerhörigkeit. Bereits wenige Monate später können bei guter Mitarbeit erste Zusatzinformationen über den Frequenzverlauf der Hörstörung gewonnen werden. Etwa ab einem Entwicklungsalter von 3 Jahren kann ein kooperatives Kind in einer seitengetrennten Spielaudiometrie sichere Angaben über die Hörschwelle in einzelnen Frequenzen machen.

765 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie

Zweistufiges Hörscreening, Tracking und zweistufiges Follow-up

Screening Geburtseinrichtung

1. Stufe:

Neugeborene (gesund)

Follow-up 2. Stufe:

1. Stufe:

Risikokinder (z.B. Intensivstation)

Wiederholungstest

Qualifizierte Follow-up Einrichtungen

Pädaudiologische Differenzialdiagnostik

ER

REF TEOAE

REFER PASS

AABR

REFER PASS

TEOAE und AABR

2. Stufe:

Hörstörung nachgewiesen

PASS 4 Therapie 4 Frühförderung

D

D Screeningzentrum Nordrhein

Datenverarbeitung (verschlüsselt) 4 Patientendaten (Screening-ID, Name, Geburts-Datum) 4 Messergebnisse (Verfahren, Ohrseiten, messqualitätsrelevante Daten) ..Abb. 29.3  Flussdiagramm des NHS in Nordrhein. Informationen zum Ablauf 7 Text. Weitere Aufgaben sind Schulung des Personals in den kooperierenden Geburtskliniken und Qualitätskontrolle. (http://www.hoerscreening-nordrhein.de). Refer oder Controll kontrollbedürftiges Ergebnis,

..Tab. 29.1  Einteilung der Schwerhörigkeit Hörverlust

Grad der Hörstörung

Einfluss auf die Lautsprache

≤25 dB

Normalhörigkeit

Normaler Spracherwerb

26–40 dB

Geringgradige Schwerhörigkeit

Zunächst normaler ­Spracherwerb

41–55 dB

Mittelgradige ­Schwerhörigkeit

Sprachentwicklung auffällig

56–70 dB

Mittel- bis hochgra­ dige Schwerhörigkeit

Stark verzögerte Sprach­ entwicklung

71–90 dB

Hochgradige ­Schwerhörigkeit

Ausbleibende Sprach­ entwicklung

>90 dB

An Taubheit grenzende Schwerhörigkeit

Ausbleibende Sprach­ entwicklung

55Sprachaudiometrie: Ab einem Entwicklungsstand von 3 Jahren kann mit kindgerechtem Sprachmaterial das Sprachverstehen überprüft werden.

44 Objektive Audiometrie 55Tympanogramm: Durch Messung des akustischen Widerstands des intakten Trommelfells kann zwischen Pauken­ erguss und belüftetem Mittelohr unterschieden werden.

Tracking 4 Nachverfolgung von nicht getesteten und auffällig getesteten Kindern

4 Qualitätskontrolle 4 Vollständigkeits-Kontrolle 4 Schulung und Supervision des Personals

Pass unauffälliges Ergebnis, TEOAE transitorisch evozierte otoakustische Emissionen, AABR automatisierte Hirnstammaudiometrie, D Datenfluss aus den jeweiligen Einrichtungen zur Hörscreeningzentrale. (Mit freundl. Genehmigung von Neugeborenen-Hörscreenings Nordrhein)

55Otoakustische Emissionen (OAE): Die OAE sind die Antwort der äußeren Haarsinneszellen im Innenohr auf einen akustischen Reiz und werden im Gehörgang gemessen. Sie können zur Unterscheidung zwischen Innenohrschwerhörigkeit und retrokochleärer Schwerhörigkeit sowie auditorischer Synaptopathie/Neuropathie eingesetzt werden. 55Evoked/Elektric Response Audiometry (ERA): Die BERA („brainstem evoked response audiometry“), ein objektives Verfahren, wird zur Hördiagnostik von jungen Kindern oder unkooperativen Patienten eingesetzt. Es können die Hörschwelle und die Reifungsparameter der unteren Hörbahn bestimmt werden. Da die Untersuchung ein ruhiges EEG voraussetzt, erfolgt sie im Spontanschlaf, Melatoninsedierung, seltener in Narkose. In den letzten Jahren wurden frequenzspezifische Verfahren wie die AMFR („amplitude modulation following response“) oder die Chirp-BERA entwickelt. Die CERA („cortical electric response audio­ metry“) überprüft die kortikale Verarbeitung und ist u. a. ein diagnostischer Baustein der AVWS-Diagnostik. 55Elektrokochleographie (ECochG): Diese Spezialunter­ suchung kann beim Kind nur in Narkose durchgeführt ­werden. Sie wird zur Abklärung einer auditorischen Synaptopathie/Neuropathie und bei spezieller Fragestellung vor einer Cochleaimplantation eingesetzt.

29

766

R. Lang-Roth und M. Dübbers

..Tab. 29.2  Formen der Schwerhörigkeit

29

Form der Schwerhörigkeit

Pathogenese

Anmerkungen

Schallleitungsschwerhörigkeit

Gestörte Schallleitung im Bereich des äußeren Ohres oder Mittelohres

Angeboren: - Atresie oder Stenose des Gehörgangs - Fehlbildung der Gehörknöchelchenkette Erworben: - Paukenergüsse, Mittelohrentzündung - Cerumen obturans - Perforation im Trommelfell, chronische Mittelohrentzündungen

Innenohrschwerhörigkeit

Schädigung, Fehlbildung oder selten auch das Fehlen der Cochlea

Hörgeräteversorgung Hochgradige Schwerhörigkeit ist eine Indikation zur Cochlea­ implantation

Kombinierte Schwerhörigkeit

Gleichzeitiges Vorliegen einer Innenohr- und Mittelohrschwerhörigkeit

Vorliegende Innenohrschwerhörigkeit und Paukenerguss

Schädigungsort zwischen innerer Haarsinneszelle, Synapse und Hörnerv (. Abb. 29.4)

Inzidenz: 10% aller hochgradig schwerhörigen Kinder

Cave: Ein alleiniges TEOAE-Screening kann diese Hörstörung nicht aufdecken!

Typische Befundkonstellation: - Otoakustische Emissionen nachweisbar - BERA keine oder auffällige Potenzialmuster - Risikofaktoren: Hyperbilirubinämie, Frühgeburtlichkeit

Schädigung des Hörnerven

Z. B. durch ein verdrängend wachsendes, den Hörnerv schädigendes Vestibularisschwannom (Neurofibromatose Typ II)

Auditorische Synaptopathie/ Neuropathie

Retrokochleäre ­Schwerhörigkeit

Komplexe Innenohr- und Mittelohrfehlbildungen

Cochleaimplantat nicht indiziert, ggf. Hirnstammimplantat (ABI) oder Midbrain-Implantat zur Hörrehabilitation Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)

Unklar

Periphere Normakusis beidseits ist Voraussetzung

Funktionelle, nicht organische Hörstörungen

Nucleus cochlearis

Äußere Haarsinneszellen

Simulation einer Hörstörung Artifizielle Hörstörung Dissoziatives Syndrom

Nucleus olivaris superior

Mögliche Schädigungsorte einer auditorischen Neuropathie/Synaptopathie Innere Haarsinneszellen

..Abb. 29.4  Schematische Darstellung des Corti-Organs im Innenohr. Bei einer auditorischen Neuropathie liegt der Ursprung der Schädigung zwischen der inneren Haarsinneszelle, Synapse und dem Hörnerven

Schallleitungsschwerhörigkeit j jUrsachen und Behandlung Die häufigste Ursache einer Schallleitungsschwerhörigkeit ist der Paukenerguss, jedoch können auch darüber hinaus angeborene Fehlbildungen oder erworbene Veränderungen im Mittelohr zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit führen. 44 Persistierende Paukenergüsse: operative Mittelohrsanierung mit Adenotomie und Parazentese ggf. Paukenröhrcheneinlage.

..Tab. 29.3  Abklärung der häufigsten Ursachen einer frühkind­ lichen Hörstörung Anamnese - Schwangerschaft - Geburt - Vorerkrankungen

Extreme Frühgeburtlichkeit, komplizierter postpartaler Verlauf Hyperbilirubinämie Fetofetales Transfusionssyndrom Meningitis (bakterielle Meningitis!) Nierenerkrankungen

Familienanamnese

Familiäre Hörstörung

Klinische ­Diagnostik

Syndromale Stigmata EKG (Ausschluss Long-QT-Syndrom) EEG

Medikamente

Furosemid, Gentamicin, Vancomycin, Cisplatin u. a.

Labor/Virologie

PCR-CMV im Urin, ggf. aus der Trockenblutkarte Ggf. TORCH-Serologie (Toxoplasmose; Others: Chlamydien, Lues, Hepatitis B, Parvovirus B19, VZV, Listerien; Röteln; Cytomegalie; Herpes simplex), Borrelien-Titer Nieren- und Schilddrüsenfunktion

Genetische ­Diagnostik

Connexin 26, 30 Paneldiagnostik

767 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie

44 Rezidivierende Paukenergüsse und Notwendigkeit wiederholter Paukenröhrcheneinlage ggf. mit offenem Näseln: Vorstellung Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgen zum Ausschluss ­einer submukösen Gaumenspalte. 44 Mittelohrfehlbildung mit Schwerhörigkeit >30 dB: Hörgeräteversorgung mit HdO (Hinter-dem-Ohr-Hörgeräten) oder Knochenleitungshörgeräten, ggf. später gehörverbessernde Operation. 44 Gehörgangsatresie (ca. 50 dB Schallleitungskomponente) beidseits: Versorgung nach der Geburt mit Knochenleitungshörgerät (z. B. BAHA Softband, ADHEAR, Oticon Ponto) ­später Option zu implantierbaren Hörsystemen (z. B.Vibrant Soundbridge, Bonebridge). jjTherapie der frühkindlichen Schwerhörigkeit Voraussetzung für eine erfolgreiche Hörrehabilitation eines hörgeschädigten Kindes ist nach der frühen Diagnosestellung eine qualitativ hochwertige Versorgung mit Hörsystemen und professionelle Förderung. Die Betreuung der Kinder erfolgt in spezialisierten phoniatrisch-pädaudiologische Einrichtungen, in enger Zusammenarbeit mit dem Pädakustiker (Hörgeräteakustiker für Kinder), den Frühfördereinrichtungen (Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation, allgemeine FF) und den betreuenden Ärzten und den Eltern. Ab einem Hörverlust von ca. 30 dB ist eine Hörgeräteversorgung auf dem betroffenen Ohr indiziert. Liegt beidseits eine Hörstörung vor, sind beide Ohren zu versorgen. Da trotz Hörgeräteversorgung das Verstehen von Sprache im Störgeräusch für die Kinder schwierig bleibt, kann ab dem Kindergartenalter eine digitale Übertragungsanlage von Erzieher zu Kind genutzt werden. Im Schulalter wird diese durch Schülermikrophone ergänzt. Das betroffene Kind ist dann in der Lage, die Sprache ohne Hintergrundgeräusche zu ver­ stehen. Liegt ein Hörverlust über 70–80 dB vor, ist in Abhängigkeit der kindlichen Entwicklung eine Versorgung mit einem Cochleaimplantat zu diskutieren. kkCochleaimplantat Das Cochleaimplantat (CI) ist derzeit der einzige Ersatz eines Sinnesorgans. Das erste kommerziell verfügbare CI wurde 1982 implantiert. Die zunehmenden technischen Möglichkeiten und die Erfolge für Hören und Sprachentwicklung führten zu einem breiten Einsatz bei Säuglingen und Kleinkindern mit hochgradiger Schwerhörigkeit. Heute ist die bilaterale CI-Versorgung, die Richtungshören und ein besseres Verstehen im Störgeräusch ermöglicht und zu anstrengungsfreierem Hören führt, die Regelversorgung. jjFunktion Ein CI-System besteht aus dem Implantat und dem extern hinter dem Ohr getragenen Sprachprozessor. Die intracochleär gelegene Elektrode des CI stimuliert den Hörnerv elektrisch. Da die Hörschnecke tonotop, ähnlich einer Klaviertastatur, aufgebaut ist, führt eine Stimulation der Schneckenbasis zu einem hochfrequenten ­Höreindruck und an der Schneckenspitze zu einem tieffrequenten Hören. Der durch ein CI vermittelte Höreindruck ist zwar nicht so differenziert wie der des Normalhörenden, aber das menschliche Gehirn ist trotzdem in der Lage, damit Sprache zu verstehen und sogar zu telefonieren (. Abb. 29.5). jjIndikationen Indikation für ein CI ist eine hochgradige Innenohrschwerhörigkeit, die nicht ausreichend mit Hörgeräten zu versorgen ist. Vorausset-

Sendespule Mikrofon

Implantat

Elektrodendraht der Cochlea ..Abb. 29.5  Cochleaimplantat: Implantat mit Elektrodendraht in der Cochlea und außen getragenem Sprachprozessor

zung sind das Vorhandensein eines Hörnervens, eine flüssigkeitsgefüllte Cochlea und die Fähigkeit zur Habilitation. Die besten Ergebnisse für die Hör- und spätere Sprachentwicklung eines prälingual tauben Kindes sind bei einer Implantation im 1. oder 2. Lebensjahr zu erwarten. Ein von Geburt an taubes Kind profitiert mit zunehmendem Alter immer weniger von einem Implantat. Nach dem 4. Lebensjahr ist nur noch ein sehr eingeschränkter Spracherwerb möglich und jenseits der Pubertät ist bei ausbleibender Lautsprache, von dem CI nur eine Unterstützung in der akustischen Orientierung zu erwarten. Die Empfehlung geht bei symmetrischer Hörstörung zur zeitnahen bilateralen Implantation. Bei asymmetrischem Hörverlust kann das besser hörende Ohr weiterhin mit einem Hörgerät versorgt werden, während das schlechter hörende Ohr implantiert wird (bimodale Versorgung). Aktuell wird die Implantation einseitig tauber Kinder im Einzelfall durchgeführt. Wird ein Kind im Laufe des Spracherwerbs (perilingual) oder nach Abschluss der Spracherwerbs taub (postlingual) ist eine zeit­ nahe Cochleaimplantation indiziert. !! Cave Die postmeningitische Ertaubung, insbesondere nach Pneumokokkenmeningitis, ist ein „Notfall“.

Die Cochlea kann innerhalb weniger Tage bis Wochen verknöchern und eine Cochleaimplantation ist dann u. U. unmöglich. Daher ist nach jeder Meningitis eine objektive Hördiagnostik indiziert und bei Ertaubung unverzüglich die CI-Operation zu planen. >> Postmeningitische Ertaubung beidseits: immer direkt bilaterale Implantation!

jjNachsorge An eine Cochlea Implantation schließt sich eine intensive pädagogisch/therapeutische, technische und medizinische Nachsorge an. Diese kann stationär, teilstationär oder ambulant (in der Regel über einen Zeitraum von drei Jahren) erfolgen. Darüber hinaus sind ­lebenslange Kontrollen in dem CI-Zentrum notwendig. Das Risiko einer otogenen Meningitis ist durch das CI gering­ fügig erhöht, daher ist Impfschutz bzgl. Pneumokokken und HiB (von der STKO empfohlene Impfung) notwendig. Bei einer akuten Mittelohrentzündung auf einem implantierten Ohr ist die Antibiotikagabe indiziert.

29

768

29

R. Lang-Roth und M. Dübbers

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungs­ störungen (AVWS)

29.2

j jDefinition Eine AVWS liegt vor, wenn trotz kognitiver Normalbegabung und peripherer Normakusis zentrale Prozesse des Hörens gestört sind. Hierunter fasst man Störungen vorbewusster und bewusster Pro­ zesse der Signalverarbeitung, wie Erkennen von Geräuschrich­ tungen, Verstehen im Störgeräusch, beidohriges Hören zusammen. Die isolierte AVWS grenzt sich von Aufmerksamkeitsstörungen, Lern­störungen, Hyperaktivität, Sprachentwicklungsstörungen und ­Gedächtnisstörungen ab.

R. Lang-Roth

j jKlinik Je nach Literaturangabe sind bis zu 2–3% der Kinder betroffen. Das klinische Erscheinungsbild ist uneinheitlich und die Abgrenzung von Aufmerksamkeitsstörungen, Lernstörungen, Hyperaktivität, Sprachentwicklungsstörungen und Gedächtnisstörungen ist oft sehr schwierig. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten im Störgeräusch Sprache zu verstehen, Richtungshören fällt schwer oder sie weisen eine Sprachentwicklungsstörung oder einer Lese- und Rechtschreibschwäche auf. j jDiagnose Diagnostik der AVWS 55Pädaudiologie –– Ausschluss einer peripheren Hörstörung –– Überprüfung der auditiven Verarbeitung –– Hören im Störgeräusch (Verstehen von Sprache in ­geräuschvoller Umgebung) –– Dichotisches Hören (beidohriges Hören) –– Richtungshören (Lokalisation von Geräuschrichtungen) –– Zeitliche Auflösung (Lücken erkennen, Verstehen zeitkomprimierter Sprache) 55Logopädie/Sprachtherapie –– Lautdiskrimination z. B. Minimalpaare (Buch-Tuch, MausHaus) –– Lautsynthese: Zusammensetzten von Lauten –– Analyse: Identifikation von Lauten –– Lautergänzung 55Kinder- und Jugendpsychiatrie –– Ausschluss von Aufmerksamkeit-, und Konzentrations­ störungen –– Durchführung einer Intelligenzstrukturdiagnostik und Ausschluss von Teilleistungsstörungen und einer unterdurchschnittlichen Begabung

j jTherapie 44 Übende Verfahren zur Verbesserung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung (meist durch eine Logopädin oder Sprachheiltherapeutin), 44 metakognitiv kompensierende Verfahren, z. B. durch Absehen des Mundbilds, 44 kompensatorische Verfahren zur verbesserten akustischen Raumqualität: Optimierung der Raumakustik (Teppich im Klassenzimmer, Vorhänge), Optimierung Nutzschall-Störschall-Relation durch vorne sitzen. Im Ausnahmefall können durch einen Facharzt für Stimm- Sprach- und kindliche Hör­ störungen eine Funkübertragungsanlage (z. B. Roger-Fokus) verordnet werden.

29.2.1

Nase

Fehlbildungen

jjChoanalstenose und -atresie Die häufigsten Fehlbildungen der Nase sind Choanalstenosen und -atresien. Diese Fehlbildungen treten ein- oder beidseitig auf und können membranös, knorpelig oder knöchern sein. Einseitige Fehlbildungen sind 5-mal häufiger und Mädchen sind 5-mal häufiger betroffen. Während die einseitige Atresie oft erst im Kleinkindesalter an persistierender einseitiger Rhinitis erkannt wird, fällt die beidseitige Choanalatresie direkt nach der Geburt durch schwere, lebensbedrohliche Atemnot auf. Hinweise auf eine Stenose können ein Sondierungsversuch oder die Untersuchung mit einem Glatzel-Spiegel geben. Der kalte Metallspiegel wird unter die Nase des Kindes gehalten und bei durch­ gängiger Nase und Choane beschlägt der Spiegel auf der jeweiligen Seite. Die Diagnose kann durch eine Endoskopie oder eine CT-­ Untersuchung gesichert werden. Die operative Therapie mit Eröffnung der einseitige Choanal­ atresie erfolgt meist erst im späten Kindesalter, hingegen ist die Eröffnung der beidseitigen Atresie mit Einlage von Platzhaltern in den ersten Lebenstagen notwendig, bis dahin ist häufig eine Intubation notwendig. jjMeningoenzephalozelen Seltener treten Meningoenzephalozelen durch Offenbleiben des Neuroporus anterior auf. Sie werden in äußere, extranasale Zelen mit Auftreibung der Nasenwurzel und in intranasal gelegene, oftmals gestielte Zelen unterschieden. Der Zeleninhalt ist von Meningen umgebenes Gliagewebe. Die Diagnose wird durch eine MRT-Bildgebung gestellt. Aufgrund der Gefahr der spontanen Liquorrhö und der damit verbundenen Gefahr einer Meningitis erfolgt meist die operative Therapie. !! Cave Bei intra- und extranasalen Raumforderungen ist vor einer operativen Maßnahme eine Meningoenzephalozele auszuschließen.

29.2.2

Entzündungen

Akute Rhinosinusitis Die akute Rhinosinusitis ist eine virale Infektion der oberen Luft­ wege mit plötzlichem Beginn, die auch als „common cold“ bzw. ­Erkältung bezeichnet wird. Zur Diagnosestellung sollten zwei der typischen Symptome erfüllt sein: nasale Sekretion, nasale Obstruktion, Mittelgesichtsschmerz, Hyposmie oder Husten. In der Regel heilt sie nach 10 Tagen ohne medikamentöse Therapie ab. Die akute bakterielle Rhinitis entsteht in Folge einer viralen Infektion und ist durch eine persistierende Symptome oder ein ­erneutes Aufflammen gekennzeichnet. In diesem Fall kann ein bakteriologischer Abstrich sinnvoll sein. Selten treten im Verlauf einer Rhinosinusitis orbitale (Orbitalphlegmone) oder intrakranielle Komplikationen (Meningitis) bzw. eine Osteomyelitis auf.

769 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie

jjTherapie In den meisten Fällen einer unkomplizierten Infektion ist keine Therapie notwendig, selten die Gabe von NaCl-Nasentropfen oder abschwellenden Nasentropfen nötig. Treten Komplikationen auf, ist zusätzlich eine antibakterielle Therapie mit Amoxicilin, bei β-laktamasebildenden Bakterien in Kombination mit β-Lakta­mase­ inhibitoren oder Cephalosporine, indiziert. !! Cave Tritt eine akute unilaterale Rhinitis auf sollte ein Fremdkörper in der Nase ausgeschlossen werden, bei chronischer unilateraler Rhinitis eine Choanalatresie.

Chronische Rhinosinusitis Bestehen die entzündlichen Veränderungen der Schleimhaut der Nase und den Nasennebenhöhlen länger als 12 Wochen, wird von einer chronischen Rhinosinusitis gesprochen. Das klinische Bild wird von nasaler Obstruktion, chronischer Rhonorrhö und post ­nasal drip bestimmt. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von vergrößerten, entzündlich veränderten Adenoiden, anatomischen Besonderheiten, chronischen Infektionen und Allergien hin zum gastroösophagealen Reflux. Neben der antibakteriellen Therapie, ggf. in Kombination mit Steroiden, ist in einzelnen Fällen die Adenotomie mit Spülung der Nasennebenhöhlen als sanierende Operation indiziert. Etwa 70% der Kinder profitieren signifikant von dem Eingriff.

Mukoviszidose Etwa 90–100% der Patienten mit Mukoviszidose (zystischer Fibrose, CF) haben eine sinu-nasale Beteiligung mit nasaler Obstruktion (80%), Anosmie (25%), Rhinitis (>50%) sowie Polypen in der Nase und den Nebenhöhlen. Mit zunehmendem Alter nehmen die Beschwerden zu. Die Therapie erfolgt in Zentren. !! Cave Liegt bei Kindern eine beidseitige Polyposis nasi et sinuum vor, ist eine Mukoviszidose auszuschließen.

Primäre ziliäre Dyskinesie (PZD) Die PZD ist eine sehr seltene, autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die mit einem strukturellen Defekt der Zilien der respiratorischen Epithelzellen einhergeht. Liegt gleichzeitig ein Situs inversus vor, wird das Krankheitsbild als Kartagener-Syndrom bezeichnet. Die primären Symptome im HNO-Bereich betreffen die Nasennebenhöhlen und das Mittelohr. Die Therapie erfolgt in Zentren.

Allergische Rhinitis 7 Kap. 11.

29.2.3

Epistaxis

Etwa 9% der Kinder bis zum 16. Lebensjahr haben rezidivierendes Nasenbluten aus dem Locus Kiesselbachii, im Bereich des vorderen Septums. Die Ursachen sind lokale Infektionen, trockene Schleimhäute oder lokale Traumata z. B. durch „Nasebohren“, insbesondere in der entzündeten Schleimhaut bei einer akuten Rhinitis. In der Regel ist das Nasenbluten selbstlimitierend, mit steigendem Alter nimmt die Häufigkeit ab. Bei akuter Blutung, Auftragen von abschwellenden Nasentropfen. Das Kind aufrecht setzen und den knorpeligen Anteil der Nase durch Druck leicht komprimieren. Es soll darauf geachtet werden,

dass kein Blut in den Rachen läuft. Im Intervall ist Nasenpflege, z. B. mit antiseptische Salben oder pflegenden Salben mit Panthenol, sinnvoll. Die Koagulation bzw. das Veröden von Gefäßen hingegen sollte nur im Ausnahmefall erfolgen, da es schmerzhaft ist, sich auf lange Sicht die Symptomatik nicht ändert und eine Septumperforation die Folge sein kann. Im Einzelfall ist es sinnvoll, eine Gerinnungsstörung auszuschließen. Sollte es aus anderen Bereichen der Nase bluten, ist es notwendig, Tumore oder Hämangiome auszuschließen. 29.3

Nasopharynx

R. Lang-Roth 29.3.1

Adenoide

Die Rachenmandel, Adenoide oder häufig umgangssprachlich auch als (Kinder-)Polypen bezeichnet, stellt lymphatisches Gewebe des Dachs und der Hinterwand des Rachens dar, das zwischen den ­Tuben gelegen ist. Die Rachenmandel wächst in den ersten Lebensjahren und erreicht in einem Alter von 4–5 Jahren die größte Ausdehnung, danach bildet sie sich langsam zurück. Hyperplastische Adenoide können zu einer Rhinitis, Obstruktion der Nasenatmung und Schnarchen führen. In seltenen Fällen führen hyperplastische Adenoide, teilweise in Kombination mit ebenfalls hyperplastischen Tonsillen, zu einer ausgeprägten Obstruktion der Atemwege, die ein Schlaf-Apnoe-Syndrom zur Folge haben kann. Weitere Folgen sind Tubenbelüftungsstörungen mit Paukenergüssen (Serotympanon, Mucotympanon) oder rezidivierende Mittelohrentzündungen. Die Mittelohrbelüftungsstörung führt zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit, die im Einzelfall für eine Aussprachestörung oder Sprachentwicklungsstörung verantwortlich sein kann. Bei etwa 20% der akuten Rhinosinusitiden sind die Adenoide mitbetroffen. jjDiagnostik Die Diagnose wird in der Regel klinisch gestellt. Über einen akuten Infekt hinweg persistieren Symptome, wie nächtliches Schnarchen, Mundatmung, Rhinitis und Paukenergüsse. Die transnasale Endoskopie oder die transorale Nasopharyngoskopie sind im Einzelfall hilfreich, aber bei jungen Kindern nicht ohne Belastung möglich. jjTherapie Die operative Therapie beinhaltet die Adenotomie sowie bei gleichzeitig vorliegenden Paukenergüssen das Absaugen des Mittelohr­ sekrets über eine Parazentese mit anschließender Einlage von Paukenröhrchen. !! Cave Bei Kindern mit einer Kiefer- und Gaumenspalte sollte die ­Indikation zur Adenotomie sehr eng gestellt werden, da postoperativ das offene Näseln meist zunimmt.

29

770

R. Lang-Roth und M. Dübbers

29.4

Mundhöhle, Oropharynx

R. Lang-Roth 29.4.1

Fehlbildungen

7 Kap. 31.

29.4.2

29

Entzündungen

Akute Tonsillitis 7 Kap. 15.2.1.

Rezidivierende akute Tonsillitis Eine chronische Tonsillitis tritt unter adäquater Therapie selten auf. Vielmehr sind es meist rezidivierende, akute, virale Tonsillitiden. Häufig wird der Begriff chronische Tonsillitis auch fälschlicherweise für unspezifische Halsschmerzen eingesetzt. Die Indikation zur Tonsillektomie, der kompletten Entfernung der Gaumenmandeln, ist aufgrund des gehäuften Auftretens von tödlichen Komplikationen kritisch zu bewerten und sollte durch die risikoärmere Tonsillotomie, die Verkleinerung der Tonsillen, im ­Falle einer Obstruktion oder rezidivierenden Tonsillitiden ersetzt werden. Eine Tonsillektomie oder Tonsillotomie ist nur dann in­ diziert, wenn in innerhalb von 12 Monaten mindestens 6, ärztlich diagnostizierte, eitrige und mit Antibiotika therapierte Tonsillitiden stattgefunden haben oder eine relevante Behinderung der Atemwege vorliegt. Aufgrund der gleichen Wirksamkeit und der geringeren Komplikationsrate ist in der Regel eine Tonsillotomie vorzuziehen.

Peritonsillarabszess Akute Tonsillitis mit meist einseitiger Ausbildung eines intra-, paraoder retrotonsillären Abszess. Die Erreger sind typischerweise ­Bakterien wie Staphylokokken, Streptokokken und Fusobakterium necrophorum. Klinisch imponiert schmerzhaftes Schlucken bis hin zur Aphagie. Die Therapie der Wahl ist die operative Entlastung des Abszesses, in der Regel mit Entfernung der Tonsillen. 29.5

Erkrankungen der Kopfspeicheldrüsen

R. Lang-Roth In die Mundhöhle sezernieren 3 große, paarig angelegte Speicheldrüsen sowie 700-1.000 kleine Speicheldrüsen Sekret, das zu 99,5% aus Wasser besteht. Die verbleibenden 0,5% setzen sich aus Elektrolyten, Eiweißen mit bakteriziden Faktoren, Antikörpern und ­Enzymen zusammen. Seröser Speichel mit bakteriziden und vorverdauenden Enzymen wird vom mukösen Speichel unterschieden, der die Schleimhäute befeuchtet und die Kau- und Schluckfunktion erleichtert. Zusammen schützen sie vor Wundinfektionen und Karies, reinigen die Mundhöhle und remineralisieren die Zähne. 29.5.1

Angeborene Speicheldrüsen­ erkrankungen

Hypo- und Aplasien der Speicheldrüsen sind sehr selten. Beim LADD-Syndrom (lacrimo-auriculo-dento-digitales Syndrom) können neben einer Dys-oder Aplasie der Tränenwege, Fehlbildungen

der Ohren, Zähne, Taubheit eine Aplasie der Speicheldrüsen vorliegen. Speicheldrüsentumore treten nur etwa in 5% im Kindesalter auf. 29.5.2

Entzündungen

Entzündungen sind neben den gutartigen Tumoren die häufigsten Erkrankungen. Die bedeutsamsten viralen Erkrankungen werden durch das Mumpsvirus (7 Abschn. 14.22) und Zytomegalievirus (7 Abschn. 14.4) ausgelöst. Die neonatale eitrige Parotitis ist eine Sonderform der eitrigen Parotitis. Sie tritt kurz nach der Geburt, überwiegend einseitig mit Rötung, Überwärmung und Schwellung auf. Ursache sind bakte­ rielle Infektionen und vermutlich eine Dehydratation. Jungen (77%), gestillte Kinder und Frühgeborene sowie über eine nasogastrale ­Sonde ernährte Kinder sind häufiger betroffen. Die Therapie sollte ­staphylokokkenwirksame Antibiotika sowie Aminoglykoside bzw. ein Cephalosporin der 3. Generation beinhalten, bei Abszedierung ist eine chirurgische Drainage notwendig. Die chronisch rezidivierende juvenile Parotitis tritt zwischen dem 4. Lebensmonat und dem 15. Lebensjahr als rezidivierende Entzündung auf. Jungen sind häufiger betroffen und ab der Pubertät ist die Erkrankung meist selbstlimitierend und kann komplett ausheilen. Die Pathogenese ist multifaktoriell. Die Entzündung tritt meist für 24–48 Stunden auf, selten persistiert die Schwellung und Rötung der Drüse länger. Oftmals besteht erhöhte Temperatur. Die Therapie ist primär symptomatisch, ggf. ist die Gabe von Antibiotika notwendig. Bei rezidivierenden Infekten kann eine Sialendoskopie und Gangspülung indiziert sein, bei schweren Verläufen ist die totale Parotidektomie als Ultima ratio indiziert. Eine genetische Ursache wird vermutet. Weitere, seltene Erkrankungen der Parotis sind Aktinomykose und Tuberkulose (7 Abschn. 15.3.2). 29.5.3

Tumoren

Die Ranula ist eine von der Glandula sublingualis ausgehende ­Mukozele, die in seltenen Fällen schon bei Geburt bestehen kann. Sie ist eine typische Blickdiagnose, die sonographisch bestätigt wird. Die Therapie ist operativ, z. T. mit Entfernung der Drüse. Neben der Anamnese ist insbesondere die Sonographie bedeutsam. Die CT und MRT-Diagnostik ist der Abklärung von Raumforderungen und unklaren Prozessen vorbehalten. Selten kommt die Sialendoskopie und die Feinnadelbiopsie oder offene Probeent­ nahme zum Einsatz. Diese Untersuchungen benötigen in der Regel eine Narkose. 29.6

Larynx

R. Lang-Roth 29.6.1

Fehlbildungen

Die kindlichen Fehlbildungen des Kehlkopfs werden meist durch unterschiedlich ausgeprägtes Auftreten von Stridor, Dyspnoe und Stimm- sowie Schluckstörungen klinisch manifest. Insgesamt sind diese Fehlbildungen selten. Daher sollte insbesondere die rekon­ struktive Chirurgie in Zentren mit großer Erfahrung erfolgen. Für die Planung von Maßnahmen ist ein sorgfältiges Abwägen der postoperativen Beeinträchtigung von Stimme, Luftweg, Schlucken oder

771 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie

den Risiken einer Tracheostomie notwendig. Die Tracheostomie beim Säugling und Kleinkind ist, wenn immer möglich, zu vermeiden. Die akzidentielle Kanülendislokation stellt eine lebensbedrohliche Situation dar, da das Tracheostoma und somit der Atemweg durch die umliegenden Halsweichteile abrupt verlegt wird und die respirato­rische Reserve sehr gering ist. Daher ist eine permanente Monitor­überwachung des jungen Kindes notwendig.

Laryngomalazie Der inspiratorische Stridor im Neugeborenenalter ist überwiegend durch eine Instabilität des Kehlkopfeingangs verursacht. Die instabile Epiglottis und die relative Hypertrophie der Schleimhaut der Aryregion führen zum respiratorischen Ansaugen dieser Strukturen in die Glottis und somit zu einer unterschiedlich ausgeprägten Obstruktion des Atemwegs mit Stridor. Weitere Folgen können Ruheund insbesondere Belastungsdyspnoe, Gedeihstörungen und Ernährungsprobleme sowie obstruktive Schlafstörungen sein. In etwa 10% ist die kindliche Entwicklung gestört. In den meisten Fällen stabilisiert sich der Kehlkopf im ersten Lebensjahr. Bei klinischer Beeinträchtigung des Kindes ist eine flexibel transnasale Endoskopie am spontanatmenden Kind indiziert. In ­seltenen Fällen ist eine schonende laserchirurgische Resektion der hyperplastischen Schleimhaut notwendig. Dieser Eingriff sollte in Zentren erfolgen.

Glottisstenosen Der konnatale beidseitige Stimmlippenstillstand ist in der Regel neuronal bedingt und kann im Laufe der Entwicklung spontan ausheilen. Zum Ausschluss von Komorbiditäten ist eine neuropädiatrische Untersuchung notwendig. In Abhängigkeit von der klinischen ­Symptomatik kann eine Tracheostomie erforderlich sein. Glottiserweiternde Eingriffe sollten erst ab dem 12. Lebensjahr erwogen werden. Durch inkomplette Rekanalisation des Larynx in der Embryonalentwicklung verbleibt ein konnatales Web oder Diaphragma ­laryngis, das von ventral unterschiedlich weit nach dorsal reichend, auf Höhe der Stimmlippen den Kehlkopf einengt. Die Stimme ist oftmals leise und kraftlos, je nach Ausprägung kann eine relevante Verlegung der Atemwege bestehen, die im Falle eines Infektes noch zunehmen kann. Die Diagnose erfolgt endoskopisch, die Aus­ dehnung wird mit der MRT/CT bestimmt. Die Interarytaenoidfibrose mit narbiger Fixierung der beiden Aryknorpel ist die typische Folge einer Intubation. Die klinische Abgrenzung zum beidseitigen Stimmlippenstillstand ist schwierig. Die Diagnose wird mikrolaryngoskopisch mit Überprüfung der Stimmlippenmobilität gestellt. Subglottische Stenosen können Folge einer Intubation sein oder eine angeborene Fehlbildung darstellen. Die Therapie erfolgt in ­Zentren. Larynxzysten, die überwiegend supraglottisch gelegen sind, ­manifestieren sich in Abhängigkeit von Größe und Lage durch Stridor, Dysphagie und Stimmstörungen. Die Therapie ist die mikrolaryngoskopische Abtragung.

Dorsale Larynxspalten Seltene und schwer zu diagnostizierende Fehlbildung stellen dorsale Larynxspalten dar. Sie sind Folge einer unvollständigen Fusion des dorsalen Larynx im Bereich der Interaryregion während der Embryonalentwicklung. Es besteht dadurch eine Verbindung der Luftund Speisewege, deren Folge schwere Aspirationen, respiratorische Insuffizienz sowie eine kraftlose Stimme sind. Die Diagnose wird mikrolaryngoskopisch durch vorsichtige Exploration der Interary-

..Abb. 29.6 Larynxpapillomatose

region gestellt, die Therapie ist eine sehr komplexe chirurgische Trennung der Luft und Speisewege. 29.6.2

Entzündungen

7 Kap. 18.

29.6.3

Tumore im Larynx

Rezidivierende respiratorische Papillomatose (RRP) Die RRP ist eine seltene virale Erkrankung, die sowohl den Kehlkopf wie auch die Trachea betreffen kann (. Abb. 29.6). Symptome sind progrediente Heiserkeit, Stridor und insbesondere bei kleinen ­Kindern, Luftnot. Ursächlich wird eine virale Erkrankung mit HPV 6 und 11 postuliert, wobei HPV 11 aggressivere Verläufe zugeschrieben werden. Das kindliche Risiko an einer RRP zu erkranken, ist bei mütterlichen Condylomata acuminata um das 200-fache ­erhöht. Jungen sind häufiger als Mädchen betroffen. Eine kausale Therapie dieser rezidivierenden Erkrankung existiert nicht. Die Behandlung besteht aus einer schonenden, funk­ tionserhaltenden laserchirurgischen Abtragung der Papillome mit dem Ziel, die Atemwege und die Stimmbildung möglichst wenig zu beeinträchtigen. Das Rezidivverhalten ist sehr unterschiedlich und kann im Einzelfall bis zu 100 Abtragungen notwendig machen. Diese aggressiven Verläufe können zu einer kompletten Vernarbung des Kehlkopfs führen. Folgen sind die Notwendigkeit einer Tracheostomie und eine ausgeprägte Heiserkeit bis hin zur Aphonie. Die Wirksamkeit einer HPV-Impfung ist unklar.

Stimmlippenknötchen Stimmlippenknötchen (syn. Phonationsverdickungen, Schreiknötchen) sind Folge eines nicht adäquaten Einsatzes der Stimme. In der Regel sind energische Kinder mit älteren Geschwistern betroffen (. Abb. 29.7).

29

772

R. Lang-Roth und M. Dübbers

..Tab. 29.4  Stimmwechsel (Mutation) beim Mädchen und Jungen (Mod. nach Nawka u. Wirth 2008)

29

Alter

Jungen

Prämutation (nur Jungen)

Ab 9.–11. Lebensjahr Mittlere Sprechstimm­lage senkt sich Stimme oft belegt, rau, häufig kräftiger

Mutation

Ab 12. Lebensjahr Dauer 2–19 Monate Kehlkopfwachstum: - Stimmlippenverlängerung 4–11 mm - Kehlkopf tritt tiefer - Ausbildung des Adamsapfels - Massenzunahme der Stimmlippen Stimmbruch: Oktavwechsel zwischen Brust- und Kopf­ register

Postmutation (nur Jungen)

Zunahme des Stimm­umfangs nach unten Mittlere Sprechstimm­lage sinkt um eine Oktave Stabilisierung der Stimm­ qualität, Dauer 3–5 Monate

..Abb. 29.7 Stimmlippenknötchen

29.6.4

Fremdkörperaspiration

7 Kap. 18.

29.6.5

Kindliche Stimmstörungen

j jDefinition Der Begriff Stimmstörung oder Dysphonie umfasst Veränderungen des Stimmklangs und/oder der stimmlichen Leistungs- bzw. Belastungsfähigkeit sowie Missempfindungen. Heiserkeit beschreibt die Veränderung des Stimmklangs und Dysodie die Störung der Singstimme. j jStimmentwicklung Die Stimmentwicklung ist in . Tab. 29.4 dargestellt. j jÄtiologie der Stimmstörungen 44 Organische Stimmstörungen (. Tab. 29.5) entstehen durch angeborene Fehlbildungen oder erworbene Erkrankungen des Kehlkopfs. 44 Funktionelle Stimmstörungen haben ihre Ursache im ungünstigen Stimmgebrauch. Der Kehlkopfbefund ist zumindest primär unauffällig, durch Fehlbelastung können Stimmlippenknötchen (7 Abschn. 29.6.3.2, . Abb. 29.7) entstehen. Insbesondere beim Jungen verschwinden diese nach dem Stimmwechsel. 44 Mutationsstörungen, Störungen im Stimmwechsel, treten überwiegend beim Jungen auf. Während die Tonhöhenschwankungen der Sprechstimme in der akuten Phase normal sind, weist eine persistierende Kinderstimme trotz Wachstum des Kehlkopfs auf eine funktionelle Störung hin, bei fehlendem Kehlkopfwachstum über das 15. Lebensjahr sind organische, insbesondere endokrinologische Ursachen auszuschließen. j jDiagnose 44 Anamnese: Verlauf der Stimmentwicklung, Vorerkrankungen, allgemeine, soziale und Sprachentwicklung. 44 Laryngoskopie und Stroboskopie: Durch eine flexible Optik transnasal oder starr transoral kann der Kehlkopf des wachen, einigermaßen kooperativen Kindes untersucht werden. Sinnvoll ist die gleichzeitige Videodokumentation der Untersuchung.

Mädchen

10.–15. Lebensjahr Dauer 6–12 Wochen Stimmlippe wächst 3-4 mm Mittlere Sprechstimmlage sinkt um eine Terz

..Tab. 29.5  Häufige Ursachen kindlicher organischer Stimm­ störungen Angeboren

Erworben

Zentrale oder periphere Stimmlippenlähmungen Laryngeales Web Mikrolarynx

Stimmlippenknötchen Laryngitis Juvenile Larynxpapillomatose Intubationsgranulome Stimmlippenlähmung

44 Endokrinologische Diagnostik: Notwendig bei persistierender Kinderstimme und fehlenden Pubertätszeichen über das 15. Lebensjahr hinaus. jjTherapie der funktionellen Stimmstörungen 44 Stimmtherapie: Indirekt durch Beratung der Eltern und Veränderung der Kommunikationskultur des jungen Kindes oder direkt durch Stimmübungsbehandlung des älteren Kindes, im Einzelfall ab dem 4. Lebensjahr. 44 Verhaltenstherapie. !! Cave Kindliche Stimmlippenknötchen nicht operativ abtragen!

773 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie

29.7

Hals

M. Dübbers 29.7.1

Kiemengangsanomalien

Rückbildungsstörungen der embryonalen Kiemengänge können im Halsbereich zu Fisteln oder seltener auch zystischen Veränderungen führen. Typischerweise findet sich die Öffnung der lateralen Halsfistel als Rudiment des 2. Kiemengangs am Vorderrand des M. sternocleidomastoideus. Komplette Fisteln können in die seitliche Wand des Pharynx münden. Die Blickdiagnose der lateralen Halsfistel ist zumeist eindeutig. Therapie der Wahl ist die vollständige Exstirpa­ tion der Fistel möglichst vor einer Infektion, welche die Rezidivrate deutlich erhöht. 29.7.2

Mediane Halsfistel, mediane Halszyste

Die unvollständige Rückbildung des Ductus thyreoglossus führt zu einer fistelartigen Verbindung vom Zungengrund median durch das Zungenbein ziehend bis zur Halsvorderseite. Im gesamten Verlauf der Fistel kann sich eine Zyste bilden, welche klinisch typischer­ weise als prall elastische Schwellung in der Medianlinie unterhalb des Zungenbeins imponiert. Ein Fistelgang zur Haut ist häufig nicht vorhanden. Die Diagnose erfolgt dann zumeist eher zufällig aufgrund der sicht- oder tastbaren Schwellung vielfach erst im Kleinkindalter. Eine Infektion oder Abszedierung erschwert die notwendige operative Therapie deutlich, sodass die frühzeitige Exstirpation angeraten ist. Die inkomplette Entfernung ohne Resektion des betroffenen Zungenbeinabschnitts führt zumeist zu Rezidiven. 29.7.3

Dermoidzysten

Dermoidzysten sind langsam wachsende, gutartige Läsionen, welche sich gehäuft periorbital, insbesondere im Bereich der Augenbraue, aber auch an Kopfschwarte und Hals finden. Sie entstehen entlang der embryonalen Fusionslinien aus in die Tiefe verlagertem Hautgewebe. Ihr Aufbau zeigt dementsprechend eine Zystenwand aus mehrschichtigem, verhornendem Plattenepithel mit talgartigem Zysteninhalt. Die glatt begrenzten, oberflächlichen Läsionen können zumeist einfach operativ entfernt werden. 29.7.4

Kongenitaler Torticollis

Mögliche Ursache des kongenitalen muskulären Schiefhalses (Torticollis) ist ein Trauma des M. sternocleidomastoideus entweder im Rahmen der Geburt oder infolge einer intrauterinen Fehllage des Fetus. Auch eine genetische Veranlagung wird diskutiert. In den ersten Lebenswochen zeigt sich eine strangartige, fibrotische Verkürzung und Verdickung des Muskels, welche zu der typischen Neigung des Kopfs zur betroffenen Seite mit Drehung zur Gegenseite führt. Die Veränderung des oberflächlich liegenden Muskels ist gut palpabel. Therapeutisch steht die krankengymnastische Übungsbehandlung im Vordergrund. Jenseits des ersten Lebensjahres ist eine operative Durchtrennung des Muskelansatzes oberhalb der Klavikula erforderlich, um sekundäre Folgeschäden wie z. B. eine Gesichts­ asymmetrie zu vermeiden.

29.7.5

Lymphangioma colli

Angeborene Fehlbildungen des lymphatischen Gefäßsystems treten gehäuft im Halsbereich auf. Die pathologische Erweiterung der Lymphgefäße kann sich in unterschiedlicher Form z. B. als kleinzystisch-solide bis hin zu groß- bzw. monozystische Malformation präsentieren. Komplikationen dieser gutartigen Fehlbildung sind bei großen Läsionen überwiegend durch den raumfordernden Charakter u. a. mit der Gefahr von Atemwegskomplikationen bedingt. Infektionen, Einblutungen oder Ulzerationen können jedoch auch bei kleineren Läsionen auftreten, welche ansonsten vielfach lediglich ein kosmetisches Problem darstellen. Die Therapie der Lymphangiome richtet sich nach Größe, Lokalisation und Typ. Sehr große zervikale Lymphangiome können unter der Geburt einbluten und potenziell lebensbedrohlich sein. Die Indikation zur Sectio ist daher großzügig zu stellen, wobei die Möglichkeit einer unmittelbar postnatalen Atemwegssicherung durch einen Spezialisten in diesen Fällen gewährleistet sein muss. Diagnostisch ist neben der Sonographie v. a. die Kernspintomographie in Betracht zu ziehen, welche bei großen Befunden mit Gefäßdarstellung obligat ist. Die chirurgische Resektion eignet sich v. a. für gut abgrenzbare Befunde. Bei fehlenden Komplikationen können hier die ersten Lebensmonate zumeist abgewartet werden. Die perkutane Sklerosierung (z. B. mit OK 432, Ethanol), ggf. in mehreren Sitzungen, kann als alternative Therapieoption v. a. bei makrozystischen Befunden in Betracht gezogen werden. Die Nebenwirkungen als Folge der resultierenden Entzündungsreaktion sind jedoch teils erheblich. Bei schlechter Abgrenzung oder lokal infiltrierender Ausdehnung z. B. in Gefäß-Nerven-Scheiden sind durchaus auch operative Teilresektionen möglich. Kleinere Lymphangiome bedürfen dagegen nicht immer einer Therapie. 29.8

Kindlicher Spracherwerb

R. Lang-Roth 29.8.1

Sprachentwicklung

Ab der 27. Schwangerschaftswoche kann der Fötus bereits Sprache erkennen und diese weiterverarbeiten. Nach der Geburt erkennt das Kind die Stimme der Mutter und präferiert diese. In den ersten 6 Lebensmonaten, der sog. universellen Phase, ist der Säugling in der Lage verschiedene Sprachfamilien zu unterscheiden. In der anschließenden einzelsprachlichen Phase konzentriert sich die Wahrnehmung auf die Muttersprache. Der kindliche Spracherwerb erfolgt in den ersten 3–4 Lebensjahren und wird in . Tab. 29.6 dargestellt. jjMehrsprachigkeit Der bilinguale Erstspracherwerb wird unterteilt in den simultanen Spracherwerb, bei dem zwei oder mehrere Sprachen parallel erworben werden und in den sukzessiven Spracherwerb. Hier werden neben der Muttersprache eine oder mehrere weitere Sprachen zeitlich versetzt erworben. 29.8.2

Linguistische Ebenen der Sprache

Die Sprachentwicklung wird über die Einteilung in expressive und rezeptive Sprachentwicklung hinaus in linguistische Ebenen differenziert (. Tab. 29.7).

29

774

29

R. Lang-Roth und M. Dübbers

..Tab. 29.6  Sprachentwicklung in den ersten 30 Monaten

..Tab. 29.7  Linguistische Ebenen der Sprache

Alter

Sprachentwicklung

Phonetisch-­ phonologische Ebene

Nach der Geburt

Schreiphase

4.–12. Lebensmonat

Lallphase

8.–10. Lebensmonat

Erstes Wortverständnis

Aussprache: - Phonetik (Lautlehre): Produktion und Perzeption einzelner Laute - Phonologie: Lautsystem einer Sprache, Aneinanderreihung bzw. Organisation einzelner Phone

10.–13. Lebensmonat

Beginn der Wortproduktion

Semantisch-lexikalische Ebene

Semantik: Bedeutungslehre Lexikon: Wortschatz

18. Lebensmonat

Etwa 50 Wörter werden gesprochen

„Grammatik“

18.–20. Lebensmonat

Beginn des Wortschatzspurts

Morphosyntaktische Ebene

20.–24. Lebensmonat

Zweiwortsätze

Pragmatische Ebene

Gebrauch von Kommunikation im sozialen Kontext

Ab dem 30. Lebensmonat

Grammatikentwicklung

Prosodie

Sprechmelodie und -dynamik

29.8.3

Sprachentwicklungsstörung

j jGrundlagen Störungen der rezeptiven und/oder expressiven Sprachentwicklung werden von Sprechstörungen wie Redeflussstörungen (Stottern, ­Poltern) und Störungen der Sprechmotorik unterschieden. Je nach Publikation sind 6–15% aller Kinder sprachentwicklungsauffällig. Kinder mit Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit sind in bis zu 70% betroffen, und oftmals ist keine Sprache altersgemäß entwickelt. Jungen sind 1,3- bis 3-mal häufiger be­ troffen. Eine Sprachentwicklungsstörung kann bei Kindern mit sensorischen (Hörstörung, Blindheit) oder neurologischen, emotionalen Schädigungen oder kognitiver Beeinträchtigung, z. B. Trisomie 21 auftreten. Eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (auch umschriebene Sprachentwicklungsstörung) liegt hingegen nur­ ­ dann vor, wenn keine erkennbare Ursache für die Sprachentwicklungsstörung vorliegt. Hier werden ursächlich genetische Faktoren diskutiert. Während die globale Sprachentwicklungsstörung alle linguistischen Ebenen betrifft, ist bei den isolierten Sprachentwicklungsstörungen nur eine einzelne Ebene betroffen (z. B. Aussprachestörungen). Aussprachestörungen  Sie lassen sich in phonetische und phono-

logische Störungen unterteilen. 44 Phonologische Störung: Nicht altersgemäße Entwicklung oder abweichende Organisation des phonologischen Systems trotz unauffälliger Artikulationsfähigkeit. Die Störung der Organisation des phonologischen Systems macht sich durch eine eingeschränkte bis schwer verständliche Aussprache bemerkbar. Die Laute können isoliert gebildet werden, aber in der Kombination mit anderen Lauten werden sie verändert. 44 Phonetische Störungen: Die klassische phonetische Störung, die Störung der Produktion und Perzeption von Lauten, ist der Sigmatismus (Lispeln) oder Schetismus (gestörte Bildung von / sch/). Ein Sigmatismus in den ersten Lebensjahren ist häufig, und verschwindet meist von selbst. Bleibt er über das 5. Lebensjahr bestehen, ist er pathologisch und sollte logopädisch behandelt werden, aber nicht während des Frontzahnwechsels.

Lexikalische Störungen  Sie umfassen eine nicht altersgemäße

Wortproduktion, ein eingeschränktes Wortverständnis oder kind­ liche Wortfindungsstörungen. Als „Late Talker“ werden Kinder

(13–20%) bezeichnet, die mit 2 Jahren noch keinen produktiven Wortschatz von 50 Wörtern erreicht haben oder keine Zweiwort­ sätze bilden. Etwa 50% dieser Kinder holt den Rückstand bis zum 3. Lebensjahr auf („Late Bloomers“), die anderen 50% bleibt entwicklungsauffällig. Kritische Stimmen merken an, dass aber auch ein Teil der Kinder, die im Spracherwerb scheinbar aufgeholt haben, sich im unteren Bereich der Entwicklungsnorm bewegen und später im Lese- oder Schriftspracherwerb größere Probleme zeigen. Semantische Störungen  Störung der Wortbedeutung. Störung der Grammatikentwicklung  Dysgrammatismus.

jjDiagnose In den ersten beiden Lebensjahren wird der Spracherwerb meist durch das Anamnesegespräch mit der Bezugsperson oder durch ­Elternfragebögen erfasst. Ab dem zweiten Lebensjahr kann eine Sprachentwicklungsdiagnostik durchgeführt werden. Meist werden standardisierte und teils evaluierte Testverfahren für unterschiedliche linguistische Ebenen und Altersgruppen eingesetzt. Die weitere Diagnostik umfasst eine Hörprüfung und im Einzelfall eine Entwicklungsdiagnostik, neuropädiatrische Untersuchung und EEG (Landau-Kleffner-Syndrom) sowie ein Schädel-MRT. jjTherapie 44 Elterntraining (z. B. Heidelberger Elterntraining für Late Talker), 44 Sprachtherapie: so früh wie möglich, im Einzelfall ab dem 2. Lebensjahr, 44 Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Sprache: bei persistierenden Sprachentwicklungsstörungen über die Einschulung hinaus, 44 ggf. Ergotherapie. jjPrognose Die Prognose ist abhängig vom Schweregrad, Zusatzbehinderungen, Therapiebeginn und vom Elternhaus. Nicht jedes Kind mit Sprachentwicklungsstörung kann durch frühzeitige Therapie eine normale Sprache entwickeln.

775 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie

29.8.4

Redeflussstörungen

Im Zuge des Spracherwerbs entwickelt sich die Fähigkeit, flüssig zu sprechen. Zunehmend werden sprechmotorische Fähigkeiten, die ein Zusammenspiel aus Phonation, Respiration und Artikulation darstellen, erworben. Gleichzeitig entwickeln sich linguistische, prosodische (Betonung, Satzmelodie) und pragmatische Elemente. Dies führt zu steigenden Anforderungen für Sprachproduktion, Sprachwahrnehmung und Sprachverarbeitung. Hinsichtlich der gesprochenen Sprache werden Äußerungsplanung, Kontrolle und Steuerung des Sprechablaufs sowie Sprechgeschwindigkeit perfektioniert. 80% aller Kinder haben Phasen unflüssigen Sprechens während der Sprachentwicklung. Etwa 5% der Kinder sind gefährdet, ein chronisches Stottern zu entwickeln und im Erwachsenalter stottert etwa 1% der Bevölkerung. Sichere Zahlen für Poltern existieren nicht. Die Therapie umfasst Elternberatung, logopädisch/sprachtherapeutische sowie ggf. psychologische Therapie.

29

777

Dermatologie M. Meurer, R. Aschoff, M. Gahr

30.1

Effloreszenzenlehre und Untersuchung der Haut  – 779

30.2

Hautveränderungen bei Neugeborenen  – 779

30.3

Genodermatosen  – 780

30.3.1 30.3.2 30.3.3 30.3.4

Keratosen  – 780 Hereditäre Epidermolysen  – 780 Neurofibromatosis generalisata ­(von Recklinghausen)  – 782 Tuberöse Hirnsklerose ­(Morbus Bourneville-Pringle)  – 782

30.4

Dermatomykosen  – 783

30.4.1 Hautmykosen durch Dermatophyten  – 783 30.4.2 Hautmykosen durch Sprosspilze  – 784

30.5

Hauterkrankungen durch Parasiten  – 784

30.5.1 Skabies  – 784 30.5.2 Pedikulose  – 785

30.6

Allergische Krankheiten und Ekzem­erkrankungen  – 785

30.6.1 Hautreaktionen vom Soforttyp  – 785 30.6.2 Allergische Krankheiten und Ekzeme  – 786

30.7

Autoimmunkrankheiten  – 788

30.7.1 Chronisch diskoider Lupus ­erythematodes  – 788 30.7.2 Zirkumskripte Sklerodermie (Morphea)  – 789 30.7.3 Juvenile Dermatomyositis  – 790

30.8

Blasenbildende Autoimmun­erkrankungen  – 790

30.8.1 Lineare IgA-Dermatose (LAD)  – 790 30.8.2 Dermatitis herpetiformis  – 791

30.9

Granulomatöse Erkrankungen  – 791

30.9.1 Granuloma anulare  – 791

30.10 Erythematosquamöse und papulöse Hauterkrankungen  – 792 30.10.1 Psoriasis vulgaris  – 792 30.10.2 Lichen ruber planus  – 792 30.10.3 Infantile papulöse Akrodermatitis  – 793

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_30

30

30.11 Akne  – 793 30.12 Benigne Tumoren und Nävi  – 794 30.12.1 Pigmentzellnävi  – 794 30.12.2 Nävuszellnävi  – 794 30.12.3 Organoide Nävi  – 794 30.12.4 Gefäßnävi und Hämangiome  – 794

30.13 Störungen der Melaninpigmentierung  – 795 30.13.1 Epheliden  – 795 30.13.2 Incontinentia pigmenti ­(Bloch-Sulzberger-Syndrom)  – 796 30.13.3 Vitiligo  – 796

30.14 Sonstige Hauterkrankungen  – 796 30.14.1 Pityriasis rosea  – 796 30.14.2 Alopecia areata  – 796 30.14.3 Mastozytosen  – 797 30.14.4 Borreliose  – 797

779 Dermatologie

30.1

Effloreszenzenlehre und Untersuchung der Haut

Die Haut ist das größte und am leichtesten zugängliche Körper­ organ des Menschen. Kindliche Haut zeigt eine geringere Keratinisierung und daher eine höhere Rate an entzündlichen Affektionen. Auch Blasenbildung oder Erytheme zeigen sich aufgrund der eher lockeren Hautstruktur häufiger. Die Untersuchung des Kindes mit einer Hauterkrankung erfordert nach Erhebung der Anamnese die gründliche Inspektion der Haut, Schleimhaut und der Hautanhangsgebilde (Haare und Nägel).

..Tab. 30.1  Effloreszenzenlehre der Haut Primäreffloreszenzen Makula (Fleck)

Vorübergehende oder bleibende Farbveränderung der Haut ohne Konsistenz- oder Niveauänderung

Papula ­(Papel)

Umschriebene Verdickung oder Auftreibung der Haut bis zu einer Größe von 5 mm

Nodulus ­(Knötchen)

Umschriebene, solide, gut von der Umgebung abgesetzte Substanzvermehrung, meist kutan bis subkutan gelegen von mehr als 5 mm Größe

>> Die Inspektion, das Sehen, das Erkennen und Tasten der Ein­ zeleffloreszenzen und die Bestimmung des Verteilungsmus­ ters kann häufig schon zur Diagnose führen.

Vesicula ­(Bläschen)

Mit Flüssigkeit gefüllter bis erbsgroßer, über­ das Hautniveau erhabener, in der Regel mehrkammriger Hohlraum

Die häufigsten Effloreszenzen sind in . Tab. 30.1 dargestellt. Primäre Effloreszenzen sind die direkt als Folge der Erkrankung aufgetretenen Hauterscheinungen, während sich Sekundäreffloreszenzen im

Bulla (Blase)

Mit Flüssigkeit gefüllter, in der Regel einkammeriger Hohlraum über Erbsgröße

Pustula (Eiterbläschen)

Mit Eiter gefüllter Hohlraum

Urtica ­(Quaddel)

Flüchtige, scharf begrenzte Erhabenheit, bedingt durch ein Ödem in der oberen Dermis

Anschluss an eine primäre Effloreszenz durch Fortschreiten der krankhaften Veränderungen oder durch äußere Schädigung der Haut entwickeln. 30.2

Hautveränderungen bei Neugeborenen

Harlekin-Farbphänomen  Besonders bei Frühgeborenen entsteht eine harmlose, lageabhängige, halbseitige, blasse bis tiefrote Verfärbung am Kopf und am ganzen Körper. Ursache ist wahrscheinlich eine gestörte Regulation der Gefäßwandinnervation. Dieses Phänomen verschwindet mit zunehmendem Alter. Erythema neonatorum toxicum  Die Pathogenese des Erythema

neonatorum toxicum ist unbekannt. Es tritt v. a. beim 2. Kind auf. In den ersten Lebenstagen entstehen bei bis zu 50% der Neugeborenen am Stamm und an den Extremitäten kleine rote Maculae, Papeln, Vesikeln und Pusteln. Im Pustelausstrich finden sich zahlreiche ­Eosinophile. Differenzialdiagnostisch in Frage kommende staphy­ logene Infektionen zeigen im Blasengrundausstrich neutrophile Leukozyten. Als Therapie empfiehlt sich Lotio zinci. Es folgt in der Regel eine spontane Abheilung.

Transiente neonatale pustulöse Melanose  Bei wenigen Neuge-

borenen finden sich bereits bei der Geburt v. a. an Gesäß, Rücken und Kopfbereich kleine Vesikel oder Pusteln auf pigmentierten ­Maculae. Nach Aufplatzen bilden sich braune Krusten. Es erfolgt eine spontane Abheilung innerhalb von 3 Monaten.

Neugeborenensklerem und Fettgewebsnekrose  Beiden Erkran-

kungen ist eine Verhärtung des Unterhautfettgewebes gemeinsam. Das Neugeborenensklerem tritt bei kranken Früh- und Neugeborenen auf. Die Haut über den beinahe steinharten Veränderungen ist nicht betroffen. Mit Besserung des Allgemeinzustands verschwinden die Erscheinungen. Die über der Fettgewebsnekrose des Neugeborenen liegende Haut zeigt braune bis violette Veränderungen. Die knotigen Verhärtungen bilden sich im Laufe von Wochen bis Monaten zurück. Sie kommen bei gesunden Neugeborenen vor, gelegentlich findet sich eine belastende Geburtsanamnese.

Sekundäreffloreszenzen Squama (Schuppe)

Lose oder festaufsitzende, scheibenförmige Hornauflagerung

Crusta (Kruste)

Auf Erosionen oder Ulzera eingetrocknetes Sekret

Erosion

Substanzdefekt des Epithels bis zur Basalmembran. Abheilung ohne Narbe

Exkoriation

Gewebedefekt, der bis ins Stratum papillare reicht. Dadurch entstehen punktförmige Blutaustritte

Rhagade

Spaltförmiger tiefer Einriss der Epidermis und der Dermis

Ulkus

Tiefgreifender Substanzdefekt, der stets narbig abheilt

Atrophie

Schwund von Epidermis und Anhangsorganen, von Dermis oder der Subkutis isoliert oder gemeinsam

Cicatrix­ ­(Narbe)

Bindegewebiger Ersatz von Substanzverlusten in der Dermis

Aplasia cutis congenita  Sehr selten befinden sich bei Neugebore-

nen v. a. am Kopf, aber auch am Stamm 1,5–2 cm große, scharf abgegrenzte Ulzerationen unterschiedlicher Tiefe, die selten sogar den Knochen erreichen. Diese Defekte können familiär gehäuft vorkommen; außerdem sind sie ein häufiges Symptom bei der Trisomie 13. Gelegentlich können auch andere Fehlbildungen assoziiert sein. Nur bei größeren oder sehr tiefen Defekten ist eine chirurgische Therapie erforderlich, sonst epithelisiert sich der Defekt allmählich. Sonstige Hauterkrankungen des Neugeborenen  Weitere Haut­

erkrankungen im Neugeborenenalter werden in den folgenden Kapiteln abgehandelt: Gefäßnävi und Hämangiome (7 Ab­ schn. 30.12.4), Mongolenfleck (7 Abschn. 30.12.1), Acne neonatorum (7 Abschn. 30.11).

30

780

30

M. Meurer et al.

30.3

Genodermatosen

30.3.1

Keratosen

j jGrundlagen Ein gestörtes Verhältnis von Neubildung und Abschilferung der Hornschicht führt zu vermehrter Horn- und Schuppenauflagerung. Ist die Epidermopoese verstärkt, werden zu viele Hornzellen gebildet. Man spricht hier von einer Proliferationshyperkeratose. Werden zu wenige Hornzellen an der Hautoberfläche abgeschilfert, so spricht man von einer Retentionshyperkeratose. Nach der klinischen Lokalisation werden folgende Keratosen unterschieden: 44 Ichthyosen (diffuse Keratosen), 44 palmoplantare Keratosen, 44 Erythrokeratodermien, 44 follikuläre Keratosen, 44 umschriebene Keratosen. Häufig liegt einer gestörten Hornbildung eine genetische Störung zugrunde. Auf die im Kindesalter wichtigsten Genodermatosen gehen wir in diesem Kapitel genauer ein.

Ichthyosis vulgaris j jGenetik Bei der Ichthyosis vulgaris liegt eine autosomal-dominante Vererbung mit ausgeprägter intrafamiliärer Variabilität der klinischen Ausprägung vor. Mutationen im Gen von Filaggrin führen bei Ichthyosis vulgaris zu Störungen der Keratinisierung im unterschiedlichen Ausmaß und zur Assoziation mit atopischer Diathese. Mit einer Morbiditätsrate von 1:1.000 ist sie die häufigste Genodermatose. j jPathogenese, Klinik Aufgrund Verminderung oder Fehlens von Filaggrin entsteht eine Retentionshyperkeratose. Bereits im 1.–2. Lebensjahr fallen helle, mittel- bis feinlamellöse Schuppen an den Streckseiten der Extremitäten und des Rumpfes auf (. Abb. 30.1). Hals und seitliches Gesicht sind von der Schuppung weniger betroffen. Gelenkbeugen und Schleimhäute bleiben immer ausgespart. Follikuläre Keratosen an den proximalen Extremitäten führen zu einer „Reibeisenhaut“. Als Ichthyosishand wird ein vergröbertes Handfurchenrelief mit vermehrter Linienzeichnung bezeichnet. Da die Haut der Patienten insgesamt sehr trocken ist, beeinflussen eine feuchte und warme Umgebung die Krankheit günstig.

jjDiagnose, Therapie, Prognose Die Hautbiopsie zeigt ein Fehlen der Granulazellschicht in der Epidermis. Wichtig ist eine symptomatische Therapie der Haut mit rückfettenden Bädern und fettenden kochsalz- oder harnstoffhaltigen (5–10%) Emulsionen bzw. Salben. Eine Besserung kann mit interner Gabe von Acitretin (Neotigason) erreicht werden, hilft aber leider nur für die Dauer der Therapie. Häufig liegt gleichzeitig ein atopisches Ekzem vor. Prognostisch verschlechtert sich der Zustand bis zur Pubertät und bessert sich im Sommer und im Alter.

X-chromosomal-rezessiv erbliche Ichthyosis ­vulgaris jjGenetik, Pathogenese Dieser X-chromosomal-rezessiv vererbten Form der Ichthyose liegt ein Mangel des Enzyms Steroidsulfatase zugrunde. Genort ist Xp 22.32. Mit ca. 1:4.000 Neugeborenen ist sie die zweithäufigste Ichthyose. Nur beim männlichen Geschlecht findet sich die volle Ausprägung. jjKlinik Bereits in den ersten Lebensmonaten entwickelt sich eine poly­ gonale, gelbbraune Keratose der Streckseiten der Extremitäten und des Rumpfs, wobei die großen Beugen im Gegensatz zur Ichthyosis vulgaris mitbefallen sind. Die Ichthyosishand und die follikulären Keratosen fehlen. Stark betroffen sind hingegen Kopfhaut, ­Ohren und Hals. jjDiagnose Anamnese, klinisches Bild und direkte Messung der Enzymaktivität der Steroidsulfatase oder indirekte durch Lipidelektrophorese (beschleunigte Wanderungsgeschwindigkeit der β-Lipoproteine) ermöglichen die Diagnose. Eine pränatale Diagnostik (Steroidsulfataseassay, DNA-Analyse) ist möglich. jjTherapie Eine symptomatische örtliche Therapie und Hautpflege wie bei der Ichthyosis vulgaris sind ausreichend. jjKomplikationen, Prognose Bis zu 50% der Kinder entwickeln Hornhauttrübungen, die in der Regel symptomlos bleiben, und bei ca. 20% findet sich ein Kryptor­ chismus mit Hypogonadismus. Nach progredientem Verlauf bis zur Pubertät bleibt der Schweregrad der Erkrankung weitgehend stationär mit deutlicher Besserung im Sommer. 30.3.2

Hereditäre Epidermolysen

jjGrundlagen Die Haut von Kindern mit hereditären Epidermolysen neigt zur Blasenbildung, ausgelöst durch mechanische und thermische Reize. Es können verschiedene Formen mit Unterschieden in der klinischen Ausprägung (von Spontanheilung über Defektheilung mit Gelenkkontrakturen, Nagelverlust und Verstümmelung bis zu letalem Ausgang) und im Erbgang (autosomal-dominant und -rezessiv) voneinander abgegrenzt werden. >> Außer bei den schweren Formen lernen die Patienten bzw. ­deren Eltern die auslösenden Mechanismen zu meiden, sodass sie ein relativ normales Leben führen können. ..Abb. 30.1  Ichthyosis vulgaris

Nach der Lokalisation der Spaltbildung lassen sich die Epidermolysen einteilen in:

781 Dermatologie

44 Epidermolysis-bullosa-simplex-Formen: Blasenbildung in der Epidermis, 44 junktionale Epidermolysen: Blasenbildung in der Basalmembranzone, 44 dystrophische Epidermolysen: Blasenbildung in der Dermis.

Epidermolysis bullosa simplex (EBS) jjGenetik, Epidemiologie Die Häufigkeit dieser autosomal-dominanten Genodermatose ist etwa 1:50.000 Lebendgeburten, wobei eine Präferenz für das männliche Geschlecht beobachtet wird. Die lokalisierte Form der EBS (Weber-Cockayne) tritt im 1.–3. Lebensjahrzehnt, die generalisierte Form (Köbner) bereits bei Geburt oder in den ersten Lebensjahren auf. In vielen Fällen erfolgt der Nachweis von Mutationen der Gene von Keratin 5 (12q) oder 14 (17q), eine pränatale Diagnostik ist möglich. jjKlinik An mechanisch belasteten Stellen treten bei der Geburt, oder wenn das Kind sich zu bewegen beginnt, kleine einkammerige Blasen mit serösem Inhalt auf. Die Blasen liegen innerhalb der Epidermis und heilen narbenfrei ab (. Abb. 30.2). Gewöhnlich sind Haare, Nägel und Zähne nicht von einer Entwicklungsstörung betroffen, häufig sind zusätzlich plantare Keratosen und Hyperhidrose zu beobachten.

..Abb. 30.2  Epidermolysis bullosa simplex

jjTherapie Eine kausale Therapie steht nicht zur Verfügung. Eventuell helfen Antiperspiranzien und konsequenter Hautschutz mit rückfettenden Salben. Blasen sollten eröffnet oder abpunktiert werden, wobei das Blasendach erhalten bleibt. jjPrognose Eine Besserung der Symptomatik tritt meist in der Pubertät ein. Die Neigung zur Blasenbildung kann aber auch lebenslang anhalten und belastet die Patienten stark.

Junktionale Epidermolysis bullosa jjGenetik, Pathogenese Dieser autosomal-rezessiven Genodermatose liegt eine Spalt­ bildung innerhalb der Lamina lucida der Basalmembranzone zu­ grunde, ausgelöst durch verschiedene Mutationen im Genort der 3 Lamininsubklassen. jjKlinik Bereits bei Geburt oder kurz danach finden sich an allen mechanisch belasteten Stellen große, teilweise hämorrhagische Blasen, die ­zerplatzen und erodieren. Auch Mundschleimhaut, Trachea und Bronchien können mitbetroffen sein. Paronychialer Befall führt zu Nageldystrophien oder Nagelverlust. Bakterielle Sekundärinfek­ tionen sind die Haupttodesursache häufig schon in früher Kindheit. jjTherapie Wichtig ist eine lokale Pflege zur Vermeidung von bakteriellen und mykotischen Sekundärinfektionen. Bei stärkerer Ausprägung kommen Glukokortikoide (initial 0,5–1,0 mg/kgKG Prednisolon, später minimale Erhaltungsdosis) zur Anwendung. jjPrognose Die Blasen heilen in der Regel narbenfrei ab. Bei geringer Ausprägung bleibt lediglich die Neigung zur Blasenbildung erhalten. Bei ausgeprägtem Befall sterben die Neugeborenen bereits in den ersten Lebensmonaten.

..Abb. 30.3  Epidermolysis bullosa dystrophicans mit Synechienbildung

>> Bei allen Epidermolysen ist eine konsequente externe Thera­ pie wichtig. Mechanische Druckstellen sollten geschützt und Sekundärinfektionen vermieden werden.

Dystrophe Epidermolysis bullosa jjGenetik, Pathogenese Man unterscheidet eine autosomal-dominante und eine autosomalrezessive Form. Subepidermale Blasenbildung führt zu Narben und Deformationen. Genort ist das Kollagen-Typ-VII-Gen (3p21), die pränatale Diagnostik erfolgt durch DNA-Analyse. jjKlinik Nicht nur an mechanisch belasteten Stellen entstehen Blasen, teilweise auch spontan. Die Abheilung erfolgt mit Hautatrophie, ­Hyper- und Depigmentierungen. Typischerweise finden sich im Bereich der abgeheilten Blasen zahlreiche postbullöse Milien. Fingerund Zehennägel fallen aus, die Haare sind dünn. Zähne sind häufig mitbetroffen. Bei ca. 20% der Kinder sind auch die Schleimhäute befallen. Folge sind u. a. Heiserkeit, Schluckbeschwerden, Ösophagusstrikturen und konjunktivale Synechien. Synechienbildung der übrigen Haut führt zu dermatogenen Kontrakturen und Mutilationen (. Abb. 30.3).

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30 ..Abb. 30.4  Neurofibrome bei Neurofibromatosis generalisata vom peripheren Typ

..Abb. 30.5  Axillar freckling bei Neurofibromatosis generalisata

j jTherapie Wichtig wie bei allen blasenbildenden Erkrankungen ist die Ver­ meidung von Sekundärinfektionen. Synechienbildung kann evtl. ein chirurgisches Vorgehen erfordern.

den sich ZNS-Störungen, Malignome, Skoliose, gastrointestinale Neurofibrome, Nierenarterienstenosen u. a.

j jPrognose Durch narbige Synechienbildung v. a. an Fingern, Zehen und im Ösophagusbereich können die Kinder außerordentlich beeinträchtigt sein. Im Verlauf ist die Inzidenz von spinozellulären Karzinomen erhöht und ein regelmäßiges Hautkrebsscreening notwendig. 30.3.3

Neurofibromatosis generalisata ­ (von Recklinghausen)

j jGrundlagen Bei den Neurofibromatosen handelt es sich um eine neuroektoder­ male Systemerkrankung. Es lassen sich mehrere Typen klinisch und genetisch unterscheiden. Die wichtigsten sind die Neurofibromatose vom peripheren Typ (NF-1) (viel häufiger) und die vom zentralen Typ (NF-2) mit Akustikusneurinomen. jjGenetik Beide Neurofibromatosen werden autosomal-dominant vererbt, wobei der Gendefekt bei der NF-1 auf Chromosom 20 im Gen von Neurofibromin, dessen wichtigste Funktion die Inaktivierung des ras-Onkogens ist, bei der NF-2 im Schwannomin-Gen auf Chromosom 22 liegt. Insbesondere bei der NF-1 finden sich bei 50% Spon­ tanmutationen und die klinische Expressivität variiert stark. Eine pränatale Diagnostik von NF-1 und NF-2 ist möglich. jjKlinik NF-1  Wegweisend zur Diagnose sind multiple (mehr als 5) Caféau-lait-Flecken ab dem ersten Lebensjahr, im Laufe des Lebens ­auftretende zahlreiche Neurofibrome (. Abb. 30.4; hautfarbene, weiche, breit oder gestielt aufsitzende Knoten) sowie sommersprossenartige Pigmentierungen (kleinfleckige Hyperpigmentierungen) axillär (. Abb. 30.5) oder inguinal ab dem 3. Lebensjahr. Nur bei der NF-1 treten in der Pubertät sog. Lisch-Knötchen (Irishamartome) auf, die mit der Spaltlampe sichtbar sind. Neurofibrome am zentralen Nervensystem können zu Krampfanfällen führen. Bekannt sind auch maligne Tumoren des lymphatischen oder hämatopoetischen Systems. Neben gelegentlich auftretenden Lernbehinderungen fin-

NF-2  Es treten nur bei 42% der Patienten Café-au-lait-Flecke und bei 19% Neurofibrome auf. Hingegen manifestiert sich immer im Laufe des Lebens ein uni- oder bilaterales Akustikusneurinom, welches durch Druck auf den 8. Hirnnerv zu Hörverlust führt. !! Cave Wegen des Auftretens von Akustikusneurinomen sind regel­ mäßige audiologische und CT-Untersuchungen notwendig, die eine frühe chirurgische Intervention ermöglichen.

jjTherapie Die chirurgische Exzision oder eine laserchirurgische Abtragung störender Neurofibrome ist v. a. bei Druck auf Nerven oder bei schnell wachsenden Tumoren indiziert. Akustikusneurinome sollten frühzeitig entfernt werden. Nicht zu vergessen ist eine geneti­ sche Beratung der Patienten. jjPrognose Im Einzelfall ist die Prognose nicht vorhersehbar. Zahl und Größe der Neurofibrome nehmen im Laufe des Lebens zu und können zu einer psychischen Belastung des Patienten führen. Selten gibt es ­maligne Entartungen. 30.3.4

Tuberöse Hirnsklerose ­ (Morbus Bourneville-Pringle)

jjGenetik Die Vererbung erfolgt autosomal-dominant mit intrafamiliärer ­Expressivitätsschwankung; bei mehr als ⅔ der Fälle tritt die Erkrankung sporadisch durch Mutationen der Gene für Tuberin (auf Chromosom 9) und Hamartin (auf Chromosom 16) auf. jjKlinik Charakteristische Veränderungen finden sich bei allen Patienten zunächst an der Haut. Zu sehen sind bereits in den ersten Lebensjahren eschenlaubartige oder konfettiartige Hypopigmentierungen. Später treten im Gesicht kleine knotige, schmutzig-braune bis rote Fibroangiome in symmetrischer, schmetterlingsförmiger Aussaat an Nase und Wangen auf, die als Adenoma sebaceum bezeichnet werden (. Abb. 30.6).

783 Dermatologie

und Füßen sind als Komplikationen zu beobachten. Gesamt gesehen ist die Prognose wegen der zentralen Symptome schlecht. In 5–10% der Fälle treten Fibrosarkome an Herz oder Niere auf. 30.4

Dermatomykosen

jjGrundlagen Hautmykosen werden durch Fadenpilze (Dermatophyten) oder durch Sprosspilze (Blastomyzeten, Hefen) verursacht. Dermatophyten bilden aus den Sporen ein echtes Hyphenmyzel, während sich die Sprosspilze durch Aneinanderlagerung von Sporen in Form von Pseudomyzelen ausbreiten. Typische Hautzeichen, die auf eine Mykose hinweisen, sind: 44 runde bis ovale Läsionen mit randständiger Schuppung, 44 weiße, abwischbare Beläge auf Schleimhäuten, 44 erosiv-nässende Erytheme mit Rhagaden in intertriginösen Bereichen (z. B. Zehenzwischenräume), 44 schuppende, nässende Bereiche auf der Kopfhaut. ..Abb. 30.6  Adenoma sebaceum bei Morbus Pringle

Weiterhin finden sich Fibrome an Nagelfalz und Zahnfleisch (Koenen-Tumoren), die pathognomonisch für diese Erkrankung sind. Sakral zeigen sich häufig typische flächenhafte Bindegewebsnävi (Pflastersteinnävi). Gliawucherungen im zentralen Nervensystem führen zu epileptiformen Anfällen, geistiger Retardierung und spastischen Lähmungen. jjTherapie Im Vordergrund steht die antiepileptische Behandlung. Das kosmetisch störende Adenoma sebaceum ist einer laserchirurgischen The­ rapie, einer Dermabrasio und seit kurzem auch durch eine topische Behandlung mit Sirolimus zugänglich, Koenen-Tumoren können exzidiert werden. jjKomplikationen, Prognose Intrakranielle Verkalkungen, Sehnervenatrophie, Stauungspapille, Netzhauttumoren, Zystennieren, Fibrosarkome am Herz und Spongiosaresorption v. a. in den kleinen Röhrenknochen von Händen

>> Fast immer jucken die durch Pilzinfektionen ausgelösten ­Läsionen.

Diagnostische Maßnahmen sind neben dem klinischen Aspekt die

Inspektion befallener Haut mit UVA-Licht (Wood-Lampe), der ­mikroskopische Nachweis von Hyphen und Sporen im Nativpräparat und die Pilzkultur nach Entnahme von Hautschuppen. 30.4.1

Hautmykosen durch Dermatophyten

jjGrundlagen Aus klinischer Sicht werden sie in Epidermomykosen, Trichomyko­ sen und Onychomykosen (bei Kindern sehr selten) eingeteilt. Der häufigste Vertreter ist Trichophyton rubrum, gefolgt von Trichophyton mentagrophytes und Epidermophyton. Infektionen werden mit dem Wort „Tinea“, unabhängig von der genauen Art des Erregers, bezeichnet (. Abb. 30.7). Hinter das Wort „Tinea“ wird ein lokalisatorischer Begriff gesetzt: Tinea capitis, Tinea faciei, Tinea manum, Tinea pedis, Tinea corporis, Tinea unguium. Die häufigsten Formen von Tinea, ihre Klinik und deren Therapie sind in . Tab. 30.2 zusammengestellt.

..Tab. 30.2  Klinik und Therapie der Tinea Erreger

Klinik

Therapie

Microsporum audouinii, Microsporum canis

Zirkuläre, schuppende Läsionen mit Abbrechen der Haare, Juckreiz, Alopezie

Griseofulvin oral (10 mg/kgKG/Tag) für 6–8 Wochen

Trichophyton tonsurans

Multiple, kleine Bezirke, Alopezie, Entstehung von weichen, knotigen Granulomen (Kerion celsi)

Äußerlich: 10%ige Schwefelzinkpaste, Chinosol­ umschläge

Trichophyton schoenleinii (Favus)

Graugelbe 0,5–1 cm große, schüsselförmige (eingedellte) Läsionen (Mäuseuringeruch), Alopezie

Salicylsäurehaltige Cremes

Tinea corporis

Trichophyton rubrum, Trichophyton mentagrophytes, Microsporum canis

Blassrote, sich ausbreitende, schuppende, flache Herde mit Betonung des Rands oder in Gruppen angeordnete Pusteln; Tinea profunda (granulomatöse Entzündung)

Lokale Antimykotika (Clotrimazol, Ciclopiroxolamin), bei tiefem oder ausgedehntem Befall Griseofulvin oral (10 mg/kgKG/Tag) für 6–8 Wochen

Tinea pedis

Trichophyton rubrum, Trichophyton mentagrophytes, Epidermophyton floccosum

Rötung, Fissuren, Rhagaden, Schuppung, Bläschen (T. mentagrophytes), sich abschälende Haut; besonders 3. und 4. Interdigitalraum, häufig gleichzeitig Infektion mit Candida albicans

Bei mildem Befall: sorgfältige Trocknung der Interdigitalräume. Bei stärkerem Befall: lokale Antimykotika (Ciclopiroxolamin, Clotrimazol)

Tinea capitis

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30

..Abb. 30.7  Tinea corporis durch Trichophyton rubrum

30.4.2

Hautmykosen durch Sprosspilze

Candidainfektionen j jKlinik Candida albicans ist der häufigste Erreger (Soormykose), der auf gesunder Haut nicht anzutreffen ist, sich aber bei warmer Feuchtigkeit oder Veränderung der physiologischen, bakteriellen Besiedlung auf Haut und Schleimhäuten ausbreitet. Auf Letzteren (Mundhöhle, Vaginalbereich) ist eine Candidainfektion durch weiße, im Gegensatz zu z. B. Milchresten nur schwer entfernbare Beläge mit Rötung der Umgebung gekennzeichnet. Erythematöse, nässende Partien mit Bläschen, die sich teilweise mit bogenförmigem Rand abgelöst ­haben, sind die Manifestation einer Candidamykose auf der Haut. Ein häufiges Problem ist die mit Candida superinfizierte Win­ deldermatitis. Die Erreger stammen in der Regel aus dem Darm; eine Soorinfektion der Mundhöhle kann gleichzeitig bestehen. Daher ist eine nur lokale Therapie der Windeldermatitis häufig nicht erfolgreich.

jjTherapie Die betroffenen Hautbereiche sollten durch Pasta zinci im Wechsel mit antimykotischen Pasten abgedeckt werden. Häufiges Wechseln der Windeln ist ebenfalls wichtig. Bei einigen Immundefekten (chronisch mukokutane Candidiasis und weitere) kann eine interne ­Therapie mit Fluconazol notwendig sein. Im Falle von Mund- und Vaginalschleimhautbefall besteht die Behandlung in lokaler Applikation von Nystatin oder anderen antimykotischen Substanzen ­(Ketoconazol, Terbinafin) in Form von Lösungen, Tabletten und Suppositorien. 30.5

Hauterkrankungen durch Parasiten

30.5.1

Skabies

j jPathogenese Skabies wird durch die Krätzmilbe Acarus siro va. hominis hervorgerufen. Die weibliche Milbe ist etwa 0,4 mm lang. Sie bohrt sich in die Hornschicht der Epidermis und legt dort ihre Eier ab. So entste-

..Abb. 30.8 Skabies

hen die blind endenden Gänge. Aus den Eiern entwickeln sich Larven, Nymphen und schließlich geschlechtsreife Milben, die an der Hautoberfläche von männlichen Milben befruchtet werden können. Die Übertragung erfolgt durch engen körperlichen Kontakt. jjKlinik Nach Sensibilisierung gegen die Milbenantigene beginnt der äußerst quälende Juckreiz, besonders in der Bettwärme. Bevorzugte Haut­ regionen sind Interdigitalräume (auch Füße), Handgelenke, Gelenkbeugen, Achselfalten, Schulter- und Nabelregion. Bei Säuglingen sind auch Handflächen, Fußsohlen (. Abb. 30.8), Gesicht und Kopf befallen. Hier bestehen 1–2 cm lange, leicht aufgeworfene ­Gänge und Papeln unterschiedlicher Größe. Durch Exkoriationen und Sekundärinfektionen entsteht ein buntes Bild mit Ekzem- und Pustelbildung. jjDiagnose Die Diagnose wird durch den Nachweis der Milben gestellt. Nach Herausheben mit einer Nadel aus ihrem Gang oder durch Auftropfen von Öl und Abkratzen der Epidermis können die Milben unter dem Mikroskop gesehen werden. jjTherapie Die Therapie der Wahl ist die äußerliche Anwendung von Perme­ thrin 5% in Cremegrundlage (z. B. Infectoscab-5%-Creme). Die Haut des Patienten wird einmalig vom Hals abwärts mit der Creme eingerieben. Nach 8–12 h erfolgt ein Reinigungsbad oder eine ­Dusche. Sind die Handinnenflächen oder Fußsohlen befallen, sollte aufgrund der Dicke der Hornschicht nach einer Woche erneut behandelt werden. Bei Kindern unter 3 Jahren sollte zusätzlich der Kopf unter Aussparung des Mund- und Augenbereichs eingecremt werden. Indikationen für eine orale Therapie mit Ivermectin, welches erst vor kurzem in Deutschland zugelassen wurde, sind ein ausgeprägter Befall, Immunsuppression oder geringe Adhärenz. >> Eine gleichzeitige Untersuchung und Behandlung von Kon­ taktpersonen ist wegen der häufigen Rezidive erforderlich.

785 Dermatologie

..Tab. 30.3  Klinik und Therapie bei Läusen Kopflaus

Kleiderlaus

Filzlaus

Größe (mm)

2–3,5

3–4,5

1,5–2

Übertragung

Direkter Kontakt, schlechte Hygiene

Direkter Kontakt, Kleidung

Direkter Kontakt, Kleidung, Handtücher

Prädilektion

Kapillitium, hinter den Ohren

Unter Kleidung

Pubes, Wimpern, Bart

Eiablage

Am Haarschaft

Kleidung

Pubes, Wimpern

Juckreiz

Ausgeprägt

Mäßig

Mäßig

Klinik

Urtikarielle Papeln, Exkoriationen

Rötung, Urticae, Papeln, Exkoriationen

Maculae coeruleae, keine Exkoriationen

Therapie

Dimeticon und Auskämmen der Haare. Alternativ: Permethrinlösung, Spülung mit verdünntem Essigwasser.

Auskochen der Wäsche, Hygiene

Wie bei Kopfläusen

30.5.2

Pedikulose

jjGrundlagen Die Kopflaus (Pediculus humanis capitis), die Kleiderlaus (Pediculus humanis corporis) und die Filzlaus (Phthirus pubis) sind Parasiten des Menschen. Bei Kindern sind Infektionen durch Kopfläuse am häufigsten. Nur die Kleiderlaus kann andere Erkrankungen wie ­Rickettsiosen, Fleckfieber, Wolhynisches Fieber und Rückfallfieber übertragen. Die Kopf- und Kleiderlaus ist 3 bzw. 4 mm, die Filzlaus nur 2 mm lang. Weibliche Läuse legen pro Tag mehrere Eier (Nissen), die nach 2 Wochen ausgewachsen sind. Jede Laus saugt etwa 10-mal pro Tag Blut um zu überleben, dabei wird Speichel übertragen. Dies und die Ablage von Fäzes auf der Haut rufen den Juckreiz hervor. jjKlinik, Therapie Alle Läuse werden durch direkten Kontakt oder über Kleidung übertragen. Während die Prädilektionsstellen der Kopflaus das Capilli­ tium und insbesondere retroauriculär ist, findet sich die Kleiderlaus unter der Kleidung und die Filzlaus in Pubeshaaren, Wimpern und Barthaaren. Häufig finden sich Exkoriationen. Die Behandlung erfolgt mit Dimeticon oder Permethrinlösung und Auskämmen der Haare bzw. Auskochen der Wäsche (. Tab. 30.3). 30.6

Allergische Krankheiten und Ekzem­ erkrankungen

jjGrundlagen Allergisch bedingte Hauterkrankungen sind ausschließlich Folgen einer überschießenden bzw. fehlgeleiteten Immunreaktion, meistens ausgelöst durch als Antigen (Allergen) wirkende Substanzen. Sofortreaktionen (überwiegend Typ-I-Reaktionen, IgE-vermittelt) und solche vom Spättyp (Typ-IV-Reaktionen, T-Lymphozyten-abhängig) können unterschieden werden. Beispiele einer Typ-I-Reaktion sind Urtikaria, Angioödem, allergische Rhinitis und Insektengiftallergien. Das klinische Bild einer Spättypallergie entspricht dem eines Ekzems. 30.6.1

Hautreaktionen vom Soforttyp

Urtikaria Die Urtikaria gehört zu den häufigsten Hauterkrankungen, die über 30% der Menschen einmal im Leben erleidet. Man unterscheidet eine akute Form (bis maximal 6 Wochen anhaltend) von einer selten

..Abb. 30.9  Akute Urtikaria

bei Kindern auftretenden chronischen und rezidivierenden Form (über 6 Wochen Dauer). Die Quaddel ist vorwiegend Folge einer Histaminfreisetzung aus den Mastzellen und Bildung eines umschriebenen Ödems in der oberen Dermis. Auch bei Kindern gibt es zahlreiche allergische und nichtallergische Auslösefaktoren, wie Nahrungsmittel, Arzneimittel, Parasiten, bakterielle und virale Infekte und physikalische Auslöser wie z. B. Kälte. Häufig lässt sich allerdings kein Auslöser ermitteln. jjKlinik Die Urtikaria ist durch flüchtige, quaddelförmige, juckende, erythematöse, gut abgegrenzte Hautveränderungen gekennzeichnet (. Abb. 30.9). Quaddeln entwickeln sich rasch innerhalb von weni­ gen Minuten und sind nach Größe und Form verschieden. In der Regel handelt es sich um eine flüchtige, nur wenige Stunden an­ haltende Erscheinung. Entsteht die Quaddel nicht in der oberen Dermis, sondern in der Tiefe, so entsteht eine hautfarbene Schwellung, wie sie für das Quincke-Ödem und das hereditäre Angioödem

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charakteristisch ist. Auch Schleimhäute (Glottisödem oder Larynxödem) und innere Organe (Asthmaanfälle, Abdominalschmerzen, Durchfälle und Schocksymptome bis hin zum allergischen HerzKreislauf-Versagen) können beteiligt sein. Auch physikalische ­Einwirkungen (Wärme, Kälte, Druck) können eine Urtikaria ver­ ursachen.

30

j jDiagnose Bei Auftreten einer akuten Urtikaria ist besonders an Infekte, Arzneimittel, Nahrungs- oder Genussmittel, Inhalationsantigene, Insektenstiche oder Insektenbisse zu denken. Dauern Urtikariaschübe länger als 6 Wochen, sollte eine ausführliche Diagnostik erfolgen. Diese umfasst neben einer sorgfältigen Erhebung der Anamnese und allgemeinen klinischen Untersuchung Fokussuche, Hauttestungen (Reibe-, Prick- und Intrakutantest), Radioimmun-, Enzymimmuntests und Provokationstests (z. B. mit Nahrungsmitteln, Nahrungsmittelzusatzstoffen, Acetylsalicylsäure). j jTherapie Bei einer akut auftretenden Urtikaria stehen oral oder bei Bedarf i.v.-verabreichte Antihistaminika an erster Stelle. Sie unterdrücken sehr erfolgreich die Quaddeln. Lokal können kortikosteroidhaltige Externa in Form von kühlender Hautmilch eingesetzt werden. !! Cave Bestehen anaphylaktische Reaktionen mit Atemnot, Schluck­ beschwerden, Blutdruckabfall, Pulsanstieg und drohender ­Bewusstlosigkeit, müssen Kortikosteroide i.v., evtl. auch Adre­ nalin gegeben und eine intensivmedizinische Betreuung ­angeschlossen werden.

Bekannte Noxen sind zu vermeiden. Bei chronischer Urtikaria sollte eine umfangreiche Diagnostik erfolgen. 30.6.2

Allergische Krankheiten und Ekzeme

j jGrundlagen Ekzemerkrankungen sind sehr häufig. Sie sind nichtinfektiös und nichtkontagiös. Die pathologischen Veränderungen in der Epidermis und im oberen Korium prägen das klinische Bild. Bei akutem Verlauf stehen exsudativ-entzündliche Hautveränderungen mit Rötung, Schwellung, Bläschen, Nässen und Krusten im Vordergrund, bei chronischem Verlauf Rötung, Epidermisverdickung, Schuppung, Lichenifikation und Rhagadenbildung. Bei akutem Auftreten spricht man eher von Dermatitis, bei chronischen Veränderungen eher von Ekzemen. Im Folgenden soll auf die im Kindesalter wichtigen Ekzemformen näher eingegangen werden.

Allergisches Kontaktekzem j jPathogenese Dem allergischen Kontaktekzem liegt eine T-zellvermittelte Im­ munreaktion vom Typ IV zugrunde. Die Sensibilisierung wird durch antigenpräsentierende Langerhans-Zellen in der Epidermis eingeleitet, an deren Oberfläche das Antigen den T-Lymphozyten präsentiert wird. Allergenspezifische T-Zellen gelangen nach Proliferation in den Lymphknoten, schließlich über den Blutkreislauf in die Haut zurück und rufen nach erneutem Allergenkontakt eine ­Ekzemreaktion hervor. Begünstigend für eine Allergenisierung ist eine gestörte Hautbarriere (z. B. durch häufiges Waschen mit Seifen, vorbestehende Ekzeme) und eine hohe Potenz des Allergens (z. B. Nickelionen).

jjKlinik Je nach Sensibilisierungsgrad, Kontakthäufigkeit und Lokalisation kann sich ein sehr variables klinisches Bild zeigen. Akute Hautveränderungen treten bei hoher Sensibilisierung auf (Rötung, Nässen, Papulovesikel). Häufiger Kontakt mit Stoffen bei niedriger Sensibilisierung führt eher zu chronischen Hautveränderungen mit Schuppenbildung, Lichenifikation und Rhagadenbildung. jjDiagnose Nach sorgfältiger Anamnese kann durch einen Epikutantest der Auslöser der allergischen Reaktion aufgedeckt werden. Dabei werden Teststreifen, die verschiedene Allergene enthalten, auf normale, nicht entzündliche Haut aufgeklebt und für 24 h belassen. Nach ­Entfernung der Pflaster kann in den folgenden 48 h die Reaktion abgelesen werden. Schwierig ist die Abgrenzung irritativ-toxischer Reaktionen. jjTherapie Oberstes Gebot ist die Vermeidung der auslösenden Substanz. Bei akuten Hautveränderungen kommen externe Glukokortikosteroide in einer wässrigen Grundlage in Betracht. !! Cave Bei großflächiger äußerlicher Behandlung, insbesondere ­unter Okklusion, ist daran zu denken, dass größere Glukokor­ tikosteroidmengen resorbiert werden können.

Bei zusätzlicher bakterieller oder mykotischer Besiedlung kommen antibakterielle und antimykotische Externa zum Einsatz. Geeignet sind z. B. feuchte Umschläge mit Chinosol. Bei chronischen Ekzemen sind wegen der trockenen Hautveränderungen fettende Salben angezeigt. Harnstoff besitzt keratolytische und wasserbindende Eigenschaften, kann aber die Haut von Kleinkindern irritieren. Besser geeignet ist hier eine milchsäurehal­ tige Salbe. Günstige Einflüsse bei chronischen Ekzemen mit Lichenifizierung der Haut können auch mit farblosen Schieferölpräparaten wie Ichthyol erzielt werden. Steinkohlenteer wird bei Kindern in der Regel nicht eingesetzt.

Akute toxische Kontaktdermatitis und ­chronisch-kumulativ-toxisches Kontaktekzem jjPathogenese Hierbei handelt es sich um eine direkte, nichtallergische Schädigung der Haut durch externe Faktoren. Bei Kindern spielen Speichel, Urin, Nahrungssäfte, Detergenzien, Seifen, Badezusätze und ­Spülmittel die Hauptrolle. jjKlinik Speichel verursacht eine Kontaktdermatitis im Gesicht und im ­Nacken (bei Säuglingen und retardierten Kindern). Die sog. Windel­ dermatitis (Ammoniakdermatitis) ist die häufigste Kontaktdermatitis im Säuglingsalter. Als Reaktion auf den chronischen Kontakt mit Urin und Stuhl, verstärkt durch Wärme und Feuchtigkeit, ent­ wickeln sich nässende Erytheme mit Bläschen, Pusteln und Mazerationen der Haut. Sekundärinfektionen (bakteriell und mit Candida albicans) sind fast immer nachzuweisen. jjTherapie Häufiger Wechsel der Windeln, gründliche Reinigung der Haut mit warmem Wasser und anschließender Anwendung von Zinköl oder Pasta zinci mollis führen meistens zur raschen Abheilung der ­Windeldermatitis. Bei therapieresistenten Verläufen sollte die mögliche bakterielle Infektion durch spezifische, lokal wirkende Salben bekämpft werden.

787 Dermatologie

..Abb. 30.10  Infiziertes atopisches Ekzem

..Abb. 30.11  Atopisches Ekzem

Bei den anderen Formen der toxischen Kontaktdermatitis kann meistens das toxische Agens eliminiert oder die betroffene Haut­ partie durch entsprechende Salben geschützt werden.

Auffälligkeiten zeigt der atopische Patient eine gesteigerte Empfind-

Seborrhoisches Ekzem des Säuglings jjPathogenese Vermutlich durch eine erhöhte Talgdrüsenaktivität (Seborrhö) und eine Besiedlung mit Malassezia-Hefen und deren Stoffwechselprodukten kommt es bei Säuglingen bereits in den ersten drei Lebensmonaten zu typischen Hautveränderungen. jjKlinik An den Prädilektionsstellen am Kopf im Scheitelbereich, aber auch am Stamm oder diffus über das ganze Integument verteilt, treten gelbe, fettglänzende Schuppen ohne entzündliche Rötung (Gneis) auf. In intertriginösen Bereichen befinden sich nässende oder trockene Erytheme, die ebenfalls mit gelb-fettigen Schuppen bedeckt sein können. jjTherapie Stärkere Schuppen können mit Olivenöl allein oder mit Zusatz von 2%iger Salicylsäure abgelöst werden. Danach können kurzfristig kortikosteroidhaltige Cremes oder Lotiones der Stärkeklasse 1 aufgetragen werden. Zur Behandlung intertriginöser Bereiche hat sich Vioform-Zinköl (0,5%) bewährt. Gebadet werden sollte in handwarmen Bädern mit entzündungshemmenden Zusätzen (z. B. Weizenkleieextrakt) und Zusätzen von Öl.

Atopisches Ekzem jjDefinition Ein atopisches Ekzem ist eine chronisch entzündliche Hauterkrankung bei Kindern mit einer genetisch bedingten Disposition zu ­allergischen Reaktionen wie Rhinitis allergica und Asthma bronchiale. Die Ätiologie ist ungeklärt. Bei der Mehrzahl der Patienten ist die IgE-Konzentration im Serum erhöht. Allerdings gibt es auch Patienten, die trotz atopischer Dermatitis normale IgE-Serumspiegel zeigen. Die Funktion von T-Lymphozyten kann vermindert sein. Außer diesen, nicht konstant nachweisbaren immunologischen

lichkeit der Haut, z. B. eine erniedrigte Juckreizschwelle, paradoxe Schweißsekretion und abnorme Gefäßreaktion (weißer Dermogra­ phismus).

jjPathogenese Die Pathogenese des atopischen Ekzems ist multifaktoriell; bei ⅓ der betroffenen Kinder lassen sich Mutationen im Gen von Filaggrin, einem Hauptbestandteil der Hornschicht, nachweisen. Die Genmutation führt zu einem Verlust der wichtigen Funktionen von Filaggrin für die Aufrechterhaltung der mechanischen Hautbarriere. Kinder mit Filaggringenmutation haben zudem ein höheres Risiko, ein allergisches Asthma und Nahrungsmittelallergien zu entwickeln. Neben der endogenen genetischen Veranlagung spielen auch zahlreiche exogene Faktoren bei der Manifestation eine Rolle. Dazu gehören eine gestörte humorale und zelluläre Immunabwehr, Hautfunktionsstörungen, erhöhte Hautirritabilität, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Allergien, Stress und trockenes und kaltes Klima. jjKlinik Die klinischen Erscheinungen reichen von nässenden, krustösen, stark juckenden, geröteten Effloreszenzen bis zu trockenen, schuppenden oder lichenifizierten Ekzemherden. Bei Säuglingen und Kleinkindern stehen die erstgenannten Veränderungen im Vordergrund. Die Erkrankung manifestiert sich ab dem 2. Lebensmonat, häufig lokalisiert an Wangen und Gesicht (. Abb. 30.10), Nacken und Streckseiten der Extremitäten. Später, bei Jugendlichen, entwickelt sich dann das typische Erwachsenenmuster des atopischen Ekzems, nämlich Befall der Gelenk­ beugen mit erythematös-squamösen Veränderungen oder flächigen, zentral grobstrukturierten Lichenifizierungen (. Abb. 30.11). Im Bereich der Finger oder Zehen befindliche chronisch schuppende Hautveränderungen bei Jugendlichen können Symptom eines atopischen Ekzems sein. In dieser Altersstufe nimmt die Haut, besonders im Gesicht, eine weiße Färbung an, die die Patienten vorgealtert aussehen lässt. Häufig finden sich zusätzlich zahlreiche atopische Stigmata wie: Xerodermie, Dennie-Morgan-Infraorbitalfalte (Atopiefalte im

30

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Bereich der Unterlider), tiefer Haaransatz, Hertoghe-Zeichen (Ausfall der lateralen Augenbrauen), trockene Lippen, Perlèche, Mamillenekzem, Pulpitis sicca, Keratokonus, Neigung zu Hautinfektionen, Pityriasis alba, Ichthyosis vulgaris, Wollempfindlichkeit, Nahrungsmittelunverträglichkeit (v. a. gegen Kuhmilch, Eiweiß, Nüsse, Fisch, Soja). Immer wieder betroffene Hautpartien können Hyperpigmentationen und vermehrte Rauigkeit wie bei Ichthyose aufweisen („dirty neck“). In den meisten Fällen verschwinden die Symptome vor dem Schulalter oder nehmen doch erheblich an Intensität ab.

30

jjDiagnose Pruritus, typische Lokalisation der Ekzeme, atopische Eigen- oder Familienanamnese und der chronische Verlauf der Erkrankung sind für die Diagnose wegweisend. Atopische Stigmata können bei geringer Ausprägung der Ekzeme die Diagnose stützen. Weiterhin führen ein weißer Dermographismus und ein erhöhtes Gesamt-IgE zur richtigen Diagnose. jjTherapie Nässende Ekzemflächen sollten mit feuchten Kompressen behandelt werden. Für trockene ekzematöse Hautpartien eignen sich kortikoidhaltige Salben und besonders die Durchführung eines sog. „Fett­ bettes“. Dabei werden die Kinder mit fetthaltigen Salben eingerieben und für 2 h in feuchte Handtücher gewickelt. Zwischen den akuten Phasen der Erkrankung sollte die Haut mit wasserhaltigen Cremes und Kühlsalben gefettet und vor Austrocknung geschützt werden. Bei der an sich schon trockenen Haut des Ekzematikers sind austrocknende Seifen und häufiges Baden nicht angebracht. Sinnvoll ist längerer Kontakt mit Wasser nur dann, wenn Feuchtigkeitsverlust durch Zugaben von rückfettenden Badeölen vermieden und die noch feuchte Haut nach dem Bad sofort gesalbt wird. Normale Seifen werden im Allgemeinen schlecht vertragen, besser geeignet sind Syndets. In der Akuttherapie des atopischen Ekzems sind kortikosteroidhaltige Cremes oder Salben der Stärkeklasse 1 oder 2 häufig nicht zu vermeiden, sollten aber nicht länger als 2–3 Wochen kontinuierlich angewendet werden. Die seit mehreren Jahren verfügbaren topi­ schen Calcineurininhibitoren Tacrolimus und Pimecrolimus bringen einen großen Fortschritt gerade in der Langzeittherapie des atopischen Ekzems, da unerwünschte Wirkungen wie Hautatrophie und Bildung von Teleangiektasien nicht beobachtet werden. Bei ­längerfristiger Anwendung kann die Zahl neuer Ekzemschübe verringert und dadurch der Verbrauch von kortikoidhaltigen Externa reduziert oder vermieden werden. >> Eine Infektion mit Herpes simplex bei Kindern mit manifestem atopischem Ekzem kann zu einer Generalisierung von Herpes­ bläschen und zu hohem Fieber führen (Ekzema herpeticatum).

j jProphylaxe Hitzestau und Situationen mit starkem Schwitzen sollten vermieden werden. Ideal ist ein warmes Klima mit mäßiger Luftfeuchtigkeit und hoher Luftkonvektion. Mäßige Sonnenbestrahlung und salzhaltiges Wasser führen in den meisten Fällen zur Besserung der Hautsymptome (Ostsee, Mittelmeer). Am besten wird baumwollhaltige Kleidung vertragen. Zu vermeiden sind synthetische Fasern und Wolle. Nur wenn ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Einnahme von Nahrungsbestandteilen und der Exazerbation der atopischen Dermatitis besteht, sind diese zu meiden. In der Regel ist ein solcher Zusammenhang aber nicht zu eruieren.

Arzneimittelexantheme jjGrundlagen Die häufigsten Nebenwirkungen nach Medikamenteneinnahme sind bei Kindern Hautreaktionen. Inwieweit es sich um allergische, pseudoallergische oder toxische Reaktionen handelt, ist meistens nicht zu klären. jjKlinik Das klinische Bild des Arzneimittelexanthems ist nicht einheitlich. Es können urtikarielle, papulöse, bullöse oder am häufigsten morbiliforme und scarlatiniforme Exantheme auftreten. Sie sind vorwiegend symmetrisch lokalisiert und häufig stammbetont. Arzneimittel und andere Substanzen können auch zum Bild eines Erythema ­exsudativum multiforme führen, dessen schwere Verlaufsform (Beteiligung von Konjunktiven und Schleimhäuten) Stevens-JohnsonSyndrom genannt wird. Beim Lyell-Syndrom (toxische epidermale Nekrolyse) handelt es sich um eine bei Kindern sehr seltene Hypersensitivitätsreaktion auf unterschiedliche Faktoren, die unter dem Bild einer Verbrennung (Erythem, Blasenbildung und Hautnekrose) verläuft. Auslösende Faktoren sind v. a. Medikamente (Pyrazolone, Barbiturate, Anti­ biotika, Sulfonamide) oft in Zusammenhang mit Infektionen oder Impfungen. Nach Prodromalerscheinungen (Fieber, reduzierter ­Allgemeinzustand, Hauterythem) entwickeln sich auf gesundem ­Integument Blasen, die sich rasch vergrößern und großflächig ­ablösen. jjTherapie Die Therapie des Lyell-Syndroms entspricht der von Verbrennungen. Man muss mit einer hohen Letalität rechnen (altersabhängig­ bis 40%). jjDifferenzialdiagnose Abgegrenzt werden muss bei Kleinkindern das staphylogene LyellSyndrom („staphylococcal scalded skin syndrome“), eine durch ­Staphylokokkenexotoxin ausgelöste lebensbedrohliche Erkrankung mit blasiger Ablösung der Haut. Schleimhäute werden nicht befallen. Histologisch ist hier eine akantholytische Blasenbildung subkorneal zu finden. Eine frühzeitige Therapie mit penicillinasefesten Penicillinen ist einzuleiten. 30.7

Autoimmunkrankheiten

30.7.1

Chronisch diskoider Lupus ­erythematodes

jjPathogenese, Epidemiologie Der Pathomechanismus der Hautveränderungen beim chronisch diskoiden Lupus erythematodes (CDLE) ist wenig erforscht. Für eine lokale Immunkomplexvaskulitis wie bei systemischem Lupus erythematodes oder für eine Ro(SSA)-antikörperabhängige zytotoxische Reaktion wie bei dem subakuten Lupus erythematodes finden sich wenig Anhaltspunkte. Weniger als 2% der Patienten entwickeln einen CDLE vor dem 10. Lebensjahr. Im Gegensatz zu Erwachsenen sind Jungen genauso häufig wie Mädchen betroffen; Angaben über vermehrte Lichtempfindlichkeit fehlen häufig. jjKlinik Die lokalisierte Form des CDLE zeigt sich häufig in Schmetterlings­ form an Nase und Wangen (. Abb. 30.12), an den Ohren und am Kapillitium. Seltener sind Augenlider, Lippenregion oder Schleim-

789 Dermatologie

..Abb. 30.12  Chronisch diskoider Lupus erythematodes

..Abb. 30.13  Lupusbandtest: in der direkten Immunfluoreszenz zeigen sich granuläre IG-Ablagerungen entlang der Basalmembran

häute befallen. Bei der disseminierten Form zeigen sich die scharf begrenzten, scheibenförmigen Erytheme mit festhaftender, weißlicher Schuppung auch im Schulterbereich, an den Streckseiten der Arme und Handrücken. Bei Kindern können auch frostbeulenartige, knotige Veränderungen an Finger- und Zehenrücken auftreten (sog. „Chilblain“-Lupus). Bei der seltenen Form des familiären ChilblainLupus führen Mutationen des Gens für die Exonuklease  TRX1 zu einer Abbauhemmung intrazellulärer Nukleinsäuren mit nach­ folgender Interferon-α-vermittelter Entzündung. jjDiagnose Mittels Immunfluoreszenzmikroskopie erfolgt der Nachweis von bandförmigen Niederschlägen von Immunglobulinen IgG oder IgM häufig zusammen mit dem Komplementspaltprodukt C3 entlang der Basalmembranzone (sog. Lupusband, . Abb. 30.13). jjTherapie, Prognose Im Vordergrund steht eine äußerliche Therapie mit glukokortikosteroidhaltigen Cremes oder Salben bei gleichzeitigem Lichtschutz; bei Nichtansprechen kann eine innerliche Gabe von Glukokortikosteroiden, Antimalariamitteln oder Dapson erwogen werden. Der Übergang in einen systemischen Lupus erythematodes ist bei ­Kindern häufiger als bei Erwachsenen. 30.7.2

Zirkumskripte Sklerodermie (Morphea)

Die umschriebene Sklerose der Haut und des Unterhautgewebes ­manifestiert sich häufig bei Kindern und Jugendlichen; in diesen Lebensaltern wird fast nie ein Übergang in eine systemische Sklerodermie mit ausgeprägter Organbeteiligung beobachtet. jjPathogenese Ursache ist unbekannt; Verletzungen, Impfungen, Infektionen, Bestrahlungen werden als Provokationsfaktoren diskutiert. Es besteht auffällige Ähnlichkeit mit der chronischen Graft-versus-HostKrankheit nach allogener Knochenmark- oder Stammzelltherapie. Nicht selten besteht gleichzeitig v. a. im Genital- oder Analschleimhautbereich ein Lichen sclerosus et atrophicus (LSA), der, meist bei Mädchen, auch isoliert vorkommt. Hier zeigen sich stark juckende weißlich-atrophische Herde an der Vulva oder perianal, teilweise mit Hämorrhagien oder Blasen die zu Schrumpfung und Atrophie der Schleimhäute führen können.

..Abb. 30.14  Coup de sabre im Bereich der rechten Stirn

jjKlinik In Abhängigkeit von Größe, Ausprägung und Lokalisation werden 5 klinische Formen der zirkumskripten Sklerodermie unterschieden: 44 herdförmige zirkumskripte Sklerodermie (Morphea), 44 subkutane zirkumskripte Sklerodermie, 44 kleinfleckige Morphea, 44 generalisierte zirkumskripte Sklerodermie, 44 lineare zirkumskripte Sklerodermie. Bei Kindern ist die lineare zirkumskripte Sklerodermie am häufigsten: unilateral an einer Extremität oder seltener am Rumpf besteht eine strangförmige Hautsklerose mit Beteiligung des subkutanen Gewebes, die zu Muskelatrophie, ossären Wachstumsstörungen und Gelenkkontrakturen führen kann. Charakteristisch ist die lineare zirkumskripte Sklerodermie im Stirnbereich (. Abb. 30.14) als „Coup des sabre“, aus der sich eine lebenslang bestehende Hemia­ trophia faciei entwickeln kann. jjDiagnose Meist durch das typische klinische Bild möglich, Bestätigung durch histologische Untersuchung; immunserologisch bei etwa 40% der Kinder Nachweis von antinukleären Antikörpern im Serum; für

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systemische Sklerodermie spezifische Antikörper (z. B. gegen Scl-70 oder Zentromerproteine) kommen bei zirkumskripter Sklerodermie nicht vor.

30

j jTherapie Konsequente äußere Behandlung mit fettenden Salben, evtl. mit Glukokortikosteroid- und Heparinoidzusatz. Bei chronischen Verläufen auch Photochemotherapie mit UVA1 oder UVA nach vorherigem Bad in 8-MOP-haltigem Wasser oder nach Auftragen einer 8-MOP-haltigen Creme (Bade- bzw. Creme-PUVA). Im entzünd­ lichen Frühstadium kann eine hochdosierte i.v.-Therapie mit Penicillin versucht werden Bei Lichen sclerosus et atrophicus werden Salben oder Cremes mit hochpotenten Glukokortikoiden oder ­Calcineurininhibitoren empfohlen. Bei ausgeprägtem Juckreiz sind intraläsionale Injektionen einer Glukokortikoidkristallsuspension (Triamcinolonacetonid 1:3–1:5 mit Lokalanästhetikum verdünnt) gut wirksam. >> Bei linearer zirkumskripter Sklerodermie besteht die Gefahr bleibender Atrophien im Muskel- und Knochenbereich sowie von Gelenkkontrakturen.

30.7.3

Juvenile Dermatomyositis

7 Kap. 12.5.

30.8

Blasenbildende Autoimmun­ erkrankungen

j jPathogenese Die blasenbildenden Autoimmunkrankheiten führen zu einer chronischen oder schubweise verlaufenden Entzündung von Haut- und Schleimhäuten mit Blasenbildung und sekundär mit Erosionen und Krustenbildung. Ausgelöst wird die Entzündung durch spezifische Autoantikörper der Immunglobulinklasse IgG oder IgA, die mit definierten Strukturproteinen im Bereich der Epidermis, der Basalmembranzone oder der Dermis reagieren; je nach Lokalisation der spezifischen Antigen-Antikörper-Reaktionen entsteht eine: 44 intraepidermale Spaltbildung (z. B. beim Pemphigus), 44 subepidermale Spaltbildung (z. B. bei der linearen IgA-­ Dermatose) oder 44 dermale Spaltbildung (z. B. bei der Dermatitis herpetiformis). jjEpidemiologie Diese Erkrankungen können in allen Lebensaltern auftreten; bei Kindern und Jugendlichen ist die lineare IgA-Dermatose und die Dermatitis herpetiformis am häufigsten. Durch diaplazentare Übertragung spezifischer Antikörper von einer erkrankten Schwangeren auf das sich entwickelnde Kind können einige dieser Krankheiten auch neonatal auftreten; dazu gehören Pemphigus vulgaris und­ das Schwangerschaftspemphigoid (Herpes gestationis). Die Geschlechtsverteilung ist annähernd ausgewogen. 30.8.1

Lineare IgA-Dermatose (LAD)

j jDefinition Durch Autoantikörper der IgA-Klasse gegen Adhäsionsproteine im Bereich der Basalmembranzone ausgelöste blasenbildende Dermatose, die überwiegend bei Kindern und Jugendlichen beginnt.

..Abb. 30.15  Lineare IgA-Dermatose

jjPathogenese Die Autoantikörper bei LAD sind v. a. gegen BPAG-2 (Kollagentyp XVII) gerichtet, ein transmembranöses Adhäsionsmolekül, das die basalen Keratinozyten der Epidermis mit der Basalmembran­ zone verbindet. Bei LAD stellt vorwiegend der extrazelluläre Anteil von Kollagentyp XVII mit einem Molekulargewicht von 120 kD (LAD1) das Autoantigen dar. jjKlinik Charakteristisch sind ring- oder kranzförmig angeordnete Blasen auf Erythem, die häufig perioral, perigenital, perianal, an Händen und Füßen sowie im Gesicht lokalisiert sind (. Abb. 30.15). In ­40–60% Befall der Schleimhaut, meist in Form von Erosionen. Eine glutensensitive Enteropathie wie bei Dermatitis herpetiformis kommt bei LAD nicht vor. jjDiagnose Wegweisend ist die direkte Immunfluoreszenzuntersuchung mit Nachweis von linearen Niederschlägen von IgA-Antikörpern ­entlang der Basalmembranzone (. Abb. 30.16); im Serum ist der Nachweis von Antikörpern gegen Kollagentyp XVII und/oder das 120-kDFragment (LAD1) durch indirekte Immunfluoreszenzunter­ suchung bzw. Immunoblot möglich. Histologisch Nachweis einer subepidermalen Blasenbildung. jjTherapie, Prognose Bewährt hat sich eine systemische Kombinationstherapie aus Gluko­ kortikosteroiden (z. B. 0,5 mg/kgKG Prednisonäquivalent) und Dapson (z. B. 1–1,5 mg/kgKG täglich), äußere Behandlung mit ­glukokortikosteroidhaltigen Cremes, Hautpflege mit soja- oder mandelölhaltigen Bädern. Auf Besiedelung der Haut mit Bakterien oder Candida albicans ist zu achten. Der Verlauf ist schubweise und hochchronisch; nicht selten Abheilung in der Pubertät.

791 Dermatologie

..Abb. 30.16  Direkte Immunfluoreszenz: lineare IgA-Ablagerung in den Papillenspitzen entlang der Basalmembran

30.8.2

Dermatitis herpetiformis

jjDefinition Chronisch rezidivierende blasenbildende Dermatose, die meist im Kindes- oder frühen Erwachsenenalter auftritt und immer mit einer Zöliakie assoziiert ist; nur in etwa 20–40% zeigen sich klinisch manifeste Zeichen der Enteropathie (7 Kap. 22). jjPathogenese Wie bei Zöliakie besteht eine enge genetische Koppelung an die HLA-Antigene DR3 und DQ2. Auffällig ist die Überempfindlichkeit gegen Halogenide, insbesondere gegen jodidhaltige Medikamente und Nahrungsmittel (z. B. Seefisch), welche die Hauterscheinungen auslösen können. jjKlinik Charakteristisch sind herpetiform gruppierte Bläschen mit starkem, z. T. brennendem Juckreiz. Die Bläschen können an beliebiger Stelle lokalisiert sein, bevorzugt an den Ellenbogen, gluteal, am behaarten Kopf und den Streckseiten der Extremitäten. Bei Kindern ist auch eine exanthematische Aussaat von papulovesikulösen und sekundär verkrusteten Effloreszenzen möglich, die an Ekzeme erinnern können. jjDiagnose Histologischer Nachweis einer Spaltbildung unterhalb der Lamina densa der Basalmembran (dermolytische Blase) mit abszessartiger Ansammlung von neutrophilen Granulozyten in den dermalen Papillen. Charakteristisch ist der Nachweis von IgA-Niederschlägen in den Papillenspitzen mithilfe der direkten Immunfluoreszenzmikro­ skopie. Im Serum Nachweis von Antikörpern gegen Gliadin der IgGoder IgA-Klasse möglich; charakteristisch ist der Nachweis von Antikörpern der IgA-Klasse gegen Gewebstransglutaminase mittels indirekter Immunfluoreszenz oder ELISA; diese Anti-tTGase-Antikörper stellen serologische Marker für die glutensensitive Enteropathie dar.

..Abb. 30.17  Granuloma anulare

jjTherapie Pathognomonisch ist das schlagartige Ansprechen auf Dapson (bis 2 mg/kgKG/Tag). !! Cave Dapson ist bei Vorliegen einer Glukose-6-Phosphat-Dehydro­ genase-Defizienz wegen der Gefahr einer hämolytischen Anä­ mie kontraindiziert.

Wichtig ist eine gleichzeitige und konsequent durchgeführte gluten­ freie Diät; darunter kann es – auch nach Absetzen von Dapson – innerhalb von 6–12 Monaten zur vollständigen Rückbildung der blasigen Hautveränderungen kommen. 30.9

Granulomatöse Erkrankungen

30.9.1

Granuloma anulare

jjPathogenese Bislang ist die Ursache des Granuloma anulare unbekannt. Anscheinend spielt eine T-zellmediierte Immunreaktion bei der Entstehung eine Rolle. Hinweise auf eine infektiöse oder toxische Genese liegen vor, das Antigen ist aber noch nicht identifiziert. Meist erkranken Kinder und Jugendliche. jjKlinik An den Prädilektionsstellen (Handrücken, Fußrücken und Finger, v. a. in der Nähe der Knöchel sowie an Glutäen und im Gesicht) finden sich zunächst kleine, scharf begrenzte und wenig gerötete Papeln, die nicht jucken. Die Herde breiten sich nach peripher aus und heilen zentral ohne Narbenbildung ab. So entstehen polyzyklisch begrenzte, randbetonte Herde von bis zu Handtellergröße (. Abb. 30.17). Selten kann es auch einmal zu einer disseminierten Aussaat von aggregierenden Papeln und Knötchen am gesamten Integument kommen (Granuloma anulare disseminatum).

30

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j jTherapie, Prognose Häufig wird eine Spontanheilung ohne Therapie beobachtet. Möglich ist eine externe Therapie mit Glukokortikoiden unter einem Okklusivverband. Auch eine Kryotherapie (flüssiger Stickstoff)­ und intraläsionale Injektion von Triamcinolonacetonid-Kristall­ suspension kommen zur Anwendung. Bei Therapieresistenz oder disseminierter Ausbreitung kann auch eine PUVA-Therapie oder Balneophotochemotherapie (PUVA-Bad) sowie die interne Gabe von Glukokortikoiden, Dapson oder Hydroxychloroquin versucht werden. Insgesamt ist die Prognose günstig. 30.10

Erythematosquamöse und papulöse Hauterkrankungen

30.10.1

Psoriasis vulgaris

30

j jEpidemiologie Mit einer Morbidität von 1–2% der Bevölkerung ist die Psoriasis eine der häufigsten Hauterkrankungen. Sie tritt familiär gehäuft auf, was eine genetische Veranlagung wahrscheinlich macht. Man geht von einer multifaktoriellen bzw. polygenen Vererbung aus, bei der auch Umweltfaktoren für die Manifestation der Erkrankung eine Rolle spielen. Es findet sich eine Assoziation mit den HLA-Antigenen A2, B13, B27, Bw57, Cw2, Cw6 und DR7. Kinder von Eltern mit Psoriasis erkranken zu 10–20%, sind beide Elternteile betroffen, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf bis zu 50%. Eineiige Zwillinge zeigen eine Konkordanz von 90% für Psoriasis. Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter beginnen. Eine Erstmanifestation in früher Kindheit und bei alten Menschen ist aber eher selten. Man unterscheidet 2 Typen der Psoriasis. Die Typ-I-Psoriasis (Assoziation mit HLA-Cw6) beginnt bereits früh (> Die Inzidenz der Akne beträgt nahezu 100%. Bei fast jedem Jugendlichen entstehen in der Adoleszenz Komedonen, ­Papeln und Pusteln, nur der Schweregrad ist unterschiedlich.

..Abb. 30.19  Infantile papulöse Akrodermatitis

jjKlinik Klinisch imponiert eine rötlich-braune, polygonale, stecknadelkopfbis reiskorngroße, derbe Papel, die im Gegenlicht weißlich schimmert. Auf der planen Oberfläche ist eine netzförmige weiße Zeichnung zu erkennen (Wickham-Phänomen), hervorgerufen durch eine Verdickung des Stratum granulosum. Prädilektionsstellen der Erkrankung sind Beugeflächen der Handgelenke und Unterarme, seitliche Halsregion, Glutealgegend, Knöchelgegend der Fußgelenke und Penis. Die Mundschleimhaut ist bei etwa 50% der Patienten mit befallen (Lichen ruber mucosae). Da sich hier keine Papeln ausbilden können, ist das Wickham-Phänomen sehr deutlich mit netzartig verzweigten, weißlichen, nicht abstreifbaren Zeichnungen an den Wangenschleimhäuten zu erkennen. jjTherapie Im Vordergrund steht eine symptomatische, entzündungs- und juckreizhemmende Lokaltherapie. Nur in schweren Fällen kommen orale Steroide oder Retinoide zur Anwendung. Günstig hat sich auch eine Balneophotochemotherapie (Bade-PUVA) bewährt. 30.10.3

Infantile papulöse Akrodermatitis

jjPathogenese Diese relativ seltene, auch als Gianotti-Crosti-Syndrom bekannte Erkrankung des Kleinkindesalters gilt als kutane Manifestation verschiedener viraler Infekte, v. a. durch Hepatitis-Viren, CoxsackieViren und Epstein-Barr-Viren. jjKlinik An den Extremitäten, Wangen (. Abb. 30.19), Handflächen, Fußsohlen und am Rumpf treten in symmetrischer Verteilung akut ­papulöse, teilweise papulovesikulöse Effloreszenzen mit hämorrhagischer Note auf. Die Schleimhäute bleiben frei, Allgemeinerscheinungen fehlen. jjTherapie, Prognose Die Behandlung erfolgt symptomatisch, die Abheilung nach bis zu 2 Monaten.

jjPathogenese Bei der Akne handelt es sich um eine entzündliche Talgdrüsener­ krankung auf seborrhoischer Grundlage. Die Ursache ist unbekannt. Neben genetischen Faktoren sind weitere Veränderungen für die Entstehung der Akne entscheidend. Durch vermehrte ­Bildung von Androgenen in den Gonaden und Nebennieren ver­ größern sich die Talgdrüsen und bilden mehr Talg, welches für­ die Ausbildung der Symptome erforderlich ist. Im Talg, innerhalb der Follikelkanals, vermehren sich Propionibakterien (Propionibacterium acnes), deren Stoffwechselprodukte die Bildung von ­Komedonen und die entzündliche Umwandlung fördern. jjKlinik Prädilektionsstellen der Akne sind v. a. Gesicht, Brust und Rücken.

Charakteristisch sind Komedonen, Papeln, Pusteln und knotige ­Läsionen. Durch eine Retentionshyperkeratose im Akroinfundibulum des Follikels bildet sich ein Hornpfropf, bestehend aus Hornzellen und Talg. Klinisch imponiert der so entstandene Komedo als kleines, weißliches, festes Knötchen mit kaum sichtbarem Ausführungsgang (geschlossener Komedo). Durch weitere Talg- und Hornproduktion vergrößert sich der Komedo, die Follikelöffnung wird ausgeweitet. Es entsteht ein dunkelpigmentierter, 2–3 mm großer Hornpfropf (offener Komedo). Eine nur aus Komedonen bestehende Akne wird als Acne comedonica bezeichnet. Durch partiellen Untergang der Komedonen, Infektion mit Propionibakterien und Freisetzung entzündungsfördernd wirkender Lipide entstehen Papeln und Pusteln (Acne papulopustulosa). Die schwere Form der Akne (Acne conglobata) ist durch konfluierende, tief liegende Abszesse gekennzeichnet (. Abb. 30.20). Bei manchen Kindern treten bereits nach der Geburt oder in den ersten Lebenswochen vereinzelte Akneeffloreszenzen auf (Acne neonatorum), die sich innerhalb weniger Monate spontan zurückbilden. Ursache scheinen erhöhte Androgenbildung der Nebennieren und erhöhte Androgenempfindlichkeit der Talgdrüsen zu sein. jjTherapie Bei einer leichten Form der Akne werden lokale Vitamin-A-SäureDerivate eingesetzt. Bei stärkerer Ausprägung werden diese bevorzugt mit Benzoylperoxid oder auch mit Clindamycin in Fixkombinationen angewendet. Ebenfalls bewährt hat sich die Kombination aus Benzoylperoxid und Clindamycin. Monotherapien mit topischen Antibiotika sollten vermieden werden. Systemisch haben sich Doxycyclin 100 mg/Tag oder Minocyclin 50 mg/Tag bewährt. In schweren Formen, v. a. bei der Acne conglobata, kann Isotre­ tinoin die Talgproduktion bis zu 90% senken und zu einer anhaltenden Verkleinerung der Talgdrüsen führen. !! Cave Die Teratogenität von Isotretinoin ist dabei zu beachten und erfordert eine sichere Antikonzeption bei jungen Frauen.

794

M. Meurer et al.

..Tab. 30.4  ABCDE-Regel zur Beurteilung der Dignität von Nävuszellnävi A

Asymmetrie (normal sind Nävi symmetrisch)

B

Begrenzung (normal ist eine scharfe Begrenzung)

C

Color (sollte einheitlich sein)

D

Durchmesser (> Bei Vorliegen von mehr als 5 größeren Café-au-lait-Flecken ist an eine Neurofibromatose zu denken.

Melanosis naeviformis  Synomym: Becker-Nävus, Naevus pig-

mentosus et pilosus). Es handelt sich um einen gleichmäßig hell- bis dunkelbraunen Herd von bizarrer Form, in dem gröbere und kosmetisch störende Haare wachsen.

Naevus spilus  Meist seit Geburt findet sich eine hellbraune

­Makula, in die in späteren Jahren Pigmentflecke einstreuen.

Mongolenfleck  Bei nahezu allen Mongolen sind über dem

Kreuzbein graublaue Verfärbungen der Haut zu sehen, die sich bis zur Pubertät wieder zurückbilden. Auch bei weißrassigen Menschen kommt diese Hautveränderung vor.

Nävuszellnävi

Nävuszellen stammen ebenfalls aus der Neuralleiste und entsprechen den Melanozyten. Sie können ebenfalls Melanin produzieren und liegen meist in Nestern unterhalb der Epidermis. Die klinische Erscheinungsform ist sehr variabel. Sie können punktförmig, aber auch flächenhaft sein, makulös bis papulös und nehmen alle Schattierungen von braun bis schwarz an. Je nach Lage unterscheidet man Junktionsnävi, epidermodermale und dermale Nävi. >> Wegen der Möglichkeit der malignen Entartung sollten Nävi regelmäßig kontrolliert werden.

Die in . Tab. 30.4 aufgeführte ABCDE-Regel kann bei der Beurteilung der Dignität helfen. Treffen mehrere Merkmale zu, so sollte eine prophylaktische Exzision erfolgen. 30.12.3

Organoide Nävi

Organoide Nävi sind seit Geburt vorhanden und bestehen aus Zellen normaler Hautstruktur. Epidermale Nävi  Hierbei handelt es sich um meist streifig an­ geordnete, hautfarbene bis graue, weiche, scharf begrenzte, papillomatöse Hautveränderungen durch eine Akanthose der Epidermis, begleitet gelegentlich von Hyperkeratose und entzündlicher Reaktion. Naevus sebaceus  Ausgehend von Talgdrüsen finden sich meist

am Kapillitium flache, scharf begrenzte, rötlich-gelbliche, papillomatöse oder beetartige Gebilde (. Abb. 30.21).

>> Wegen der Möglichkeit der Entstehung von Tumoren aus Talg­ drüsennävi, am häufigsten Trichoblastome und Basaliome, sollte die Exzision eines Naevus sebaceus angestrebt werden.

30.12.4

Gefäßnävi und Hämangiome

Naevus flammeus jjKlinik Man unterscheidet den medianen Naevus flammeus (Storchen­ biss) vom selteneren lateralen Naevus flammeus. Histologisch liegt eine Erweiterung und Vermehrung der Kapillaren vor. Mediane Naevi flammei sind blassrosa, im Niveau der Haut liegende Makulae

795 Dermatologie

..Abb. 30.22 Hämangiom

..Abb. 30.21  Naevus sebaceus

verschiedener Größe, die bei ca. 50% aller Neugeborenen gesehen werden. Sie sind am häufigsten im Bereich der Glabella, der oberen Augenlider und im Nacken (Storchenbiss) lokalisiert. Im Gesichtsbereich verschwinden sie spontan in den ersten Monaten, während die nuchalen persistieren können. Laterale Naevi flammei sind scharf begrenzt, rosa bis dunkelrot, von unterschiedlicher Größe (bloß eine Körperhälfte befallend) und asymmetrisch angeordnet. Es gibt keine Rückbildungstendenz. Gelegentlich ist ein Naevus flammeus nur ein Symptom einer Systemerkrankung. Beim Sturge-Weber-Syndrom finden sich ­neben einem Naevus flammeus im Trigeminusbereich Gefäßfehlbildungen im Gehirn mit Glaukom und zentralnervösen Störungen. Das Klippel-Trénaunay-Weber-Syndrom zeichnet sich durch einen Naevus flammeus der gesamten Extremität mit varikösen Venektasien und partiellem Riesenwuchs aus. Beim Kasabach-Merritt-­ Syndrom kann es durch Sequestration und vermehrten Verbrauch von Thrombozyten im Hämangiom, aggraviert durch eine Verbrauchskoagulopathie, zu einer Thrombozytopenie kommen. jjTherapie Flache Naevi flammei lassen sich mit einem Farbstofflaser in ­mehreren Sitzungen aufhellen. Möglich ist auch das Abdecken mit Spezialkosmetika.

jjTherapie Bei unkomplizierte Verläufen und Hämangiomen am Stamm oder Extremitäten ist eine Therapie nicht zwingend erforderlich, kann aber frühzeitig angeboten werden, da die Entwicklung dieser in den ersten Lebensmonaten nicht abgeschätzt werden kann und die ­Therapie von den Säuglingen gut vertragen wird. Für flache Hämangiome eignet sich eine Farbstofflasertherapie oder eine Kryokon­ takttherapie. Auch mittels Propranolol in einer Gelgrundlage unter Okklusion lassen sich flache Hämangiome am Körperstamm gut behandeln. Selten sind wegen ungewöhnlicher Lokalisation und Wachstumstendenz mit Beeinträchtigung lebenswichtiger Organe aktivere Maßnahmen notwendig. Hier hat sich eine systemische Therapie mit Propranolol in niedriger Dosierung bewährt. 30.13

Störungen der Melaninpigmentierung

Zwischen den Basalzellen liegen die in der Neuralleiste gebildeten Melanozyten, die mit Hilfe des Enzyms Tyrosinase Melanin bilden und es an die Keratinozyten abgeben. >> Es gibt keine geschlechts- oder rassespezifischen Unterschie­ de in der Melanozytenzahl. Lediglich die genetisch deter­ minierte, individuelle Aktivität der Melanozyten bestimmt die Bräunung der Haut.

Störungen der Melaninpigmentierung können durch Veränderung der Melanozytenzahl, Funktionsstörung der Melaninsynthese und Störung des Melanosomentransfers bedingt sein. 30.13.1

Epheliden

Infantile Hämangiome

jjPathogenese

Diese Läsionen treten in den ersten Lebenswochen an jeder Stelle der Haut oder Schleimhaut auf. Sie sind hell- bis kräftig rot, können im Hautnieveau liegen, erhaben sein oder auch subkutan liegen (. Abb. 30.22). Meist treten sie einzeln und lokalisiert auf, können aber auch multipel auftreten. Nach einer Phase der weiteren Vergrößerung im ersten Lebensjahr bilden sie sich während der nächsten 2–6 Jahre spontan zurück. Der Beginn der Rückbildung wird durch Auftreten von zentralen weißen Bezirken angezeigt. Neben den ­lokalisierten Hämangiomen gibt es auch segmental auftretende ­Hämangiome, bei denen an assoziierte Fehlbildungen zu denken ist und in seltenen Fällen auch multiple als Hämangiomatose mit möglichem extrakutanem Organbefall.

Sommersprossen werden autosomal-dominant vererbt und kom-

men v. a. bei Menschen mit rötlich-blondem Haar vor. Ursache der stärkeren Pigmentierung im Sommer ist die Fähigkeit einiger Melanozyten, rascher und mehr Melanin zu bilden als die Melanozyten in der Umgebung.

jjKlinik, Therapie Symmetrisch im Bereich der Wangen und der Nase finden sich hellbräunliche Pigmentflecke. Auch an Ober- und Unterarmen kommen sie vor. Eine Therapie dieser Pigmentveränderung ist nicht möglich. Weder Lichtschutzpräparate noch verschiedene Bleichcremes zeigen Erfolge.

30

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M. Meurer et al.

areata und eine atopische Diathese mit erhöhten Serumkonzentra­ tionen von IgE. jjTherapie Eine Heilung der Vitiligo ist nicht möglich. Verschiedene Ansätze (topische Glukokortikoide und Calcineurininhibitoren, Bestrahlung mit UV-B im Schmalspektrumsbreich von 311 nm bei generalisierter Vitiligo ab dem 16. Lebensjahr; bei segmentaler umschriebener Vitiligo auch mittels einer monochromatischen UVB-Lampe mit 308-nm-Wellenlänge) können zu einer teilweisen Repigmentie­ rung der Hautareale führen.

30

>> Wichtig ist ein konsequenter Lichtschutz der der Sonne unge­ schützt ausgesetzten Areale. ..Abb. 30.23  Incontinentia pigmenti

30.13.2

Incontinentia pigmenti ­(Bloch-Sulzberger-Syndrom)

j jPathogenese Diese Erkrankung ist x-chromosomal-dominant vererbt und kommt fast nur bei Mädchen vor. Bei männlichen Merkmalsträgern verläuft sie meist letal. jjKlinik Die Erkrankung geht mit Hautsymptomen, Fehlbildungen an A ­ ugen, am Zentralnerven- und Skelettsystem einher. Bereits beim Neugeborenen finden sich entlang der Blaschko-Linien entzündliche ­Erytheme mit Bläschen und Blasen. Nach kurzer Zeit entstehen ­lichenoide Papeln sowie keratotische Hautveränderungen. Nach ­Abheilung treten bizarr geformte oder lineäre gräuliche Pigmentierungen entlang der Blaschko-Linien auf (. Abb. 30.23). Sind diese bereits beim Neugeborenen zu sehen, so ist das ein Zeichen dafür, dass die Erkrankung bereits in utero begonnen hat. j jKomplikationen Zahnentwicklungsstörungen, Augenanomalien mit Optikusatrophie, Strabismus, Katarakt, ZNS-Entwicklungsstörungen, Skelettmiss­ bildungen und Herzfehler treten bei einem Großteil der Betroffenen auf. j jTherapie Lediglich eine externe Therapie im Entzündungsstadium zur Vermeidung von Sekundärinfektionen, ggf. innerliche Anwendung von Glukokortikoiden, ist möglich. Eine genetische Beratung sollte ­angestrebt werden. 30.13.3

Vitiligo

j jPathogenese, Klinik Diese häufige Erkrankung die bereits im Kindesalter vorkommen kann, führt als Folge des Untergangs von Melanozyten zur Depig­ mentierung der Haut. Meist tritt die scharf begrenzte Depigmentierung zwischen dem 10. und 30. Lebensjahr auf, häufig symmetrisch um Körperöffnungen und an Körperstellen stärkerer Pigmentierung. Im Laufe des Lebens nehmen die Herde an Größe und Zahl zu. j jKomplikationen An assoziierten Erkrankungen finden sich gleichzeitig Autoimmunthyreoditiden, perniziöse Anämie, Diabetes mellitus, Alopecia

30.14

Sonstige Hauterkrankungen

30.14.1

Pityriasis rosea

jjKlinik Die Pityriasis rosea ist eine häufige, mild verlaufende Hauterkrankung, die bei Schulkindern und Adoleszenten vorkommt. Sie ­beginnt mit einer 2–6 cm großen, ovalen Einzelläsion, die zentral abgeblasst ist und am leicht erhabenen Rand eine „Schuppenkrause“ aufweist. Nach 5–10 Tagen entwickelt sich ein generalisiertes, symmetri­ sches Exanthem mit in Richtung der Hautspaltlinien angeordneten, runden bis ovalen, weniger als 1 cm großen, ganz leicht erhabenen, blassrosa bis bräunlichen Effloreszenzen, die mit einer feinen, kleieförmigen Schuppung bedeckt sind. Selten besteht leichter Juckreiz. jjTherapie Nach 2–4 Wochen kommt es zur Spontanheilung, sodass sich eine Therapie häufig erübrigt. Eventuell äußere Therapie mit Cremes oder Salben, die Glukokortikosteroide niedriger Wirkstärke (z. B. Hydrocortison) enthalten. 30.14.2

Alopecia areata

Diese Krankheit tritt v. a. bei Kindern und Jugendlichen, 20% ­familiär und häufig gleichzeitig mit einer atopischen Diathese auf. jjPathogenese Die Ursache der entzündlichen, herdförmigen, reversiblen Alopezie ist unklar. Eine Autoimmunreaktion vom Spättyp wird diskutiert, wobei exogene und endogene Faktoren wie psychischer Stress, ­Trisomie 21, Schilddrüsenerkrankungen und Atopie eine Rolle spielen. Haarfollikelkeratinozyten bilden Zytokine, die T-Lymphozyten und Makrophagen anlocken, die ihrerseits wieder Zytokine freisetzen und zu einem entzündlichen Infiltrat im Bereich des Haarbulbus und dermaler Haarpapille führen. Dies endet in Haarausfall, Matrixdystrophie und -degeneration. jjKlinik Meist im Temporalbereich oder okzipital innerhalb kurzer Zeit ein oder mehrere scharf begrenzte, runde oder ovale haarlose Stellen ohne Atrophie der Haut. Follikelmündungen immer vorhanden. Epilierte Haare im Randbereich sind zugespitzt und dystroph. Hier auch 0,2–0,7 cm lange, wenig pigmentierte Haare (Peladehaare, Kommahaare) und schwarze komedoartige Follikelverschlüsse ­(Kadaverhaare, Ausrufungszeichenhaare). Auch Augenbrauen,

797 Dermatologie

Wimpern und sogar die übrigen Körperhaare können vom Ausfall betroffen sein. Nagelveränderungen bei 20%. Sonderformen sind: 44 Ophiasis (Randgebiet des Kapillitiums betroffen), 44 Alopecia areata totalis (gesamte Kopfhaare) und 44 Alopecia areata universalis (sämtliche Körperhaare; ­ . Abb. 30.24). jjDiagnose, Therapie Die Diagnose erfolgt über Anamnese und Klinik. Für die Behand­ lung sind Mittel der Wahl Glukokortikosteroide lokal, okklusiv und evtl. intrakutan bei einzelnen Lokalisationen. Bei Nichtansprechen, v. a. bei Alopecia areata totalis, ist eine topische Immuntherapie­ mit DCP (Diphencyprone) möglich. Interne Glukokortikosteroide kommen selten zum Einsatz. jjPrognose Gut. Abheilung bei 50% innerhalb eines Jahres, allerdings häufig Rezidive; ⅓ rezidivfreie Abheilung. Ungünstig bei Ophiasis, Alopecia areata totalis und universalis. 30.14.3

Mastozytosen

jjPathogenese Gemeinsames Merkmal der Mastozytosen ist eine Vermehrung von Mastzellen in der Haut oder in anderen Geweben ohne andere zugrunde liegende Erkrankung oder Entzündung. Die Erkrankung kann bei 15% der Betroffenen bereits bei Geburt vorhanden sein. Bei weiteren 30% manifestiert sie sich innerhalb der ersten 6 Lebensmonate und bis zum 2. bzw. 15. Lebensjahr bei jeweils weiteren 10%. Die bei Erwachsenen mit Mastozytose häufig gefundenen c-kit-Mutati­ onen kommen im Kindesalter nur bei schwersten Verlaufsformen vor. Die Klinik der Mastozytosen ist sehr variabel, wobei bei Kindern 2 Hauptformen unterschieden werden können: die noduläre oder Plaqueform, die als Mastozytom häufig isoliert auftritt, und die diffuse makulo-papulöse Form, die auch als Urticaria pigmentosa bezeichnet wird, obwohl sie nicht zum Formenkreis der Urtikaria zählt. Durch verschiedene Reize kommt es zur Freisetzung präformierter Mediatoren, hauptsächlich Histamin: 44 physikalische Faktoren: Hitze, Kälte, Druck, Wasser u. a., 44 Arzneimittel: Azetylsalizylsäure, nichtsteroidale Antiphlogistika, Kodein, Morphin, Muskelrelaxanzien, Röntgenkontrastmittel u. a., 44 biologische Auslöser: Bienen- und Wespengift, Bakterientoxine, Alkohol.

..Abb. 30.24  Alopecia areata totalis

gelblich (peau d‹orange) und erinnen an Xanthelasmen. Durch mechanische Reize wie Reiben und Kratzen werden bei nahezu allen Patienten Urticae provoziert (Darier-Zeichen). Juckreiz ist bei 50% aller Erwachsenen vorhanden, aber nur bei 10% der Kinder. Neben der Haut können auch innere Organe durch Mastzellen infiltriert sein. Eine Beteiligung des Gastrointestinaltrakts führt zu Diarrhö und abdominellen Schmerzen. Ebenso können Leber, Milz, Lymphknoten, Skelettsystem und Knochenmark Proliferationen von Mastzellen enthalten. jjTherapie Als symptomatische Therapie kommen H1-Rezeptor-Antagonisten systemisch zum Einsatz. Die zusätzliche Gabe von H2-RezeptorAntagonisten kann in einigen Fällen den Effekt verstärken. Bei nicht ausreichender Wirkung kann zusätzlich Ketotifen gegeben werden. Ein Notfallausweis sollte mitgeführt werden. !! Cave Wegen der Gefahr der generalisierten Mastzelldegeneration mit Anaphylaxie sollten thermische Reize, wie z. B. ein Sprung ins kalte Wasser oder heißes Duschen oder Baden gemieden werden.

jjPrognose Im Gegensatz zur Manifestation im Erwachsenenalter ist die Prog­ nose im Kindesalter gut. Die Erkrankung nimmt mit den Jahren an Intensität ab und heilt meist während der Pubertät ab. Eine invasive Diagnostik ist in der Regel nicht notwendig.

jjKlinik Mastozytose  Die meisten Patienten sind jünger als 2 Jahre. Typi-

scherweise finden sich ein oder mehrere rötliche bis rotbraune Plaques oder Knoten von 1–3 cm Durchmesser, die auf mechanischen Reiz (z. B. Reiben mit Holzspatel) urtikariell anschwellen und jucken (Darier-Zeichen). Histologisch zeigt sich ein umschriebenes dichtes Infiltrat von Mastzellen in der Dermis.

Urticaria pigmentosa  An den Prädilektionsstellen (Stamm, Oberarme und Oberschenkel) finden sich zahlreiche bis Hunderte hellbraun hyperpigmentierte, etwa stecknadelkopfgroße Maculae, teilweise auch Papeln. Nur bei Kindern bis zum 2. Lebensjahr können Blasen vorhanden sein (bullöse Urticaria pigmentosa). Bei tief dermal liegenden Läsionen wirken die klinischen Erscheinungen

30.14.4

Borreliose

jjEpidemiologie Diese durch Zecken (Ixodes ricinus) beim Saugakt übertragene Infektion durch gramnegative Spirochäten kommt weltweit, v. a. in gemäßigten Klimazonen vor. Erreger ist Borrelia burgdorferi. 4–60% der Zecken sind infiziert. jjKlinik Die Erkrankung wird in 3 Stadien eingeteilt: 44 In der Frühphase (Stadium I) ruft sie nach einer Inkubationszeit von ungefähr 10 Tagen häufig ein Erythema migrans ­hervor, das bei Kindern häufig im Kopf- und Nackenbereich

30

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30

M. Meurer et al.

auftritt und leicht übersehen werden kann. An der Bissstelle der Zecke bildet sich ein sich peripher ausbreitendes, rand­ betontes Erythem. Zentrale Abblassung, an Bissstelle kleine ­Papel. Bei ⅔ grippeähnliche Symptome, flüchtige Gelenkschmerzen und Myalgien. 44 Im Stadium II disseminierte Aussaat der Erreger mit multipler Organbeteiligung: u. a. Polyarthritiden, Nervenbeteiligung (bei Kindern relativ häufig mit Fazialisparese), AV-Block, Myokarditis und Augenbeteiligung. In allen Stadien, v. a. im Stadium II bei Kindern, Jugendlichen und Frauen lymphoproliferative knotige Reaktion überwiegend an Ohren, Brustwarzen, Ach­ selhöhlen und Skrotum möglich (Lymphadenosis cutis be­ nigna). Klinisch weicher, dunkelroter bis livider Knoten, bei Diaskopie gelblichbraunes Infiltrat. 44 Das chronische Infektionsstadium III spielt bei Kindern keine Rolle. j jDiagnose Die Serologie (ELISA, Westernblot) führt zur richtigen Diagnose. Zu beachten ist, dass beim Erythema migrans nur bei ca. 50% der ­Erkrankten Antikörper nachweisbar sind. j jTherapie Im Stadium I Amoxicillin (20–40 mg/kgKG/Tag), Doxycyclin 200 mg/Tag (nicht bei Kindern 38°C nach einer anderen Ursache gesucht wer­ den sollte. Eine symptomatische Therapie durch den Einsatz spe­ zieller, meist lidocainhaltiger Präparate, die auf die Kauleiste aufge­ tragen werden, kann kurzfristig Linderung verschaffen. Allerdings werden sie schnell mit der Zunge weiter verteilt und aus dem Mund des Babys ausgewaschen. Bei ständiger Anwendung ist eine Über­ dosierung nicht auszuschließen. Die US-Arzneimittelbehörde FDA rät daher von topischen Gelen bei Zahnungsbeschwerden ab. ­Andererseits sind bei Verwendung in Deutschland zugelassener ­Produkte bislang keine Zwischenfälle bekannt. Als einfache Maß­ nahme haben sich Beißringe zur Linderung zahnungsbedingter Be­ schwerden bewährt. In 1 von 2.000–3.000 Fällen können bereits bei der Geburt die ersten Zähne in der Mundhöhle vorhanden sein (dentes natales). Meistens sind es die mittleren Frontzähne im Unterkiefer. Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt noch unvollständig entwickelten Wurzeln sind diese Zähne meistens locker. Die Zähne sind Teil der normalen Milchzahndentition. Eine Extraktion sollte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn aufgrund einer hohen Mobilität Aspirations­ gefahr besteht oder Verletzungen an der Zunge des Säuglings oder der mütterlichen Brust es erfordern. In seltenen Fällen handelt es sich bei den dentes natales lediglich um zahnähnliche Rudimente die kappenförmig auf der Schleimhaut aufliegen und vor der eigentli­ chen Milchzahnbildung entstehen (dentes praelactales). Diese können problemlos entfernt werden. ..Tab. 31.1  Beispiele für Erkrankungen, die mit einer Störung der Milchzahneruption und Exfoliation einhergehen Vorzeitige Zahneruption

Hallermann-Streiff-Syndrom Ellis-van-Creveld-Syndrom

Verzögerte Zahneruption

Hypopituarismus Hypothyreoidismus Hypoparathyreoidismus Trisomie 21 Dysostosis cleidocranialis Tricho-dento-ossäres Syndrom Pyknodysostose Ektodermale Dysplasie

Vorzeitige Exfoliation

Histiozytose Hypophosphatasie Neutropenie Papillon-Lefèvre Syndrom Ehler-Danlos-Syndrom

..Abb. 31.1  Durchbruch des zweiten Prämolaren im Unterkiefer im Alter von 11 Jahren anstelle des bereits stark resorbierten zweiten Milchmolaren

Unterschiedliche systemische Erkrankungen und Syndrome können sowohl den Zeitpunkt der Eruption, als auch der Exfoliation beeinflussen. (. Tab. 31.1) 31.1.2

Bleibendes Gebiss

Die Eruptionszeiten der bleibenden Zähne variieren viel stärker als die der Milchzähne. Im Schnitt brechen die bleibenden Zähne bei Mädchen ca. 6 Monate früher durch als bei Jungen. Der erste Zahn der bleibenden Dentition ist der erste Molar der sich hinter dem letzten Milchmolaren einreiht. Voraussetzung für den Zahnwechsel ist die Resorption der jeweiligen Milchzahnwurzeln durch die blei­ benden Zahnkeime (. Abb. 31.1). Deren Mineralisation beginnt schon Jahre früher während der Eruptionsphase der Milchzähne. Der Zahnwechsel beginnt mit den unteren und oberen Front­ zähnen. Bis zum 12. Lebensjahr folgen Eckzähne, die beiden Prämo­ laren welche die Milchmolaren ersetzen und der zweite bleibende Molar. Die Eruptionsreihenfolgen im Ober- und Unterkiefer unter­ scheiden sich. 31.2

Kariösbedingte Zahnschäden

G. Krastl 31.2.1

Karies

Karies ist eine der häufigsten globalen chronischen Erkrankungen. Es handelt sich um eine biofilmvermittelte, zuckergesteuerte, multifak­ torielle, dynamische Erkrankung, die zur Demineralisierung und in der Folge zur Zerstörung von Zahnhartgeweben führt. Das Gleichge­ wicht zwischen pathologischen und protektiven Faktoren beeinflusst die Entstehung und das Fortschreiten der Karies. Insbesondere bei bestehender Xerostomie ist das Kariesrisiko maßgeblich erhöht. Die Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie zeigt, dass die ­Kariesprävalenz bei Kindern in den letzten 20 Jahren stark abge­ nommen hat. Demnach sind aktuell ca. 80% der 12-Jährigen karies­ frei. Problematisch ist die ungleiche Verteilung der Karieslast auf nur 20% der Kinder. Kinder, die keine regelmäßigen Kontrolluntersu­ chungen beim Zahnarzt durchführen lassen, haben 3-mal so viele Zähne mit Karies. Eine Sonderform der Karies im Milchgebiss ist die Sauger­ flaschenkaries („early childhood caries“), die bei Kleinkindern, die ununterbrochen an einer Flasche mit zuckerhaltigen Getränken ­nuckeln, auftritt (. Abb. 31.2). Hierzu gehören auch Fruchtsäfte, Milch, Kakaogetränke usw. Betroffen sind als erstes die Oberkiefer­

801 Zahnmedizin

..Abb. 31.2  4-jähriger Patient mit „early childhood caries“. Massive ­Zerstörung der Zahnhartsubstanz insbesondere in der Oberkieferfront und Fistelbildung

..Abb. 31.3  16-jähriger Patient mit Fluorose

frontzähne, die ständig von den kariogenen Flüssigkeiten umspült und innerhalb weniger Monate zerstört werden. Die Erkrankung ist vermeidbar, sofern auf süße Getränke weit­ gehend verzichtet wird und die Saugerflaschen Kindern nicht zum dauerhaften Gebrauch überlassen werden, insbesondere nicht vor dem Einschlafen. Aus kariologischer Sicht greift ein adäquates Betreuungskonzept in der Kinderzahnheilkunde bereits vor dem Einsetzen der Erkran­ kung ein und schließt Ernährungslenkung und eine effektive Pla­ quekontrolle mit ein. Die restaurative Versorgung kariöser Läsionen erfolgt vorzugsweise minimalinvasiv unter Anwendung adhäsiver Füllungstechniken. Trotz begrenzter Verweildauer in der Mund­ höhle ist die eine Behandlung kariöser Milchzähne immer erforder­ lich. Davon ausgehende periapikale entzündliche Vorgänge können sich negativ auf die in Entwicklung befindlichen bleibenden Zahn­ keime auswirken.

Fluoridtabletten aus zahnmedizinischer Sicht an Bedeutung ver­ loren. Ein präventiver Effekt ist allerdings durch das Kauen von ­Fluoridtabletten zu erwarten, besonders dann, wenn bleibende ­Zähne durchbrechen. Weitere mögliche Fluoridquellen sind fluori­ diertes Speisesalz, Mineralwasser, Spüllösungen und fluoridierte Kaugummis. Vor der Anwendung fluoridhaltiger Präparate sollte immer das Fluoroserisiko in Absprache mit dem Zahnarzt abgeschätzt werden. Fluorosen im Frontzahngebiet der bleibenden Dentition (. Abb. 31.3) können bei einer kontinuierlich durchschnittlich erhöhten Fluorid­ aufnahme innerhalb der ersten 3 Jahre entstehen.

31.2.2

Fluoridierungsempfehlungen zur ­Kariesprävention

Die wichtigste kariesprophylaktische Maßnahme ist die Fluoridan­ wendung. Es besteht Konsens, dass der Kariesrückgang bei Kindern und Jugendlichen in erster Linie auf den breiten Einsatz von Fluori­ den zurückgeführt werden kann. Entsprechend der S2-k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde wird ab Durchbruch der ersten Milchzähne die Anwendung einer geringen Menge fluoridhaltige Kinderzahnpasta (500 ppm F) zur Zahnpflege einmal am Tag empfohlen. Ab dem Alter von 2 Jahren sollte 2-mal täglich mit einer erbsengroßen Menge fluoridhaltiger Kinderzahnpasta geputzt werden. Nach Durchbruch der ersten ­bleibenden Zähne im Alter von ca. 6 Jahren sollte 2-mal täglich­ eine Erwachsenenzahnpasta verwendet werden. Generell sollte­ die Putzzeit 2 Minuten nicht unterschreiten. Da erfahrungsgemäß eine ­eigenständige, suffiziente Mundhygiene innerhalb der ersten 10 Jahre nicht realistisch ist, ist ein Überwachen und Nachputzen durch die Eltern ratsam. Gerade in den ersten Lebensjahren kann dadurch sichergestellt werden, dass keine toxikologisch relevanten Fluoridmengen verschluckt werden. Da der kariesprophylaktische Effekt vornehmlich auf die nach dem Zahndurchbruch auf die Zahnoberfläche einwirkenden Fluoride zurückzuführen ist und nicht wie früher gedacht auf das vor dem Zahndurchbruch eingebaute Fluorid, hat die systemische Gabe von

31

>> Fluoride hemmen die Demineralisation und fördern die Remi­ neralisation des Schmelzes und müssen regelmäßig lokal von außen zugeführt werden.

31.3

Säurebedingte Zahnschäden

G. Krastl Zahnerosionen entstehen durch Säuren die einen extrinsischen (z. B. erosive Nahrungsmittel oder Getränke) oder intrinsischen Ursprung (Magensäure) haben. Ab einem pH-Wert > Erosive Veränderungen der Zähne sind für den Zahnarzt ein Hinweis auf eine mögliche Essstörung.

31.4

Traumatischbedingte Zahnschäden

G. Krastl 31.4.1

Zahnunfälle im bleibenden Gebiss

Epidemiologische Studien zeigen, dass heutzutage jedes zweite Kind potenzielles Opfer eines Zahnunfalls ist. Zahnunfälle werden in Frakturen und Dislokationsverletzungen eingeteilt (. Tab. 31.2). Während Zahnfrakturen (. Abb. 31.4) entsprechend ihrer Lokalisa­ tion in Kronen-, Kronen-Wurzel- und Wurzelfrakturen eingeteilt werden, erfolgt die Klassifikation von Dislokationsverletzungen (. Abb. 31.5) nach Ausmaß und Richtung der traumatisch bedingten Auslenkung des Zahns aus seiner ursprünglichen Position. Zahnunfälle ereignen sich besonders häufig im 3. und 4. Lebens­ jahr (Milchzähne), zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr sowie um das 16. Lebensjahr, was mit unterschiedlichen Entwicklungsstadien bezüglich Bewegung und Verhalten korreliert („Laufen lernen, rau­ fen lernen, saufen lernen“). Obere mittlere Inzisivi sind wegen ihrer exponierteren Stellung am häufigsten betroffen. Dies gilt insbesondere bei labialer Front­ zahnstellung und Unterkieferrückbiss. Das Verhalten unmittelbar nach einem Zahnunfall ist für die Therapie und die Prognose des verletzen Zahns entscheidend. Dies gilt insbesondere für avulsierte Zähne. Wesentliche Voraussetzung für deren Erhalt ist eine hohe Überlebensrate desmodontaler Zellen auf der Wurzeloberfläche. Dies ist gegeben, wenn der Zahn unmit­ telbar nach dem Unfall in die Alveole replantiert wird oder der Zahn in einem geeigneten Transportmedium gelagert wird. Eine Zahnrettungsbox (z. B. Dentosafe, Medice, Iserlohn) ent­ hält ein Zellkulturmedium und bietet weitgehend ideale Bedingun­ gen, um die Vitalität der Zellen innerhalb von mindestens 24 Stun­ den zu erhalten. Während kalte H-Milch noch für wenige Stunden geeignet erscheint, wird Kochsalzlösung aufgrund fehlender Nähr­ stoffe diesbezüglich kritischer eingeschätzt. Gleiches gilt für Speichel wegen der hohen bakteriellen Kontamination und der hypotonen Eigenschaften. Fast ebenso ungeeignet wie eine trockene Lagerung ist das Aufbewahren in Leitungswasser.

..Tab. 31.2  Klassifikation von Zahnverletzungen Zahnfrakturen

Dislokationen

Schmelzriss: Sichtbarer Riss des Zahnschmelzes ohne Substanzverlust

Konkussion: Berührungsempfindlichkeit, keine erhöhte Mobilität

Kronenfraktur: Schmelz- oder Schmelz-Dentin-Fraktur mit möglicher Freilegung der Pulpa

Lockerung: Erhöhte Mobilität ohne Positionsänderung; Perkussionsempfindlichkeit, Blutung aus dem Sulkus möglich

Kronen-Wurzel-Fraktur: Bis in die Wurzel extendierte Kronenfraktur. Mobiles Kronenfragment ist oftmals noch palatinal an der Gingiva befestigt

Laterale Dislokation: Dislokation meist nach oral. Oftmals „Ver­ keilung“ in dieser Position oder deutlich erhöhte Mobilität bei erweiterter Alveole

Wurzelfraktur: Radiologfisch sichtbare horizontale bzw. schräge Fraktur der Zahnwurzel. Oftmals erhöhte Mobilität des koronalen Fragments ggf. mit Dislokation

Extrusion: Zahn erscheint verlängert bei erhöhter Mobilität

Intrusion: Zahn erscheint verkürzt. Verkeilung im Alveolarknochen bei metallischem Perkussionsschall Avulsion: Komplette Herauslösung des Zahns aus seiner Alveole

Diagnostik und Therapie unfallbedingter Zahnverletzungen ha­ ben in den letzten Jahren einen erheblichen Wandel erfahren. Wäh­ rend in der Vergangenheit das Zahntrauma von restaurativen Aspek­ ten geprägt war, fokussiert eine moderne, biologisch orientierte und auch wissenschaftlich abgestützte Traumatologie auf die Förderung von Wundheilungsvorgängen der verletzten Gewebe. So besteht z. B. die Möglichkeit, wurzelunreife nervtote Zähne im Sinn eines „Tissue Engeneering“ zu revitalisieren. Dabei wird unter dem Operationsmikroskop versucht über eine Blutung Stammzellen aus dem Bereich der apikalen Papille in den Wurzelka­ nal einzuschwemmen. Ist die Therapie erfolgreich, differenzieren sich diese Stammzellen zu Odontoblasten, und sorgen für ein weite­ res Wurzelwachstum. >> Bei schweren Dislokationsverletzungen bleibender Zähne (insbesondere Intrusion und Avulsion) wird ab dem 8. Lebens­ jahr die systemische Gabe von Doxyzyklin aufgrund der anti­ resorptiven Eigenschaften empfohlen.

803 Zahnmedizin

31.4.2

Zahnunfälle im Milchgebiss und Folgen für die bleibende Dentition

Ein Milchzahntrauma ist eine bei Kleinkindern häufig anzutreffende Verletzungsart. Für die Erstversorgung und für die weitere Therapie gelten­ aus biologischer Sicht für beide Dentitionen die gleichen Prinzipien. Allerdings steht die individuelle Behandlungs- und Belastungs­ fähigkeit des betroffenen Kindes oftmals einer optimalen Therapie entgegen. Aufgrund der engen anatomischen Lagebeziehung zwischen Milchzähnen und bleibenden Zahnkeimen sind unfallbedingte Ent­ wicklungsstörungen an Zähnen der zweiten Dentition möglich. >> Insbesondere schwere Milchzahndislokationen (z. B. Intru­ sionen) können erhebliche Fehlbildungen bleibender Zähne verursachen.

Diese Fehlbildungen entstehen auf der Höhe der zum Unfallzeit­ punkt aktuellen Kronen- oder Wurzelbildungszone. Bei einer axialen Stauchung des bleibenden Zahnkeims durch die Milchzahnwurzel kommt es zur sog. kalizotraumatischen Linie. Bei einer erheblichen nicht-axialen Stauchung kommt es zur Ver­ lagerung der bereits mineralisierten Zahnhartsubstanz und infolge­ dessen zur Dilazeration. Vor diesem Hintergrund ist es ratsam auch nach einem Milch­ zahnunfall möglichst zeitnah einen Zahnarzt aufzusuchen. Die be­ grenzte Verweildauer in der Mundhöhle lässt die Bemühungen um einen Erhalt traumatisierter Milchzähne oftmals in den Hintergrund treten. Zwar hat die im Seitenzahngebiet wichtige Platzhalterfunk­ tion der Milchzähne im Frontzahngebiet keine große Bedeutung, jedoch kann der Verlust eines Frontzahns der ersten Dentition so­ wohl die Sprachentwicklung als auch die psychische Entwicklung des Kindes beeinträchtigen. 31.4.3

Zahnverlust vor Abschluss ­ des Kieferwachstums

Ist trotz aller Bemühungen ein Verlust eines bleibenden Zahnes bei Patienten im Wachstum nicht zu vermeiden, müssen die nachfolgen­ den Therapieschritte sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Generell führt der Zahnverlust in Abhängigkeit des noch zu er­ wartenden Wachstums zu einer Wachstumshemmung des entspre­ chenden Kiefersegments. Über die Jahre betrachtet hat dies einen relativen Verlust an Knochen und Weichgewebe zur Folge, was eine

..Abb. 31.6  Oligodontie bei ektodermaler Dysplasie (4-jähriger Patient) (Foto: C. Casel, Würzburg)

spätere Implantatversorgung maßgeblich erschwert. In solchen ­Fällen ist neben kieferorthopädischen Therapieüberlegungen auch die Möglichkeit der Transplantation von Prämolaren oder ggf. ­Milcheckzähnen in Erwägung zu ziehen, um traumatisierte Zähne auf eine biologische Weise zu ersetzen. Komplexe Fälle erfordern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Spezialisten. Dies ist am ehesten in spezialisierten Einrichtungen (z. B. Zahnunfallzentrum Würzburg) gegeben. 31.5

Störungen der Zahnbildung

G. Krastl Abweichungen von der normalen Zahnentwicklung (. Tab. 31.3) können sowohl in der ersten als auch in der zweiten Dentition auf­ treten. Ist das Milchgebiss betroffen, besteht ein erhöhtes Risiko für vergleichbare Aberrationen im bleibenden Gebiss. Strukturstörun­ gen sind in den meisten Fällen auf den Zahnschmelz begrenzt und imponieren als Hypomineralisationen und Hypoplasien, die in ­Abhängigkeit von der Ursache ein spezifisches Erscheinungsbild aufweisen können. 31.5.1

Numerische Anomalien

Angeborene Variationen der Zahnzahl können als Teilsymptom von Syndromen auftreten. Am häufigsten treten Zahnunterzahlen auf. Es können einzelne (Hypodontie), viele (Oligodontie; . Abb. 31.6)

..Tab. 31.3  Übersicht der wichtigsten Störungen der Zahnbildung. (Mod. nach van Waes u. Stöckli 2001, Kühnisch et al. 2011) Numerische und lokale ­morphologische Anomalien

Exogen bedingte S ­ trukturstörungen

Endogen bedingte Strukturstörungen

Genetisch bedingte ­Strukturstörungen

Genetische Ursachen

Lokale Ursachen

Systemische Ursachen

Genetische Ursachen

Hyperdontie Hypodontie, Oloigodontie, Anodontie Makrodontie Mikrodontie Zahnfusion Zahngemination

Strukturstörung des bleibenden Zahns aufgrund apikaler Entzündung am Milchzahn Strukturstörung des bleibenden Zahns aufgrund Milchzahntrauma mit Verlagerung in den Zahnkeim Strukturstörung durch Strahlentherapie im Kopf-Hals-Bereich während der Zahnentwicklung

Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) Strukturstörungen induziert durch: - Medikamente (Tetrazykline, Chemotherapeutika), - Umweltgifte (Dioxine, Furane, Polychlorite Biphenole) Strukturstörungen induziert durch: - Mangelernährung - Vitamin-D-Mangel (Rachitis)

Amelogenesis imperfecta Dentinogenesis ­imperfecta Osteogenesis imperfecta Dentindysplasie

31

804

G. Krastl und A. Stellzig-Eisenhauer

..Abb. 31.7  Ausgeprägte Mineralisationsstörung an einem unteren ersten Molaren bei bestehender Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation

31

oder alle Zähne (Anodontie) in einer oder auch in beiden Dentitio­ nen fehlen. 31.5.2

..Abb. 31.8  Amelogenesis imperfecta (Foto: S. Soliman, Würzburg)

Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation

Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) ist eine endogen bedingte Strukturstörung weitgehend unbekannter Ursache, die pri­ mär die vier bleibenden ersten Molaren und die Frontzähne betrifft. Da die Amelogenese bei diesen Zähnen im letzten Schwanger­ schaftsmonat beginnt und sich bis zum 4. Lebensjahr hinzieht, kann die Störung der Zahnentwicklung auf diese Zeitspanne eingegrenzt werden. Es werden verschiedene ätiologische Faktoren diskutiert, darunter Probleme im letzten Schwangerschaftsmonat, frühkind­ liche Infektionskrankheiten und Antibiotikaeinnahmen, Dioxin­ belastung der Muttermilch und Trinken aus Plastikflaschen. Ein multifaktorielles Geschehen wird angenommen. >> Mit einer Prävalenz von fast 30% ist die Molaren-Inzisiven-­ Hypomineralisation in Deutschland inzwischen weiter ver­ breitet als die Karies.

Der Schmelz der Zähne ist aufgrund der unzureichenden Minerali­ sation porös, erscheint cremig-weißlich bis gelb-bräunlich verfärbt und bröckelt leicht ab (. Abb. 31.7). Aufgrund des hohen lokalen Kariesrisikos müssen die Kinder möglichst frühzeitig einer um­ fassenden Betreuung zugeführt werden. Die Versorgung der betrof­ fenen Zähne ist allerdings aufgrund einer erheblichen Hypersen­ sibilität selbst unter Lokalanästhesie eine große Herausforderung. Oftmals ist eine Behandlung in Intubationsnarkose erforderlich. 31.5.3

Amelogenesis imperfecta und ­Dentinogenesis imperfecta

Die Amelogenesis imperfecta (. Abb. 31.8) ist eine genetische be­ dingte Dysplasie des Schmelzes mit stark variierendem Erschei­ nungsbild. Dieses hängt primär davon ab, ob der Strukturstörung eine Hypoplasie, eine Hypomaturation oder eine Hypokalzifikation zugrunde liegt. Neben den kosmetischen Aspekten, ist bei einigen Formen insbesondere der schnell fortschreitende Substanzverlust problematisch und erfordert deswegen eine intensive zahnmedizini­ sche Betreuung. Bei der Dentinogenesis imperfecta (. Abb. 31.9) ist der Zahn­ schmelz nicht primär betroffen während das verfärbte Dentin durch den intakten Schmelz bernsteinfarben durchscheint. Morphologi­ sche Veränderungen an der Schmelz-Dentin-Grenze führen jedoch oft dazu, dass der Schmelz vom Dentin absplittert. Demzufolge kann

..Abb. 31.9  Dentinoogenesis imperfecta (Foto: S. Soliman, Würzburg)

bereits sehr früh umfangreicher zahnärztlicher Restaurationsbedarf bestehen. 31.6

Erkrankungen des Zahnhalteapparats: Gingivitis und Parodontitis

G. Krastl Erkrankungen des Zahnhalteapparats, bestehend aus Gingiva, Alve­ olarknochen, Wurzelzement und Wurzelhaut, beschränken sich bei Kindern meist auf eine oberflächliche Entzündung der die Zähne umgebenden Gingiva (Gingivitis). Sie bedrohen nur in sehr seltenen Fällen durch eine in die Tiefe reichende Entzündung die Stabilität und Integrität des gesamten Zahnhalteapparats (Parodontitis). Gingivale Entzündungen sind in der Regel mit dem Aufwach­ sen spezifischer bakterieller Biofilme auf den Zähnen assoziiert und durch eine effizientere häusliche Zahnreinigung rasch zum Ab­ klingen zu bringen. Gelingt dies nicht, sollte differenzialdiagnostisch das Vorliegen einer hämatologischen Ursache abgeklärt werden, da sich nicht selten Leukämien primär als auf verbesserte Mund­ hygiene resistente gingivale Entzündungen manifestieren. Wuche­ rungen der Gingiva mit teilweiser Überdeckung der klinischen ­Kronen der Zähne werden häufig bei Kindern beobachtet, welche zur Therapie bzw. Prävention von Anfallsleiden regelmäßig Anti­ konvulsiva wie Hydantoin einnehmen.

805 Zahnmedizin

31.7

Kieferorthopädische Frühbehandlung im Säuglingsalter und Milchgebiss

A. Stellzig-Eisenhauer Ziel der kieferorthopädischen Therapie ist es, Fehlstellungen von einzelnen Zähnen, von Zahngruppen sowie Kieferanomalien und Lagestörungen der Kiefer zueinander zu korrigieren. Kieferorthopädische Behandlungen werden in der Regel in der 2. Phase des Zahnwechsels, zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr durchgeführt, da in dieser Periode das Durchbruchspotenzial der Zähne sowie das skelettale Wachstum – v. a. das des Unterkiefers – ausgenutzt und beeinflusst werden können. a

b ..Abb. 31.10  Parodontitis bei vorliegender Neutropenie bei einer 7-jährigen Patientin. a Die Gingiva erscheint v. a. in der Unterkieferfront ent­ zündet. b Im Röntgenbild ist ein deutlicher marginaler Knochenabbau mit Furkationsbeteiligung der Milchmolaren sichtbar

Bereits im Kindesalter auftretende parodontale Entzündungen mit progredienter Zerstörung der Strukturen des Zahnhalteapparats sind meist die intraorale Manifestation einer hereditär-syndromalen oder erworbenen Störung der Funktionsfähigkeit des mukosalen Immunsystems (z. B. Leukocyte Adhesion Deficiency Syndrome, Papillon-Lefevre-Syndrom, Neutropenien . Abb. 31.10), Leukä­ mien). Ab Beginn der Pubertät ist auch das Auftreten der aggres­ siven Parodontitis zu beachten. Diese rasch progrediente Form der Parodontitis steht in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der systemischen Gesundheit der Betroffenen, zeigt aber eine familiäre ­Häufung und befällt inital meist nur die Inzisivi und 1. Molaren der bleibenden Dentition. Nach aktuellem ätiologischen Verständnis ist nicht die Masse der den Zähnen aufsitzenden Bakterien, sondern eine dysbiotische Verschiebung der Zusammensetzung der oralen Mikrobiota der zentraler Trigger parodontaler Entzündungspro­ zesse. Die Entstehung krankheitsförderlicher bakterieller Dysbiosen wiederum wird systemisch bedingten Störungen der Funktions­ fähigkeit des mukosalen Immunsystems zugeschrieben, die ent­ weder hereditär oder Folge chronischer Erkrankungen bzw. krank­ heitsförderlichem Fehlverhalten (Ernährung!) sind. >> Ausgeprägte Entzündungen des Zahnhalteapparates bei ­Kindern und Jugendlichen sind meist mit Erkrankungen des Gesamtorganismus assoziiert.

31.7.1

Gebissentwicklung/physiologisches Milchgebiss

Das physiologische Milchgebiss besteht aus 20 lückig stehenden Milchzähnen. Dabei überragen die oberen Schneidezähne die unte­ ren um die Hälfte und die unteren Schneidezähne berühren palatinal die oberen. Damit keine Engstände im bleibenden Gebiss entstehen, ist es wichtig, bei einem Verlust von Zahnhartsubstanz die ursprüngliche Zahnbreite mit konservierenden Maßnahmen (Füllungen) wieder­ herzustellen. Wurzelreste von Milchzähnen sind keine Lückenhalter, da sie die mesiodistale Breite der Zähne nicht rekonstruieren. Es ist dringend angeraten, diese zu entfernen, da von ihnen entzündliche Prozesse wie Abszesse und im Extremfall eine Kieferosteomyelitis ausgehen können. Bei frühzeitigem Verlust von Milchzähnen sollten die entstandenen Lücken im Rahmen einer Lückenhaltertherapie offen gehalten werden, damit der Platz für die bleibenden Zähne erhalten bleibt. Im Milchgebiss sind Veränderungen der Zahnzahl, Zahnstellung und der Kieferrelation selten, da sich exogene Faktoren und heredi­ tär bedingte Dysgnathien erst im Laufe der weiteren Gebiss- und Schädelentwicklung auswirken bzw. deutlicher ausprägen. Liegen Anomalien bereits im Milchgebiss vor, sollten sie kieferorthopädisch behandelt werden, wenn kein Selbstausgleich zu erwarten ist und die Gefahr besteht, dass sie sich mit dem Alter verstärken. Therapiebedürftige Anomalien im Säuglingsalter und Milchgebiss 55Offener Biss (wenn kein Selbstausgleich zu erwarten ist) 55Progener Formenkreis (Mesialbiss/Vorbiss) 55Lateraler Kreuzbiss 55Ausgeprägte Formen der mandibulären Retrognathie ­(Distalbiss/Rückbiss) mit ausgeprägter Frontzahnstufe und gestörtem Mundschluss 55Funktionelle Nachbehandlung bei Kiefergelenkfortsatz­ frakturen 55Angeborene Fehlbildungen –– Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten –– Faziale Dysplasien (z. B. Goldenhar-Syndrom) –– Evtl. syndromale Erkrankungen (z. B. Down-Syndrom: unterstützende Behandlung im Rahmen einer myofunktionellen Regulationstherapie)

31

806

31.7.2

G. Krastl und A. Stellzig-Eisenhauer

Offener Biss

Ursachen des frontal offenen Bisses sind insbesondere orofaziale Dysfunktionen, wie Lutschhabits, frontales Zungenpressen, fehler­

31

haftes Schluckmuster, Sigmatismus frontalis und Mundatmung. ­Seltener liegen dem offenen Biss systemische Erkrankungen zu­ grunde wie z. B. eine Rachitis. Kausaltherapeutische Maßnahmen wie das Abgewöhnen des Lutschens und die logopädisch-myofunktionelle Therapie der Fehlfunktionen stehen im Vordergrund. Im Allgemeinen ist bei frühzeitigem Abstellen der orofazialen Dysfunktionen ein Selbstaus­ gleich bereits aufgetretener Zahnfehlstellungen und/oder Kieferver­ formungen zu erwarten. Das Abgewöhnen des Lutschens sollte bis zum Ende des 3. Lebensjahres und die Umstellung eines infantilen Schluckmusters (die Zunge liegt beim Schlucken zwischen den Zahnreihen) auf ein somatisches Schlucken (Zunge liegt beim Schlu­ cken am Gaumen bei geschlossenen Zahnreihen) bis zum 4. Lebens­ jahr erfolgen. In Absprache mit dem Logopäden können bei der Therapie des offenen Bisses unterstützend kieferorthopädische Apparaturen eingegliedert werden. Dazu gehören Abschirmgeräte wie z. B. Mundvorhofplatten (. Abb. 31.11).

a

b

>> Das Abgewöhnen des Lutschens sollte bis zum Ende des ­ 3. Lebensjahres erfolgen. Ein infantiles Schluckmuster gilt in den ersten Lebensjahren als physiologisch, sollte jedoch zwi­ schen dem 3. und 4. Lebensjahr auf ein somatisches umge­ stellt werden.

31.7.3

Progener Formenkreis (Mesialbiss, ­Vorbiss)

j jDefinition Der progene Formenkreis weist ein heterogenes Erscheinungsbild auf. Seine Kennzeichen sind eine umgekehrte Frontzahnstufe (. Abb. 31.12) in Kombination mit einer gestörten Lagebeziehung der Kiefer – der Unterkiefer liegt in Relation zum Oberkiefer zu weit anterior. Die Schuld kann sowohl im Unterkiefer als auch im Oberkiefer liegen. So ist bei einer echten Progenie der Unterkiefer durch ein exzessives Wachstum prognath und verlängert. Diese Form ist h ­ äufig vererbt („Habsburger-Kinn“). Bei einer Pseudoprogenie hingegen ist der Oberkiefer retrognath und verkürzt, wobei sowohl exogene als auch endogene Faktoren, wie z. B. multiple Nichtanlagen von Zähnen, Traumen im Bereich des Oberkiefers, syndromal bedingte Mittelgesichtshypoplasien, wachs­ tumshemmender Einfluss der postoperativen Narbenzüge bei ­Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten, ursächlich sein können. j jDifferenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch muss ein frontaler Kreuzbiss ohne Lage­ störung zwischen Ober- und Unterkiefer (unechte Progenie) und ein progener Zwangsbiss, d. h. ein Abgleiten des Unterkiefers nach ­anterior durch Störkontakte, unterschieden werden. Auch diese For­ men sind bereits im Milchgebiss zu therapieren, da ansonsten eine skelettale Adaptation der Kiefer an die Fehlposition erfolgt. jjTherapie Da sich der Mesialbiss mit dem Wachstum verstärkt, sollte er bereits im Milchgebiss kieferorthopädisch behandelt werden. Ziel ist eine Wachstumsförderung des Oberkiefers und/oder basale Wachstums­

c ..Abb. 31.11  Offener Biss aufgrund von Dysfunktionen (frontales Zun­ genpressen, infantiles Schluckmuster). a vor Behandlung, b nach kieferortho­ pädischer Abschirmtherapie, c Mundvorhofplatte auf Modellen

hemmung des Unterkiefers mit Erreichen einer korrekten sagittalen und vertikalen Frontzahnstufe. Typische Behandlungsapparaturen im Milchgebiss sind Kopf-Kinn-Kappen oder Delaire-Masken (. Abb. 31.12). Während des Zahnwechsels sollte mit herausnehm­ baren Doppelspangen (funktionskieferorthopädische Apparaturen wie ein Bionator oder Aktivator) eine Wachstumsbeeinflussung ­erfolgen. Bei schwergradigen Formen einer echten Progenie oder einer Pseudoprogenie kann nach Abschluss des Wachstums eine kombi­ nierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Therapie zur Korrek­ tur der Kieferrelation notwendig werden. 31.7.4

Lateraler Kreuzbiss

Bei einem seitlichen Kreuzbiss besteht primär eine transversale ­Okklusionsstörung, bei der der Unterkiefer aufgrund eines meist zu schmalen Oberkiefers zur Seite gleitet. Ein schmaler Oberkiefer kann insbesondere bei Patienten mit orofazialen Dysfunktionen wie Fingerlutschen, Wangeneinsaugen, Mundatmung und hypotoner perioraler Muskulatur beobachtet werden. Der Kreuzbiss kann ­sowohl einseitig als auch beidseitig auftreten. Da die Gefahr der skelettalen Anpassung des Unterkiefers an die erzwungene Seitverlagerung besteht, ist eine kieferorthopädische

807 Zahnmedizin

b

a

a

d

..Abb. 31.12  Kieferorthopädische Therapie bei Progenie. a Delaire-Maske zur Wachstumsförderung des Oberkiefers, b Zustand vor ­Behandlung, c nach kieferorthopädischer Überstellung des umgekehrten Überbisses. ­ d Progenie-Aktivator

c

b

c

..Abb. 31.13  Kieferorthopädische Therapie bei lateralem Kreuzbiss. ­ a Einseitiger lateraler Kreuzbiss mit Abweichung des Unterkiefers nach rechts (Mittellinienabweichung zwischen Ober- und Unterkiefer), b trans-

versale Erweiterung des Oberkiefers mit einer Oberkieferdehnplatte, c nach kieferorthopädischer Behandlung

Behandlung mit Überstellung des transversalen Kreuzbisses bereits im Milchgebiss indiziert (. Abb. 31.13).

lung der Weichteile im Kiefergelenksbereich, Mundöffnungsein­ schränkungen und Störungen der Verzahnung. Bei Kindern mit Kiefergelenkfortsatzfrakturen wird häufig ein konservatives, kieferorthopädisches Vorgehen gewählt. Hierbei werden zur Entlastung der Frakturfragmente und zum Aufrichten der Gelenkfortsätze Doppelspangen (z. B. Aktivator, Bionator) ein­ gegliedert.

31.7.5

Mandibuläre Retrognathie (Retrogenie, Distalbiss, Rückbiss)

Bei einer ausgeprägten Unterkieferrücklage mit sagittaler Front­ zahnstufe von mehr als 10 mm sollte bereits frühzeitig eine kieferor­ thopädische Behandlung erfolgen. Ursachen einer extremen Distal­ lage des Unterkiefers können neben ausgeprägten Wachstumsstö­ rungen des Unterkiefers auch ein zu schmaler Oberkiefer sein, so­ dass sich der Unterkiefer nicht nach anterior entwickeln kann. Eine Förderung des Unterkieferwachstums und/oder transversale Erwei­ terung des Oberkiefers kann mit Hilfe von Doppelspangen (z. B. Aktivator, Bionator) und transversalen Dehnplatten für den Ober­ kiefer erfolgen. 31.7.6

Funktionelle Nachbehandlung von ­Kiefergelenkfortsatzfrakturen

Nach einem Sturz auf den Unterkiefer sollte immer an eine Fraktur, v. a. an eine Fraktur der grazilen Gelenkfortsätze gedacht werden. Eine Platzwunde am Kinn kann der erste Hinweis sein. Klinische Symptome sind des Weiteren: Druckempfindlichkeit und Schwel­

31.7.7

Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten

jjKlassifikation, Ätiologie Die zweithäufigste angeborene Fehlbildung stellen die Lippen-Kie­ fer-Gaumen-Segelspalten dar. In Mitteleuropa liegt die Inzidenz bei 1:500. Die Spaltbildung zeigt ein heterogenes Erscheinungsbild, sie reicht von der submukösen Mikroform bis hin zur totalen LippenKiefer-Gaumen-Segelspalte. Es werden einseitige, beidseitige (. Abb. 31.14) als auch mediane Formen unterschieden, die nach der LAHSHAL-Klassifikation einge­ teilt werden. Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten haben eine mul­ tifaktorielle Genese, sie können isoliert oder als Begleitsymptom syndromaler Erkrankungen auftreten. 44 Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten, 55Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten (ca. 50%), 55Lippenspalten und Lippen-Kieferspalten (ca. 25%), 44 isolierte Gaumen-Segelspalten (ca. 25%).

31

808

31

G. Krastl und A. Stellzig-Eisenhauer

..Abb. 31.14  Beidseitige Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalte

Während Jungen häufiger von Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten betroffen sind, treten bei Mädchen vermehrt isolierte Spalten im Gaumenbereich auf. Neben Beeinträchtigungen der dentofazialen Ästhetik kommt es häufig zu schwergradigen funktionellen Störun­ gen bezüglich der Atmung, der Ernährung, des Gehörs und der Sprache ebenso wie zu Veränderungen des Kiefer- und Gesichts­ schädelwachstums.

..Abb. 31.15  Zungenfehllage in den Spaltbereich

j jTherapie >> Die erfolgreiche Gesamtrehabilitation von Kindern mit ­Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten ist eine interdisziplinäre Aufgabe.

Dazu ist die Einbeziehung einer Vielzahl von Fachdisziplinen erfor­ derlich. Dem interdisziplinären Team sollten folgende Disziplinen angehören: Pädiatrie, Kieferorthopädie, Mund-Kiefer-Gesichts­ chirurgie, Pädaudiologie/Phoniatrie, HNO und Logopädie. Den Familien sollten außerdem im Rahmen der interdisziplinären Sprechstunde eine psychologische Betreuung und eine humangene­ tische Beratung ermöglicht werden. Bei Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten und isolierten Gaumen­ spalten mit Beteiligung des harten Gaumens ist es indiziert, bereits ab dem ersten Lebenstag eine kieferorthopädische Frühbehand­ lung mit Eingliederung einer Oberkieferplatte durchzuführen. Die Oberkieferplatte dient dazu, eine Einlagerung der Zunge in die ­Spalte zu verhindern (. Abb. 31.15) und das Wachstum der gespal­ tenen Kiefersegmente zu steuern, um eine Reduktion der Spaltbreite zu erzielen (. Abb. 31.16). In geringem Maße dient die Platte auch als Trinkhilfe. 31.7.8

Pierre-Robin-Sequenz

j jKlinik Die Pierre-Robin-Sequenz beschreibt ein Krankheitsbild mit man­ dibulärer Mikrognathie, Retrogenie in (Kombination mit einer Glossoptose) und einer breiten Gaumensegelspalte (. Abb. 31.17). !! Cave Das Zurückfallen der Zunge kann beim Neugeborenen zu ­lebensbedrohlichen obstruktiven Apnoen führen.

j jTherapie Zur Therapie schwergradiger Obstruktionen der oberen Luftwege werden in der Literatur vornehmlich invasive Methoden empfohlen,

a

b ..Abb. 31.16  Annäherung der Kiefersegmente vor Lippenverschluss­ plastik durch eine kieferorthopädische Frühbehandlung mittels Oberkieferplatte. a Kiefermodell bei Geburt, b Kiefermodell nach 6 Monaten

wie die Glossopexie (d. h. die operative Fixierung der Zunge am Alveolarfortsatz und Unterlippe), die Extensionstherapie (d. h. die Vorverlagerung des Unterkiefers nach Drahtumschlingung mittels Gewichten beim immobilisierten Säugling), die Unterkieferdistrak­ tion nach bilateraler Unterkieferosteotomie und als Ultima ratio die Tracheotomie. Alle diese Verfahren bringen jedoch gravierende Nachteile mit sich, wie Operationsrisiken, Infektionsgefahr, Wund­ heilungsstörungen, Pneumoniegefahr, Hospitalisierung, Ernäh­ rungs- und Sprachentwicklungsbehinderungen sowie extraorale Narben (. Tab. 31.4).

809 Zahnmedizin

..Abb. 31.18  Oberkieferplatte mit posterior-kaudaler Verlängerung zur Verhinderung der Glossoptose

..Abb. 31.17  Pierre-Robin-Sequenz mit extremer Unterkieferrücklage

In jüngster Zeit wird auch bei Kindern mit schwergradigen ­ bstruktionen der oberen Luftwege ein konservatives, kieferortho­ O pädisches Vorgehen mittels Plattentherapie propagiert. Ziel der kieferorthopädischen Behandlung ist es, eine Glossoptose zu verhin­ dern. Dies kann mit einer Oberkieferplatte mit posterior-kaudaler Kunststoffverlängerung oder Drahtextension erfolgen (. Abb. 31.18). Weitere Funktionen der Oberkieferplatte sind die Stimulation des

Unterkieferwachstums und die Normalisierung der Zungenlage. ­Parallel zur kieferorthopädischen Therapie sollte immer eine myo­ funktionelle Regulationstherapie nach Castillo Morales erfolgen. Bei Obstruktionstypen, bei denen sich entweder die lateralen Pharynxwände medial berühren oder sich der Hypopharynx zirku­ lär zusammenzieht, können Platten mit posterior-kaudaler Verlän­ gerung z. T. nicht ausreichend sein. Bei diesen Patienten wurden Platten erfolgreich eingesetzt, die über einen anpolymerisierten ­Tubus den Atemfluss garantieren (. Abb. 31.19). Die Sequenz der Plattenbehandlung ist bei diesen Kindern: 44 Platte mit Tubus, 44 Platte mit posterior-kaudaler Verlängerung, 44 Kürzen des Sporns, 44 Absetzen der Platte. Die Vorteile der gering invasiven kieferorthopädischen Platten­ therapie sind geringe Hospitalisierung, Verbesserung der Zungen­

..Abb. 31.19  Oberkieferplatte mit anpolymerisiertem Tubus

a

b

..Tab. 31.4  Komplikationen operativer Maßnahmen zur Therapie der Obstruktion oberer Luftwege bei Kindern mit Pierre-Robin-Sequenz Glossopexie

Unterkieferextension

Unterkieferdistraktion

Tracheotomie

Operationsrisiken (u. a. Schädigung anatomischer Strukturen)

x

x

x

x

Infektionsgefahr/Wundheilungsstörungen

x

x

x

x

Erhöhtes Pneumonierisiko

x

Hospitalisierung

x

Orale Ernährung behindert

x

Sprachentwicklung behindert

x

Extraorale Narben

x x x

x

31

810

G. Krastl und A. Stellzig-Eisenhauer

lage und ungestörte Sprechentwicklung. Wesentlich für den Erfolg der Plattentherapie ist die enge Kooperation zwischen Kieferortho­ pädie und Pädiatrie. Die korrekte Plattenanpassung gelingt nur unter ­endoskopischer Sicht, im Anschluss ist eine kinderintensivmedizini­ sche Überwachung erforderlich.

31

811

Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik Inhaltsverzeichnis Kapitel 32

Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik – 813 V. Mall, G. Hahn, R. v. Kries, O. Fricke

XIV

813

Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik V. Mall, G. Hahn, R. v. Kries, O. Fricke

32.1

Epidemiologie  – 814

32.1.1 Grundlagen und Definitionen  – 814 32.1.2 Prävention – Prophylaxe  – 815 32.1.3 Unfälle bei Kindern  – 816

32.2

Sozialpädiatrie  – 817

32.2.1 Einleitung und Definition  – 817 32.2.2 32.2.3 32.2.4 32.2.5

Entwicklungsauffälligkeiten  – 819 Behinderung und Inklusion  – 821 Therapieverfahren in der Sozialpädiatrie  – 821 Transkulturelle Pädiatrie  – 822

32.3

Kindesmisshandlung und -vernachlässigung  – 822

32.3.1 Definition und Epidemiologie  – 822 32.3.2 Rechtlicher Hintergrund  – 823 32.3.3 Schütteltrauma, „shaken baby ­syndrome“  – 823

32.4

Psychosomatische und psychische ­Störungen ­ im Kindes- und Jugendalter  – 825

32.4.1 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen ­ und Autismus-Spektrum-Störungen  – 826 32.4.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen  – 828 32.4.3 Frühe Regulations- und ­Interaktionsstörungen  – 829 32.4.4 Emotionale Störungen des ­ Kindesalters und Angst- und Zwangs­störungen  – 831 32.4.5 Elektiver Mutismus (F94)  – 834 32.4.6 Hyperkinetische Störungen ­(Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen, ADHS) (F90)  – 834 32.4.7 Tics und motorische Stereotypien (F95)  – 836 32.4.8 Belastungs- und Anpassungsstörungen (F43)  – 837 32.4.9 Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom  – 837 32.4.10 Dissoziative und somatoforme ­Störungen (F44)  – 838 32.4.11 Somatoforme Störungen (F45)  – 839 32.4.12 Essstörungen (F50)  – 840 32.4.13 Weitere psychische Störungen im ­Kindes- und Jugendalter  – 843

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_32

32

814

V. Mall et al.

32.1

Epidemiologie

R. v. Kries

32

In den letzten Jahrzehnten wurde zunächst eine „Epidemie“ allergi­ scher Erkrankungen und in jüngerer Zeit die von Adipositas disku­ tiert. Gab es die „Epidemie“ in Deutschland? Nehmen die Zahlen weiter zu? Woran lag das? Gut belegt ist die Zunahme von Asthma und Heuschnupfen in den 1970er bis 1990er Jahren u. a. in Daten aus den Schuleingangs­ untersuchungen. Der Zunahme liegt eine gut standardisierte Fall­ definition eines internationalen Expertengremiums (ISAAC) zu­ grunde. Seit 1992 ist es in Deutschland entsprechend dieser Fall­ definition jedoch nicht zu einer weiteren Zunahme gekommen. Als Grundlage der Zunahme wird die Hygienehypothese – ein zuneh­ mend steriles Lebensumfeld der Kinder in den Jahren der Zunahme – postuliert. Musterungsuntersuchungen der Geburtskohorten von ­1970–1979 zeigten, dass sich die Häufigkeit von Adipositas inner­ halb von 10 Jahren in allen Bildungsschichten fast verdoppelt hat. Bei den Schuleingangsuntersuchungen wurde bis ins Jahr 2000 eine Zunahme der Prävalenz von Übergewicht beobachtet – seither nicht mehr. Als Ursache werden gesellschaftliche Veränderungen wie ge­ ringere körperliche Aktivität und höhere Kalorienzufuhr angenom­ men. Die Ergebnisse der epidemiologischen Ursachenforschung ergaben konsistent u. a. hohen Fernsehkonsum als Beispiel eines zunehmend sedativen Lebensstils sowie hohen Softdrink- und „Fast Food“-Konsum ursächlich für die erhöhte Kalorienzufuhr. Diese Beispiele zeigen, dass es auch in Deutschland „Epidemien“ von Zivilisationskrankheiten gab, die abgeebbt sind. Beurteilbar wurden diese Trends durch klare Falldefinitionen bzw. messbare In­ dikatoren und Strukturen, im Rahmen derer diese Daten erhoben werden konnten. Erfasst wurde jeweils die Prävalenz der Erkrankun­ gen. Die zunehmende Häufigkeit chronischer Gesundheitsstörun­ gen beruht auf jährlich wiederholter Erhebung der Prävalenz. Diskutiert wird derzeit die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern in Deutschland (7 Abschn. 32.4). Dies ist nicht so ein­ fach zu beurteilen: Neue, verbesserte Diagnosekriterien, eine höhere Sensibilität der Ärzteschaft für eigentlich evidente, aber zuvor nicht wahrgenommene Symptome können eine Zunahme der Prävalenz dieser Erkrankungen suggerieren, ohne dass es zu einer Verände­ rung der „Biologie“ gekommen ist. >> Veränderungen der Lebensverhältnisse haben auch in Deutschland zu „Epidemien“ nicht übertragbarer Erkrankungen im Kindesalter geführt. Der Nachweis der Zunahme von Erkrankungen erfordert mehrere Messzeitpunkte, an denen die Erkrankung standardisiert und in identischer Weise erhoben wurde.

32.1.1

Grundlagen und Definitionen

Die Häufigkeit von Erkrankungen in Populationen wird üblicher­ weise als Verhältniszahl angegeben. Hierbei steht im Zähler die Zahl der Erkrankten und im Nenner die Zahl der Personen, die potenziell erkrankt sein könnten. Die Prävalenz einer Erkrankung beschreibt die Häufigkeit der Erkrankung in einer definierten Population zu einem definierten Zeitpunkt. Die wiederholte standardisierte, identische Erfassung der Prä­ valenz zu unterschiedlichen Zeitpunkten liefert Zeitreihen. Handelt

es sich um Erkrankungen mit unveränderter Überlebens- und Hei­ lungswahrscheinlichkeit können solche Zeitreihen Hinweise auf Veränderungen für das Erkrankungsrisiko geben. Das Risiko für das Auftreten von Erkrankungen wird idealer­ weise durch die (Erkrankungs)inzidenz beschrieben. Bei der Inzi­ denzbestimmung wird die Rate der Neuerkrankungen in einer ­bestimmten Population über einen definierten Zeitraum erfasst. So wurde gezeigt, dass die Inzidenz der Neuerkrankungen an Diabetes mellitus bei Kindern innerhalb der ersten 5 Lebensjahre in den letz­ ten 20 Jahren kontinuierlich angestiegen ist. Das Erkrankungsrisiko nimmt ungebremst zu. >> Zeitreihen für Krankheitsprävalenzen können unter bestimmten Bedingungen Veränderungen des Erkrankungsrisikos ­anzeigen. Inzidenzen sind ein Indikator des Erkrankungsrisikos.

Mortalität im Kindesalter Besonders wichtige Indikatoren der Gesundheit im Kindesalter sind Angaben zur Häufigkeit von Todesfällen, da diese im Kindesalter nie als „physiologisch“ anzusehen sind. Diese Zahlen zur Mortalität (Sterberate) werden systematisch durch die statistischen Landes­ ämter erfasst. Definition  Mit der Sterberate wird der prozentuale Anteil der ­ odesfälle in einem bestimmten Lebenszeitraum, üblicherweise ein T Kalenderjahr, bezogen auf die Gesamtbevölkerung oder auf Be­ völkerungsanteile (z. B. Säuglinge, Deutsche, Ausländer, Jungen, Mädchen) angegeben. Während Veränderungen der Mortalität für die Altersgruppe von 0 bis 100 Jahre kaum zu erwarten sind – bekanntlich sterben fast alle Menschen irgendwann in diesem Zeitraum – kann die Analyse der Mortalität bezogen auf jüngere Altersgruppen oder auf be­ stimmte Erkrankungen sehr aufschlussreich sein. So hat in Deutsch­ land z. B. die Mortalität im 1. Lebensjahr seit 1950 auf weniger als ein Zehntel abgenommen, während die Mortalität für Bronchial­ karzinome seit 1900 um den Faktor 100 zugenommen hat. Säuglingssterblichkeit  Die Säuglingssterblichkeit umfasst die Anzahl der Todesfälle im 1. Lebensjahr bezogen auf 1.000 Lebend­

geborene eines Jahrganges (‰; . Abb. 32.1). Die Säuglingssterblichkeit hat in den letzten 60 Jahren in Deutschland deutlich abgenommen. Während 1950 etwa jedes 18. lebendgeborene Kind im ersten Lebensjahr verstarb, war es 1960 noch jedes 30. und 2015 weniger als jedes 300. Kind. Damit – Säug­ lingssterblichkeit 3/1.000 – liegt Deutschland im Europäischen Ver­

60,0

Anzahl verstorbener Kinder / 1000 Lebendgeburten

50,0

40,0 30,0

20,0

10,0 0,0 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 ..Abb. 32.1  Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in Deutschland

815 Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik

..Tab. 32.1  Altersspezifische Sterberaten und häufigste Todes­ ursachen/100.000 im Kindesalter in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2015 (Kinder in der entsprechenden Altersgruppe) Todesursachen

Sterberate

Gruppe der unter 1-Jährigen

Gesamt: 329,2

1.  Perinatologische Ursachen

171,9

2.  Angeborene Fehlbildungen)

86,9

3.  SID (plötzlicher Kindstod)

17,4

Gruppe der 1- bis 5-Jährigen

Gesamt: 16,5

1. Unfälle

3,2

2.  Angeborene Fehlbildungen

3,1

3.  Bösartige Neubildungen

2,7

Gruppe der 5- bis 15-Jährigen

Gesamt: 15,8

1.  Bösartige Neubildungen

4,1

2.  Unfälle

3,5

3.  Angeborene Fehlbildungen

2,1

gleich im unteren Drittel. In einigen nordeuropäischen Ländern ist die Säuglingssterblichkeit mit derzeit 2/1000 noch geringer. Todesursachen  Die häufigsten Todesursachen im 1. Lebensjahr stehen im Zusammenhang mit Problemen in der Perinatalzeit (Frühgeburtlichkeit, Geburtskomplikationen etc.), gefolgt von Fehl­ bildungen und dem plötzlichen Kindstod. Infektionskrankheiten, vor 100 Jahren noch die bei weitem häufigste Todesursache im ersten Lebensjahr, gehören dagegen nicht mehr zu den 4 häufigsten Todes­ ursachen im 1. Lebensjahr (. Tab. 32.1). Der plötzliche Kindstod ist noch immer die dritthäufigste Ursa­ che für Todesfälle im ersten Lebensjahr, obwohl die Inzidenz des plötzlichen Kindstods seit 1990 auf ca. ⅓ abgenommen hat. Dies stand in zeitlichem Zusammenhang mit Empfehlungen, die Bauch­ lage als Regelschlaflage bei jungen Säuglingen zu meiden. Da ähnli­ che Beobachtungen auch in anderen Ländern gemacht wurden, in denen wie in Deutschland immer seltener junge Säuglinge zum Schlafen auf den Bauch gelegt wurden, erscheint es wahrscheinlich, dass die Vermeidung der Bauchlage als Regelschlaflage ursächlich mit der Abnahme der Inzidenz des plötzlichen Kindstods in Zusam­ menhang steht. Nach dem 1. Lebensjahr nimmt die Sterblichkeit deutlich ab, wobei die Kinder zwischen 5 und 15 Jahren am wenigsten gefähr­ det sind (. Tab. 32.1). Bei älteren Jugendlichen und jungen Erwach­ senen nimmt die Sterblichkeit wieder zu. Dies geht wesentlich auf das Konto von Unfällen, insbesondere Unfälle im Straßenverkehr.

Morbidität im Kindesalter Neben der Frage, woran Kinder wie häufig sterben, ist auch die nach den häufigsten Erkrankungen von Bedeutung. Hierzu gibt es je­ doch in Deutschland wenige Daten, die kontinuierlich und routine­ mäßig erhoben werden. Daten zur perinatalen/neonatologischen Versorgung von Neu­ geborenen und deren Behandlungsergebnissen werden ziemlich flächendeckend in Perinatal-/Neonatalerhebungen erfasst. Beson­ derer Vorteil dieser Erhebungen ist, dass nicht nur Daten zur Ergeb­ nisqualität (Überlebte ein sehr kleines Frühgeborenes? Hatte es eine

Hirnblutung?), sondern auch zur Prozessqualität (Wurde eine ­Kaiserschnittentbindung durchgeführt? Erfolgte eine Antibiotika­ therapie?) erfasst werden. Im Kinderkrebsregister werden umfassende Daten zur Inzidenz und zu Behandlungsergebnissen bei kindlichen Tumoren erhoben. In der KIGGS-Basiserhebung erfolgte von Mai 2003 bis Mai 2006 eine umfassende Querschnitterhebung zur Kindergesundheit in Deutschland. In einer repräsentativen Stichprobe an 17.641 Jun­ gen und Mädchen im Alter von 0–17 Jahren wurden Daten erhoben, u. a. anthropometrische, und Laborwerte gemessen und häufige ­Erkrankungen mit standardisierten Instrumenten erfragt, sodass Daten u. a. zur Prävalenz von Adipositas, allergischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter vorliegen (http://www. kiggs.de/). In der KIGGS-Welle-1, die 2009 begonnen wurde, folgte eine Nachbefragung von Kindern der Basiserhebung als Kohorten­ studie (Krankheitsverlauf, Neuauftreten von Erkrankungen) und eine erneute Querschnitterhebung (KIGGS-Welle-2, September 2014 bis August 2017), um zeitliche Trends erkennen zu können. Meldepflicht  Für ausgewählte Infektionskrankheiten besteht eine Meldepflicht bei Erkrankung (z. B. Meningokokkenmeningitis, In­ fluenzagrippe, Masern, Scharlach) oder Todesfall, sowie auch für Patienten, die Ausscheider von Krankheitserregern sind (Cholera,

Salmonellen, Shigellen). Die besondere Bedeutung dieser Zahlen liegt im Erkenntlichmachen von Trends. Zeitliche Trends zur Häu­ figkeit von Fallmeldungen im Rahmen der Meldepflicht werden zeitnah im Epidemiologischen Bulletin des Robert-Koch-Instituts berichtet und können unter [email protected] abgerufen werden. Grundsätzlich ist jeder Arzt angehalten, bei der Entlassung des Patienten aus dem Krankenhaus die Diagnose nach einem inter­ nationalen Erfassungsschlüssel (ICD-10) zu dokumentieren. Die Dokumentation nach ICD-10 gilt auch in der ambulanten Medizin. Da Honorarabrechnungen im Krankenhaus in Abhängigkeit von der verschlüsselten Diagnose erfolgen (DRG – „diagnosis related groups“), wird zunehmend mehr Sorgfalt auf diese Codierung ver­ wendet, sodass die Datenqualität eine Nutzung in Studien erlaubt. 32.1.2

Prävention – Prophylaxe

Bei der Prävention wird zwischen einer primären, sekundären und tertiären Prävention differenziert.

Primärprävention >> Ziel der Primärprävention ist es, das Auftreten der Erkrankungen zu verhindern.

Beispiele für die Primärprävention in der Kinderheilkunde sind u. a.: 44 medizinisch genetische Beratung, 44 Impfungen, 44 Rachitis-, Karies- und Vitamin-K-Prophylaxe, 44 Ernährungsberatung, Beratung zu altersspezifischen Unfall­ risiken. Die besondere Bedeutung der Impfungen in der primären Präven­tion ergibt sich daraus, dass hierdurch nicht nur das einzelne ge­impfte Kind sondern – bei ausreichend hohen Durchimpfungsraten – durch die „Herdenprotektion“ auch nicht geimpfte Kinder geschützt werden, weil diese dann keine Gelegenheit mehr haben, infiziert zu werden. Der Auftrag zur Durchführung der Impfungen wurde in den 1960er Jahren in Deutschland vom öffentlichen Gesundheitsdienst auf nie­ dergelassene Kinderärzte und Allgemeinärzte über­tragen.

32

816

32

V. Mall et al.

Die Impfungen sind freiwillig und es ist weitgehend vom ein­ zelnen Arzt abhängig, mit wie viel Engagement er „Impfskeptiker“ berät oder auch nicht. So sind die Durchimpfungsraten in Deutsch­ land z. B. gegen Masern in manchen Regionen noch unbefriedigend, sodass regionale Masernepidemien beobachtet werden. Sehr viel höhere Durchimpfungsraten wurden in den USA durch legislative Maßnahmen (die Aufnahme in Kindergarten und Schule erfordert den Nachweis einer vollständigen Immunisierung: „no shot, no school“) und in England durch aggressive Impfkampagnen in den Medien – im Fernsehen zur besten Sendezeit – erreicht. Primärprävention sollte aber nicht auf Impfungen und die pro­ phylaktische Verordnung von z. B. Vitamin D und Fluor begrenzt werden. Eine vorausschauende Gesundheitsberatung durch den Kinderarzt ist zu fordern, z. B. zu Ernährungsfragen und Aufklärung über altersspezifische Unfallrisiken. Diese ist seit 2016 Bestandteil der Empfehlungen GBA (gemeinsamer Bundesausschuss) und somit Arbeitsauftrag und Grundlage der Abrechnung der Früherken­ nungsuntersuchungen. Diese sind Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkassen.

..Tab. 32.2  Früherkennungsuntersuchungen im Kindesalter Früherkennungsuntersuchung

Zeitpunkt

U1

1. Lebenstag

U2

3.–10. Lebenstag

U3

4.–6. Lebenswoche

U4

3.–4. Lebensmonat

U5

6.–7. Lebensmonat

U6

10.–12. Lebensmonat

U7

21.–24. Lebensmonat

U7a

34.–36. Lebensmonat

U8

46.–48. Lebensmonat

U9

60.–64. Lebensmonat

J1

12.–14. Lebensjahr

Sekundärprävention Ziel der Sekundärprävention ist es, Erkrankungen so früh wie mög­ lich zu erkennen. Beispiele für die sekundäre Prävention sind das Tertiärprävention Neugeborenenscreening auf angeborene Stoffwechselstörungen­ >> Ist eine Krankheit bereits aufgrund ihrer klassischen Symptome und Endokrinopathien und die Früherkennungsuntersuchungen diagnostiziert worden, so zielt die Tertiärprävention auf die U1–U9, J1. Verhinderung der Spätfolgen der Erkrankung. >> Sekundärprävention ist also die Früherkennung von Krankheiten im subklinischen Stadium mit dem Ziel einer verbesserten Prognose.

Erkrankungen sollen durch die Sekundärprävention in einem so frü­ hen Stadium diagnostiziert werden, dass sie noch heilbar sind (z. B. Dystrophie, Minderwuchs, Hüftdysplasie) bzw. die Folgen der Er­ krankung verhindert werden (z. B. Screening für angeborene Stoff­ wechseldefekte, Hypothyreose, Hör- und Sehstörungen). Die hierzu notwendige Frühdiagnostik der Erkrankungen erfolgt innerhalb der entsprechenden Screening- bzw. Früherkennungsuntersuchungen. Im Kindesalter besteht ein gesetzlicher Rechtsanspruch (§ 20 SGB V) auf Sekundärprävention im Sinne einer Frühdiagnostik von Erkrankungen, deren Prognose bei frühzeitiger Diagnose besser als bei später Diagnose ist. Dieser Rechtsanspruch ist die gesetzliche Grundlage für das von den gesetzlichen Krankenkassen finanzierte Programm der Früherkennungsuntersuchungen im Kindesalter und des Neugeborenenscreenings auf Stoffwechselstörungen. Die in . Tab. 32.2 aufgelisteten Früherkennungsuntersuchungen wurden in Deutschland Anfang der 1970erJahre eingeführt und galten als Meilenstein in der Verbesserung der Prävention in der Kinderheilkunde. Die Akzeptanz dieser Untersuchungen durch die Eltern ist viel höher als die für fast alle Früherkennungsuntersuchun­ gen im Erwachsenenalter: im 1. Lebensjahr nehmen ca. 90% der Kinder die Früherkennungsuntersuchungen wahr, mit 6 Jahren sind es noch 70–90%. Eine deutlich geringere Akzeptanz findet derzeit noch die Jugendgesundheitsberatung (ca. 40%). Bei der Konzep­ tion dieses zusätzlichen Untersuchungsangebots wurde erstmalig neben der Frühdiagnostik von Gesundheitsstörungen auch der As­ pekt der Gesundheitsberatung z. B. zu Drogen und Sexualität als Aufgabe der ärztlichen Prävention explizit berücksichtigt. In einigen Bundesländern besteht nicht nur eine Verpflichtung zur Teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen, sondern es werden auch Maßnahmen unternommen, diese Verpflichtung durch „Tracking“, d. h. Überprüfung der Teilnahme und besondere Ein­ ladung bei Nichtteilnahme, umzusetzen.

In diesem Sinne ist das ganze Spektrum der Therapie chronischer Erkrankungen von Asthma über Diabetes und Mukoviszidose bis zum Rheuma Tertiärprävention der jeweils spezifischen Krankheits­ folgen. Unzweifelhaft ist z. B. der juvenile Diabetes nicht heilbar. Durch eine gute Therapie können jedoch die Spätschäden dieser chroni­ schen Erkrankung wie Retinopathie, Nephropathie und Neuropa­ thie weitgehend verhindert werden. Bei der Mukoviszidose ist es durch eine intensive Therapie möglich, die Prognose so zu verbes­ sern, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Betroffenen nicht mehr das Jugendalter, sondern bereits das frühe bis mittlere Erwachsenenalter darstellt. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Tertiärprävention letztendlich die Therapie aller chronischen Erkrankungen beinhaltet. Diese Langzeitbehandlung chronischer Erkrankungen wird ein immer wichtigerer Bestandteil der klini­ schen Pädiatrie. 32.1.3

Unfälle bei Kindern

In der Altersgruppe der 1- bis 14-Jährigen sind Unfälle die häufigste Todesursache. Betrachtet man die zeitliche Entwicklung der Unfall­ mortalität in den letzten 10 Jahren in Deutschland, wird deutlich, dass die unfallassoziierte Mortalität bei Kindern und Jugendlichen deutlich abgenommen hat (. Abb. 32.2). Da wenig dafür spricht, dass kindliches Verhalten oder die reifungsbedingte Fähigkeit der Kinder zur Wahrnehmung der Unfallgefahren sich in den letzten 30 Jahren wesentlich verändert haben, muss angenommen werden, dass Veränderungen der Lebensumwelt der Kinder wesentlich für diese Abnahme der unfallassoziierten Mortalität war. Es ist wahr­ scheinlich, dass legislative Maßnahmen z. B. zur Anschnallpflicht und Benutzung eines Kindersitzes im Auto und die Einführung ­kindersicherer Verschlüsse von Medikamenten und die bessere Kennzeichnung potenziell gefährlicher Haushaltsprodukte wie z. B. Geschirrspülmittel für Spülmaschinen hierzu beigetragen haben.

32

817 Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik

Auffällig ist aber die noch immer relativ hohe Unfallmortalität vom 1. bis zum 5. Lebensjahr. In dieser Lebensperiode spielen Un­ fälle im Verkehr nur eine untergeordnete Rolle. Sehr viel wichtiger sind Unfälle in Haus und Freizeit (. Tab. 32.3).

20

15 15–17

>> Unfälle sind nach dem ersten Lebensjahr die häufigste Todesursache im Kindesalter: im Kleinkindesalter insbesondere Unfälle im häuslichen Umfeld, bei Schulkindern überwiegend Unfälle im Straßenverkehr.

Der Vergleich mit den Unfallzahlen in anderen europäischen Län­ dern zeigt, dass für die Kinder dieser Altersgruppe die maximal er­ reichbare Reduktion von unfallassoziierter Morbidität und Mortalität noch nicht erreicht worden ist. Noch immer sterben in Deutschland mehr Kinder an Unfällen als z. B. in den skandinavischen Ländern. Eine Möglichkeit der Unfallprävention für Kinder dieser Altersgrup­ pe stellt die systematische, altersgerechte Aufklärung der Eltern über Unfallrisiken dar. Die altersspezifischen Unfallrisiken im Kindesalter sind sehr gut bekannt. >> Tödliche Unfälle sind potenziell vermeidbar, wie die deutliche Abnahme der unfallassoziierten Mortalität bei Kindern in den letzten 10 Jahren zeigt.

10 1–4 Jahre

2006

2007

2008

>> Unfälle sind keine Zufälle: durch eine Beratung zu alters­ spezifischen Unfallrisiken im Rahmen der Früherkennungs­ untersuchungen könnte potenziell die mit Unfällen im Kindes­ alter assoziierte Morbidität und Mortalität reduziert werden.

2009

2010

2011

2012

2013

2014

0

1 Die Altersklasse 15–17 Jahre wird erst ab dem Jahr 2008 nachgewiesen. Quelle: Todesursachenstatistik

..Abb. 32.2  Tödliche Unfälle im Kindesalter in Deutschland 2005–2014 bei Jungen. (www.destatis.de)

..Tab. 32.3  Zahl der in Folge von Unfällen verstorbenen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland im Jahr 2015 (Statistisches Bundesamt, Bonn) Unfallart

Die Annahme, dass Elternberatung im Rahmen einer vorausschau­ enden Gesundheitsberatung effektiv ist, kann aus einer systemati­ schen Analyse der verfügbaren Literatur abgeleitet werden. Die Mehrzahl der in dieser Zusammenstellung erfassten Arbeiten zeigte einen Einfluss einer Elternberatung auf das elterliche Bewusstsein hinsichtlich von Unfallrisiken und eine tatsächliche Reduktion die­ ser Unfallrisiken im Lebensumfeld des Kindes. Deshalb erscheinen größere Anstrengungen notwendig, um die Elternkompetenz hinsichtlich der Vermeidung von Unfallrisiken zu verbessern.

5

5–14 Jahre 2005

Die 10 wichtigsten Hinweise zur Vermeidung von Unfällen im Kindesalter  1. Vor und mit der Geburt eines Kindes Sicherheit in Wohnung und Garten anhand einer Checkliste kontrollieren  2. Kind beim Wickeln nie unbeobachtet lassen, notfalls auf den Boden legen  3. Auf den „Gehfrei“ (Lauflernhilfe) als Verwahrgerät ganz verzichten  4. In Kinderhaushalten keine Lampenöle, keine Tischdecken benutzen  5. Medikamente, Haushaltsartikel, Zigaretten und Alkohol ­kindersicher aufbewahren  6. Auf Gartenteiche, Biotope möglichst verzichten, mindestens ausreichend hohe Umzäunung bzw. Flachwasserzone und engmaschiges Gitter unter der Wasseroberfläche  7. Früh Schwimmen und das richtige Verhalten gegenüber Hunden lernen  8. Kinder im Auto oder mit dem Hund nie alleine lassen  9. Möglichst späte Anschaffung eines Fahrrads: erst Roller, dann Rad 10. Stets Helm und Schutzkleidung beim Sport für Eltern und Kind

Jahre1

Altersgruppe (in Jahren) > Die ärztliche Schweigepflicht steht der Informationsweiter­ gabe bei V. a. Kindesmisshandlung grundsätzlich nicht im Wege („Interessenabwägung im Notstand“) und die neuere Gesetzgebung schafft darüber hinaus zusätzliche Rechts­ sicherheit speziell für diesen Fall.

Im Umkehrschluss muss davon ausgegangen werden, dass Versäum­ nisse im Kinderschutz durch nicht erfolgte Informationsweitergabe, auch von juristischer Seite, zunehmend kritischer gesehen werden. 32.3.3

Schütteltrauma, „shaken baby ­syndrome“

Bei Kindern im 1. Lebensjahr findet die körperliche Misshandlung häufig durch zu heftiges Schütteln („shaken baby syndrome“) als impulsiver Ausdruck von Ärger und Aggression durch die betreu­ ende Person statt. Dabei wird der Säugling mit beiden Händen um den Thorax oder an den Oberarmen gehalten und in sagittaler Rich­ tung geschüttelt. Der Kopf schlägt nach vorn und hinten und wird in der jeweiligen Extremposition abrupt gestoppt. Bei diesem Be­ wegungsmuster bewirken komplexe Kräfte die Schädigung des Ge­ hirns. Durch die Verschiebung der einzelnen Gewebsschichten kommt es zu einem Abriss von Brückenvenen zwischen Schädel­ kalotte und Gehirn. Das führt zu den typischen in den Interhemis­ phärenspalt reichenden supra- und infratentoriellen subduralen Hämatomen (. Abb. 32.4), die sich im weiteren Verlauf in subdu­ rale Hygrome umwandeln. Durch einwirkende Scherkräfte kann es gleichzeitig zu intraparenchymatösen Einblutungen und einem ­fokalen Hirnödem kommen. Des Weiteren entstehen die patho­ gnomonischen retinalen Einblutungen. Diese können eine Woche nach Ereignis jedoch wieder resorbiert sein. Durch zusätzliches Aufschlagen des Schädels auf einen harten Untergrund kann es zu Kalottenfrakturen mit epiduralen Hämato­ men und Hirnkontusionen („shaken impact syndrome“) kommen (. Abb. 32.5, . Abb. 32.6, . Abb. 32.7). Weitere typische Verletzungs­ muster beim „shaken baby syndrome“ sind: 44 beidseitige Rippenserienfrakturen lateral und paravertebral dorsal durch Kompression des Thorax mit beiden Händen (. Abb. 32.8), 44 metaphysäre Kantenausrisse an den langen Röhrenknochen (besonders untere Extremität) durch gelenknahe grobe ­ Gewalt.

824

V. Mall et al.

..Abb. 32.5  Röntgenaufnahme des Schädels in 2 Ebenen. Berstungsfraktur der Schädelkalotte links parietal

32

..Abb. 32.6  CT des Schädels. Biparietale, die Sagittalnaht kreuzende Kalottenfraktur

..Abb. 32.7  MRT des Schädels. T2-gewichtete Sequenz mit wachsender Fraktur rechts parietookzipital (Pfeil) und eingeklemmtem Hirnparenchym subperiostal

..Abb. 32.8  Röntgenaufnahme des Thorax. 7.–9. Rippe links paravertebral mit kugelförmigem Kallus nach Fraktur (Pfeile)

825 Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik

Bei älteren Kindern treten nach Misshandlungen vorwiegend dia­ physäre Frakturen auf: 44 Querfrakturen der langen Röhrenknochen, 44 andere Frakturen bei diskrepantem Unfallmechanismus. Besonders auf Grund der schlechten Prognose des Schütteltraumas (Todesfolge in jedem 5. Fall, im Überlebensfall regulär schwerste körperliche und geistige Behinderung) sind Präventionsprogramme mit flächendeckender Aufklärung bereits in der Schwangerschaft und das Angebot von Schreibabyambulanzen von besonderer Rele­ vanz. jjDiagnostik Vor dem Hintergrund einer hohen Dunkelziffer kommt dem Erken­ nen von Kindesmisshandlung eine große Bedeutung zu. Neben grundsätzlichen Risikofaktoren (7 Übersicht) können sich Hinweise aus der Anamnese (7 Übersicht), der körperlichen Untersuchung, der Untersuchung des Augenhintergrunds (Netzhautblutung) und des Trommelfelles (Einblutung) ergeben. Der radiologischen Diag­ nostik kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, die Wahl des adäquaten bildgebenden Verfahrens ist ebenso entscheidend wie der zeitgerechte Einsatz. Risikofaktoren 55Unerwünschte, komplizierte Schwangerschaft 55Erst- und Letztgeborene 55Kinder mit Fehlbildungen oder Hirnschädigungen ­ (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, Meningomyelozele, ­Zerebralparese, Intelligenzminderung, Entwicklungsver­ zögerung usw.) 55Frühgeborene, insbesondere nach langer Inkubatorpflege 55Schreikinder, Kinder mit Regulationsstörungen 55Kinder mit längerer Unterbrechung der elterlichen Zuwendung (z. B. Adoptiv-, Pflege-, Heimkinder) 55Kinder mit Schulproblemen 55Mutter unter 18 Jahre oder alleinstehend 55Drogen oder Alkohol in der Schwangerschaft 55Gewalterfahrungen/Misshandlungserfahrung bei den Eltern, Gewaltbereitschaft innerhalb der Familie 55Gesetzeskonflikte 55Psychische Auffälligkeiten bei den Eltern

niellen Verletzungsmusters nach Schütteltrauma besitzt das MRT den höchsten Stellenwert mit der sichersten diagnostischen und gutachterlichen Aussagefähigkeit. Zum Beweis unterschiedlich alter Frakturen während des ersten Lebensjahrs muss das gesamte Skelettsystem in hoher Auflösung vollständig abgebildet werden. Dazu werden folgende einzelne Auf­ nahmen erstellt (. Abb. 32.9): 44 Schädel in 2 Ebenen, 44 Thorax a.p., 44 Wirbelsäule in 2 Ebenen, 44 Becken a.p., 44 Extremitäten a.p. (2. Ebene bei auffälligem Befund). Ein Babygramm, wobei in einem Röntgenbild der gesamte Körper aufgenommen wird, ist aufgrund der unzureichenden Beurteilbar­ keit nicht geeignet. Eine Skelettszintigraphie hat aufgrund der gerin­ gen Spezifität und hohen Strahlenbelastung keine Bedeutung mehr in der Diagnostik der Skelettverletzungen bei Verdacht auf Kindes­ misshandlung. Grundsätzlich sind die Differenzialdiagnosen zu be­ achten, um Fehlinterpretationen zu vermeiden (7 Übersicht). Radiologische Differenzialdiagnose bei ­Kindesmisshandlung Wichtig ist die umfassende Kenntnis der möglichen Differenzialdiagnose zu den Skelettveränderungen bei Kindesmisshandlung: 55Akzidentelle Traumen 55Geburtstrauma (Klavikula, Humerus) 55Frühgeborenenosteopenie 55Metabolische Erkrankungen (Rachitis, Menkes-Syndrom u. a.) 55Medikamente (MTX, Prostaglandin E u. a.) 55Infektionen (Osteomyelitis, Lues) 55Neuromuskuläre Erkrankungen (infantile Zerebralparese) 55Neoplasien (Leukosen, Histiozytosis X, Metastasen) 55Infantile kortikale Hyperostose (Caffey-Syndrom) 55Osteogenesis imperfecta

32.4

Psychosomatische und psychische ­Störungen im Kindes- und Jugendalter

O. Fricke Mögliche anamnestische Hinweise für ­Kindesmisshandlung 55Kinder werden nicht direkt, sondern verspätet vorgestellt 55Die Verletzung kann nicht plausibel erklärt werden 55Auffällige Über- oder Unterreaktion der Eltern auf Krankheitszeichen 55Häufiger Arztwechsel 55Hinweis für mehrzeitige Verletzungen

Die akute Bildgebung sollte beim instabilen Kind mit auffälliger Neurologie zum Nachweis von Schädelfrakturen, subduralen und intraparenchymatösen Blutungen und Ödem mit Mittellinienver­ lagerung mittels Schädel-CT unverzüglich durchgeführt werden. Die konventionelle Schädelröntgenübersichtsaufnahme hat in der akuten Diagnostik keinen sicheren Wert. Ebenso ist die Schädel­ sonographie bei Verdacht auf Kindesmisshandlung nicht aus­ reichend. Für die differenzierte Darstellung des komplexen intrakra­

Psychische Störungen sind häufige Phänomene und betreffen bis zu 20% der Kinder und Jugendlichen bis zum Erreichen des Erwachse­ nenalters. Die Besonderheit der Phänomenologie psychischer Stö­ rungen im Kindes- und Jugendalters ist ihre enge Verbindung zur Entwicklung des Individuums und ihre häufig starke Wechselwir­ kung mit körperlichen Funktionen und dem Auftreten somatischer Symptome. Aus diesem Grund bewährt sich für das Verständnis und die Versorgung zahlreicher psychischer Störungen ein biopsycho­ sozialer Ansatz im Kindes- und Jugendalter. Dieser Ansatz kann als Wechsel der Perspektive von einer primär auf das Organ zu einer mehr psychisch zentrierten Betrachtung in der Diagnostik und Be­ handlung von Störungen mit einer primär körperlichen Symptoma­ tik verstanden werden. Dieser Vorstellung liegt zugrunde, dass keine somatische Symptomatik isoliert aufritt, ohne dass ein psychisches Korrelat besteht, und vice versa, was dann als somato-psychisches Phänomen beschrieben werden kann. Im engeren Sinn werden unter psychosomatischen Störungen die Erkrankungen verstanden, bei

32

826

V. Mall et al.

32

..Abb. 32.9  Skelettröntgen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung im 2.–3. Lebensjahr, L links, R rechts

denen die somatische Symptomatik häufig im Vordergrund steht, obgleich soziale Faktoren und psychische Prozesse in der Pathoge­ nese einen zentralen Anteil einnehmen. Unter diesen Erkrankungen finden sich die Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und die Binge Eating Disorder), die dissoziativen und die somato­ formen Störungen. Aber auch emotionale und Angststörungen, Traumafolgestörungen und depressive Episoden zeigen im Kindesund Jugendalter häufig eine deutliche körperliche Symptomatik und können vom biopsychosozialen Ansatz profitieren. Eine Besonder­ heit im Verständnis der Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter ist die Notwendigkeit, den biopsychosozialen Ansatz vor dem Hin­ tergrund der Entwicklung des Kindes und seines sozialen Kontextes, der Familie, zu sehen. Im nachfolgenden Kapitel werden häufig ­hinter den genannten psychischen Störungen die dazugehörigen ­Bezeichnungen nach ICD-10 (Kapitel F) angegeben, da traditionell die Bezeichnung der Diagnosen nach ICD-10 in der täglichen Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie einen höheren Stellenwert als in den somatischen Fächern besitzt und Teil der multiaxialen Ver­ schlüsselung der Diagnosen ist.

32.4.1

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen und Autismus-Spektrum-Störungen

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen zeichnen sich durch das Auf­ treten einer qualitativen Beeinträchtigung in der sozialen Interak­ tion und Kommunikation und durch ein eingeschränktes Repertoire von Interessen und Aktivitäten mit sich wiederholendem und ste­ reotypem Verhalten aus. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen sind in ihrer Symptomatik von der normalen Entwicklung in den ersten 5 Lebensjahren abzugrenzen und zeigen keine spontane Tendenz der Rückbildung (7 Abschn. 32.2.2). Nach ICD-10 werden zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen der frühkindliche Autismus (der atypische Autismus u. a. hochfunktionale Autismus bzw. „High Functioning Autismus“), das Asperger-Syndrom und die sehr viel seltener auftretenden Formen der desintegrativen Störung des ­Kindesalters (Heller-Syndrom) und historisch betrachtet das RettSyndrom gezählt. Im DSM-5 wird nicht mehr zwischen einzelnen Entitäten der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sondern zwi­ schen Autismus-Spektrum-Störungen mit einem quantitativen Grad der Ausprägung im Phänotyp unterschieden. Bei den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen handelt es sich um eine ätiologisch hetero­ gene Gruppe von Entwicklungsstörungen mit einer deutlichen Jun­ genwendigkeit von ca. 5:1. Eine Reihe von genetisch bedingten Ent­

827 Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik

..Tab. 32.4  Genetische Syndrome mit dem gehäuften Auftreten einer autistischen Symptomatik Syndrom

Leitsymptom

Neurofibromatose Typ 1

Kutane Effloreszenzen (u. a. Cafe au laitFlecken)

Fragiles X-Syndrom

Faziale Stigmata, große Hoden

Angelman-Syndrom

Apraxie der Handfunktion, Theta-Rhythmisierung im EEG im Kleinkindalter, Kleinwuchs

Down-Syndrom

Syndromale Stigmata fazial (u. a. mongo­ loide Lidachse), an den Händen und Füßen (4-Finger-Furche, Sandalen-Furche), Kleinwuchs, muskuläre Hypotonie

Rötelnembryopathie (Entwicklungsländer)

Greg-Trias

West-Syndrom

BNS-Anfälle in der Vorgeschichte

Prader-Willi-Syndrom

SGA, Floppy infant, Trinkschwäche, später Hyperphagie, Kleinwuchs

Tuberöse Sklerose

Kutane Effloreszenzen (Adenoma sebaceum, ash-leaf spots, Koenen-Tumore)

wicklungsauffälligkeiten bzw. hirnorganischen Erkrankungen zeigt das Auftreten einer autistischen Symptomatik in der Entwicklung, von denen die häufigsten mit ihren Leitsymptomen in . Tab. 32.4 dargestellt sind. Die Prävalenz autistischer Störungen wird aktuell mit 0,5–1% angegeben, wobei der deutliche Anstieg der Prävalenz in den ver­ gangenen Jahrzehnten ursächlich nicht geklärt ist. Eine erhöhte Wachsamkeit in der Entwicklungsdiagnostik und ein verbessertes Entwicklungsscreening sind mit dem Anstieg der Prävalenz in Ver­ bindung zu bringen. In . Tab. 32.5 sind die Typen der häufigsten autistischen Syn­ drome in ihrem Phänotyp der geistigen Entwicklung und Sprachent­ wicklung gegenüber gestellt. Die im Kern bestehende Störung der Theory of Mind des Autis­ mus kann in Störungen der „Joint Attention“ (gemeinsame Auf­ merksamkeit) und der „zentralen Kohärenz“ gegliedert werden. Die Joint Attention beschreibt die Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit auf Objekte zu bündeln, die in der Aufmerksamkeit des kommuni­ zierenden Gegenüber stehen, ohne dass ein inhaltlicher Zusammen­ hang in der Kommunikation hergestellt wird. Die zentrale Kohärenz bezeichnet das Vermögen, aus unterschiedlichen Einzelheiten einen übergeordneten Zusammenhang auf der Grundlage inhaltlicher ­Gemeinsamkeiten herzustellen. Zentral kohärentes Denken steht konkretistischem gegenüber, welches häufig beim Autismus zu ­beobachten ist. Eine fehlende soziale Kohärenz ist beim Autismus häufig im Kontext einzelner sozialer Bezüge zu erkennen und stellt nicht selten die Grundlage für das Missverstehen sozialer Zusam­ menhänge dar. Symptome wie Störungen der zentralen Kohärenz und der Joint Attention lassen sich klarer erkennen, je deutlicher der Kontrast zu altersgemäß entwickelten kognitiven Prozessen her­ zustellen ist. Schwere geistige Entwicklungsstörungen im Rahmen einer geistigen Behinderung erschweren nicht selten die Wahrneh­ mung insbesondere einer gestörten zentralen Kohärenz. Eine fehlende Flexibilität des Verhaltens in sozialen Zusammen­ hängen, der stark ausgeprägte Hang zur Ritualisierung und das Auf­ treten stereotypen und sich wiederholenden Verhaltens sind typi­

..Tab. 32.5  Typen der autistischen Syndrome Autismus-Syndrom

Kognitive ­Entwicklung

Sprache

Frühkindlicher Autismus (F84.0)

Geistige Behinderung

Rezeptive Sprachentwicklungsstörung

Hochfunktionaler Autismus (F84.0)

Normale Intelligenz

Sprachentwicklungsstörung

Asperger-Syndrom (F84.5)

Normale oder überdurchschnittliche Intelligenz

Keine Sprachentwicklungsstörung, z. T. frühe Sprachentwicklung

sche Symptome für den Autismus, die jedoch keine hohe Spezifität für die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung haben, da sie z. B. auch bei psychotischen Störungen, Zwangsstörungen oder isolierten Intelligenzminderungen auftreten können. Die Sym­ ptomatik von Regulationsstörungen, insbesondere Schlafstörungen, ist nicht selten bereits ab dem ersten Lebensjahr zu beobachten. Bei bis zu 50% der Patienten mit einem Asperger-Syndrom treten ­komorbid Aufmerksamkeitsstörungen im Rahmen einer hyper­ kinetischen Störung bzw. einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperakti­ vitätsstörung (ADHS) auf. In Abhängigkeit mit der Schwere der ­Intelligenzminderung ist beim frühkindlichen Kanner-Autismus die Entwicklung von Epilepsien zu beobachten. Insgesamt sind bei bis zu 50% der Patienten mit einem frühkindlichen Autismus Paroxys­ men im EEG zu finden. Kinder- und Jugendliche mit einem Asper­ ger-Syndrom zeigen ebenfalls eine erhöhte Inzidenz für das Auf­ treten von Epilepsien, die häufig dem Spektrum der idiopathischen Partialepilepsien (Epilepsien mit zentrotemporale Spikes und Waves) zuzuordnen sind. jjDiagnostik Die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung ist primär eine klinische Diagnose, die auf Anamnese, Verhaltensbeobachtung und psychiatrischer Exploration beruht. Diese Maßnahmen kön­ nen durch standardisierte Fragebögen und Testverfahren ergänzt werden. In der standardisierten Diagnostik hat sich der Einsatz der Autism Diagnostic Observation Schedule (ADOS) und das ­Autism Diagnostic Inverview (ADI) allgemein etabliert. Das dia­ gnostische Aufarbeiten einer autistischen Entwicklung sollte immer in Ab­hängigkeit der Intelligenzentwicklung die Abklärung von Ur­ sachen einer geistigen Behinderung und aufgrund der erhöhten ­Inzidenz von Epilepsien eine elektrophysiologische Diagnostik um­ fassen. jjTherapie Autistische Entwicklungsstörungen werden im deutschsprachigen Raum meist in einem multimodal arbeitenden Behandlungssetting in Autismus-Therapie-Zentren behandelt. Neben heilpädagogi­ schen Elementen werden therapeutische Ansätze zur Verbesserung der Kommunikation und sozialen Anpassung eingesetzt. Einen be­ sonderen Stellenwert hat die Edukation der Eltern, da der Autismus eine nicht heilbare Entwicklungsstörung ist, die eine besondere ­pädagogische Herausforderung für betroffene Familien darstellt. Etablierte pharmakologische Strategien zur Behandlung des Autis­ mus bestehen derzeit nicht. Erethisches und aggressives Verhalten, eine hohe Impulsivität und Schlafstörungen werden häufig sympto­

32

828

V. Mall et al.

matisch mit Medikamenten im Off-label-Use behandelt (u. a. nie­ derpotente und atypische Neuroleptika, SSRI, Melatonin). 32.4.2

Umschriebene Entwicklungsstörungen

Umschriebene Entwicklungsstörungen werden im klinischen Alltag häufig als Teilleistungsstörungen bezeichnet und zeichnen sich durch Auffälligkeiten in spezifischen Entwicklungsbereichen auf dem Hintergrund einer altersgemäß verlaufenden allgemeinen ­motorischen und geistigen Entwicklung aus (7 Abschn. 32.2.2).

Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen (F80)

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Als umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache werden spezifische Beeinträchtigung der Sprachfertigkeiten beschrieben, die nicht durch eine sensomotorische oder eine fokale neurologische Störung, eine niedrige nonverbale Intelligenz oder für die Sprachentwicklung unzureichende psychosoziale Bedingungen (Deprivation) erklärt werden kann. Im ICD-10 wird zwischen den Artikulationsstörungen (F80.0) der Mundmotorik, den expressiven Sprachstörungen (F80.1), bei denen häufig eine Störung der Laut­ bildung (phonologische Störung) im Vordergrund steht und den rezeptiven Sprachstörungen (F80.2), einer primären Störung des Sprachverstehens, unterschieden. Es kann davon getrennt die Gruppe der erworbenen Aphasien, z. B. das Landau-Kleffner-Syndrom (LKS), betrachtet werden. ­Neben den unterschiedlichen Entitäten der Sprachentwicklungs­ störungen wird in der Terminologie der Begriff des „Late Talkers“ verwendet, der lediglich einen nicht dem chronologischen Alter ge­ mäßen Stand der Sprachentwicklung kennzeichnet. Der größere Teil der Kinder mit der Phänomenologie des „Late Talkers“ sind Kinder mit einer spät normalen Sprachentwicklung. Trotzdem sollte eine nichtaltersgemäße Sprachentwicklung frühzeitig zu differenzialdia­ gnostischen Überlegungen und diagnostischem Handeln führen. >> Die Überprüfung eines ausreichenden Hörvermögens gehört zur Basisdiagnostik bei Kindern mit einer auffälligen Sprachentwicklung.

Differenzialdiagnostisch müssen ferner tiefgreifende Entwicklungs­ störungen, eine Intelligenzminderung (80% der Kinder mit einer Intelligenzminderung fallen primär durch eine verzögerte Sprach­ entwicklung auf) und die häufigsten Komorbiditäten der Sprachent­ wicklungsstörungen (Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen, hyperkinetische Störungen, umschriebenen Entwick­ lungsstörungen schulischer Fertigkeiten, insbesondere des Lesens und Schreibens bei Kindern im Schulalter) bedacht werden. Wenn Symptome einer regressiv verlaufenden Sprachentwick­ lung oder eine Aphasie auftreten, so sollte eine elektrophysiologische Diagnostik zum Ausschluss eines LKS erfolgen. Das LKS ist ein spe­ zielle klinische Variante einer anlagebedingten zerebralen Reifungs­ störung („Hereditary Impairment of Brain Maturation“, HIBM), die sich mit Sprachentwicklungsstörungen unterschiedlicher Qualitäten manifestieren kann und im Elektroenzephalogramm durch zent­ rotemporale Spikes und Waves elektrophysiologisch charakterisiert ist. Bis zu 7% der Kinder werden bis zum Schulalter aufgrund ihrer sprachlichen Fertigkeiten in der Entwicklung auffällig, wobei eine Jungenwendigkeit von 3:1 besteht. Bei den Sprachentwicklungsstörungen wird in der Ätiologie von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen, die genetische, bio­ logische und psychosoziale Faktoren umfasst. Mit Ausnahme der epileptogenen Störungen der Sprachentwicklung stehen übenden

Verfahren der Sprachtherapie (Logopädie) in der Behandlung im Vordergrund, die bis zu einer Normalisierung der Sprachentwick­ lung bzw. bis zum Abschluss des primären Spracherwerbs durchge­ halten werden sollte.

Entwicklungsstörungen der motorischen ­Funktionen (UEMF, F82) Die Motorik umfasst alle zentral gesteuerten willkürlichen und un­ willkürlichen Bewegungen und tonische motorische Manöver, um der Schwerkraft oder den durch translationale oder rotierende Be­ wegungen hervorgerufenen Kräfte entgegenzuwirken. Es kann zwi­ schen der Grob- bzw. Körpermotorik, der Fein- oder Handmotorik, der Gesichts-, Sprech- und Haltemotorik des posturalen Systems unterschieden werden. Die „umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen“ (UEMF), im angelsächsischen Sprach­ raum auch als „Developmental Coordination Disorder“ (DCD) be­ zeichnet, ist durch ein nicht effektives Zusammenspiel unterschied­ licher Bereiche der Bewegungssteuerung (pyramidal, extrapyrami­ dal und cerebellär) in der Umsetzung altersgemäßer motorischer Aufgaben, sodass ein Bild der motorischen Ungeschicklichkeit (Clumsiness) entsteht, ohne dass eine umschriebene fokale neuro­ logische Symptomatik nachgewiesen werden kann. Aufgrund der wenig effektiven Motorik erscheinen die betroffenen Kinder in ihrer motorischen Entwicklung verzögert. Differenzialdiagnostisch müssen qualitative Störungen der ­motorischen Funktion im Kontext von Zerebralparesen oder neuro­ muskulären Erkrankungen ausgeschlossen werden, die ebenfalls durch eine verzögerte Entwicklung auffällig werden, jedoch be­ gleitend Störungen der Symmetrie der Motorik oder spezifische ­Pathologien im motorischen System (pathologische Reflexe, Chorea, Athetose etc.) aufweisen. jjDiagnostik Die Diagnostik der UEMF umfasst neben der Entwicklungsanam­ nese eine sorgfältige neurologische Untersuchung des Kindes und ergänzend die Untersuchung mit standardisierten Messinstrumen­ ten zur motorischen Funktion (z. B. Movement ABC). UEMF treten gehäuft als Komorbidität bei anderen umschriebenen Entwicklungs­ störungen und in Begleitung einer hyperkinetischen Störung und/ oder des Asperger-Syndroms auf. Aus diesem Grund sollten diese psychischen Komorbiditäten in den diagnostischen Prozess ein­ bezogen werden. Bisher liegen in der Literatur keine konsistenten Befunde zur Ätiologie der UEMF vor. Es wird von einem multi­ faktoriellen Geschehen ausgegangen, in dem genetische Faktoren, biologische und für das motorische Lernen bedeutsame Umge­ bungsbedingungen zusammen wirken. In der Behandlung der UEMF stehen unterschiedliche übende Verfahren im Vordergrund (u. a. sensomotorisch perzeptive Behandlung), die in ihrer Wirk­ samkeit und im Vergleich ihrer Effizienz bisher nur einem geringen Maß wissenschaftlich evaluiert wurden.

Umschriebene Entwicklungsstörungen ­ der schulischen Fertigkeiten (F81) Schulische Fertigkeiten sind in ihrer Quantifizierbarkeit in der ­Population der Kinder annähernd normal verteilt. Dem entspre­ chend zeigen sich in der Schule 16% der Kinder mit einem unter­ durchschnittlichen Ergebnis (mehr als 1 Standardabweichung [SD] unterhalb des Mittelwerts) in Lese-, Schreib- und Rechentests und 2,3% der Kinder mit gravierend schwächeren Leistungen (mehr als 2 SD unterhalb des Mittelwerts und per definitionem außerhalb der Referenz von ±2 SD um den Mittelwert). Wenn eine gravierende Schwäche in den schulischen Fertigkeiten nicht durch eine Intelli­

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genzminderung, eine körperliche Erkrankung wie z. B. eine Sinnes­ störung, emotionale Faktoren oder eine unzureichende Schulbil­ dung erklärt werden kann, so wird von einer umschriebenen Ent­ wicklungsstörung der schulischen Fertigkeiten gesprochen. Per de­ finitionem kann eine umschriebene Entwicklungsstörung der schulischen Fertigkeiten angenommen werden, wenn die erwartete Leistung in einer Fertigkeit um mehr als 2 SD niedriger als die auf­ grund des IQ erwartete Leistung ausfällt. Dieses Konzept wurde im Rahmen der „Isle of Wight“-Studie von Rutter und Kollegen (1976) erarbeitet. In den vergangenen 30 Jahren konnte in wissenschaftlichen Stu­ dien erarbeitet werden, dass der Entwicklung der phonologischen Bewusstheit eine wesentliche Bedeutung für die Voraussetzungen eines ausreichenden Erwerbs von Kompetenzen in der Schriftspra­ che zukommt. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass bei Kindern mit einer Rechtschreibstörung im Vorfeld gehäuft in der Entwicklung eine Sprachentwicklungsstörung, insbesondere der ex­ pressiven Sprache mit einer phonologischen Störung, zu beobachten ist. Weitere Voraussetzungen für einen Erwerb der Schriftsprache sind die Fähigkeiten eines schnellen Abrufs aus dem Langzeitge­ dächtnis und ein ausreichend gutes akustisches Kurzzeitgedächtnis als auch ausreichende Fähigkeiten der visuellen Aufmerksamkeits­ steuerung. >> Aus diesem Grund sind Sprachentwicklungsstörungen und ­visuomotorische Defizite Prädiktoren im Kindergartenalter, die auf eine spätere Störung im Erwerb der Schriftsprache hinweisen können.

Da Kinder mit einer hyperkinetischen Störung häufig Schwächen im auditiven Gedächtnis zeigen und gehäuft Sprachentwicklungsstö­ rungen haben, tritt eine hyperkinetische Störung gehäuft als Komor­ bidität zu einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung auf. Neben diesen klinischen Faktoren konnten in den vergangenen Jahren auch genetische Faktoren identifiziert werden, die das Risiko der Ent­ wicklung einer Störung der schulischen Fertigkeiten nicht allein er­ klären können, jedoch erhöhen. Das differenzierte Erlernen der Sprache, insbesondere der Kontakt mit vorgelesener Literatur, stellt einen protektiven Faktor für die Entwicklung von Entwicklungsstö­ rungen der Schriftsprache dar, sodass einer ausreichenden vorschu­ lischen Förderung der Kinder in den Familien und Kindergärten ein wichtiger Anteil in der Prävention von Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten zukommt. Die Diagnostik der Entwicklungsstörungen schulischer Fertig­ keiten beruht auf drei Kriterien: 1. Ausschluss einer Intelligenzminderung, 2. Der Prozentrang der untersuchten schulischen Fertigkeit sollte nicht höher als die 10. Perzentile liegen. 3. Die Diskrepanz des ermittelten IQ sollte mindestens 1,2 SD (entspricht einer T-Wertdifferenz von mindestens 12 Punkten) zur ermittelten Leistung in der schulischen Fertigkeit (Schrei­ ben, Lesen, Rechnen) betragen. Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich, dass die Diagnostik einer umschriebenen Entwicklungsstörung der schulischen Fertigkeiten die Abklärung der kognitiven Begabung (psychologische Leistungs­ diagnostik) und der Untersuchung der speziellen schulischen Fertig­ keit (Schreiben, Lesen, Rechnen) in einem an das Alter bzw. die schulische Bildung angepassten und normierten Testverfahren vor­ aussetzt. Im deutschsprachigen Raum sind für alle Stufen der schu­ lischen Bildung entsprechende Testverfahren zum Schreiben, Lesen und Rechnen verfügbar. Daraus ergibt sich, dass eine Entwicklungs­ störung schulischer Fertigkeiten erst im Schulalter diagnostiziert

werden kann, wenn die Referenzpopulation ein zu vergleichendes Maß an Fertigkeiten in der Schule erworben hat. Kinder und Jugendliche mit einer nachgewiesenen Entwicklungs­ störung der schulischen Fertigkeiten sollten einen Nachteilsausgleich in der Schule erhalten, um einen der Gesamtbegabung des Kindes entsprechenden Schulabschluss zu ermöglichen. Die schulische Um­ setzung des Nachteilsausgleichs variiert zwischen den B ­ undesländern, denen die Umsetzung der schulischen Versorgung obliegt. Kinder und Jugendliche mit einer Entwicklungsstörung der schulischen Fer­ tigkeiten haben Anspruch auf eine Versorgung durch die Jugendhilfe, welches im § 35a des SGB VIII (KJHG) geregelt ist. Meist erfolgt so die Finanzierung spezifischer Lernprogramme zu Verbesserung der betroffenen Fertigkeiten wie z. B. das Marburger-Eltern-Kind-Recht­ schreibtraining. Die Prognose einer Entwicklungsstörung der schuli­ schen Fertigkeiten ist im Wesentlichen vom Zugewinn in den betrof­ fenen Fertigkeiten in der Schullaufbahn, dem erreichten Schulab­ schluss und der Prävention vor dem Auf­treten komorbider psychi­ scher Störungen bzw. deren Behandlung gekennzeichnet. 32.4.3

Frühe Regulations- und ­Interaktionsstörungen

O. Fricke, V. Mall Unter dem Begriff der „Regulation“ wird beim Neugeborenen, Säug­ ling und jüngeren Kleinkind die Fähigkeit verstanden, nach dem Auftreten eines internen oder externen Reizes die innere Erregung regulieren zu können, um ein emotionales Gleichgewicht wieder herzustellen. Der Prozess der Regulation unterliegt einem Reifungs­ prozess, sodass die Möglichkeiten der kindlichen Regulation in ­Abhängigkeit des chronologischen Alters und der biosozialen Ent­ wicklung gesehen werden müssen. Unter einer frühen Regulationsstörung wird eine nicht altersgemäße Kapazität der Regulation im ersten Lebensjahr verstanden, die sich typischerweise als, isoliert oder in Kombination, auftretendes exzessives Schreien, eine Fütterund/oder Schlafstörung zeigt. Unterschiedliche Bedingungen kön­ nen zum Auftreten einer frühen Regulationsstörung führen, die meist nicht monokausal, sondern durch die Kombination unter­ schiedlicher Faktoren in der Entstehung und Persistenz der Symp­ tome gekennzeichnet ist. Angeborene Faktoren wie z. B. das kind­ liche Temperament können in Kombination mit biologischen Fak­ toren des zentralen Nervensystems, wie z. B. die Kapazität der Ver­ netzung und Verarbeitung von Reizen unterschiedlicher Modalitäten, und interaktionellen Prozessen zwischen Eltern und Kind zur Ent­ wicklung von Regulationsstörungen führen. Da Kinder mit einer perinatalen Schädigung des Gehirns häufig eine geringere Kapazität der Verarbeitung interner und externer Reize zeigen, treten Regula­ tionsstörungen bei Kindern mit einer Vorschädigung des Gehirns häufiger als bei organisch gesunden Kindern auf (7 Abschn. 32.2.2). Die Entwicklung der Fähigkeit der Regulation der kindlichen Emotionen kann nicht als unabhängiger Prozess von der Bindungs­ entwicklung gesehen werden. In diesem Zusammenhang ist die ­Validierung neu aufgetretener Reize durch das Kind ein entscheiden­ der Aspekt für das Entstehen einer adäquaten kindlichen Änderung von Emotion und Verhalten in Folge eines Reizes. Exemplarisch lässt sich dieser Prozess beim Füttern nachvollziehen. Neugeborene reagieren auf das Auftreten von Stimuli mit einer erhöhten Wachsam­ keit, vermehrten Aktionen in der Spontanmotorik und Schreien. Dieses Verhalten führt seitens der Eltern meist zur Zuwendung zum Kind und einer Bewertung des Stimulus, der zur primären Verhal­ tensänderung des Kindes geführt hat. Im nächsten Schritt unter­

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stützen die Eltern die Anpassung des Kindes an die neu aufgetretene Situation, in dem z. B. mit Füttern begonnen wird, wenn die Eltern zur Schlussfolgerung gekommen sind, dass das Schreien des Kindes durch Hunger bedingt war. Typischerweise würde das Kind an die Brust zum Stillen angelegt werden und parallel zum Stillen ein stabiler Haut- und Blickkontakt zwischen Mutter und Kind entstehen, sodass das Kind synchronisiert zum Stillen den psychischen Zustand der Mutter rezep­ tiert und es damit bei einer entspannten Situation zu einer positiven Validierung des Gefühls der Sättigung kommt. Führt kindliches Schreien aufgrund von Hunger zu einer ange­ nehmen sozialen Situation des Fütterns zwischen Kind und Eltern, so wird der Vorgang des Gefüttertwerdens vom Kind als lustverbun­ den erlernt. Im Laufe der Entwicklung können verstärkt soziale ­Phänomene während des Gefüttertwerdens als befriedigend und sättigend erlebt werden, sodass mit zunehmendem Alter neben der rein kalorischen Sättigung auch das Stillen sozialer und emotionaler Bedürfnisse zur Entstehung eines ausgeglichenen emotionalen Zu­ stands beim Kind während des Fütterns und Essens führt. Aus die­ sem systemischen Prozess der interaktionellen Verknüpfung von Reiz und Reaktion zwischen Eltern und Kind lässt sich gut verstehen, dass auch elterliche Störungen der Wahrnehmung, Dekodierung und Beantwortung kindlichen Verhaltens, z. B. eine postpartale ­Depression der Mutter, zu Störungen der kindlichen Reizverarbei­ tung und Regulation führen. Die Entstehung einer stabilen Bindung des Kindes an seine primären Bezugspersonen ist eine Vorausset­ zung zur Entwicklung altersgerechter Strategien der Regulation von Emotion und Verhalten, jedoch kein Garant für das Nichtauftreten von Störungen der Regulation, die eben auch vom kindlichen Tem­ perament, intakten Sinnesorganen und neuronalen Strukturen zur Wahrnehmung von Reizen und deren Verarbeitung abhängig ist.

Exzessives Schreien im Säuglingsalter Exzessives Schreien ist ein häufiges Phänomen, das von Eltern im Rahmen einer Vorstellung des Kindes in der kinderärztlichen Praxis vorgetragen wird. Unter exzessivem Schreien kann nach der 3erRegel nach Wessel eine durchschnittliche Schrei-/Unruhedauer von mehr als 3 Stunden pro Tag an durchschnittlich mindestens 3 Tagen der Woche über mindestens 3 Wochen verstanden werden. Für die Prävalenz des exzessiven Schreiens werden 15–30% in den ersten 3 Lebensmonaten und bei ca. 5–10% eine Persistenz über mehr als 3 Monate angegeben. Das Auftreten von exzessivem Schreien kann in einer Störung der altersangemessenen Regulationskapazität des Kindes auf erregende Stimuli auftreten, stellt aber kein spezifisches Symptom für eine Regulationsstörung dar. Aus diesem Grund bedarf der Bericht über ein exzessiv schreiendes Kind im ersten Lebensjahr einer detaillierten Anamnese und gründlichen körperlichen Unter­ suchung, um primär organische Ursachen für das häufige Schreien erkennen zu können. Organische Ursachen für exzessives Schreien 55Infektionen (z. B. Meningitis) 55Nahrungsmittelunverträglichkeit, z. B. Lactoseunverträglichkeit 55Gastroösophagealer Reflux 55Harntransportstörungen 55Gedeihstörung (Hunger an der Brust) 55Leistenbruch 55Atopien/Allergien 55Neurologische Erkrankungen 55Entwicklungsstörungen

Neben dem Ausschluss organischer Störungen und daraus resultie­ render Interventionen orientiert sich das ärztliche Handeln v. a. an der Kompensationsfähigkeit und dem Erschöpfungsgrad der Eltern und weniger an der Orientierung an der 3er-Regel nach Wessel. Die aus exzessivem Schreien resultierenden Erschöpfungszustände ­stellen einen Risikofaktor für Kindesvernachlässigung und Kindes­ misshandlung, insbesondere das Schütteltrauma dar. Entsprechend frühzeitig müssen unterstützende Maßnahmen aus dem Bereich der Frühen Hilfen oder eine direkte Zusammenarbeit mit dem Jugend­ amt etabliert werden.

Fütterstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter (F98.2) Unter einer Fütterstörung wird eine nicht primär organisch be­dingte anhaltende Unfähigkeit, adäquat zu essen und/oder die Rumination oder Regurgitation von Speisen in Kombination mit einer man­ gelnden Gewichtszunahme verstanden. Die Interaktion zwischen den Eltern und dem Kind sollte von den Eltern mindestens über 4 Wochen als durchgehend problematisch erlebt werden und typi­ scherweise jenseits des dritten Lebensmonats die einzelnen Episo­ den des Fütterns die Länge von 45 Minuten überschreiten und/oder zwischen den Episoden der zeitliche Abstand weniger als 2 Stunden betragen. Nicht selten tritt in Folge einer Fütterstörung ein nicht ausreichendes kindliches Gedeihen auf. Kleinkinder mit Fütterstö­ rungen zeigen häufig ein sehr wählerisches Verhalten in der Auswahl der Nahrungsmittel mit einer stark verweigernden oder oppositio­ nellen Komponente in der Interaktion mit den Eltern. In der Litera­ tur findet sich für das Auftreten von Fütterstörungen in den westli­ chen Industriestaaten eine Prävalenz von ca. 25% aufgrund von mütterlichen Angaben, der eine deutlich geringere Prävalenz einer objektivierbaren Gedeihstörung von bis zu 2% im ersten Lebensjahr gegenüber gestellt werden kann. jjDiagnostik Die Diagnostik einer Fütterstörung umfasst die differenzialdiagnos­ tischen Überlegungen zu organischen Ursachen nicht ausreichen­ den Gedeihens und Trinkens bzw. Essens oder Erbrechens (u. a. genetische Syndrome mit Gedeihstörung wie z. B. Prader-LabhartWilli-Syndrom, Schluckstörungen aufgrund einer neurologischen Erkrankung, gastroenterologische Störungen wie z. B. ein gastroöso­ phagealer Reflux oder bei älteren Kindern eine Gedeihstörung als Ausdruck einer Zöliakie nach Füttern von glutenhaltigen Nahrungs­ mitteln), eine Beschreibung der Verhaltensinteraktion zwischen Kind und Eltern während des Fütterns bzw. Essens und ggf. eine psychiatrische Diagnostik zum Erkennen begleitender psychischer Störungen wie z. B. einer Bindungsstörung, tiefgreifenden Entwick­ lungsstörung oder einer sich früh manifestierenden hyperkineti­ schen Störung. jjTherapie Wenn eine Fütterstörung nicht länger als 3 Monate besteht und nicht mit einer für die organische Entwicklung des Kindes akut bedrohli­ chen Gedeihstörung verbunden ist, so kann eine ambulante Behand­ lung erfolgen. Die Therapie einer Fütterstörung sollte als Elemente die Psychoedukation zur altersgerechten Ernährung eines Kindes, die Erläuterung des für die Betroffenen spezifischen Störungs­ modells, die Identifikation und Beseitigung von psychosozialen Be­ lastungen, das Erkennen und Fördern von selbstregulatorischen Fähigkeiten des Säuglings und eine Verhaltensmodifikation in der Interaktion zwischen Eltern und Kind beinhalten. Eine erfolgreiche Behandlung einer Fütterstörung setzt eine ausreichende aktive Mit­ arbeit der primären Bezugspersonen voraus.

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Der Einsatz von Videoaufzeichnungen zur positiv validierenden Kontrolle einer Verhaltensmodifikation kann ein nützliches Instru­ ment im therapeutischen Prozess darstellen. Es hat sich bewährt, den Umgang mit Situationen des Essens und Fütterns im Rahmen der Behandlung zu strukturieren. Mahlzeiten sollten zu festen Zeitpunk­ ten stattfinden und eine ausreichende Nahrungskarenz zur Ent­ wicklung von Hunger zwischen ihnen liegen. Die Mutter sollte die Kontrolle über ein dem Alter des Kindes adäquaten Angebot von Nahrung übernehmen, das Kind die Kontrolle über die aufgenom­ mene Nahrungsmenge aufgrund der kindlichen Analyse von ­Signalen des Hungers und der Sättigung. Durch dieses Vorgehen wird jegliche Form von Zwang oder Druck in der Essenssituation vermieden.

Schlafstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter (F51.9) Die Schlaforganisation unterliegt einem Entwicklungsprozess, so zeigt der Schlaf in den ersten Lebensmonaten Besonderheiten im Unter­ schied zur „reifen“ Schlaforganisation ab dem 6. Lebensmonat. Es fin­ den sich nur 3 Schlafphasen, die Schlafphasen sind kürzer, der ober­ flächliche REM-Schlaf, aus dem die Kinder leichter weckbar sind, nimmt 50% (im Unterschied zu 20% beim Erwachsenen) des Gesamt­ schlafs ein und die Schlafphasen verteilen sich gleichmäßig über Tag und Nacht. Erst etwa mit dem 3. Lebensmonat verlagert sich die Haupt­ schlafzeit in die Nacht. Auch der Schlafbedarf zeigt eine Altersabhän­ gigkeit, darüber hinaus v. a. aber auch eine hohe interindividuelle ­Variabilität. So liegt der mittlere Schlafbedarf eines 12-monatigen Kin­ des bei etwa 15 Stunden, schwankt aber von unter 12 bis 18 Stunden. Schlafstörungen bei Neugeborenen und Säuglingen im ersten Lebenshalbjahr sind häufig Dysregulationen des noch nicht gefestig­ ten Schlaf-Wach-Rhythmus des Kindes. Schlafstörungen ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres sind meist Chronifizierungen der Dysregulation durch eine die Dysregulation verstärkende Ver­ haltensinteraktion zwischen Kind und Eltern, die sich im gestörten Einschlafen und Durchschlafen des Kindes zeigt. In der Literatur wird für die westlichen Industriestaaten eine Prävalenz von ca. 30% für das Auftreten von Schlafstörungen bei Säuglingen und Kleinkin­ dern berichtet. Isolierte Schlafstörungen bei Kindern treten gehäuft in Familien mit psychosozialen Belastungsfaktoren, v. a. in Familien mit psy­ chisch erkrankten Eltern auf, da das elterliche Verhalten in der nicht ausreichenden Unterstützung oder auch Störung der noch nicht aus­ gereiften kindlichen Kapazitäten zur Erregungsregulation, die Grundlage für ein adäquates Einschlafen und Durchschlafen sind, einen wesentlichen Faktor darstellt. jjDiagnostik Die Diagnostik einer kindlichen Schlafstörung umfasst neben der differenzierten Erhebung der in der Familie etablierten Schlafhy­ giene differenzialdiagnostische Überlegungen zu primär organi­ schen Ursachen (z. B. Hydrozephalus, Erwachen aufgrund von Apnoen) des gestörten kindlichen Schlafs und zu psychischen Stö­ rungen der Eltern. Depressive Episoden mit einer gestörten Fein­ fühligkeit im Umgang, im Erkennen und Beantworten kindlicher Signale sind dabei eine häufige Ursache für die Entwicklung einer Schlafstörung des Kindes. Psychische Entwicklungsstörungen des Kindes wie z. B. eine tiefgreifende Entwicklungsstörung oder die frühe Symptomatik ­einer hyperkinetischen Störung sollten ebenfalls im Rahmen der Differenzialdiagnostik bedacht werden. jjBehandlung Die Behandlung einer kindlichen Schlafstörung kann meist in einem ambulanten Kontext erfolgen. Edukative Elemente zum kindlichen

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Schlaf (Entwicklungsprozess der Schlaforganisation, Variabilität des Schlafbedarfs etc.) und eine altersangemessene Schlafhygiene (kein Füttern nach dem 6. Lebensmonat in der Nacht, Einsatz eines Über­ gangsobjekts etc.) sind neben verhaltenstherapeutischen Strategien meist gut wirksame Maßnahmen in der Behandlung. Verhaltensthe­ rapeutisch können die Extinktion (eine angemessene ausbleibende oder verzögerte elterliche Reaktion, Checking, auf das kindliche Schreien) und elternkontrolliertes Aufwecken zur Übernahme der Stimuluskontrolle durch die Eltern eingesetzt werden.

Prognose und Langzeitfolgen von ­Regulationsstörungen Bei Kindern mit frühen Fütter- bzw. Essstörungen zeigen sich ­sowohl eine homotype als auch eine heterotype Kontinuität. Etwa 30–50% haben auch im Vorschulalter noch ein problematisches ­Essverhalten, wie stark selektives Essverhalten oder geringe Freude am Essen (­ homotype Kontinuität) und haben ein erhöhtes Risiko, Symptome wie Angst, Depression, psychosomatische oder soziale Probleme zu entwickeln. Darüber hinaus berichten etwa 25% der Eltern von ­Kindern mit hyperkinetischen Störungen bzw. ADHS retrospektiv von schweren Schlafproblemen im Säuglingsalter. Fami­liäre Belastungen wie psychische Erkrankungen der Eltern, eine dysfunktio­nale Eltern-Kind-Interaktion werden als Risikofaktoren für eine schlechte Langzeitprognose diskutiert. 32.4.4

Emotionale Störungen des ­ Kindesalters und Angst- und Zwangs­ störungen

Emotionale Störungen des Kindesalters (F93) Emotionale Störungen des Kindesalters (F93) stellen in ihrer Symp­ tomatik eine heterogene diagnostische Kategorie dar, die von den für das Erwachsenenalter typischen neurotischen Störungen abgegrenzt wird. Die diagnostische Kategorie der emotionalen Störungen um­ fasst v. a. Störungen mit einer primär ängstlichen Symptomatik wie die emotionale Störung mit Trennungsangst (F93.0), die phobische Störung des Kindesalters (F93.1), die Störung mit sozialer Ängstlich­ keit des Kindesalters (F93.2) und wird ergänzt durch die emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (F93.3), bei der eine dem Alter ­unangemessene Eifersucht auf Geschwister im Vordergrund des ­Störungsbildes steht. Für die emotionalen Störungen ist typisch, dass für das Entwicklungsalter spezifische emotionale Zustände betont auftreten, häufiger eine körpernahe Symptomatik wie Kopf- und Bauchschmerzen zu finden ist und Ängste wie z. B. Phobien nicht­ so scharf wie im Jugend- oder Erwachsenenalter den spezifischen Diagnosekategorien zugeordnet werden können.

Angststörungen und Phobien (F41) Angststörungen gehören mit einer Prävalenz von 6–20% zu den ­häufigeren psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Mädchen zeigen eine höhere Prävalenz im Bereich der Angsterkran­ kungen als Jungen, insbesondere bei Phobien, Panikstörungen und der emotionalen Störung mit Trennungsängstlichkeit. Spezifische Angststörungen treten zu bestimmten Entwicklungsphasen gehäuft auf, so z. B. die Angststörungen mit Trennungsangst im Kindesalter und die Panikstörungen im Jugendalter. Angststörungen sind meist gut behandelbare psychische Erkrankungen und sollten aufgrund der ungünstigen Entwicklungsprognose bei ausbleibender Behand­ lung adäquat versorgt werden. Leichte und mittelgradige Angst­ störungen remittieren häufig spontan und führen im weiteren Leben zu einem erneuten Auftreten von Angststörungen, mit Eintritt in das

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Jugendalter auch gehäuft zur Entwicklung einer depressiven Störung oder eines Substanzabusus. Angst ist ein Gefühl, das sowohl im Kontext gesunden Erlebens als auch als Symptom einer psychischen Störung, einer Angststö­ rung, auftreten kann. In einem kognitiv-behavioralen Verständnis der Angst entsteht der Affekt des „Ängstlich Seins“ durch die Kog­ nition, dass ein Mismatch zwischen dem Anspruch oder der Not­ wendigkeit eine Aufgabe erfolgreich zu bewältigen und der dazu notwendigen Kompetenz besteht. Diese Kognition kann im Abgleich mit der Realität stimmig sein, was typisch für entwicklungsgemäße Ängste ist. Ein Beispiel für eine entwicklungsgemäße Angst ist z. B. die Trennungsangst im Kleinkindesalter, wenn sie für einige Tage bis Wochen in der Phase des Eingewöhnens in den Kindergarten auftritt. Eine Angst wird erst dann zu einem Symptom einer psy­ chischen Störung, wenn sie länger bestehen bleibt und zu einer Funktionsbeeinträchtigung führt. Im Unterschied zu Erwachsenen, sehen Kinder häufig pathologische Ängste nicht als unbegründet an und sie sind häufiger mit somatischen Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen verbunden. Angststörungen führen typischer­ weise sowohl im Kindes- und Jugendalter als auch im Erwachsenen­ alter zu einem Vermeidungsverhalten, das sich bei Kindern in der Form von oppositionellem Verhalten, exzessivem Weinen und Schreien zeigen kann. Das heutige Verständnis zur Entwicklung von Angststörungen stützt sich auf ein multifaktorielles, biopsychosoziales Modell zum Verständnis der Entstehung dieser Störungen. Entscheidende ­Komponenten für die Entwicklung von Angststörungen sind eine genetische Veranlagung, das Temperament des Kindes (Verhaltens­ hemmung), elterliche Ängste, Muster der sozialen Interaktion im primären Lebensraum (Familie) wie z. B. Überbehütung und eine unangemessen hohe elterliche Kontrolle, eine unsichere Bindung zu Bezugspersonen und ein vermeidender Copingstil des Kindes bei Anforderungen. Typisch für Kinder mit Angsterkrankung ist eine im Vergleich zu gesunden Kindern veränderte Informationsverarbeitung, die ­selektiv die Aufmerksamkeit auf Schemata der Gefahr lenkt und eine Übertragung dieser auf die Wahrnehmung der Außenwelt fördert. In der Folge werden Gefahren überbewertet, die Möglichkeiten des eigenen Copings unterschätzt und eigenständiges Handeln zur Ab­ wehr der empfundenen Gefahr unterbunden. Dieses Verhalten führt zur Wahrnehmung einer geringen eigenen Wirksamkeit im Umgang mit Anforderungen und kann Beginn einer erlernten Hilflosigkeit und damit Grundstein einer späteren depressiven Störung sein. Im biologischen Verständnis zur Entwicklung von Angststörun­ gen wird ein Ungleichgewicht hemmender (GABA) und aktivieren­ der (Noradrenalin) Transmittersysteme im Zusammenspiel mit Dysfunktionen im serotonergen System (5-HT) diskutiert. Angststörungen sind häufig keine isoliert auftretenden psychi­ schen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Es bestehen Komorbi­ ditäten innerhalb der Angststörungen (30%), zu den depressiven Störungen (30%) und zu einem späteren Substanzabusus mit Beginn in der Pubertät (v. a. Alkohol und Medikamente). Für die Tren­ nungsangst ist eine erhöhte Komorbidität zur Störung des Sozialver­ haltens (30%) und zu hyperkinetischen Störungen bzw. zum ADHS (25%) beschrieben worden. k kEinteilung der Angststörungen nach ICD-10 44 Panikstörung (F41.0): Es treten wiederkehrende Angstattacken in unterschiedlichen Situationen auf, die von einer starken ­vegetativen Symptomatik (Herzklopfen, Brustschmerz, Schwindel, Erstickungsgefühl) begleitet werden und rasch zur Entwicklung einer Erwartungsangst führen.

44 Generalisierte Angststörung (F41.1): Es tritt frei flottierende Angst mit vegetativer Begleitsymptomatik an den meisten ­Tagen der Woche über mehrere Wochen auf. Typisch sind Kog­ nitionen, die Befürchtungen über das Eintreten eines zukünfti­ gen Unglücks, das Auftreten von Problemen in der Schule oder sozialen Schwierigkeiten umfasst. 44 Angst und depressive Störung gemischt (F41.2): Angst und eine depressive Symptomatik bestehen nebeneinander, ohne dass die Diagnose einer Angststörung oder einer depressiven Episode alleine vergeben werden können. 44 Emotionale Störung mit Trennungsangst im Kindesalter (F93.0): Charakteristisch ist die Entwicklung einer Angst vor der Trennung von den wichtigsten Bezugspersonen, die erst­ mals vor dem 6. Lebensjahr auftritt und aufgrund in ihrer Schwere und Dauer (länger als 4 Wochen) zu einer Beeinträch­ tigung sozialer Funktionen führt. 44 Agoraphobie (F40.0): Ängste bei der Agoraphobie konzentrie­ ren sich darauf, die eigene Wohnung zu verlassen, Geschäfte zu betreten, sich auf öffentliche Plätze oder in eine Menschen­ menge zu begeben oder alleine zu reisen. Es treten Ängste auf, in der Öffentlichkeit hilflos zu sein, die durch das Auftreten ­vegetativer Symptome verstärkt werden und zur Panik führen können. 44 Soziale Phobie (F40.1): Die Kernsymptomatik betrifft die Furcht, in kleineren Gruppen der prüfenden Beobachtung ­ausgesetzt zu sein und zeigt als Begleitphänomene Erröten, Vermeidung von Blickkontakt, Übelkeit, Zittern und einen ge­ steigerten Drang zum Wasserlassen. Soziale Phobien können zum Rückzug und zur sozialen Isolation führen. 44 Spezifische Phobie (F40.2): Die Ängste fokussieren sich auf Objekte und Situationen, die in umschriebenen Entwicklungs­ phasen allgemein bei Kindern zu Ängsten führen können (Hunde, imaginäre Gestalten wie z. B. Gespenster), aber für das vorliegende Entwicklungsalter in ihrem Ausmaß das Normale überschreiten. 44 Phobische Störung im Kindesalter (F93.1): Die Ängste fokus­ sieren sich auf Objekte und Situationen, die in umschriebenen Entwicklungsphasen allgemein bei Kindern zu Ängsten führen können (Hunde, imaginäre Gestalten wie z. B. Gespenster), aber für das vorliegende Entwicklungsalter in ihrem Ausmaß das Normale überschreiten. 44 Störungen mit sozialer Überempfindlichkeit im Kindesalter (F93.2): Es tritt eine ausgeprägte und anhaltende Angst ge­ genüber Personen außerhalb der Kernfamilie auf, sodass ­Beziehungen selektiv entstehen und die Entwicklung sozialer Beziehungen deutlich beeinträchtigt. Die Angst kann sowohl gegenüber Erwachsenen als auch Gleichaltrigen auftreten. jjDiagnostik Psychologische Diagnostik  Die Exploration des Patienten kann

um eine standardisierte Diagnostik mit Fragebögen ergänzt werden. Umfassender als die Fragebogendiagnostik ist der Einsatz eines ­klinischen Inventars. Wenn Ängste mit Bezug auf die Schule auftre­ ten oder ein Leistungsabfall in der Schule in Zusammenhang mit der Entwicklung der Störung aufgetreten ist, sollte eine psychologische Leistungsdiagnostik durchgeführt werden.

Somatische Diagnostik  Die somatische Diagnostik bei Angststö­ rungen fokussiert sich im Wesentlichen auf vegetative Symptome (Tachykardie, Schwitzen) und Sinnesstörungen (Sehstörungen, Schwindel), die sowohl bei der Entwicklung von Ängsten als auch bei primär organischen Erkrankungen zu finden sind. Primär orga­

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nische Erkrankungen mit vegetativen Symptomen (z. B. Hyperthy­ reose) können Differenzialdiagnosen aber auch bahnende Faktoren zur Entwicklung einer Angststörung (z. B. Panikstörung) sein. Differenzialdiagnosen  Differenzialdiagnostisch sollten sowohl

psychische Störungen als auch primär somatische Erkrankungen in das Kalkül gezogen werden. Angstsymptome und Vermeidungs­ verhalten sind häufig auch im Rahmen von posttraumatischen ­Belastungsstörungen, tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und psychotischen Erkrankungen zu finden. Eine innere Unruhe kann sich auch bei einfachen Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen, depressiven Episoden und bipolaren affektiven Störungen finden. In der organischen Diagnostik sollte an kardiologische Erkrankungen mit Arrhythmien, die Hyperthyreose, Asthma, Migräne, Epilepsien und substanzspezifische Wirkungen (Medikamente, Koffein, Intoxi­ kation mit Blei) gedacht werden.

jjTherapie Angststörungen, die zu einer mittelgradigen oder schweren Beein­ trächtigung der Funktionalität führen, sollten durch Einbeziehen eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder eines ­Kinder- und Jugendpsychiaters behandelt werden. Die kognitive Verhaltenstherapie ist ein in der Behandlung von Angststörungen etabliertes Verfahren und ist effektiver in der Einzel- als in der Grup­ pentherapie. Sie umfasst zusätzlich zur Psychoedukation das Trai­ ning im Umgang mit somatischen Beschwerden (Entspannung, Atmung, Selbstbeobachtung), die kognitive Umstrukturierung (Ver­ änderung negativer Erwartungen und Selbstverbalisation), die ­Exposition (in sensu und in vivo in Schritten entlang der Angsthie­ rarchie) sowie die Rückfallprophylaxe. Die Behandlung sozialer Phobien sollte zudem um ein soziales Kompetenztraining ergänzt werden. Meist können Angststörungen ambulant behandelt werden. Bei Störungen mit Trennungsangst oder wenn die Exposition ambu­ lant nicht aufrechterhalten werden kann, ist die teil- oder vollstatio­ näre Behandlung sinnvoll. Wenn sehr schwere Verläufe oder ein nicht ausreichendes An­ sprechen auf die psychotherapeutische Behandlung vorliegen, kann eine medikamentöse Behandlung ergänzend erfolgen. Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) sind Medikamente der ersten Wahl und die therapeutischen Effekte für generalisierte Angststörungen und Trennungsangststörungen in Studien gut be­ legt worden. Kurzzeiteffekte sind auch für alle anderen Angststörun­ gen nachgewiesen worden. Ein Absetzen der Medikation sollte 1 Jahr nach Beginn der Beschwerdefreiheit erfolgen. Benzodiazepine sind nur in akuten Krisen hilfreich (z. B. Lorazepam) und sollten aufgrund ihres Abhängigkeitspotenzials keinesfalls mittel- oder län­ gerfristig eingesetzt werden.

Zwänge und Zwangsstörungen (F42) Zwangsstörungen sind mit einer Prävalenz von 1–4% seltener als Angststörungen im Kindes- und Jugendalter anzutreffen und zeigen bei Kindern eine höhere Prävalenz für Jungen als für Mädchen, die sich mit Eintritt in das Jugendalter angleicht. Das passagere Auftre­ ten von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken in normalen Ent­ wicklungskrisen ist von der Entwicklung einer Zwangsstörung zu unterscheiden. Meist treten Zwangsgedanken zusammen mit Zwangshandlungen auf und nicht immer können klare Befürchtun­ gen geäußert werden. Unter Zwangsgedanken werden anhaltende und wiederkehrende Gedanken, Vorstellungen und Impulse ver­ standen, die als unangenehm empfunden werden und Unbehagen oder Angst erzeugen. Charakteristisch ist der Versuch, die Zwangs­ gedanken durch Zwangshandlungen zum Verschwinden zu bringen.

Zwangshandlungen sind Verhaltensweisen, die der Betroffene er­ zwungen fühlt und meist zur Abwehr der Zwangsgedanken ausübt. Die häufigsten Zwänge sind Kontaminationsängste mit Kontaktver­ meidung und Sicherheitsängste die zusammen mit Wiederholungs­ zwängen oder seltener mit Grübelzwängen auftreten. Nach dem ICD-10 kann in Zwangsstörungen mit vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwängen (F42.0), Zwangsstörungen mit vorwiegend Zwangshandlungen (F42.1) und gemischten Störungen (F42.3) un­ terschieden werden. Die Zwänge müssen über mindestens 2 Wochen an den meisten Tagen aufgetreten sein und zu einer erheblichen psy­ chosozialen Einschränkung führen. Im aktuellen biologischen Verständnis wird für die Zwangs­ störungen eine kortikostriatothalamische Dysfunktion angesehen, die zu einem Überwiegen der exzitatorischen Regelkreise (Dopamin > 5-HT) führt. Aus diesem Grund können Dopaminagonisten ­(Stimulanzien) Zwänge verstärkten, die Aktivierung des serotoner­ gen Systems (SSRI) die Zwangssymptomatik reduzieren. Im psycho­ logischen Verständnis haben sich wie bei den Angststörungen beha­ viorale Modelle wie das Zwei-Faktoren-Modell von Mowrer und kognitiv-behaviorale Modelle etabliert. Das Auftreten von psychi­ schen Komorbiditäten ist eher häufig bei Patienten mit Zwangsstö­ rungen (Angststörungen 30%, depressive Episoden bis zu 70%, Tics und Tic-Störungen 60%, hyperkinetische Störungen (HKS)/ADHS 33%, oppositionelles Verhalten 43%; seltener tiefgreifende Entwick­ lungsstörungen, Essstörungen und Psychosen). jjDiagnostik Es können Fragebögen zur standardisierten Quantifizierung der Symptomatik eingesetzt werden. Oft es sinnvoll, spezifische Frage­ bögen zu Zwangsstörungen um Fragebögen zu Angststörungen oder depressive Störungen aufgrund der häufigen Komorbidität einzuset­ zen. Wenn Zwänge im Rahmen einer schulischen Überforderung auftreten, sollte eine psychologische Leistungsdiagnostik erfolgen. Differenzialdiagnosen  Im Kleinkindesalter können Zwänge als

nicht behandlungsbedürftiges Phänomen als Rituale zur Bewälti­ gung von Stress oder zum Erlangen von Symmetrie entwickeln. In diesem Alter sollten Zwänge nur dann als behandlungsbedürftig angesehen werden, wenn sie das alterstypische Ausmaß überschrei­ ten. Depressive Störungen, Angststörungen, Tics und Schizophreni­ en stellen weitere psychiatrische Differenzialdiagnosen dar. Zwänge können als Folge einer Intoxikation mit Dopaminagonisten, bei ZNS-Tumoren, im Rahmen einer Enzephalitis oder parainfektiös (z. B. nach Infektionen mit Streptokokken als „Pediatric Auto­ immune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal infections“, PANDAS) auftreten. jjTherapie Zwangsstörungen können wie Angststörungen gut psychotherapeu­ tisch, z. B. mit einem kognitiv-behavioralem Ansatz behandelt ­werden. Alle nicht entwicklungstypischen Ängste mit einer Störung der psychosozialen Funktion sollten einer psychotherapeutichen Behandlung unterzogen werden. Weil die Exposition einen wesent­ lichen Anteil in der Behandlung darstellt, sind eine ausreichende Motivation des Patienten und ein stabiles Bündnis zwischen dem Patienten und Therapeuten notwendig. Kernelement der kognitivbehavioralen Behandlung sind die Exposition und die Reaktionsver­ hinderung. Weil eine gute Evidenz zur Effektivität der Kombination aus psychotherapeutischer und pharmakologischer Behandlung besteht, ist die Indikation zur Gabe einer Medikation meist bei ­Aufnahme der psychotherapeutischen Behandlung gegeben. SSRI werden als Medikamente der ersten Wahl angesehen. Die Pharma­

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kotherapie sollte bei Eintreten der Remission für 6 Monate fortge­ führt werden und dann über 6 Monate abgesetzt werden. 32.4.5

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Elektiver Mutismus (F94)

Der elektive Mutismus (F94.0) ist eine seltene kinderpsychiatrische Störung (Prävalenz Primäres Ziel im Umgang mit Patienten, die von einem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom betroffen sind, ist das korrekte Erkennen der Störung und der Schutz des Patienten vor einer weiteren Schädigung.

Die Konstellation eines Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms ist eine spezielle Herausforderung im medizinischen Kinderschutz und erfordert häufig für eine saubere Diagnostik und suffiziente Versor­ gung des Kindes eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Klinikern am Krankenbett, Labormedizinern, Radiologen, Rechts­ medizinern und der Jugendhilfe. Die Diagnose eines MünchhausenStellvertreter-Syndroms erfüllt den Tatbestand einer Kindesmiss­ handlung und bedarf einer Versorgung gemäß der Leitlinien für den Kinderschutz. Aus diesem Grund kann, wenn es für das Wohl des Kindes not­ wendig ist, besteht die Befugnis die Schweigepflicht gegenüber der Jugendhilfe zu brechen. Die Möglichkeit des Bruchs der Schweige­ pflicht ergibt sich aus der Garantenpflicht infolge der Garantenstel­ lung des Arztes oder Therapeuten, gesundheitliche Gefahren für den Patienten abzuwenden. Der Bruch der Schweigepflicht zielt darauf ab, das Kind oder den Jugendlichen durch die Jugendhilfe gemäß des §8a SGB VIII (KJHG) schützen zu können (Schutzauftrag der Jugendhilfe). Die Jugendhilfe übernimmt in diesem Prozess die im Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetzes geregelte Wächterfunktion der staatlichen Gemeinschaft („Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen oblie­

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gende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemein­ schaft.“). Ein Bruch der Schweigepflicht, um durch Ermittlungs­ behörden (z. B. Polizei) die Verfolgung der mit der Kindeswohl­ gefährdung verbundenen Straftat zu ermöglichen, ist nicht durch die Garantenstellung zu begründen. Aus diesem Grund kann die Schweigepflicht gegenüber der Polizei nur dann gebrochen werden, wenn Gefahr im Vollzug ist und nicht durch eine andere Maßnahme, z. B. Einbeziehen der Jugendhilfe, Schaden vom Patienten abgewen­ det werden kann. 32.4.10

Dissoziative und somatoforme ­Störungen (F44)

Dissozitative Störungen und Konversions­ störungen (F44)

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Der Begriff der Dissoziation beschreibt eine Störung der Integration psychischer Funktionen, die Bewusstsein, Wahrnehmung, Gedächt­ nis, Identität und motorische Kontrolle umfasst. Der von Freud 1894 unter dem Konzept der Psychoanalyse geprägte Begriff der Konver­ sion zielt darauf ab, dass zur Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts die psychische Belastung in ein körperliches Symp­ tom umgewandelt (konvertiert) wird. Das häufig bei diesem ­Vorgang auftretende Missverhältnis zwischen der körperlichen Symptomatik und dem psychisch heiteren Zustand wurde als „belle indifference“ beschrieben. Im ICD-10 wird der Begriff der Konversion nicht mehr eingesetzt und ist durch den Begriff der Dissoziation ersetzt worden. Das Auftreten von Dissoziationen muss nicht zwingend mit dem Vorliegen einer psychischen Störung aus dem Bereich der dissozia­ tiven Störungen und Konversionsstörungen verbunden sein, da auch andere psychische Störungen wie z. B. Traumafolgestörungen oder Persönlichkeitsstörungen wie z. B. die Borderline-Störung oder die histrione Persönlichkeitsstörung von dissoziativen Episoden beglei­ tet werden können. Die Beobachtung einer dissoziativen Symptoma­ tik ist in kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen bei bis zu 5% der Patienten zu finden. In kinder- und jugendmedizinischen Notfallsprechstunden werden dissoziative Episoden häufig in Zu­ sammenhang mit einer akuten Belastungsreaktion oder Anpas­ sungsstörung gesehen und stellen nicht selten an den Arzt eine ­Herausforderung in der klinischen Einordnung des Phänomens dar. Bei gut 60% der in pädiatrischen Notfallsprechstunden vorgestellten Patienten mit dissoziativen Phänomenen lässt sich eine Belastungs­ situation im Vorfeld ermitteln. Die Hälfte der Patienten aus pädiat­ rischen Kollektiven zeigt multiple Symptome der Dissoziation, wo­ bei mit über 50% motorische Phänomene häufiger als sensorische Symptome (25%), dissoziative Anfälle (25%) und Atemstörungen (14%) sind. Das Auftreten dissoziativer Störungen nimmt mit der Pubertät deutlich zu und findet sich in nur ¼ bei Kindern, die jünger als 10 Jahre sind. Die Ausformung der Symptomatik kann häufig den Verdacht auf das Vorliegen einer dissoziativen Störung lenken, ins­ besondere wenn anatomische oder physiologische Kausalitätsbezie­ hungen im Krankheitsbild nicht erfüllt sind. Eine organbezogene Diagnostik sollte dazu eingesetzt werden, organbezogene Differen­ zialdiagnosen gezielt nach einer Hypothesenbildung auszuschlie­ ßen. Beispielhaft kann die dissoziative Sehstörung herausgenommen werden, welche häufig durch einen peripheren Gesichtsfeldausfall gekennzeichnet ist. Differenzialdiagnostisch wäre an einen patholo­ gischen Prozess im Bereich des Chiasma opticum zu denken und somit ein apparativ diagnostisches Vorgehen zum Ausschluss eines solchen Prozesses in der Differenzialdiagnostik angezeigt.

Dissoziative Störungen mit vorwiegend ­körperlicher Symptomatik kkDissoziative und funktionelle Bewegungsstörungen (F44.4) Der Verdacht auf das Vorliegen einer dissoziativen Bewegungsstö­ rung entsteht ähnlich wie bei dissoziativen Störungen mit anderer Symptomatik durch Implausibilität in der Erklärung der Störung durch eine organische Störung auf dem Hintergrund von Anamnese, klinischem Aspekt und dem körperlichen Untersuchungsbefund. Bei Lähmungen sind das Auftreten von Stützhaltungen bei räum­ lichen Lagewechseln, das Einknicken der Kniegelenke bei Steh­ versuchen und spezifische Zeichen in der körperlichen Untersu­ chung wie z. B. das Hoover-Zeichen bei einer einseitigen schlaffen Lähmung einer Extremität, typisch. Beim Hoover-Zeichen wird der Patient aufgefordert, die betroffene Extremität in Rücklage aktiv nach unten zu drücken, welches in der Untersuchung durch den Patienten ­unterbleibt. Anschließend wird der Patient gebeten,­ die intakte E ­ xtremität auf der gegenüberliegenden Seite gegen­ einen manuellen Widerstand nach oben zu drücken. Bei einem ­positiven Hoover-Zeichen lässt sich zeitgleich zur Aufwärtsbewe­ gung eine aktive Bewegung der gelähmten Extremität nach unten nachweisen. Länger bestehende dissoziative Lähmungen können wie auch primär organisch zu erklärende Paresen zu Kontrakturen und selten zu dystonen Zuständen führen und bedürfen einer physio­ therapeutischen Behandlung, die auch ohne eine andere spezifisch psychotherapeutische Intervention die Rekonvaleszenz beschleuni­ gen kann. Da die motorische Symptomatik häufig zu einem sekundären Krankheitsgewinn führt (z. B. emotionale Zuwendung durch Assis­ tenz bei motorischen Funktionsausfällen), der für die Störung stabi­ lisierend wirken kann, sollte bei der Physiotherapie auf die Erfah­ rung der Selbstwirksamkeit im Rahmen der Übungsbehandlung Wert gelegt werden. Die motorische Symptomatik kann bei dissozi­ ativen Bewegungsstörungen sehr vielgestaltig sein (z. B. Tremor, schlaff paretisch, dyston oder choreatisch anmutend) und orientiert sich häufig in für den Patienten nicht bewusster Form an biographi­ schen Vorbildern bzw. im Vorfeld bei sich oder anderen bereits ­beobachteten motorischen Symptomen. Aus diesem Grund ist bei einer sehr eng an die physiologische und anatomische Realität ange­ lehnten Symptomatik z. T. eine umfassende apparative und labor­ chemische Diagnostik notwendig. Dieses trifft insbesondere auf funktionelle Bewegungsstörungen zu, die ein Mischbild im Spekt­ rum zwischen organischer und psychischer Ätiologie sind. Hier sind nicht selten leichtere körperliche Traumata wie z. B. die Distorsion eines Gelenks im Beginn der Symptomatik vom weiteren Verlauf wie z. B. schlaffe Lähmung der Extremität abzugrenzen. Grundsätzlich darf die Diagnose einer dissoziativen oder funk­ tionellen Störung den Arzt nicht davon abhalten, die Diagnostik um apparative oder laborchemische Untersuchungen zu ergänzen, wenn im weiteren Behandlungsverlauf neu auftretende Symptome bzw. eine nicht zu erklärende Remission der Symptomatik den Verdacht auf eine primär organisch bedingte Symptomatik lenken. In der ­Katamnese lassen sich bis zu 15% der als dissoziative Störungen ein­ geordneten Krankheitsbilder als primär organische Erkrankungen klassifizieren. kkDissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörung (F44.6) Grundsätzlich können alle Modalitäten der Sensibilität und Sinnes­ empfindung in der dissoziativen Symptomatik betroffen sein. Häufig sind Sinnesstörungen des Sehens und der epikritischen Sensibilität. Eine valide Diagnostik der Sinnesfunktion ist eine Voraussetzung,

839 Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik

um die Diagnose der dissoziativen Störung ausreichend gut differen­ zialdiagnostisch absichern zu können. Objektive Verfahren der Sin­ nesprüfung des Sehens und Hörens (wie z. B. evozierte Potenziale) können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Empfindungsstörun­ gen der Sensibilität der Haut lassen sich häufig aufgrund anatomi­ scher Implausibilitäten der regionalen Ausfälle der Sinnesstörung erkennen. kkDissoziative Anfälle (F44.5) Der Schlüssel zum Erkennen dissoziativer Anfälle findet sich meist in einer detaillierten Darstellung der Semiologie des Ereignises, das im diagnostischen Goldstandard während einer elektroenzephalogra­ phischen Ableitung synchron per Video dokumentiert werden kann. Meist sind die Ereignisse aber so sporadisch, dass eine Dokumenta­ tion während der elektroenzephalographischen Ableitung nicht möglich ist. Die Betrachtung von Bildmaterial, in dem die nähere Umgebung das Ereignis mit einem Smartphone dokumentiert hat, kann häufig die Einordnung des Geschehens als eine dissoziative Symptomatik erlauben, wenn typische Symptome des dissoziativen Anfalls zu sehen sind und das Anfallsgeschehen wenig oder gar nicht mit einer z. B. epileptischen Genese vereinbar ist. Dissoziative An­ fälle treten selten auf, wenn der Betroffene alleine ist, und häufiger in der Gegenwart anderer. Die Dauer des Anfallsgeschehens ist meist länger als bei einem epileptischen Anfall und die begleitende Symp­ tomatik eines epileptischen Anfalls (Einnässen, lateraler Zungenbiss im ­Gegensatz zum medialen Zungenbiss beim dissoziativen Anfall) ist selten zu finden. Bei 10% der Patienten mit Anfällen treten sowohl epileptische als auch dissoziative Anfälle auf, wobei nicht selten der epileptische Anfall in einen dissoziativen mündet. Ein nicht plau­ sibles fehlendes Ansprechen auf eine prophylaktische antikonvulsive Medikation sollte den Verdacht auf ein dissoziatives Geschehen ­lenken. kkDissoziative Störungen mit vorwiegend psychischer ­Symptomatik Dissoziative Störungen können sich als Amnesie (F44.0), Stupor (F44.2) oder Trance-Zustand (F44.3) mit dem neurologischen ­Differenzialsymptom der Vigilanzminderung wie z. B. dem Sopor, und als Dissoziation der Integrität Person in Form einer multiplen Persönlichkeitsstörung (F44.81) auftreten. Differenzialdiagnostisch muss insbesondere bei Veränderungen des Bewusstseins an primär neurologische Erkrankungen mit akutem Beginn wie z. B. infektiöse und autoimmune Enzephalitiden, Blutungen und Vergiftungen ge­ dacht werden. Apparative Untersuchungen wie z. B. die Darstellung einer altersgemäßen bioelektrischen Aktivität des Wachzustands bei einem stuporösen Patienten können den Verdacht auf ein dissozia­ tives Geschehen erhärten lassen. Dissoziationen der Person machen eine differenzialdiagnosti­ sche Abgrenzung zu Psychosen notwendig, die häufiger als im ­Erwachsenenalter bei Kindern und Jugendlichen durch primär ­organische Erkrankungen oder Intoxikationen bedingt sind. Das Auftreten der Symptome eines Wahns oder von Halluzinationen in Verbindung mit einer gestörten Integrität der Identität lässt die ­differenzialdiagnostische Zuordnung zu psychotischen Störungen zu. Selten sind die dissoziativen Phänomene der Fugue, der Kombi­ nation aus Amnesie, Weglaufen und Depersonalisation, und das Ganser-Syndrom, einer dissoziativ bedingten Störung des Intellekts, zu beobachten. jjÄtiologie und Pathogenese Für die Entstehung dissoziativer Störungen werden im Kern drei Mechanismen verantwortlich gemacht:

1. Verminderte funktionelle Autonomie des psychischen Appa­ rats (z. B. beim Stupor). 2. Steigerung der funktionellen Autonomie des psychischen ­Apparats (z. B. dissoziative Anfälle). 3. Inaktivierung von organbezogenen Funktionen (z. B. dissozia­ tive Empfindungsstörungen). Es sind unterschiedliche Faktoren für die Entstehung von dissozia­ tiven Störungen bekannt, die jedoch zum aktuellen Zeitpunkt keine wissenschaftlich ausreichend gestützte Anordnung zu einem schlüs­ sigen theoretischen Konzept zulassen. Die familiäre Häufig dieser Störungen legt genetische Belastungen und psychosoziale familiäre Faktoren wie das Lernen am Modell in der Familie in puncto einer nicht altersgemäßen Entwicklung von Funktionen zur emotionalen Informationsverarbeitung und Emotionsregulation, die Bedeutung der eigenen Biographie für die „Symptomwahl“ und einer Vulnera­ bilität aufgrund einer vorausgegangenen organischen Hirnschädi­ gung wie z. B. einem perinatalen Ereignis im Rahmen einer Asphy­ xie nahe. Bei Patienten mit dissoziativen Störungen finden sich ­gehäuft psychisch traumatisierende Ereignisse in der Biographie wie z. B. Typ-II-Traumata durch sexualisierte Gewalt. 32.4.11

Somatoforme Störungen (F45)

Die Gruppe der somatoformen Störungen (F45) zeichnet sich in ihrer Phänomenologie durch eine überwiegende körperliche Symptomatik aus. Somatoforme Störungen können in die Diagnosen der Somati­ sierungsstörung (F45.0), der undifferenzierten Somatisierungsstö­ rung (F45.1), die hypochondrische Störung (F45.2), die somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3) und die anhaltende somato­ forme Schmerzstörung (F45.4) differenziert werden. Somatoformen Störungen ist gemeinsam, dass somatische Befunde die subjektiv empfundene körperliche Symptomatik nicht ausreichend plausibel erklären können. Nicht selten wird die diagnostische Kategorie der somatoformen Störung eingesetzt, wenn nach einer extensiven appa­ rativen Diagnostik keine somatische Ursache für die Beschwerden des Patienten gefunden wird. Dieses Vorgehen ist mit Risiken verbun­ den, da seltene Erkrankungen wie z. B. der mit chronischen Schmer­ zen einhergehende M. Fabry typischerweise durch eine wenig be­ kannte Symptomkonstellation auffallen und durchaus mit den im Alltag üblichen diagnostischen Methoden nicht sicher ausgeschlos­ sen werden können. Aus diesem Grund hat es sich auch für die ­Diagnostik der somatoformen Störungen bewährt, aufgrund der Anamnese und der klinischen Untersuchungsbefunde eine diagnos­ tische Hypothese zu formulieren und diese differenzialdiagnostisch abzuarbeiten. Somatoforme Störungen sind wie auch andere psychi­ sche Störungen meist durch eine gut durchgeführte psychiatrische Exploration in Verbindung mit einer umfassenden Anamnese und gründlichen körperlichen Untersuchung diagnostisch gut zu fassen. 44 Somatisierungsstörung (F45.0): Die Somatisierungstörung ist durch multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die seit mindestens 24 Monate beste­ hen, und für die keine plausible somatische Erklärung gefun­ den werden kann, gekennzeichnet. Die Symptome können sich auf jedes Körperteil beziehen. Häufig zu finden sind gastro­ intestinale Beschwerden (Schmerzen, Übelkeit), abnorme Hautempfindungen und muskuloskelettale Beschwerden. Die Patienten zeichnen sich häufiger durch ein ängstliches und ­depressiv gefärbtes Verhalten aus. 44 Undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1): Die undif­ ferenzierte Somatisierungsstörung ist die häufigste Diagnose­

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kategorie der Kinder und Jugendlichen unter den Somatisie­ rungsstörungen, da die Patienten in der Regel das Zeitkrite­ rium der Persistenz der Symptomatik von 24 Monaten nicht ­erfüllen. 44 Hypochondrische Störung (F45.2): Hypochondriche Störun­ gen sind selten im Kindesalter zu beobachten und sind auch im Jugendalter eine eher seltene Diagnose unter den somatofor­ men Störungen. Im Vordergrund steht bei den hypochondri­ schen Störungen die Beschäftigung mit den Möglichkeiten, an einer oder mehreren schweren und fortschreitenden körper­ lichen Erkrankungen zu leiden. Die Patienten klagen über an­ haltende Beschwerden, die von ihnen vermuteten Diagnosen zugeordnet werden. Diagnostische Verfahren mit negativen Befunden führen kurz- bis mittelfristig zu einer Abnahme der Symptomatik und der damit verbundenen Ängste, lösen die Beschwerden jedoch nicht auf. 44 Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3): Patienten mit somatoformen autonomen Funktionsstörungen nehmen physiologische Vorgänge des Organismus (Herzschlag, gastro­ intestinale Motilität etc.) überwertig war und verbinden damit einen krankhaften Zustand. 44 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4): Die be­ troffenen Patienten klagen über somatisch nicht erklärbare Schmerzen und zeigen häufig eine Zunahme der Symptomatik unter psychosozialen Belastungen oder bei einer abnehmenden Intensität von Aufmerksamkeit und Zuwendung im sozialen Umfeld. Anhaltende somatoforme Schmerzstörungen können auch in Folge auf somatisch begründeten Schmerzen wie z. B. nach Unfällen mit körperlichen Traumata auftreten. jjDiagnostik Die Diagnostik der somatoformen Störungen sollte die saubere dif­ ferenzialdiagnostische Abklärung primär somatischer Erkrankun­ gen zur Erklärung der Beschwerden und auch ein Durchdenken psychiatrischer Diagnosen mit körperlicher Symptomatik wie z. B. Angststörungen, depressive Störungen oder zoenästhetische Phäno­ mene im Rahmen von psychotischen Störungen. jjTherapie Somatoforme Störungen und dissoziative Störungen können in ­einem multimodalen Behandlungskonzept gut behandelt werden. Im Zentrum der Behandlung stehen psychotherapeutische Interven­ tionen im Einzel-, Gruppen und Familiensetting. Die psychothera­ peutische Behandlung setzt eine umfassend Edukation zum ­Störungsbild und die individuell die Störung unterhaltenden Bedin­ gungen voraus. Die Exposition in Handlungen und Situationen, die Beschwerden hervorrufen oder verstärken, ist, ist ein zentrales ­Element für eine erfolgreiche Behandlung. Die Behandlung verläuft umso erfolgreicher, je mehr der Patienten seine Selbstwirksamkeit in der Kontrolle seiner Beschwerden erlebt. Dissoziative und somato­ forme Störungen sind häufig mit Komorbidiäten aus dem Spektrum der Angststörungen (z. B. soziale Phobien) und der depressiven Stö­ rungen vergesellschaftet. Das Einbeziehen dieser Störungen in die psychotherapeutische Behandlung erhöht den Behandlungserfolg und insbesondere verringert es Rückfälle nach der primären Be­ handlung. Eine pharmakologische Therapie hat in der Behandlung lediglich einen kurzfristigen stabilisierend Effekt und kann z. B. bei Symptomen wie chronische Spannungskopfschmerzen (niedrig dosiert Amitriptylin) oder zur Behandlung einer psychischen ­ ­Komorbidität (SSRI) eingesetzt werden.

..Tab. 32.9  Diagnostische Kriterien der Essstörungen und Kindesund Jugendalter Anorexia nervosa

Bulimia nervosa

Körpergewicht mehr als 15% unterhalb der Norm oder ein Gewicht unterhalb der 10. Altersperzentile bzw. ein BMI > Suizidales Verhalten tritt gehäuft im Verlauf einer Essstörung auf und ist eine wesentliche Ursache für die Sterblichkeit dieser Patientengruppe, die mit bis zu 10% angegeben werden kann.

Essstörungen zeichnen sich durch das Auftreten typischer somatischer Phänomene aus. In der Inspektion der Patienten sind in der Häufigkeit des Auftretens und in der Schwere der Symptomatik in Abhängigkeit vom Ernährungsstatus eine schuppige und trockene Haut, häufig in Verbindung mit einer Akrozyanose, eine Lanugobe­ haarung und ein vermehrter Haarausfall, der bei Gewichtszunahme aufgrund eines vermehrten telogenen Effluviums auch noch vorü­ bergehend zunehmen kann, zu finden. Die Mangelernährung führt typischerweise zu einem verzögerten Wachstum und einer verspäte­ ten bzw. unterbrochenen Pubertätsentwicklung. In der endokrinen Diagnostik findet sich bei der Anorexia nervosa die Konstellation eines hypogonadotropen Hypgonadismus. Patienten, die aufgrund des Purging erbrechen, zeigen häufig Schmelzdefekte, insbesondere auf der Innenseite der Zähne, vermehrte Karies und aufgrund der manuellen Induktion das Entstehen von exostotischen Schwielen an den knöchernen Strukturen der Hände. Schwellungen der Speichel­ drüsen sind sowohl bei bulimischen als auch anorektischen Patien­ ten zu finden. In der Labordiagnostik zeigen sich in Abhängigkeit vom Ernäh­ rungsstatus Veränderungen aller Reihen des Blutbildes mit Anämie, Leukopenie und Thromobozytopenie. Die Leukopenie ist Ursache für eine erhöhte Anfälligkeit der anorektischen Patienten für Infekte. Die Leberenzyme ALT und AST sind ebenso wie die Amylase und Lipase erhöht, bei Einschränkung der Nierenfunktion auch Kreati­ nin und Harnstoff. Störungen der Nierenfunktion können bei der Anorexie in Zusammenspiel mit einer indadäquaten ADH-Sekre­ tion, einer Hypoproteinämie, insbesondere Hypalbuminämie, die Entstehung eine Perikardergusses begünstigen, der bei einer hämo­ dynamischen Relevanz zu einer letalen Komplikation der Er­ krankung führen kann. Elektrolytveränderungen für Natrium und Kalium, v. a. eine Hypokaliämie, erhöhen das Risiko für akute kardi­ ale Komplikationen. Die Anorexie ist durch typische Stoffwechsel­ veränderungen wie Hypoglykämien, erniedrigtem IGF-1, eine ­Hyperlipidiämie mit erhöhtem HDL und ein Low-T3/T4-Syndrom charakterisiert. Die Stoffwechselveränderungen bedürfen keiner spezifischen Diät oder Substitution, insbesondere nicht von Schild­ drüsenhormonen, und normalisieren sich mit dem Wiederanstieg des Körpergewichts. Ein Vitamin-D-Mangel kann im Rahmen der Mangelernährung zur Entwicklung einer Rachitis oder Osteo­ malazie führen, die Kombination aus hypogonadotropem Hypo­ gonadisums und der Verlust der Muskelmasse führen zu einer ­Osteoporose mit dem Auftreten pathologischer Frakturen. Die ­Supplementierung von Östrogenen wird nicht empfohlen und der Wiederanstieg des Gewichts ist auch für das Skelett der wichtigste prognostische Faktor. Die Mangelernährung begünstigt das Auf­ treten von Mangelzuständen aller Vitamine und Spurenelemente, wobei ein Zinkmangel aufgrund der Symptomatik einer Dermatitis oder des Auftretens von Hyperglykämien, die Bildung von Insulin benötigt Zink, häufiger im Vordergrund stehen.

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In der bildgebenden Diagnostik des Neurokraniums lässt sich eine Pseudoatrohia cerebri darstellen, die mit dem Gewichtsanstieg rückläufig ist. Nicht selten geht die Veränderung des Hirnvolumens mit neuropsychologischen Störungen im Arbeitsgedächtnis einher. Eine Hypokaliämie, oft in Kombination mit dem Abusus von Laxan­ zien, kann für die Entstehung einer Obstipation ursächlich sein, die ein häufigeres begleitendes Symptom bei Essstörungen ist. Das ­Erbrechen im Rahmen des Purging kann insbesondere bei bulimi­ schen Patienten zu einer ausgeprägten Ösophagitis führen. jjDiagnostik Die körperliche Diagnostik der Essstörungen sollte im Rahmen der initialen Diagnostik durch den Kinder- und Jugendarzt oder die ­behandelnde Klinik in Anlehnung der Empfehlungen der Leitlinie (S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen, AWMF 051-026) im Minimum die in . Tab. 32.10 dargestellten Unter­ suchungen umfassen.

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j jDifferenzialdignosen Die Diagnose einer Essstörung bedarf umfassender differenzialdia­ gnostischer Überlegungen sowohl im Spektrum der somatischen als auch psychischen Störungen. Erkrankungen mit der Symptomatik der Maldigestion und Malabsorption wie z. B. chronisch entzündli­ che Darmerkrankungen müssen ebenso wie konsumierende onko­ logische Erkrankungen differenzialdiagnostisch bedacht werden. Dabei ist für die Zöliakie ist ein gehäuftes paralleles Auftreten zur Anorexia nervosa beschrieben worden. Endokrine Störungen wie z. B. der M. Addison oder die Hyperthyreose z. B. als M. Basedow sind genauso wie der Diabetes mellitus endokrine Erkrankung mit dem Auftreten eines Gewichtsverlusts, die aber die psychische Kern­ symptomatik der Essstörungen vermissen lassen. Zentrale intrakra­ nielle Prozesse wie z. B. Tumore mit Wirkung auf hypothalamische und hypophysäre Strukturen (z. B. Dysgerminome des Hypothala­ mus) können eine den Essstörungen sehr ähnliche Symptomatik verursachen und sollten immer dann in den differenzialdiagnosti­ schen Prozess einbezogen werden, wenn das klinische Erschei­ nungsbild der Essstörung keine typische Ausprägung zeigt bzw. ­einen untypischen Verlauf nimmt. jjÄtiologie Für Essstörungen besteht wie für die meisten psychischen Störungen ein multifaktorielles Modell der Entstehung der Erkrankung. Das um den Faktor 10 häufigere Auftreten von Essstörungen bei Mitglie­ dern von Familien, in denen bereits Essstörungen aufgetreten sind, weist auf genetische Faktoren hin. Gehäuft treten in Familien mit essgestörten Mitgliedern Angststörungen, Zwangsstörungen und depressive Störungen auf, welches hinweisend auf ätiologische Fak­ toren aus dem monoaminergen Neurotransmitterstoffwechsel, ins­ besondere Serotonin und Noradrenalin, ist. Das vermehrte Auftre­ ten im Kulturkreis der westlichen Industriestaaten unterstreicht die Bedeutung sozialer Faktoren für die Entstehung der Essstörungen. Familiäre Faktoren in den Beziehungen der Kernfamilie werden als die Störung stabilisierend angesehen, jedoch nicht als primär ­ursächlich für die Entstehung einer Essstörung. jjTherapie Die Behandlung einer Anorexie steht unter dem Primat der Etablie­ rung eines normalen Körpergewichts, da sowohl die psychische Symptomatik als auch die somatischen Folgen der Erkrankung vom Gewichtsverlauf abhängig sind. Kurze Episoden bis zum Erreichen eines normalen Gewichts und ein geringes Nadir des Gewichts sind prognostisch günstige Faktoren.

..Tab. 32.10  Somatische Untersuchungen bei Essstörungen Zur Diagnostik der Essstörung

Körpergröße Körpergewicht Berechnung des BMI und Ermittlung der Lage der auxologischen Parameter in den Perzentilen­ kurven

Zur Abschätzung der vitalen ­Gefährdung

Blutdruck und Puls Körpertemperatur Inspektion der Körperperipherie (Durchblutung, Ödeme) Auskultation und Perkussion des Herzens (Perikarderguss) und Orthostasetest Blutbild und CRP Kreatinin, Harnstoff und Streifentest im Urin (Hämaturie, Proteinurie) Natrium, Kalium, Chlorid, Kalzium, Phosphat und Magnesium ALT, γGT, AP, Albumin und PTT (Lebersynthese), Lipase (alternativ Amylase) TSH Blutglukose EKG

>> Ziel ist das Erreichen eines Body Mass Index der 25. Perzentile.

Es finden sich Hinweise, dass das Erreichen eines höheren BMI bis zur 50. Altersperzentile mit einem niedrigeren Risiko einer erneuten Erkrankung einhergeht. Das Wiedereinsetzen der Menstruation kann als ein sicheres Zeichen des Erreichens eines ausreichenden Körpergewichts angesehen werden. Verhaltenstherapeutische Pro­ gramme können die Gewichtszunahme unterstützen. Es hat sich dabei bewährt, die Familie – insbesondere die Eltern – frühzeitig in die Umsetzung der verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zur ­Gewichtszunahme einzubeziehen. Die Ernährung über eine naso­ gastrale Sonde z. B. bei einer funktionellen Gastroparese und die Behandlung mit einem atypischen Neuroleptikum bei stark wahn­ haften Komponenten der Gewichtsphobie oder bei einer starken motorischen Antriebssteigerung kann für die Patienten zu Beginn der Behandlung entlastend wirken. Häufig ist zu Beginn der Erkran­ kung eine unzureichende Mitarbeit der Patienten aufgrund des Stö­ rungsbilds zu erkennen. Eltern sollten frühzeitig darüber informiert werden, dass die durch die Sorgeberechtigten induzierte Unterbrin­ gung des Patienten zu therapeutischen Zwecken (nach §1631b BGB) Schaden durch eine zu späte oder unzureichende Behandlung von den Patienten abwenden kann. Meist wird ein Gewichtsanstieg von 500–1.000 g pro Woche angestrebt. Bei sehr kachektischen Patienten ist zu Beginn der Gewichtszu­ nahme auf die Entwicklung eines Refeeding-Syndroms zu achten, welches durch einen relativen Phosphatmangel, eine Hypomagnesi­ ämie und Hypokaliämie in Kombination mit der Entwicklung von Ödemen gekennzeichnet ist. Kardiale Komplikationen im Rahmen des Refeeding-Syndroms sind die häufigsten Ursachen für letale Er­ eignisse in den ersten Tagen der Realimentation. Patienten mit Essstörungen bedürfen einer mulimodalen Therapie, die eine spezifische Edukation im Bereich Ernährung, Zuberei­

843 Epidemiologie – Sozialpädiatrie – Psychosomatik

tung von Essen und Umsetzung dieses Wissen in die Praxis erfor­ dert. Psychotherapeutisches Arbeiten mit den Patienten und ihren Familien ist für das Erreichen und die Erhaltung der Remission eine wichtige Voraussetzung. Eine kognitiv-behaviorale Therapie erar­ beitet das dysfunktionale Konzept als Grundlage der Störung und unterstützt den Patienten in der kognitiven Umstrukturierung, um sein Verhalten ändern zu können. Psychodynamisch-tiefenpsycho­ logische Therapien fokussieren vermehrt auf pathologische Aspekte der Beziehungsgestaltung, welche sich in der Beziehungsdynamik des pathologischen Essverhaltens finden lassen. Systemisch-famili­ entherapeutische Elemente sind wesentliche Komponenten in der Behandlung von Essstörungen und konnten in Studien zur Anorexia nervosa in ihrer Wirkung als gesichert dargestellt werden. Die Un­ terstützung der Patienten durch die Familie in der Umsetzung ver­ haltenstherapeutischer Programme zur Gewichtszunahme ist dabei ein entscheidender Schritt. Begleittherapien wie z. B. künstlerische Therapien können kreative Prozesse zur Krankheitsbewältigung nutzen und psychotherapeutische Prozesse unterstützen. Patienten mit einer unzureichenden Krankheitseinsicht und/ oder einer erheblichen Gefährdung aufgrund psychiatrischer Be­ gleitstörungen bzw. organischer Komplikationen bedürfen einer stationären Behandlung. Bei einer guten Mitarbeit ist eine teilstatio­ näre oder auch ambulante Behandlung möglich. Die Behandlung psychischer Komorbiditäten, insbesondere sozial phobischer Stö­ rungen, ist für die Erhaltung der Remission ein wesentlicher Faktor und muss deshalb in die Behandlung einer Essstörung einbezogen werden. Katamneseuntersuchungen zeigen, dass ca. 75% der im ­Jugendalter an einer Essstörung erkrankten Patienten im Erwachse­ nenalter keine floride Essstörung mehr aufweisen, jedoch ein hohes Risiko für die Entwicklung von Angststörungen, affektiven Störun­ gen, eine Substanzabhängigkeit oder eine Persönlichkeitsstörung zeigen. Aufgrund des Auftretens von psychiatrischen Folgeer­ krankungen bedürfen Patienten mit Essstörungen auch nach der Normalisierung des Essverhaltens häufig einer weiterführenden psychotherapeutischen und psychiatrischen Begleitung in der ge­ sundheitlichen Versorgung. Die psychotherapeutische Intervention im Einzel-, Gruppenoder Familiensetting ist das zentrale Element in der Behandlung der Bulimia nervosa. Die Behandlung der Impulskontrollstörung, einer ängstlichen oder depressiven Symptomatik steht dabei im Vorder­ grund. Treten neben der bulimischen Symptomatik weitere Phäno­ mene einer Persönlichkeitsstörung vom emotional-instabilen Typ (Borderline-Störung) auf, wie z. B. Selbstverletzung oder Substanz­ abusus, so müssen diese Symptome in die Therapie einbezogen wer­ den und profitieren von spezifischen therapeutischen Strategien zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen wie z. B. dem dialektischbehavioralem Ansatz nach Linehan. SSRI, insbesondere Fluoextin, können am Ende der Behandlung als Rückfallprophylaxe eingesetzt werden. 32.4.13

Weitere psychische Störungen im ­ Kindes- und Jugendalter

Affektive Störungen Die affektiven Störungen zeichnen sich dadurch aus, dass der Schwerpunkt der Symptomatik die Stimmungslage und den Antrieb betrifft. Körperliche Symptome und kognitive Veränderungen sind häufig in Zusammenhang mit der affektiven Symptomatik zu finden. Affektive Störungen haben eine hohe Tendenz zur Chronifizierung und damit nicht selten keine gute Prognose für die weitere Entwick­ lung des Kindes oder Jugendlichen, wenn sie unbehandelt bleiben.

Depressive Episoden (F32) Eine depressive Symptomatik kann bei einer Vielzahl von psychi­ schen Störungen aufgefunden werden und ist z. T. bereits in einer übergeordneten psychischen Erkrankung, z. B. bei Formen der An­ passungsstörungen, Schizophrenien oder der Anorexia nervosa, beinhaltet. Die depressive Störung bzw. Depression als eigenständi­ ges Krankheitsbild ist durch eine besonders deutlich hervortretende Symptomatik mit Niedergestimmtheit, Anhedonie, Antriebsarmut, dem Auftreten von Ängsten und einer erhöhten Irritierbarkeit und nicht selten der Äußerung von Schuldgefühlen gekennzeichnet. Die Trias aus einer depressiven Grundstimmung und der Kombination aus Denkhemmung und der Hemmung von Handlungsfunktionen ist typisch für depressive Episoden. Neben der Denkhemmung sind die Symptome einer Aufmerksamkeitsstörung, vermehrtes Grübeln und eine Negativierung des Denkens für die kognitiven Veränderun­ gen der Depression typisch. Unter der „kognitiven Triade“ der Depression wird das negative Bild von der eigenen Person, der Welt und der Zukunft verstanden, welches sich häufig bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen mit depressiven Störungen finden lässt. Bei Kindern ist häufig eine ­Unlust zu spielen und im Spiel selbst eine Monotonie und einge­ schränkte Kreativität auffällig. Die körperliche Symptomatik zeigt sich in Schlafstörungen, insbesondere dem frühen Erwachen, einem Appetitverlust (Anhedonie), einer reduzierten Libido (Anhedonie) und der vermehrten Wahrnehmung körperlicher Missempfindun­ gen wie z. B. Bauch- und Kopfschmerzen. Insbesondere jüngere ­Patienten werden durch die Äußerungen von Kopf- und Bauch­ schmerzen auffällig. Jungen sind von depressiven Episoden präpubertär häufiger ­betroffen, wobei sich das Geschlechterverhältnis in Richtung der Mädchen mit zunehmendem Alter entwickelt und in der Adoleszenz bereits häufiger Mädchen als Jungen betroffen sind. Die Diagnose eine depressiven Episode kann nach den Kriterien des ICD-10 ­gestellt werden, wenn die Symptomatik mindestens 2 Wochen an­ dauert und die Symptome der depressiven Verstimmtheit in ihrer Qualität und Quantität nicht Teil einer anderen psychischen Störung sind, die durch eine depressive Veränderung des Affekts gekenn­ zeichnet ist. Es kann entsprechend dem Verlust an sozialen Funk­ tionen im Alltag eine dreistufige Einteilung in eine leichte, mittlere und schwere depressive Episode getroffen werden. Schwere depres­ sive Episoden können durch psychotische Zusatzsymptome wie z. B. Wahn, Stupor oder Halluzinationen gekennzeichnet sein. jjDiagnostik In der Diagnostik einer depressiven Episode steht die Anamnese und psychiatrische Exploration ergänzt durch eine gründliche körper­ liche Untersuchung, insbesondere um primär somatische Er­ krankungen mit einer begleitenden depressiven Verstimmung zu erkennen, im Vordergrund. Die Diagnostik kann um standardisier­ te Verfahren durch den Einsatz von Checklisten und Skalen (z. B. Depressionsinventar für Kinder- und Jugendliche, DIKJ) ergänzt werden. Die Symptomatik einer depressiven Verstimmung kann als führendes Symptom bei endokrinen Erkrankungen wie z. B. der ­Hypothyreose, dem Hyperparathyreoidismus, dem Cushing-Syn­ drom aber auch dem M. Addison auftreten und zeigt sich gehäuft nach körperlich belastenden Krankheitsverläufen oder Therapie wie z. B. Bestrahlungen des ZNS oder Chemotherapien. Die Einordnung einer depressiven Verstimmung in ein übergeordnetes psychiatri­ sches Krankheitsbild wie z. B. den Schizophrenien, der Anorexia nervosa, den Anpassungsstörungen und als Zweiterkrankung im Rahmen einer dekompensierten Angststörung (z. B. sozial phobi­ sche Störung) ist essenziell für eine korrekte Behandlung und eine

32

844

32

V. Mall et al.

verlässliche Abschätzung der Prognose und der damit verbundenen Nachbetreuung nach Abklingen der Depression. Wenn auch bei depressiven Störungen konstitutionell Faktoren genetischen Ursprungs eine Bedeutung zur Entwicklung der Erkran­ kung besitzen, so ist die Manifestation einer depressiven Episode in einem hohen Maße von körperlichen und psychischen Belastungs­ faktoren auf dem Hintergrund der Persönlichkeit des Patienten zu sehen. Persönlichkeitsmerkmale wie Introversion, Ängstlichkeit und Neurotizimus erhöhen die Vulnerabilität zur Entwicklung einer ­depressiven Episode. Das Erlernen von Beziehungskonzepten, in denen eigenes Handeln als nicht erfolgreich und wenig selbst­ wirksam erlebt wird, stellt in der kindlichen Entwicklung einen ­Risikofaktor für eine Persönlichkeitsentwicklung dar, die nach dem Konzept der erlernten Hilflosigkeit eine höhere Empfänglichkeit zur Entwicklung depressiver Phänomene unter ungünstigen psychoso­ zialen Randbedingungen zeigt. Saisonal auftretende depressive Epi­ soden machen die Bedeutung biologischer Rhythmen und des Lichts (epiphysäre Sekretion von Melatonin unter Lichteinfluss) für die Entstehung der Erkrankung deutlich. Die biologische Pathogenese der Depression kann aktuell in drei unterschiedliche, miteinander verbundene Aspekte unterteilt wer­ den. Primär somatisch oder psychisch wirksam werdender Stress führt zu Veränderungen im neuroendokrinen System der Hypotha­ lamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse mit einer erhöhten basalen Sekretion und einer reduzierten maximalen Freisetzung von Gluko­ kortikoiden und Veränderungen im noradrenergen (Katecholamin­ hypothese) und serotonergen (Serotoninhypothese) Neurotrans­ mittersystem. Das Auftreten einer chronischen Inflammation mit proinflammatorischen Zytokinen wie z. B. Tumor-Nekrose-Faktoralpha (TNFα) reduziert die Kapazität der synaptischen Plastizität über eine verminderte Sekretion von Nervenwachstumsfaktoren wie z. B. Brain Derived Neurotrophic Factor (BDNF) und wird für ­wesentliche Teile der kognitiven Symptomatik der Depression ver­ antwortlich gemacht. jjTherapie Die Behandlung sollte bei leichteren und mittelgradigen depressiven Episoden primär psychotherapeutisch in einem Einzel-, Gruppenoder systemisch-familiären Setting erfolgen. Mittel- und schwer­ gradige depressive Episoden können unter einem multimodalen Behandlungsansatz in einer stationären Behandlung, die neben der psychotherapeutischen Behandlung auch Maßnahmen der Alltags­ aktivierung und körperlichen Aktivierung (z. B. ein regelmäßiges moderates körperliches Training) und Begleittherapien wie z. B. künstlerische Therapien umfasst, durchgeführt werden. Schwer­ gradige und therapieresistente mittelgradige depressive Episoden können von einer Behandlung mit Antidepressiva profitieren. Als Medikament der ersten Wahl ist Fluoextin zu nennen, das wie an­ dere SSRI in seinem Nebenwirkungsprofil in der Gruppe der Anti­ depressiva noch das ausgewogenste Verhältnis zwischen Nutzen und Risiken bei Kindern und Jugendlichen zeigt. Ein zentrales Element in der Versorgung der Depression ist das Management suizidaler Gedanken und Handlungen. Die verlässliche Einschätzung der ­Suizidalität verlangt die Vorstellung des Patienten bei einem Kinderund Jugendpsychiater oder bei einem Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche.

845

Palliativmedizin und Schmerztherapie Inhaltsverzeichnis Kapitel 33

Palliativmedizin und Schmerztherapie – 847 B. Zernikow

XV

847

Palliativmedizin und ­Schmerztherapie B. Zernikow

33.1

Was ist pädiatrische Palliativmedizin?  – 848

33.2

Ethische Aspekte der pädiatrischen ­Palliativmedizin  – 848

33.2.1 33.2.2 33.2.3 33.2.4

Aktive und passive Sterbehilfe  – 848 Entscheidungsgrundlagen für ­„end-of-life decisions“  – 848 Patientenverfügungen  – 849 Kommunikation  – 849

33.3

Schmerztherapie  – 851

33.3.1 33.3.2 33.3.3 33.3.4

„Total Pain“  – 851 Schmerzerfassung  – 851 Medikamentöse Schmerztherapie  – 851 WHO-Stufenschema  – 853

33.4

Symptomkontrolle in der ­Lebensendphase  – 854

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5_33

33

848

33.1

B. Zernikow

Was ist pädiatrische Palliativmedizin?

Im Zentrum pädiatrischer Palliativmedizin stehen Kinder und ­Jugendliche mit einer lebensbedrohlichen (LBE) bzw. lebenslimitierenden (LLE) Erkrankung sowie deren Angehörige. >> Lebensbedrohliche Erkrankungen (LBE) sind Erkrankungen, für die eine kurative Therapie besteht, die aber nur bei einem Teil der Patienten erfolgreich verläuft. Lebenslimitierende ­Erkrankungen (LLE) sind Erkrankungen, die im Kindes- oder Jugendalter beginnen und mutmaßlich vor dem 40. Lebensjahr zum Tode führen.

33

Prinzipiell lassen sich 4 Patientengruppen der pädiatrischen Palliativversorgung unterscheiden: 44 Patienten mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung und unklaren Heilungschancen. Während der Phase eines unklaren Therapieerfolgs oder bei Therapieversagen kann eine palliative Versorgung erforderlich sein. Beispiel: Krebs, irreversibles ­Organversagen von Nieren, Herz, Leber. 44 Patienten, die dank intensiver Therapie ein aktives Leben ­führen und deren Krankheitsverlauf verzögert wird, die jedoch eine verkürzte Lebenserwartung haben. Beispiel: Zystische ­Fibrose, Muskeldystrophie Duchenne. 44 Patienten mit einer fortschreitenden Erkrankung, die ausschließlich palliativ behandelt werden kann. Beispiel: ZeroidLipofuszinose, Mukopolysaccharidose. 44 Patienten mit einer schweren neurologischen Behinderung, die selbst nicht progredient verläuft, jedoch meist zu Komplika­ tionen mit häufiger Erkrankung und vorzeitigem Tod führt. Beispiel: schwere Mehrfachbehinderung, z. B. bei Zustand nach peripartaler Asphyxie. Daraus folgt, dass sich pädiatrische Palliativmedizin nicht auf Maßnahmen am Lebensende beschränkt. Vielmehr geht es um die ­multiprofessionelle Begleitung von jungen Patienten und deren ­Angehörige ab der Diagnosestellung, möglicherweise bis ins Erwachsenenalter hinein. 33.2

Ethische Aspekte der pädiatrischen ­Palliativmedizin

Die Entscheidung, bei einem unheilbar kranken Kind auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten, fällt schwer und ist oft das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung mit der Frage, welche Maßnahmen im Sinne des Kindes sein mögen. Pädiater lehnen die ge­zielte Beendigung des Lebens eines Kindes durch die Gabe einer letalen Medikamentendosis ab. Wenn jedoch eine Therapie, die Leid mindert, zu einer Lebensverkürzung führen kann, wird dies akzeptiert. Entscheidend ist, dass sich die Behandlungsintention auf das Wohl des Kindes richtet und nicht auf die Beendigung dessen Lebens. Umso wichtiger ist es, die Frage nach der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen in einem Entscheidungsprozess im Team, ggf. auch unter Einbeziehung eines klinischen Ethikkomitees zu klären. 33.2.1

Aktive und passive Sterbehilfe

j jDefinition Aktive Sterbehilfe (Euthanasie) bezeichnet das gezielte, aktive Ein-

greifen des Arztes auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten hin mit dem Ziel, dessen Leben möglichst rasch zu beenden – ihn also zu

töten. Aktive Sterbehilfe, also Tötung auf Verlangen, ist in Deutschland verboten und strafbar (§ 216 StGB). Passive Sterbehilfe bezeichnet die ärztliche Entscheidung, bei der Behandlung eines sterbenden, nicht einwilligungsfähigen Pa­ tienten auf Maßnahmen zu verzichten, die den Sterbeprozess hinauszögern. Ziel ist, es dem schwerkranken Patienten zu ermöglichen, an seiner Erkrankung zu sterben. Somit ist der Begriff „passive Sterbehilfe“ eine missverständliche Formulierung für „Sterbenlassen“. Ethische Grundlage der passiven Sterbehilfe ist der Respekt vor dem Patienten – seinem Leben und seinem Sterben. Doch selbst, wenn aus juristischer Sicht die Beendigung einer lebensverlängernden Maßnahme vertretbar ist, stellt deren konkrete Umsetzung für Kinder- und Jugendärzte eine große Herausforderung dar. Der besondere Fall Ein 12-jähriger Junge befindet sich im Endstadium einer SSPE (subakut sklerosierende Panenzephalitis), einer fortschreitenden Erkrankung des Gehirns ohne Heilungsaussichten. Er ist seit einem Jahr bett­ lägerig, seit Monaten bewusstlos, eine Kommunikation ist nicht mehr möglich. Die Ernährung erfolgt über eine PEG. Bei Fortsetzung der Ernährung würde der Patient noch längere Zeit leben. Die Eltern erleben den Zustand ihres Kindes als unerträglich leidvoll und wünschen die Beendigung der Ernährung. Was denken Sie – handelt es sich um aktive oder passive Sterbehilfe? Wie würden Sie vorgehen? Kommentar: Der Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, also auch der künstlichen Ernährung, gilt bei einer Erkrankung, die einen irre­ versiblen Verlauf angenommen hat, als passive Sterbehilfe und ist aus juristischer Sicht zulässig. Dies gilt auch, wenn – wie in diesem Fall – der Tod nicht unmittelbar bevorsteht. Doch auch eine eindeutige Rechts­ lage ersetzt nicht den Entscheidungsprozess zu der Frage, welches Vorgehen am ehesten im Sinne des 12-jährigen Patienten sein mag.

33.2.2

Entscheidungsgrundlagen für ­„end-of-life decisions“

Es gibt Situationen, in denen sich die Frage stellt, was höher zu werten ist – das Recht auf Leben oder das Recht, würdig zu sterben. Die Beantwortung dieser Frage ist eine der größten Herausforderungen für Kinder- und Jugendärzte. Als Entscheidungshilfe in dieser ethisch komplexen Situation führen wir eine Auswahl an Richtlinien an, die auf die Arbeitsgruppe der Züricher Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle sowie die Arbeitsgruppe „Ethik“ der Confedera­ tion of the European Specialists of Paediatrics (CESP) zurückgeht. Demnach ist die Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen vertretbar, wenn das Kind durch diese Maßnahmen unerträglich belastet wird oder die Lebensverlängerung erfolgt, ohne dass unerträgliches Leiden deutlich vermindert werden kann. Situationen, in denen Kinderärzte verpflichtet sind zu prüfen, ob die Fortsetzung von lebensverlängernden Maßnahmen sinnvoll ist, treten ein, wenn 44 der Tod trotz optimaler Therapie unvermeidbar ist und das Kind großes Leid erlebt, 44 das Kind nur durch intensivmedizinische Maßnahmen überleben kann, was jedoch zur Verlängerung von unerträglichem Leid führt, 44 das Kind zwar eine Zeitlang ohne intensivmedizinische Maßnahmen überleben könnte, aber trotz adäquater Maßnahmen zur Symptomkontrolle unerträglich leidet.

849 Palliativmedizin und ­Schmerztherapie

Eindeutige Vorgaben, wann eine Behandlung eingestellt werden sollte, gibt es nicht. Folgende Richtlinien können als Entscheidungshilfe dienen: 44 Wünscht das Kind eine Fortsetzung der lebensverlängernden Maßnahmen, ist dies zu respektieren. 44 Unterschiedliche Faktoren wie Zeitdruck, finanzielle oder ­materielle Gründe oder auch körperliche oder geistige Behinderung des Patienten dürfen die Entscheidungsfindung nicht beeinflussen. 44 Die Nichteinleitung von lebensverlängernden Maßnahmen oder deren Beendigung sind ethisch gleichwertig. In Zweifelsfällen kann – nach ausführlicher Prüfung der Diagnose, Prognose und therapeutischen Optionen durch die behandelnden Ärzte – die Beurteilung durch einen zweiten Gutachter oder die Zusammenarbeit mit einem klinischen Ethikkomitee hilfreich sein. Auch wenn der behandelnde Arzt die Verantwortung für die Entscheidung selbst trägt, sollte er die Entscheidung gemeinsam mit dem Kind, dessen Eltern oder Erziehungsberechtigten und dem ­Behandlungsteam treffen. Wichtig ist, dass jede Entscheidung zur Beendigung oder Nichteinleitung von lebensverlängernden Maßnahmen ausführlich und vollständig für den Fall einer Überprüfung dokumentiert wird. Wurde entschieden, dass auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet wird, sollten umgehend Maßnahmen der Palliativver­ sorgung eingeführt oder intensiviert werden, um die bestmögliche Lebensqualität zu erreichen. Während des Sterbens und nach dem Tod sollte das Behandlungsteam eine Trauerbegleitung für die ­Familie, also auch die Geschwister sicherstellen und auch später für weitere Gespräche zur Verfügung stehen. 33.2.3

Patientenverfügungen

Bei fortgeschrittenen oder leidvollen lebenslimitierenden Erkrankungen ist es oft nicht im besten Interesse des Patienten, im Falle einer akuten Verschlechterung auf alle intensivmedizinischen Möglichkeiten wie Reanimation oder Intubation zurückzugreifen. Diese Maßnahmen sollten dann unterbleiben. Bei der Gewichtung von kurativen und palliativen Therapieelementen von Kindern mit ­lebenslimitierenden Erkrankungen sind die Wünsche des betroffenen Kindes und seiner Eltern unbedingt zu berücksichtigen. Als Orientierungshilfe für eine solche Situation wurde das Formblatt „EVN-Order“ von G. Rellensmann und C. Hasan ent­ wickelt und 2008 von den Teilnehmern des Bundesarbeitskreises Pädiatrische Palliativmedizin (BAPP) zur Verwendung in der Pädiatrie empfohlen (. Abb. 33.1). Dort wird dokumentiert, welche ­therapeutischen Maßnahmen bei einer akuten Verschlechterung oder lebensbedrohlichen Situation aus Sicht des Patienten oder der Sorgeberechtigten angemessen sind, z. B. „Intubation ja/nein“, „Kardiopulmonale Reanimation ja/nein“ usw. Für die behandelnden Ärzte ist die EVN-Order eine wichtige Hilfe, da in Notfallsituationen oft nicht die erforderliche Zeit bleibt, um zu klären, welches Vorgehen am ehesten im Sinne des Patienten ist. Dies gilt in besonderem Maße für den Notarzt in der ambulanten Versorgung, der mit der Situation des Patienten nicht vertraut ist. Für den Patienten und seine Angehörigen stellt die vorsorgliche Erörterung des therapeutischen Vorgehens in Notfallsituationen eine Möglichkeit dar, das Lebensende vorzubereiten und einen würdigen Abschied und Tod zu ermöglichen.

33.2.4

Kommunikation

Emotionen  Der Tod eines Kindes ist für die Betroffenen eine g­ roße Belastung, die starke Gefühle auslöst. Menschen, die profes­ sionell mit Sterbenden und ihren Angehörigen arbeiten, sind regelmäßig mit Trauer, Hilflosigkeit, Wut sowie Bewältigungsstrategien wie Ambivalenz und Verdrängung konfrontiert. Voraussetzung für jede Form der Kommunikation ist, dass sich Ärzte wie Therapeuten bewusst mit diesen Gefühlen auseinandersetzen. Eltern wollen einerseits ihr Kind vor Leid bewahren und einen möglicherweise leidvollen Sterbeprozess nicht verlängern. Andererseits wollen sie ihr geliebtes Kind auf keinen Fall verlieren. Diese scheinbar widersprüchlichen Positionen können eine lähmende Entscheidungsunfähigkeit zur Folge haben. Eine Möglichkeit des Umgangs mit Ambivalenz ist, in Gesprächen beiden Positionen ­Ausdruck zu verleihen und nicht zu versuchen, die Ambivalenz aufzulösen: „Auf der einen Seite wünschen wir uns alle, dass ihr Kind noch lange und gut lebt. Auf der anderen Seite wissen wir aber leider, dass …“ >> In jedem Falle ist es eine Grundvoraussetzung für die Arbeit mit Sterbenden und ihren Angehörigen, sich mit den dabei aufkommenden Gefühlen auseinanderzusetzen – beispielsweise im Rahmen einer Supervision.

Kommunikation mit dem Sterbenden  Ein Teil der palliativ behandelten Patienten ist bis zum Lebensende bei vollem Bewusstsein und kann sich mit seinen Angehörigen austauschen. Diese Patienten verleihen ihrem Wunsch nach Kommunikation je nach Alter und Entwicklungsstand auf sehr unterschiedliche Weise Ausdruck und verwenden dabei eigene Metaphern, die meist von ihren Todes­ konzepten geprägt sind. Die Kenntnis der entwicklungsabhängigen Todesvorstellungen von Kindern kann zum Verständnis hilfreich sein. Wenn Eltern ihrem Kind verschweigen wollen, dass es lebensbedrohlich erkrankt ist, andererseits die behandelnden Ärzte und Krankenschwestern eine offene Kommunikation mit dem Kind wünschen, kann dies zu Konflikten führen. Die Eltern versuchen, ihr Kind zu schonen und Belastendes von ihm fernzuhalten. Die Er­ fahrung zeigt jedoch, dass Kinder meist ahnen, wenn ihr Leben bedroht ist. Von häufigen, wiederkehrenden, teils schmerzhaften Untersuchungen oder therapeutischen Eingriffen, von sterbenden Kindern mit einem ähnlichen Krankheitsbild ziehen sie Rück­ schlüsse auf ihren eigenen Zustand. Auch haben sie oftmals ein feines Gespür für das, was in ihren Eltern vorgeht. Die Mitteilung der „Wahrheit“ des in greifbare Nähe gerückten Todes ist für diese ­Kinder und Jugendlichen „keine Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern die Bestätigung dessen, was sie ohnehin wissen oder zumindest ahnen“. Sterbende Kinder fragen sich: Tut Sterben weh? Wann werde ich sterben? Werde ich allein sein, wenn ich sterbe? Was kommt danach? Auch wenn es auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten gibt, kann man den Kindern einen Teil ihrer Ängste nehmen, indem man ihnen neben einer effizienten Schmerztherapie zu­ sichert, dass sie während des Sterbens nicht alleine sein werden. Nicht immer aber sind Gespräche mit dem Kind möglich. So leiden viele Kinder der pädiatrischen Palliativversorgung an einer schweren Beeinträchtigung ihrer kognitiven Funktionen. Doch auch bei diesen Kindern sind Interaktionsmöglichkeiten vorhanden, sie reagieren meist deutlich auf die Anwesenheit vertrauter Menschen, auf basale Stimulation, Musik und die emotionale Stimmung im Raum. Aus diesem Grunde sollten bei diesen Kindern potenziell

33

850

B. Zernikow

33

..Abb. 33.1  Vorgehen in Notfallsituationen (Rellensmann u. Hasan 2009)

belastende Gespräche mit den Eltern (z. B. über die Patientenverfügung) möglichst in einem anderen Raum stattfinden. Manche Eltern erleben es als hilfreich, ihrem Kind im Verlauf mit einfachen Worten den Stand ihrer Entscheidung mitzuteilen: „Wir haben beschlossen, dass du gehen darfst, wenn es soweit ist. Und wir werden dafür sorgen, dass du keine Schmerzen hast und dass immer jemand in deiner Nähe ist.“ Auch wenn unklar ist, wie viel das Kind davon versteht, kann diese Mitteilung für die Eltern eine wichtige Form der Vorbereitung auf das Lebensende ihres Kindes darstellen. Kommunikation mit den Eltern  Das Wissen um die schwere Erkrankung des eigenen Kindes ist ein für die Eltern sehr leidvoller Prozess. Zusätzlich führen die kontinuierlichen Versorgungsaufgaben nicht selten zu körperlich-seelischer Erschöpfung (Burn-out oder chronisches Erschöpfungssyndrom). Teilweise haben Eltern unrealistische Vorstellungen bezüglich der Heilungschancen ihres Kindes. Ein behutsames Hinführen auf die Möglichkeit des Sterbens ist die Voraussetzung für eine hilfreiche, auch auf die Bedürfnisse der Eltern abgestimmte palliative Therapie.

Die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern ist existenziell wichtig. Daher sollten bei der Gewichtung kurativer und palliativer Therapieelemente die Ansichten der Eltern Berücksichtigung finden. Teilen Eltern und Behandelnde unterschiedliche Ansichten über den zu beschreitenden Weg, kann dies zu Spannungen führen, die das Kind wahrnimmt, die es verunsichern und somit über vermehrte Anspannung und Stress beispielsweise zu vermehrten Schmerzen führen können. >> Ein Loyalitätskonflikt des Kindes zwischen Eltern und Ärzten ist nach Möglichkeit zu vermeiden.

Kommunikation mit den Geschwistern  Viele Geschwister von

Kindern mit einer lebenslimitierenden Erkrankung sind im Vergleich zu ihren Altersgenossen ängstlicher und leiden vermehrt ­unter Schuldgefühlen, aggressiven oder regressiven Verhaltensmustern, Schulproblemen, Schlafstörungen, Essstörungen oder Kopfschmerzen. Andererseits zeigen Geschwister auch eine positive Entwicklung in Form von einer gesteigerten Wertschätzung für das

851 Palliativmedizin und ­Schmerztherapie

..Abb. 33.2  Faces Pain Scale – Revised. Für weitere Erklärungen 7 www. iasp-pain.org/FPSR. (This Faces Pain Scale-Revised has been reproduced with permission of the International Association for the Study of Pain

(IASP); Mit freundl. Genehmigung der International Association for the Study of Pain; )

eigene Leben und ihre Familie, erhöhter Empathie und Sensibilität für andere sowie einem gestärkten Selbstbewusstsein mit beschleunigter Persönlichkeitsentwicklung. Eine offene Kommunikation­ in der Familie über die mit der Erkrankung verbundenen Aspekte ermöglicht den Geschwistern ein realistisches Verständnis der Erkrankung.

Schmerzeinschätzung erfolgen, mit deren Hilfe auch der weitere Therapieerfolg besser nachvollziehbar ist. Bei jüngeren Kindern kann eine Skala mit 6 Gesichtern angewendet werden, wobei die Gesichter von links nach rechts mit 0, 2, 4, 6, 8 oder 10 Punkten gleichgesetzt werden können. Auch hier sollte in einer kindgemäßen Sprache nach Schmerzen und nicht nach der Gefühlslage wie „glücklich“ oder „traurig“ gefragt werden (. Abb. 33.2). Wenn das betroffene Kind nicht in der Lage ist, sich selbst einzuschätzen bzw. die Mitarbeit verweigert, sollten Fremdeinschätzungsskalen verwendet werden. Auch hier eignet sich die numerische Ratingskala, bei schwer mehrfach behinderten Patienten kann das Paediatric Pain Profile eingesetzt werden. Dabei handelt es sich um eine Liste mit 20 Verhaltensweisen wie „war fröhlich“ oder „weinte/jammerte/stöhnte“, die über einen gewissen Zeitraum be­ obachtet und je nach Auftreten mit einem Punktwert angegeben werden (auf Englisch auch im Internet unter www.ppprofile.org.uk; eine deutsche Übersetzung gibt es von Zernikow, 2015).

>> Professionelle Geschwisterarbeit in Form von Gruppentreffen und gemeinsamen Aktivitäten kann das Risiko körperlicher und seelischer Erkrankungen verringern.

33.3

Schmerztherapie

33.3.1

„Total Pain“

Fast alle Kinder leiden am Lebensende unter Schmerzen. Voraus­ setzung einer adäquaten Schmerztherapie ist das Wissen um biopsycho-soziale Faktoren bei der Entstehung von Schmerzen. Der „biologische“, offensichtliche Befund erklärt häufig nicht das Ausmaß der subjektiv empfundenen Schmerzen. Neben biologischen Faktoren, wie genetischer Disposition bezüglich der Schmerzempfindlichkeit, entscheiden auch psychosoziale Faktoren wie Angst oder Aufmerksamkeit auf den Schmerz über das Ausmaß der subjektiven Beeinträchtigung. Physische, psychische, soziale und spirituelle Faktoren be­ einflussen die Entstehung von Schmerzen. Kann mit einer medikamentösen Schmerztherapie kein zufriedenstellender Erfolg erzielt werden, ist zu prüfen, ob eine der anderen Schmerzdimensionen nicht ausreichend beachtet wurde. Hinsichtlich der psychischen Dimension kann der Schmerz eine Botschaft enthalten wie „Wie stark müssen meine Schmerzen werden, bis ihr mir die Wahrheit sagt?“; „Bleib bei mir, ich will nicht alleine sein“; „Ich habe solche Angst vor dem Tod“; „Meine ganze Verzweiflung schreie ich heraus, wenn du meinen Verband wechselst“. Die multiprofessionelle Arbeit mit Psychologen und Seelsorgern stellt hier einen wesentlichen Ansatz dar, um auch soziale Faktoren wie der elterlichen Belastung, die sich auf das kranke Kind übertragen kann, gerecht zu werden. 33.3.2

Schmerzerfassung

Idealerweise erfolgt die Einschätzung der Schmerzen durch das Kind oder den Jugendlichen selbst. Für eine möglichst genaue Einschätzung von Schmerzen eignet sich bei Kindern ab Schulalter die numerische Ratingskala (NRS), ein Zahlenstrahl von 0 bis 10. Mit den Worten „Zeige mir bitte, wie stark deine Schmerzen sind – Null bedeutet keine Schmerzen, 10 bedeutet stärkste Schmerzen“ kann eine

33.3.3

33

Medikamentöse Schmerztherapie

Grundregeln 55Die Schmerztherapie sollte gemäß WHO-Stufenschema ­erfolgen (7 Abschn. 33.3.4). Dabei sollten Opioide, wenn ­erforderlich, frühzeitig zum Einsatz kommen. 55Die Kombination von Opioid und Nichtopioid hat sich bei bestimmten Schmerzsyndromen (z. B. Knochenschmerzen) bewährt. 55Die orale Applikationsform ist zu bevorzugen, auch ­stärkste Schmerzen können ausreichend oral behandelt ­werden. 55Die Verabreichung von Analgetika erfolgt regelmäßig nach der Uhr sowie zusätzlich bei Schmerzspitzen nach Bedarf. 55Obstipation ist die häufigste Nebenwirkung einer Opioid­ analgesie, sie muss prophylaktisch mit stuhlregulierenden Maßnahmen behandelt werden. Weitere mögliche Nebenwirkungen sollten dem Arzt bewusst sein, um rechtzeitig ­darauf reagieren zu können. 55Die Dokumentation der Effektivität der Therapie im Verlauf (z. B. durch wiederholte Selbst- oder Fremdeinschätzung der Schmerzen) sowie von Nebenwirkungen ist fester Bestandteil einer hochwertigen Schmerztherapie. 55Wenn unter Einhaltung dieser Grundregeln keine aus­ reichende Besserung eintritt, sollte ein Schmerztherapeut oder Palliativmediziner hinzugezogen werden. . Abb. 33.3 und . Abb. 33.4 zeigen die Medikation mit Nicht-­ Opioid- und Opioidanalgetika.

852

B. Zernikow

Schmerztherapie Nicht-Opioid-Analgetika Auswahl nach Pathophysiologie (Entzündungsschmerz => Ibuprofen, Diclofenac; krampfartige Bauchschmerzen => Metamizol) und Kontraindikationen (hohes Blutungsrisiko => Paracetamol

Medikament

Applikation

Einzeldosis

Dosisintervall

Tageshöchstdosis (bis 50 kg)

Tageshöchstdosis (Erwachsene)

Präparatebeispiel

Diclofenac

po, Supp

1 mg/kg

(6 h bis) 8 h

3 mg/kg/d

150 mg/d

Voltaren® Tabletten 25; 50 mg, Dispers 50 mg, Retardtbl. 50 mg, Supp ab 25 mg

Ibuprofen

po, Supp

10 mg/kg

6 h (bis 8 h)

40 mg/kg/d

2400 mg/d

Nurofen® Saft (5 ml = 100 oder 200 mg), Supp ab 60 mg

Metamizol

po, Supp iv als Kurzinfusion über 15 min.

15 mg/kg

(4 h bis) 6 h

75 mg/kg/d

5000 mg/d

Novalgin® Tropfen (1 Tr. = 25 mg), Supp 300 und 1000 mg

Paracetamol

po, Supp

15 mg/kg

(4 h bis) 6 h

2 Jahre 90 mg/kg/d

4000 mg/d

Ben-u-ron® Saft (5 ml = 200 mg), Supp ab 75 mg

6h

< 1 Jahr 30 mg/kg/d > 1 Jahr 60 mg/kg/dt

4000 mg/d

Perfalgan® 10 mg/ml (Flaschen à 500 oder 1000 mg)

Ladungsdosis zu Beginn der Therapie: 30 mg/kg

33

iv als Kurzinfusion über höchstens 15 min.

< 1 Jahr 7,5 mg/kg > 1 Jahr 15 mg/kg

keine Ladungsdosis

..Abb. 33.3  Schmerzkarte: Nicht-Opioid-Analgetika. (http://www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de/aerztetherapeuten/frageboegen-und-tagebuecher/schmerzkarte; mit freundl. Genehmigung von B. Zernikow)

..Abb. 33.4  Schmerzkarte: Opioide. (http://www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de/aerztetherapeuten/frageboegen-und-tagebuecher/schmerzkarte; mit freundl. Genehmigung von B. Zernikow)

853 Palliativmedizin und ­Schmerztherapie

33.3.4

WHO-Stufenschema

Das WHO-Stufenschema (. Abb. 33.5) unterscheidet zwischen hochpotenten und niedrigpotenten Opioiden. Einige niedrigpo­ tente Opioide wie Tramadol sind einerseits nicht BTM-pflichtig, was die Verordnung und Handhabung im klinischen Alltag deutlich erleichtert. Andererseits haben alle niedrigpotenten Opioide einen Ceiling-Effekt: Ab einer Schwellendosis führt die Dosissteigerung zu keiner weiteren Zunahme der analgetischen Wirkung. Demgegen­ über sind hochpotente Opioide zwar BTM-pflichtig, es existiert für sie jedoch keine Maximaldosis, solange die Dosissteigerung auch mit einer Steigerung der analgetischen Wirkung einhergeht. Nur die Nebenwirkungen entscheiden somit, welche Dosis für den Patienten noch vertretbar ist. Die Errechnung der Dosis erfolgt bei Kindern stets auf einer mg/ kgKG-Basis bis hin zu einer maximalen Starteinzeldosis (Beispiel: „orales unretardiertes Morphin 0,2 mg/kgKG (maximal 5 mg) alle 4 h“).

WHO-Stufe 1 Klassische Nicht-Opioid-Analgetika der pädiatrischen Palliativmedizin sind Paracetamol, Ibuprofen und Metamizol (. Abb. 33.3 und . Abb. 33.5). Paracetamol  Paracetamol (PCM) ist das am meisten eingesetzte Nicht-Opioid-Analgetikum in der Pädiatrie. Der genaue Wirkmechanismus ist bisher ungeklärt. Aufgrund des geringen Effekts auf die periphere Cyclooxygenase (COX) löst es keine klinisch relevante Thrombozytenaggregation oder gastrointestinale Mukosaschäden aus. Bei oraler oder rektaler Applikation sollte bei erstmaliger Gabe eine „loading dose“ (Sättigungsdosis) appliziert werden, d. h. einmalig die doppelte Dosis. Wegen der besonders in palliativen Situationen eingeschränkten Entgiftungskapazität der Leber und der potenziell lebertoxischen Wirkung von PCM (PCM-Überdosierungen sind der häufigste Grund für ein Leberversagen bei Kindern) sollten bei einer Langzeittherapie über 72 h regelmäßig Leberwerte wie SGOT (syn. AST, ASAT), S-GPT (syn. ALT, ALAT) und die Gerinnung kontrolliert werden. Ibuprofen  Ibuprofen zählt zur Gruppe der nichtsteroidalen Anti-

rheumatika (NSAR). Es wirkt mittels Hemmung der Cyclooxyge­ nase analgetisch sowie hemmend auf die Thrombozytenaggregation. Sein Einsatz sollte nur dann erfolgen, wenn eine ausreichende Thrombozytenfunktion vorausgesetzt werden kann. NSAR sind gut verträglich, ihre antientzündliche Wirkkomponente ist bei bestimmten Schmerzerkrankungen von Vorteil. Im Rahmen einer Dehydratation, welche in der terminalen Phase bei palliativen Patienten häufig ist, kann die Gabe von NSAR ein Nierenversagen auslösen. Bei Langzeiteinnahme ist eine Schädigung der gastrointestinalen Mu­ kosa nicht selten und kann zu Ulzera und Verdauungsschwierigkeiten führen. Die diesbezüglich prophylaktische Gabe von Omeprazol ist gängige Praxis, ihre Wirksamkeit bislang jedoch für das Kindesalter nicht ausreichend untersucht. Metamizol  Innerhalb der Gruppe der Nicht-Opioid-Analgetika hat Metamizol den größten analgetischen Effekt. Wegen seiner spasmolytischen Wirkung eignet es sich besonders zur Behandlung von abdominellen Schmerzen. Metamizol wird häufig auch in Kombination mit Opioiden eingesetzt, um die erforderliche Opioiddosis und die damit verbundenen unerwünschten Wirkungen, v. a. die Obstipation, zu verringern, obgleich dieser Effekt bislang wissenschaftlich nicht belegt ist.

3

Starke bis sehr starke Schmerzen

Medikation adjustieren bis zur Starke Opioide Schmerzfreiheit +/– Nicht-Opioid-Analgetikum (keine Maximaldosis +/– Adjuvans für starke Opioide) (reine µ-Agonisten)

2

Mittelstarke Schmerzen

Schwache Opioide +/– Nicht-Opioid-Analgetikum Schmerz persistiert oder nimmt zu +/– Adjuvans

1

Schwache Schmerzen

Nicht-Opioid-Analgetikum +/– Adjuvans

WHO stratefiziertes Stufe Vorgehen

Medikation

Schmerz persistiert oder nimmt zu Vorgehen bei Therapieversagen

..Abb. 33.5 WHO-Stufenschema

International umstritten ist Metamizol aufgrund des sehr geringen Risikos einer Agranulozytose. Tritt unter Metamizol ein septisches Krankheitsbild auf, sollte das Vorliegen einer Neutropenie geprüft und Metamizol im Zweifelsfall abgesetzt werden. Unter dieser Maßnahme kommt es üblicherweise zu einer Normalisierung der Granulozytenzahl. Weitere Nebenwirkungen sind Überempfindlichkeitsreaktionen sowie ein Blutdruckabfall, letzterer v. a. bei zu rascher i.v.-Gabe, weshalb Metamizol nur bei stabilem Kreislaufverhältnissen und i.v. nur als Kurz- oder Dauerinfusion verabreicht werden sollte.

WHO-Stufe 2 Auf der 2. Stufe des WHO-Schemas kommen niedrigpotente Opioide zur Behandlung mittelstarker Schmerzen ohne Progredienz zum Einsatz. Ist jedoch davon auszugehen, dass die zu behandelnden Schmerzen stark sind, bzw. dass sie an Intensität rasch zunehmen werden, kann direkt mit der Gabe von Opioiden der Stufe 3 begonnen werden (. Abb. 33.4 und . Abb. 33.5). Tramadol  Tramadol kann sowohl oral als auch i.v. verabreicht werden. Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Atemdepression sind in der Pädiatrie selten, zumal ab einer Dosierung über 10 mg/ kgKG/Tag meist ein Wechsel auf Morphin erfolgt. Tramadol wird durch das Enzym CYP2D6 in seinen pharmakologisch aktiven Metaboliten O-Desmethyltramadol umgewandelt. Je nach Enzymaktivität kann es zu erheblichen interindividuellen Unterschieden in der Wirksamkeit von Tramadol kommen. Tilidin  Tilidin ist als Kombipräparat mit Naloxon nur als orales

Medikament erhältlich. Die Beigabe von Naloxon verhindert einerseits die missbräuchliche i.v.-Verwendung, andererseits werden unerwünschte Nebenwirkungen wie Obstipation seltener beobachtet. Die Autoren setzen häufig Tilidin/Naloxon bei schwerstmehrfachbehinderten Patienten ein. Zahlreiche Fallberichte belegen gute Erfahrungen damit.

WHO-Stufe 3 Hochpotente Opioide können neben einer analgetischen Wirkung auch eine Hyperalgesie hervorrufen. Die klinisch beobachtbare Wirkung ist dann der Nettoeffekt zwischen analgetischer und hyperalgetischer Wirkung. Beim Einsatz extrem hoher Morphindosen kann der hyperalgetische Effekt überwiegen, der Patient klagt bei Dosissteigerung über mehr Schmerzen und Berührungsempfindlichkeit. In einem solchen Falle sollte das Opioid gewechselt werden.

33

854

B. Zernikow

Obwohl zahlreiche starke Opioide im klinischen Alltag zum Einsatz kommen, beschränkt sich die weitere Darstellung auf Morphin und Fentanyl, wir verweisen auf die entsprechende Fachliteratur zum Thema pädiatrische Schmerztherapie. Eindosieren und Absetzen von Opioiden  Die aktuellen Dosis-

empfehlungen zum Beginn einer Opioidtherapie finden sich in

. Abb. 33.4. Ausgehend von der Startdosis sollte der Patient nach

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einem festen Zeitplan, z. B. alle 6 oder 8 h sein Opioid erhalten. Bei Säuglingen unter 6 Monaten und Kindern mit einem Zerebralschaden sollte nur ⅓–¼ der empfohlenen Startdosis verabreicht werden. Zusätzlich zur Startdosis wird eine Bedarfsmedikation angesetzt, die 1⁄6 bis ein Zehntel der Tagesdosis beträgt. Sie muss konstant an den steigenden Tagesbedarf angepasst werden. Häufig tritt zu Beginn einer Opioidtherapie vermehrte Müdigkeit, seltener auch Übelkeit auf, diese Symptome sind innerhalb weniger Tage rückläufig. Bei korrekter Vorgehensweise und oraler Applikation ist keine atemdepressive Wirkung zu erwarten. Mit Beginn der Opioidtherapie sollten vorbeugend stuhlregulierende Maßnahmen erfolgen. Wird ein Opioid ca. 5 Tage lang eingenommen, wird die Opioidmenge bei Therapieende über 3–4 Tage schrittweise ausgeschlichen. Bei einer längeren Anwendungsdauer reduziert man anfangs die Dosis um 20–40% in 24 h, später um 10–20% in 24 h. Treten Entzugssymptome auf, wird eine weitere Reduktion zunächst ausgesetzt. Zur Therapie von Entzugssymptomen ist eine zusätzliche Opioidgabe weitaus besser geeignet als die Gabe eines Benzodiazepins. Die Opioidentwöhnung kann mehrere Wochen dauern, in bestimmten Fällen kann Clonidin die Entwöhnung erleichtern. Morphin  Morphin wird als Standardanalgetikum zur Behandlung

Nebenwirkungen von Opioiden  Die wichtigsten Nebenwirkungen von Opioiden bei Kindern und Jugendlichen sind Obstipation, Übelkeit, Erbrechen, Juckreiz und Müdigkeit. Zur Minimierung dieser Beschwerden sollten die Optionen Dosisreduktion, symptomatische Therapie des Schmerzauslösers, Wechsel des Opioids sowie Wechsel des Applikationswegs geprüft werden. Zur Vermeidung von Obstipation sollte eine prophylaktische Stuhlregulation erfolgen (z. B. Macrogol). Übelkeit und Erbrechen treten meist nur in der ersten Woche auf, manche Kinder profitieren von DimenhydrinatKaugummi (10 mg oder 20 mg). Juckreiz kann bei stabiler Schmerzsituation mit einer passageren Dosisreduktion reduziert werden, teilweise ist Clemastin hilfreich. Andernfalls ist ein Opioidwechsel, z. B. auf Hydromorphon, erforderlich. Müdigkeit ist eine häufige Nebenwirkung zu Beginn der Morphintherapie, bei einer Niereninsuffizienz sollte eine Opioidrotation auf Buprenorphin erfolgen. Seltene Nebenwirkungen sind Harnverhalt, Halluzinationen und Myoklonien. Eine Atemdepression ist bei oraler Therapie­ mit retardiertem Morphin und adäquater Dosierung nicht zu befürchten.

Adjuvanzien Adjuvanzien sind eine heterogene Gruppe von Substanzen, die nicht als klassische Analgetika gelten, auch wenn sie bestimmte Schmerzen reduzieren oder Nebenwirkungen der Schmerztherapie verringern können (7 Koanalgetika 7 http://www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de/fileadmin/media/PDF-Dateien/Schmerzkarte_web.pdf). Zu den adjuvanten Schmerzmitteln zählen u. a. trizyklische Antidepressiva, Sedativa, Hypnotika, Neuroleptika, Antikonvulsiva und Glukokortikosteroide. Ihr Einsatz in der pädiatrischen Palliativmedizin erfolgt nur in Ausnahmefällen, z. B. bei neuropathischen Schmerzen.

starker Schmerzen eingesetzt. Es existiert keine obere Dosisgrenze, die erforderliche Dosis sollte ausgehend von einer Startdosis vorsichtig eintitriert werden. Bei oraler Applikation variiert die Absorption teils erheblich, die Bioverfügbarkeit beträgt im Durchschnitt etwa ⅓ der verabreichten Dosis. Entsprechend sollte für einen äqui­ analgetischen Effekt bei einem Wechsel zur i.v.-Applikation nur ⅓ der oralen Dosis gegeben werden. Der maximale Wirkspiegel wird bei Erwachsenen nach einer Stunde erreicht. Da Morphin und seine Metabolite renal eliminiert werden, kann es bei Niereninsuffizienz vermehrt zu epileptischen Anfällen, Myoklonie und Unruhe bzw. Atemdepression kommen. Um einen konstanten Plasmaspiegel von Morphin zu erreichen, empfiehlt sich die 2- bis 3-mal tägliche Gabe von Retardpräparaten. Die kleinste erhältliche Retardtablette enthält 10 mg Morphin, sie sollte nicht mechanisch zerteilt werden, da es sonst zu einem Verlust der Retardierung kommt. Bei einem Körpergewicht unter 20 kg oder bei Schwierigkeiten in der Verabreichung von Tabletten empfiehlt sich die Gabe von Morphinretardgranulat. Dieses kann in Wasser gelöst, dann in sehr kleinen Dosierungen verabreicht und auch über dünne Magen- bzw. PEG-Sonden appliziert werden. Für Schmerzspitzen stehen unretardierte Präparate wie Morphintropfen oder -suppositorien zur Verfügung.

Patientenkontrollierte Analgesie (PCA)

Fentanyl  Fentanyl kann i.v., transdermal, transbukkal, sublingual sowie intranasal eingesetzt werden. In der Palliativversorgung krebskranker Kinder kommt häufig das transdermale System zum Einsatz. Dieses sollte jedoch nur eingesetzt werden, wenn eine stabile Opioiddosis über mehrere Tage verabreicht wurde und eine Therapiedauer von einigen Wochen antizipiert wird. Für Durchbruchschmerzen kommt zunehmend Fentanyl als bukkale, sublinguale oder nasale Applikationsform zum Einsatz. Studien zu Kindern in der Palliativsituation fehlen.

Dyspnoe  Etwa jedes zweite Kind der pädiatrischen Palliativversorgung leidet am Lebensende unter Atemnot. Zahlreiche Symptome wie zähes Sekret, eine Infektion, eine obstruktiven Bronchitis, eine Flüssigkeitsüberladung, ein Pleuraerguss u. a. können Atemnot auslösen und sind in der Regel gut behandelbar. Kann das Vorliegen einer solchen Ursache ausgeschlossen werden, hat sich die Gabe von Opioiden bewährt sowie eine optimierte Lagerung im Bett, Physiotherapie bzw. Atemtherapie und Maßnahmen zur Reduktion von Angst. Mittel der zweiten Wahl sind Benzodiazepine und schwache

Ist im Rahmen einer Schmerztherapie die längerfristige i.v.-Applikation von Opioiden erforderlich, kann der Einsatz einer PCA-Pumpe von Vorteil sein. Damit kann sich der Patient – zusätzlich zu einer basalen Infusion – bei Bedarf Schmerzmittelboli verabreichen. Kinder ab 7 Jahren verstehen das Prinzip der PCA-Pumpe rasch. 33.4

Symptomkontrolle in der ­Lebensendphase

Schmerzen, Dyspnoe, Verhaltensänderungen, Nicht-essen-Wollen und verändertes Aussehen – das sind laut Elternbefragung die leidvollsten Symptome in den letzten Lebenstagen von Kindern mit Krebs. Psychische Symptome wie Angst vor dem Alleinsein, Traurigkeit und Sprachlosigkeit werden jedoch oft nicht ausreichend wahrgenommen. Die Linderung leidvoller Symptome am Lebensende stellt eine wichtige Aufgabe pädiatrischer Palliativmedizin dar. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf das Symptom Dyspnoe.

855 Palliativmedizin und ­Schmerztherapie

Neuroleptika. Sauerstoff sollte nur bei nachgewiesener Hypoxie zum Einsatz kommen, Steroide bei pulmonaler Obstruktion oder Tumorbegleitödemen, die einen Bronchus verlegen. Auch ein Ventilator, der Luft ins Gesicht bläst, konnte bei vielen Kindern eine Linderung der Atemnot bewirken. Das Lebensende unserer jungen Patienten ist häufig von Leid und Trauer geprägt. Dennoch erleben wir gerade in dieser ­Abschiedsphase zuweilen ein überraschend großes Spektrum des Lebens: tiefste Trauer und Verzweiflung, ansteckende Freude, ruhige Klarheit, Momente intensiver Begegnung. Den Patienten und seine Familie in diesem weiten Spektrum zu begleiten ist ein wichtiger Teil pädiatrischer Palliativmedizin.

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Serviceteil Sachverzeichnis – 858

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. P. Speer et al. (Hrsg.), Pädiatrie https://doi.org/10.1007/978-3-662-57295-5

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Serviceteil

Sachverzeichnis

A AABR-Screening 764 AB0-Erythroblastose 116 AB0-Identitätstest 560 AB0-System 560 Abdecktest 732 Abdomen, akutes 505 –– Appendizitis 519 Abdominalhoden 611 Abduzensparese 753 Aberrationen –– chromosomale 7 Chromosomenaberrationen Abetalipoproteinämie 73 Ablation 482 Ablepharon 736 Absence, pyknoleptische 171 Absenceepilepsie 171 Abstoßungsreaktion 601 Abszess –– spinaler 369 –– subperiostaler 345, 347 Abt-Letterer-Siwe-Krankheit 434 Acanthosis nigricans 686 Acetylcystein 284 Achalasie, ösophageale 498 Achondroplasie 724 Aciclovir 290, 293 Acne –– comodonica 793 –– conglobata 793 –– neonatorum 793 –– papulopustulosa 793 Acrodermatitis chronica atrophicans 339 Acute Respiratory Distress Syndrome 7 ARDS Adalimumab 269 Adaptation, postnatale 79 Addison-Erkrankung 67 Adenoide 769 Adenoma sebaceum 782 Adenosin 137, 482 Adenotomie 442 Adenovirusinfektion 307, 308 Aderhautkolobom 746 Adipositas 38, 686 –– Hypoventilation 442 Adjuvanzien 854 Adoleszentenkyphose 710 ADPKD (autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung) 625 Adrenalektomie 673 Adrenalin 88, 137 –– Autoinjektor 258 Adrenarche 653 adrenogenitales Syndrom 43, 113, 670, 672 –– 21-Hydroxylase-Mangel 670 Adrenokortikotrophes Hormon (ACTH) 659 –– Exzess 659 –– Mangel 659 Adrenoleukodystrophie 199, 200 –– neonatale 66, 132 –– X-chromosomale 67 Adrenomyeloneuropathie 67

Affektanfall 177 affektive Störungen 843 after drop 151 Agammaglobulinämie 243 –– X-chromosomal vererbte 243 Agoraphobie 832 Agranulozytose 853 Ahornsirupkrankheit 43, 59, 132 Aicardi-Syndrom 750 Aids 322 air trapping 107 Akanthozyten 547 Akne 793 Akrodermatitis –– enteropathica 497 –– infantile papulöse 793 Aktivierte-PI3K-Delta-Syndrom 244 Akustikusneurinom 782 Alagille-Syndrom 11, 119, 455, 468, 526, 529 Alaktasie 514 Albendazol 378, 380, 381, 382, 383 Albers-Schönberg-Krankheit 695 Albinismus 746 –– akulokutaner 746 –– okulärer 746 Albright-Syndrom 726 Albtraum 443 Aldosteron 486 Alkaliresistenztest 121 Alkoholspektrumstörungen 202, 203 Allergene 254 Allergie 254 –– Diagnostik 259 –– Hautreaktionen 785 –– Insektengift 258 –– Nahrungsmittel 35, 257, 513 –– Prävention 31 –– primäre Pävention 262 –– therapie 261 Allergologie 253 Alloimmunneutropenie, neonatale 556 Alloimmunthrombozytopenie –– neonatale 120 –– Neugeborene 564 Alopecia, areata 796 Alopezie 689 Alpers-Syndrom 199 Alpha-1-Antitrypsin 419 Alport-Syndrom 628, 633, 738 Alveolitis 143 –– exogen-allergische 431 Amblyopie 739, 749, 752 Amelogenese 804 Amelogenesis imperfecta 804 Amenorrhö 659 Aminoazidopathie 56, 132 Aminosäurentransportstörungen 61 Amiodaron 137 Ammoniakdermatitis 786 Amöbiasis 373 Amoxicillin 344 Amoxicillin-Clavulansäure 347 Amphotericin B 387, 389, 390

Ampicillin 127 amyotrophe Lateralsklerose 199 Anakinra 269 Analgesie, patientenkontrollierte 854 Analgetika 139 Analgosedierung 138 –– Medikamente 139 Anämie –– aplastische 575 –– Einteilung 547 –– erworbene aplastische 546 –– familiäre aplastische 545 –– Frühgeborene 113 –– hämolytische 553 –– hypoplastische 552 –– kongenitale 552 –– idiopathische aplastische 546 –– immunhämolytische 554 –– kongenitale sideroblastische 549 –– megaloblastäre 549 –– mikrozytäre 549 –– neonatale 112 –– Parvovirus B19 305 –– perniziöse 503 –– Thiamin-sensitive 550 Anamnese, Neurologie 181 Anaphylaxie 257, 258 –– Notfallapotheke 258 –– Schulungsprogramm 258 ANCA-positive Vaskulitis 632 Anderson-Hynes-Pyeloplastik 614 Androgen, Resistenz 699 Androgenbildung, Störungen 675 Androgenresistenz 675 Anenzephalie 185 Aneurysma 204 –– Ruptur 205 Anfall –– atonischer 170 –– epileptischer 170 –– Klassifikation 170 –– fokaler 170 –– klonischer 131, 170 –– myoklonisch-astatischer 172 –– myoklonischer 131, 170 –– neonataler 131 –– nichtepileptischer 176 –– psychogener 176 –– pyridoxinabhängiger 132 –– tonischer-klonischer 170 –– zerebraler 170 Angelmann-Syndrom 11, 12, 199, 202, 827 Angioödem 257, 259 –– hereditäres 785 Angiotensin II 486 Angststörungen 831 Aniridie 11, 742 Anisokorie 750 –– physiologische 751 Anisozytose 547 Ankylostomiasis 376 Ann-Arbor-Klassifikation 578 Anodontie 804

859 Sachverzeichnis

Anorchie 612 Anorexia nervosa 840 Anovulation 700 Anpassungsstörungen 837 Antibiotikatherapie, Sepsis 332 antidiuretisches Hormon 659 Antiepileptika 174 Antiepileptikarachitis 690 Antikardiolipin-Antikörper 569 Antikonvulsiva 91, 132 –– Gingivitis 804 Antikörper –– antineutrophile zytoplasmatische 633 –– Mangelsyndrom 243 –– Muttermilch 28 –– transitorischer Mangel 246 Antilymphozytenglobulin 599 Antimalariamittel 384, 391 Antipyretika 284 Antirefluxchirurgie, urologische 618 antiretrovirale Therapie 323 Antirheumatika, nichtsteroidale 268, 270 Antithrombinmangel 569 Antithymozytenglobulin 546 Antituberkulotika 354 α1-Antitrypsinmangel 119, 531 Aorta, überreitende 469 Aortenisthmusstenose 84, 454, 465, 486 Aortenklappe, stenosierte 467 Aortenklappenstenose 454 Aortenstenose 467 Apert-Syndrom 191 Apex-orbitae-Syndrom 348 Apgar-Schema 81, 86 Aphten 497 Aplasia cutis congenita 779 aplastische Krise 305, 552 –– akute 554 Apnoe –– Definition 105 –– Frühgeborenes 104 –– gemischte 106 –– obstruktive 105 –– Ursachen 105 –– zentrale 105 Apnoe-Bradykardie-Hypoxämie-Syndrom 105 Apoproteine 95 Apoptosedefekt 247 Appendizitis 519 Apple-peel-Malformation 510 Apt- 121 ARDS 142 –– Therapie 144 –– Verlauf 143 Argininbernsteinsäurekrankheit 44 Arginin-Vasopressin 659 Arm-Recoil 85 Armuts- und Reichtumsbericht 820 Armvorhaltetest 707 ARPKD (autosomal-rezessive polyzystische ­Nierenerkrankung) 624 Artemether 384 Artesunat 384 Arthritis –– akute transiente 271 –– bakterielle 363 –– Diagnose 268 –– Enthesitis-assoziierte 267

–– infektassoziierte 270 –– juvenile idiopathische 266 –– juvenile rheumatoide 604 –– Klinik 266 –– pyogene 363 –– reaktive 269, 270, 271 –– septische 128 –– Therapie 268 Arthrogryposis multiplex congenita 222, 223, 226, 232, 719 Arthus-Reaktion 406 Artikulationsstörungen 828 Arzneimittelexanthem 788 Arzneimittelunverträglichkeit 259 Askariasis 375, 376 –– biliäre 376 Asperger-Syndrom 826 Aspergillose 389 –– allergische bronchopulmonale 389 –– invasive 389 Asphyxie –– neonatale 132 –– Organschäden 89 –– perinatale 88 Aspiration 436 –– Wasser 151 Aspisviper 393 Asthmaanfall 428 –– akuter 431 Asthma bronchiale 426 –– allergisches 254 –– Ätiologie 426 –– Definition 426 –– Diagnose 428 –– Differenzialdiagnose 429 –– Epidemiologie 426 –– Klinik 428 –– Pathogenese 427 –– Therapie 429 Astigmatismus 731 Astrovirusinfektion 306 Astrozytom –– anaplastisches 595, 597 –– pilozytisches 591 Aszites 538 Ataxia telangiectatica 244, 249 Ataxie 183, 199 Atelektase 95, 107, 436 Atemfrequenz 415 Atemgasklimatisierung 141 Atemhilfe 436 Atemnotsyndrom 473 –– Frühgeborenes 94 Atemwege, Obstruktion 112 Atemwegsmalformation, kongenitale 416 Atmungskettendefekte 45, 46, 233, 637 Atmungsstörungen, schlafbezogene 440 Atopie 254, 426 atopische Dermatitis 254, 257 Atovaquon 384 Atresie, Pylorus 503 atrioventrikulärer Septumdefekt 454, 464 Atriumseptumdefekt 454 Atropin 137 Audiometrie 764 auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungs­ störung 766, 768 Aufdecktest 732, 749

Auffrischimpfung 402 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts­ störungen (ADHS) 827, 834 –– Asperger-Syndrom 827 Aufstoßen 36 Aufwach-Grand-mal-Epilepsie 171 Auge –– Anatomie 731 –– Herpes-simplex-Infektion 734 –– Untersuchungsmethoden 731 Augenhintergrund, Untersuchung 732 Augeninnendruckmessung 732 Augenmuskelparese 750, 752 Augenstellung, Prüfung 732 Aura 170 Ausrufungszeichenhaare 796 Aussprachestörungen 774 Austauschtransfusion 118 Autismus-Spektrum-Störungen 826 Autoimmunerkrankung –– blasenbildende 790 –– Zölikaie 514 Autoimmunhämolyse 553 Autoimmunhepatitis 534 Autoimmunkrankheiten 788 Autoimmun-lymphoproliferatives Syndrom (ALPS) 247, 558 Autoimmunneutropenie –– primäre 556 –– sekundäre 556 Autoimmunthyreoiditis 662, 663 Autosplenektomie 551 Auxiologie 647 AV-Block 480 AV-Block III° 482 AV-Dissoziation 482 AV-Knoten-Reentry-Tachykardie 482 AV-Malformation 203 Avulsion 802 Axenfeld-Rieger-Syndrom 741 Azathioprin 272 Azidose –– metabolische 233 –– metabolisch-respiratorische 110 –– renal-tubuläre 636 Aztreonam 450

B Backwash-Ileitis 517 Bade-PUVA 793 Bakteriämie 329 –– Ätiologie 329 –– Definition 329 –– Diagnose 331 –– Epidemiologie 329 –– Klinik 330 –– okkulte 282, 329 –– Pathogenese 329 –– Therapie 331 Bakterien, Sepsis 146 Bakteriurie 620 –– asymptomatische 619 Balantidium coli 374 Balkenagenesie 186 Balkonstirn 724 Ballard-Score 86

A–B

860

Serviceteil

Ballonatrioseptostomie 472, 475, 477 Ballonvalvuloplastie 468, 469 Balneophotochemotherapie 793 Bananenspinnen 396 Bannwarth-Syndrom 213 Barotrauma 87, 140 Barth-Syndrom 47 Bartter-Syndrom 636 Basalgangliennekrose 90 Basilarismigräne 208 basophilen Degranulationstest 261 Battered-child-Syndrom 746 Bauchatmung 84 Bauchlage 112 Bauchschmerzsyndrom, chronisches 506 Bauchwand 501 –– angeborener Defekt 501 –– Hernien 502 –– Verschluss 502 –– temporärer 501 Bayley Scales of Infant Development 202 Beatmung 139 –– ARDS 144 –– BIPAP 140 –– CPAP 142 –– Hochfrequenz 140 –– Indikation 138 –– intermittierende 442 –– Komplikationen 142 –– künstliche –– Neugeborene 87 –– Pneumothorax 108 –– Monitoring 140 –– Notfall 136 –– protektive 145 –– synchronisierte (SIMV) 140 –– Technik 139 –– Weaning 142 Becker-Muskeldystrophie 229 Becker-Myotonie 227 Becker-Nävus 794 Beckwith-Wiedemann-Syndrom 50, 113, 585 bedeutsam, allergische bronchopulmonale 450 Bednar-Aphthe 83 Bednar-Aphthen 497 behandeln, exogene 50 Behinderung 821 –– geistige 58, 166 Behr-Syndrom 757 Beikost 32 Beim Stevens-Johnson-Syndrom 497 Beinachsenfehlstellung 722 Beinaheertrinken 151 Beinlängendifferenz 722 –– Definition 722 –– Diagnostik 723 –– echte 723 –– Epidemiologie 723 –– funktionelle 723 –– Therapie 723 –– Ursachen 723 Beinlängenmessung 723 Beinverkürzung 711 Belastungsstörungen 837 Benzodiazepine 139 BERA-Screening 764, 765 Beratung, humangenetische 20

Bewegungsmuster 183 Bezold-Abszess 346 Bianchi-OP 516 Bielschowsky-Kopfneige-Phänomen 754 Bilingualität 822 Bilirubin, konjugiertes 118 Bilirubinenzephalopathie 115, 116 Bilirubinstoffwechsel 114 –– Störung 524 Binge Eating Disorder 840 Biotinidasemangel 43, 63 BIPAP-Beatmung 140 Biss, offener 806 Blackfan-Diamond-Anämie 113 Blähmanöver 87 Blähungen 36 Blalock-Taussig-Shunt 470 Bland-White-Garland-Syndrom 479 Blaschko-Linien 796 Blase –– Definition 779 –– dermolytische 791 –– Entleerungsstörung 618, 623 –– Urethralklappe 616 Blastocystis hominis 374 Blastomykose 390 Blepharitis 734 Blepharophimose-Ptose-Epicanthus-inversusSyndrom 11 Blepharophimose-Syndrom 736 Blick-Nick-Salaam-Krampf 172 Blickparese 754 Bloch-Sulzberger-Syndrom 796 Blockwirbel 724 Bloom-Syndrom 572 Blueberry-Muffin-Baby 543 Blutausstrich 546 Blutbild 543 –– weißes, Neugeborene 119 Blutglukosekonzentration 49 Blutstammzellen, periphere 599 Blutung –– gastrointestinale 505 –– intraventrikuläre 101 –– intrazerebrale 91 –– subdurale 91 Blutvolumen, Neugeborene 112 Blutzuckerbestimmung, postnatale 133 Bobath-Methode 821 Bocavirus, humanes 325 Bornholm-Erkrankung 320 Borreliose 213, 797 Bottleneck-Theorie 47 Botulismus 334 Botulismustoxin 334 Brachydaktylie 9 Bracing 418 Bradykardie, Definition 105 Brandt-Reinken-Wachsstumskurven 647 Brenner-Hypothese 640 Brillenverordnung 731 Bronchiallavage 108 Bronchiektase 433 –– angeborene 433 –– generalisierte 434 Bronchien, Fehlbildungen 415 Bronchiolitis 308, 310, 324, 422 –– obliterans 432

Bronchitis –– akute 421 –– chronische 422, 428 –– obstruktive 422 Bronchoskopie 437 Bronchospasmolysetest 429 Broviac-Katheter 516 Brustdrüsenschwellung, neonatale 83 Brustentwicklung 653 BSE-Infektion 317 Bulimia nervosa 840 Buphthalmus 740 Burkholderia cepacia 240 Burkitt-Leukämie 572 Burkitt-Lymphom 295, 519, 577 Byler-Syndrom 528 B-Zelldefekt, Impfung 252 B-Zelllymphomen 299

C Café-au-lait-Flecken 132, 782, 794 Calcineurininhibitoren 533, 788 Calcipotriol 792 Camsilon-Test 226 Canakinumab 269 Candidainfektion, neonatale 130 Candidiasis 389, 784 –– chronisch mukokutane 250 –– disseminierte 389 –– mukokutane 784 –– oropharyngeale 389 –– ösophageale 389 Carney-Komplex 672 Caroli-Krankheit 533 Caroli-Syndrom 526, 625 CCK-Sekretin-Test 535 CDG-Syndrom 68, 232 Ceiling-Effekt 853 CFC-Syndrom 18 Chalazion 734 Charcot-Marie-Tooth 201 Charcot-Marie-Tooth-Neuropathie 224 CHARGE-Assoziation 455 Chediak-Higashi-Syndrom 746 Cheilitis granulomatosa 497 Chelattherapie 550 Chest-Syndrom 331 Chiari-Fehlbildung 189 Chilblain-Lupus 789 Chinidin 227 Chinin 384 Chirp-BERA 765 Chlamydienarthritis 271 Chlamydienkonjunktivitis 737 Choanalatresie 112 Cholangitis –– autoimmunsklerosierende 534, 535 –– primär sklerosierende 534 Choledochuszyste 533 Cholelithiasis 533 Cholestase 524 –– Differenzialdiagnosen 526 –– extrahepatische 119 –– extrehepatisch bedingte 526 –– intrahepatische 119, 528 –– intrahepatische progressive familiäre 528

861 Sachverzeichnis

–– Stoffwechselerkrankungen 530 Cholesteatom 345, 762, 763 Cholesterolbiosynthesedefekte 68 Chondroblastom 725 Chondrodysplasia punctata, rhizomele 67 Chorea Huntington 199 Chorea minor 275 Chorea Sydenham 219 Choreoathetose 183 Chorioamnionitis 104 Chromosomenaberrationen –– numerische 5 –– strukturelle 5 Chromosomenanalyse 676 Chromosomenstörungen, gonosomale 8 chronic kidney disease 639 Churg-Strauss-Syndrom 274 Chylothorax 111 Ciclosporin A 533 Cidofovir 297, 308 Cimino-Fistel 641 CINCA-Syndrom 276 Citilli-Abszess 346 Clarithromycin 358 Clindamycin 363 Clonazepam 173 Clonidin 139 Closed-loop-System 684 Clostridium difficile, Kolitis 520 Cobalamin, Resorptionsstörungen 550 Cochleaimplantat 767 Cohen-Operation 618 Colistin 450 Colitis ulcerosa 517 –– Gelenkbeteiligung 270 common cold 309 common variable immunodeficiency 244 Condylomata acuminata 311 congenital anomalies of the kidney and urinary tract (CAKUT) 612 Conjunctivitis, vernalis 738 Conn-Syndrom 673 Conradi-Hünermann-Syndrom 68 Cook-Coils 461 Cooley-Anämie 550 Coombs-Test 554 –– direkter 118 –– indirekter 118 CO-OP-Methode 822 Coping 832 Cornelia-de-Lange-Syndrom 17, 455 Coronavirus, humanes 325 Corynebacterium, ulcerans 406 Costello-Syndrom 19, 687 Cotrimoxazol 375, 390 Coup des sabre 789 Couplets 480, 481 Coxa antetorta, idiopathische 721 Coxitis fugax 711 CPAP-Atmung 142 CPAP-Beatmung 87 CPAP-Therapie 442 CPS-Mangel 44 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit 316, 317 Cri-du-chat-Syndrom 8, 11, 455 Crigler-Najjar-Syndrom 115, 524 Crohn-Gastritis 503 Crouzon-Syndrom 191

Cullen-Zeichen 537 Curschmann-Steinert-Krankheit 228 Cushing-Syndrom 576, 672 Cyclophosphamid 272 Cyclosporiasis 374

D Dakryoadenitis 736 Dakryozystitis 737 Dakryozystorhinostomie 737 Dakryozystozele 737 Daktylitis, blasenbildende distale 356 Damus-Kaye-Stansel-Operation 472 Dandy-Walker-Malformation 188 Dapson 790 Darier-Zeichen 797 Darm –– chronisch entzündliche Erkrankung 517 –– Polypen 522 –– Rotationsfehlbildung 501, 502 –– Transplantation 513, 516 –– Versagen 515 Darmpolypen, Invagination 515 Dauerblutung, juvenile 700 Dawn-Phänomen 684 Debré-de-Toni-Fanconi-Syndrom 637 DEFECT-11-Syndrom 11 Dehydratation 509 Déjérine-Sottas-Syndrom 224, 225 Deletion-5p-Syndrom 455 Dellwarze 310, 734 De-Morsier-Syndrom 747 Dennie-Morgan-Infraorbitalfalte 787 Dent-Erkrankung 637 dentes natales 800 dentes praelactales 800 Dentinexposition 801 Dentinogenesis imperfecta 693, 804 Dentition –– erste 800 –– Säureerosion 801 –– zweite 800 Denver Developmental Screening Test 181, 202 Denys-Drash-Syndrom 585, 628, 630 Depression 843 Deprivation 819, 828 Dermalsinus 85, 195 Dermatitis –– exfoliativa neonatorum 129 –– herpetiformis 791 Dermatomykose 783 Dermatomyositis, juvenile 272 Dermographismus, weißer 787 Dermoidzyste 735 Derotationsosteotomie, intertrochantere 721 Desimpaktation 521 De-Toni-Debré-Fanconi-Syndrom 47, 52, 61, 71 –– Ätiologie 61 De-Vivo-Disease 50 Diabetes insipidus centralis 659 Diabetes insipidus renalis 636 Diabetes mellitus 678 –– Ätiologie 679 –– Ernährung 685 –– mütterlicher 133 –– Typ 1 680

–– Typ 2 685 –– Typ 3 686 Diagnostik –– molekulargenetische 45 –– Stoffwechselerkrankungen 43 Dialyse 149, 641 Diamond-Blackfan-Anämie 552 Diaphanoskopie 437 Diaphragma laryngis 771 Diarrhö 512 –– Kleinkinder 522 –– kongenitale 513 Diastematomyelie 185, 195 Diazepam 173 Diazoxid 50 Dickdarm 519 dicker Tropfen 384 DIDMOAD-Syndrom 659 Dientamoeba fragilis 374 Differenzierungsstörung, sexuelle 610 DiGeorge-Sequenz 250 DiGeorge-Syndrom 11, 13, 455 Dihydroartemisinin-Piperaquin 384 Diloxanidfuroat 373 Diphtherie 335 –– Impfung 406 –– Klinik 341 –– toxische 335 Diplegie, spastische 104 dirty neck 788 disseminierte intravasale Gerinnung 331, 568 dissiminierte intravasale Gerinnungstörung 147 dissozitative Störungen 838 Distalbiss 807 Diszitis 364 Diuretika 149 DNA-Sequenzierung 21 Dobutamin 137 Dopamin 137, 149 Doppelniere 614 Dornase 450 Dottersacktumor 589 Down-Syndrom 111, 202, 455, 827 7 Trisomie 21 Doxycyclin 793 Dreimonatskoliken 37 Dreitagefieber 299 Dreizackhand 724 Dubin-Johnson Syndrom 524 Dubowitz-Syndrom 545 Duchenne-Muskeldystrophie 229 Ductus arteriosus 80 –– persistierender 97 Ductus omphaloentericus 84 Ductus thoracicus, Defekt 111 Dumping-Syndrom 505 Dünndarm 510 –– Anomalien 510 –– Atresie 510 –– Transplantation 517 Duodenalatresie 510 Durchbruchschmerzen 854 Durchfall, Ernährung 35 Durchschlafstörungen 443 Durstfieber 283 dysembryoplastische neuroepitheliale Tumor 593

B–D

862

Serviceteil

Dysgenesie, retikuläre 545 Dysgerminom 589 Dyskeratosis congenita 545 Dyskinesie, primäre ziliäre 418 Dysmelie 724 Dysmenorrhö 700 Dysmorphie –– faziale 5 –– kraniofaziale 5 Dysostose 724 Dysostosis –– cleidocranialis 800 –– craniofacialis Crouzon 750 Dysphonie 772 Dysplasie –– bronchopulmonale 96, 98 –– epiphysäre, multiple 724 –– fibröse 726 Dyspnoe –– exspiratorische 428 –– Lebensende 854 –– neonatale 84 Dysraphie 184 –– spinale 184 Dystonie 183, 200 –– heriditäre 201 Dystrophie –– Hornhaut 738 –– myotone 228 Dystrophinopathie 229

E early childhood caries 800 Echinocandine 389 Echinokokkose 380 –– alveoläre 380 –– zystische 380 ECMO 145 –– Zwerchfellhernie, kongenitale 500 Ecthyma 357 Eculizumab 635 Edwards-Syndrom 8, 455 Effloreszen –– primäre 779 –– sekundäre 779 Ehler-Danlos-Syndrom 206, 565, 716, 718, 800 Eigenblutspende 559 Einschlafattacke 442 Einwärtsgang 721 Eisenmangel 497 –– Ursachen 548 Eisenmangelanämie 548 Eisenmenger-Reaktion 461, 462, 465 Eiweißverlustsyndrom 475 Ekchymose 92 Ekzem –– allergisches 786 –– atopisches 787 –– seborrhoisches 787 Ekzema herpeticatum 290 Elapiden 392 Elektrokochleographie 765 Elliptozytose, hereditäre 554 Ellis-van-Creveld-Syndrom 800 Elternberatung 817 Eltern-Kind-Beziehung 81

Eltern-Kind-Interaktion 820 Elternrecht 823 Embolie, paradoxe 463 Embryofetopathie, Röteln 315 Emery-Dreifuss-Muskeldystrophie 233 Emphysem 142 –– interstitielles 108 –– lobäres, kongenitales 416 –– lobuläres 416 –– subdurales 368 Encasing 256 Enchondrom 725 Enchondromatose 725 Endlängenprognose 648 Endokarditis –– infektiöse 478 –– Prophylaxe 478 Endokrinologie 645 –– Neoplasien 677 Endokrinopathie 678 Endometriose 701 Endomyokardbiopsie 478 Energiebedarf 26 Enoximon 137 Enterobiasis 377 enterohämorrhagische E coli (EHEC) 634 Enterokolitis –– hämorragische 634 –– nekrotisierende 114, 121 –– Diagnostik 122 –– Klinik 122 –– Kurzdarmsyndrom 515 –– Pathogenese 121 –– Therapie 122 Enterovirusinfektion 319 Entgiftung, extrakorporale 45 Entryinhibitoren 323 Entwicklung –– Grenzsteine 161 –– motorische 160 –– Neurologie 181 –– normale 160 –– psychomotorische 181 –– Risikofaktoren 162 –– sexuelle 7 Geschlechtsentwicklung –– Verzögerung 202 –– ZNS 184 Entwicklungsauffälligkeiten 819 –– somatische Ursache 819 Entwicklungsbeurteilung 161 Entwicklungsneurologie 160 Entwicklungspädiatrie 160 Entwicklungsphasen 161 Entwicklungsrückstand 5 Entwicklungsstörungen –– Motorik 828 –– schulische Fähigkeiten 828 –– schulischer Fertigkeiten 165 –– tiefgreifende 826 –– umschriebene 828 Entwicklungstheorie –– hierrachisch-lineare 160 –– individuell-variante 160 Entwicklungstherapie 160 Entwicklungsverzögerungen 161 Entwicklungsziele 161 Entzugssyndrom 139 –– neonatales 132

Enuresis 618 Enuresis nocturna 443 Enzephalitis 211, 213 –– autoantikörpervermittelte 214 –– Herpes 290 –– Masern 313 –– Röteln 314 –– Therapie 214 Enzephalomyelitis –– akute disseminierte 217 –– disseminata 216 Enzephalomyopathie, nekrotisierende 47 Enzephalopathie –– hypoxisch-ischämisches 89 –– neonatale 90 –– spongiforme 317 –– statische 195 Enzephalozele 185 Enzymdefekte, peroxisomale 67 eosinophile Granulozyten 261 eosinophile Ösophagitis 257 eosinophile Proktokolitis 257 Eosinophilie 373, 378, 557 EPEC-Diarrhö 520 Ependymom 592 –– Chemotherapie 597 –– Strahlentherapie 596 Epheliden 795 Epidemiologie 814 Epidermolyse, hereditäre 780 Epidermolysin 358 Epidermolysis bullosa –– dystrophe 781 –– junktionale 781 –– simplex 781 Epidermomykose 783 Epididymitis 355 Epiduralabszess 368 –– spinaler 369 Epiduralhämatom 210 Epiglottitis 420 Epikutantest 786 Epilepsie 169, 235 7 Anfall, epileptischer –– Diagnostik 173 –– fokale 171 –– generalisierte 171 –– Hirntumor 595 –– juvenile myoklonische 171 –– Klassifikation 171 –– Therapie 173 Epiphora 736 Epiphyseodese 723 Epiphyseolysis capitis femoris 714 Epistaxis 769 Epithelioma calcificans Malherbe 735 Epizoonosen 387 Epstein-Barr-Infektionen 293 Epstein-Barr-Virusinfektion 577 Epstein-Perle 83 Epworth-Sleepiness-Scale 441 Erb-Duchenne-Lähmung 92 Erdvipern 392 Ergotherapie 821 Erguss, parapneumonischer 438 Ernährung 25 –– Beikost 32 –– Diabetes mellitus 685 –– Durchfall 35

863 Sachverzeichnis

–– enterale 147 –– Familienkost 33 –– Frühgeborene 39 –– vegane 63 Ernährungsberatung 516 Erosion, Definition 779 Erysipel 357 Erysipeloid 358 Erythem –– perianales 359 –– scheibenförmiges 789 –– schmetterlingsförmiges 788 Erythema chronicum migrans 338 Erythema exsudativum multiforme 788 Erythema infectiosum 304 Erythema marginatum 275 Erythema migrans 797 Erythema neonatorum toxicum 779 Erythema nodosum 276 Erythema toxicum neonatorum 83, 129 Erythroblastopenie, transitorische 552 Erythroleukämie 573 Erythromycin 352 Erythropoese 544 –– fetale 112 –– gestörte 544 Erythropoetinmangel 113 Erythrozyten –– abnorme 547 –– Enzymdefekte 554 –– fetale 112 –– gesteigerte Produktion 553 –– gesteigerter Abbau 553 –– Membrandefekte 553 Erythrozytenindizes 543, 546 Erythrozytenkonzentrat 559 Erythrozytentransfusion 550 –– intrauterine 305 Erythrozytenüberlebenszeit 114 Erziehungskompetenz 820 Eschericha coli 520 Escobar-Syndrom 226 Esotropie 749 Essstörungen 840 Zahnerosion 802 Etanercept 269 Ethacrynsäure 149 Etomidate 139 Etoposid 296 Eulenaugenzellen 296 Euthanasie 848 Evans-Syndrom 564 Ewing-Sarkom 588 Exanthem, makulopapulöses 558 Exanthema subitum 299 Exkoriation, Definition 779 Exom-Sequenzierung 21 Exotropie 749 Exsudat 438 –– Aszites 538 EXT2/FPP-Syndrom 11 Extrasystolen 480 –– supraventrikuläre 480 –– ventrikuläre 480 Extrusion 802

F FAB-Klassifizierung 572 Fabry-Erkrankung 206 Facies myopathica 228, 233 Fadenwürmer 375 Fairbank-Dysplasie 724 Faktor-V-Leiden 638 –– Mutation 569 Fallot-Pentalogie 469 Fallot-Tetralogie 454, 469 Familienkost 33 Fanconi-Anämie 545, 572 Fanconi-Syndrom 5, 51, 692 Fassthorax 446 Fastentest 512 Fazialisparese 92 –– periphere 92 –– zentrale 92 Faziostenose 191 Fechterstellung 85 Fechtner-Syndrom 563 Fehlbildungen –– angeborene 724 –– lebensbedrohliche 81 –– spinale 193 Felsenbein, Fraktur 763 Femurfraktur, geburtstraumatische 93 Fentanyl 139, 854 Fersenblutabnahme 43 Fetopathia diabetica 133 Fettbett 788 Fettgewebe, braunes 80 Fettgewebsnekrose –– neonatale 779 –– subkutane 93 Fettsäurenoxidationdefekte 64 FGID (funktionellen gastrointestinalen ­Erkrankungen) 506 Fibrose –– metaphysäre 690 –– zystische 445, 537 –– atypische 449 –– Diagnostik 449 –– Manifestationen 446 –– Pathophysiologie 446 –– Therapie 449 Fibroxanthom 439 Fieber –– chronisches rezidivierendes 284 –– Definition 282 –– Diagnose 282 –– Differenzialdiagnose 283 –– periodisches 285 –– pharyngokonjunktivales 307 –– rheumatisches 271 –– akutes 275 –– Therapie 284 –– ungeklärter Ursache 268 –– unklarer Ursache 284 Fieberkrampf 176, 284, 298, 404 FIGO-Klassifikation 590 Filariasis 387 –– lymphatische 387 Filler-Formel 640 Filtrationsrate, glomeruläre 639 Filum terminale 194 Filzlaus 387, 785

D–F

Fischwirbelkörper 696 Flaschennahrung 31 –– Fütterungspraxis 31 Flöhe 387 floppy infant 54, 228, 232, 233 –– Syndrom 183 Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung 10 Fluorid 32 Fluoridierungsempfehlung 801 Flussblindheit 387 Flüssigkeitszufuhr 34 FODMAP-Diät 509 Folgenahrung 31 Folinsäure 383 follikuläres Schilddrüsenkarzinom 677 Follikulitis 358 Folsäuremangel 549 Fontan-Zirkulation 475, 476 Food Protein Induced Enterocolitis Syndrom 513 Foramen ovale 80, 458 –– persistierendes 463 Foscarnet 297, 298 Fowler-Stephens-Operation 612 Fragiles X-Syndrom 827 Frank-Dehnungsverfahren 699 Frank-Starling-Mechanismus 457 Fremdkörper –– Gehörgang 761 –– Ösophagus 500 Fremdkörperaspiration 436 fresh frozen plasma 560 Friedewald-Formel 72 Friedreich-Ataxie 199, 201 Frontzahnstufe, umgekehrte 806 Froschschenkelhaltung 222 Frühdumping 505 Früherkennungsuntersuchungen 816 Frühgeborene 93 –– Anämie 113 –– Apnoe 104 –– Atemnotsyndrom 94 –– Definition 79 –– Ernährung 39 –– Hirnblutung 101 –– Ikterus 115 –– Klinik 93 –– Prognose 93 –– Reanimation 86 –– Versorgung 94 Frühgeborenenosteopathie 690 Frühgeborenenretinopathie 100 Frühgeburt –– Ätiologie 93 –– Epidemiologie 93 Frühsommermeningoenzephalitis 321 –– Impfung 410 Fruktokinasemangel 52 Fruktoseintoleranz, hereditäre 52 Fruktosestoffwechselstörungen 52 Fruktosurie, benigne 52 FTO-Gen 38 Fukuyama-Muskeldystrophie 232 Fundoplicatio, GERD 499 Furazolidon 374 Furosemid 149 Furunkel 358 Fusionsinhibitoren 323 Fütterstörungen 830

864

Serviceteil

G Galaktokinasemangel 51 Galaktosämie 43, 50, 82 –– klassische 45, 51 Galaktose-1-Phosphat-Uridyltransferasemangel 51 Galaktosestoffwechselstörungen 50 Gallengangsatresie 118, 526 Gallengangshypoplasie 528 Gallensäurensynthesedefekte 45 Gallensäuresynthesestörung 528 Gallenstein 447 Gallenwege 523 Ganciclovir 296, 297, 298 Gangliogliom 593 Ganglion, intraossäres 726 Gangliosidosen 199 Gastritis 503 –– akute 503 –– chronische 503 –– Crohn 503 Gastroenteritis 509 –– Adenoviren 307 –– virale 305, 306, 509 Gastrointestinaltrakt –– Duplikaturen 511 –– postnatale Veränderungen 81 –– Stenose 510 Gastroparese 504 Gastroschisis 501 –– Kolonatresie 511 Gebiss, bleibendes 800 Gebissentwicklung 805 Geburtsanamnese 82 Geburtsgeschwulst 83 Geburtsgewicht 79 Geburtstrauma 91 Gefäßnävus 794 Gefrierplasma 560 Gelbfieber, Impfung 410 Gelegenheitskrampf 176 Gelenkerguss 266 Genetik, klinische 5 Genital, äußeres 609 Genitalentwicklung 653 Genitalorgane –– Fehlbildung 697 –– weibliche 697 Genodermatose 780 Genomhybridisierung, vergleichende 15 Gentherapie, zystische Fibrose 450 Genu recurvatum 722 Genu valgum 722 Genu varum 722 Geophagie 375 Gerinnung, disseminierte intravasale 568 Gerinnungsfaktorenkonzentrat 567 Gerinnungsstörungen, postnatale 92 Germinom 589 –– Strahlentherapie 595 Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Syndrom 316, 317 Geschlechtsentwicklung –– normale 674 –– Störungen 674 Geschlechtsrollenverhalten 674 Gestationsalter 79

Gianotti-Crosti-Syndrom 793 Giardiasis 374 Giemen 422 Gigantismus 658 Gilbert-Meulengracht-Syndrom 115 Gingivitis 804 Gingivostomatitis 290 Glasknochenkrankheit 693, 724 Glaskörper, persistierender hyperplastischer ­primärer 740 Glaukom 740 –– kongenitales 740 –– sekundäres 742 Gleithoden 611 Glenn-Anastomose 475 Glenn-Operation 477 Gliadin 514 Gliedergürtelmuskeldystrophie 231 Glioblastom –– chemotherapie 597 –– Strahlentherapie 595 Gliom –– benignes 598 –– niedrigmalignes 597, 598 –– Nystagmus 756 Globalinsuffizienz, respiratorischer 435 Globoidzell-Leukodystrophie 70 Glockenthorax 428 Glomerulonephritis –– akute 632 –– extrakapilläre 628 –– postinfektiöse 630 –– rapid-progressive 627 Glomerulopathien 626, 633 Glomerulosklerose –– diffuse mesangiale 630 –– fokal-segmentale 628, 629 Glomustumor 726 Glossitis 497 Glossopexie 808 Glossoptose 808 Glottisstenose 771 Glukagon 680 Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel 553, 554 Glukosebedarf, nächtlicher 54 Glukosetoleranz, pathologische 447 Glukosetransporterdefekte 50 Glukoseverwertungsstörung 686 Glutarazidurie Typ I 43, 64 Glutaryl-CoA-Dehydrogenasemangel 64 glykämischer Index 685 Glykogenose 52 –– Definition 52 –– Diagnose 53 –– Klassifikation 53 –– Klinik 53 –– Therapie 53 –– Typ I 53 –– Typ II 53, 54 –– Typ III 53, 54 –– Typ IV 53 –– Typ IX 53, 55 –– Typ V 53, 55 –– Typ VI 53 –– Typ VII 53 Glykosylierung, gestörte 68 Goldenhar-Syndrom 455, 736, 750

Gonadendysgenesie 9 Goodpasture-Syndrom 434 Gorlin-Syndrom 592 Gowers-Phänomen 230 Graefe-Zeichen 227 Graft-versus-host-Erkrankung 602 –– akute 602 –– chronische 602 Granulom, eosinophiles 381 Granuloma, anulare 791 Granulomatose, septische 240, 252 Granulopoese 544 –– Störungen 555 Granulozyten –– eosinophile 261 –– neonatale 123 –– neutrophile 543, 555 Granulozytenfunktionsstörungen 557 Granulozytenkonzentrat 560 Gregg-Syndrom 124 Greifreflex 85 Grey-Turner-Zeichen 537 Grippe 323 7 Influenza Grisel-Syndrom 709 Großhirnhemisphäre, Tumor 593 Großhirnrinde, Entwicklung 188 Grübelzwänge 833 Grundbedarf nach Holliday 510 Grundimmunisierung 402 Guajak-Test 505 Guillain-Barré-Syndrom 223 –– Herpes 298 Gürtelrose 292 Guthrie-Karte 43 Gynäkomastie 654

H Haemophilus-influenza, Impfung 406 Hakenwurm 376 Haller-CT-Index 417 Hallermann-Streiff-Syndrom 800 Halsschmerzen 770 Haltung, abnorme 183 Haltungsschwäche 707 Hämangiom 794 –– kapilläres 734, 795 Hamartom, endotheliales 735 Hämatemesis 505 Hämatochezie 505 Hämatokolpos 698 Hämatometra 698 Hämatopoese –– altersabhängige 543 –– Physiologie 543 Hämatosalpinx 698 Hämatotoxine 392 Hämaturie 620 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder 202 Hamman-Rich-Syndrom 434 Hämodiafiltration 45, 149 Hämodialyse 45 Hämofiltration 45, 149 Hämoglobin –– Barts 551 –– fetales 112, 543 –– M 551, 555

865 Sachverzeichnis

–– mittleres korpuskuläres 543 –– Normwerte 547 –– physiologisches 543 –– S 551 Hämoglobinopathie 550 Hämoglobinurie, paroxysmale nächtliche 553 Hämolyse –– extravaskuläre 553 –– immunologisch bedingte 113 –– mechanisch bedingte 554 hämolytische Krise 560 hämolytisch-urämisches Syndrom 520, 634 –– atypisches 634 –– diarrhöassoziiertes 634 Hämophilie, juvenile Dauerblutung 700 Hämostasestörungen, Diagnostik 561 Hand-Fuß-Mund-Krankheit 320 Handschuh-Socken-Syndrom 305 Hand-Schüller-Christian-Krankheit 434 Hantavirusinfektion 320 happy puppet syndrome 12 Harlekin-Farbphänomen 779 Harninkontinenz, funktionelle 618 Harnleiter, Duplikatur 614 Harnröhrenklappen 616 Harnstoffzyklusdefekte 44 Harnweg 607 –– Anlagestörung 614 –– Fehlbildung 612 Harnwegsinfekt 619 –– Diagnostik 620 –– Harnleiterduplikatur 614 –– Labiensynechie 609 –– Therapie 622 Harrison-Furche 688 Hashimoto-Autoimmthyreoiditis 662, 663 Hautinfektionen 129, 356 Hautmaulwurf 381 Haut-Prick-Test (HPT) 259 Hauttumoren, benigne 794 HbH-Krankheit 551 HDL-Mangel, familiärer 73 Heilpädagogik 822 Helicobacter pylori 503 –– Eradikation 504 Heller-Myotomie 498 Heller-Syndrom 826 Hemeralopie 745 Hemiatrophia faciei 789 Hemiepiphyseodese 722 Hemiparese, spastische 103 Hepatitis 524 –– A 299 –– Autoimmunhepatitis 534 –– B 300 –– akute 301 –– chronische 301 –– C 302 –– D 303 –– E 304 –– G 304 –– Parvovirus B19 305 Hepatitis A, Impfung 409 Hepatitis B, Impfung 405 Hepatoblastom 586 hepatozelluläres Karzinom 586 hereditäres angioneurotisches Ödem 259 heredodegenerative Erkrankungen 199

Hermansky-Pudlak-Syndrom 746 Hernie –– epigastrische 502 –– Hiatushernie 501 –– Zwerchfell 500 Herpes, Aphten 497 Herpesenzephalitis 289 Herpes-simplex-Infektion 289 –– Auge 734, 750 –– intrauterine 289 –– konnatale 124 –– mukokutane 290 –– neonatale 289 Herpes-simplex-Konjunktivitis 738 Herpesvirus-Typ-6-Infektion 298 Herpesvirus-Typ-7-Infektion 298 Herpesvirus-Typ-8-Infektion 299 Herpes zoster 292 –– disseminierter 293 Hertoghe-Zeichen 788 Herz, postnatale Veränderungen 80 Herz-Druck-Massage 87 Herzerkrankungen –– entzündliche 477 –– neurologische Manifestation 219 Herzfehler –– angeborene 454 –– azyanotische 454, 460, 465 –– kritischer 469 –– zyanotische 456, 469 Herzinsuffizienz 456, 474 –– Therapie 457 Herz-Kreislauf-Stillstand, Ursachen 136 Herz-Lungen-Maschine, Beinaheertrinken 151 Herzrhythmusstörungen 480 –– Leber-heriditäre Optikusneuropathie 757 Herztod, plötzlicher 477, 481 Heterophorie 749 Hexenmilch 83 HHE-Syndrom 176 HHH-Syndrom 44, 45 Hiatushernie 501 Hidradenitis suppurativa 359 High-output-Failure 456 Hirnabszess 368 –– tuberkulöser 367 Hirnblutungen, Frühgeborene 101 Hirndruck 190, 757 –– erhöhter 190, 593 Hirnfehlbildungen 132 Hirninfarkt –– hämorrhagischer 103 –– ischämischer 103 Hirnnerven, Funktion 182 Hirnnervenläsionen, neonatale 92 Hirnödem, Diabetes mellitus 683 Hirnsklerose, tuberöse 782 Hirnstamm –– Entwicklung 188 –– Tumor 593 Hirntumoren 591 –– Histopathologie 591 –– Lokalisation 591 –– Rehabilitation 598 –– Therapie 594 Hirnvenenthrombose 207 Hirudin 564 Histiozytom, benignes fibröses 726

Histiozytose 557, 800 Histiozytosis X 733 Histoplasmose 390 HIV, Augen 750 HIV-Infektion 321 –– Klinik 321 –– Therapie 323 –– vertikale 323 HLA-Merkmal 599 Hochfrequenzbeatmung 140 Hochfrequenzoszillationsbeatmungstherapie 111 Hochwuchs 650, 658 –– Therapie 651 Hodentorsion, intrauterine 611 Hohlfuß 719, 721 Holliday-Grundbedarf 510 Holokarboxylasesynthetasemangel 63 Holoprosenzephalie 132, 186 Homer-Wright-Rosetten 579, 593 Homozystinurie 59, 740, 750 honey comb lung 434 Hordeolum 734 Horner-Symptomatik, Neuroblastom 580 Horner-Syndrom 92, 750, 751, 752 –– Ptosis 736 Hornhautdystrophie 738 Hornviper 393 Hörstörungen 164, 763 Howell-Jolly-Körperchen 547, 558 HPV-Infektion 310 Hufeisenniere 613 Hüftdysplasie 711 –– kongenitale 84 Hüftgelenk, Erguss 268 Hüftgelenkluxation 711 Hüftreifungsstörungen 711 Hühnereiweißallergie 257 Humangenetik 3 Humerusfraktur, geburtstraumatische 93 Humeruskopf, Osteoepiphysenlösung 93 humorale Immunität, Störung 243 Husten, chronischer 428, 434 Hybridisierung, genomische 11 Hybridverfahren 477 Hydatidenkrankheit 380 Hydrocephalus, internus 204 Hydrochlorothiazid 50, 692 Hydrophthalmie 740 Hydrops fetalis 117, 304, 305, 480, 551 21-Hydroxylasemangel 43 Hydroxychloroquin 269, 273 Hydrozele 502 Hydrozephalus 189 –– posthämorrhagischer 101 –– Tuberkulose 367 Hymen 698 –– Atresie 698 –– Septum 698 Hymenalpolyp 84 Hymenolepiasis 379 Hyperaldosteronismus 673 Hyperalgesie 853 Hyperaminoazidurie, generalisierte 61 Hyperammonämie 44, 45, 532 Hyperammonämie-Hyperornithinämie-Homo­ zitrullinurie-Syndrom 44, 45 Hyperargininämie 44

G–H

866

Serviceteil

Hyperbilirubinämie 114, 524 –– direkte 119 –– indirekte 115, 524 –– konjugierte 524 –– pathologische 115 Hypercholesterolämie, familiäre 72 Hyperchylomikronämie 72 hyperdynamer Kreislauf 146 hypereosinophiles Syndrom 557 hyperglykäm-hyperosmolares Koma (HHS) 683 Hyperglykämie 678 Hypergonadismus, hypergonodatroper 10 Hyperhomozysteinämie 59 Hyper-IgD-Syndrom 68, 276 Hyper-IgE-Syndrom 250 Hyper-IgM-Syndrom 244 Hyperinfektionssyndrom 378 Hyperinsulinismus 132, 687 –– fokale 49 –– kompensatorischer 133 –– kongenitaler 49 Hyperinsulinismus-Hyperammonämie-Syndrom 50 Hyperkaliämie 148 Hyperketonämie 681 Hyperkortisolismus 672 Hyperlipidämie, sekundäre 72 Hyperlipoproteinämie 72 Hypernatriämie 510 Hyperopie 731 Hyperostose 695 Hyperoxalurie 638 –– primäre 67 –– Typ I 67 Hyperparathyreoidismus 667 Hyperphenylalaninämie 43, 57 Hyperprolaktinämie 659 Hyperreagibilität 254 –– spezifische 254 –– unspezifische 254, 260 Hypersomnie, periodische 442 Hypersplenie 531 Hypersplenismus 558 Hypertension –– idiopathische intrakranielle 748 –– portale 500, 531 –– pulmonale 461, 474 hypertensive Krise 487 hypertensiver Notfall 487 Hyperthermie, maligne 283 Hyperthyreose 662 Hypertonie 486 –– Aortenisthmusstenose 467 –– essenzielle 486 –– maskierte 488 –– pulmonale, persistierende 106, 110 –– renale 486 Hypertropie 749 Hyperurikämie 54 Hypnotika 139 Hypodontie 741, 803 Hypoglykämie 48, 132, 680 –– Definition 133 –– Diagnostik 49 –– hypoketotische 50, 65 –– Klinik 49 –– Pathogenese 48

–– sensorunterstützte Pumpentherapie 684 –– Therapie 49, 680 Hypogonadismus –– hypergonadotroper 9, 656 –– hypogonadotroper 655 Hypokortisolismus 659 Hypolaktasie 514 Hypolipoproteinämie 73 Hyponatriämie 510, 659, 660 Hypoparathyreoidismus 664, 800 Hypophosphatasie 690, 800 Hypophysen, Tumor 593 Hypophysenadenom 757 Hypopituarismus 800 Hypoplasie, pontozerebelläre 223 hypoplastisches Linksherzsyndrom 454, 475 Hypoprolinämie 45 Hyposensibilisierung 256, 258, 262 Hypospadie 610 –– Operation 611 Hypotension, systemische 95 Hypothalamus –– Essstörung 842 –– Tumor 593 Hypothalamus-Hypophysen-Achse 656 Hypothermie, Beinaheertrinken 151 Hypothermiebehandlung, Neugeborene 91 Hypothyreoidismus 800 Hypothyreose 82, 627, 660 –– Intelligenzminderung 202 –– kongenitale 43 –– primär angeborene 660 –– zentrale 658 Hypotonie, generalisierte 228 Hypotropie 749 Hypoventilation –– alveoläre 435 –– periphere 442 –– zentrale 442 Hypoxämie –– Definition 105 –– primäre 106 hypoxämischer Anfall 470, 475 Hypoxie –– intrauterine 107 –– postnatale 89 –– subpartale 110 Hypsarrhythmie 172 Hysteroskopie 700

I Ibuprofen 284, 853 ICD-10 815 Ichthyosis, vulgaris 780 Ichthyosishand 780 Icterus neonatorum 114 IgA-Dermatitis herpetiformis Duhring 514 IgA-Dermatose, lineare 790 IgA-Mangel 245 –– Impfung 252 IgA-Nephritis 632 IgA-Nephropathie 632 IgG-Subklassendefekt 245 –– Impfung 252 IgG-Wärmeantikörper 554

Ikterus –– Frühgeborene 115 –– physiologischer 114 Ileum, Atresie 510 Ileus 515 –– Invagination 515 –– Malrotation 511 –– mechanischer 515 –– paralytischer 515 –– Peritonitis 538 Immunantwort –– humorale 402 –– primäre 402 –– sekundäre 402 –– zelluläre 402 Immundefekt –– angeborener 250 –– Impfung 252 –– praktische Hinweise 251 –– schwerer kombinierter (SCID) 246 –– sekundärer 250 –– variables Syndrom (CVID) 244 Immunglobulin 122, 402, 478 –– Mangel 245 Immunglobulin E 255 –– Diagnostik 260 Immunisierung –– aktive 402 –– passive 402 Immunität 402 –– angeborene unspezifische 402 –– erworbene spezifische 402 Immunkomplex-Glomerulonephritis 630, 632 Immunmodulation 604 Immunneutropenie 556 Immunologie 239 Immunsuppression, nach Transplantation 641 Immunsystem, Neugeborene 122 Impetigo 358 Impetigo bullosa 129 Impetigo neonatorum 129 Impfdokumentation 404 Impffähigkeit 404 Impfplan 405 Impfstoffe –– Applikation 403 –– Nebenwirkungen 403 –– Wirksamkeit 403 Impfung 401 –– allgemein empfohlene 405 –– Aufklärung 404 –– Diphtherie 406 –– Frühsommermeningoenzephalitis 321, 410 –– Gelbfieber 410 –– Haemophilus influenzae Typ b 406 –– Hepatitis A 300, 409 –– Hepatitis B 302, 405 –– humane Papillomaviren 408 –– indizierte 409 –– Influenza 324, 409 –– Kontraindikationen 404 –– Masern 314, 407 –– Meningokokken 407 –– Mumps 407 –– Pertussis 407 –– Pneumokokken 407 –– Poliomyelitis 407 –– Rotavirus 409

867 Sachverzeichnis

–– Röteln 407 –– Tetanus 406 –– Tollwut 318, 409 –– Typhus 410 –– Windpocken 408 –– Zeitschema 403 Impfungen 815 Imprinting 11 Inaktivitätsosteoporose 696 Incontinentia pigmenti 796 Indikationsimpfung 409 Infarkt –– hämorragischer 103 –– ischämischer 103 –– spinaler 367 –– zerebraler 367 Infektanfälligkeit 423 Infektionen –– bakterielle 327 –– fetale 122 –– konnatale –– nichtbakterielle 123 –– Muttermilch 28 –– neonatale 122 –– perinatale 123 –– postnatale 123 –– transplazentare 123 –– virale 287 Infektionskrankheiten, Meldepflicht 815 inflammatory bowel disease unclassified 517 Influenza 323 –– Impfung 409 Ingestion 500 Inhibin B 676 Inkarzeration –– Leistenhernie 502 –– Nabelhernie 502 Inklusion 821 Inkontinenz, funktionelle 618 Innenohrschwerhörigkeit 124, 766, 767 Insektengiftallergie 258 Insomnie, fatale familiäre 316, 317 Insuffizienz, ovarielle 51 Insulinitis 681 insulin-like growth factor-1 647 Insulinpumpentherapie 684 Insulinresistenz, sekundäre 447 Insulinsekretion, Regulationsstörungen 49 Insulintherapie 683 Insult, ischämischer zerebraler 205 Integraseinhibitoren 323 Integration 822 Intelligenzminderung 5, 202 Intensivmedizin 135 Interaktionsstörungen 829 Interferon-α, Hepatitis B 302 Interferon-γ-Interleukin-12-Achse, Defekt 241 Interferon-γ-in-vitro-Test 353 Intoxikationen, neurologische Manifestation 220 intraossärer Zugang 136 Intrusion 802 Intubation 136, 138 –– fiberoptische 138 –– Komplikationen 142 –– Neugeborene 87 In-utero-Hämolyse 116 Invagination 515 In-vitro-Blutungszeit 562

Inzidenz 814 Iridozyklitis, chronische 267 Irishamartome 782 Iris stellata 13 Ischämie –– postnatale 89 –– zerebrale 205 Isotretinoin 793 Isovalerianazidurie 43 I/T-Quotient 126 Ivacaftor 450 Ivemark-Syndrom 558 Ivermectin 381, 388 Ixodes ricinus 388

J Jackson-Anfall 170 Jacobsen-Syndrom 563 Jak/Stat-Signalweg 241 Janeway-Läsionen 478 Jejunum, Atresie 510 Jervell-Lange-Nielsen-Syndrom 177, 483 Jod 29 Jodtyrosin-Dejodase-Mangel 660 Johanson-Blizzard-Syndrom 535, 536 Jones-Kriterien 276 Joubert-Syndrom 188 Jugendgesundheitsberatung 816 Junktionsnävus 794

K Kabuki-Syndrom 22 Kadaverhaare 796 Kala-Azar 386 Kallmann-Syndrom 11, 655 Kallusdistraktion 723 Kälteurtikaria, familiäre 276 Känguru-Methode 94 Kanner-Autismus 827 Kaposi-Sarkoms 299 Karbunkel 358 kardiofaziokutanes Syndrom 18 Kardiologie 454 –– Ätiologie 454 –– Epidemiologie 454 –– klinische Evaluation 454 Kardiomegalie 474 Kardiomyopathie 479 –– chronisch dilatative 477 –– dilatative 479 –– hypertrophe 54, 479 kardiopulmonale Reanimation 136 Kardioversion 482 Karies 800 –– Prävention 801 –– Prophylaxe 32 Karnitinsubstitution 62 Kartagener-Syndrom 418, 769 Kasabach-Merritt-Syndrom 564, 735, 795 Kasai-Hepatoportoenterostomie 528 Kataplexie 442 Katarakt, kongenitale 739 Katayama-Fieber 385 Kaufman-Assessment Battery for Children 202

Kavernom 204 Kawasaki-Syndrom 206, 274, 402, 497 Kayser-Fleischer Corneal-Ring 530 Kearns-Sayre-Syndrom 47, 234, 536 Kehlkopf 7 Larynx Kehlkopfdiphtherie 335 Keilwirbel 710 Keimzelltumor 589, 593 –– nicht germinomatöse 598 Kennedy disease 223 Kephalhämatom 83 Keratoconjunctivitis epidemica 307 Keratose 780 Kernikterus 116 Ketamin 139 Ketoazidose 681, 682, 686 ketoazidotische Krise 48 Ketogenese, Störungen 64 Keuchhusten 351 7 Pertussis Kiefergelenkfortsatzfraktur 807 Kielbrust 418 KIGGS-Basiserhebung 815 Kinderchirurgie, Thoraxwand 417 Kinderkrebsregister 815 Kinderlähmung 7 Poliomyelitis Kinderrecht 823 Kinder-und Jugendpsychiatrie 820 Kindesentwicklung 819 Kindesmisshandlung 820, 822 –– Differenzialdiagnosen 825 Kindeswohlgefährdung 823 Kindstod, plötzlicher 151 Klapperschlange 393 Klavikulafraktur, geburtstraumatische 83, 93 Kleeblattschädel 191 Kleiderlaus 387, 785 Kleine-Levin-Syndrom 442 Kleinhirn –– Entwicklung 188 –– Tumor 593 Kleinhirnbrückenwinkel, Tumor 593 Kleinkinderdiarrhö 522 Kleinwuchs 9, 648, 691 –– familiärer 649 Klinefelter-Syndrom 10, 656 Klippel-Feil-Syndrom 724 Klippel-Trénaunay-Weber-Syndrom 795 Kloakenfehlbildung 523 Klumpfuß, kongenitaler 719 Klumpfußwade 720 Knick-Senk-Fuß –– flexibler 718 –– kindlicher 718 –– physiologischer 718 Kniebohrergang 721 Knieschmerz 715 –– vorderer 716 Knochenleitungshörgerät 767 Knochenmarkaspiration 543 Knochenmarkbiopsie 543 Knochenmarkinsuffizienz 574 Knochenmarkmetaplasie 574 Knochenmarkpunktion 575 Knochenmarkstammzellen 599 Knochenmarktransplantation, Interferon-γInterleukin-12-Achsen-Defekt 242 Knochenmarkversagen 545 Knochenreifung 648

H–K

868

Serviceteil

Knochenschmerz 574 Knochentumoren –– bösartige 726 –– gutartige 725 Knochenzyste –– aneurysmatische 726 –– juvenile 726 Koagulopathie 120, 565 –– erworbene 568 –– hereditäre 565 Köbner-Epidermolyse 781 Kobras 392 Koenen-Tumor 783 Koffein 99 kognitive Verhaltenstherapie 833 Kokzidioidomykose 390 Kolchizin 276 Kolitis 519 –– antibiotikaassoziierte 520 –– infektiöse 519 Kollagenosen, Lupus erythematodes 632 Kolloide, Polytrauma 150 Kolobom 746 Kolon –– Atresie 510 –– Kontrasteinlauf 515 Koma, hyperammonämisches 45 Kombinationsimpfung 402 Komedo 793 –– geschlossener 793 –– offener 793 Kommahaare 796 Kommissurotomie 469 Komplementdefekt 249 –– primärer 249 –– sekundärer 250 Komplementsystem, neonatales 123 Komplikationen 384 Konjunktivitis –– chemische 738 –– follikuläre 307 –– neonatale 83 –– Neugeborene 737 Konkussion 802 Kontaktdermatitis, akute toxische 786 Kontaktekzem –– allergisches 786 –– chronisch-kumulativ-toxisches 786 Konversionsstörungen 838 Kopflaus 387, 785 Kopfschmerz 207 Kopfschmerzen 758 Kopfumfang, Wachstum 190 Koplik-Flecken 313 Korallenschlange 392 Kornzweig-Bassen-Syndrom 73 Koronararteriitis 274 Körperproportionen 648 Korsettbehandlung 708 Kortikosteroide –– Frühgeborene 99 –– Schwangere 97 Kostmann-Syndrom 242, 556 Koxarthritis 363 Koxarthrose, sekundäre 711, 714 Koxitis, eitrige 711 Kraits 392 Krampfanfall, Hirntumor 593

Krämpfe, tonischer 131 Kraniopharyngeom 592 –– operative Therapie 595 –– Strahlentherapie 596 Kraniorachischisis 185 Kranioschisis 185 Kraniostenose 191 Kraniosynostosen 190 –– Optikusatrophie 757 Krätzmilbe 784 Kreislauf, fetaler 80, 457 –– persistierender 110 Kreuzallergene 257 Kreuzbiss –– frontaler 806 –– lateraler 806 Kristalloide, Polytrauma 150 Kronenfraktur 802 Krupp-Symptomatik 310 Kruste 779 Krustenechsen 398 Kryptokokkose 390 Kryptosporidiose 374 Kugelzellanämie 553 Kuhmilchallergie 257 Kuhmilcheiweißallergie 35 Kuhmilchproteinintoleranz 513, 521 Kulturwechsel 822 Kupferkopf 393 Kurzdarmsyndom, Apple-peel-Malformation 510 Kurzdarmsyndrom 515 Kurzhals 724 Kusskrankheit 293 Kussmaul-Atmung 682 Kwashiorkor 37 Kyphoskoliose 693

L Labiensynechie 609 Lacklippen 497 LADD-Syndrom 770 Lagerungsasymmetrie 192 LAHSHAL-Klassifikation 807 Lakoseintoleranz 513 Laktatazidose 46 –– Definition 46 –– Diagnostik 48 –– Genetik 47 –– Klinik 47 –– Pathogenese 47 –– Therapie 48 Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom 226 Laminotomie, osteoplastische 194 Landau-Kleffner-Syndrom 171, 828 Landry-Paralyse 336 Längenwachstum 647 Langer-Giedion-Syndrom 11 Langerhanszell-Histiozytose 558, 733 Langzeitblutdruckmessung 488 Larsen-Syndrom 716, 718, 720 Larva currens 381 Larva migrans cutanea 381 Larva migrans visceralis 381 Laryngomalazie 112, 771 Laryngotracheitis, stenosierende 420

Laryngotracheobronchitis 324 Larynx –– Fehlbildungen 415, 770 –– Tumor 771 –– Tumoren 771 Larynxatresie 112 Larynxpapillom 310, 311 Latexallergie 255 Laurence-Moon-Bardet-Syndrom 750 Laurence-Moon-Biedl-Bardet-Syndrom 746 Läuse 387 Leadbetter-Politano-Operation 618 Lebendimpfstoffe 402 lebenserhaltende Maßnahmen 848 Lebensqualität 849 Leber 523 –– Autoimmerkrankungen 534 –– Transaminasenerhöhung 524 Leber-Amaurose 746 Lebererkrankungen, neurologische Mani­ festation 220 Leber-hereditäre Optikusneuropathie 757 Lebertransplantation 533 –– auxiliäre temporäre partielle orthotope 533 –– Gallengansatresie 526 –– Ösophagusvarizen 500 –– portale Hypertension 531 Lebertumoren, maligne 586 Leberversagen, akutes 532 Leigh-Syndrom 199, 235 Leishmaniasis 386 –– konnatale 386 –– mukokutane 386 –– rezidivierende 386 –– viszerale 386 Leistenhernie 502 Lennox-Gastaut-Syndrom 172 Lentigines 497 Lentikonus 633 LEOPARD-Syndrom 18 Lernstörungen –– frühe 165 –– spezifische 165 Lese-Rechtschreib-Schwäche 166 Leukämie 572 –– akute lymphatische Stammzelltransplantation 600 –– akute lymphoblastische 572, 574 –– Immunphänotypisierung 573 –– Klassifizierung 572 –– therapie 575 –– akute myeloische 572, 574 –– Immunphänotypisierung 573 –– Klassifizierung 572 –– Stammzelltransplantation 601 –– Therapie 575 –– chronisch myeloische 575, 576, 601 –– Therapie 576 –– chronisch-myeloische 558 –– chronisch myelomonozytäre 601 –– Diagnostik 574 –– Differenzialdiagnose 575 –– Epidemiologie 572 –– Genetik 573 –– Gingivitis 804 –– juvenile myelomonozytäre 572, 576 –– Klassifizierung 572

869 Sachverzeichnis

–– Klinik 574 –– Pathogenese 572 –– Rezidiv 601 Leukenzephalopathie 598 Leukocyte Adhesion Deficiency Syndrome 805 Leukodystrophie 199 Leukoenzephalopathie, progressive multifokale 316, 317 Leukokorie 739, 746 Leukomalazie, periventrikuläre 103, 197 Leukopenie 282 Leukotrienantagonisten 430 Leukotriene 428 Leukozyten, postnatale 543 Leukozytenadhäsionsdefekte 557 Leukozyten-Adhäsions-Defekte 242 Leukozytendepletion 559 Leukozyten-Esterase-Reaktion 620 Leukozytose 282 Leukozyturie 620 Levofloxacin 450 Levovist-Sonographie 622 Lichen ruber planus 792 Lichenifizierung 787 Lichen sclerosus 609 Lich-Gregoire-Operation 618 Liderkrankungen, entzündliche 734 Lidkolobom 736 Lidocain 137 Lidtumoren 734 Liebow-Pneumonie 434 Li-Fraumeni-Syndrom 582, 592, 672 Liley-Diagramm 118 Links-rechts-Shunt 98, 455, 459, 460, 472 –– Vorhofseptumdefekt 463 –– VSD 461 Linse, Lageveränderung 740 Linsentrübung 739 Lipidspeicherkrankheiten 71 Lipidstoffwechselstörungen 72 Lipofuszin 744 Lipoidnephrose 628 Lipom, spinales 194 Lipomyelomeningozele 194 Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten 807 Liquor, Untersuchung 211 Liquorshuntinfektion 369 Lisch-Knötchen 782 Lissenzephalie 132, 188 Listeriose, konnatale 107 Löffelfuß 724 Löffelhand 724 Löffler-Syndrom 376 Löfgren-Syndrom 277 Logopädie 822 Long-QT-Syndrom 482 Lorenzos-Öl 67 Louis-Bar-Syndrom 199, 249, 572 Low-cardiac-output-Syndrom 142, 148 Lowe-Syndrom 750 Low-output-Failure 456 L/S-Quotient 95 Lückenhaltertherapie 805 Lues 748, 750 Lugano-Klassifikation 590 Lumbalpunktion 575 Lumefantrin 384

Lunge –– postnatale Veränderungen 79 –– weiße 96 Lungenblutung 111 Lungenemphysem 98 Lungenentzündung 7 Pneumonie Lungenerkrankungen –– angeborene 418 –– interstitielle 434 Lungenfehlbildungen 416 Lungenfunktionsprüfung 429 Lungenhypoplasie 81, 108 Lungenödem 459 –– hämorrhagisches 98 Lungenreife 95 Lungenreifung –– beschleunigte 95 –– verzögerte 95 Lungenreifungsbehandlung 97 Lungensequestration 416 Lungentransplantation 450 Lungentumoren 439 –– benigne 439 –– maligne 439 Lungenunreife 98 Lungenvenenfehlmündung, totale 472 Lupus –– medikamenteninduzierter 272 –– neonataler 272 Lupus-Antikoagulanzien 569 Lupus erythematodes 206, 564 –– chronisch diskoider 788 –– Nephritis 632 –– systemischer 271 –– Diagnose 271 –– Organmanifestationen 272 –– Therapie 271 Lyell-Syndrom 788 Lyme-Arthritis 271 Lyme-Borreliose 338 Lymphadenitis –– akute 350 –– bilaterale 350 –– chronische 350 –– colli 349 –– subakute 350 –– unilaterale 350 Lymphadenopathie, generalisierte 313 Lymphadenosis cutis benigna 339, 798 Lymphknotensyndrom, mukokutanes 274 Lymphom, malignes 577 lymphoproliferatives (Purtilo-)Syndrom (XLP1) 248 Lymphozytentransformationstest 261 lysosomale Transportdefekte 71 Lyssa 318

M M. Addison 669 Madenwurm 377 Maffucci-Syndrom 725 Magen 502 –– Entleerungsstörung 504, 505 –– kongenitale Anomalie 502 Makroangiopathie 685 Makroglossie 14, 231 Makrophagen, neonatale 123

K–M

Makrozephalus 64 Makula, Definition 779 Makuladegeneration 744 –– vitelliforme 745 Malabsorption 374, 512 –– Syndrome 513 Malaria 383 –– Diagnostik 384 –– Epidemiologie 383 –– Hämoglobinopathie 550 –– konnatale 385 –– Notfallmedikation 391 –– Pathogenese 383 –– Prophylaxe 391 –– quartana 384 –– tertiana 384 –– Therapie 384 –– tropica 384 Malassezia furfur 388 Malazie 415 Maldeszensus Testis 611 Maldigestion 512 –– Therapie 449 M. Alexander 199 Malformation –– anorektale 523 –– arteriovenöse 203 –– jejunoileale Atresie 510 –– vaskuläre 203 Malrotation 511 Mambas 392 Mannitol 149 Mannose-bindendes Lektin-Weg 249 Mantoux-Test 368 Marasmus 37 Marcus-Gunn-Phänomen 736 Marfan-Syndrom 206, 740, 750 Marfan-Zeichen 688 Marshall-Tanner-Stadien 652 Marsh-Oberhuber-Klassifikation 514 Masern 312 –– atypische 313 –– Impfung 407 –– mitigierte 313 Maskenbeatmung 87, 106 –– nächtliche 442 Mastitis, neonatale 129 Mastoidektomie 347 Mastoiditis 345 –– akute 345, 347 –– chronische 345, 347 –– maskierte 346 Mastozytose 797 Matrixblutung, germinale 101 Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom 699 May-Hegglin-Anomalie 563 M. Basedow 662 M. Behcet 206, 497 M. Bruton 243 M. Byler 528 MCAD-Defekt 65 MCAD-Mangel 43 M. Canavan 199 McCune-Albright-Syndrom 655 McLeod-Phänotyp 241 M. Crohn 497, 517 –– Appendizitis 519 –– Diarrhoö 512

870

Serviceteil

M. Cushing 659 M. Down 800 –– Duodenalatresie 510 Mebendazol 376, 377, 379, 380, 383 Meckel-Divertikel 510 medulläres C-Zellkarzinom 677 Medulloblastom 592 –– Chemotherapie 596 –– Strahlentherapie 595 Meesmann-Dystrophie 738 Mefloquin 384 Megakaryopoese, Störungen 564 Megakaryozytenleukämie 573 Megaureter, primärer obstruktiver (POM) 615 Mekoniumabgang, frühzeitiger 107 Mekoniumaspiration 106, 110 Mekoniumileus 446, 515 Meläna 505 Melaninpigmentierung, gestörte 795 Melanose, transiente neonatale pustulöse 83, 779 Melanosis naeviformis 794 MELAS-Syndrom 47, 199, 234 Meldepflicht 815 Melkersson-Rosenthal-Syndrom 497 Membranoxygenierung, extrakorporale 111, 145 Menarche 653 Meningismus 365 Meningitis 211, 212 –– bakterielle, akute 365 –– eitrige 125 –– Herpes 290 –– Mumps 315 –– neonatale 127 –– Polio 319 –– Therapie 213 –– tuberkulöse 367 Meningoenzephalitis –– Herpes 298 –– Mononukleose 295 Meningoenzephalozele 768 Meningokokken –– Impfung 407 –– Sepsis 147, 283 Meningozele 185 Menkes-Disease 206 Menschenrechte 821 Menstruationsstörungen 700 MERFF-Syndrom 199 MERRF-Syndrom 47, 234 Mesialbiss 806 Meso-Rex-Shunt 531 metabolisches Syndrom 686 Metakarpalzeichen, positives 9 Metamizol 284, 853 Metapneumovirus, humanes 325 Methotrexat 269, 576 Methylmalonazidurie 45, 62 Metronidazol 62, 337, 373, 374 M. Gilbert-Meulengracht 524 M. Hirschsprung 516, 521 Midazolam 139 Migräne 207 –– hemiplegische 206 –– mit Aura 208 –– ohne Autra 208 –– sporadische hemiplegische 208 –– Therapie 209

Migration 822 Mikroangiopathie 685, 686 Mikrodeletion 22q11 455, 469, 473 Mikrodeletionssyndrom 10 –– 1q21.1 15 –– 9q34 15 –– 15q13.3 16 –– 16p11.2 16 –– 17q21.31 16 –– 22q13.3 17 Mikrodontie 741 Mikrognathie, mandibuläre 808 Mikrohämaturie, isolierte familiäre 633 Mikrophthalmie 747 Mikrophthalmus 740 Mikrosporidiose 374 Mikrostrabismus 749 Mikrotie 761 Miktionszysturethrographie 621 Milben 388 Milch 34 –– Produkte 34 Milchbildung 26 Milchgebiss 800, 805 –– Karies 801 –– Zahnunfall 803 Miliartuberkulose 352 Milien 83, 129 –– postbullöse 781 Miller-Dieker-Syndrom 11 Miller-Fischer-Syndrom 224 Milz, Funktion 558 Mineralokortikoide, Exzess 673 Minimal-change-Glomerulopathie 628 Minocyclin 793 Mischkollagenose 274 Mitochondriopathie 46, 233 Mitochondriopathien 535 Mittelhirn, Tumor 593 Mittelhirnsyndrom 755 Mittellinienfehlbildungen 186 Mittelmeerfieber, familiäres 276 Mittelohr, Trauma 763 Mittelohrentzündung 7 Otitis media Mittelohrfehlbildungen 761 Mittendorf-Fleck 740 mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration 543 mittleres korpuskuläres Hämoglobin 543 mittleres korpuskuläres Volumen 112, 543 M. Krabbe 199 M. Moschcowitz 564 MMR-Impfung 407 MNGIE-Syndrom 47 M. Niemann-Pick 199 Mobitz-AV-Block 480 Möbius-Syndrom 229, 720 MODY, Nierendysplasie 613 MODY-Diabetes 686 Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation 804 Molar-Tooth-Signs 189 Mollaret-Meningitis 290 Mollusca contagiosa 310 Molluscum contagiosum 734 Mongolenfleck 794 Mononukleose, infektiöse 294 Monosomie 8 Monosomie X0 455

Monozyten-Makrophagen-System, Erkrankungen 557 Monozytose 557 Montelukast 430 Montessori-Therapie 822 Morbidität 815 Morbus –– Best 745 –– Coats 744 –– Stargardt 744 Morbus Alpers 47 Morbus Batten 71 Morbus Bechterew 270, 742 Morbus Bourneville-Pringle 782 Morbus Coats 744 Morbus Cori 54 Morbus Crohn, Gelenkbeteiligung 270 Morbus Fabry 69 Morbus Gaucher 434 Morbus haemolyticus neonatorum 116 Morbus haemorrhagicus neonatorum 120 Morbus Hirschsprung, Kolonatresie 511 Morbus Hodgkin 578, 601 Morbus Hunter 69 Morbus Jansky-Bielschowsy 71 Morbus Krabbe 70 Morbus Kugelberg-Welander 223 Morbus Leigh 47 Morbus McArdle 55 Morbus Niemann-Pick 71 Morbus Osgood-Schlatter 716, 717 Morbus Perthes 714 Morbus Pompe 54, 223 Morbus Refsum, infantiler 66 Morbus Scheuermann 710 Morbus Sinding-Larsen-Johannso 716 Morbus Spielmeyer-Vogt 71 Morbus Still 742 –– Differenzialdiagnose 283 Morbus v. Gierke 53 Morbus Werdnig-Hoffmann 222 Morbus Wolman 71 Morgagni-Hydatide 612 Moro-Reaktion 85 Moro-Reflex, fehlender 92 Morphea 273, 789 Morphin 139, 854 Mortalität 814 Motilin 107 Motilitätsstörung, intestinale 516 Motoneuronenerkrankung 201 Motorik –– Entwicklung 181 –– Untersuchung 183 Mowat-Wilson-Syndrom 20 Mowrer-Modell 833 Moyamoya-Syndrom 206, 568 M. Pelizeus-Merzbacher 199 M. Recklinghausen 782 M. Ritter von Rittershain 129 MR-Urographie 622 Muckle-Wells-Syndrom 276 Muenke-Syndrom 191 Mukokolpos 698 Mukolipidose 71 Mukopolysaccharidose 70, 199 Mukositis 497 Mukoviszidose 769 7 Fibrose, zystische

871 Sachverzeichnis

multiplen endokrinen Neoplasie Typ 1 672 multiple Sklerose 216, 755 –– Klinik 216 –– Therapie 217 Mumps 315 –– Impfung 407 Münchhausen-by-proxi-Syndrom 822 Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom 837 Mund 497 Mundatmung 440 Munro-Mikroabszess 792 Mupirocin 358 muscle-eye-brain disease 232 Muskelatrophie –– spinale 199, 222 –– spinale bulbäre 223 –– spinale distale 223 Muskeldystrophie 229 –– fazioskapulohumerale 232 –– kongenitale 232 Muskelrelaxanzien 139 Muskeltonus, Neugeborenes 85 Mutismus, elektiver 834 Muttermilch 26 –– Ernährung 26 –– Langzeitwirkung 28 –– Nachteile 28 –– Nährstoffe 27 –– Vorteile 28 Muttermilchernährung, Praxis 30 Muttermilchikterus 115 M. Wilson 199, 530 myasthenes Syndrom, kongenitales 226 Myasthenia gravis 225 –– neonatale 226 Myasthenie 225 Mycobacterium tuberculosis 352 Mycophenolat-Mofetil 272 Myelitis, transversa 215, 224, 277 Myeloblastenleukämie 573 myelodysplastisches Syndrom 601 –– erworbenes 549 Mykobakterien 241 Mykosen 388 –– opportunistische 388 –– systemische 390 Myokarditis 477 Myoklonusepilepsie, therapieresistente 234 Myoklonus-Epilepsie 223 Myonekrose 361 Myopie 731 Myositis –– bakterielle 360 –– chronisch-entzündliche 360 –– transiente akute 361 Myotomie 498 –– Pylorusstenose 503 Myotonia congenita 228 Myotonie 227 Myotoxine 392

N N. abducens 182 Nabel, nässender 84 Nabelgranulom 84 Nabelhernie 502

Nabelinfektion 129 Nabelschnurblutstammzellen 599 N. accessorius 182 Nachteilsausgleich 829 Nackenreflex, asymmetrisch-tonischer 85 Naevus 794 –– coeruleus 794 –– dermaler 794 –– epidermaler 794 –– epidermodermaler 794 –– flammeus 794 –– organoider 794 –– pigmentosus et pilosus 794 –– sebaceus 794 –– spilus 794 Naevus simplex 82 Nagayama-Flecken 298 Nageldystrophie 781 NAGS-Mangel 44 Nährstoffe –– Bedarf 26 –– Muttermilch 29 Nahrungsmittelallergie 35, 257 –– pollenassoziierte 257 Nahrungsmittelbotulismus 334 nahrungsmittelproteininduzierte Enterokolitis 257 Nahrungsmittelunverträglichkeiten 513 Naloxon 87 Narbe, Definition 779 Narkolepsie 442 NARP-Syndrom 47, 199 Nase 768 –– Entzündungen 768 –– Fehlbildungen 768 Nasendiphtherie 335 Nasopharynx, Entzündung 769 Natriumbikarbonat 88, 137 Nattern 392 Nävuszellnävus 794 Nebenniere 667 –– Insuffizienz 669 –– Überfunktion 672 –– Unterfunktion 668 Nebennierenblutung, neonatale 93 Nebennierenrindeninsuffizienz 675 Nebenschilddrüse 664 Nekrolyse, toxische epidermale 788 Nekrose, kortikale 90 Nekrotoxine 395 Nematodeninfektionen, intestinale 375 Neonatologie 77 Neovagina 699 Nephritis, tubulointerstitielle 632, 637 nephritisches Syndrom 626, 630 Nephroblastom 584 –– Therapie 585 Nephrokalzinose 637, 692, 697 Nephrolithiasis 637 Nephronophthise 625 Nephropathia epidemica 320 Nephrostomie, perkutane 614 nephrotisches Syndrom 626, 627, 628 –– infantiles 630 –– kongenitales 630 Nervensystem 179 Nesseltiere 396 Nestschutz 122

M–N

Netzhautablösung, traktive 740 Neugeborene –– Aortenisthmusstenose 465 –– Aortenstenose 467 –– Hörscreening 764 –– Konjunktivitis 737 Neugeborenen, Pulmonalstenose 468 Neugeborenenexanthem 83 Neugeborenenikterus 28 Neugeborenenkrämpfe 131, 176 –– benigne 132 –– Therapie 132 –– Ursachen 131, 171 Neugeborenenreflexe 85 Neugeborenenscreening 43, 816 –– erweitertes 43, 62 –– Praxis 43 –– Stoffwechselstörungen 82 –– Zielkrankheiten 43 –– zystische Fibrose 449 Neugeborenensepsis 125 –– Diagnostik 126 –– Epidemiologie 125 –– Klinik 125 –– Risikofaktoren 125 –– Therapie 127 –– Verlauf 125 Neugeborenensklerem 779 Neugeborenentetanus 336 Neugeborenenuntersuchung 82 –– Durchführung 82 –– neurologische 85 –– Zeitpunkte 82 Neugeborenes –– Anämie 112 –– Blutvolumen 112 –– Hautveränderungen 779 –– hypertrophes 79 –– hypotrophes 79 –– Immunsystem 122 –– Intubation 87 –– Lungenerkrankungen 106 –– Muskeltonus 85 –– Reanimation 86 –– übertragenes 79, 106 –– weißes Blutbild 119 Neuraminidasehemmer 324 Neuroblastom 579 –– Epidemiologie 579 –– Klinik 580 –– Opsoklonus 756 –– Pathologie 579 –– Stammzelltransplantation 601 –– Therapie 581 Neuroborreliose 213, 339 neurodegenerative Erkrankungen 199 Neurofibromatose 132, 206, 582 –– generalisierte 782 –– Typ 1 11, 782 –– Typ 2 782 –– Typ I 757 –– Wilms-Tumor 585 Neurofibromatose Typ 1 486, 827 Neuromyelitis-optika-Spektrumserkrankungen 218 Neuropathie 199 –– auditorische 766 –– hereditäre 224

872

Serviceteil

Neurotransmittermangel 58 Neurozystizerkose 380 Neutral-Null-Methode 266 Neutropenie 242, 283, 555, 800, 805 –– Ätiologie 555 –– Definition 555 –– Klinik 555 –– kongenitale, schwere 556 –– medikamenteninduzierte 557 –– Metamizol 853 –– schwere kongenitale 545 –– Therapie 556 –– zyklische 276, 556 Neutrophilie 555 –– chronische 555 next generation sequencing 5, 21 N. facialis 182 N. glossopharyngeus 182 N. hypoglossus 182 Nicht-Opioid-Analgetika 851 Nichtseminom, malignes 589 Niclosamid 380 Nicolaides-Baraitser-Syndrom 22 Niemann-Pick-Erkrankung 744 Niemann-Pick-Krankheit 69, 434 Niere 607 –– Agenesie 613 –– akutes Versagen 638 –– Anlagestörung 613 –– Duplikatur 614 –– Dysplasie 613 –– Ersatztherapie 635, 639, 641 –– Fehlbildung 612 –– multizystische Dysplasie 613 –– polyzystische Erkrankung 624 –– postnatale Veränderungen 81 –– Transplantation 641 –– Venenthrombose 638 Nierenerkrankungen, neurologische Mani­ festation 220 Nierenersatztherapie 149 Nierenfunktion, Hypertonie 486 Niereninsuffizienz 621, 625 –– chronische 636, 639, 640 –– IgA-Nephritis 632 –– Nephronophthise 625 Nierenversagen 148 –– akutes 148, 627 –– intrarenales 148 –– postrenales 148 –– prärenales 148 Nifedipin 50 Nijmegen-Breakage-Syndrom 5, 244 Nikolsky-Phänomen 129 Nitazoxanid 374 Nitritprobe 620 N. oculomotorius 182 N. olfactorius 182 NOMID-Syndrom 276 Non-Hodgkin-Lymphom 577, 601 Noonan-Syndrom 18, 111, 455, 468 N. opticus 182 Noradrenalin 137, 149 Norovirusinfektion 306, 509 Norwood-Operation 477 Notfallmedizin 135 N. statoaccusticus 182 N. trigeminus 182

N. trochlearis 182 numerische Ratingskala (NRS) 851 N. vagus 182 Nystagmus 732, 755 –– angeborener 755 –– erworbener 756 Nystatin 784

O O-Beine 688, 691, 722 Oberkieferplatte 808 Obstipation 520 Obstruktionssyndrom, distales intestinales 446 Octreotid 50, 500 Ödem, lymphangektatisches 9 Ohr –– äußeres 761 –– Fehlbildungen 761 –– Verletzungen 761 Ohrmuschel, Fehlbildungen 761 Ohrmuschelerysipel 761 Okulomotoriusparese 752, 753 –– kongenitale 753 Ölfleck, psoriatischer 792 Oligoarthritis 266, 267 Oligodendrogliom –– anaplastisches 597 –– Chemotherapie 597 Oligodontie 803 Oligosaccharidose 70 Ollier-Syndrom 725 Omphalitis 84, 129 Omphalozele 501 Onchozerkose 387 Onycholysis, psoriatica 792 Onychomykose 783 Ophiasis 797 Ophthalmia, neonatorum 737 Ophthalmoplegie, innere 752 Opioide 139, 851 –– Absetzen 854 –– Dosierung 854 –– hochpotente 853 –– Nebenwirkungen 854 –– niedrigpotente 853 Opistotonus 183 OPSI 554, 559 Opsoklonus 756 Optikusatrophie 756 –– kompressive Läsion 757 –– nichtkompressive Läsion 757 Optikusatrophie-Leber, kongenitale 48 Optikusatrophien, syndromale 757 Optikus-Chiasma-Hypothalamus-Gliom 596 Optikusgliom 733, 757 Optikusmeningeom 734 Optikusneuritis 348 orales Allergiesyndrom (OAS) 257 Orbitaerkrankungen 732 Orbitalphlegmone 732, 768 Orbitatumoren 733 Orbitazellulitis 348 Orbitostenose 191 Orchitis 308, 355 –– Mumps 316 Organoazidopathie 61

Organoazidurie 132 Orotazidurie, hereditäre 550 Ortolani-Test 84 Ortolani-Zeichen 711 Oseltamivir 324 Osler-Knötchen 478 Ösophagitis 499 –– eosinophile 499 –– GERD 498 –– infektiöse 499 Ösophagus 497 –– Atresie 497 –– Entzündung 499 –– Fremdkörper 500 –– kongenitale Anomalien 497 –– Motilitätsstörung 498 –– Stenosen, erworbene 499 –– Varizen 500 Osteoblastom 725 Osteochondrodysplasie 724 Osteochondrom 725 Osteochondrosis dissecans, Kniegelenk 717 Osteodystrophie –– Definition 690 –– renale 690 Osteofibrom, nicht ossifizierendes 726 Osteogenesis imperfecta 693, 724 Osteoidosteom 725 Osteom 725 Osteomalazie 687 –– Niereninsuffizienz 640 Osteomyelitis 361, 589 –– akute 361 –– chronische 361 –– chronisch rezidivierende multifokale 277 –– neonatale 128 –– nichtbakterielle 277 Osteonekrose 717 Osteopathie –– Frühgeborene 690 –– renale 640, 688 Osteopenie 362, 692 Osteopetrose 695 –– maligne 695 Osteopetrosis tarda 695 Osteoporose 692 –– idiopathische juvenile 696 –– Inaktivität 696 Osteosarkom 587, 589 Osteosklerose 695 OTC-Mangel 44 Otitis –– externa 761 –– media 342 –– akute 342 –– chronische 342 –– Diagnose 343 –– Klinik 343 –– Komplikationen 345 –– mit Erguss 342 –– ohne Erguss 342 –– Pathogenese 343 –– rezidivierende 343 –– Therapie 344 Otitis media, chronische 762 otoakustische Emissionen 765 Otorrhö 762, 763 Ovarialtumor 590

873 Sachverzeichnis

overwhelming postsplenectomy infection 7 OPSI Oxantel-Pamoat 379 OXPHOS-Erkrankung 46 Oxykardiorespirographie 105 Oxytozin, Stillen 27 Oxyuriasis 377

P Paediatric Pain Profile 851 PAIR-Verfahren 380 Palivizumab 310 Palliativmedizin 847, 849 –– Ethik 848 Palomo-Operaton 612 Panarteritis nodosa 206 Pancreas anulare 511 Pancuronium 139 Panenzephalitis –– subakute sklerosierende 313, 316 –– subakut sklerosierende 199, 202 Panikstörungen 831 Pankreas 535 –– anulare 535 –– divisum 535, 537 –– exokrine Insuffizienz 535, 536 –– Long common channel 535 Pankreasinsuffizienz 446 –– exokrine 446 –– iatrogene 50 Pankreasresektion 50 Pankreatitis 537 –– akute 537 –– chronische 537 –– Mumps 315 Panzytopenie 386, 544 Papel, Definition 779 papilläres Schilddrüsenkarzinom 677 Papillitis 748 Papillom –– genitales 311 –– orales 311 Papillomatose, respiratorische 771 Papillomaviren, humane, Impfung 408 Papillomavirusinfektion 310 Papillon-Lefevre-Syndrom 800, 805 Paracetamol 284, 853 Parainfluenzavirusinfektion 324 Parakokzidioidomykose 390 Paralyse 227 –– periodische 227 –– hypokaliämische 227 Paramyotonia congenita 228 Paramyotonie 227 Paraphimose 612 Parasitosen 371, 784 Parathormon 664, 687 –– Bestimmung 689 Parechovirusinfektion 320 Parinaud-Syndrom 590, 593 Paris-Kriterien 517 Paris-Trousseau-Thrombozytopenie 563 Parodontitis 804 –– aggressive 805 Paromomycin 373 Paronychie 359 Parotidektomie 770

Parotitis 315 –– chronisch juvenile 770 –– neonatale, eitrige 770 Parotitis epidemica 315 Paroxysmus, generalisierter 171 Partialinsuffizienz, respiratorische 435 Partielle Lungenvenenfehlmündung 464 Parvovirus-B19-Infektion 304, 552 –– Schwangerschaft 553 Pätau-Syndrom 8, 455 Patch-Pumpe 684 Patellaluxation 716 –– angeborene 716 –– habituelle 716 –– rezidivierende 716 –– traumatische 716 Patientenverfügung 849 Paukenerguss 761, 766 Paukenröhrchen 347 Pavlik-Bandage 713 Pavor nocturnus 177 PCDAI-Score 517 Pearson-Syndrom 47, 535, 536 Pectus carinatum 418 Pectus excavatum 417 Pediculus capitis 387 Pediculus humanus 387 Pedikulose 785 Peladehaare 796 Pemphigus neonatorum 129 Pendelhoden 611 Pendred-Syndrom 660 Penis, concealed 609 Perianaldermatitis 359 Perichondritis 761 Peritonealdialyse 149, 641 Peritoneum 538 Peritonitis 538 Peritonsillarabszess 770 Perlèche 788 Perlman-Syndrom 585 Permethrin 388, 784 permissiven Hyperkapnie 145 Peroxisomenbildung, gestörte 66 Persistierender Ductus Arteriosus 454, 460 Pertussis 351 –– Impfung 407 Perzentilkurven 647 Pes adductus 719 Pes cavus 719 Pes equinus 719 Pes varus 719 Petechien 92, 561 Petermännchen 397 Peters-Anomalie 742 Peutz-Jeghers Syndrom 497 PFAPA-Syndrom 276 PFC-Syndrom 459 Pfeiffer-Drüsenfieber 294 Pfeiffer-Zellen 294 Pflastersteinnävus 783 Pfortaderthrombose 118 Phagozytendefekt 240 –– seltener 242 Pharyngitis 308, 340 –– Erreger 340 –– rezidivierende 342 –– virale 341

N–P

Pharyngotonsillitis 307 Phelan-McDermid-Syndrom 17 Phenylketonurie 57, 82, 202 –– Diagnose 58 –– Differenzialdiagnose 58 –– klassische 43 –– Klinik 57 –– maternale 58, 202 –– Pathogenese 57 –– Therapie 58 Philadelphia-Chromosom 574 Phimose 609 –– narbige 609 –– neonatale 84 Phobien 831 Phonationsverdickungen 771 Phosphatase, alkalische 689 Phosphatdiabetes 691 Phosphaturie 691 Photochemotherapie 790 Photopherese, extrakorporale 603 Phototherapie 114, 115, 118 Phrenikusparese 501 Physiotherapie 821 Pierre-Robin-Sequenz 112, 808 Pierson-Syndrom 629 Pigmentzellnävus 794 Pilocarpin-Iontophrorese 449 Pimecrolimus 788 Pinealistumor 593 Pink Fallot 469 Piritramid 139 Pitt-Rogers-Danks-Syndrom 11 Pityriasis –– rosea 796 –– alba 788 Plagiozephalus 154 Plattfuß –– flexibler 718 –– kongenitaler 720 Plazentainsuffizienz, diabetische 133 Pleuradrainage 108 Pleuraempyem 438 Pleuraerguss 422 Pleuraschwarte 439 Pleuratumoren 439 Pleuritis 352, 437 –– exsudativa 438 –– sicca 437 Pleurozentese 439 Plexuslähmung –– obere 92 –– untere 92 plötzlicher Kindstod 815 Pneumocystis-jiroveci-Infektion 389 Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie 322, 323, 425 Pneumokokken, Impfung 407 Pneumonie 309, 424 –– bakterielle 426 –– chemische 107 –– Definition 424 –– Diagnose 424 –– Differenzialdiagnose 425 –– Einteilung 424 –– eosinophile 378 –– Epidemiologie 424 –– Klinik 424 –– Komplikationen 426

874

Serviceteil

Pneumonie –– Masern 313 –– neonatale 109 –– Therapie 425 –– ventilatorassoziierte 142, 146 Pneumoperikard 142 Pneumothorax 437 –– iatrogener 437 –– neonataler 108 Poikilozytose 547 Poliodystrophie, progressive sklerosierende 47 Poliomyelitis 215, 318 –– Impfung 407 –– nichtparalytische 319 –– paralytische 319 –– vakzineassoziierte paralytische 407 pollenassoziierte Nahrungsmittelallergie 257 Polyarthritis –– rheumafaktornegative 267 –– rheumafaktorpositive 267 Polycythaemia vera 555 Polydaktylie 84 Polyglobulie 132 –– neonatale 113 Polyhydramnion 497, 503 Polymikrogyrie 188 Polyposis 522 Polyradikuloneuritis, Guillain-Barré 223 Polysomnographie 439, 440 Polyspleniesyndrom 558 Polytrauma 150 –– Erstversorgung 150 polyzystisches Ovarsyndrom (PCOS) 654 Polyzythämie 555 –– neonatale 113 –– primäre 555 Ponseti-Redressionstechnik 720 Ponsgliom –– Chemotherapie 598 –– Strahlentherapie 595 Porenzephalie 132 Portugiesische Galeere 397 positive endexpiratory pressure 140 Posterior-fossa-Syndrom 595 Posthitis 609 Poststreptokokkenglomerulonephritis 630, 632 postthrombotische Syndrom 568 Potter-Sequenz 108, 613 Prader-Willi-Syndrom 11, 202, 223, 827 Prädiabetes 682 Präexzitation 481 Pränataldiagnostik, Organoazidopathien 62 Prävalenz 814 Praziquantel 380, 385 Prehn-Zeichen 356 primäre ziliäre Dyskinesie 769 Primärprävention 815 primitiver neuroektodermalee Tumor 601 Prionerkrankungen 199, 202, 317 Privinismus 419 Progenie, echte 806 Proguanilhydrochlorid 384 Proktokolitis, Kuhmilchintoleranz 513 Prolaktin 594, 659 –– Stillen 27 Prolaktinom 594 Promyelozytenleukämie, akute 573 Propionazidämie 45

Propionazidurie 62 Propofol 139 Prostaglandin 458 –– Herzfehler 466 Prostatitis 355 Prostazyklin 111 Proteasehemmer 323 Protein-C-Mangel 569 Proteinintoleranz, lysinurische 44 Protein-S-Mangel 569 Proteinurie, orthostatische 626 Prothrombinzeit 562 Protonenpumpeninhibitoren 450 Protozoeninfektionen, intestinale 373 Pruritus 359 –– analer 377 Pseudappendizitis diabetica 681 pseudoallergische Reaktion 254 Pseudohyperaldosteronismus 674 Pseudohypoparathyreoidismus 665 Pseudohypopyon 743 Pseudoinkontinenz 609 Pseudokrupp 420 Pseudo-Lennox-Syndrom 171 Pseudoobstruktion, intestinale 517 Pseudoperitonitis diabetica 682 Pseudoprogenie 806 Pseudopubertas präcox 655 Pseudotumor –– cerebri 748 –– orbitae 732 Pseudo-Zellweger-Syndrom 66 Psoriasis –– guttata 792 –– palmaris et plantaris 792 –– pustulosa 792 –– vulgaris 792 Psoriasisarthritis 267, 269, 270 Psychiatrie 820 Pterygium 9 Pthirus pubis 387 Ptosis, kongenitale 736 Pubarche 653 –– prämature 654 Pubertas präcox 654 –– vera 654 Pubertas praecox 590 Pubertas tarda 655 Pubertät 651 –– Entwicklung 651 –– Jungen 653 –– Mädchen 653 –– Varianten 653 –– Wachstumsschub 653 PUCAI-Score 517 Puffotter 393 Pulmonalatresie 471 –– mit VSD 454 –– ohne VSD 454 pulmonale Hypertension 143 pulmonales Banding 465, 475 Pulmonalklappe, stenosierte 468 Pulmonalklappenstenose 454 Pulmonalstenose 468, 469 –– Neugeborene 468 Pulsoxymetrie –– Aortenisthmusstenose 466 –– postpartale 459

Pupille, afferente Störungen 752 Pupillomotorik, Störung 750 Puppillotonie 751 Purpura –– anaphylaktoide 274 –– idiopathische thrombozytopenische 564 Purpura Schönlein-Henoch 206, 274 –– Glomerulonephritis 632 Pyelonephritis 619, 623 –– Sonographie 621 Pyeloplastik 614 Pyknodysostose 800 Pylorusatresie 503 Pylorusstenose, hypertrophe 503 Pyomyositis –– abszedierende 361 –– tropische 360 Pyrantelembonat 376, 377 Pyrethroi 387 Pyridostigminbromid 226, 227 Pyridoxin 368 Pyrimethamin 375, 382, 383 Pyruvatkinasemangel 554 Pyrviniumembonat 377

Q Quaddel 779, 785 Quallen 396 Querschnittlähmungen 211 Quick-Wert 562 Quincke-Ödem 258, 259, 394, 785

R Rabies 318 7 Tollwut Rachitis 687 –– antiepileptika-bedingte 690 –– Niereninsuffizienz 640 –– phosphopenische 691 –– Symptome 688 –– Vitamin-D-Mangel 687 –– Vitamin-D-resistente 61 –– Vitmain-D-abhängige 689 Radermecker-Komplex 316 Radiusköpfchen, Subluxation 707 ragged red fibers 48 Ranula 770 Rapid Sequence Induction 138 Rapid-Sequence-Intubation 150 Rashkind-Manöver 472, 473 Rastelli-Operation 472 Reaktion vom Soforttyp 254, 255 Reanimation 136 –– Algorithmus 136 –– Basismaßnahmen 86, 136 –– erweiterte Maßnahmen 86, 136 –– Frühgeborene 86 –– Medikamente 136 –– Neugeborene 86 Rechtschreibstörung 829 Rechtsherzhypertrophie 469 Rechts-links-Shunt 97, 98, 110, 459, 466 –– persistierender 110 –– VSD 462

875 Sachverzeichnis

Rechtsschenkelblock, inkompletter 463 Recruitment-Manöver 144 Redeflussstörungen 775 Reentry-Tachykardie 481 Refeeding-Syndrom 842 Reflexaudiometrie 764 Reflexe 183 –– Neugeborene 85 Reflexschreiten 85 Reflux –– Nephropathie 623 –– Sonographie 621 –– vesikoureteraler 617, 619 Reflux, gastroösophagealer 498 –– GERD 498 –– Ösophagusatresie 498 Refraktionsprüfung 731 100-50-20-Regel 510 Regulationsstörungen 829 Rehydratation 510 Reibeisenhaut 780 Reifezeichen, somatische 85 Reis-Bückler-Dystrophie 738 Reiseimpfung 410 Reisemedizin 390 Reiter-Syndrom 270 Rektusdiastase 84 Relational Health 820 Relaxatio diaphragmatica 501 Relaxation, Medikamente 139 Renin-Angiotensin-Aldosteronsystem (RAAS) 457, 468 Reno-Kolobom-Syndrom 613 renovaskuläre Ursachen 486 Reperfusionsschaden 89 Resilienz 164 Resilienzfaktoren 820 respiratorisches Versagen 142 Respiratory-Syncytial-Virus-Infektion 309 Restless-Legs-Syndrom 443 Retentionszyste, neonatale 83 retikuläre Dysgenesie 242 Retikulozyten 546 Retinoblastom 590, 743 –– familiäres 592 –– Osteosarkom 587 Retinochorioiditis juxtapapillaris Jensen 742 Retinopathia –– exsudativa 744 –– pigmentosa 745 –– praematurorum 100, 744 Retraktionssyndrom 753 Retraktionstasche 762 Retrogenie 807 Retrognathie, mandibuläre 807 retrolentalen Fibroplasie 100 Retropatellararthrose 717 Rett-Syndrom 199, 200, 202, 826 Reverse-Transkriptase-Hemmer –– nichtnukleosidische 323 –– nukleosidische 323 Reye-Syndrom 531 Rhabdomyosarkom 582, 733 Rhagade, Definition 779 Rh-Erythroblastose 117 Rheumafaktor 268

Rheumatologie, neurologische Manifestation 219 Rhinitis –– akute 419, 768 –– chronische 419, 769 Rhinokonjunktivitis 254, 256 –– perenniale 256 –– saisonale 256 Rhinovirusinfektion 309 Ribavirin 314 Ribbing-Dysplasie 724 Riesenaneurysma 205 Riesenzellpneumonie 313 Riesenzelltumor 726 Rigid-spine-Muskeldystrophie 232 Riley-Day-Syndrom 199, 736 Rinderbandwurm 379 Ringelröteln 304 Ringsideroblasten 549 Risikoanamnese 163 Risikofaktoren –– anamnestische 163 –– soziale 164 –– symptomatische 163 Rituximab 296 Robertson-Translokation 6 Rocuronium 139 Rolandi-Epilepsie 171 Romano-Ward-Syndrom 177, 483 Rom-IV-Kriterien 506, 508, 520 Rosai-Dorfman-Syndrom 558 Rosenkranz, rachitischer 688 Roseola infantum 299 Ross-Operation 468 Rotavirus, Impfung 409 Rotavirusinfektionen 305, 509 Röteln 124, 314 –– Augen 750 –– Impfung 407 –– progressive Panenzephalitis 316, 317 Rötelnembryofetopathie 124 Rötelnembryopathie 827 Rotor-Syndrom 524 Roviralta-Syndrom 503 Rubinstein-Taybi-Syndrom 11, 14 Rückbiss 807 Rückenmark, Tumor 593 Rückenmarkverletzungen, neonatale 92 Rückenschmerz 707 Ruhr 520

S Sackspinnen 396 Saethre-Chotzen-Syndrom 191 Sakraldysgenesie 719 Sakroileitis 267, 270 Salla-Krankheit 71 Salmonellose 519 Salven 481 Salzverlustnephropathie 636 Salzverlustniere 640 Sandifer-Syndrom 498 Sandrasselotter 393 Sano-Shunt 477 Sarkoidose 277, 497 –– Lungenbeteiligung 434 Sattelnase 724

Sauerstofftherapie 99 Sauerstoffzufuhr, Neugeborene 87 Saugerflaschenkaries 800 Säugling –– Allergieprävention 31 –– exzessives Schreien 830 –– Milchnahrung 30 Säuglingskoliken 37 Säuglingsnahrung, laktosefreie 51 Säuglingsskoliose 708 Säuglingssterblichkeit 814 Saugreflex 85 Säure-Basen-Status 86 Schädel-Hirn-Trauma 210, 763 Schädeltrauma 209 Schallleitungsschwerhörigkeit 763, 766 Schambehaarung 652 Scharlach 341, 497 Schetismus 774 Schiefhals –– angeborener 92 –– muskulärer 709 Schielen 752 –– latentes 749 Schieloperation 749 Schielsyndrom, frühkindliches 749 Schilddrüse 660 –– Knoten 663 –– Neoplasien 677 Schimke-Syndrom 629 Schinzel-Giedion-Syndrom 22 Schistosomiasis 385 –– akute 385 –– chronische 385 –– hepatolienale 385 –– urogenitale 385 –– zentralnervöse 385 Schizenzephalie 188 Schlafapnoe, obstruktive 440 Schlaflatenztest 441 Schlafmedizin 439 Schlafmyokloni 131 Schlafstörungen 831 Schlaganfall –– ischämischer 568 –– neonataler 568 Schlangenbiss 392 Schlürfsonde 497 Schmalkomplextachykardie 481 Schmelzriss 802 Schmelzverlust 801 Schmerzen, Pankreatitis 537 Schmerzerfassung 851 Schmerzscore 139 Schmerztherapie 847, 851 –– medikamentöse 851 –– Sterbeprozess 849 Schmetterlingserythem 788 Schmorl-Knötchen 710 Schnarchen 440 Schneemannform des Herzens 473 Schnüffelposition 138 Schock 150 –– hämorrhagischer 150 –– hypovolämischer 558 –– kalter 330 –– kardiogener 460 –– Nierenbeteiligung 639

P–S

876

Serviceteil

Schock –– septischer 145 –– Definition 329 –– Warnzeichen 331 –– warmer 330 Schocksyndrom, toxisches 332, 361 Schreigesicht, schiefes 92 Schreiknötchen 771 Schrittmacherimplantation 480 Schrittmachertherapie 457 Schulbereitschaft 167 Schuleingangsuntersuchung 814 Schulfähigkeit 167 –– Kriterien 167 Schüller-Röntgendiagnostik 763 Schulreife 167 Schuppe 779 Schuppenkrause 796 Schuster-Plastik 501 Schütteltrauma 823 Schwangerschaftsanamnese 82 Schwartz-Bartter-Syndrom 660 Schwartz-Formel 639 Schwartz-Jampel-Syndrom 227 Schweinebandwurm 379 Schweißdrüsenabszess 359 Schweißtest 449 Schwerhörigkeit 764 –– retrokochleäre 766 Sebastian-Platelet-Syndrom 563 Seckel-Syndrom 545 Second-wind-Phänomen 55 Sedativa 139 Segawa-Syndrom 199, 200 Sehnerverkrankungen 747 Sehprüfung 731 Sehstörungen 164 Sehverschlechterung, psychogene 757 Sekundärglaukom 742 Sekundärprävention 816 selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI), Angststörungen 833 Seminom 589 Senkstaken-Blakemore-Sonde 500 Sensibilisierung 254 sensorunterstützte Pumpentherapie 684 SEN-Virus 304 Sepsis 145, 329 –– Antibiotika 332 –– Definition 329 –– Endokarditis 478 –– Erreger 146 –– Erregerspektrum 330 –– neonatale 7 Neugeborenensepsis –– Therapie 146 septooptischen Dysplasie 187 Septum-pellucidum-Anomalien 187 Serumkrankheit 262 severe combined immunodeficiency 246 sexueller Missbrauch 355 shaken baby 746 shaken baby syndrome 823 shaken impact syndrome 823 Sharp-Syndrom 274 Shigellose 520 Shprintzen-Syndrom 13, 454 Shunt –– Hydrozephalus 190

–– lumboperitonealer 748 –– portosystemischer 531 –– postosystemischer 500 Shuntinfektion 369 Shwachman-Bodian-Diamond-Syndrom 535, 536 Shwachman-Diamond-Syndrom 545 SIADH 660 Sialidose 71 Sicca-Syndrom 277 Sichelfuß 719 Sichelfußhaltung 85 Sichelzellanämie 551, 560 Sichelzellkrankheit 384 Sichelzell-β-Thalassämie 551 SIDS 151 –– Differenzialdiagnosen 152 –– Prävention 153 Sigmatismus 774 Simultanimpfung 402 SIMV-Beatmung 140 Sinus-cavernosus-Thrombose 207 Sinus-coronarius-Defekt 463 Sinushistiozytose 558 Sinusitis 347 –– akute 348 –– Ätiologie 347 –– chronische 348 –– Diagnose 348 –– Klinik 347 –– Komplikationen 348 –– Therapie 348 Sinusvenenthrombose 207, 568 Sinus-venosus-Defekt 463 SIRS 145, 329 –– Pankreatitis 537 Sjögren-Syndrom –– juveniles 277 –– Tränenmangel 736 Skabies 388, 784 Sklerodermie 273 –– zirkumskripte 789 Sklerose –– systemische 273 –– tuberöse 132, 592 Skoliose –– adosleszente 707 –– Diagnostik 708 –– idiopathische 707 –– infantile 707 –– juvenile 707 –– Operation 708 –– Therapie 708 Skorpionstich 394 Skrotum –– akutes 612 –– leeres 611 Slow-channel-Syndrom 226, 227 Slow-Virus-Erkrankungen 316 small for gestational age 79 Smith-Lemli-Opitz-Syndrom 68, 186 Smith-Magenis-Syndrom 11, 14, 202 Sober-Ureterokutaneostomie 616 somatoforme Störungen 839 Somatotropin 657 Sommersprossen 795 Somnambulismus 177, 440 Somnolenzsyndrom 595 Soormykose 784

SOREM-Phase 442 Sozialgesetz 818 Sozialgesetzbuch 821 Sozialpädiatrie 817 –– Therapie 821 Spaltlampenuntersuchung 731 Spannungskopfschmerz 209 Spannungspneumothorax 108, 437 –– Symptome 108 Spasmus nutans 756 –– Gliome 756 Spastik 183 Spätdumping 505 Spätschielen, normosensorisches 749 Speicheldrüse 770 Speicheldrüsen –– Entzündungen 770 –– Tumoren 770 Speicherkrankheiten, lysosomale 69 Speispinnen 395 Spermarche 653 spezifische Immuntherapie (SIT) 256, 258, 262 Sphärozytose, hereditäre 553, 558 Sphingolipidose 744 Spina bifida 184, 185, 719 –– aperta 184 –– occulta 185 Spina bifida occulta 85 Spinnenbiss 395 Spitzfuß 719 Splenektomie 554, 558 –– partielle 559 Splenomegalie 558 –– Ursachen 558 split cord malformation 195 Spondylarthritis –– Diagnose 270 –– HLA-B27-assoziierte juvenile 269 –– juvenile 267 –– Formen 269 –– undifferenzierte 269 Spondylitis 364 –– juvenile ankylosierende 269, 270 Spondylodese 708 Spondylolisthesis 709 Spondylolyse 709 Spondyloptose 709 Spontanatmung, insuffiziente 86 Spontanmotorik 85 Spontanpneumothorax 437 Sprachaudiometrie 765 Sprachentwicklung 160, 764 –– Frontzahnschaden 803 –– Störung 774 –– verzögerte 166 Sprachentwicklungsstörungen 828, 829 Spreizhose 713 Sprengel-Deformität 724 Spucken 36 Spül-Saug-Drainage 439 Spulwurm 375 Stammzellen, hämatopoetische, Anreicherung 604 Stammzelltherapie 598 Stammzelltransplantation –– allogene 599 –– Aplasie 599 –– autologe 598, 599

877 Sachverzeichnis

–– Granulomatose 241 –– Indikationen 600 –– Komplikationen 601 –– Konditionierung 599 –– Phasen 599 ständige Impfkommission 405 staphylococcal scalded skin syndrome 358, 788 Staphylokokken-toxisches-Schock-Syndrom 332, 341 Status asthmaticus 428 Status epilepticus 176 Stauungspapille 747 Steinfisch 398 Steinprophylaxe 61 Stenose, subglottische 112 STEP-Prozedur 516 Sterbehilfe –– aktive 848 –– passive 848 Sterbeprozess 849 –– Schmerztherapie 849 –– Symptomkontrolle 854 Sterberate 814 Stereotypien, motorische 836 Sternenhimmelbild 292 Sternokleidomastoideushämatom 83 Steroidsulfatasemangel 11 Stevens-Johnson-Syndrom 788 Stickstoffmonoxid 111 –– exhaliertes 429 STIKO 405 Stillen 26 –– Hindernisse 29 –– Langzeitwirkung 28 –– Praxis 30 –– Vorteile 28 Stilling-Türk-Duane-Retraktionssyndrom 753 Still-Syndrom 267 7 Morbus Still Stimmlippenknötchen 771 Stimmstörungen 772 Stoffwechselerkrankungen –– angeborene 43 –– Cholestase 530 –– Tubulopathien 636 Stoffwechselstörungen 82 –– Screening 816 Stöhnen 415 Stomatitis 497 Stomatitis aphthosa 290, 291 Storchenbiss 82, 794 Störungen, emotionale 831 Strabismus 749, 752 –– concomitans 749 –– convergens 749 –– paralyticus 750 –– sursoaddicutorius 749 –– sursoakkuctorius 754 Strahlentherapie 595 Streak-Gonaden 9 Streptokokkenpharyngitis 341 Stresserythropoese 543 Stressulkus, Prophylaxe 147 Stridor congenitus 415 Stromazellen, mesenchymale 603 Strongyloidiasis 378 Strukturmyopathie, kongenitale 233 Struma 663 Struvitsteine 638

Sturge-Weber-Syndrom 132, 434, 795 Stützreaktion 85 Subduralhämatom 210 Substanzabusus 820, 832 Suchreflex 85 Sudden Infant Death Syndrome 7 SIDS Sulfadiazin 382, 383 Sulfasalazin 269, 270 Sumatriptan 209 Supervision 849 Surfactant 79, 95 –– Mangel 143 Surfactantmangel 95 –– sekundärer 97 Surfactantsubstitution 96 Switch-OP, arterielle 472 Swyer-Syndrom 675 Synaptopathie, auditorische 766 Syndaktylie 724 Syndrom der verbrühten Haut 358 Synkope 176 –– kardiale 177 –– konvulsive 177 –– vasovagale 176 Synovektomie 269 Synovialitis, chronische 266 Systemic Inflammatory Response Syndrome 7 SIRS Systolikum 462 Szintigraphie, Harnabflussstörung 622

T Tachykardie 481 –– atrioventrikuläre 481 –– supraventrikuläre 481 Tachypnoe –– neonatale 106 –– transitorische 106 Tacrolimus 788 Taeniasis 379 Taipan 392 Takayasu-Arteriitis 274 Takayasu-Erkrankung 206 Tangier-Krankheit 73 Tanner-Endlängenprognose 648 Tanner-Stadien 652 target enrichment 21 Targetzellen 547 TAR-Syndrom 545, 563 Tauchreflex 151 Tay-Sachs-Erkrankung 744, 750 Teduglutide 516 Teilleistungsstörungen 828 Teleangiektasie, Osler-Rendu 565 Temperaturregulation –– fetale 80 –– neonatale 80 Tenosynovitis 268 Tentoriumeinriss 91 TEOAE-Screening 764 Teratom 589 Territorialinfarkt 205 Tertiärprävention 816 Tetanospasmin 336 Tetanus 336 –– Impfung 406

–– neonataler 131 Tethered-cord-Syndrom 193 Tetrahydrobiopterinbildung, gestörte 58 Thalamusnekrose 90 Thalassaemia intermedia 550 Thalassaemia major 550 Thalassämie 384, 550 –– α 118, 550, 551 –– β 550 Thelarche 653 –– prämature 653 Theophyllin 149 Thomsen-Myotonie 227 Thorax –– Deformitäten 418 –– Wanddeformität 417 Thoraxtrauma 150, 437 Thrombophilie 568 –– Epidemiologie 568, 569 –– Nierenvenenthrombose 638 Thromboplastinzeit, aktivierte partielle 562 Thrombose –– arterielle periphere 569 –– venöse 569 Thrombozyten, Normwerte 543 Thrombozytenaggregation 562 Thrombozytenkonzentrat 120, 560 Thrombozytensubstitution 600 Thrombozytopathie 565 Thrombozytopeni, hereditäre 563 Thrombozytopenie 561 –– amegakaryozytäre 545 –– erworbene 564 –– heparininduzierte 564 –– mit fehlendem Radius 545 –– neonatale 119 –– Pathogenese 561 Thymektomie 226 Thyreoglobulinsynthesedefekt 660 thyreoideastimulierendes Hormon 658 Thyreoidektomie 678 Thyreotoxikose 227, 283 Tic-Störungen 836 Tidalvolumen 139 Tilidin 853 Tinea 783 –– capitis 783 –– corporis 783 –– pedis 783 Tinidazol 373, 374 TINU-Syndrom 637 T-Lymphozyten, neonatale 123 T-Lymphozytendefekt 246 –– kombinerte Störung 248 –– Proliferationsstörung 247 Tobramycin 450 Tocilizumab 269 Todd-Lähmung 170, 206 Toddler’s Diarrhea 522 Todesursachen 815, 816 Todesvorstellung 849 Tollwut 318 –– Impfung 409 Tonsillektomie 770 Tonsillitis 308, 340 –– akute 770 –– chronische 770 Tonsillopharyngitis 295

S–T

878

Serviceteil

Tonsillotomie 442, 770 TORCH-Infektion 123 TORCH-Serologie 766 Torsade-de-Pointes 482 Tortikollis 709 –– kongenitaler 92 Tortuositas 101 Totimpfstoffe 402 Tourette-Syndrom 836 Toxic Stress-Hypothese 820 Toxocariasis 743 Toxokariasis 381 Toxoplasma-gondii-Enzephalitis 382 Toxoplasmose 382 –– Augen 750 –– konnatale 382 –– Retinochorioiditis 742 Trachea, Fehlbildungen 415 Trachealatresie 112 Tracheomalazie 498 Tracheostomie 771 Tramadol 853 Tränendrüse 736 Tränenmangel 736 Tränenträufeln 736 Tränenwege –– Anatomie 736 –– Stenose 736 Transaminasenerhöhung 524 Transferrinsättigung 548 Transfusion –– fetomaternale 113 –– intrauterine 118 Transfusionsreaktionen 559 Transfusionstherapie 559 transkulturelle Pädiatrie 822 Transplantat-gegen-Empfänger-Reaktion 602 Transplantation –– Niere 641 –– präemptive 641 Transposition der großen Arterien 471 Transposition der großen Gefäße 454 Transsudat 438 –– Aszites 538 Trantas-Flecken 738 Trauer, SIDS 154 Trauerbegleitung 849 Traumafolgestörung 822 Treacher-Collins-Syndrom 736 Trennungsängstlichkeit 831 Trichinose 383 Tricho-dento-ossäres Syndrom 800 Trichomykose 783 Trichterbrust 417 –– OP-Verfahren 418 Trichternetzspinne 396 Trichuriasis 378 Trichuris-Dysenterie-Syndrom 379 Trikuspidalatresie 454, 474 Trimenonreduktion 543 Trinkmenge 34 Triple-A-Syndrom 498 Triple Risk Model 152 Triplets 480 Triple-X-Syndrom 10 Trisomie –– 13 5, 8 –– 18 5, 8

–– 21 5, 6 –– freie 6 Trisomie 13 455 Trisomie 18 455 Trisomie 21 113, 455, 750 –– atrioventrikulärer Septumdefekt 465 Trochlearisparese 754 Trommelfell –– Adhäsivprozess 762 –– randständiger Defekt 763 Trommelfellperforation 762 Trommelschlegelfinger 470 Tropentauglichkeit 391 Trophozoiten 373, 374 Truncus arteriosus communis 454, 473 Tryptase 261 TT-Virus 304 Tubenmittelohrkatarrh, chronischer 762 Tuberkulinhauttest 353, 368 Tuberkulom 367 Tuberkulose 242, 352 Tuberkulosepneumonie 352 tuberöse Sklerose 827 Tübinger Schiene 713 Tubulopathien 636 –– komplexe 637 Tubus –– endotrachealer 138 –– Fehllage 138, 142 Tumor 577 –– Hirn 591 –– Knochen 587 –– primitiver neuroektodermaler 601 –– solider 579 Tumorlysesyndrom 576, 578 Tumornekrosefaktor-α-Inhibitoren 269, 270 Turcot-Syndrom 592 Turner-Syndrom 111 Tympanogramm 765 Tympanometrie 343 Tympanoplastik 762 Tympanozentese 343 Typhus 337 –– Impfung 410 typisches Systolikum 462 Tyrosinämie, Typ I 59 T-Zelldefekt, Impfung 252

U Überblähung, pulmonale 446 Übergewicht 38 Uhrglasnägel 470 Ulkus –– Definition 779 –– Krankheit 503, 504 Ullrich-Turner-Syndrom 9, 455, 465, 656 Umweltschadstoffe, Muttermilch 29 UN-Behindertenrechtskonvention 821 Undine-Syndrom 442 Unfälle 816 –– Mortalität 816 –– Prävention 817 UN-Kinderrechtskonvention 818 Untergewicht 37 Unterkieferrücklage 807 Unterschenkeltorsion 721

Untersuchung –– augenärztliche 731 –– Neugeborenes 82 –– neurologische 85, 163 Urachusfistel 84 Ureter 614 –– Abgangsstenose 614 Ureterokutaneostomie 616 Ureterozele 617 Urethralklappe 616 Urethritis 354 Urin –– Ketonbestimmung 43 –– Untersuchung 620 Urologie 612 Urosepsis 146, 619 Ursodesoxycholsäure 535 Urticaria, pigmentosa 797 Urtikaria 257, 259, 785 Usher-Syndrom 745 Uveitis 742 –– anterior 742 –– intermedia 742 –– Nephritis 637 –– posterior 742 –– posterior+ 742

V VACTERL-Assoziation 455 Vaginalsekretion, neonatale 84 Vaginosis 354 Valganciclovir 296, 297 Valsalva-Manöver 482 Vanishing White Matter Disease 199 Varicella-Zoster-Impfung 408 Varicozele 612 Varizella-Zoster-Infektion 291 Varizella-Zoster-Virusinfektion, konnatale 124 Varizellen 292 –– neonatale 292 Varizellenembryofetopathie 292 Varizen, Ösophagus 500 Vaskulitis 486, 633 –– ANCA-positive 632 –– zerebrale 218 Vasopathie 565 Vasopressoren 149 Vasospasmus 205 Vecchietti-Neovaginaanlage 699 velokardiofaziales Syndrom 11, 454 Vena-Galeni-Malformation 204 veno-occlusive disease 603 Ventrikelseptumdefekt 454, 461, 469, 471 Verarbeitungsstörungen, zentrale 165 Verbrauchskoagulopathie 568 Verhaltensstörungen, sekundäre 165 Vernachlässigung 822 Vernalis-Plaques 738 Verotoxin 634 Verrucae –– plantares 311 –– vulgares 310 Verwandtenspende, gerichtete 559 Vierfingerfurche 84 Viperiden 392, 393 Viren, Sepsis 146

879 Sachverzeichnis

Visusprüfung 731 Vitamin B12 29 –– Mangel 63, 202, 503, 549 –– nutritiver 549 –– Stoffwechseldefekt 550 Vitamin D 29, 32, 687 –– Mangel 627 –– sekundärer 690 –– Mangelrachitis 687 –– Supplementierung 689 Vitamin K 29, 32 –– Malabsorption 121 –– Mangel 92, 120 Vitiligo 796 Vitreus 740 Vojta-Methode 821 Volumenmangel 150 Volumentherapie 88 Volumentrauma 87 Volutrauma 140 Volvulus 511 Von-Hippel-Lindau-Erkrankung 592 von-Willebrand-Faktor 567 von-Willebrand-Syndrom 567 Vorbiss 806 Vorhofflattern 482 Vorhofseptumdefekt 463 Vorneigetest 708 Vulvovaginitis 354, 359 –– präpubertale 354 –– pruriginöse 377

W Wachstum 647 –– Hormon 657 –– Kurven 647 –– Varianten 648 Wachstumsschmerz 715 Wachstumsstörung, Niereninsuffizienz 640 Wadenwickel 284 WAGR-Syndrom 11, 585 Walker-Warburg-Syndrom 232 Wärmeantikörper 554 Warm-up-Phänomen 227 Warzen 310 Waschfrauenhände 83 Wasserscheideninfarkt 90 Waterhouse-Friderichsen-Syndrom 568 Weber-Cockayne-Epidermolyse 781 Weber-Ramstedt-Myotomie 503 Wegener-Granulomatose 274, 633 Weichteilinfektionen 129 Weichteilsarkom 582 Weill-Marchesani-Syndrom 740, 750 Wenckebach-AV-Block 480 West-Syndrom 172, 827 White-Coat-Hypertonie 488 WHO-Klassifikation 578 whole genome sequencing 21 WHO-Stufenschema 853 Wickham-Phänomen 793 Wiedemann-Beckwith-Syndrom 14, 672, 687 Wiederholungszwänge 833 Wiegenkufen-Füße 8 Williams-Beuren-Syndrom 11, 13, 455, 467, 468, 486

Wilms-Tumor 674, 742 7 Nephroblastom Windeldermatitis 389, 784, 786 Windpocken 292 –– Impfung 408 –– neonatale 124 Wiskott-Aldrich-Syndrom 119, 248, 563, 572 Witwe –– braune 395 –– echte 395 –– schwarze 395 Wolff-Parkinson-White-Syndrom 481 Wolf-Hirschhorn-Syndrom 8, 11, 14 Wolfram-Syndrom 47, 757 Wundstarrkrampf 336 Würfelqualle 396 Wurzelfrakturen 802

X Xanthogranulom, juveniles 558, 735 X-Beine 688, 722 Xerodermie 787 Xerostomie, Karies 800

Z Zahnbildung, Störung 803 Zahndurchbruch 800 –– schmerzhafter 800 Zahnentwicklung 800 Zahnerosion 801 –– Essstörung 802 Zahneruption 800 Zahnexfoliation 800 Zahnrettungsbox 802 Zahnschäden –– kariösbedingte 800 –– säurebedingte 801 –– traumatische 802 Zanamivir 324 Zecken 388, 797 Zeckenstich 338 Zeitreihen 814 Zellanreicherung 604 Zellulitis 360 –– präseptale 732 Zellweger-Syndrom 66, 132 zentrales Hypoventilationssyndrom 442 Zentralnervensystem, Entwicklung 184 Zerebellitis 292 zerebralen Krise, Diabetes mellitus 683 Zerebralparese 195 –– ataktische 197 –– bilateral-spastische 196, 197 –– Diagnose 198 –– dyskinetische 197 –– infantile 719 –– spastische 164 –– Therapie 198 –– unilateral-spastische 197 Zerkariendermatitis 385 Zeroidlipofuszinose, neuronale 71, 199, 200 Zervixkarzinom 312 Zervizitis 270, 354 Zidovudin 323 Ziliopathien 624

Zink, Mangel 497 Zinköl 786 Zirkumzision 609 Zitrullinämie 44 ZNS-Infektionen, fokale eitrige 368 ZNS-Störungen, funktionelle 163 Zohlen-Zeichen 716 Zöliakie 497, 514, 791 –– Anorexia nervosa 842 Zollinger-Ellison Syndrom 504 Zoster generalisatus 293 Zuelzer-Wilson-Syndrom 516 Zwangsbiss, progener 806 Zwangsstörungen 833 Zwei-Faktoren-Modell, Mowrer 833 Zwerchfell 500 –– Hiatushernie 501 –– kongenitale Hernie 500 –– Relaxatio diaphragmatica 501 Zwerchfellatmung 415 Zwerchfellschrittmacher 442 Zwergbandwurm 379 Zwergwuchs, dysproportinaler 724 Zwischenhirn, Tumoren 593 Zyanose 111, 469, 471, 474 Zyklusstörungen 700 Zysten, bronchogene 416 Zystinose 71, 637 Zystinurie 61 Zystitis 619 –– Sonographie 621 Zystizerkose 380 Zystoisosporidiose 374 Zytogenetik 10 Zytokine 329 Zytomegalie, Augen 750 Zytomegalieinfektion –– konnatale 297 –– postnatale 297 Zytomegalie-Virusinfektion, konnatale 124 Zytomegalievirusinfektionen 296 Zytopathie, mitochondriale 46

T–Z