Paulus und seine ‚Kinder': Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe [Reprint 2012 ed.] 3110184788, 9783110184785

Der Apostel Paulus hat mit seinen Briefen nicht nur Theologie vermittelt, sondern auch persönliche Beziehungen zu den an

261 116 22MB

German Pages 593 [596] Year 2005

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Paulus und seine ‚Kinder': Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe [Reprint 2012 ed.]
 3110184788, 9783110184785

Citation preview

Christine Gerber Paulus und seine ,Kinder'

Beihefte zur Zeitschrift für die neutes tarnen tliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche

Herausgegeben von

James D. G. Dunn · Carl R. Holladay Hermann Lichtenberger · Jens Schröter Gregory E. Sterling · Michael Wolter Band 136

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York

Christine Gerber

Paulus und seine ,Kinder' Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe

w DE

G_ Walter de Gruyter · Berlin · N e w York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-018478-5 ISBN-10: 3-11-018478-8

Library of Congress Cataloging-in-Publication

Data

Gerber, Christine. Paulus und seine „ K i n d e r " : Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe / Christine Gerber. p. cm. — (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche ; Bd. 136) Includes bibliographical references (p. ) and index. I S B N 3-11-018478-8 (hardcover : alk. paper) 1. Bible. N.T. Rpistles of Paul — Language, style. 2. Metaphor in the Bible. 3. Parent and child — Religious aspects — Christianity — History of doctrines — T.arly church, ca. 30 — 600. T. Title. IT. Series: Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche ; Beiheft 136. BS410.Z7 Tieft 136 [BS2655.M47] 225.6 s - d c 2 2 [227' .06] 2005027708

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Dcutschc Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Dcutschcn Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische D a t e n sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruytcr G m b H & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Kinspeichcrung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Datenkonvertierung und Satz: Michael Schlierbach, satz.saccade.de (Schrift: Palatino Tinotype) Tinbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Gisela und Reinhold Gerber und Katharina, Nikolas und Cornelius

Vorwort

Diese Untersuchung ist die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Wintersemester 2004/2005 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Die Veröffentlichung gibt Gelegenheit, den vielen Menschen zu danken, die mich in den Jahren der Entstehung begleitet und unterstützt haben, und einige hier namentlich zu nennen. An erster Stelle steht der Dank an Prof. Dr. Cilliers Breytenbach, Berlin, der diese Untersuchung anregte, in vielen Diskussionen voranbrachte und das Erstgutachten zur Habilitationsschrift verfasst hat. Als Assistentin an seinem Lehrstuhl hat er mir Arbeits- und Freiraum gegeben und auch durch diverse Beurlaubungen ermöglicht, dass diese Arbeit ein Ende fand. Viel bedeutet mir, was ich bei ihm gelernt habe, und seine Freundschaft. Prof. Dr. Michael Wolter, Bonn, danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens, sein Mitdenken und seine wichtigen Hinweise, die in die Überarbeitung eingingen, weiter für die Aufnahme des Buches in die Reihe „Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft". Prof. Hans-Gebhard Bethge, Berlin, gilt mein Dank für die Erstellung des Drittgutachtens. Prof. Dr. Jens Schröter, Leipzig, hat die Aufnahme in die Reihe vorgeschlagen. Ihm danke ich auch für viele weiterführende Gespräche und Freundschaft. Auch meinem Doktorvater Prof. Dr. Ferdinand Hahn, Iffeldorf, bin ich dankbar für seine bleibende Verbundenheit und sein Interesse an dieser Arbeit. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Institut für Christentum und Antike waren über die Jahre hinweg eine fachliche und menschliche Hilfe. Besonders möchte ich Ines Löchert, Dr. Christine Schlund und Dr. David du Toit für ihre Verbundenheit und viel Ermutigung danken.

VIII

Vorwort

Teile aus der vorliegenden Arbeit konnte ich in verschiedenen Sozietäten und Kolloquien zur Diskussion stellen. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums am Lehrstuhl von Prof. Breytenbach, der Neutestamentlichen Sozietät in Bonn der Professoren Hoppe und Wolter und der Neutestamentlichen Sozietät der Kirchlichen Hochschule Wuppertal der Professoren Haacker und Karrer für Gespräche und Anregungen. Auch Dr. Frances Back, Göttingen, war eine wichtige Gesprächspartnerin. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibliothek der Kirchlichen Hochschule Wuppertal haben mir durch Literaturbeschaffung und ihre unkomplizierte Weise Arbeit und Leben sehr erleichtert. Dabei hat mich auch Christina Eschner, Berlin, unterstützt. Lena Baßfeldt, Wuppertal, hat mir bei der Erstellung des Registers geholfen. Dankbar bin ich den vielen, die Fassungen der Arbeit bzw. Teile zur Korrektur lasen. Dr. Simon Gerber, Berlin, hat die Habilitationsschrift geprüft. Fehler in einzelnen Teilen haben Christoph Gocke, Mainz, Axel Horstmann und Jan Roßmanek, Hamburg, Pia ArrasPretzler, Düsseldorf, und Dr. Martin Vetter aufgespürt. Der Theologe und Typograph Michael Schlierbach, Rosenheim, hat in unermüdlichem Kampf mit Fußnoten aus dem Manuskript mit aller Sorgfalt und Kompetenz die Druckvorlage für das Buch gemacht. Danken möchte ich auch Carsten Burfeind für die besonders freundliche Betreuung seitens des Verlags. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat das Entstehen der Studie gefördert durch eine „Sachbeihilfe", die mir zwei Jahre der intensiven Forschung ermöglichte; auch dafür bin ich sehr dankbar. Viel bedeutet mir, dass die Genannten wie andere den fachlichen Austausch nie vom persönlichen Interesse trennten und mir damit helfen, ein Leben in verschiedenen Welten zu führen - allen voran Martin Vetter. Ihm danke ich von ganzen Herzen, dass er diese Welten und die Fülle des Lebens mit mir teilt. Widmen möchte ich dieses Buch über Paulus und seine Kinder unseren Kindern und meinen Eltern als Zeichen des Dankes. Meine Eltern haben meine Neigungen gefördert und begleiten meinen Lebensweg liebevoll und interessiert. Das Leben mit unseren Kindern, ihr Vertrauen, ihre ansteckende Lebenslust, ihre Ideen, Fragen und Kritik, ihr je eigenes Ich beglücken und begeistern mich jeden Tag. Düsseldorf, im September 2005

C. G.

Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsverzeichnis

V IX

Teil I Bilder in Briefen. Zu Fragestellung, Methodik und Aufbau der Untersuchung

ι

§ ι Paulus und seine Gemeinden. Zu Fragestellung, Forschung und Vorgehen

3

1 2

Eine neue Beziehung. Die Fragestellung und ihre Prämissen . . . . Apostel, Autorität, geistlicher Vater. Die Fragestellung der Arbeit im Rahmen der Forschungsdiskussion 2.1 Die Bedeutung des „Apostels" für die Gemeinden 2.1.1 Theologische Konzepte 2.1.2 Soziologische Deutungen 2.1.3 Differenzierte Darstellungen der Beziehung des Paulus zu Einzelgemeinden 2.1.4 Die Briefe als Ausdruck oder Einschreibung einer Autoritätsrolle 2.2 Soziale Muster: Mögliche sozial- und religionsgeschichtliche Vorbilder für die Rolle des Paulus 2.2.1 Die soziale Struktur der Gemeinden im Vergleich zum Umfeld und die Position des Paulus 2.2.2 Patronatsbeziehungen zwischen Paulus und den Gemeinden? 2.2.3 Paulus und die Gemeinden als Freunde 2.2.4 Paulus als philosophischer Lehrer? 2.2.5 Paulus unter den Propheten? 2.3 Die Deutung der Familienmetaphern in der PaulusAuslegung

3 13 13 14 17 20 22 24 24 26 27 29 32 33

χ

3

Inhalt

2.3.1 Paulus als geistlicher Vater und Mutter 36 2.3.2 Eine neue Familie. Ekklesiologische Fragestellungen . 38 2.3.3 Paulus als Vater, Mutter und Bruder 40 2.4 Der Ansatz dieser Untersuchung 41 Beziehungsbilder in Briefen lesen. Eine Skizze der Untersuchung 43

§ 2 Im Brief gesagt. Die Gattung der paulinischen Schriften und ihre Bedeutung für die Beziehung des Autors zu seinen Gemeinden 1

2

Rhetorische, epistolographische und formgeschichtliche Ansätze der Exegese 1.1 Brief oder Rede ? 1.2 Epistolographische Perspektiven 1.3 Autorität qua Gattung? Zur Ableitung der Paulusbriefe aus frühjüdischer Literatur 1.4 Beziehungspflege. Die spezifische Pragmatik der Gattung Brief für die Kommunikation Zur Form und Topik der paulinischen Briefe 2.1 Der Anspruch der Briefe. Zur Applikation der Formsprache des Briefrahmens und der brieflichen Formeln 2.1.1 Die Inszenierung der religiösen Begegnung. Präskript und Eschatokoll 2.1.2 Die Würdigung der Kommunikationsbeziehung mittels epistolarer Formeln 2.1.3 Die Erinnerung an die gemeinsame Zeit. Die Danksagung 2.1.4 Eine Explikation des Gedenkens. Grüße 2.2 Zur beziehungsbezogenen Topik der Paulusbriefe 2.2.1 „Apostolische Parusie" und „briefliche Selbstempfehlung" als Topoi in Paulusbriefen? 2.2.2 Die Relativierung der Trennung durch den Brief 2.2.3 Die Bitte um Nachrichten von den Adressatinnen . . . . 2.2.4 Der Sehnsuchtstopos 2.2.5 Der Topos des wechselseitigen Gedenkens 2.2.6 Die Adaption der formelhaften Gesundheitswünsche 2.2.7 Reisepläne oder der Topos vom Wiedersehen

47 48 48 51 54 56 61 61 61 63 64 65 66 67 69 72 72 72 73 74

Inhalt

3

„Ein Brief verbindet". Schlussfolgerungen zur Gattungspragmatik der Paulusbriefe

75

Exkurs: Wer ist „Wir" ? Eine prinzipielle Notiz zur Referenz der 1. Person Plural

78

§ 3 Metaphern verstehen. Zum Charakter metaphorischer Sprache und der Methodik der Metaphernauslegung. Zugleich ein Glossar 1 2

3

4 5

XI

Was ist eine Metapher ? Verstehen von Metaphern als enzyklopädische Aufgabe 2.1 Die Interaktion 2.2 Bildfelder und konzeptuelle Metaphern als enzyklopädische Inhalte Zur Leistung von Metaphern 3.1 Metaphern als Vermittlung von Kognitionen und als offene Kunstwerke 3.2 Pragmatische Dimensionen von Metaphern 3.2.1 Die appellative Funktion 3.2.2 Die katachrestische Funktion 3.2.3 Die heuristische Funktion 3.2.4 Die strukturierende und wertende Funktion 3.2.5 Die argumentative Funktion Bild, Metapher, Vergleich, Analogieargument. Formkritische Klärungen Schlussfolgerungen für die exegetische Praxis 5.1 Der Charakter der untersuchten Metaphorik 5.2 Der die Metapher determinierende Kontext in einem Paulusbrief 5.3 Die vom Text intendierte Interaktion 5.4 Die Bedeutung der Bildfeldtradition oder Konzeptmetapher für das Verstehen einer Metapher 5.5 Die Verbindung mehrerer Metaphern 5.6 Die Grenzen der Interpretation einer Metapher

81 83 88 88 93 98 98 99 100 100 101 101 102 103 105 105 106 106 107 107 110

XII

Inhalt

Teil II Für das Neue Worte finden

113

§ 4 Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus vor Gott und Christus

117

1

2

3 4

απόστολος Χριστοΰ.Wider die Uberbeanspruchung eines Wortes

119

1.1 Zur allgemeinen Bedeutung von απόστολος κτλ 1.2 Das Vorkommen in den authentischen Paulus-Briefen. Ein Überblick 1.3 Der Gebrauch in den authentischen Paulus-Briefen 1.4 Schlussfolgerungen διάκονος Gottes. Zur Rehabilitation einer unterschätzten Bezeichnung 2.1 Zur Bedeutung von διάκονος κτλ. allgemein und zum Wortgebrauch bei Paulus 2.2 άπόστολος oder διάκονος - ein Vergleich δοϋλος Χρίστου. Die Metapher vom Sklaven Christi Schlussfolgerungen

§ 5 Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus. Ein Überblick 1

119 122 123 129 131 131 140 142 150

153

Die Bildfelder und ihr Vorkommen. Das Paradigma der Rollenmetaphorik 155 1.1 Arbeiten als Bildspender 155 1.1.1 Von der Evangeliumswirtschaft und Paulus als freiwilligem Sklaven (1 Kor 9) 157 1.2 Bauten und Bauen 160 1.2.1 Bauen und Niederreißen (2 Kor 10,8 und 13,10; 12,19) 1.3 Aspekte des Kultes 165 1.3.1 Paulus als Trankopfer und Opfernder (Phil 2,17) . . . 166 1.3.2 Paulus als Priester, der die Heiden darbringt (Rom 15,16) 168 1.3.3 Paulus als Christi Duft vor Gott und den Menschen (2 Kor 2,14-16) 172 1.4 Brief 175 1.4.1 Der allseits bekannte Empfehlungsbrief Paulus (2 Kor 3,1-3) 176

Inhalt

2

1.5 Krieg 1.5.1 Der besiegte Paulus im Triumphzug Gottes (2 Kor 2,14a) 1.5.2 Die Waffen des Paulus (2 Kor 6,7b) 1.5.3 Stell dir vor, es ist Krieg! Paulus belagert Korinth (2 Kor 10,1-6) 1.5.4 Paulus plündert andere Gemeinden. Unterhaltsverzicht nach 2 Kor 1 1 , 7 - 1 1 1.6 Laufen und Wettkampf 1.6.1 Paulus als Sportler (1 Kor 9,24-27) 1.7 Vegetation 1.8 Licht und Sehen 1.8.1 Licht vom Licht (2 Kor 4,1-6) 1.9 Botschaft und Versöhnung 1.9.1 Der Versöhner (2 Kor 5,18-20) 1.10 Eltern und Kinder 1.10.1 Timotheus und Onesimus, die Kinder des Paulus (Phil 2,22; 1 Kor 4,17; Phlm 10) 1.10.2 Was Kinder den Eltern schulden (2 Kor 6,13) 1.10.3 Eltern sparen für ihre Kinder. Unterhaltsverzicht nach 2 Kor 12,14t 1.11 Ehe 1.11.1 Paulus als Ehestifter (2 Kor 11,1-4) 1.12 Sklaverei 1.12.1 Paulus als Sklave der Adressatinnen (2 Kor 4,5) . . . . 1.13 Sterben und leben lassen. Paulus als Medium der Offenbarung (2 Kor 4,10-12) 1.14 Rückblick auf das Metaphern-Paradigma Metaphorische Selbstinszenierungen im Zweiten Brief nach Korinth und im Brief nach Philippi. Zur Syntagmatik der Metaphern 2.1 Paulus als Vermittler Gottes und Repräsentant Christi. Die Metapherncollage von 2 Kor 2 - 7 2.2 Krieg und Hochzeit in Korinth. Die Beziehung des Paulus zur Gemeinde angesichts anderer Missionare als Thema von 2 Kor 1 0 - 1 3 2.3 Kriegskameraden, verbunden im Leid und in der Freude. Die Metaphorik im Philipperbrief

XIII 181 185 188 189 190 192 195 197 198 199 201 201 205 207 209 211 215 21 6 218 218 219 221

223 225

231 239

XIV

Inhalt

Teil III Paulus und seine Kinder. Textanalysen von Familienbildern und Beziehungsbildung in den paulinischen Briefen

249

§ 6 Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie (1 Thess 2,7-12.17-20). Die Bedeutung der Missionare für die Gemeinde von Thessalonich in der Konstruktion des Briefes

251

1 2

3 4

5

6 7

Zur Gattung und Disposition 1.1 Zur Gliederung 1.2 Zur Gattung Der Ausgangspunkt der Kommunikation 2.1 Wer spricht? Zur Bestimmung der impliziten Autoren . . . 2.2 Die Beziehung und der Anlass des Briefes: Die argumentative Ausgangssituation Die dankende Erinnerung als Lob der Adressatinnen und Vergegenwärtigung des Wirkens der Absender (1,1-10) Wie Mutter und Vater. Die Erinnerung an den Einsatz der Missionare in Thessalonich (2,1-12) 4.1 Das Auftreten der Missionare im Unterschied zu dem anderer Prediger (2,1-6) 4.2 Mutter Paulus und ihre Kinder (1 Thess 2,7-9) 4.3 Wie ein unterweisender und mahnender Vater (1 Thess 2,10-12.13) 4.4 Zwischenauswertung 4.4.1 Mutter- und Vatervergleich im Kontext von 2,1-12 . . 4.4.2 Die Funktion von 2,1-12 im Duktus des Briefes Die Zeit nach dem Missionsaufenthalt (2,17-3,13) 5.1 Verwaist von der Gemeinde, ihrem Ruhmeskranz. Die Abreise der Missionare und die Trennung von der Gemeinde (2,17-20) 5.2 Trennungsängste und ihre Überwindung (3,1-10.11-13) .. Die rhetorische Gestaltung der Beziehung in der Paraklese 4,1-5,24 und dem Briefschluss 5,25-28 Konzept und Bedeutung der missionarischen Beziehung und der Familienfiktion. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

253 254 256 261 261 263 267 270 270 2 74 2

94 306 306 309 314 314 324 328 332

Inhalt

7.1 Autor, Adressatinnen und ihre Beziehung im Entwurf des Briefes 7.1.1 Der Entwurf des Autors und Missionars durch den Brief 7.1.2 Der Entwurf der Adressatlrtnen im Brief 7.1.3 Die Beziehungen zwischen Missionaren, Adressatinnen und Gott in der Darstellung des Briefes 7.2 Eine neue Familie für die Konvertiten. Die Bedeutung der missionarischen Beziehung und der Familienfiktion für die Christinnen in Thessalonich Exkurs: Unter Schwestern und Brüdern. Zur Bedeutung der Geschwistermetaphern in den Paulusbriefen

§ 7 Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild. 1 Kor 4,14-21 im Kontext von 1 Kor 1 - 4 1

2 3

Die Metaphern im Kontext von 1 Kor 1 - 4 1.1 Z u m brieflichen und rhetorischen Charakter 1.2 Das übergeordnete Anliegen und der thematische Zusammenhang von 1 Kor 1 - 4 1.3 Der Selbstentwurf des Autors und der Beziehung zur Gemeinde in Korinth diesseits der Metaphern 1.3.1 Paradigmatische oder apologetische Intention? Zur Forschungsdiskussion 1.3.2 Der Selbstentwurf des Autors in Kap.if Die Babys vertragen nur Milch (1 Kor 3,1-4) Die Rolle des Paulus, Apollos und anderer Mitarbeiter in der Gemeinde. Die metaphorischen Argumente im Kontext von 1 Kor 3,5-4,13 3.1 Die Glaubensmittler (3,5) 3.2 Die Landarbeiter (3,6-9) 3.3 Bauleiter Paulus, die Bauleute und der Tempel Gottes (3,9-i5.i6f) 3.4 Die religiöse Position der Gemeinde (3,18-23)

XV

332 332 334 335

338 344

351 353 353 356 362 362 365 368

377 377 378 382 391

3.5 Diener Christi und Haushalter der Geheimnisse Gottes (4/1-5) 3.6 Das Lernziel der Ausführungen anhand von Paulus und Apollos (4,6f) 3.7 Der Status der Apostel gegenüber der Gemeinde (4/8-13)

392 393 394

XVI 4

5

Inhalt

Pater certus. Der metaphorische Schlussappell an die Kinder, ihren einzigen Erzeuger nachzuahmen (4,14-21) 398 4.1 Die Struktur der Verse 399 4.2 Kinder werden ermahnt: Es bleibt in der Familie (V.14) . . 400 4.3 Unersetzlich: Nur ein Vater (V. 15) 403 4.4 Der Vater als Vorbild und der Bruder als sein Repräsentant (V.i6f) 411 Exkurs: Die Vorbildaufforderungen des Paulus in der exegetischen Debatte 415 4.5 Paulus kommt - mit Stock oder Sanftmut (V.18-21) 420 4.6 Konklusionen 422 4.6.1 Der Vater-Appell in 1 Kor 4,14-21 422 4.6.2 Das Verhältnis von 1 Kor 4,14-21 zum Briefsegment 1,10-4,13 424 Die Autorität des Gemeindegründers. Die Position des Paulus in der Gemeinde nach 1 Kor 1 - 4 425 5.1 Die innere Beziehung der Metaphern in 1 Kor 3 f 426 5.2 Der nach menschlichen Maßstäben niedrige Gemeindegründer als religiöse Identitätsfigur der Gemeinde. Die Rolle des Paulus nach 1 Kor 1,10-4,21 429

§ 8 Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20 im Rahmen des Galaterbriefes 1 2

3

Gal 4,12-20 im Duktus des Galaterbriefes Dramatis personae. Die Akteure der brieflichen Kommunikation 2.1 Apostel und Autorität. Der Entwurf des impliziten Autors durch den Brief 2.2 Die Gegenspielerinnen im Entwurf des Briefes 2.3 Zwischen Paulus und den anderen: Die Adressatinnen und Adressaten Die Ordnung der Welt in der Darstellung des Briefes. Persuasive Strategien 3.1 Die duale Wirklichkeit 3.2 Der Jude Paulus und die Heidinnen in Galatien 3.3 Alte und neue Familien. Die metaphorische Argumentation des Galaterbriefes

437 440 445 446 450 451 453 454 455 456

Inhalt

4

5

Freundschaftserinnerungen und ein Bild der brieflichen Anstrengung des Paulus. Gal 4,19 im Kontext von 4,11.12-20 . . 4.1 Der Stand der Argumentation (4,8-11) 4.2 „Werdet wie ich!" (4,12a) 4.3 Erinnerung an die frühere Freundschaft (4,i2b-i5) 4.4 Ende der Freundschaft? (4,16) 4.5 Die falschen Motive der anderen (4A7f) 4.6 Die schwierige Geburt (4,19) 4.6.1 Die Gebär arbeit des Paulus (4,19a) 4.6.2 Die Reifung des Embryos (4,19b) 4.6.3 Zum möglichen Hintergrund der Metapher 4.7 Die Grenzen der brieflichen Kommunikation oder der Wunsch, vor Ort die Stimme zu erheben (4,20) Gebärarbeiterin Paulus. Der Beitrag der Metapher für die Pragmatik des Briefes

XVII

459 460 461 463 467 468 472 473 477 486 489 491

Teil IV Mit Sprachbildern Beziehungen gestalten. Ergebnisse der Studien

497

§ 9 Rückblick und Ausblick. Eine Thesenreihe

499

Register 1 Sach- und Begriffsregister 2 Register griechischer Worte 3 Stellenregister 4 Moderne Autorinnen und Autoren

513 513 518 520 532

Literaturverzeichnis

537

Teil I

Bilder in Briefen. Zu Fragestellung, Methodik und Aufbau der Untersuchung Dass die ältesten uns erhaltenen Schriften des frühen Christentums Briefe sind, ist gewiss kein Zufall. Als damals einziges Medium der Vergegenwärtigung über räumliche Distanzen hinweg bezeugen sie uns, über die zeitliche Distanz hinweg, die Bedeutung der gegenseitigen Beziehung für die ersten Christinnen und Christen. Die Botschaft des Evangeliums wurde durch Menschen weitergegeben, und die Bekräftigung der neu gewonnen christlichen Identität bedurfte des Austausches mit anderen. So verband die christliche Bewegung einander bislang unbekannte Menschen. In der Uberzeugung, dass die neu Evangelisierten nicht nur in einer Gemeinschaft vor Ort, sondern in Beziehung zu ihrem Missionar bleiben sollten, schrieb Paulus von Tarsus Briefe nach Thessalonich, Korinth, Galatien und Philippi. Mit ihnen überbrückte er die Zeiten der Trennung zwischen seinen Besuchen und schließlich auch die unerwartet große Spanne zwischen seinem Ableben und der endzeitlichen Gemeinschaft aller Christinnen und Christen mit Gott und Christus. Auch Metaphern verbinden. Sie bahnen den Weg vom Bekannten zum Unbekannten, vom allgemein verstandenen Wort zum wortlosen Neuen, sie ermöglichen menschliches Reden über göttliche Wirklichkeit. So wurden sie ein unentbehrliches sprachliches Medium zur Weitergabe der christlichen Botschaft und damit für den Austausch in jenen neu entstehenden Beziehungen. Die Beziehung des Paulus zu den von ihm gegründeten Gemeinden war etwas Neues. Sie entsprach nur partiell vorgegebenen Rollenmustern, seien es soziale oder religiöse. Seine Briefe sind nur begrenzt in die Brief- und Redekonventionen seiner Zeit einzuordnen. Und der Inhalt der Briefe zeugt von den Schwierigkeiten des Paulus, den Ge-

2

Fragestellung, Methodik und Aufbau

meinden zu vermitteln, wie er seine Rolle verstanden wissen wollte. Paulus bildete Metaphern, nahm andere auf, prägte manche um, um mittels der gemeinsamen Alltagswelt und Kultur verständlich zu machen, was nach seiner Überzeugung seine Aufgabe und Autorität gegenüber der jeweils angeschriebenen Gemeinde war. Die Metaphern haben keinen einhelligen Sinn, ergeben kein geschlossenes Bild, sondern sind jeweils situationsbezogen. Die meisten stimmen aber darin überein, dass sie Paulus in Beziehungen zeichnen, in Beziehung zu Gott und Christus einerseits, zu den Adressatinnen der Briefe andererseits. Den Metaphern und Vergleichen von „Paulus und seinen Kindern", in denen Paulus sich als „Vater" ( i K o r 4,14t) iThess 2,11) oder „Mutter" (iThess 2,7) bzw. „Gebärerin" (Gal 4,19) charakterisiert, kommt unter diesen Beziehungsmetaphern eine besondere Aussagekraft zu. Damit ist der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung umrissen. Sie fragt nach der Bedeutung, die Paulus in den von ihm gegründeten Gemeinden einnehmen will. Den Weg zur Antwort weisen die Beziehungsmetaphern und exemplarisch die Familienmetaphern, mit denen Paulus diese Rolle einzuschreiben sucht. Erfragt ist nicht, was der „historische Paulus" meinte, nicht sein „Selbstverständnis", sondern, wie die Metaphern in ihrem brieflichen Außerungskontext zu verstehen sind und welches Bild von der Rolle des Verfassers und Gemeindegründers so entsteht. Da sich diese Fragestellung quer zu gängigen bewegt, ist sie genauer zu entfalten (§1), bevor die Bedeutung der brieflichen Form unserer Quellen für die Kommunikation (§2) und die Methodik der Metaphernauslegung (§ 3) umrissen werden.

§1

Paulus und seine Gemeinden. Zu Fragestellung, Forschung und Vorgehen ι

Eine neue Beziehung. Die Fragestellung und ihre Prämissen

Als Apostel sah Paulus sich „gesandt, das Evangelium zu verkündigen" ( i K o r 1,17), und zwar insbesondere dorthin, wo zuvor noch niemand evangelisiert hatte (Rom 15,20t). Wir wissen jedoch wenig darüber, wen Paulus ansprach, wie er vorging und was er sagte, wenn er zum ersten Mal in eine Stadt kam, um das Evangelium zu verkündigen 1 . Unsere primären Quellen, die Briefe des Apostels, gewähren uns viel mehr Einblick in das, was sich anschloss an einen ersten Aufenthalt und die Gründung einer christlichen Gemeinschaft vor Ort. Sie zeigen, dass der erste Missionar 2 auch weiterhin in persönlichem Kontakt bleiben wollte mit den Menschen, die er für das Evangelium

1

Vgl. dazu Reinbold 2000, der ein lebendiges Bild von „Propaganda und Mission" im ältesten Christentum entwirft. Er charakterisiert die Mission des Paulus nach Zielgruppen, Modalitäten etc. (uyff), allerdings in unbegründeter Synthese von A p g und Paulus-Briefen. Die Frage, wie sich die Paulusbriefe zu dieser ersten Mission unter Nichtglaubenden verhalten, stellt Reinbold nicht.

2

Da ich in dieser Untersuchung dafür plädiere, den Begriff „ A p o s t e l " entsprechend der paulinischen Verwendung auf den Aspekt der Aussendung zur Evangelisierung durch Christus zu beziehen, entstehen im Deutschen semantische Lücken, die in dieser Arbeit zumindest vorläufig zu füllen sind. Der Begriff „Missionar" soll neben der dem N T entnommenen Verwendung von „ E v a n g e l i u m " und Derivaten den Begriff „ A p o s t e l " in der üblichen weiten Verwendung vertreten. Er steht für einen Menschen, der das Evangelium einschließlich der ihm gemäßen Lebensweise verkündigt an Menschen, die noch nicht christlich sind bzw. erst kürzlich zum Christentum kamen, und soll den Aspekt der Beziehung zwischen dem „Missionar" bzw. der „Missionarin" und den Adressatinnen umfassen. Weitergehende mit dem Begriff verbundene Fragen wie die nach einer den Phänomenen entsprechenden differenzierten Definition und Einordnung der frühchristlichen Mission (vgl. Schmeller 2005) können und müssen in dieser Untersuchung, die sich nicht der Genese und Phänomenologie, sondern Textentwürfen widmet, undiskutiert bleiben.

4

Paulus und seine Gemeinden

gewonnen hatte. Dass ein Missionar auch nach einer Gemeindegründung und seiner Abreise weiterhin zuständig war für eine Gemeinde, muss nicht so selbstverständlich gewesen sein, wie es das für uns aufgrund dieser begrenzten Quellenlage ist. Mit der Berufung zum „Apostel" war eine solche Weiterbegleitung der Gemeinde offenbar nicht notwendig gesetzt. Der Begriff spielt für die Beschreibung der bleibenden Beziehung zwischen Paulus und bestehenden Gemeinden keine Rolle (vgl. §4.1). So mochte man die Bedeutung des Paulus in den Gemeinden auch geringer geachtet haben als dieser selbst: Warum nicht der ethischen Unterweisung anderer Missionarinnen 3 folgen, ihrer Entfaltung der christlichen Botschaft zuhören, zumal, wenn sie eindrucksvoller war als die des Paulus ? Und wie lange sollte man sich überhaupt der „Vormundschaft" unterstellen, war man doch selbst geistbegabt? Die Paulusbriefe unterstellen solche oder ähnliche Zweifel ihren Adressatlrmen. Das lässt sich an den Versuchen ihres Verfassers ablesen, seine Bedeutung für die Gemeinden jeweils noch einmal zu begründen. Nach Thessalonich schrieb er offenbar bald nach einer unfreiwilligen und überstürzten Abreise, um die gemeinsame Beziehung in Erinnerung zu rufen (§6). Die Christinnen in Korinth versuchte er angesichts von Einflussnahme anderer Christinnen und von Kritik, an sich zu binden (§7). In dem Brief an die Gemeinden Galatiens will der Absender durch Erinnerung an die gemeinsame Beziehung sein Evangelium gegen andere Botschaften verteidigen (§8). Auch dieser große Einsatz für seine Rolle und die gegenseitige Beziehung lässt darauf schließen, dass es keine allgemeine Auffassung über die missionarische Begleitung bereits bestehender Gemeinden gab, weder was ihre Notwendigkeit, noch was ihre Gestaltung anging, geschweige denn ein Konzept von einem missionarischen Amt (vgl. unten 2.2). Es gab und gibt offensichtlich noch nicht einmal einen Begriff dafür. Paulus jedenfalls wollte, wie seine Briefe zeigen, junge christliche Gemeinschaften auch nach seiner ersten Verkündigung des Evange-

3

Ein Wort zur Schreibkonvention: Um ohne ermüdende Aneinanderreihung von Maskulina und Feminina die Präsenz von Frauen in der Geschichte des frühen Christentums in Erinnerung zu rufen, verwende ich ästhetischen Mängeln zum Trotz das sog. Berliner I als inklusive Sprachform.

Die Fragestellung und ihre Prämissen

5

liums und nach der Begründung einer Gemeinschaft prägen 4 . Er reist ab, um an anderen Orten zu missionieren, plant aber weitere Besuche und sendet persönliche Mitarbeiter, wenn er selbst nicht kommen kann. Und er schreibt Briefe. Während wir die Briefe vor allem lesen als Zeugnisse des Denkens des Paulus, sind sie für ihren Autor zunächst Mittel, sich und die gegenwärtige Beziehung bei den Adressatinnen zu vergegenwärtigen (vgl. § 2). Die semantische Leerstelle für die Benennung seiner Rolle und der gegenseitigen Beziehung füllen in diesen Briefen vor allem Metaphern. Auch wir benennen die Rolle metaphorisch, wenn wir vom „Gemeindegründer" sprechen im Anschluss an die ekklesiologischen Baumetaphern, die auch in den Paulus-Briefen begegnen (vgl. §5.1.2). Paulus selbst war viel kreativer und schuf eine Menge von Metaphern und Vergleichen aus unterschiedlichen Lebensbereichen zur Beschreibung seiner besonderen Bedeutung für die von ihm gegründeten Gemeinden (vgl. §5.1). So präsentiert er sich als ungewöhnlicher Sportler ( i K o r 9,24ff), als Krieger für Gott (2 Kor 10,3-6), als Opfernder, der geopfert wird (Phil 2,17), oder er spricht die Gemeinde an als seinen Empfehlungsbrief (2 Kor 3,1-3). In 1 Thess 2,7-12.17; 1 Kor 4,14-21 und Gal 4,19 wählt Paulus die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, um mit ihr die gegenseitige Bindung zu illustrieren, einzuschärfen oder auch zu vergegenwärtigen: Er hat sich mit seinen Mitmissionaren bei ihnen verhalten wie eine Mutter und ein Vater zu ihren Kindern (1 Thess 2,7-iif), er ermahnt die Gemeinde als ihr Erzeuger, seinem Vorbild zu folgen (1 Kor 4,14-16), oder stellt seine Bemühungen um die Gemeinde in Galatien dar als „Gebärarbeit" (Gal 4,19). Daran, dass die Familie in den damaligen Gesellschaften das basale Modell für andere Beziehungen war 5 , lässt sich die grundlegende Relevanz dieser Eltern-KindMetaphern ablesen. 4

Aus wissenssoziologischer Sicht ist diese weitere Begleitung des „Konversionsprozesses" durch Paulus völlig plausibel, gilt es doch, die sekundäre Sozialisation gegen Gefährdungen durch konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen oder infragestellende Erfahrungen zu verteidigen, und dafür bedarf es des signifikanten Anderen. „Nur im Rahmen der Religionsgemeinschaft, der ,Ecclesia', bleibt eine Konversion wirklich plausibel." Im Falle einer noch nicht vergewisserten Gemeinde bleibt die Aufgabe des Missionars, „die Plausibilitätsstruktur für die neue Wirklichkeit zu liefern" (vgl. Berger/Luckmann 1994, i57ff, Zitate 169). Im einzelnen zeichnet dies Börschel 2001 nach für die Gründung und Entwicklung der Gemeinde von Thessalonich (vgl. genauer 2.1.2). Hier gilt es jedoch nicht, theoretisch plausible Vorgänge zu verifizieren, sondern die Begründung des Geschehens in den Briefen des Paulus, der eine solche Theorie für seine Praxis nicht kannte, zu rekonstruieren.

5

Vgl. Moxnes 1997,15.

6

Paulus und seine Gemeinden

Die vorliegende Studie untersucht diese briefliche Gestaltung einer Beziehung nach einem ersten Gründungsbesuch. Sie fragt, wie die Paulusbriefe diese semantische und konzeptuelle Leerstelle füllen, wie sie die Rolle des Paulus und die Beziehung zu den von ihm gegründeten Gemeinden mittels Metaphern zu etablieren suchen. Dies lässt sich nicht allgemein, sondern nur für den Einzelfall beantworten, da Beziehungen lebendig, Metaphern wie Briefe situationsbezogen sind. Exemplarisch untersuche ich die drei genannten elaborierten Bilder von einem Vater oder einer Mutter sowie den Kindern in ihren brieflichen Kontexten, ι Thess, ι Kor 1 - 4 und Gal. Sie zeigen, dass derselbe Bildspendebereich, die Eltern-Kinder-Relation, ganz unterschiedlichen Intentionen des Absenders dient, aber jeweils eine Schlüsselfunktion für die Kommunikation der gegenseitigen Beziehung hat (§ 6-8) 6 . Die Frage nach der Rolle des Paulus ließe sich auf vielerlei Weise beantworten (vgl. unten 2). Der hier gewählte Zugang über die Metaphorik der Briefe ist begründet in der Bedeutung der literarischen Gattung und Sprachform, sowohl prinzipiell wie aktuell. Denn was allgemein gilt von der beziehungsstiftenden Bedeutung eines Briefes in der Antike (vgl. § 2 ) und der einzigartigen Fähigkeit von Metaphern und Vergleichen, Neues fassbar und mitteilbar zu machen (vgl. §3), lässt sich auch an den Paulus-Briefen und ihrer Vielzahl von Metaphern und Vergleichen ersehen. Die exemplarische Auslegung von Familienmetaphern und -vergleichen beansprucht insofern, einen wesentlichen Aspekt der Paulusbriefe zu zeigen. Die methodisch reflektierte Auslegung der Metaphern soll dabei bisherige Schwächen ihrer assoziativen Rezeption vermeiden (vgl. 2.3). Die so umrissene Fragestellung ist zu präzisieren im Blick auf die Lektüreperspektive (1) und die Begriffe Autorität, Rolle und Beziehung (2). 1) Gefragt ist nicht nach den „realen" Verhältnissen, nicht danach, wie diese Beziehung wechselseitig tatsächlich gelebt wurde. Das zu beantworten, reichen unsere Quellen nicht hin, die nur punktuelle, einseitige Darstellungen bieten und der jeweiligen Rekonstruktion anheim stellen. Ich frage vielmehr danach, was der implizite Absender

6

Aufgrund dieser unumgänglichen exemplarischen Auswahl stehen die Metaphern des 2 Kor, die sonst zentral sind für die Deutung des paulinischen Selbst- oder Apostolatsverständnisses (s. unten 2), am Rande der Aufmerksamkeit. Der Überblick über die Metaphern (§5.1) und ihre Verbindung im 2 K o r (§5.2.1. und 5.2.2) wird den Blick jedoch weiten, und die Ergebnisse der Untersuchung haben auch prinzipielle Relevanz.

Die Fragestellung und ihre Prämissen

7

Paulus mit einem Brief bei seinen Adressatinnen erreichen wollte. Insofern die Briefe bei der Thematisierung der Beziehung auf eine in gewissem Maße bekannte außertextuelle Wirklichkeit referieren, ist dieser außertextliche Bezugshorizont, die Beziehung, als Teil der „Enzyklopädie" 7 zu gewärtigen. Da die Rolle des Paulus und die Beziehung jedoch nach allem, was wir erkennen können, keine zwischen den Kommunikantinnen definierte Größe war 8 , ist die textliche Darstellung wiederum primär. Dieser Ansatz trägt der Überzeugung Rechnung, dass „ein literarischer Text seine Wirkung erst dann zu entfalten vermag, wenn er gelesen wird. ... [Der] Text ist ein Wirkungspotential, das im Lesevorgang aktualisiert wird." 9 Die Aufgabe der Exegese liegt dann darin, eine Interpretation des Textes „zwischen Willkürlichkeit und Bedingtheit des Lesens als kooperative Erfüllung einer Verstehensstrategie" 10 nachzuzeichnen. „Anhand der Darlegung des Codes und des Leseprozesses lassen sich einige Interpretationen als , Überinterpretationen' ablehnen, andere als nachvollziehbar akzeptieren."" Ich wahre diesen „rezeptionsästhetischen" Ansatz hier als Perspektive und im Blick auf die Argumente für oder wider eine bestimmte Deutung, expliziere ihn aber methodisch nur für die Auslegung von Metaphern (§3) 1 2 . Die Arbeit ist kein Beitrag zur Methodologie und

7

Z u dieser von Umberto Eco eingebrachten Metapher der Enzyklopädie als Bezeichnung des sprachlichen und kulturellen Wissens, das ein Text voraussetzt, vgl. § 3.2.

8

Darauf deutet die Forschung zum Gegenstand (unten 2.2), und es w i r d in dieser Untersuchung bestätigt durch die fehlende Terminologie einerseits ( § 4 ) , die Analyse der Metaphorik andererseits ( § 5 - 8 ) .

9

Iser [1976] 1994, 7.

10

Vgl. so Pellegrini 2000, 37 zur A u f g a b e der Semiotik.

11

Ebd. Vgl. genauerhin Eco: „ Z u sagen, daß ein Text potentiell unendlich sei, bedeutet nicht, daß jeder Interpretationsakt gerechtfertigt ist. Selbst der radikalste Dekonstruktivist akzeptiert die Vorstellung, daß es Interpretationen gibt, die völlig unannehmbar sind. Das bedeutet, daß der interpretierte Text seinen Interpreten Z w ä n g e auferlegt. Die Grenzen der Interpretation fallen zusammen mit den Rechten des Textes ( w a s nicht heißen soll, sie fielen zusammen mit den Rechten seines A u t o r s ) " (1995, 22, Hervorhebung übernommen).

12

Die Rede von einem „rezeptionsästhetischen A n s a t z " ist natürlich eine Vereinfachung. Mein Interesse an der Wirkungsästhetik (so Iser) liegt nicht an der Vermessung der Lektüremöglichkeiten, sondern an ihrer Eingrenzung durch den Text selbst, vor allem aber an der prinzipiellen Einsicht, dass exegetische Lektüre die Rekonstruktion einer möglichen Textauslegung im Sinne der intendierten Leserinnen ist und Paulusbriefe keine Tatsachen schildern.

8

Paulus und seine Gemeinden

Hermeneutik einer rezeptionsästhetischen Paulus-Lektüre, sondern kann höchstens die Relevanz einer solchen nachweisen 13 . Dies hat zwei Gründe. Einerseits will ich das Analyse-Instrumentarium und die Beschreibungssprache beschränken auf das Nötigste, hier die Terminologie der Metapherntheorie, um eine hermetische Wirkung zu vermeiden. Vor allem aber wäre es eine ganz eigene Aufgabe, die an fiktionalen Texten entwickelten Theoreme in den Akt der historischen Lektüre 14 eines echten, 2000 Jahre alten Briefes zu überführen 15 . Für eine methodisch reflektierte Auslegung fiktiver Texte als Nachzeichnung der Rezeption gibt es inzwischen ausgefeilte Instrumentarien, die zeigen, mit welchen Mitteln ein Text durch „Leerstellen" 16 und Signale die Lektüre steuert17. Doch der „implizite Autor" 1 8 , nach seiner Selbst13

Für die Bedeutung dieser Fragestellungen für die Exegese verweise ich nur auf die unterschiedlichen Überlegungen von Schröter über die „neutestamentliche Wissenschaft als Textwissenschaft" (2000a, Zitat 267); Alkier 1998 über ein semiotisches Lektüreverfahren; P. Müller 1994,128ff über die Bedeutung des Lesens. Ausführlich informiert über die wissenschaftsgeschichtlichen und hermeneutischen Prämissen sowie alternative Konzepte im Blick auf eine historische Auslegung Pellegrini 2000.

14

Gemeint ist damit die approximative Rekonstruktion einer Lektüre im Sinne der vom Text vorausgesetzten Enzyklopädie. Dies ist im Begriff des „Modell-Lesers" (s.u.) impliziert.

15

Einen Eindruck von der Aufgabe gibt der Phil-Kommentar von Schenk, vgl. bes. 27t zur „Forscher-Leser-Differenz", und das von Edgar V. McKnight herausgegebene Semeia-Heft „Reader Perspectives on the New Testament" (Semeia 48, 1989), darin besonders Lategan 1989. E.-M. Becker hingegen verkennt in ihrer Studie zur „paulinischen Briefhermeneutik" (so im Untertitel, 2002) das Problem (vgl. a.a.O., 123ft zum „literarischen Autor").

16

Zur Funktion von Leerstellen bzw. Unbestimmtheitsstellen für den Akt des Lesens vgl. Iser 1994, 205.267ff. Dem entspricht bei Eco in etwa das Konzept der „Knotenpunkte". Der Text ist als System von solchen Punkten oder Verknüpfungen zu verstehen, und es gilt anzugeben, „an welchen dieser Knotenpunkte die Mitarbeit des Modell-Lesers angeregt, wo sie stimuliert wird" (1994, 83). - Der lebhafte Einsatz von Metaphern in diesen Rezeptionstheorien verrät den Grad der Mitarbeit des Theoretikers in der Wahrnehmung der Phänomene.

17

Ich verweise nur auf die Anwendung des semiotischen Ansatzes Ecos im Blick auf Mk durch Pellegrini 2000, die Überlegungen zur Relevanz des Ansatzes Isers [1976] 1994 von Frey 1992 und die Analyse der Textstrategie des Lk im Blick auf die Jüngerinnen Jesu durch Bieberstein 1998.

18

Gemeint ist der Autor, so wie er von der realen Leserin aus dem Text beim Lesen rekonstruiert wird. Diese Kategorie stammt von W. Booth (vgl. 1983, 77t). Eco spricht an dieser Stelle vom Modell-Autor. Dieser ist seinerseits eine Textstrategie, in den Text implementiert aufgrund einer unterschiedlich inszenierbaren Aktantenrolle, die vom wiedererkennbaren Stil über das Subjekt „ich" bis zu illokutionärer Erscheinung wie „ich schwöre" reicht (1994, 75f). Der Modell-Autor ist aber auch eine von empirischen Leserinnen aufgestellte Hypothese über den realen Autor (a.a.O., 77). In der Tat unterliegt die Paulus-Exegese leicht der Gefahr, den impliziten und den realen Autor der Briefe zu verwechseln.

Die Fragestellung und ihre Prämissen

9

Vorstellung „Paulus" genannt, ist in einem Brief, der sich als Brief von seiner Hand darstellt, ganz anders relevant für die Lektüre als in einem Roman oder in einem anonym überlieferten Evangelium. „Paulus" ist den „intendierten Leserinnen" 19 , vulgo Adressatinnen, nicht allein durch seine briefliche Repräsentation gegenwärtig. Die Briefe rufen enzyklopädisches Wissen ab über eine gemeinsame Geschichte und über den Autor aus persönlicher Bekanntschaft sowie sonstiges Wissen über einen „Prominenten", das uns nur in Bruchteilen zugänglich ist. Die Leerstellen des Textes sind für uns also ungleich größer als für die Adressatinnen, deren potentielle Lektüre wir zu rekonstruieren suchen. Und wie verhält sich die Kategorie des „impliziten Lesers" 20 oder „Modell-Lesers" 21 zu den expliziten Adressatinnen eines Paulusbriefes? Die gezielte Adresse lädt ja nicht nur potentielle Leserinnen zur Lektüre ein, sondern ist ein spezifischer Aspekt der Textstrategie zur Durchsetzung seiner Intention. Hier kommt zu dem genannten Problem der uns nur teilweise zugänglichen Enzyklopädie noch ein weiteres: Anders als auf allgemeine Publikation zielende fiktionale Texte adressieren die Paulus-Briefe in der 2. Pers. PI. ein religiös und sozial plurales Kollektiv von großenteils mit dem realen Autor bekannten Menschen, die in unterschiedlichen Beziehungen zum Autor stehen und unterschiedliche Haltungen zum brieflichen Anliegen einnehmen können. Die Mitarbeit eines pluriformen ModellLesers, solcher „lectores et lectrices in epistula", semantisch und pragmatisch zu steuern, ist also eine sehr komplexe Strategie, die wir in Unkenntnis der angezielten realen Leserschaft und der bei den paulinischen Modell-Leserinnen vorausgesetzten Erfahrungen und Erinnerungen gar nicht bemessen können. Ich frage also „unterkomplex" und setze die Lektüreperspektive nur alltagssprachlich um: „Adressatinnen" nenne ich die im Text um Mitarbeit angezielten Leserinnen des Briefes, um hinzuweisen auf die anredende Textstrategie und den Unterschied zwischen den intendierten Leserinnen und extratextuellen Größen wie der „Gemeinde von 19

Dieser Begriff von E. Wolff (1971) deutet auf die Idee des Autors von seinem Publikum (vgl. Pellegrini 2000, 52).

20

Der „implizite Leser" steht bei Iser metaphorisch für den vom Text strukturierten Akt des Lesens, „die Textstruktur, durch die der Empfänger immer schon vorgedacht ist" (1994, 61), als „in der Textstruktur angelegte Leserrolle" (63).

21

So bezeichnet Eco die Textstrategie: „Der Modell-Leser ist ist [sie!] ein Zusammenspiel glücklicher Bedingungen, die im Text festgelegt worden sind und die zufriedenstellend sein müssen, damit ein Text vollkommen in seinem möglichen Inhalt aktualisiert werden kann" (1994, 76, Hervorhebung übernommen).

10

Paulus und seine Gemeinden

Korinth". Die Personifizierung des „Textes" bzw. „Briefes" soll zeigen, dass es um das vom Text aus sich herausgesetzte und partiell gesteuerte Verstehen geht. Mit „Paulus" meine ich nicht den historischen Menschen, sondern den „scriptor in epistula", den Adressanten. Auch wenn ich dies in der Darlegung nicht konfessorisch verdeutliche, schlägt sich die Beschränkung auf den „impliziten Autor" darin nieder, dass ich nicht die klassische Frage nach seinem Selbstverständnis stelle und in der Lektüre eines Briefes nur unter bestimmten Hinsichten auf andere Briefkontexte zurückgreife. Lektüre gelingt auch ohne methodische Reflexion auf ihren Akt, und die Implikationen einer Rezeptionsperspektive werden oft unbewusst gewahrt. Dies gilt jedoch nicht für die exegetische Bereitschaft, die Darstellung des Paulus als historisch zuverlässig oder objektiv zu übernehmen. Das geschieht etwa leicht, wenn man versucht, das Profil der Gegnerinnen oder die Situation der angeschriebenen Gemeinde aus der brieflichen Darstellung zu rekonstruieren. Möglich ist, dass der Absender, gerade weil er bei seinen Adressatinnen genaue Kenntnisse der Situation unterstellt, polemisch verzerrt, oder dass er, weil er weniger weiß über die Vorgänge als seine intendierten Leserinnen, mit „Breitsalven" schießt, pauschal kritisiert, um in jedem Fall irgendwie zu treffen. Auch die briefliche Erinnerung an die gemeinsame Zeit der Erstmission kann geschönt sein. Wie auch immer - sie ist jedenfalls keine „objektive" Darstellung der historischen Fakten. Darum ist zu unterstellen, dass der Absender die Situation so entwirft, dass er sein Anliegen argumentativ und appellativ umsetzen kann, und das auch deshalb tut, weil er mit einer anderen Sicht der Dinge bei einem Teil der Adressatinnen rechnet. Weist diese Schlussfolgerung vor allem auf die Grenzen unserer Interpretation und das Maß an Imagination unseres vor allem durch zeitgenössische Perpetuierung vergewisserten Paulus-Bildes, so ist das Wissen um die Grenzen des Wissens ein Erkenntnisgewinn. 2) Die verwendeten Begriffe der Autorität, Rolle und Beziehung sind so zu präzisieren, dass Implikationen für das Gesuchte deutlich werden. Diese Begriffe sind einerseits alltagssprachlich geläufig, andererseits soziologische Fachbegriffe, die nur innerhalb einer soziologischen Theorie exakt zu definieren wären. Für unser Unterfangen reichen relativ allgemeine Begriffsklärungen. Sie zeigen, dass diese drei Begriffe soziale Interaktionen reflektieren und damit die Komplementarität der zwei interagierenden Größen implizieren.

Die Fragestellung und ihre Prämissen

11

Unter Autorität verstehen wir „die Einflußmöglichkeit einer Person, aber auch einer Gruppe oder Institution und ihrer Repräsentanten auf andere Personen und Sozialbeziehungen aufgrund beanspruchter und anerkannter Kompetenz und Überlegenheit" 22 . Die Anerkennung unterscheidet Autorität von Macht. Mit dem Begriff der „Rolle" ist die Interdependenz von Individuum und sozialer Gruppe fokussiert 23 : Er bezeichnet soziologisch „ein Bündel normativer Verhaltenserwartungen, die von einer Bezugsgruppe ... an Inhaber bestimmter sozialer Positionen herangetragen werden." 24 Die Bedeutung des Begriffs in der Sozialisationsforschung weist darauf hin, dass eine Rolle zumindest partiell durch wechselseitige Rollenübernahmen ausgehandelt wird 25 . Sprechen wir von der „Rolle" des Paulus, geht es auch darum, ein noch nicht institutionelles Stadium der Interaktion zu beschreiben26. Während diese beiden Begriffe eine Person im Gegenüber zu einer Gruppe fokussieren, ist im Begriff „Beziehung" das Geschehen zwischen ihnen im Blick. Um diese Kategorie trotz ihrer alltagssprachlichen Omnipräsenz als heuristische Größe zur formalen Benennung dessen, was zwischen Paulus und Gemeinden bestehen kann, herauszustreichen, sei auch sie soziologisch reformuliert: „Soziale Beziehung" „bezeichnet die virtuell gedankliche, die tatsächliche oder die strukturell vorgesehene und wahrscheinliche Kontaktaufnahme wiederholbarer Art zwischen Personen, verallgemeinerten anderen, Gruppen" etc.27 Eine „Beziehung" besteht also auch dann, wenn keine tatsächliche oder nur eine einseitige „Kontaktaufnahme" erfolgt. Die soziologischen Kategorien lassen das soziale Geschehen und damit die Interdependenz sichtbar werden. Rollen, Autorität, Bezie-

22

Hermann L. Gukenbiehl, Art. Autorität (und Führung), in: B. Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 62000, 29-31: 29.

23

Vgl. Griese u.a. 1977,13, vgl. ιοί.

24

Rüdiger Peuckert, Art. Rolle, soziale, in: B. Schäfers [Hrsg.], Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 62000, 290-294: 290. Der Begriff der Rolle ist an sich unpräzis und sein Verständnis abhängig von der zugrunde gelegten Theorie, vgl. Joas 1998. Für unsere Fragestellung liegt der interaktionistische Ansatz näher als der strukturell funktionale (vgl. Peuckert a.a.O., 29if).

25

Vgl. zur individuellen Sozialisationsforschung Joas 1998,146ff.

26

Vgl. zur Rolle als Ausdruck eines „allgemeinen Wissensvorrats mit reziproken Verhaltenstypisierungen" als Vorstufe zur Institutionalisierung Berger/Luckmann 1994, 78 f.

27

Hermann L. Gukenbiehl, Art. Beziehung, soziale, in: B. Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 62000, 40t: 40.

12

Paulus und seine Gemeinden

hungen sind eine wechselseitige Sache. Wir verfolgen die Relationalität hier nicht auf der Ebene des faktischen sozialen Geschehens, sondern aus der Perspektive des Paulus, so wie sie uns seine Briefe zeigen. Auch in dieser Perspektive setzt sich die Interdependenz der erfragten sozialen Bezüge durch, denn der implizite Autor Paulus sucht ja die Akzeptanz seiner intendierten Leserinnen. Es reicht nicht, wenn er um seine Autorität und die soteriologische Beziehung weiß: Die anderen müssen dies anerkennen. Aus beiden Präzisierungen der Fragestellung, dem Interesse an der gestaltenden Kraft des Textes und der sozialen Interaktion, folgt, dass der individuelle Kommunikationszusammenhang Referenzrahmen für ihre Beantwortung ist. Die Texte entfalten keine prinzipiellen Konzepte von „dem Apostolat des Paulus" oder der Bedeutung des Paulus als „Heilsmittler" für die Gemeinden. Die erfragte Rolle des Paulus und sein Verhältnis zur Gemeinde sind sozial bestimmt und damit wandelbar, abhängig von der rhetorischen Situation und der Einschätzung der impliziten Adressatinnen, aber auch bestimmt von der sich ändernden Erwartung des impliziten Autors an seine Zukunft und seine Gestaltungsmöglichkeiten. Auch die Variationsbreite der Metaphorik spricht dagegen, nach einem alle Interaktionen bestimmenden Konzept zu suchen. Die Untersuchung legt ihr Augenmerk daher auf die jeweilige Darstellung und fragt nur abschließend nach erkennbaren gemeinsamen Strukturen und Voraussetzungen der Beziehung des Paulus zu seinen Gemeinden. So profiliert sie auch im weitergehenden Interesse der Debatte über die Theologie des Paulus den Situations- und vor allem Kommunikationsbezug der Briefe. Die wechselseitige Beziehung ist keine Marginalie in den Briefen, wie sie das in einer an der Sachtheologie interessierten Lektüre bleibt, und sie wird auch nicht allein sachbezogen thematisiert zur Verteidigung des Evangeliums. Es ist eine wesentliche Aufgabe der Briefe des Paulus, die Autorität des Autors und die gegenseitige Beziehung je individuell zu festigen bzw. zu reetablieren. Durchgängig lassen die Briefe jedoch erkennen, dass ihr Autor der Bindung der Gemeinde an sich als ihren Gründer auf dem Weg in die endzeitliche Gemeinschaft mit Christus eine fundamentale Bedeutung zuschreibt.

Zur Forschungsdiskussion

13

2 Apostel, Autorität, geistlicher Vater. Die Fragestellung der Arbeit im Rahmen der Forschungsdiskussion Die Fragestellung der Untersuchung greift keinen traditionellen Topos der Paulusforschung auf. Daher folgt sie auch keiner linearen „Forschungsgeschichte" oder klassischen Problembeschreibung, obwohl jeder Paulusdeutung eine Vorstellung davon unterliegt, welche Beziehung der Briefschreiber jeweils zu den Christinnen hatte, an die er schrieb. Diese Vorstellung wird in der Regel unter der Frage des „Apostolats" verhandelt. Ich gehe in Detailfragen auf die verschienen Ansichten ein. Die folgende Darstellung hat mehrere Ziele: Das Referat ausgewählter Thesen über den paulinischen „Apostolat" zeigt alternative Möglichkeiten der Rekonstruktion und deren m.E. begrenzte Erklärungsleistung (1). Die Annahme, dass es keine sozialen Vorbilder für die Rolle des Paulus gibt, ist durch Forschungsergebnisse zu sichern (2). Ein Uberblick über Untersuchungen der paulinischen Familienmetaphern zeigt sowohl Probleme und Grenzen der bisherigen Auslegungen als auch Lösungswege (3). Abschließend kann daher der Ansatz und das Vorgehen dieser Untersuchung noch einmal verdeutlicht werden (4).

2.1

Die Bedeutung des „Apostels" für die Gemeinden

Die Bedeutung des Paulus für die von ihm gegründeten Gemeinden wird in der Regel unter dem Begriff des „ Apostolates" diskutiert. Viele Paulus-Darstellungen und Auslegungen stimmen darin überein, dass Paulus seinem Apostolat eine eminent wichtige Rolle zuschreibt, ja nach Berger erscheinen die Aussagen „auf den ersten Blick als maßlos und als wahrhaft päpstlicher als der Papst" 28 . Ich beschränke mich auf Beispiele. Die Differenzen sowohl im Ansatz wie in der inhaltlichen Erklärung des Autoritätsanspruchs zeigen, dass die Paulusbriefe kein klares Bild ergeben und der aus ihnen zu erkennende Anspruch ein Paulus-Konzept irritiert, das an der Wortverkündigung orientiert ist. Die individuelle Gestaltung der Beziehung in den einzelnen Briefen wird selten als solche thematisiert. Ungehört blieb, soweit ich sehe, der 28

Vgl. K. Berger 1995, 475. - Einen starken Autoritätsanspruch erkennen auch die Untersuchungen von Hafemann 1986 im Blick auf 2 Kor 2,14ft; Dodd 1999 im Blick auf die paradigmatische Selbstdarstellung; Krug 2001 im Blick auf die revelatorische Funktion der Schwäche und die Paulus eigene Stärke.

14

Paulus u n d seine Gemeinden

Hinweis von Best29, dass der Apostel-Begriff nicht zur Beschreibung der Bedeutung des Paulus für bereits gegründete Gemeinden begegnet.

2.1.1

Theologische Konzepte

Bornkamm 1977 [1969] sieht den Autoritätsanspruch des Paulus, erklärt ihn aber als Aspekt seiner Evangeliumsverkündigung. Aus Rom 1 , 1 - 7 ; 10,13 ff sei zu ersehen, dass der Apostolat Teil des Heilsgeschehens sei. Für Paulus sei sein Amt im Evangelium begründet, Teil der Botschaft 30 . Darum behandelt Bornkamm in seiner Paulusdarstellung „Dienst und Leiden des Apostels" nicht im biographischen Zusammenhang, sondern im Teil über „Botschaft und Theologie" 31 , als Aspekt der „Gegenwart des Heils" zwischen „Wort" und „Kirche". Begründet sei diese Rolle in der Sache, dem Evangelium. Es liege Paulus fern, den Erfolg des Evangeliums an seine Person zu binden 32 , denn er verteidige seine Autorität nur, wenn die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel stehe. Die leidensvolle Existenz des Paulus ist nach Bornkamm inhaltlich relevant: „Der Apostel vergegenwärtigt mit seiner Botschaft und seiner eigenen Existenz den Gekreuzigten" 33 - jedoch nur exemplarisch: Für seine Gemeinden habe sein Leiden zwar eine unvergleichliche Bedeutung, doch zeige es nur, was christliches Dasein überhaupt bedeute34. Dass dieser Leidensaspekt und die Existenz des Paulus nicht eine exemplarische, sondern eine christologische oder soteriologische Bedeutung haben, ergibt sich für andere Exegeten aus den Aussagen über das Leiden des Paulus und seine Verteidigung des Apostolats in 2 Kor 2 - 7 . Nach der vielgescholtenen35 These Güttgemanns' (1966) hat das „Leiden" des Apostels eine andere Funktion als das Leiden „nor-

29

Best 1 9 8 8 , 1 8 f . 8 1 ; zu dessen These vgl. unten 2.3.1.

30

Vgl. 1 9 7 7 , i72f. Dass Bornkamm vom „ A m t " spricht, ist irreführend, da er sonst sagt, dass Paulus kein Interesse am Amt als Institution mit Autoritätsanspruch hatte (a.a.O., 1 7 4 ) .

31 32

1977, 172ff. Paulus trete in seinen Empfehlungen anderer hinter diese zurück ( 1 9 7 7 , 1 7 4 ! ) .

33

x

34 35

977' 1 79· I n seiner Person, seiner Schwäche ( 2 Kor loff), seiner Bereitschaft, mit allen solidarisch zu sein ( 1 Kor 9 , 1 9 f t ) bezeuge er das Evangelium (a.a.O., i74ff). A.a.O., 1 7 9 f. Die These ist oft kritisiert worden, vgl. nur Lohse 1 9 6 8 ; Lambrecht 1 9 8 6 , 1 2 8 - 1 3 2 ; Kleinknecht 1 9 8 8 , ; von Lips 2 0 0 1 , 1 2 5 .

Zur Forschungsdiskussion

15

maier" Christinnen, nämlich eine christologische 36 . Die von Käsemann übernommene, hier prominent gemachte Kategorie, u m die Bedeutung des apostolischen Leidens zu erfassen, ist die der „Epiphanie" 3 7 : Im Leiden des Apostels werde in paradoxer Weise das Leiden des irdischen Jesus so offenbart, dass dieser gewissermaßen realpräsent in Paulus' Leiden sei 38 , dass nach der Himmelfahrt Christi Paulus die Erscheinungsweise des Christus incarnatus sei 39 , und insofern habe das Leiden des Paulus selbst Verkündigungsfunktion 4 0 . Das zeige, dass der Apostolat von der Christologie her begriffen werden müsse und keine Funktion der Gemeinde sei 41 . Dass Paulus seinem Apostolat eine besondere Bedeutung für die Verkündigung des Heils zuschreibt, erkennen auch andere Auslegungen von 2 Kor 2 - 7 (vgl. §5.2.1). Beispielhaft ist hier die pointierte These Schröters (1993) zu nennen über die „unersetzbare Bedeutung des paulinischen Mittlerdienstes für die korinthische Gemeinde" 4 2 , eines Dienstes, der jedoch aufgrund einer partizipatorisch verstandenen Christologie 43 keine rein leidenstheologische Zuspitzung hat. 36

Vgl. den Untertitel „Studien zur paulinischen Christologie". Güttgemanns' Ausgangsfrage ist, ob der irdische Jesus für die Christologie des Paulus von Bedeutung war. Er bejaht diese aufgrund seiner Beobachtungen zum Zusammenhang von Apostolat und leidendem Jesus; vgl. a.a.O., 30ff.

37

Vgl. Käsemann 1942, i47ff ad 2 Kor 13,1-4 u.ö. Käsemann selbst geht nicht so weit wie Güttgemanns. Zwar meint er, dass für Paulus die Legitimität des Apostolats nicht wie für seine Gegner auf Machttaten beruhe, hält aber die Schwäche nicht für das einzige Signum des apostolischen Dienstes, sondern für dialektisch vermittelt mit den von Paulus durchaus beanspruchten Wundertaten (vgl. nur 1942, 7of).

38

So Güttgemanns 1966,134 u.ö., wobei „Realpräsenz" in Anführungszeichen steht.

39

A.a.O., ii6f, eine Formulierung Käsemanns (1942, 56) aufgreifend, der freilich dies nicht für ein Spezifikum des Apostolates hält, sondern nur für ein an Paulus in besonderer Klarheit sichtbar werdendes „Gepräge des Christenstandes" (ebd.).

40

A.a.O., 324t. Das, was nach Güttgemanns so und nur so am Soma des Apostels offenbar werden kann, ist die bleibende Gegenwart des Gekreuzigten und paradoxe Identität des Leichnams Jesu mit der Würde des Auferweckten, so etwa a.a.O., n8f in Auslegung von 2 Kor 4,7ff. Neben dieser für seine These besonders wichtigen Passage rekurriert er auf Gal 6,17; 2 K o r 10,1; 2Kor 13,1-4; 2 K o r 12,9t (in dieser Reihenfolge).

41

A.a.O., 323ft.

42

1993,1.

43

Paulus sehe den Erlösungsvorgang als „Einbezogensein in die Person Christi" (Gal 2,i9f; Phil 3,10; Rom 6,4) und begreife den Heilsvorgang nicht als kognitiven Vorgang, sondern als Herstellung einer Gemeinschaft mit Christus. Der unpaulinische Begriff der Vermittlung erhält also seine Füllung durch eine partizipatorisch verstandene Christologie (1993, 343 mit Anm.2), in der diese Vorstellung gewiss eher zu erfassen ist als in einer an der Rechtfertigungs- oder Sühnemetaphorik orientierten Christologie.

ι6

Paulus und seine Gemeinden

„Paulus (bindet) den Vorgang der Erlösung in 2Kor strikt an sich selbst als Übermittler der Versöhnung durch seine Apostelexistenz" 44 . Als „versöhnter Versöhner" ist er Mittler der Versöhnung zwischen Gott und Mensch, hat er eine von Gott gestiftete exklusive Bedeutung für die Gemeinde. Begründet ist die exklusive Rolle durch die besondere Berufung des Paulus und seine Existenzweise sowie seinen Auftrag für die Korinther. Schröter hält diese an 2 Kor 2ff gemachte Beobachtung über die soteriologische Relevanz des Apostolats für konstitutiv für alle Gemeindebeziehungen des Paulus 45 . K. Berger (1995) leitet den die gesamte Theologie des Paulus (s.E. bislang nicht adäquat gewürdigten) prägenden Vollmachtsanspruch vom Apostolat ab: Der Apostolat beruhe auf einem Repräsentationskonzept46. Das sei ablesbar an einzelnen Aussagen, die um Berufung, Wirken und Leiden kreisen47. So kann Berger ähnlich wie Güttgemanns sagen, dass es „Epiphaniecharakter" habe, wenn im Akt der Verkündigung des Evangeliums der Apostel zu den Menschen kommt48. Die Untersuchungen konvergieren darin, dass das Geschick des Paulus Bestandteil seiner Botschaft ist, sei es das Ertragen von Schwäche oder die besondere Berufung des Paulus. Die Gemeinde, an

44

A.a.O., 8.

45

A.a.O., 3 4 1 f t unter Bezug auf i T h e s s 1,7; 2 , 1 - 1 2 ; Gal 4,19; Phil 3,y(f; i K o r 4,9-16. Interessant ist ein Vergleich der These Schröters mit der Rekonstruktion der paulmischen Selbstdarstellung durch Backhaus 2000. In einem komprimierten Durchgang der einschlägigen Texte kommt er zu dem Ergebnis, dass Paulus sich als Vorbild, Mittler etc. entwerfe, aber nicht als unentbehrlich (so in direkter Auseinandersetzung mit der These Schröters, a.a.O., 67-69). Faktisch unentbehrlich sei nicht Paulus persönlich, sondern die apostolische Diakonia. Der Apostolat bleibe Funktion der Kirche, nicht Element der Soteriologie. Diese Bewertung Backhaus' beruht auf einer anderen Gewichtung einzelner Aussagen, z.B. solcher, die das solus Christus hervorheben, und auf der Überzeugung, dass Paulus diesen Selbstentwurf nicht für sich exklusiv beansprucht (a.a.O., 67). Beider Rekonstruktionen sind m.E. darin problematisch und willkürlich, dass sie die Beziehung des Paulus zu einer einzelnen Gemeinde nicht als primären Deutehorizont der jeweiligen Aussagen berücksichtigen.

46

Z u m Apostolatsbegriff Bergers vgl. § 4.1.1.

47

Vgl. 1995, 475-478. Das Selbstverständnis ergebe sich insbesondere aus der an Jes 49 orientierten Auffassung von der Berufung, aus seiner analog zur Christologie von Phil 2,6ff als Knechtschaft aufgefassten Rolle ( i K o r 9,19-23), vor allem aus dem physischen Leiden (unter Rekurs auf Gal 6,17; 2 Kor i , g f ; 4 , 8 - 1 1 ; 2 Kor 2,14, ja sogar Kol 1,24 ist sachgerecht!) und den Nachahmungsaufforderungen (vgl. zu diesen den Exkurs in §7.4.4). Die Aspekte des Leidens und der Nachahmung werden christologisch gedeutet; im Anschluss an 2 Kor 2,14-16 spricht Berger von Paulus als „ rechte! r] H a n d " des Herrn (a.a.O., 477).

48

1995, 477, unter Rekurs auf 1 Kor 2,1-5.

Zur Forschungsdiskussion

17

die Paulus sich jeweils wendet, wird jedoch nur insofern bedeutsam, als sie die Darstellung des Paulus provoziert mit Bestreitungen oder Hinwendung zu Konkurrenten. Die primär theologische Bestimmung der Funktion des Paulus blendet den Selbstwert einer „ B e z i e h u n g " zu den Gemeinden aus.

2.1.2

Soziologische Deutungen

Was hier theologisch abgeleitet wird, zeigt sich in soziologischer Perspektive als „ M a c h t " und „Autorität". Mit der Übernahme soziologischer Fragestellungen gewinnt die Exegese einen neuen Zugang zur apostolischen Rolle. Klassiker sind in dieser Hinsicht Schütz (ig75) und Holmberg (1978) 49 . Sie orientieren die Frage nach der Autorität an Institutionen. Zentrales Kriterium ist für beide die Autorität, die von Macht (besonders betont von Holmberg) und Legitimation (Schütz) abgegrenzt wird. Schütz fragt nach der Autorität als Erscheinungsweise von Macht 50 . Paulus sei nicht durch seine Vision Apostel, sondern in seiner Beauftragung zur Predigt des Evangeliums. Weil dieses eine dynamische Macht sei, " a n ongoing force" 5 1 , bleibe er in diese Aufgabe involviert, die ihm über andere Christinnen hinaus Autorität verleihe. Z w a r hätten alle Zugang zu dieser Machtquelle, doch evident sei sie besonders in seinem Werk und Leben, das die anderen zu Gehorsam nötige 52 . Macht müsse Paulus nur dann gegenüber den Gemeinden geltend machen, wenn diese die ursprünglich an sie weiter vermittelte Macht verfehlten 53 . - Holmberg kritisiert, diese Differenzierung von Macht und Autorität sei zu ungenau 54 . Zur Autorität gehöre über die Macht als der Fähigkeit, über andere zu bestimmen, hinaus auch deren Akzeptanz. Er misst zunächst ohne soziologische Instrumente die Zuteilung von Macht 55 : Macht hat der Apostel als Gründer, in An-

49 50

51 52 53

Vgl. die an diesen beiden orientierte textnahe Beschreibung bei Meeks 1993, 233 ft. 1975,15t vgl. "a right to power" (a.a.O., 10). Schütz geht es in Abgrenzung von Max Weber um eine Unterscheidung von Legitimität "as an attempt to communicate authority and make it accessible" (16, Zitate z.T. im Original hervorgehoben). A.a.O., 232. Vgl. a.a.O., 248. Vgl. a.a.O., 282.

54 55

1978,133 f. Vgl. dazu a.a.O., 58ft.

ι8

Paulus und seine Gemeinden

Wesenheit und brieflich, weil er pneumatisch begabt ist, Gott durch ihn spricht. Soziologisch kategorisiert Holmberg dann die Autorität des Paulus als charismatische in M. Webers Sinne, wenn auch als Abglanz der wahren charismatischen Autorität Jesu innerhalb seiner Gruppe 5 6 . Die Führungsrolle des Paulus, seine Berufung, besondere Kräfte, afamiliales Leben, die neuartige Botschaft zeigen ihn als solche Autorität 57 . Dass seine Botschaft, das Evangelium, in gewisser Weise unabhängig ist von seiner Person, ebenso wie sein " s t a f f " , seine Schwäche, die Annahme von Geld, zeige Paulus aber schon auf dem Wege zum "routinized charisma" 5 ®, der Institutionalisierung charismatischer Autorität. Als Beschreibung der routinisierten charismatischen Autorität versteht Holmberg interessanterweise gerade die Vater-Metaphorik 59 : Sie signalisiere, dass Paulus die Selbständigkeit der Gemeinden wolle, nicht einfach Gehorsam, motiviert durch Liebe. Indem Paulus seine Weisungen begründe, zeige er ebenfalls die Grenzen seiner Autorität, so wie er christliche Freiheit programmatisch betone 60 . Auch MacDonald (1988), die die Institutionalisierung von den charismatischen Anfängen bei Paulus bis hin zu den Pastoralbriefen nachzeichnet, sieht in der Vatermetaphorik einen zentralen Ausdruck der paulinischen Rolle 6 1 : Sie zeige die Dialektik von Abhängigkeit und Freiheit der Gemeinden gegenüber Paulus 62 . Dass Paulus selbst keine bleibenden Strukturen in den Gemeinden institutionalisiert habe, entspreche dieser Haltung 63 . Ein Gewinn dieser soziologisch ansetzenden Arbeiten ist ihr Verständnis für Autorität und deren Institutionalisierung. Doch sie rezipieren die Briefe des Paulus nur als Niederschlag der Autorität, nicht als Mittel, diese durchzusetzen, und blenden die Differenzen sowie den wechselseitigen Aspekt einer Beziehung aus. Die Bedeutung der Beziehung wird hingegen in Börschels wissenssoziologischer Analyse von der Entstehung der Gemeinde in Thessalo-

56

Diese Autorität habe noch bei den Jerusalemer Autoritäten, in größerer Nähe zu Jesus, stärker gewirkt; vgl. a.a.O., 14H.

57

Vgl. a.a.O., i36ff und I55ff.

58

A.a.O., 160 f.

59

A.a.O., 188£, vgl. bereits 80.

60

A.a.O., 190.

61

Vgl. 1988, 60: "Paul's father-type leadership".

62

"He allows for his child[r]en to remain dependent on him while at the same time calling for self-sufficiency" (a.a.O., 60).

63

A.a.O., 54.

Zur Forschungsdiskussion

19

nich sichtbar (2001). Sie beschreibt mit den Theoremen Th. Luckmanns und P. Bergers sowie J. Assmanns 64 die Evangelisierung der Thessalonicherlnnen als Vermittlung eines neuen Wirklichkeitsverständnisses, einer neuen symbolischen Sinnwelt, von der alten signifikant unterschieden. Paulus und seine Mitarbeiter sind „Sinnweltvermittler" 65 für die bekehrten Heidinnen. Diese sind erneut zu sozialisieren, um die Primärsozialisation zu ersetzen, aber auch auf Infragestellungen der neuen Sinnweltdeutung zu reagieren. Diese Theorie beschreibt die Bekehrung als gefährdeten, umkehrbaren Prozess, der durch zwischenmenschliche Beziehungen ermöglicht und stabilisiert wird. Börschel kann also theoretisch fundieren, warum der Apostel sich weiterhin um eine von ihm ins Leben gerufene christliche Gemeinschaft kümmern sollte66. Und sie kann erklären, warum die persönliche Anwesenheit der Missionare als Menschen, die ihrer neuen Identität bereits gewiss sind, wirksamer ist als ein Brief. Die Rolle des Paulus allerdings beschreibt auch Börschel67 nur in Weberscher Typologie als charismatische Autorität, der sie die Kennzeichnung des Paulus als „Apostel" subsumiert68. Da Börschel nicht zeigt, wie diese Autorität in der Wirklichkeitskonstruktion kommuniziert wurde 69 , d.h. den Text, der ja ohne wissenssoziologische Reflexionssprache auskommen muss, nicht zum Ausgangspunkt der Deutung nimmt, werden die Texte zur Illustration der Theorie, die Metaphorik der Theorie an die Stelle der Sprache des Briefes gesetzt. 64

Vgl. Börschel 2001, u f f zu ihrem Ansatz.

65

Vgl. 2001, lioff zu der inhaltlichen Beschreibung der Rolle von Paulus, Silvanus und Timotheus in Thessalonich.

66

Auch die Stationen der Gemeindegeschichte sind wissenssoziologisch beschreibbar: Nach der Gründung als „SinnWeltvermittlung" mit Paulus als „Sinnweltvermittler" leisten Timotheus und der Brief die „Fortsetzung des signifikanten Gesprächs", Verfolgungen und Todeserfahrungen sind „Sinnweltgefährdung" etc., der 2Thess die „Fortsetzung des signifikanten Gesprächs zur Sicherung der Identität" nach dem Tod des Paulus (die Formulierungen entstammen den Uberschriften von Börschel 2001).

67

Vgl. zum folgenden a.a.O., lioff.

68

A.a.O., 113 ff.

69

Börschel stützt sich zu Unrecht auf 1 Thess 2,4 und 2,7 (vgl. § 6.4.1 und 4.2 zur Kritik dieser Heranziehung der Verse). Auch der Verweis auf die Vorbildlichkeit des Paulus als „Entsprechung von Sinnwelt und Verhalten Pauli" (ii8ff, Zitat 119, im Anschluss an 1,6; 2,14-16), der ebenfalls ein Kriterium der charismatischen Autorität Webers erfüllt, hilft nicht weiter. Denn wenn Paulus als Vorbild anerkannt wird, ist das nicht Ursache, sondern Folge seiner Autorität. Wenn Börschel die Entsprechungen im Ethos so interpretiert, dass Paulus sich als typischen Christen stilisiert (120), nivelliert sie die behauptete Außeralltäglichkeit selbst.

20

Paulus und seine Gemeinden

2.1.3

Differenzierte Darstellungen der Beziehung des Paulus zu Einzelgemeinden

Selten wird die Beziehung des Paulus zu den bereits bestehenden Gemeinden als eigenständiges Thema wahrgenommen 70 , selten im Blick auf einzelne Gemeinden differenziert. In katholisch-nachkonziliarem Interesse an der Würde der Ortsgemeinde und an dem paulinischen „ A m t " untersucht Hainz (1972) die Beziehung des Paulus zu den Einzelgemeinden und schließt davon auf die paulinische „Gemeindetheologie und Gemeinde-Ordnung" 71 . Unterschiede zwischen einzelnen Gemeinden werden aber nicht sichtbar, sondern ein allgemeines Konzept des Apostolats, aus dem sich nach Hainz alle gemeindlichen Ämter herausdifferenzierten. Der Apostolat sei, abgesehen von seiner Gemeindegründungsfunktion 72 , paradigmatisch für die Gemeindeämter. Von institutioneller Bedeutung ist nach Hainz also gerade der Aspekt der Weiterbegleitung der Gemeinden, der meiner Untersuchung zufolge gar nicht mit dem Begriff „Apostel" benannt ist. Von Interesse ist, dass Hainz die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Apostel und Ortsgemeinde aufzeigt. Zum Leitbegriff dieses Verhältnisses macht Hainz den Terminus „Koinonia". Beide, Apostel und Ortsgemeinde, sind „eschatologischsoteriologisch" auf einander verwiesen 73 : Die Gemeinde ist nur Gemeinde, solange sie sich an ihren Gründer hält74. Der Apostel ist abhängig von der Gemeinde, insofern sie ihn enttäuschen kann 75 , vor allem aber, da sie eschatologisches Maß seines Erfolges 1st76. Die Annahme einer nur paradigmatischen Bedeutung des Apostelamtes für

70

Beispielhaft ist, dass J. Becker in einem Aufsatz unter dem Titel „Paulus und seine Gemeinden" (1987) zu dieser Beziehung keinerlei Worte verliert.

71

Vgl. 1972, 229.

72

Von der uns interessierenden Metaphorik hält Hainz die „Baumetaphorik" für übergeordnet (vgl. bes. a.a.O., ζβγίί); andere Metaphern spielen keine Rolle.

73

A.a.O., 289.

74

Hainz schließt dies aus der Reaktion des Paulus auf den Ungehorsam der Gemeinde von Korinth im Umgang mit dem „Ungerechten" und der Interpretation des Ungehorsams bzw. der „Umkehr" der Gemeinde in 2 Kor 2,5-10; 7,5-16. Vgl. a.a.O., 1 3 4 f t bes. 143 („In der Stellung zum Apostel stehen Heil und Unheil der Gemeinde in Frage.") und in der systematischen Auswertung 289.

75

A.a.O., 29of.

76

So mit Bezug auf 2 Kor 10-13, bes. 10,12-16, vgl. a.a.O., i64ff.3iiff.

Zur Forschungsdiskussion

21

die Ortsgemeinde lässt allerdings offen, w a r u m Paulus die Gemeinden gerade an seine Person gebunden wissen will 77 . Bieringer (1994c [1992]) mustert die Briefe nach Aussagen über das Verhältnis in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch. Seine Sicht zeichnet sich dadurch aus, dass sie Differenzen zwischen den Gemeindebeziehungen nicht egalisiert. Gemessen am Kriterium der "mutuality" 7 8 spiegeln nach Bieringer 1 Thess, Phil und 1 Kor ausgeglichene Beziehungen wider, während in Gal und 2 Kor diese Gegenseitigkeit fehlt aufgrund der aufgetretenen Fremdmissionare und für Rom die Beziehung nicht von Belang ist. Bieringer macht auf die Notwendigkeit der Differenzierung und der Reflexion der Kategorien aufmerksam, verbleibt jedoch mit seinem Kriterium der „Gegenseitigkeit" auf der formalen Beziehungsebene 79 . Rebell (1986) untersucht die Relationen des Paulus, soweit sie aus dessen Briefen erkennbar sind, mittels des Instrumentariums der Sozialpsychologie 80 . Z w a r sind hier die Textdeutungen zu sehr von der Fragestellung dominiert. Doch von Interesse ist die Untersuchung, weil das psychologische Paradigma Ambivalenzen, im Falle des Paulus Paradoxien, "double b i n d " und Grenzen der Autoritätsdurchsetzung, akzeptiert. Rebell berücksichtigt den Einfluss des anderen Partners auf die Beziehung, weshalb er prinzipiell mit divergenten Beziehungen des Paulus zu einzelnen Gemeinden rechnet 81 . Watzlawicks Kategorie der „Komplementärbeziehung" beschreibe, wie Paulus seine Beziehung zu seinen Gemeinden sehe 82 . Eine solche Beziehung zwischen ungleichen, aber aufeinander angewiesenen Partnern dränge auf die Entwicklung des Unterlegenen zur Selbständigkeit. Diese fordere Paulus einerseits ein, andererseits unterdrücke er sie, so dass er immer wieder „double bind-Botschaften" sende - typisch für Eltern - und die Gemeinden in Dilemmata stürze 83 . Diese auch von anderen beobachtete Dialektik von 77

Unbefriedigend ist auch, dass Hainz die Aussagen über die Beziehung zu den einzelnen Gemeinden ohne Berücksichtigung der jeweiligen Situationsbedingtheit verallgemeinert.

78

Vgl. 1994c, 230 mit Anm.20.

79

Belanglos ist auch Bieringers Aufnahme der paulinischen Metaphern.

80

Zur Methode vgl. 1986, gff, zur Durchführung 104ft. Rebell zieht verschiedene, durch ihre Erklärungsleistung legitimierte Deutungsmuster dieser psychologischen Disziplin heran.

81

Vgl. a.a.O., i26f.

82

Vgl. a.a.O., io6ff.i3iff. Eine solche Beziehung sieht Rebell sogar zur römischen Gemeinde (liof).

83

Vgl. a.a.O., l i i f f .

22

Paulus und seine Gemeinden

Autorität und Rücknahme gegenüber den Gemeinden findet bei Rebell therapeutisches Verständnis.

2.1.4

Die Briefe als Ausdruck oder Einschreibung einer Autoritätsrolle

Dass die Paulusbriefe selbst nicht nur Ausdruck einer Autoritätsbeziehung sind, sondern zugleich das Mittel ihrer Etablierung, wird in mancherlei Hinsicht herausgestellt. Vom Aspekt der Gattung her behaupten u.a. Berger (1974) und Vouga (1992), dass die Briefe des Paulus als „Apostelbriefe" bereits eine Autorität einfordern. Dies ist jedoch nicht nachweisbar (vgl. im einzelnen §2.1.3). Vielmehr zeigen die rhetorischen Strategien und Argumentationen, dass der Briefschreiber eine Autorität und Rolle erst erwirken muss und eher subtil ausübt. So analysiert Petersen (1985) am Phlm, wie Paulus eine Autorität gegenüber Philemon und seiner Gemeinde erarbeitet und mit indirekten Mitteln sich Macht erschreibt 84 . Der Brief wird gelesen als Entwurf einer narrativen Welt, in der Autor und Empfänger vor dem gemeinsamen Symboluniversum ihre Plätze erhalten 85 , und die Rollenmetaphorik (Paulus als Bruder, Botschafter, Vater, Gläubiger) ist ein Schlüssel zu den sozialen Beziehungen: Der Brief stellt den Eingriff einer translokalen Autorität (Paulus) auf eine lokale Hierarchie (Philemon in seinem Haus 8 6 ) dar. Paulus wechselt zwischen den Rollen des Bruders und Vaters, hier sehr hierarchisch gedeutet, um Philemon ein Rollenangebot zu machen, in das er einschlagen möge. Paradoxerweise setze Paulus subtil und vorsichtig seine Autorität ein, u m für Onesimus Gleichheit als „ B r u d e r " zu erringen 87 . Auch Petersen beobachtet also die Rücknahme von Autoritätseingriffen durch Paulus, sieht diese aber zunächst als rhetorische Mittel zur Durchsetzung des Anliegens. Als postmoderne Leserin fragt Hack Polaski (1999) nach den verschiedenen Machtbeziehungen zwischen Gott, Paulus und den Ge-

84

Methodisch bezieht sich Petersen dazu auf Anthropologie, Soziologie und literary criticism.

85

Petersen weist darauf hin, dass Gott und Christus als Vater bzw. Herr nie mit den entsprechenden Rollen von Paulus oder Philemon in Verbindung gebracht werden (1985, 27). Für eine Erzählung ist das Nebeneinander verschiedener Welten kein Problem.

86

A.a.O., 295t.

87

A.a.O., 301.

Zur Forschungsdiskussion

23

meinden: Wie stellt der seinen Briefen implizierte Paulus " p o w e r " diskursiv her, wie schließt er andere Auffassungen aus und organisiert so Wirklichkeit? Die Orientierung an den Foucaultschen Begriffen discourse und ideology ist keine Methode, sondern eine Perspektive 88 , deren Bedeutsamkeit vor allem darin liegt, dass sie die prozessuale Entstehung von Wirklichkeit thematisiert, aber nicht behauptet, die Tatsachen als solche zu erfassen. 89 Die soziologische Analyse im Gefolge Webers (vgl. 2.1.2) sei darin reduktiv, dass sie nur mit institutionellen Machtbeziehungen rechne 90 , während Foucaults Blick tiefer gehe 91 . Hack Polaski hat ein Vorbild in Castelli (1991), die mit diesem Ansatz den ideologischen Effekt der paulinischen Mimesis-Forderung zu erheben suchte (vgl. den Exkurs in § 7.44). Diese Forderung naturalisiere und verrationalisiere die Machtbeziehungen, indem sie Gleicheit als Ideal und Paulus als nachzuahmendes Modell präsentiere 92 . Während Castelli diesen Ausschluss der Differenz durch Paulus kritisiert, akzeptiert Hack Polaski die diskursiv erzeugte Machtbeziehung als üblich 93 . Sie stellt heraus, wie hier, kaum explizit, aber desto wirksamer, Macht in Anspruch genommen wird 94 . Das Ergebnis, dass Paulus für die Gemeinden eine exklusive Rolle aufgrund seiner besonderen Begnadung beansprucht, den Gemeinden gleichwohl eine eigene machtvolle Gottesbeziehung zutraut, ist wenig originell. Die Untersuchung hat ihre eigentliche Pointe darin, dass sie zeigt, wie diese Macht im Diskurs hergestellt wird durch rhetorische Strategien. Der Metaphorik billigt sie nur eine begrenzte Rolle zu 95 . Trotz oft nicht überzeugender Einzelergebnisse weiten diese Analysen den Blick im Vergleich mit den auf den Apostolatsbegriff und

88

Vgl. 1999,13 f.

89

A.a.O., 20f. Zur Verdeutlichung sei ihre vereinfachte Definition des Diskurses zitiert: "a system for determing what gets said, a system for the production of knowledge and the transmission of that knowledge in language, either spoken language or texts. In this sense it is perhaps redundant to say 'discourse' of power; all discourses are, in some sense, 'about' power" (a.a.O., 37).

90

Vgl. a.a.O., 34ft.

91

Vgl. a.a.O., 47.

92

Vgl. 1991,15.

93

Zentrale Texte, in denen sich für Hack Polaski die Herstellung von Macht zeigt, sind Phlm, Gal if und einzelne Abschnitte der Korintherbriefe.

94

Wurzel der Macht sei die Offenbarungsautorität und Gnade, die Paulus auszeichnet. Dieser müssten sich die Gemeinden unterordnen, Paulus akzeptiere aber, dass den Gemeinden ebenfalls Gnade zuteil wurde, die er nicht kontrolliert.

95

A.a.O., 13. Im Phlm komme ihr jedoch eine größere Bedeutung zu (a.a.O., Ö4f).

Paulus und seine Gemeinden

24

Institutionen fixierten Thesen u n d lenken die A u f m e r k s a m k e i t auf die in Briefen erst diskursiv erzeugte hierarchische B e z i e h u n g u n d die Relevanz, die Metaphern dabei z u k o m m t .

2.2

Soziale Muster: Mögliche sozial- u n d religionsgeschichtliche Vorbilder für die Rolle des Paulus

Für die Fragestellung der Untersuchung, die brieflich-metaphorische Entfaltung v o n Beziehungen des Paulus z u den v o n ihm gegründeten Gemeinden, ist es relevant, ob diese Beziehung vertrauten sozialen Mustern folgte oder ihnen entsprechend deutbar w a r . Eine selbständige Beantwortung dieser Frage ist w e g e n der Vielfalt möglicher gesellschaftlicher oder religiöser Vorbilder in dieser Untersuchung nicht möglich. Ich muss mich darauf beschränken, durch ein Referat exemplarischer Forschungsbeiträge die als Vorbilder zur Diskussion stehenden sozialen Phänomene vorzustellen, u m meine A n n a h m e z u stützen, dass der Briefautor Paulus nicht auf ein einziges bekanntes Beziehungsmuster rekurriert, d e m entlang er seine Rolle gestalten w ü r d e . Die Metaphern, so meine These, füllen nicht nur eine semantische, sondern auch eine konzeptuelle Leerstelle. Diese Leerstelle w i r d in der Paulusexegese in der Regel nicht w a h r g e n o m m e n , w e i l das A p o s t o l a t s k o n z e p t als eine umfängliche Rollenbeschreibung des Paulus verstanden wird. Die Neuheit seiner Rolle hat darin ihre Entsprechung, dass auch die christlichen Ortsgemeinden paulinischer Prägung, soweit w i r sie aus den brieflichen N o t i z e n rekonstruieren können, als soziales Gebilde nicht v o l l k o m m e n ableitbar sind aus bekannten Phänomenen.

2.2.1

Die soziale Struktur der Gemeinden im Vergleich z u m U m f e l d u n d die Position des Paulus

Die möglichen sozialen Vorbilder für die paulinischen G e m e i n d e n stellt Meeks (1993 [1983]) vor 9 6 : Die Hausgemeinschaft (οίκος), die collegia, die S y n a g o g e n oder philosophische Schulen m ö g e n in bestimmtem M a ß e die A u s f o r m u n g des christlichen Gemeinschaftslebens in einer griechischen Stadt geprägt haben, ohne doch ihre Struk-

96

1983,159-180.

Zur Forschungsdiskussion

25

turen vollständig zu erklären. Ich führe einige Aspekte und jüngere Literatur an, konzentriere mich aber auf die Frage, wie weit diese Größen die Rolle des Paulus zu erklären vermögen 97 . Unbeschadet der Diskussion über religionsgeschichtliche Hintergründe 98 und darüber, was eigentlich eine Hausgemeinde ist99, ist allgemein anerkannt, dass es im paulinischen Missionsgebiet Gemeinden gab, die sich im Rahmen von οίκοι versammelten, und dass diese Institution wie in der damaligen Gesellschaft allgemein 100 auch in den frühchristlichen Gemeinden in Korinth, Rom und an anderen Orten grundlegend war 101 . Für Paulus waren die Häuser von Bekehrten vermutlich Ausgangspunkt für weitere Mission 102 . Ob die damit implizierte Hierarchie des Haushalts 103 oder die Praxis von Egalität in diesem überschaubaren privaten Raum 104 maßgeblich wurden - in jedem Fall bietet die Struktur des οίκος und auch ihr mögliches Vorbild, die Haussynagoge, an sich keine Position für einen reisenden Apostel 105 . Die Auffassung, dass die frühchristlichen Gemeinden antike Vereine waren bzw. etwas diesen Analoges, stellt keine Alternative zur Charakterisierung als οίκοι dar, insofern Vereine sich in Häusern kon97

Hier enttäuscht die Rekonstruktion Meeks beispielhaft für viele andere. Die Rolle des Paulus wird nur mit Schütz (vgl. 2.1.2) als Autorität skizziert (1993, 255) und durch eine Folge von Textparaphrasen inhaltlich gefüllt (a.a.O., 238ff). Dass die Zwistigkeiten sich aber nicht nur um die Anerkennung einer definierten Autorität (hier wie sonst als mit dem Apostolat gegeben vorausgesetzt) drehten, sondern bereits um deren weitergehende Kompetenzen, wird nicht deutlich.

98

Erwogen wird etwa die Ableitung aus der Haussynagoge oder die Nähe zu Vereinen, die sich ebenfalls häuslich konstituierten; vgl. den Uberblick über die Diskussion bei Gehring 2000, 39ff. Claußen (2002, 305ft) macht wahrscheinlich, dass die ersten christlichen Gemeinschaften in ihrem Treffpunkt und ihrer Struktur den Synagogengemeinschaften entsprachen, die sich oft in kleinen Haussynagogen versammelten.

99

Die Frage ist, ob der οΓκος in erster Linie mit dem Raum oder mit den Menschen, die in ihm leben, verbunden ist, vgl. Klauck 1981, 17t; Lehmeier 1999, i07f Anm.4. Umstritten ist auch, ob in einer Stadt wie Korinth Hausgemeinden und Gesamtgemeinde nebeneinander bestanden oder nicht, vgl. Gehring 2000,45 ff.

100 Vgl. nur die Literatur, die Gehring 2000, 35 f anführt. 101

Einen guten Überblick der Belegstellen bis ins dritte Jahrhundert bietet weiterhin Klauck 1981, 2iff. Vgl. nun auch Gehring 2000, der bereits in vorösterlicher Zeit und im palästinischen Raum ansetzt.

102 Vgl. Gehring 2000, 315-320. 103 So Meeks, 162. 104 So Klauck, 1981,100. 105 Darauf weist bereits Meeks 1993, 164 hin. Die paulinische Mission kann nur, wenn man den bleibenden Anspruch des Gründungsapostels ignoriert, auf die Anleitung der Gemeinde zum Selbständigwerden verkürzt werden (so z.B. Gehring 2000, 313).

26

Paulus und seine Gemeinden

stituieren konnten. Die Nähe zwischen Vereinen und christlichen Gemeinden dürfte aber nicht zu groß sein106. Dass sich die Affinität an den in Vereinen und Kultgemeinschaften ebenso wie bei Paulus belegten Geschwistermetaphern ablesen ließe, wie gelegentlich behauptet wird, lässt sich historisch nicht erhärten (vgl. den Exkurs nach § 6). Ebel (2004) zeigt durch einen Detail vergleich die D i f f e r e n z e n der „Attraktivit ä t " der G e m e i n d e v o n Korinth einerseits, zweier Vereine andererseits, deren Charakter sie durch Inschriften u n d A n a l y s e ihres U m f e l d e s darstellt. Christliche G e m e i n d e n seien offener f ü r Menschen verschiedenen Status, Geschlechts etc. 107 .

2.2.2

Patronatsbeziehungen zwischen Paulus und den Gemeinden?

Bedeutsam für die Rolle des Paulus gegenüber den Gemeinden sind nicht Annahmen, dass sich die Gemeinden im Sinne von Vereinen konstituierten, sondern nur die weiterführende These, dass die Funktion des Paulus in diesem Sozialgefüge verortet ist. Die Versuche, Konstellationen zwischen Apostel Paulus und Gemeinden abzuleiten aus dem Konzept der Patron-Klient-Beziehung - einer asymmetrischen, aber auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung 108 - , können m.E. jedoch nicht überzeugen, sondern belegen nur, dass der Anspruch des Paulus in derartigen Sozialbeziehungen nicht zu kommunizieren war. Entsprechende Thesen beziehen sich auf das Verhältnis zur G e m e i n d e v o n Philippi u n d Korinth 1 0 9 . Sampley (1977) vertritt die These, das römische Rechtsinstitut der konsensualen Societas sei p r ä g e n d f ü r das Verhältnis des Paulus zur G e m e i n d e v o n Philippi, da dort echte Reziprozität (Geben u n d N e h m e n ) bestand; A s p e k t e w i e die A u f f o r d e r u n g , eines Sinnes z u sein, erklärten sich v o n dort 1 1 0 . Bormann (1995) hat diesen A n s a t z plausibel bestritten mit d e m 106 Vgl. Meeks 1993, 164ft; Schmeller 1995; Ebel 2004. Dass die Gemeinden in Mazedonien ähnlich organisiert seien wie freiwillige Vereine in der Antike, hat allerdings Ascough 2003 wieder vertreten. Nähen findet er in der internen Organisation und der Beziehung nach außen. Da die neutestamentlichen Briefe darüber aber wenig erkennen lassen, bleiben seine Thesen oft auf verbale Überschneidungen beschränkt. 107 Zu diesem Ergebnis tendiert auch der Vergleich Schmellers 1995, vgl. 94f. 108 Zur Definition dieses Konzepts und zum Forschungsdiskurs vgl. nur Kirner 2002, 21 ff. Zum Zusammenhang von Vereinen und Patronat vgl. den Überblick von Schmeller 1995, 33ff; zu Thesen über ein derartiges Verhältnis zwischen Missionar und Gemeinde a.a.O., 5öff. 109 Vgl. dazu den Forschungsabriss von Kirner 2002,19ft. 110 Sampley hat diese These 1977 in einem Aufsatz, 1980 dann monographisch dargestellt. Angelpunkt der These ist der im Phil begegnende Begriff κοινωνία, der für den terminus technicus societas stehe.

Zur Forschungsdiskussion

27

Nachweis, dass Sampley bereits das Konzept der societas in der Zeit des Prinzipats falsch rekonstruierte™. Doch seine Lösung, die Kommunikation sei aufzufassen als solche zwischen dem Patron Paulus und der Gemeinde von Philippi als „emanzipierter Klientel" 112 , überzeugt ebenfalls nicht. Die These, der Patron Paulus habe die Gabe seiner Klientel-Gemeinde mit der Vertretung des Evangeliums vor Gericht und mit einem Besuch erwidert, stellt doch das Beziehungsgefälle auf den K o p f 1 3 . Kirner (2003) versucht nachzuweisen, dass das Patron-Klient-Modell die Schwierigkeiten des Paulus mit den Korintherinnen erklären könne: Es gebe zwei konfligierende Konzepte von der Autorität des Apostels. „Die Gegner des Paulus legen einen traditionalen Maßstab von Statuskriterien in Analogie zu alltäglichen Sozialbeziehungen an, während Paulus im Gegenzug einen sakralen Autoritätstypus geltend macht, der sich auf neuartige religiös-kerygmatische Kriterien bezieht." 114 Der Konflikt werde deutlich, wenn man sich unter den herkömmlichen Statuskriterien etc. die Patron-Klient-Beziehung vorstelle. Paulus greife das Konzept auf, um anschlussfähig zu bleiben, sakralisiere es aber am monotheistischen Gottesbild orientiert115. Mit der vorliegenden Studie stimmt Kirner darin überein, dass es kein festes Konzept von der Rolle des Paulus und anderer Apostel gibt, er arbeitet allerdings dennoch mit dem heuristisch fragwürdigen Konzept „Apostel" als einer Metakategorie. Seine These überzeugt nicht, da sie auf einer Vielzahl von strittigen Hypothesen über Gegner, Konfliktpunkte und Konstellationen beruht 116 .

2.2.3

Paulus und die Gemeinden als Freunde

Der Vergleich der paulinischen Beziehungspflege mit dem in der griechischen und römischen Literatur 117 greifbaren Konzept von idealer

111

Bormann 1995, i8iff. Zur Kritik an Sampleys These vgl. auch Ascough 2003,140-142.

112

Vgl. a.a.O., i87ff.

113

Vgl. die Kritik Schmellers 1995, 5Öff, der darüber hinaus bezweifelt, dass diese Form der Klientelbeziehung zur Zeit des Prinzipats noch existierte.

114

Kirner 2003, 28.

115

Vgl. 2003, 68f.

116

Ich nenne als Beispiel für viele bei Kirner nicht hinreichend mit der exegetischen Forschung diskutierte Annahme die, dass Paulus sich in 1 Kor 9 verteidige gegen Kritik daran, dass er auf Unterhalt verzichtet (vgl. dazu § 5.1.1.1).

117

Das Konzept wird in philosophischen Traktaten expliziert und ist daher auch für uns leicht zu rekonstruieren. Eine kurze Darstellung bietet z.B. Metzner 2002; für die Auflistung der zentralen Quellen vgl. nur Gustav Stählin, Art. φιΛέω κτλ., in: ThWNT 9 (1973), 112-169:149.

28

Paulus und seine Gemeinden

Freundschaft, φιΛία" 8 , lässt zwar kaum terminologische" 9 , dafür aber ideelle Berührungen erkennen. Zentrale Ideale sind Gleichheit, Reziprozität, Gemeinschaft, Seelenverwandtschaft 120 . Der Phil lässt sich lesen als Ausdruck einer freundschaftlichen Beziehung zu den Adressatinnen 121 . Paulus schildert auch rückblickend die Anfänge seiner Beziehung zu den Christinnen in Galatien mit Topoi der Freundschaft (Gal4,i2ff, vgl. §8.4). Marshall behauptet in seiner forschungsgeschichtlich wichtigen Arbeit v o n 1987 darüber hinaus, dass das Konzept auch f ü r das Verstehen der korinthischen K o r r e s p o n d e n z relevant sei: Die sich in beiden Briefen w i d e r s p i e g e l n d e n ( f ü r Marshall identischen) Probleme zwischen Paulus u n d den Korintherinnen seien nicht theologischer Art, sondern sozialer, denn sie ließen sich am besten verstehen auf Basis der antiken A u f f a s s u n g v o n Freundschaft u n d Feindschaft ( έ χ θ ρ α ) . Der G r u n d des " b r e a k d o w n " 1 2 2 der ursprünglich freundschaftlichen Beziehung z w i s c h e n Paulus u n d seinen Gastgeberinnen als Patroninnen in Korinth 1 2 3 sei die Weigerung des Apostels, Unterhalt anzunehmen. Sie habe g e g e n den G r u n d s a t z verstoßen, dass A u s t a u s c h v o n G a b e n die Basis einer Freundschaft sei 124 . Die These überzeugt insofern nicht, als 1 K o r 9 keinen Konflikt u m Unterhaltsverzicht erkennen lässt (vgl. d a z u § 4 . 1 . 3 ; § 5 . 1 . 1 . 1 ) . Marshall konzediert auch selbst, dass Paulus die Statusfragen, die i m K o n z e p t der Freundschaft impliziert w ä r e n , b e w u s s t ausklammert 1 2 5 ; er selbst verstehe sich eher als Vater 1 2 6 u n d sehe v o m E v a n g e l i u m her die üblichen Statuszuweisungen kritisch 1 2 7 . Damit ist die Erklärungsleistung dieser These f ü r das Verständnis der Relation des Paulus zur korinthischen G e m e i n d e gering.

Nicht alle, aber einige Beziehungen zu Gemeinden können also im Sinne einer Freundschaft verstanden worden sein. Allerdings ist das 118

Für den Niederschlag des Konzeptes in ntl. Literatur vgl. die Überblicksdarstellungen Klaucks 1991 und A. Mitchells 1997.

119 Dass die Terminologie von φιλία κτλ. bei Paulus fehlt, muss noch nicht bedeuten, dass er die so verstandene Beziehungsform ausschloss; auch die Geschwistersprache kann Ausdruck der freundschaftlichen Beziehung sein (so Klauck 1991, 3f, der dies auf den gemeinsamen sozialen Haftpunkt des οίκος zurückführt). 120 Vgl. nur die kurze Zusammenstellung bei Metzner 2002, u i f . 121 Vgl. nur die Literaturhinweise bei Metzner 2002; besonders White 1990; Mitchell 1997; Wolter 1990; zur Sache ausführlich § 5.2.3. 122 1987, 277. 123 Marshall definiert diese Beziehung als "patronal friendship", von der Patronatsbeziehung darin unterschieden, dass es sich um Freunde handelt, von der reinen Freundschaft aber durch das soziale Gefalle geschieden (1987,142ft). 124 Vgl. 1987, iff. 125 A.a.O., 133ft, bes. 164. 126 A.a.O., 249ft. 127 Marshall nimmt an, dass Paulus die Freundschaftsterminologie vermeide, um ihren Statusimplikationen zu entgehen (1987,134; vgl. 396, im Anschluss an E.A. ludge).

Zur Forschungsdiskussion

29

Konzept insofern modifiziert, als Freundschaft urbildlich zwei Menschen - genauer zwei freie Männer - verbindet, nicht einen einzelnen und eine Gruppe 1 2 8 . Schwerer wiegt der Einwand, dass der Verweis auf das Freundschaftskonzept die autoritäre Selbstthematisierung des Paulus nicht erklärt. Es ist also im einzelnen zu untersuchen, wie das Ideal einer Freundschaft die Beziehung des Paulus zu einer von ihm gegründeten Gemeinde prägt.

2.2.4

Paulus als philosophischer Lehrer?

Schaut man auf die inhaltlichen Anliegen des Paulus, so fallen Affinitäten zwischen dem messianischen Juden Paulus und paganen Philosophen auf. Es geht nicht um Übereinstimmungen in metaphysischen Fragen, sondern, wie besonders Malherbe betont, u m die Ähnlichkeit in der moralischen Ausrichtung der Unterweisung, die trotz großer Differenzen besteht 129 . Für unsere Frage relevanter ist der Vergleich der sozialen Formen. Auf einen Außenstehenden kann eine christliche Gemeinschaft wie ein Schülerverband gewirkt haben, der sich u m eine bestimmte Lehrtradition und einen Lehrer sammelte 130 . Ein Vergleich des Paulus mit einem philosophischen Lehrer ist besonders interessant, da auch der philosophische Lehrer seine Schüler über die Hinwendung zu einer bestimmten Philosophie hinaus weiterbegleitet, so wie Paulus seine Konvertitinnen. Groß sind vor allem die Gemeinsamkeiten mit Epikureer-Gemeinschaften in den für unsere Fragestellung virulenten Aspekten, der Gründung einer Gemeinschaft von Freundinnen, ihrer Weiterbegleitung durch den Lehrer sowie dem Briefschreiben 131 . N a c h Stowers (1984) äußerte sich Paulus, w e n n er f ü r seine V e r k ü n d i g u n g neben den S y n a g o g e n auch Privathäuser aufsuchte, im selben halböffentlichen R a h m e n w i e Philosophen, die nicht w i e die K y n i k e r in aller Öffentlichkeit das Z w i e g e s p r ä c h suchten oder in öffentlichen Schulen unterrichteten ( w i e im L y z e u m oder der A k a d e m i e in Athen). V o m Status her reiht er sich jedoch eher

128 Daher weist Bormann die These zurück, der Phil sei von den Freundschaftskonventionen her zu deuten, vgl. 1995,164ft, bes. 170. 129 Vgl. vor allem die in dem Band Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989 gesammelten Aufsätze, im einzelnen i98gd, 68. 130 Vgl. Alexander 2001, 104ft für einen Vergleich der sozialen Struktur; sie nennt auch weitere Untersuchungen der Parallelitäten. Zur Vergleichbarkeit von paulinischem Christentum und Philosophie vgl. auch Stowers 2001. 131

Vgl. zur Charakteristisk der epikureischen Schule Schmeller 2001, 55ff; Meeks 1993,

i 7 7 f.

30

Paulus und seine Gemeinden

unter die kynischen Philosophen, mit denen er auch die Ü b e r z e u g u n g teilte, dass es eine Übereinstimmung zwischen Taten, Leben u n d Lehre geben müsse 1 3 2 . In die kynische Richtung w e i s e n nach Malherbe sogar einzelne unserer Referenzmetaphern 1 3 3 , ja nach Downing 1998 musste Paulus ( w i e J e s u s ) seinen Zeitgenossen sogar als K y n i k e r erscheinen u n d wählte, dessen b e w u s s t , deren Stil 134 . K y n i k e r gründeten jedoch keine Schulen 1 3 5 . Abstrahierend v o n einzelnen Philosophenschulen diskutiert Schmeller (2001) eingehend, ob die Rolle des Paulus in v o n ihm gegründeten G e m e i n d e n nach d e m Vorbild eines Lehrers einer philosophischen Schule verstanden wurde 1 3 6 . Obschon die einschlägige Terminologie ( δ ι δ ά σ χ α λ ο ς , μ α θ η τ ή ς etc.) fast völlig fehlt (nur δ ι δ ά σ κ ε ι ν in 1 Kor 4,17), gebe es Entsprechungen. V o r allem in 1 Kor 1 - 4 k n ü p f e Paulus an die Rolle eines Lehrers an, grenze sich aber in g e w i s s e r Weise auch ab. Denn d e m Verständnis v o n verschiedenen Missionaren als konkurrierenden Lehrern, die zu den Zwistigkeiten in Korinth geführt hätten (vgl. i , i o f f ) 1 3 7 , stelle er die Vatermetapher ( i K o r 4 , i 4 f ) entgegen als eine aus d e m schulischen Kontext geläufige. Er entwickele sie jedoch z u m A n s p r u c h einer übergeordneten Autorität über die Gemeinde, die zugleich andere Autoritäten, unterschiedliche Lehrer ( π α ι δ α γ ω γ ο ί , 4,15), akzeptiert 1 3 8 . Es ist gut denkbar, dass Paulus sich in i K o r 1 - 4 d a g e g e n verwahrt, dass die Christinnen in Korinth ihre Missionare so w i e philosophische Starlehrer 1 3 9 verehren. Die Textauslegung ( § 7 . 4 ) zeigt jedoch, dass die Vatermetapher nicht der Schultradition entspricht. Denn P a u l u s ' Einsatz als G e m e i n d e g r ü n d e r fällt

132 Stowers 1984, 79ff. 133 iThess 2,7f; 2 Kor 10,1-6. Diese Deutungen sind m.E. aber sehr gezwungen; vgl. § 5.1.5.3; § 6.4.2 zu den Texten. 134 So die in Einzelheiten begründete These des gesamten Buches von Downing 1998. 135 Vgl. Schmeller 2001, 60 f. 136 Vgl. auch Meeks 1993, 173-180. Eine große Entsprechung des Paulus zu Schulhäuptern seiner Zeit sieht auch Backhaus 2000. Als Kriterien wählt er nicht soziale Aspekte, sondern die Selbstdarstellung des Paulus. Er zeige sich als Gründer - hier zieht Backhaus die Eltern-Kind-Metaphern heran - , Vorbild für das richtige Leben, aber auch Leiden und Sterben, als begnadeter und bevollmächtigter Mittler (vgl. bereits Anm.45). Damit entspreche er der Auffassung von Lehrern, obschon er diese Aspekte immer spezifisch christlich fülle. Für Backhaus ist damit die Fortschreibung der paulinischen Lehre in einer „Paulus-Schule", die in ihm „Archetyp, Paradigma, Mittler" sah (a.a.O., 71), von Paulus selbst insinuiert. 7 Vgl. Schmeller 2001,109ft; vgl. ähnliche Annahmen bei Winter 2001, 31 ff. 138 Vgl. Schmeller a.a.O., 133t. Einen Diskurs über Paulus als Lehrer spiegele auch iThess 2,1-12 wider (a.a.O., i39ff). Nach meiner Auslegung überliest Schmeller den Autoritätsanspruch des Paulus in 1 Kor 3 t, indem sich Paulus metaphorisch dezidiert von den „Bauarbeitern" nach ihm (3,10ft) abgrenzt (vgl. §7, bes. 4.2), und verkennt die spezifische Präsentation des Paulus und seiner Mitmissionare in iThess 2,7.iif (vgl. § 6.4). Vgl. zur Kritik an Schmellers Deutung von 1 Kor 4,14t auch § 7.4.3. 139 Vgl. die Beschreibung durch Alexander 2001, 118 zur Erklärung der Schismata in Korinth: "the eristic teaching style of contemporary sophists, whose 'star' performances encouraged loyalty to individuals and whose adherents can be likened to the fans of a modern pop star".

Zur Forschungsdiskussion

31

z w i s c h e n die Rollen eines Schulgründers, auf den sich die Vatermetapher bezieht, u n d eines Schulhauptes in dessen Tradition. Z w a r beansprucht P a u l u s die Rolle des „ G r ü n d e r s " der G e m e i n d e v o n Korinth (1 K o r 3 , 5 - 1 6 ; 4,15f), führt aber die Inhalte seiner Lehre auf Christus zurück. D i e s e m k ä m e die Rolle eines Schulgründers zu. Denn der genoss auch religiöse Verehrung, sollte aber schon verstorben sein 140 . A l s Autorität, Tradition zitiert Paulus überdies viel öfter als Christus das Alte Testament des, w e n n m a n so will, Schulgründers Mose 1 4 1 . Einen detaillierten Vergleich v o n Epikur s o w i e seinen Gemeinschaften u n d Paulus u n d seinen G e m e i n d e n hat n u n Eckstein (2004) vorgelegt. Parallelen zeigen sich im Blick auf die G r ü n d u n g v o n Gemeinschaften an verschiedenen Orten 1 4 2 s o w i e die Bedeutung der Briefe f ü r die Selbstexplikation der Gründerf i g u r u n d den Kontakt z u den Gemeinschaften 1 4 3 . Die Gemeinschaften ähneln sich in der Offenheit f ü r Menschen verschiedenen Status u n d Geschlechts 1 4 4 s o w i e der missionarischen Ausstrahlung 1 4 5 . A u c h sie können z u „ E r s a t z f a m i l i e n " werden 1 4 6 . Eckstein sieht hier jedoch keine genetischen Z u s a m m e n h ä n g e , sondern Parallelphänomene 1 4 7 . Der wesentliche Unterschied besteht f ü r den katholischen Exegeten in der jeweiligen Bedeutung der G e m e i n s c h a f t : Ist diese im paulinischen Konzept heilsnotwendig, so im epikureischen nur „ e i n Hilfs-

140 Vgl. zur Verehrung von Schulgründern Schmeller a.a.O., 161. Auch Schmeller bemerkt diese Spannung (a.a.O., i58ff), hält sie aber für weniger bedeutsam. 141 Vgl. zu Mose als Schulgründer Alexander 2001, io6ff. 142 Zur Bedeutung der Gemeinschaften vgl. insbesondere a.a.O., 73ff (Epikur). i92ff (Paulus). 143 Vgl. a.a.O., 164ft zu Epikurs, 272ft zu Paulus' Briefen. Beide können als Pioniere der Gattung gelten, Epikur für den philosophischen Brief, Paulus für den frühchristlichen (a.a.O., 334). 144 Lehmeier (1999) hat anhand der recht guten Quellen über das Leben im Hause des Philodem (1. Jh.v. Chr.) bzw. dessen Idealvorstellungen davon Nähen und Differenzen herausgestellt. Differenzen bestehen darin, dass die epikureische Gruppe auch ökonomisch verbunden war, während die Gemeinschaften des Paulus weniger sekludiert waren. Ungewöhnlich ist auch die Reisetätigkeit des Paulus, um möglichst viele zu gewinnen (1 Kor 9,20ff; vgl. Lehmeier a.a.O., 119ft). 145 Vgl. Eckstein 2004, 329ft, der aber auch Unterschiede nennt, insbesondere, dass Paulus bei den Synagogengemeinschaften anknüpfen konnte. 146 Eckstein 2004, 84t. 147 Vgl. genauer die Auswertung a.a.O., 30iff. Er korrigiert damit Thesen über die Rolle des Paulus wie die von Glad (1995), der den durch die Philodemtexte bekannten epikureischen Lehrtypus ausmachen will als Leitbild der paulinischen „Psychagogik". Diese schlage sich insbesondere in 1 Kor 9,19-23 und dem Umgang mit Starken und Schwachen nieder. Eine besondere Gemeinsamkeit bestehe darin, dass in epikureischen Gemeinschaften wie in paulinischen Gemeinden die gegenseitige Erbauung hervorgehoben werde (vgl. a.a.O., I78.i85f u.ö.; vgl. Eckstein 2004, 317t). Diese Parallele gibt jedoch der Rolle des Paulus kaum spezifisches Profil (vgl. Malherbe 1992, 301ft zur allgemeinen Geltung der psychagogischen Konzepte auch bei Stoikern und Plutarch; vgl. auch die Kritik von Schmeller 1996). Bemerkenswert ist auch, dass Paulus als Briefschreiber anders als Epikur abgesehen vom Phlm nur Kollektive adressiert, also die von Glad hervorgehobene individuelle psychagogische Begleitung sich in diesen Schriften nicht direkt niederschlägt.

32

Paulus und seine Gemeinden

mittel, um das Erreichen ... des persönlichen Seelenfriedens zu ermöglichen" 148 . Eine weitere Differenz, für unsere Frage von großer Relevanz, liegt in der jeweils in den Briefen unterstellten Autorität des Verfassers. Epikur setzt in seinen brieflichen Ausführungen seine Autorität voraus 149 , wohingegen Paulus seine Bedeutung immer wieder thematisiert.

Paulus mag in seiner Rolle gegenüber den von ihm gegründeten Gemeinden also in vielem der Aufgabe eines philosophischen Lehrers der damaligen Zeit entsprochen haben. Insbesondere zu epikureischen Gemeinschaften und der Beziehungspflege des Epikur durch Briefe bestehen große Ähnlichkeiten. Bedeutsam ist jedoch, dass Paulus zwar Gemeinden gründete, jedoch in diesen nicht die letzte Autorität darstellen wollte, also nicht einem „Schulgründer", sondern nur einem „Schulhaupt" vergleichbar wäre. Seine Motivation, d.h. sein Apostolat und das Evangelium, sowie die Bedeutung der Schrift, der jüdischen Tradition und christlicher Uberlieferungen als bestimmender Inhalte markieren diesen Unterschied zwischen dem Begründer einer philosophischen Lehre und Paulus. Doch nur ein Lehrer unter anderen will Paulus offenbar in der Gemeinde von Korinth auch nicht sein; die „Lehrbefähigung" nennt er nur als ein Charisma unter anderen, dem Apostelcharisma nachgeordnet150. Das kann erklären, warum Paulus Schulterminologie zur Beschreibung seines Verhältnisses zur Gemeinde und entsprechende Metaphern kaum aufgreift, sondern die Überzeugung, dass die Neumissionierten weiterhin seiner Unterweisung bedürfen, via metaphorae als Erziehung im Elternhaus konzipiert 151 .

2.2.5 Paulus unter den Propheten? Eine Alternative zur Einordnung der paulinischen Mission in griechisch-römischen Konventionen ist die These, dass Paulus sich als Prophet verstanden habe, also einem atl.-jüdischen Paradigma folge. Sie bezieht sich auf Anspielungen an prophetische Texte in der Erzählung von seiner Berufung in Gal 1,15 f. Wie die Sendung der großen Propheten mit einer Theophanie zusammenhänge, so beziehe sich Pau-

148 Eckstein 2004, 319ft; Zitat 351. 149 Eckstein a.a.O., 240; Eckstein selbst stellt diesen Unterschied allerdings nicht heraus. 150 So ordnet er den Apostel als dem Propheten und διδάσκαλος vor in i K o r i2,28f; vgl. auch die Charismenliste Rom 12,4-8. 151

In diesem Sinne ist der Vatervergleich in iThess 2,iiff (vgl. §6.4.3) metapher in 1 Kor 4,i4ff (vgl. § 7.4) eingesetzt.

ur,

d die Vater-

Zur Forschungsdiskussion

33

lus auf eine Christophanie 152 . Diskutiert wird, wie stark ein prophetisches Selbstbewusstsein das Selbstverständnis des Paulus prägte und auf welche Prophetentexte er sich zurückbezieht153. Das prophetische Paradigma bietet einen Deuterahmen für die Berufung durch Gott und den Zusammenhang zwischen Sendung und Botschaft, also den Apostolat im wie hier verstanden engeren Sinne, und die Bedeutung der Berufung für die Existenz des Paulus (vgl. §4.1). Die persönliche Hinwendung zu „Heidinnen" und die gemeindegründende und -begleitende Arbeit sind allerdings in dem prophetischen Paradigma nicht präfiguriert.

2.3

Die Deutung der Familienmetaphern in der Paulus-Auslegung

Obschon etliche der bislang genannten Unterschungen paulinische Metaphern zur Rollen- und Beziehungsbeschreibung berücksichtigen, belassen sie es zumeist dabei, einzelne dieser Metaphern nachzusprechen als Beleg einer aus anderen Aussagen gewonnenen Verhältnis-

152 Vgl. so auch die Rückführung der Verbindung von Apostolat und Evangelium auf Jes 61,1 durch Hahn 1974; vgl. § 4.1. Ähnlich relevant sieht den Text auch Berger 1995, 207 (ohne Rekurs auf Hahn). Roloff 1965, 437t macht allerdings den eschatologischen Ort der Verkündigung des Paulus zum Differenzkriterium, so dass die Entsprechung nur als typologische gelten könne. 153 Zur Wahl stehen der Gottesknecht und Jeremia. Holtz hatte in seinem programmatischen Aufsatz (1966) auf Deuterojesaja verwiesen: Paulus verstehe sich als Gottesknecht im allgemeinen (nur Jes 53 beziehe er wie die übrige Christenheit auf Christus), und seine Erwählung und Berufung, Sendung zu den Völkern und sein Leiden seien so zu erfassen. (Holtz deutet das paulinische Leiden als heilsbedeutsam, da er zur Abfassungszeit des Aufsatzes Kol 1,24 für authentisch hält.) Sandnes (1991) hat diese These prolongiert zu der Behauptung, dass Paulus sich und seine Sendung legitimiert, indem er sich in die Tradition der atl. Propheten stellt, die wie er inauguriert wurden und unter dem Zwang standen, zu predigen. Paulus verstehe sich genauer als eschatologischer Prophet der letzten Tage, wie Jeremia und Deuterojesaja. Mit letzterem Aspekt ist die Sonderstellung des Apostels impliziert. Najda (2004) hat kürzlich die These vom prophetischen Selbstverständnis bekräftigt und modifiziert: Mit einer recht groben Textlektüre begründet er, dass Paulus sich als Apostel nicht auf einen einzelnen atl. Propheten beziehe, sondern „in der Nachfolge der Propheten schlechthin (bzw. des Prophetentums) sieht", als Vollender und sogar Uberbieter aufgrund seines Auftrags zur universalen Verkündigung des Evangeliums und der Existenz dafür (2004, 233ft, Zitat 233). - Vgl. zur Diskussion auch § 4.1 mit Anm.34.

34

Paulus und seine Gemeinden

bestimmung 154 . Dies gilt auch für die Vater- bzw. Mutter-KinderMetaphern. In den letzten Jahren ist jedoch das Interesse an einer methodisch reflektierten Deutung paulinischer Familienmetaphern gewachsen 155 . Es ist Teil eines allgemeinen „Trends zur Familie": Wie die althistorische Forschung sich der Sozial- und Mentalitätengeschichte des antiken Familienlebens widmet 156 , so wurden mittlerweile auch über Familien im Frühjudentum und entstehenden Christentum viele Kenntnisse gesammelt aus literarischen, archäologischen und gerade auch epigraphischen Quellen157. Für die Auslegung von Familienmetaphern sind sie auch von prinzipieller Bedeutung, weil sie die Kulturbedingtheit der Familienrollen und -werte zeigen. Die Autorität des Vaters, die Rolle der Mutter bei der Reproduktion, die Erziehungsleistung der Eltern, das gegenseitige Verhältnis von Geschwistern etc. wurden in den antiken Kulturen anders konstruiert als in der heutigen

154 Aufgrund ihrer Bedeutung für die Erforschung des Apostolats wenigstens am Rande zu erwähnen ist die Untersuchung Roloffs 1965. Roloff macht die paulinische Metaphorik zur Basis seiner Beschreibung der ekklesiologischen Funktion des Apostolats (a.a.O., i04ff). Er behandelt sie nach Herkunftsbereichen geordnet und hebt nur ihren traditionellen Charakter hervor, das heißt die sonstige Verwendung des Bildspenders (wobei Roloff beim „Vaterbild" keinen traditionellen Hintergrund sieht). Einzelne Bilder gelten als zentrale Aussageträger: Die Baumetaphorik (unter Einbeziehung von Eph und Kol) sei beherrschend für die ekklesiologischen Selbstaussagen, die Dienstmetapher drücke besonders das Verhältnis zu Jesus aus; die Vatermetapher vermittele beides. 155 Vgl. dazu auch den forschungsgeschichtlichen Rückblick von Burke 2003, 8 - 1 8 ; Aasgaard 2004,10-22. 156 Ich nenne nur exemplarisch zur Geschichte der Familie in der Antike die Sammelbände von Andre Burgiere et.al. (Hrsg.), Geschichte der Familie, Bd.i: Altertum, Frankfurt a.M. 1996; zum Leben in Griechenland Pomeroy 1997; zur römischen Antike Paul Veyne (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd.i: Vom römischen Imperium zum byzantinischen Reich, Frankfurt a.M. 1989; weiter Bradley 1991; den Sammelband von B. Rawson 1992 (Hrsg.), Marriage, Divorce, and Children in Ancient Rome, Canberra u.a. 1992; Dixon 1992a. 157 Der Sache entsprechend fokussieren die Untersuchungen nie nur die christlichen oder jüdischen Quellen. Vgl. zum Familienleben im frühesten Christentum nur aus den letzten Jahren die Sammelbände Constructing Early Christian Families, herausgegeben von H. Moxnes (London u.a. 1997) sowie Early Christian Families in Context. An Interdisciplinary Dialogue, ediert von D. Balch und C. Osiek (Religion, Marriage and Family; Grand Rapids u.a. 2003; Lit!); vgl. weiter Yarbrough 1995; Osiek/Balch 1997; Barton 1998; P. Müller 1992; Johnson 2002; Burke 2003; Balla 2003; Aasgaard 2004. Zum jüdischen Familienleben vgl. Lassen 1992 und den von S.J.D. Cohen edierten Band, The Jewish Family in Antiquity (Brown Judaic Studies 289), Atlanta 1993. Zu beiden Bereichen vgl. den Sammelband von J.W. van Henten/A. Brenner, Families and Family Relations as Represented in Early Judaisms and Early Christianities: Texts and Fictions, Leiden 2000. Diese Liste wäre um viele Arbeiten zur Geschlechterdifferenz und Frauenrolle zu erweitern.

Zur Forschungsdiskussion

35

bürgerlichen Gesellschaft. Auch Symbole und Werte wie die Auffassung von „Mutter-" oder „Vaterliebe" können nicht als anthropologische Konstanten rückprojiziert werden, sondern müssen als gesellschaftlich konstruierte Ideologeme für die jeweilige Kultur nachgewiesen werden 158 . Bereits die Frage, wie man „Familie" definiert, ist strittig159. Komplex wird das Bild nicht nur dadurch, dass für die Antike zumindest griechische, römische und jüdische Kultur und Rechtslage zu unterscheiden sind, sondern auch, dass mit sich ändernder Methodologie und Fragestellung auch die heutigen Rekonstruktionen der antiken Familienkonzepte differieren 100 . Der Begriff „Familie" ist also definitionsbedürftig; ich verwende ihn entsprechend dem Forschungsusus im modernen Sinne für die „Kernfamilie", also gerade auch für die Eltern-Kinder-Beziehung. Angemerkt sei allerdings, dass die eingebürgerte Rede von Familienmetaphern für die paulinische Verwendung ungenau ist, denn Paulus zieht auffallenderweise von den familiären Beziehungen immer nur binäre Relationen (Mutter Kinder, Vater - Kinder, Geschwister untereinander) heran. Im Blick auf die so genannte Familienmetaphorik bei Paulus konkurrieren zwei Fragerichtungen. Arbeiten, die nach der Bedeutung der 158 Vgl. Salier 1992 zur Diskussion über die emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kindern in römischen Familien, die z.B. wegen der Praxis von Kindesaussetzungen in Frage gestellt wurde. Inzwischen wird weithin anerkannt, dass es eine enge emotionale Beziehung gab (vgl. § 7.4.3 zu 1 Kor 4,i4f). Ich weise dennoch gerade auf diese Diskussion hin, weil fast alle Ausleger Liebesbekundungen in den Eltern-KindMetaphern vernehmen. Besonders schön ist von Campenhausens einfühlende Beschreibung der Elternrolle des Paulus in seiner Studie zur Entwicklung des kirchlichen Amtes: „Wie nur je ein natürliches Eltern Verhältnis ist auch dieses geistliche durchzittert von Sorge und Liebe, Schmerz und Enttäuschung, Eifersucht und Ungeduld und mit dem Jubel einer letzten Verbundenheit und Gelöstheit" schließlich im Reiche Gottes (1953, 48). Dagegen ist nach meiner Auffassung der Aspekt der Liebe nur dann zu gewärtigen, wenn er im Aussagekontext Erwähnung findet (so etwa in 1 Kor 4,14, nicht aber in Gal 4,19). 159 Vgl. D.B. Martin 1996 zur Diskussion, ob die antike Familie primär als Großfamilie oder Kernfamilie (Vater - Mutter - Kinder) verstanden wurde. Auch nach ihrem Gehalt kann man die Familie unterschiedlich definieren; mögliche Parameter sind etwa die ökonomischen Bedingungen, Verwandtschaftsbeziehungen, Relationen zwischen Familienmitgliedern (vgl. Moxnes 1997). Dass Familienrollen gesellschaftliche Konstrukte sind, hat insbesondere die feministische und Genderforschung offen gelegt. Dass „Familie" keine natürliche, unwandelbare Gegebenheit ist, ist auch unmittelbar einsichtig aus der aktuellen Diskussion um ihre Definition („Familie ist, wo Kinder sind") und neuen Rechtsgrößen wie „eingetragenen Lebenspartnerschaften" sowie Neologismen wie „Leihmutter", „verpartnern", „Patchworkfamilie"; vgl. auch Moxnes a.a.O., i3ff. 160 Vgl. beispielhaft für methodologische Fragen D.B. Martin 1996 darüber, wie bei der Auswertung von Grabinschriften die Fragestellung das Ergebnis präjudiziert.

3

6

Paulus und seine Gemeinden

Familienmetaphorik für eine Ekklesiologie fragen, stellen vor allem die Geschwistermetaphorik in den Mittelpunkt u n d zielen auf die sozialen Relationen im frühen Christentum. Im Interesse am paulinischen Apostolat konzentrieren sich andere Untersuchungen auf die ElternKinder-Metaphern. Das Nebeneinander beider A n s ä t z e spiegelt ein Problem der paulinischen Metaphorik: Wie verhalten sich Geschwistermetaphorik u n d Eltern-Kind-Metaphorik zueinander, oder w i e vertragen sich „ B r u d e r P a u l u s " u n d „Vater P a u l u s " miteinander? Der zweite Ansatz, der sich w i e diese Untersuchung auf die verschiedenen Eltern-Kinder-Metaphern konzentriert, steht außerdem vor der A u f gabe, das Verhältnis v o n Vater- (1 Thess 2 , i i f ; ι Kor 4,15t) u n d Mutterrolle ( i T h e s s 2,7; Gal 4,19) des Paulus z u klären. Der Blick über die Literatur z u m Thema zeigt, dass nur Untersuchungen mit einem reflektierten Metaphernbegriff z u plausiblen L ö s u n g e n führen: Diese Metaphern sind als solche u n d jeweils in ihrem A u s s a g e k o n t e x t z u deuten, nicht als allgemeine Modelle.

2.3.1

Paulus als geistlicher Vater u n d Mutter

In bisher unwiederholter Konzentration hat Gutierrez (1968) die paulinischen Eltern-Kind-Metaphern unter der kirchensprachlichen Metapher v o m „geistlichen V a t e r " zusammengefasst u n d als A u s druck des paulinischen Apostolats gedeutet. A l s Hintergrund der Metaphern unterstellt er - w i e eine Bildfelduntersuchung 1 6 1 , jedoch ohne methodische Reflexion - nicht die Erfahrungswelt, sondern die Vatermetaphorik im Umfeld. Bei seiner A u s l e g u n g der klassischen Referenztexte spielen Traditionen jedoch k a u m eine Rolle, denn Gutierrez ist überzeugt, dass die paulinische Darstellung seiner «paternite spirituelle» originell u n d v o n neuer Intensität ist 162 . Weil Gutierrez die Lebenswirklichkeit als Verstehenshorizont ausblendet, kann er auch i T h e s s 2,7 u n d Gal 4,19 als A u s d r u c k des Selbstverständnisses einer „geistlichen Vaterschaft" verstehen, für das insbesondere i K o r 4,14f zentral sei 163 . In den Metaphern gelten alle möglichen erfreulichen

161

Zur metapherntheoretischen Terminologie vgl. § 3.

162 Vgl. Gutierrez 1968, 83. A u f g r u n d seines - inzwischen überholten - Metaphernbegriffs muss er sogar sagen, dass es mehr sei als eine rhetorische Figur: «Les expressions qui la (sc. la paternite reelle) definissent ne sont pas une pure metaphore, il faut les comprendre analogiquement» (a.a.O., 233). 163 A.a.O., 83.

Zur Forschungsdiskussion

37

Aspekte als mitgesagt, die generell mit Vater- und Mutterschaft verbunden werden, zentral die Liebe 104 und die Lebensvermittlung 165 . Von hier aus löst Gutierrez auch die Spannung zwischen Gott Vater und Vater Paulus, denn die paulinische Vaterschaft sei eine dienende, vermittelnde, da sie nur durch Teilhabe an Gottes Vaterschaft Liebe und Lebensgabe, Neuschöpfung wirke 166 . Damit ist die Arbeit vor allem beispielhaft für die methodisch unkontrollierte Eintragung theologischer Vorgaben und moderner Assoziationen in die Auslegung. Andere Arbeiten vernehmen neben der Liebesbekundung einen Autoritätsanspruch in den Eltern-Kind-Metaphern 167 . So sieht Best (1986, vgl. 1988) in der Selbstdarstellung des Paulus als - hier inklusiv formuliert - "parent" den Ausdruck eines Autoritätsanspruchs, den der Term απόστολος zu Zeiten des Paulus noch nicht enthielt. Diese Selbststilisierung begründe u.a. den Verzicht auf das mit dem Apostelstatus verbundene Unterhaltsrecht 168 . Das Verhältnis beschreibt Best insgesamt als zwiespältig: Paulus übernehme sowohl die superiore Rolle des Gemeindegründers wie die „reziproke" (gemeint ist: statusgleiche) des Mitglieds im „Leib Christi", sei Vater wie Bruder. Best kritisiert Paulus' Hang zur Autorität und Führung, hat aber auch Verständnis für die Probleme eines „Vaters". Mehr noch als Best liest Petersen in seiner in 2.1.4 erwähnten Untersuchung der sozialen Welt des Phlm in der Interpretation des Apostolats durch die Vatermetapher - unter Hinzuziehung ihrer Verwendung auch außerhalb des Phlm - einen Ausdruck der superioren Rolle des Paulus 1 6 9 : Die sei zwar ambiguär, insofern Paulus Milde, Ermahnung statt Beschämung etc. übe, aber: "That the behavior of both the parent and the children is governed by love and affection only softens their hierarchical relationship. It does not replace it." 1 7 0

164 Vgl. so besonders a.a.O., 197ft zu 2 Kor 6,13 und 12,14. 165 «Le ministere apostolique est une veritable transmission de vie, et de ce chef, il implique une paternite reelle» (a.a.O., 233). 166 Vgl. a.a.O., 235. 167 Vgl. neben den genannten Arbeiten Joubert 1995, nach dem sich Paulus in der korinthischen Korrespondenz als pater familias geriert. 168 1986, 17, unter Verweis auf 2 Kor 12,14. Das Elternverhältnis - tatsächlich in erster Linie die Vaterrolle - ist für Best auch sonst das Basismodell, aus dem sich auch die liebende Hingabe des Paulus, die Nachahmungsaufforderungen, Unterhaltsverzicht, seine Warnung vor Gegnern, seine z.T. einseitig scharfen ethischen Anweisungen etc. erklären. Vgl. a.a.O., 29f.58f.102.121f.142f.160 u.ö. 169 Vgl. Petersen 1985,125 ff. 170 A.a.O., 131.

Paulus und seine Gemeinden



Während in diesen wie in fast allen Auslegungen Vater- und Mutterrolle verschwimmen, legt Gaventa in mehreren Aufsätzen ihr Augenmerk auf das "maternal imagery" des Paulus 1 7 1 . Die Darstellung von "our Mother St. P a u l " 1 7 2 stehe gleichwertig neben der Vatermetaphorik 173 und biete ein eigenes Konzept, denn Mutterschaft und Vaterschaft seien unterschiedlich aufgefasst worden. Ihre Auslegung müsse die antiken Konzepte rezipieren 174 . So drücke die Mutterschaft im Unterschied zur Zeugungsmetapher längere Dauer aus 175 . Die Selbstdarstellung des Paulus in femininer Weise sei nach damaligen Werten beschämend gewesen und damit bewusst gegen die üblichen Normen entworfen: "Paul presents himself as the authority w h o does not conform to standard norms of authority". Das "maternal i m a g e r y " könne unsere "reductionistic dichotomie" zwischen hierarchischen und egalitären Aussagen überwinden 1 7 6 . Wenn Gaventa auch plausibel für eine Differenzierung der Vater- und Mutter-Metaphern plädiert, so vernachlässigt sie den jeweiligen Aussagekontext. Die Metaphern entwerfen kein einheitliches „Mutterbild", sondern je unterschiedliche Aspekte 1 7 7 .

2.3.2

Eine neue Familie. Ekklesiologische Fragestellungen

Die in den Paulus-Briefen auffallende Geschwistermetaphorik und ihr Konnex mit der Gott-Vater-Metapher lassen fragen, wie die Familienfiktion die Beziehung der Christinnen untereinander prägte; für uns von Interesse ist vor allem der Platz des Paulus in diesem Szenario. Nicht überzeugend ist, wie theologisch ansetzende Arbeiten die 171

Vgl. Gaventa 1990a; 1990b; 1996; 1996b.

172 So der Titel des Aufsatzes 1996a. 173 Treffend karikiert sie die übliche Subsumption: "Commentaries on these passages [sc. mit mütterlichen Bildern] regularly say things such as 'Paul often refers to himself as the father of believers; see also 1 Corinthians 4 : 1 5 ' " (1996a, 34). Weil Gaventa zur mütterlichen Metaphorik auch z.B. έκτρωμα ( ι K o r 15,8) und das Nähren ( i K o r 3,iff) zählt, sieht sie diese statistisch sogar überwiegen (vgl. a.a.O., 35). 174 Vgl. 1990a in Bezug auf die Amme 1 Thess 2,7 und in Kritik an der These Malherbes (vgl. § 6.4.2); 1996 zu 1 Kor 3,1-4. Für Gal 4,19 zieht sie allerdings die apokalyptische Tradition heran (1990b; vgl. dazu § 8.4.6.3). 175 1996a, 36. Als weitere Unterscheidungskriterien nennt sie die Komplexität der Metaphorik und den Bezug auf die Berufung (a.a.O., 32ff). 176 1996a, 43 f, Zitat 44. 177 Vgl. dazu die Kritik an Gaventas Auslegungen in der Exegese von 1 Thess 2,7; i K o r 3,iff und Gal 4,19.

Zur Forschungsdiskussion

39

„Vater-Rolle" des Paulus der geschwisterlichen Egalität unterordnen. Sie zeigen, wie die Lektüre der Metaphern sich dem Interesse des Lesers beugt. Beispielhaft deutet Banks (1980) die paulinische Ekklesiologie v o n den Familienmetaphern her, statt w i e sonst v o n Körper- u n d Baumetaphern, denn er unterstellt d e m Geschwisterkonzept, dass es Egalität u n d Liebe transportiere. Die Familienmetaphorik denke sprachlich den sozialen Kontext des Haushalts weiter, u n d zentraler Gehalt der Metaphorik sei die Liebe 1 7 8 . A u c h die Metaphern v o n Paulus als Vater subsumiert Banks d e m metaphorischen K o n z e p t v o n Gott als Vater Jesu u n d den Christinnen als Geschwistern u n d K i n d e r n Gottes, ohne eine S p a n n u n g w a h r z u n e h m e n . D e n n die paulinische Autoritätsausübung sei k a u m hierarchisch, eigentliche Autorität sei Gott b z w . das E v a n g e l i u m , d e m sich Paulus unterordne 1 7 9 . W e n n er sich als Vater oder Mutter geriere, d a n n doch erwachsenen Kindern gegenüber 1 8 ". Schäfer (1989) behauptet in seiner Untersuchung zur „ B r u d e r s c h a f t " in den paulinischen Gemeinden, dass sich in den paulinischen Briefen ein neues M o d e l l sozialen Verhaltens widerspiegele, das sich als Kontrastgesellschaft zur herrschenden versteht u n d so die neue Menschheit repräsentieren will 1 8 1 . D a z u untersucht er die Sozialbeziehungen, über die Titel gebende „ B r u d e r s c h a f t " hinaus auch das Geschlechterverhältnis, die Frage der Sklaverei, der Institutionalisierungen u n d eben auch, in welcher Position Paulus sich den Gemeinden gegenüberstellt 1 8 2 . Indem Schäfer die „ B r u d e r - A n r e d e " als A u s g a n g s p u n k t nimmt, die f ü r ihn u.a. christologisch begründete Gleichheit impliziert 1 8 3 , u n d die Vater-Metaphorik v o r allem als A u s s a g e über die „väterliche liebevolle F ü r s o r g e " 1 8 4 interpretiert, kann er insgesamt zu d e m Ergebnis gelangen, dass die V a t e r - A n r e d e keine hierarchische S t u f u n g oder einen Herrschaftsanspruch bedeute 1 8 5 . Dieses Ergebnis stützt nach Schäfer auch, „ d a ß das v o n P [ a u ] l [ u ] s entwickelte Vaterbild auch stark weiblich-mütterliche Z ü g e w i e Zärtlichkeit u n d Herzlichkeit integriert" 1 8 6 . Bartchy (1999) verstärkt den antipatriarchalen Z u g noch in seiner kulturanthropologischen These, dass Paulus im G e f o l g e J e s u die Gemeinschaft auf geschwisterlichen Werten g r ü n d e n wolle, w a s sich eindrucksvoll, aber bislang unterbewertet in der R e d e v o n α δ ε λ φ ό ς u n d α δ ε λ φ ή niederschlage. " P a u l ' s basic m o d e l for his communities w a s a f a m i l y of siblings without an earthly

178 Dem Kontext entsprechend fasst Banks auch die Metaphern von Sklaven, Bediensteten etc. zur Familienmetaphorik, vgl. 1980, 52ft. 179 Vgl. Banks a.a.O., 171ft. 180 Vgl. a.a.O., 175t. 181 Vgl. 1989, 443. Damit wendet er sich in Bezug auf die paulinischen Gemeinden gegen Thesen, das frühe Christentum habe sich als „Liebespatriarchalismus" konstituiert. 182 A.a.O., bes. 314-369. 183 Zentraler Beleg für die christologische Begründung ist Röm 8,29, vgl. a.a.O., 4iff. 184 A.a.O., 356. 185 A.a.O., 368. 186 A.a.O., 369 unter Rekurs auf 1 Thess 2,7ft; Gal 4,19t; 2 Kor 6,11-13/ 7/ 2 ff-

40

Paulus und seine Gemeinden

father", nur Gott sei für Paulus Vater der Gemeinschaften187. Die Selbstmetaphorisierung des Paulus als Vater - Bartchy zählt hierzu nur Phlm 10 und ι Kor 4,15f - widerspreche dem nicht, ziele sie doch auf seine "nurturing relationship" und seine Vorbildlichkeit in Demut188. Die Bedeutung des Geschwistermodells ergebe sich aus den antiken Familienwerten: Das Band zwischen Geschwistern war das emotional engste und schloss Rivalität um Ehre aus 189 ; so erkläre sich die antipatriarchale, reziproke Ethik. Während die Genannten unterstellen, dass das v o n ihnen als paulinisch rekonstruierte Konzept der Wirklichkeit entsprach, fragt die auf die Familienmetaphorik des gesamten N T ausgerichtete Untersuchung Sandnes' (1994) nach der Korrelation von Sprache u n d Wirklichkeit, zwischen Familienmetaphern u n d Alltagswelt. Dieser Ansatz im G e f o l g e P. Bergers u n d Th. Luckmanns ist weiterführend, weil er auf die mögliche Bedeutung der Metaphorik f ü r die Entfaltung eines neuen kollektiven Wirklichkeitsverständnisses hinweist 1 9 0 : Die Metaphorik der Familie reflektiere Probleme des wirklichen Lebens. Dort w o ganze Familien konvertierten, blieb die Familie die Primärbeziehung. Andere, die einzeln konvertierten, brauchten neue familiäre Strukturen, u m den Verlust der alten zu kompensieren. Jesus und Paulus hätten jedoch die traditionell hierarchischen Strukturen des Haushaltes aufgeweicht durch die egalisierende Akzeptanz anderer. Das Nebeneinander v o n hierarchischen und egalitären Strukturen in den Quellen erkläre sich also dadurch, dass man sich einerseits an Sozialformen anschloss, diese andererseits aber auch transformierte 1 9 1 .

2.3.3

Paulus als Vater, Mutter u n d Bruder

Hat die bislang dargestellte Literatur ein metaphorisches Konzept dem anderen untergeordnet, so w i r d in jüngster Literatur die Vielfalt der Familienrollen des Paulus g e w ü r d i g t ; Voraussetzung d a f ü r ist ein reflektiertes Metaphernverständnis. Z u nennen ist zunächst die Arbeit von Allmens' (1981), der die Familienmetaphorik mit einem durch E. Jüngel u n d P. Ricoeur geschulten Metaphernverständnis liest. Er lässt vier metaphorische Konzepte nebeneinander stehen, die nur z u m Teil 187 1999,69. 188 Vgl. a.a.O., 73. 189 A.a.O., 68f. 190 Vgl. den ähnlichen Ansatz M. Walters in Bezug auf die paulinische Leib-Metaphorik (2001, 39.53t); vgl. dazu §3.1. 191

A.a.O., i82f.

Zur Forschungsdiskussion

41

verknüpft sind, die Familie Abrahams, Gottes, des Paulus und die Hochzeit 192 . Inhaltlich sind keine besonderen Ergebnisse zu nennen, denn das Interesse von Allmens gilt weniger dem Gehalt oder der Leistung der Familienmetaphern als ihrer theologischen Relevanz, um die paulinischen Metaphern zu rehabilitieren 193 . Weiter führen zwei Untersuchungen, die ein kognitivistisches Metaphernverständnis voraussetzen (vgl. § 3 ) , wonach die Konzepte der Alltagswelt das Verstehen von Metaphern prägen: Metaphern rufen Allgemeinplätze des Herkunftsbereichs ab, also hier Familienrollenstereotypien. Für meine Fragestellung ist das Buch von Burke (2003) besonders interessant. Er analysiert die in sich nicht kohärenten Familienmetaphern des 1 Thess und weist auf ihre je eigene Aussagekraft 194 . Die Metaphern von Paulus als Vater oder Mutter, als Kind und Waise und die von der christlichen Gemeinschaft als "brotherhood" sind je für sich zu verstehen. Sie rufen Rollenstereotypen ab, und zu diesen gehört im Blick auf Brüder nicht Statusegalität, sondern nur gleiche Würde 195 . Die mit der Elternrolle implizierte hierarchische Überordnung wird also durch die gehäufte Anrede als αδελφοί nicht unterminiert. In diesem Sinne argumentiert auch Aasgaard (2004) sowohl methodisch als auch inhaltlich in Bezug auf die Bedeutung der Geschwistermetaphorik in den Paulusbriefen: Die Geschwistersprache impliziert keine Egalität, sondern Zugehörigkeit, die Eltern-Metapher in Bezug auf Paulus jedoch Hierarchie, und beide sind unabhängige Konzepte (vgl. genauer den Exkurs nach § 6).

2.4

Der Ansatz dieser Untersuchung

Die Untersuchungen zu Familienmetaphern des Paulus zeigen, dass ihre Auslegung ein lohnenswertes Unterfangen ist, dem exemplarische Bedeutung zukommen mag. Im Vergleich mit diesen ist die konkrete A u f g a b e zu umreißen: 1 ) Die Arbeiten von Burke, Aasgaard und Gaventa belegen, dass die Eltern-Kinder-Metaphern primär vor dem zeitgenössischen Konzept von Familie zu lesen sind und nicht vor einem Bildfeld von 192 Vgl. von Allmen 1981, 278 f. 193 Vgl. zur Fragestellung und Ergebnissen a.a.O., 194 Vgl. im einzelnen § 6 zu 1 Thess. Burke verfehlt m.E. in seiner Auslegung von 1 Thess 2,7.12 jedoch die Pointen der Vergleiche. 195 Vgl. Burke 2003, 230 ff.

42

Paulus und seine Gemeinden

Familienmetaphorik, wie Gutierrez es tut. Wie für alle Metaphern gilt, dass sie im Blick auf den Bildspendebereich enzyklopädische Konzepte abrufen (vgl. §3.2). So fordert auch die Auslegung von Eltern-KindMetaphern und Geschwister-Metaphern einen sozial- und mentalitätengeschichtlichen Rückblick. 2) Ich schicke der Auslegung der Metaphern keinen Uberblick über das Familienleben in der Antike voraus wie Burke und Aasgaard 196 , sondern frage in der Einzelauslegung nach den jeweils in der metaphorischen Aussage überhaupt berührten Aspekten. Dies ist nicht nur „ökonomischer" wegen der Vielzahl der über Familien zu sammelnden Details. Es entspricht auch dem Wesen einer Metapher, dass ein Bildspendebereich nur partiell relevant wird (vgl. §3). Eine vom Textbefund ausgehende historische Rückfrage trägt auch der Tatsache Rechnung, dass es keine objektive Rekonstruktion des antiken Familienlebens geben kann, sondern dass das jeweilige Frageinteresse dominant bleibt. 3) Während die jüngeren Arbeiten ihren Blick auf die sozialgeschichtlichen Aspekte des Bildspendebereichs richteten, gilt das Interesse dieser Untersuchung der Applikation der Metaphorik und deren Pragmatik. Damit rückt der Bildempfängerbereich, die Beziehung zwischen Paulus und den Gemeinden, in den Fokus der Untersuchung 197 . Anders als die am Apostolatskonzept orientierten Darstellungen gehe ich davon aus, dass die Metaphorik nicht eine bekannte Relation bewertet, sondern diese neue, nicht-konventionelle Beziehung (vgl. 2.2) erst zu definieren sucht. Darum gilt das Augenmerk zunächst den sonstigen Bezeichnungen der Rolle des Paulus (§4) und den weiteren metaphorischen Darstellungen des Bildempfängerbereichs (§5). 4) Im Zentrum stehen also Metaphern als ein Mittel, diese neue Beziehung zu kommunizieren und zu gestalten. Sie wirken durch ihre illustrative und katachrestische Kraft. Weitere Mittel, eine Autorität und Beziehung einzuschreiben, sind rhetorische Strategien und Gattungskonventionen, auf die daher besonders zu achten ist (§2). Die Auslegungen lassen nur bedingt Rückschlüsse zu auf tatsächliche soziale Gegebenheiten in den Gemeinden und auf die faktische Relation zwischen Paulus und den Gemeinden. Sie zeigen uns aber,

196 Vgl. die umfangreichen Ausführungen Burkes 2003, 36-127; Aasgaard 2004, 34-116. 197 Zur Terminologie in Bezug auf Metaphern vgl. § 3.

Zur Forschungsdiskussion

43

wie der Absender der Briefe diese Beziehung, die zugleich in diesen Briefen bekräftigt oder etabliert wird, verstanden wissen wollte. 5) Unser Interesse gilt dem rhetorischen Entwurf einer sozialen Relation, so wie ihn insbesondere Metaphern in Briefen kommunizieren sollen. Es setzt also den Eigenwert der persönlichen Beziehung voraus und legt das Augenmerk auf die in jedem Brief individuelle Arbeit an dieser Beziehung. Zurückgestellt ist die Frage nach der allgemeinen theologischen Begründung dieser Beziehung, wie sie etwa Thesen von einem christologischen Apostolatskonzept oder einer spezifischen Berufung oder Existenzweise des Paulus beantworten wollen.

3 Beziehungsbilder in Briefen lesen. Eine Skizze der Untersuchung Die Untersuchung ist gegliedert in drei Teile, methodische Fragen, Überblicke über Rollenbezeichnungen und Beziehungsmetaphorik sowie exemplarische Textanalysen. Im Fortgang dieses ersten Hauptteils sind die methodischen Fragen zu klären. Das folgende Kapitel (§2) zeigt die Bedeutung des brieflichen Charakters der Paulusschriften auf. Die Schriften nutzen die in Rahmen, Formeln und Topoi wirkende Pragmatik der brieflichen Gattung - gerade im Unterschied zu Reden - , den Autor und die gemeinsame Beziehung zu vergegenwärtigen. Dies geschieht jedoch je unterschiedlich in den einzelnen Briefen. Die Forschungsgeschichte bot Anschauungsmaterial dafür, wie notwendig eine methodische Besinnung auf die Auslegung von Metaphern ist, da gerade die paulinischen Eltern-Kind-Metaphern zur assoziativen Exegese einladen. In §3 ist daher zu klären, was Metaphern, Vergleiche und Analogieargumente sind und wie sie auszulegen sind. Metapherntheorien der Gegenwart werden eklektisch herangezogen, um eine analytische Terminologie zu entwickeln und zu skizzieren, wie Metaphern verstanden werden und pragmatisch fungieren. Eine zentrale Einsicht ist, dass Metaphern nicht allein durch ihren Bildspender, in diesem Fall die Eltem-Kind-Relation, Bedeutung erhalten. Auch der im Aussagekontext realisierte Bildempfänger, in diesem Fall die Beziehung zwischen Paulus und Gemeinde, wirkt mit an der metaphorischen Übertragung. Das bedeutet, dass der jeweilige

44

Paulus und seine Gemeinden

Aussagekontext zu berücksichtigen ist in der Auslegung. Da ja der gesamte Brief einer Auffassung der gegenseitigen Beziehung zuarbeitet, und zwar auch durch die rhetorischen Mittel der Machteinschreibung, berücksichtigen die exemplarischen Auslegungen jeweils den ganzen brieflichen Zusammenhang. In einem zweiten Hauptteil wird vor den Auslegungen einzelner Familienmetaphern deren paradigmatischer Rahmen abgesteckt. Zunächst werden in §4 die Bezeichnungen semantisch bestimmt, mit denen Paulus wiederholt seine Rolle in seinen Briefen benennt, απόστολος, διάκονος und in einem Seitenblick die zur Lexikalisierung tendierende Metapher δοϋλος Χρίστου. Dabei wird nachgewiesen, dass der in die moderne Beschreibungssprache als terminus technicus eingegangene Begriff „Apostel" für die Rolle des Paulus im paulinischen Sprachgebrauch selbst nur in ganz bestimmten Aussagezusammenhängen begegnet (§4.1). Für die Begleitung der Gemeinden durch ihren Gründer, also für das, was die hier analysierten Metaphern ins Bild fassen, wird er nicht verwendet, und es gibt auch keine andere unmetaphorische Redeweise. Damit wird die Relevanz der Beziehungsmetaphorik umso deutlicher. Der Uberblick über das Paradigma der Rollen- und Beziehungsmetaphern (§5.1) bestätigt diese Beobachtung, auch wenn die Auslegung den methodischen Anforderungen an Kontextualisierung nur bedingt gerecht wird. Die große Anzahl der metaphorischen Beziehungsaussagen und der „Artenreichtum", die Vielfalt von Bildspendebereichen überrascht und zeigt: Keine Metapher vermittelt umfassend die Bedeutung des Paulus. In einem zweiten Schritt (§5.2) wird gezeigt, wie in 2 Kor 2 - 7 ; 1 0 - 1 3 und im Phil Metaphern und Vergleiche unterschiedlicher und gleicher Bildspendebereiche verknüpft werden zu komplexen Collagen. Mit diesen Briefpassagen sind jene Texte gewürdigt, in denen zwar keine auffälligen Familienmetaphern begegnen19®, in denen der Rollenentwurf und die Beziehungsgestaltung jedoch im Vordergrund stehen. Von Bedeutung ist insbesondere die Skizze des Metapherngebrauchs im Phil, denn sie zeigt, wie die veränderte Perspektive des impliziten Autors sich in der Wahl weniger hierarchischer Metaphern niederschlägt. Wo Paulus damit rechnet, dass er die Gemeinde nicht bis ins Eschaton begleiten wird, verlieren auch die Metaphern ihr hierarchisches Gefälle.

198 Zu 2 Kor 6,13 und 2 Kor 12,14, die oft als Beleg der „geistlichen Vaterschaft" des Paulus angeführt werden, vgl. § 5.1.10.

Der Aufbau der Untersuchung

45

Der dritte Hauptteil widmet sich in drei „Fallstudien" den Vergleichen in iThess 2,1-12 (§6) und den Metaphern in i K o r 4,14-21 (§7) und Gal 4,12-20 (§8) in ihrem jeweiligen metaphorischen und brieflichen Kontext. Die Analyse ergibt, dass die Sprachbilder kein umfassendes Konzept einer „geistlichen Vaterschaft" des Paulus durchblicken lassen, wie es immer wieder paraphrasiert wird. Gemeinsam ist ihnen, dass sie pointierte Mitteilungen sind für die Beziehungsgestaltung. Inhaltlich jedoch illustrieren sie ganz unterschiedliche Aspekte. Ohne eine knappe Paraphrasierbarkeit der Metaphern behaupten zu wollen, deute ich die jeweilige Eigenart an: Der Muttervergleich in 1 Thess 2,7f qualifiziert den selbstlosen Unterhaltsverzicht, der Vater-Vergleich in 2,11 f die zuverlässige religiöse Unterweisung durch die Missionarsgruppe um Paulus. Mit der metaphorischen Selbstpräsentation als einziger Vater in 1 Kor 4,14-21 hingegen appelliert Paulus zum Schluss des Briefabschnitts, seine einzigartige Führungsrolle als Gemeindegründer anzuerkennen. Das Bild in Gal 4,19 von der wiederholten Gebärarbeit des Autors, bis die Adressatinnen die Gestalt des christusgemäßen Wunschkindes haben, ist eine besonders komplexe Bewertung der Kommunikationssituation. Es zeigt, was auf dem Spiel steht mit dem Beschneidungswunsch der Galater, im Blick auf das „Leben" der Adressatinnen und die Beziehung zum Briefautor, aber es zeigt auch dessen Mühe um die Christinnen in Galatien. In der Summe (§9) wird zu fragen sein, welche allgemeinen Schlussfolgerungen sich aus diesen differenzierenden Beobachtungen für den im Mittelpunkt der Arbeit stehenden Beziehungsentwurf und für die Paulusauslegung ergeben.

§2

Im Brief gesagt. Die Gattung der paulinischen Schriften und ihre Bedeutung für die Beziehung des Autors zu seinen Gemeinden Der briefliche Charakter des corpus Paulinum wirft vielerlei Fragen auf, die lebhaft diskutiert werden 1 . Für diese Untersuchung geht es um zwei: Welche Signifikanz hat das Medium „Brief" für die Beziehungsarbeit des Paulus? Und welche Forschungsansätze sind für diese Fragestellung von heuristischer Relevanz ? Ich beginne mit der zweiten Frage nach möglichen Lektüreperspektiven (i). Den Beziehungsaspekt der paulinischen Korrespondenz legen rhetorische oder epistolographische Analysen, die nach der Disposition oder dem Genus fragen, nicht offen. Das Augenmerk auf den brieflichen Rahmen sowie die Formeln und Topoi schärft hingegen den Blick dafür, dass und wie Briefe in der Antike die Beziehung zwischen Adressant und Adressierten kommunizierten (2). So ist auch den paulinischen Briefen als solchen das Anliegen der Beziehungspflege wesentlich (3).

1

Vgl. etwa die instruktive Übersicht der Einleitungsiragen bei G. Strecker 1992a, 57ft. Komplexer wird die Diskussionslage noch dadurch, dass die epistolographische Analyse mit literarkritischen Thesen über die Integrität der uns überlieferten Briefe gekreuzt wird, sei es als Legitimation ihrer Einheit, sei es als Indiz ihrer Inkohärenz (vgl. Bünker 1983; Alexander 1989; Probst 1991; Wünsch 1996; M. Müller 1997, i3iff)·

Im Brief gesagt

8

4

ι

Rhetorische, epistolographische und formgeschichtliche Ansätze der Exegese i.i

Brief oder Rede ?

Die paulinischen Schriften vereinigen in sich divergente Gattungen und Textsorten. Im Rahmen eines Briefes finden wir Argumentationen, Erzählungen, Paränesen, liturgische Stücke und andere kleinere Einheiten, die sich formkritisch beschreiben lassen. Traditionelle literarkritische, traditionskritische und formgeschichtliche Analysen haben diese Stücke je für sich betrachtet, jedoch eher unter der Frage der Textentstehung als der Pragmatik. Der in den letzten Jahrzehnten aufgekommene rhetorical criticism des corpus Paulinum erfasst größere Texteinheiten bis hin zu ganzen Briefen, um diese auf dem Hintergrund antiker rhetorischer Theorien zu deuten. Insofern die Rhetorik lehren will, wie Rede Wirkung bei einem bestimmten Publikum erzielt2, ist sie als Analysekriterium relevant auch für die Pragmatik. Unbestreitbar ist das Verdienst des "rhetorical turn", den "linguistic turn" durch die Einsicht in die soziale, kulturelle und persuasiv-subjektive Bedingtheit von Texten zu präzisieren 3 . Mittlerweile gibt es eine unüberschaubare Zahl rhetorischer Untersuchungen der paulinischen Briefe, die freilich sehr divergieren in der

2

Dieser kleine gemeinsame Nenner soll nicht die unterschiedlichen Rhetorik-Auffassungen von der Sophistik über Cicero und Quintilian bis zur „ N e w Rhetoric" nivellieren; vgl. nur die Einleitung von J. Martin 1974, iff.

3

Vgl. so Wuellner 1987, 46οι: "... rhetoricial criticism leads us away from a traditional message- or content-oriented reading of Scripture to a reading which generates and strengthens ever-deeping personal, social, and cultural values". In dieser Hinsicht kann eine rhetorische Analyse auch den Situationsbezug von Texten deutlicher machen. Auf diesen verweist die von Bitzer 1968 (vgl. Kennedy 1984, 34-36) eingebrachte analytische Kategorie der "rhetorical situation", die den reaktiven Charakter einer Äußerung auf eine Situation - Problemstellung ("exigience"), Publikum ("audience") und Zwänge ("constraints") - hervorhebt. Die Kategorie wird in unterschiedlicher Weise rezipiert etwa bei Wire 1990; Schüssler Fiorenza 1999, io8f; Watson 1999, um durch die „rhetorische Situation" auf die „historische" zurückzuschließen. Sie ist aber m.E. bereits unreflektiert berücksichtigt bei der Diskussion des Briefanlasses in den klassischen „Einleitungsfragen". So richtig es ist, sich den reaktiven Charakter rhetorischer Äußerungen und Argumente vor Augen zu halten, so wichtig ist doch zugleich, die Äußerungen nicht allein positivistisch als abhängig von der Situation zu verstehen, sondern ihre die Wirklichkeitswahrnehmung gestaltende Potenz zu gewärtigen (s. zu dieser in der Exegese wenig rezipierten Kritik an Bitzers Kategorie Amador 1999, 2 7 - 3 1 ; vgl. auch Stamps 1993 zur rhetorischen Situation als allein textinhärenter Größe mit rhetorischer Wirkung).

Zur Analyse von Briefen

49

Wahl von rhetorischer Theorie und Subdisziplinen 4 . Und es gibt inzwischen eine kaum überschaubare Meta-Debatte darüber, ob die paulinischen Briefe überhaupt mittels dieser Theorie angemessen zu erfassen sind5. Denn Briefe sind für die Antike in Theorie wie Praxis etwas grundlegend anderes als öffentlich gehaltene Reden6. Die antiken Rhetoriker behandelten Briefe nicht als Gegenstand der Rhetorik7, die 4

Einen Eindruck von der Quantität geben der bibliographische Anhang bei Amador 1999, 335-338 und die Liste von 28 amerikanischen Dissertationen auf diesem Gebiet aus den Jahren 1985-1994, a.a.O., 345-347 sowie die Bibliographie bei Watson 1995, 242-248.

5

Zur aktuellen Meta-Diskussion s. insbesondere die Beiträge von Porter 1993; Reed 1993; Anderson 1999, 109-127; Hughes 2000. Man kann inzwischen schon die Geschichte der Disziplin des rhetorical criticism schreiben. Vgl. neben dem Forschungsbericht von Watson 1995 die - unterschiedlichen - Darstellungen Andersons 1999, 17ft, Amadors 1999, 25ff und Olbrichts 1997. Zur älteren Forschungsgeschichte vgl. Probst 1991, 3iff. Daneben gibt es inzwischen eine weitere Meta-Diskussion. Sie wirft den Anwendern des rhetorical criticism fehlende Selbstbezüglichkeit vor, "that biblical studies has become stuck in a 'rhetorical half-turn'" (Schüssler Fiorenza 1999, 84). So kritisiert Schüssler Fiorenza die bleibende Beanspruchung eines objektivistischen Wissenschaftsraumes: Als rhetorisch, d.h. intendierend, müsse auch die Lektüre der rhetorischen Texte selbst verstanden werden (1999, 18 und 83ff; vgl. die Reaktion von Robbins 2002 einerseits, andererseits die Würdigung des Ansatzes Schüssler Fiorenzas durch Amador 1999, 239ft). Zu dieser Kritik am klassischen rhetorical criticism vgl. detailliert Amador und dessen Referat der Diskussion (z.B. von Burton Mack und Vernon Robbins, a.a.O. 128ff).

6

So schon Hübner 1984, 244t in seiner Rezension des forschungsgeschichtlich wegweisenden Gal-Kommentares von H.D. Betz (1979), freilich unter anschließender Relativierung der Differenz zwischen Brief und Rede (vgl. unten Anm.43). Vgl. weiter Classen 1991, bes. 5f in diesem Sinne; Reed 1993; Porter 1993, m f f ; Malherbe 1988, 2f sowie Anderson 1999, ii4ff mit Forschungsdiskussion. Die Verwendung der klassischen Rhetorik in der Auslegung des NT wird auch aus ganz anderen Gründen kritisiert von Anderson (vgl. ders. 1999 insgesamt, zur Differenz von Brief und Rede 109ft, und vor allem die Ergebnisse zjyfi). Er hält die klassischen rhetorischen Schulbücher für angemessen, einen Eindruck von der Funktion der antiken Rhetorik zu geben, aber ihre Heranziehung zur Auslegung der Paulusbriefe für überzogen, weil diese wegen Paulus' mangelnder Fähigkeiten den rhetorischen Standards, Tugenden und Techniken gar nicht folgen. Für die Angemessenheit des rhetorical criticism plädieren jedoch z.B. Watson 1995; 1999; Hughes 2000; für eine ergänzende Heranziehung von Rhetorik und Epistolographie z.B. Kremendahl 2000; Thiselton 1 Kor, 41ft.

7

Erstmals behandelt Julius Victor (4. Jh.) das Briefschreiben als Teil der Rhetorik in einem Anhang seiner ars rhetorica (ars rhet 27, vgl. Malherbe 1988, 2^62-65). Auch dass Theon von Alexandrien im 1. Jh.n.Chr. Briefschreiben als progymnastische Übung der Prosopopoiie empfiehlt (Progymnasmata 115), zeigt nicht, dass Rhetoriker Briefe als ihr Metier betrachteten (so Kremendahl 2000, i6f), denn Lernziel ist ja nicht die Praxis des Briefschreibens, sondern die Einfühlung in eine andere Person (so auch J.L. White 1986, 190). Auch die von Brucker 1997, 254-256 angeführten Beispiele, in denen Rhetoren Briefe verwenden oder die Gattungen nebeneinanderstellen, belegen nicht, dass Briefe und Reden nicht als unterschiedliche Gattungen wahrgenommen wurden.

50

Im Brief gesagt

Brieftheoretiker leiteten die Briefe vom Gespräch ab, nicht von der Rede 8 . Briefe sind also nicht an die Sitze im öffentlichen Leben gebunden, welche die drei klassischen Genera der Rede formten, und nicht an eine typische vierteilige dispositio9. Wer die paulinischen Schriften dennoch in diesen Rastern deutet, muss behaupten, dass ihr Briefcharakter nur den Rahmen betrifft, es sich also um „Reden im Briefumschlag" handelt10. Dieser Zugriff reduziert jedoch das Briefverständnis in einer für unsere Fragestellung entscheidenden Weise. Die uns als authentisch geltenden Schriften des Paulus sind darin echte Briefe, dass sie eine je individuelle Beziehung zwischen Autor und adressierter Gemeinde voraussetzen und, anders als eine Rede, diese auch thematisieren. Dafür ist jedoch die rhetorische Analyse nicht sensibel. Sie kennt z.B. zwar die aristotelische Unterscheidung von Argumenten des πάθος und ήθος, des Appells an die Gefühle der Adressatinnen und der eindrucksvollen Präsentation des

8

Vgl. Demetrius, de elocutione §22iff (vgl. zum Werk unten Anm.i2), der zwar die Meinung des Artemon, der Brief sei ein halbierter Dialog (είναι γ ά ρ την έπιστολήν οίον τό έτερον μέρος τοϋ διαλόγου, 223), ablehnt, offenbar insofern es die literarische Gattung „Dialog" betrifft, aber als halbes „Gespräch" im Prinzip bejaht (mit Thraede 1970, 22ff; vgl. Klauck 1998, 152). In §229 hebt Demetrius Brief und Gerichtsrede von einander ab; vgl. dazu bereits Koskenniemi 1956, 42ft. Vgl. auch Ps.-Libanios, Char 2 (unten Anm.12 und 110).

9

Diese „taxonomische" Variante des rhetorical criticism (vgl. dafür exemplarisch Hughes 2000) ist m.E. von geringem Ertrag (vgl. genauer die Auslegungen der hier ausführlich behandelten Briefe, §6-8). Kritisch äußern sich auch Bünker 1983, 14t; Reed 1993, 2g8ff; Porter 1999, bes. 227ff; Amador 1999, z.B. i6f. Das bedeutet nicht, dass rhetorische Praxis nicht auch die Briefe des Paulus prägte. Von den Lehrinhalten der Schulrhetorik ist die Stilistik, die elocutio, hilfreich, um die Bedeutung sprachlicher Mittel und gedanklicher Figuren für das Anliegen zu verstehen; die Fähigkeit, Stilmittel einzusetzen, ist Paulus auch ohne dezidierte Rhetorik-Schulung zuzutrauen (vgl. Wünsch 1996, 13ff). Porter 1993, 115ff fordert gar, die Analyse im Sinne der klassischen Rhetorik auf die elocutio zu beschränken. Doch auch die Kenntnis der inventio im Sinne der Lehre vom Finden der Argumente schärft unser Verständnis der persuasio (vgl. Vorster 1990, 118ff, der die Frage nach der rhetorischen Situation [s. Anm.3] übersetzt in die nach dem status quaestionis, der seinerseits Teil der inventio ist). Ähnlich votieren Klauck 1998, 179 und Classen 1991, bes. 3if, für eine Berücksichtigung der rhetorischen Tradition der elocutio und für die „Erhellung der Argumentationsstruktur" (Klauck ebd.). Die Relevanz von elocutio und inventio machen m.E. den - unbenommen der Kritik an taxonomischer Fixierung - großen Wert der Paulus-Auslegungen im Sinne des rhetorical criticism aus, etwa die bleibende Bedeutung des Gal-Kommentars von H.D. Betz. Nach Anderson klärt allerdings die rhetorische Analyse neben den Stilmitteln und Argumenten auch die dispositio (1999,127 und die Durchführung 129 ff).

10

So das gern zitierte Diktum Jegher-Buchers (1991, 5), das in beiden Teilen unzutreffend ist. Jegher-Bucher selbst ergänzt ihre rhetorische Analyse des Gal jedoch um eine epistolographische.

Zur Analyse von Briefen

51

Redners, neben denen des Λόγος. Doch für die Argumentation mit der gegenseitigen Beziehung hat sie keinen Begriff und mithin kaum Aufmerksamkeit.

1.2

Epistolographische Perspektiven

Für eine epistolographische Analyse der Paulusbriefe bieten sich wiederum mehrere Lesehilfen 11 . Überkommen sind uns brieftheoretische Überlegungen über den angemessenen Charakter und Stil von Briefen, so genannte Briefsteller, die Brieftypoi klassifizierten 12 , und die erhaltenen Briefe selbst, die Aufschluss über die Praxis geben. Über die Disposition der Briefe gibt es keine klaren Regeln 13 , aber sie lassen bekanntlich eine Dreiteilung in Präskript, Korpus und Eschatokoll erkennen14, die uns auch in sämtlichen Paulusbriefen begegnet. Für eine Klassifikation könnten die Listen von 21 τύποι des Ps.-Demetrius und 41 χαρακτήρες des Ps.-Libanius bzw. Ps.-Proklos dienen15. Sie bieten wesentlich mehr Brieftypen als die drei Genera der

11

Vgl. insgesamt die Einführungen von Stowers 1986; J.L. White 1986, 187-220; Aune 1987,158ft; Klauck 1998; Stirewalt 2003; Schmidt 2003, 9-47; Eckstein 2004,19-46.

12

Diskutiert werden vor allem die einem Demetrius zugeschriebenen Äußerungen über den Briefstil in seinem Werk De elocutione, wohl noch aus vorchristlicher Zeit. Er geht im Zusammenhang des „einfachen Stils" auf die Briefe ein (de elocutione §223-235). Weiter relevant sind die Listen von Brieftypen der Briefsteller. Erhalten sind die formae epistolicae (τύποι έπιστολικοί) eines anderen Demetrius, heute Pseudo-Demetrius genannt (endredigiert wohl im 3. Jh.n.Chr., inhaltlich aber älter), und die aus dem 4.-6. Jh. sowohl unter dem Namen Libanius wie Proklos überlieferten characteres epistolici (έτιιστολιμαϊοι χαρακτήρες). Uber den aktuellen Stand der „Einleitungsfragen" der Brieftheoretiker vgl. R.M.G. Nikisch, Art. Briefsteller, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994) 76-86 (Lit!). Gut zugänglich macht Klauck die Informationen über brieftheoretische Texte (1998, i48ff) und Briefsteller (157ft), Malherbe in der Textsammlung 1988 die Texte. Was die antike Brieftheorie angeht, sind aus meiner Sicht immer noch die Untersuchungen Koskenniemis von 1956 über die „griechische Phraseologie" und Thraedes von 1970 über die „griechisch-römische Brieftopik", vor allem die frühchristliche und spätantike Topik, maßgeblich.

13

Anders Probst 1991, 101, der an den literarischen Briefen von Philosophen und Dichtern etc. induktiv einen vierteiligen Aufbau von exordium, narratio, argumentatio, peroratio erhebt, d.h. eine Zweiteilung des Briefkorpus (vgl. seine Analyse a.a.O., 55-98).

14

Vgl. nur das Briefmuster bei Klauck 1998, 54. J.L. White 1972, bes. if erweist, dass bei den paulinischen wie allen Briefen das Korpus seinerseits dreiteilig ist (Eröffnung, Mitte, Schluss).

15

Vgl. dazu Stowers 1986,51ft; Klauck 1998, i57ff.

52

Im Brief gesagt

Rede, die sich in dieser Liste ebenfalls finden 16 . Diese Brieftypen sind jedoch keine Gattungsbeschreibungen, sondern Beschreibungen typischer sozialer Situationen, die durch Briefe geregelt werden. Sie setzen also auch eine bestimmte Relation zwischen Absender und Adressatinnen voraus 17 . An der paulinischen Korrespondenz können wir ablesen, dass Paulus einzelne Brieftypen kannte 18 ; doch abgesehen von Phlm verfolgen seine Briefe (wie viele andere) nicht nur eine einzige soziale Interaktion19. Moderne Klassifikationen wählen dann auch andere Raster, um die überkommene Briefliteratur zu sortieren, aber auch solchen Zuteilungen widersetzen sich die paulinischen Briefe 20 . Sie adressieren wie die 16

Der apologetische und der deliberative sowie der Lob- und Tadelbrief, die sich zum Prinzip des epideiktischen Genre addieren, stellen nur einen Teil der Brieftypen dar.

17

Vgl. dazu Stowers 1988 und ders. 1986, 51ft. Man kann sogar innerhalb eines Brieftypus differenzieren, je nachdem, ob die Beziehung des Autors zum Leser übergeordnet, gleichrangig oder subordiniert ist (vgl. Stowers 1986, 56 mit einem Beispiel des Menander).

18

Die έπιστολή συστατική, den Empfehlungsbrief, erwähnt er in 2 Kor 3,1. Als briefliche Empfehlungen können i K o r 16,3 sowie 16,15-18 (mit R.F. Collins 1996, 39ft) und Rom 16,if; Phil 2,19-22 verstanden werden. Phlm ist nicht als Empfehlungsbrief (so Collins ebd.) zu lesen, sondern besser als Bittbrief (mit Wolter Phlm, 23Öf).

19

Dass Ps.-Demetrius den Freundschaftsbrief als eigenen Typos neben solchen wie dem Trost-, Lob- und Gratulationsbrief zählt, die gewiss Freundschaft voraussetzen und bestärken, sowie die Tatsache, dass er die Benennung der Typen nach eigenem Bekunden von der sie prägenden Erscheinungsform ableitet (Formae epistolicae 27t: επονομάζεται δ' έκαστος αύτών άφ' ής έστιν ιδέας οϋτως: φιλικός, συστατικός, μεμπτικός, όνειδιστικός ...), sollte davor warnen, die strikte Realisierung eines einzelnen Typos in realen Briefen zu erwarten. Es handelt sich um einen Systematisierungsversuch der Praxis; mit Stowers 1988, 86; Klauck 1998, 162; Dormeyer 1993, 191. Ps-Libanius krönt bezeichnenderweise seine Liste von Brieftypen mit der μικτή (sc. προσηγορία) δέ ήν έκ διαφόρων χαρακτήρων συνιστωμεν (Char 45)·

20

Ausgangspunkt der Diskussion ist immer noch die so bekannte wie gescholtene Differenzierung Deissmanns von Episteln und Briefen (1923, 118.194-196; zu deren Bestimmtheit von Romantik und religionsgeschichtlicher Schule vgl. Doty 1969,183192), die es zu ersetzen gilt. Vgl. die Ubersicht bei K. Berger 1984, 1327ft, etwa die Aufteilung nach Formunterschieden von J.L. White; vgl. auch die grobe Klassifizierung Klaucks (1998, 71t) nach intendierter Öffentlichkeit und Uberlieferungsweg. Auch in eine der Gruppen, die Dormeyer (1993, 191) mit Cicero unterscheidet, den literarischen Brief, mit dem hier der Freundschaftsbrief gemeint ist, den rein privaten und den offiziellen Brief (ähnlich Aune 1987, 162ft), wollen die Paulusbriefe nicht passen, sind sie doch weder rein literarisch noch rein privat. Das bestätigt auch Dormeyer a.a.O., 192t: „Es entsteht ein eigenständiger Typ eines christlichen, literarischen Briefes"; vgl. in diesem Sinne auch Berger 1984, 1134; White 1986, 220; Stirewalt 2003, 26.113-116. Ahnlich urteilt Stowers 1986, 25 in Bezug auf die soziale Ebene der ntl. Briefe, dass sie weder dem niederen noch dem hohen kulturellen Niveau entsprechen. "They fall somewhere in between and have the cast of a Jewish subculture". Stowers schlägt (a.a.O., 49ft mit vielen Beispielen) eine Klassifikation

Zur Analyse von Briefen

53

offiziellen Briefe immer ein Kollektiv 21 , pflegen mit diesem jedoch, abgesehen von Rom, eine enge Bekanntschaft 22 . Der Aufbau des Briefkorpus scheint zunächst meist vom Thema bestimmt und vertritt mehrere Anliegen, und die paränetischen Passagen sind den hellenistischen Briefen fremd. Auch im Vergleich mit antiken Briefen selbst bleibt die Frage, welche überhaupt als Paradigma für Paulusbriefe dienen können: echte Privatbriefe, etwa jene, die als Papyri überdauert haben23, Familienbriefe 24 , jüdische, evtl. speziell prophetische Briefe 25 , philosophische Briefe 26 , literarische Briefe 27 , nur echte oder auch fingierte nach Pragmatik vor, er sortiert gewissermaßen die antiken Brieftypologien übersichtlicher. (Hauptfunktionen sind Familien- und Freundschaftskontakt, Lob oder Tadel, Anweisungen in sehr unterschiedlichen Formen, Vermittlung und rechtliche Belange.) So bleibt das Verhältnis der Kommunikanten offen; die einzelnen Paulusbriefe lassen sich kaum nur einem dieser Typen subsumieren. 21

Das gilt auch für den Phlm, vgl. Schnider / Stenger 1987, 22.

22

Nach Stirewalt 2003, 44-46.113 f hat Paulus die Gattung eigenständig entwickelt hin zu einem Brief, der sowohl Autorität als auch "Paul's pastoral concern for the people" (116) transportiere: Durch den offiziellen Briefen entsprechenden Rahmen vermittele er seine Rolle und Bedeutung als Gesandter und Mittler Christi, durch die Übernahme von Charakteristika persönlicher Briefe zeige er sein Interesse an der Gemeinde und der Beziehung.

23

Für deren (allerdings nicht exklusive) Relevanz plädiert White 1986,19^218-220.

24

So Stowers 1986, 43: "The church is often described as a household. Paul builds and maintains this family through his letters." Nach dieser Untersuchung ist diese Aussage sowohl, was den Anschluss an briefliche Konventionen angeht, als auch, was die Tiefenwirkung der Familienmetaphorik angeht, zu undifferenziert.

25

Zur Heranziehung der jüdischen Tradition vgl. unten 1.3.

26

Eine Nähe zum philosophischen Brief (den Briefen der Kyniker, Epikurs, Piatons, Plutarchs, Senecas) sieht Berger, 1984, 1132 ft vor allem darin, dass sich Paränese mit autobiographischen Zügen verbindet und das Moment der Freundschaft den Brief prägt. Auch Stowers 1986, 42 weist auf die Nähe zum philosophischen Mahnbrief hin, sieht aber auch die Unterschiede darin, dass es Paulus nicht um individuelle Unterweisung, sondern um Gemeindeaufbau gehe und er auf Gottes Kraft setze. Darin liegt auch ein Unterschied zwischen den Briefes des Paulus und denen Epikurs bzw. seiner Schultradition. Eckstein 2004, 92ff.258ff.334ff zeigt jedoch Gemeinsamkeiten Blick auf die Bedeutung der Briefe für die Selbstexplikation des Verfassers sowie die Beziehungspflege mit den Gemeinschaften. Das führt er jedoch nicht auf einen Einfluss der Briefe des Epikur auf Paulus zurück, dessen Briefe er in der Tradition der frühjüdischen Briefe sieht (258ft). Bünker wählt die Epistulae morales des Seneca als Vergleichsrahmen, u.a., weil zwischen Seneca als Lehrer und Lucilius als Schüler eine ähnliches Verhältnis wie zwischen Paulus und seiner Gemeinde bestehe (1983, 34ff). Bosenius sieht Übereinstimmung hingegen darin, dass Seneca und Paulus den Brief als Medium der „Existenzmitteilung" aufgefasst hätten (1994, 9if).

27

Für eine Nähe der ntl. Briefe zu denen Ciceros, der den „literarischen Freundschaftsbrief ... besonders ... gepflegt hat" (Dormeyer 1993, 191), sprechen sich Dormeyer (ebd.); Schoon-Janßen 1991, 39ft; ähnlich Strecker 1992a, 89 aus.

Im Brief gesagt

54

Briefe ? z8 Diese Korpora setzen bereits ein individuelles, aber spezifisch symmetrisches oder asymmetrisches Verhältnis zwischen Adressant und Adressatinnen voraus 29 . Die Wahl eines Korpus als Referenzrahmens wäre also bereits eine petitio principii für die hier zentrale Frage nach der Beziehung der Kommunikanten 30 .

1.3

Autorität qua Gattung ? Zur Ableitung der Paulusbriefe aus frühjüdischer Literatur

Die stärksten Implikationen bezüglich der gegenseitigen Beziehung hat die formgeschichtlich ausgerichtete These, die paulinischen Briefe seien nicht von der hellenistischen Briefpraxis her zu verstehen, sondern ständen als „Apostelbriefe" in der Tradition der „frühjüdischen Offenbarungsbriefe". Qua Gattung würden sie also einen Autoritäts- und Offenbarungsanspruch vermitteln31. Das führt erstens zur Relativierung des brieflichen Charakters: „Apostelbriefe (sind) schriftlich fixierte, adressierte apostolische Rede" 32 . Zweitens wird behauptet, dass die Autorität der Briefe und ihres Absenders als „Apostels" sehr viel zählt, die Persönlichkeit des Verfassers und mithin dessen persönliche Beziehung zu den Adressatinnen aber wenig, gehe er doch in der Aufgabe der Übermittlung des Göttlichen auf. Die Begründung ist, dass Formeln des Briefrahmens intertextuell die Lektüre der Briefe im Sinne von frühjüdischen prophetischen Briefen einforderten, wie sie in der Jeremia-Baruch-Tradition stehen, oder überhaupt Offenbarungsliteratur von Apokalypsen und Testamenten, die sich ebenfalls oft in

28

Vgl. zu den verschiedenen Briefen und Sammlungen sowie zu ihrer Erforschung Probst 1991, 53-98.

29

Das zeigt beispielhaft die Distanzierung Senecas von Ciceros Briefstil. Obschon beide, wie aufgeführt, als Paradigmen für die Paulusbriefe herangezogen werden, sucht Seneca ein didaktisches Gefalle zu seinem Gesprächspartner Lucilius, strikt geschieden von Ciceros themenlosen Plaudereien mit Atticus (Ep. mor 118,if; vgl. dazu Thraede 1970, 65 ff).

30

Classen 1991, 87 zählt dementsprechend unter den verschiedenen Faktoren, die einen einzelnen Brief bestimmen und zum Individuum machen, das Verhältnis zwischen Schreiber und Empfänger auf.

31

Vgl. hierzu insgesamt Berger 1974; 1984,1327ft bes. 1333ff.

32

Berger 1974, 231.

Zur Analyse von Briefen

55

Briefform präsentierten, d.h. schriftlich und adressiert33. Eine gemäßigtere Form der These liest das Selbstverständnis der Paulusbriefe in der Tradition der „frühjüdischen gemeindeleitenden Briefe", insbesondere der Prophetenbriefe34. Unbestritten ist, dass sich der gemeinsame religiöse Horizont dieser frühjüdischen Tradition und der Paulusbriefe auch sprachlich, gerade im Briefrahmen, niederschlägt. Dennoch besteht ein fundamentaler Unterschied in der Relation zwischen Autor und Adressatlnrien, der die ganze Briefpragmatik wesentlich bestimmt: In den meisten Briefen schreibt Paulus als Gemeindegründer an eine bestimmte Gruppe von Menschen, die erst durch sein Tun entstanden ist, und über bestimmte Anliegen, die sich aus dem Weiterleben der Gemeinde nach der Abreise ergaben. Die unten ausgeführte Topik zeigt, dass er dabei die briefliche Beziehungspflege beherzigt35. Die frühjüdischen Briefe haben hingegen eine allgemeinere Adresse und richten sich nicht an eine neu begründete Gemeinschaft, sondern aus Jerusalem bzw. Judäa an Diaspora-Juden, die so an das Mutterland gebunden werden

33

Vgl. ausführlich Berger 1974, 207ff. Er bürdet der paulinischen salutatio χάρις Kai ειρήνη κτλ. zu viel auf: Sie beinhalte in frühjüdischer Semantik die vollmächtige Vermittlung dieser Heilsgüter durch den Apostel, deren Absender eigentlich Gott sei (1974, i9iff, Letzteres mit Verweis darauf, dass die Präpositionalwendungen άπό bzw. παρά den Absender bezeichnen). Das entspreche der Auffassung, dass der Apostel Ubermittler von Heilsgütern sei (a.a.O., 201). Das ist aber weder semantisch noch pragmatisch als Leseanleitung für den ganzen Brief plausibel. Schnider / Stenger 1987, 26ff nennen m.E. bereits die zentralen Kritikpunkte: Erstens unterscheidet Paulus innerhalb seiner Briefe Offenbarungsmitteilungen von anderen, zweitens wird dies den persönlichen, situationsbezogenen, d.h. aber gerade brieflichen Aspekten der Schriften nicht gerecht; drittens ist die Deutung des Lexempaars ohne Rücksicht auf den paulinischen Sprachgebrauch kaum plausibel.

34

So Taatz 1991, bes. l i i f f . Sie vergleicht die Paulusbriefe mit Briefen, die aus Jerusalem an Diaspora-Gemeinden gesandt wurden, um auf diese Einfluss zu nehmen (vor allem mit den Einleitungsbriefen des 2 Makk und den Briefen der Jeremia-BaruchTradition). Parallelen sieht sie im Formular und im Autoritätsverständnis, mit dem Paulus an das prophetische Selbstverständnis anknüpfe, das die Prophetenbrieftradition bezeugt. Auch Berger 1974, 215 ff verweist insbesondere auf die JeremiaBaruch-Tradition. Etwas anders Vouga 1992, l i f f , der nur den 1 Thess auf eine frühjüdische synagogale Brieftradition zurückführen will, die in den Einleitungsbriefen des 2 Makk und SyrBar 78ft überliefert sei.

35

Auch der Rom, an eine Gemeinde gerichtet, der gegenüber der Paulus nicht auf eine Legitimation als Gemeindegründer zurückgreifen kann, setzt nicht voraus, dass mit dem Formular der Briefe bereits der theologisch unumstrittene Charakter des Inhalts akzeptiert ist. Vielmehr zeigen Bescheidenheit, Legitimation des Apostels und vor allem argumentativer Aufwand, dass der Briefschreiber davon ausgeht, dass er seine Akzeptanz erarbeiten muss

56

Im Brief gesagt

sollen und der Unterrichtung oder Erbauung bedürfen 36 . Ihrem Selbstverständnis vergleichbar sind deshalb erst die „katholischen Briefe", welche die paulinische Briefform in diesem Sinne weiterentwickelt haben37. Die „Offenbarungsliteratur" entbehrt ganz der den Paulinen vergleichbaren Kommunikationsrelation. Auch die nicht nur in diesen Thesen begegnende Etikettierung von Briefen, Rede oder Autorität als „apostolisch" 38 ohne weitere Klärung dieses Begriffs ist irreführend, wie in § 4.1 ausgeführt werden wird 39 .

1.4 Beziehungspflege. Die spezifische Pragmatik der Gattung Brief für die Kommunikation Die Gemeindebriefe des Paulus sind also auch mit einer rein epistolographischen Analyse nicht zu erfassen. Im Vergleich mit anderen Briefen und Stilkriterien40 sind sie zu lang, sie verfolgen nicht nur ein Anliegen, sie sind auch nicht so klar, wie gefordert. Ihre Argumentationen und sprachlichen Mittel lassen sich mit der Lehre von der inventio und elocutio eher begreifen. Ihre religiöse Sprache ist jüdisch, aber von der Christuserfahrung überformt: Konvertiten sind theologisch und ethisch zu unterweisen, dringlich in Erwartung des baldigen Endes. Die Briefe wenden sich an ein Kollektiv, auf der Mitte zwischen dem privaten und dem offiziellen Brief. Schließlich unterscheiden sich die einzelnen Briefe des Paulus sehr voneinander, gerade in Weise und 36

Die frühjüdischen Briefe sind, was ihre Absender angeht, disparat, sind es doch Kollektive (in den beiden Einleitungsbriefen des 2 M a k k ) oder Propheten (in den Briefen der Jeremia-Baruch-Tradition).

37

So wirken etwa 1 Petr, 2 Petr und Jud mit ihrer weltweiten Adresse und einem fiktiven Autor, der teilweise als Offenbarungsempfänger gekennzeichet ist (Schnider/Stenger 1987, 33ft; vgl. auch White 1984, i752ff). Mit Recht bezieht Vouga 1992 daher die Gattung „Apostelbrief" nicht auf die Briefe des Paulus, sondern die in dieser theologischen und formalen Tradition geschriebenen, so dass auch die „ großen paulinischen Briefe" (d.h. nicht iThess oder Phlm) sich erst aus der Sicht dieser Rezeptionsgeschichte als neue Gattung erkennen lassen (vgl. bes. 18f, Zitat 18; er zieht allerdings keine Linie zur jüdischen Tradition).

38

Neben Berger tendiert vor allem White in verschiedenen Untersuchungen dazu, die Paulusbriefe als Ausdruck apostolischer Autorität zu verstehen, vgl. bes 1983; 1984; vgl. weiter unten 2.2.1 zur sog. „apostolischen Parusie".

39

Vgl. ähnlich bereits die allerdings nicht weiter ausgeführte Kritik Bormanns an der These Taatz' und Bergers: Die These sei „das Ergebnis des Klischees vom paulinischen Autoritätsanspruch" (1995,103).

40

Vgl. zu den Kriterien Demetrius, de elocutione, bzw. Malherbe 1988, 13t; Reed 1993, 308 ff.

Zur Analyse von Briefen

57

Maß der Beziehungspflege 41 . Die Debatte darum, mit welchen Analysemitteln man die Paulusbriefe am besten für ein heutiges Verständnis erschließt, kann gar nicht zu einem Konsens führen. Es bleiben verschiedene Analysewege und Lektüren nebeneinander stehen, je nach Frageanliegen, untersuchtem Brief, bevorzugtem Briefteil und herangezogenem kulturellen Verstehenshorizont, die sich bestenfalls ergänzen42. Für unsere Frage nach der Bedeutung des Mediums für die Gestaltung der Beziehung des Paulus zu den von ihm gegründeten Gemeinden ist die briefliche Konvention der hellenistisch-römischen Welt gleichwohl aufschlussreich. Denn die dem Brief eigene Kommunikationssituation schlägt sich in briefspezifischer Form und Topik nieder43, und zwar in den privaten wie literarischen und philosophischen Briefen sowohl griechischer wie lateinischer Sprache. Wir haben damit also ein Kriterium, mit dem sich die Beziehungsrelevanz der paulinischen Briefe im Rahmen der antiken Briefkultur verstehen lässt. Bevor dies an einzelnen Elementen aufgewiesen wird (s. 2.), ist dieser an sich triviale, aber wenig gewärtigte Aspekt der Briefgattung zu vertiefen44. 41

Z.B. zeigt der Gal weniger typisch briefliche Aspekte als der Phil, den man am besten als Freundschaftsbrief auffassen kann. Deshalb lässt sich der Gal unter den Homologumena am ehesten wie eine Rede analysieren als „neuerliche Ausrichtung der gemeindebegründenden Evangeliumsverkündigung, als Redeersatz par excellence" (Schnider/Stenger 1987, 31t, Zitat 31). Es sind also auch im Hinblick auf den brieflichen Charakter keine pauschalen Urteile über alle Paulusbriefe zu fällen.

42

Einen Blick für die Beziehungskommunikation eröffnet z.B. auch die Sprechakttheorie, die den Handlungsaspekt einer Äußerung jenseits ihres Inhaltsaspektes würdigt; vgl. in Bezug auf Briefe die theoretischen Überlegungen von Vorster 1990, der genauer eine „conversational analysis" wählt (1990, 110ff), und die Lektüre des 1 Thess als Sprechakt durch Bickmann 1998.

43

Dies ist festzuhalten gegen ein Urteil wie das Hübners (1984, 245), der unter Bezugnahme auf die Funktion des Briefes, den Absender zu vergegenwärtigen (vgl. unten 2.2), schreibt: „Gehört die Parusie des Briefschreibers zur Hauptfunktion des Briefes, so ist dadurch die Diastase von Brief und Rede im Grundsatz durchbrochen." Er sieht das für den speziellen Fall des Paulusbriefes um so mehr gegeben, als die apostolische Aufgabe dem Wesen nach mündlich gewesen sei und der Apostel, „sofern er schreibt, ,redend schreibt'". Hübner verwischt die Spezifik der öffentlichen Rede innerhalb der mündlichen Kommunikation und verkennt, dass die Ersatzfunktion des Briefes diesem wesentlich ist, d.h. auch Form und Topik bestimmt, und ihn gerade nicht zur Rede macht.

44

Auch M. Müller (1997, 36ft) weist darauf hin, dass den Charakter der paulinischen Briefe verkennt, wer mit dem „Netz" eines - zudem ungeklärten - Rhetorikverständnisses in ihnen „fischt". Wie wir bestimmt er den Unterschied in der Relation zwischen Absender und Adressatin als einer bereits bestehenden Gemeinschaft (53). Er theologisiert ihn jedoch: „Paulus schreibt weder aus eigener Autorität noch



Im Brief gesagt

"The letter arises because of the inability of two or more parties to communicate face to face" 45 . Diese Bedeutung des Briefes mag heute, da der permanenten Kommunikation keine Grenzen mehr gesetzt sind, leicht unterschätzt werden. Denn sie gibt auch den paulinischen Briefen eine grundlegend andere Performanz als die einer Rede, auch als der Erstverkündigung 46 . Ein antiker Brief setzt die Abwesenheit des Autors, d.h. räumliche und auch zeitliche Distanz zwischen Abfassung und Lektüre voraus, findet aber gerade seine Bestimmung darin, die Entfernung zu überbrücken. Briefe wenden sich deshalb einem ganz bestimmten Publikum persönlich zu, weshalb die Ableitung der Gattung vom Dialog treffend ist47. Paulus richtet sich an Adressatinnen, mit denen er eine christliche Uberzeugung teilt und denen er bekannt ist. Abgesehen vom Rom schreibt er an Glieder einer Gemeinde, die er selbst gegründet hat48. Die Briefe bauen auf dieser Bekanntschaft und gemeinsamen Geschichdurch andere autorisiert, sondern als Apostel an eine Gemeinde." Er vertrete also nur das Interesse seines ihm aufgetragenen Apostolats. Die angeschriebene Gemeinschaft gehorche als Kirche Gottes anderen Kriterien als die communio, auf die sich die Rhetorik richte, „ . . . und z w a r ganz nach dem Maße, in dem sich Apostolat und Evangelium entsprechen und ,so zur Geltung zu bringen sind, daß dadurch ekklesia entsteht', und Kirche bleiben k a n n " (50, unter Zitierung von Roloff 1993, 140, Hervorhebungen übernommen). Solch höhere Pragmatik der Briefe des Paulus w ä r e jedoch erst an den Texten zu erweisen. Dies gilt auch für die Behauptung, Paulus' Rede sei „verständnisorientiert", weshalb sie abzuheben sei von der „erfolgsorientierten" Rhetorik, nach der der rhetorical criticism forsche, denn sie habe die Menschen für Gott, nicht f ü r sich zu gewinnen (5if unter A u f n a h m e einer Unterscheidung Kopperschmidts). Es könnte sein, dass Müller einer rhetorischen Finesse des Paulus zum Opfer fällt, wenn er Gal 1,10 oder 1 Kor 2 , 1 - 5 a l s Indiz dessen liest, dass Paulus „ d i e Sprachpragmatik der Rhetorik gleichsam kreuzestheologisch ... durchb r e c h e ^ ) " (a.a.O., 52). 45

White 1984,1731. Selbst w e n n der 2 Kor sich dezidiert von dieser Funktion ausnimmt (vgl. unten 2.2.2), zeigt doch die ausführliche Begründung dessen, dass Paulus einen Brief schrieb anstelle eines offenbar möglichen Besuches, dass die „ E r s a t z f u n k t i o n " die übliche war.

46

Vgl. ähnlich auch Klauck 1998,166ff.

47

Diesen Aspekt verkennt etwa Probst 1991, 99f, der die Charakteristik des Briefs als Teil eines Dialogs moniert, weil der Gesprächspartner nicht wirklich zu Wort komme. Dem trägt ja gerade die A u f f a s s u n g , der Brief sei nur die „Hälfte des Dial o g s " , Rechnung. - Bosenius weist darauf hin, dass der Brief auch insofern den Charakter des „phasenverschobenen Dialogs" trägt, weil er zur Antwort anregt (1994, 85 im Anschluss an P. Bürgel). Sie berücksichtigt die Eigenheit der „Textsorte" Brief, jedoch weniger im Vergleich mit anderen Textsorten als im Vergleich zur persönlichen Anwesenheit; vgl. dazu unten Anm.141.

48

Damit soll nicht bestritten sein, dass die Briefe gerne eine weitere Leserschaft haben möchten (vgl. i K o r 1,2; einseitig betont dies Hartman 1986). Doch die implizten Leserinnen kennen den Autor persönlich.

Zur Analyse von Briefen

59

te und Überzeugung auf. Dies zeigt sich nicht nur in der für die Exegese so bedauerlichen, jedoch arbeitsbeschaffenden Tatsache, dass die Briefe viel Wissen bei den Adressatinnen voraussetzen. Sie müssen weniger als eine Rede ihr Publikum auf ein gemeinsames Wissensniveau bringen. Es zeigt sich auch daran, dass die Briefe auch dazu dienen, die gegenseitige Beziehung aufrecht zu erhalten, und dass sie das gegenseitige Verhältnis thematisieren. Die Paulinen partizipieren mit dieser Referenz auf die gegenseitige Beziehung an dem Wesen der antiken Briefkultur, der der Freundschaftsbrief als das Briefkonzept galt 49 . Freundschaft wollte idealiter die σ υ ν ο υ σ ί α , das Zusammensein, so dass die räumliche Trennung den Brief als Mittel ihrer Überbrückung unmittelbar einforderte 50 . Diesen üblicherweise als φιΛοφρόνησις bezeichneten Aspekt des Briefes mögen wir heute „Pflege freundschaftlicher Beziehungen" nennen. Wer einen solchen Brief erhielt, schätzte ihn als Ausdruck der Nähe des Absenders. Der beziehungsbezogene Aspekt eines Briefes ist durch den für diese Gattung typischen Rahmen von „ B e g r ü ß u n g " und „Verabschied u n g " realisiert (vgl. 2.1.1). Darüber hinaus gibt es konventionalisierte briefspezifische Topoi, die der φιΛοφρόνησις dienen. Dies zeigen vor allem die Untersuchungen Koskenniemis und Thraedes 51 . In diesen Formeln und Topoi 52 sprechen auch die Paulusbriefe, wenn auch in

49

So dezidiert Bünker 1983, 22; vgl. Thraede 1970, 3f.2if gegen Koskenniemis Spätdatierung des Freundschaftsbriefes aufgrund fehlender Papyrus-Zeugnisse; zum Freundschaftsideal als Hintergrund der Briefliteratur Stowers 1986, 27ff.

50

Vgl. Koskenniemi 1956, 37f.

51

Thraede wies auf, dass die „Phraseologie", die Koskenniemi im griechischen Sprachbereich anhand der vor allem nachchristlichen Papyrusbriefe aufzeigte, bereits in Briefen der spätrepublikanischen Literatur greifbar ist (vgl. bes. 1970, yyf; vgl. auch Probst 1991, 85ff, der die Thematisierung des gegenseitigen Verhältnisses z.B. für die Briefe Ciceros, Ovids und Senecas konstatiert).

52

Die Unterscheidung zwischen „Formel" und „Topos" ist nicht immer klar, wie auch der Sprachgebrauch der Forschung uneinheitlich ist (vgl. Klauck 1998,154). Mir geht es vor allem darum, dass die Formel als syntaktische Größe eine feste Oberflächenstruktur realisiert, während mit Topoi hier Gedankenfiguren, Motive bezeichnet sind, die allgemein verbreitet sind, also semantisch, aber nicht notwendig syntaktisch wiedererkennbar sind. Sie können mehr oder weniger elaboriert sein (vgl. ähnlich Mullins 1973, 357; Aune 1987, I72ff; zum vielfältigen Gebrauch des Wortes „Topos" in der Beschreibung antiker Texte vgl. Thom 2003, der allerdings epistolare Topoi wie die hier vorgestellten nicht in Betracht zieht). - Den Ansatz bei der Topik wählt auch Bünker 1983, 2 3 f t der damit jedoch anders als hier das - m.E. nur verfehlbare - Ziel anstrebt, die soziale bzw. kulturelle Position des Briefautors und der implizierten Leserinnen zu bestimmen.

6o

Im Brief gesagt

eigenem Idiom53. Eine Übersicht wird diese gattungstypische Seite der Paulusbriefe erhellen, bevor die Analyse ausgewählter Texte in § 6-8 zeigt, wie die Beziehung inhaltlich erarbeitet wird. Wenn die Briefkonvention hier als Schlüssel zum Verständnis der Paulusbriefe herangezogen wird, ist damit nicht behauptet, dass die Paulinen reine Freundschaftsbriefe seien. Immer liegt ihnen auch die Weitergabe eines Inhaltes, von Bitten, von Ermahnungen am Herzen. Doch geht es ihnen dabei auch um die Aufrechterhaltung der - nicht symmetrisch verstandenen - Beziehung. Denn die Beziehung ist selbst ein Teil der „Sache", ebenso wie auf anderer Ebene auch die Gemeinschaft der Adressatinnen ein Anliegen der Briefe ist. Freilich differiert das Verhältnis zwischen Sachinformation und „Verbindungspflege" situationsabhängig in den einzelnen Briefen. Die Kategorie der φίΛοφρόνησις im engeren Sinne scheint auch für die meisten paulinischen Briefe zu optimistisch, weil die Beziehung nicht unumstritten ist. Doch selbst dann zeigen die Briefe die für diese Gattung typische Bezogenheit auf die wechselseitige Beziehung54.

53

Die Originalität der paulinischen Briefe im Rahmen der antiken Briefliteratur hat insbesondere Köster 1979 betont, der den iThess als "experiment in Christian writing" (so der Untertitel) versteht. Wenn demgegenüber hier die Kontinuität zur brieflichen Konvention betont wird, soll dies das Recht der Beobachtungen Kösters nicht schmälern, auch wenn wir nicht wissen, ob der 1 Thess tatsächlich der allererste christliche Brief war (so dezidiert 40: "There were no precedents.").

54

Phänomenologisch gesehen eignen sich Briefe (als „digitale Kommunikation") besonders zur Thematisierung der Beziehungsebene, weil sie, anders als das direkte Gespräch mit seinen nonverbalen Mitteln („analoge Kommunikation"), die Beziehung nur verbal explizieren und beeinflussen können. Vgl. Bosenius 1994, 88f in Aufnahme einer Unterscheidung P. Watzlawicks.

Form und Topik der Paulusbriefe

6l

2 Zur Form und Topik der paulinischen Briefe 2.1

Der Anspruch der Briefe. Zur Applikation der Formsprache des Briefrahmens und der brieflichen Formeln 55

Die A n w e n d u n g von brieflichen Form-Konventionen durch Paulus ist gut untersucht und bekannt. Hier geht es nur darum, die Wirkung im Blick auf die Kommunikation zu beschreiben 56 .

2.1.1

Die Inszenierung der religiösen Begegnung. Präskript und Eschatokoll

Der feste Rahmen der Briefe zeigt ihre kommunikative Absicht, als persönliche Begegnung zwischen zwei bestimmten Menschen zu wirken 5 7 , die sich anfangs begrüßen, am Schluss Lebewohl sagen. Das paulinische Präskript qualifiziert Adressanten und Adressatinnen dabei im Blick auf ihr religiöses Selbstverständnis, den oder die Absender als „ A p o s t e l " oder „Diener Jesu Christi", die Adressierten als „Heilige", „ B e r u f e n e " etc58. In der superscripts differieren die Briefe, nicht nur, w a s die Nennung unterschiedlicher Adressanten neben Paulus betrifft 59 . Auch die

55

Vgl. die Übersicht bei White 1984, i733ff (allgemeine "documentary letter tradition" ) und i739ff ("apostolic letter tradition"). Koskenniemi 1956, 64K listet weitere Phrasen auf, die sich wiederholt in den Papyrusbriefen finden, etwa die Bitte um eine Beantwortung des Briefes; vgl. auch Klauck 1998, 35ft zu den „Aufbauelementen" eines Briefes oder die Übsicht Roetzels 1998, 8iff über die Formcharakteristika der paulinischen Briefe sowie Aune 1987, i8iff zum Briefrahmen der unter Paulus' Namen überlieferten Briefe.

56

Vgl. für das folgende White 1984; Schnider/Stenger 1987.

57

Vgl. Koskenniemi 1956, 155 mit Carl Dziatzko, Art. Brief, in: PRE 3,1 (1897) 836-843: 838f. J.L. White 1993, i46ff hebt auf den vergleichsweise familiären Charakter der paulinischen Anreden ab und stellt sie in Beziehung zum Konzept der familia Dei.

58

Vgl. Schnider/Stenger 1987, 3ff zu den Einzelheiten; vgl. auch Vouga 1992,16-18 zu dieser Einschreibung des Kommunikationszusammenhanges. Sie thematisieren allerdings nicht die Beziehungspragmatik.

59

Die Nennung mehrerer Adressanten gibt den paulinischen Briefen einen repräsentativeren Charakter; vgl. zur Diskussion den Exkurs nach § 2.

62

Im Brief gesagt

intitulatio variiert, und zwar dem brieflichen Anliegen entsprechend 60 . Dies zeigt ihre Relevanz für die briefliche Beziehung. Stets geht es aber, wie der Gal expliziert, um eine Legitimation von Gott bzw. Christus her, nicht von der Gemeinde, und auch nicht um eine spezifische Rolle in der Gemeinde. Die Intitulationen des Präskripts schreiben mit der Differenzierung zwischen Absendern und intendierten Leserinnen in ihrer religiösen Position bereits ein Gefalle ein. Die paulinische Gewohnheit, die Adressatinnen in den Briefen als „Brüder und Schwestern" anzureden, unterstreicht die Nähe und bestärkt das christlich begründete Zusammengehörigkeitsgefühl (vgl. den Exkurs nach § 6). Die konventionelle salutatio hebt und verdichtet das profane χαίρε ιν, wiederum je variabel 61 , zu dem religiösen Wunsch χάρις κ α ι ειρήνη 6 2 . Indem es für die so Gegrüßten um Wachsen in der Gemeinschaft mit Gott bittet63, stellt es die Begegnung in den Horizont der gemeinsamen Gottesbeziehung. Dieser bleibt auch im Korpus selbst durch liturgische Elemente aufgespannt 64 . Z u einer Inklusion mit der salutatio wird das Eschatokoll65, das wie diese christlich modifiziert ist, hier zu einem Segenswunsch. Es behält jedoch die epistolare Funktion des Schlussgrußes, „nämlich 1. am Schluß des Briefes die zwischen Briefschreiber und Adressaten bestehenden Beziehungen in einem Wunsch für das Wohlergehen der letzteren noch einmal anzusprechen, und 2. zugleich durch die Eigenhändigkeit auf die Authentizität des Briefinhaltes hinzuweisen, indem sie den

60

Vgl. im einzelnen Schnider / Stenger a.a.O., yii. So kommt z.B. der iThess ohne eine solche aus, während der Gal umgehend die göttliche Legitimation von irgendwelchen anderen abgrenzt. Der Rom schließlich mutet seinen Leserinnen einen langen Satz zu, um die Lektüre des Briefes als eines Schreibens einer religiösen Autorität zu sichern gegenüber der Gemeinde, die ihn nicht kennt oder gar verkennt.

61

Zum Zusammenhang zwischen konkreter Formulierung und Briefanliegen vgl. Schnider/ Stenger 1987, 32 f.

62

Diesen Zusammenhang vermuten Koskenniemi 1956, 162; Stowers 1986, 21. Zum epistolaren Charakter vgl. auch Schnider / Stenger 1987, 32; anders freilich Berger 1974, 201; vgl. dazu oben 1.3.

63

Vgl. zu dieser Deutung des Lexempaars unter Aufnahme der Untersuchungen W. Schenks Schnider/Stenger 1987, 29 ff.

64

Liturgische Elemente sind z.B. einleitendes Gebet, summarische Doxologien, Hymnen, Segenssprüche. Damit ist nicht die überholte These repristiniert, dass der Brief sich so als Teil der gottesdienstlichen Liturgie präsentiert (vgl. zur These und ihrer Widerlegung Schnider/Stenger 1987, 25 u.ö.).

65

Vgl. zum folgenden Schnider/Stenger 1987,131 ff.

Form und Topik der Paulusbriefe

63

Absender wenigstens in seiner Handschrift beim Adressaten ein Stück leibhaft anwesend sein läßt" 66 . Der Brief wird so als religiöse Begegnung inszeniert; die Kommunikantinnen werden als eine durch ihre Beziehung zu Gott und Christus verbundene und herausgehobene Gemeinschaft qualifiziert, die religiöse Legitimation des Briefautors wird jedoch eingangs betont6?.

2.1.2

Die Würdigung der Kommunikationsbeziehung mittels epistolarer Formeln

Brieftypische Formeln, die uns in den Paulusbriefen begegnen 68 , unterstreichen und qualifizieren die Kommunikationsbeziehung. Die disclosure- oder Kundgabe-Formel69 hebt den Kommunikationswunsch des Absenders hervor, indem sie einen Inhalt als dessen Verlautbarung für die Adressierten einleitet. Gefühlvoller wirkt der Ausdruck von Freude über den Empfang eines Briefes und gute Nachrichten vom Adressaten70, auch umgekehrt als Aufforderung zur Freude bei Eintreffen des von Paulus an die Gemeinde gesandten Epaphroditus (Phil 2,28t). Mit66

Schnider/Stenger a.a.O., 133. Sie laden allerdings den Schlusssegen unangemessen auf als rückwirkende Anleitung, den Brief zu lesen „als in apostolischer Rede ergeh e n d e ^ ] Zuspruch der Zuwendung Gottes" (134). - Der in 1 Kor 16,21; Gal 6,11 und Phlm 19 begegnende Eigenhändigkeitsvermerk, der an die illiteracy formula erinnert, die einen diktierten Brief für den schreibunkundigen Absender autorisiert, dient wohl dazu, den Inhalt juristisch (Phlm 19) bzw. quasi rechtlich in Geltung zu setzen (so Schnider/Stenger 1987, I35ff; auch Kremendahl 2000, 42-48 in Bezug auf Gal), nicht jedoch, eine besondere „apostolic authority" zu übermitteln (so White 1984,1740 f).

67

Eine derartige Betonung der religiösen Autorität fehlt jedoch noch im 1 Thess.

68

Vgl. White 1972; Mullins 1972; Schnider/Stenger 1987,168ff. Die Formeln werden oft im Blick auf ihre briefstrukturierende Funktion diskutiert. Dieser Aspekt wird hier übergangen.

69

Die Formel fällt u.a. in Rom 1,13; 11,25; i K o r 10,1; 12,1; Phil 1,12; 1 Thess 4,13. Vgl. Mullins 1964/65, der als Elemente der in Papyrusbriefen häufig belegten Formel analysiert: θέλω, verbum cognoscendi, adressierte Person und Information. Im NT ist die Formel in der Regel um den Vokativ erweitert. Vgl. auch White 1971, 93; 1972, 2ff; Schnider/Stenger 1987, i7if.

70

Vgl. 1 Thess 3,6-9. In 2 Kor 7,6f.9.i3.i6f und Phlm 7 sind Trost und Freude parallelisiert; in i K o r 16,17t bezieht sich die Freude auf die Anwesenheit von Gemeindegesandten, in Phil 4,10 auf den Erhalt von Unterstützung. Vgl. zu den Elementen der Formel um χάρις κτλ. White 1971, 95t; 1972, 22f; Schnider/Stenger 1987, 175-177; zur außerneutestamentlichen Verwendung Koskenniemi 1956, 75 ff, der den philophronetischen Charakter der Formel würdigt; White 1972, 22f.

64

Im Brief gesagt

tels der Rekursformel^ die sich eigentlich auf frühere Instruktionen bezieht, und entsprechender Formulierungen verbindet der Brief seine Gegenwart mit der gemeinsam geteilten Vergangenheit. Auch die Vertrauensäußerungen72 tendieren zur Formelhaftigkeit. Sie verstärken das Briefanliegen wie eine captatio benevolentiae, aber suggerieren auch eine gute Beziehung der Adressierten zum Adressanten. Sie wirken mit der Unterstellung, dass das Briefanliegen positiv aufgenommen wird, auf dessen Erfolg hin, ebenso wie mit der Andeutung, dass der Autor sonst persönlich enttäuscht wäre 73 . Auch die Einleitung von Bitten mit παρακαλώ entspricht Gepflogenheiten in privaten wie offiziellen Briefen. Die Wahl des Verbs unterstützt das gegenseitige Einvernehmen 74 .

2.1.3

Die Erinnerung an die gemeinsame Zeit. Die Danksagung

Die in den Papyrusbriefen gelegentlich bezeugte Gepflogenheit, eingangs den Göttern zu danken, vielleicht am Platz der üblichen Gesundheitswünsche 75 , ist in den Paulusbriefen fast zum Topos weitergeführt 76 . Sie hat erkennbar feste syntaktische Strukuren, beginnend

71

Am deutlichsten 1 Thess 4,1t; man könnte auch Gal i,8f oder Phil 3,1; 4,4 so verstehen (vgl. Schnider/Stenger 1987,168ff).

72

So Rom 15,14; Gal 5,10; Phlm 21 mit πέποιθα, anders formuliert auch 2 Kor 7,4.16 und 9,if. Vgl. Olson 1985, aber auch schon White 1972, 64t.

73

So besonders deutlich Phlm 21 und Gal 5,10; vgl. auch 2 Thess 3,4. Olson weist daher zu Recht darauf hin, dass die Aussagen ihres persuasiven Charakters wegen nicht unmittelbar als Indiz des Standes der Beziehungen ausgewertet werden können (a.a.O., 295).

74

Den brieflichen Hintergrund und die Semantik hat Bjerkelund 1967 aufgewiesen, auch wenn seinen Schlussfolgerungen für das NT nicht ganz zu folgen ist (vgl. § 7.1.1 ad 1 Kor 1,10).

75

Den Nachweis führte P. Schubert 1939, i59ff; vgl. Stowers 1986, 2 i f ; White 1984,1741. Zu den Gesundheitswünschen vgl. unten. Der Zusammenhang liegt darin, dass die gute Gesundheit des Absenders oder Empfängers ein Grund zum Dank an die Götter ist.

76

Die Danksagung ist in späteren christlichen Briefen aber selten (vgl. Stowers 1986, 2if). Die Abgrenzung der brieflichen Danksagungen ist z.T. umstritten. Ich folge hier Schnider/Stenger 1987, 42ft, die auf Basis früherer Forschungsergebnisse Whites u.a. die Danksagung noch zum Briefrahmen zählen und aufzeigen, wie epistolare Formeln ihre Abgrenzung markieren. Eine solche Danksagung bzw. ihr Ersatz (Gal, 2 K o r ) liegt dementsprechend vor in Rom 1 , 8 - 1 2 ; i K o r 1,4-9; 2 K o r 1 , 3 - 7 ; Gal i,6f; Phil 1 , 3 - 1 1 ; Phlm 4-7. Die Danksagung in iThess ist nach Schnider/Stenger verdreifacht in 1 , 2 - 1 0 ; 2,13-16; 3,9-13.

Form und Topik der Paulusbriefe

65

mit εύχαριστώ resp. εύχαριστοϋμεν τώ θεώ 77 . Die sog. Danksagung ist also nicht ein an Gott gerichtetes Gebet78, sondern der Bericht über ein Gebet. Inhaltlich bezieht sie sich - abgesehen vom Rom - auf den Beginn der Glaubensgeschichte, und meist führt sie von der Vergangenheit in die Zukunft 79 . Es versteht sich von selbst, dass die Pragmatik der Danksagung nicht in der Information über das Gebet oder über diese Glaubensgeschichte aufgeht, sondern auf die Beziehung der Kommunikantinnen zielt. Im Sinne einer captatio benevolentiae will sie die vor Gott indirekt Gelobten zu geneigten Leserinnen machen80. Aber sie vergegenwärtigt auch die erfolgreiche Mission des Gemeindegründers 81 . Und mehr noch: Da das Lob der folgsamen Haltung dem Evangelium des Briefautors gilt, werden die Leserinnen implizit aufgefordert, eben diese Haltung auch für die Brieflektüre wieder einzunehmen. Der Briefautor motiviert auch zur Vergegenwärtigung der Beziehung. Denn mit der fast stereotypen Erweiterung des εύχαριστοϋμεν κτΛ. um ein πάντοτε bezeugt er, dass er seinerseits die Verbindung mit der Gemeinde auch jenseits der brieflichen Kommunikation „allezeit" aufrecht erhält82.

2.1.4

Eine Explikation des Gedenkens. Grüße

Am Schluss des Briefes Grußaufträge und Grußausrichtungen zu platzieren, entspricht den brieflichen Konventionen 83 . Eine Beziehung zwischen Briefautor und Adressat knüpfen gerade die Grußaufträge. 77

Die Danksagung ist aus der Perspektive der 1. Pers. formuliert und spricht die Adressatinnen an. Zur Struktur vgl. bereits Schubert 1939, 34ft, der treffend feststellt: "the thanksgiving structure is characterized by a basic bipolarity, a double focus ...: the addressant and the addressee" (1939, 37). Vgl. Schnider/Stenger 1987, 46t; etwas anders Lambrecht 1994a, 323ff.

78

So fälschlich z.B. White 1984,1741, der daraus ein liturgisches setting ableitet.

79

Vgl. zur Zukunftsperspektive Lambrecht 1994a, 324^328.

80

Vgl. so Berger 1974, 2i9ff.223f, der aufgrund dieser Funktion die These der Herkunft aus dem hellenistischen Brief abgeschwächt sieht. Damit ist aber die Funktion zu eindimensional bewertet.

81

Der Zusammenhang zur Missionsarbeit ist aber nur in 1 Thess 1,5 ft expliziert.

82

Dass die Danksagung im Falle der gespannten Beziehungen (Gal, 2 K o r ) abgewandelt ist, bestätigt diese Funktion via negativa.

83

Vgl. Koskenniemi 1956,148ft; Mullins 1968. Auch die Intensivierung mit der Aufforderung zum „heiligen Kuss" ist topisch. Vgl. Schnider/Stenger 1997, 122t im Anschluss an Thraede gegen die Annahme, dies spiegele den gottesdienstlichen Sitz der Briefverlesung wider.

66

Im Brief gesagt

Während in den meisten Paulusbriefen nur pauschal Grüße ausgetauscht werden, dient insbesondere die Grußausrichtung Rom 16,3 ff zur Ergänzung der unpersönlich kollektiven adscriptio. Die namentliche Nennung einzelner knüpft ein besonderes Band zu diesen84, um das Manko der fehlenden persönlichen Bekanntschaft zu kompensieren85. Das Fehlen jeglicher Grüße im lakonischen Schluss des Gal lässt umgekehrt die skeptische Einschätzung vom „Stand der Beziehungen" erkennen, e silentio vielsagend.

2.2 Zur beziehungsbezogenen Topik der Paulusbriefe 86 Die Topoi wirken aufgrund ihres konventionellen Verständnisses, dass der Brief das eigentlich gewünschte Zusammensein der Freunde realisiert. Sie gewärtigen die zentralen „ideologischen Grundlagen" 87 , die Koskenniemi für den griechischen Brief herausgestellt hat, Philophronesis, Parusia (Quasi-Anwesenheit) und Homilia (das Gespräch) 88 . Der Brief nimmt dabei die Zeit des Empfangs vorweg, in der er sich eigentlich erst verwirklicht 89 . Die Nähe zum Freundschaftskonzept erklärt sich damit, dass dieses wie der freundschaftliche Brief auf reale

84

Nach Schnider und Stenger dient der Grußauftrag darüber hinaus dazu, „die Verbreitung des Briefes in der Empfängergemeinde einzuschärfen", indem er den postalischen Adressaten zwingt, vom Erhalt des Briefes zu berichten. Der Grußauftrag sorgt also für die Verbreitung der brieflichen Anwesenheit des Absenders am Ort des Briefempfangs (1987, i2iff, Zitat 122). Dies entspricht der Zirkulationsaufforderung iThess 5,27 (vgl. Kol 4,16). Zur Bedeutung dieser beschwörenden Vorleseanweisung vgl. Oestreich 2004, der in ihr ein Mittel sieht, Beziehungen zwischen den Gemeindegliedern und damit die Beziehung der Gemeinde zu Paulus zu gestalten. Dieser zeige so seinen Willen, dass alle Gemeindeglieder, nicht nur die ersten Rezipienten des Briefes, in derselben Beziehung zu ihm stehen.

85

Zur Grußliste Rom 16 als Mittel der Kontaktpflege bzw. Stiftung von neuen Kontakten, auch zwischen den Gemeinden, s. Reichert 2001, 330ff; vgl. Ollrog 1980, 235ft; Schnider / Stenger 1987,124t.

86

Vgl. neben den genannten Arbeiten Klauck 1998,152ft; Bünker 1983, 24ft (reduziert auf zwei Haupt-Topoi, die „Als-ob-Unmittelbarkeit" und die „Als-ob-Gegenwart"). 3iff (philophronetische Phrasen); Schoon-Janßen 1991, 39ft. Thraede 1970 erkennt nur das Parusia-Motiv im NT wieder, und das nur dreimal (vgl. unten).

87

So Klauck 1998,153 über die These Koskenniemis.

88

Koskenniemi 1956, 34ft.

89

Koskenniemi 1956,186ff; dies zeigt sich etwa am Tempusgebrauch wie dem auch bei Paulus begegnenden brieflichen Aorist, der aus der Perspektive des Brieflesers auf die Abfassung zurückschaut (a.a.O., 190ft).

Form und Topik der Paulusbriefe

67

Freundschaften zurückgeht90. Sowohl nicht-literarische Papyrusbriefe wie literarische der römischen Briefschreiber lassen die Verwendung bestimmter Topoi erkennen, welche die Korrespondenten ihrer Gemeinschaft performativ vergewissern.

2.2.1

„Apostolische Parusie" und „briefliche Selbstempfehlung" als Topoi in Paulusbriefen?

Die These, Paulus habe in eigentümlicher Weise den griechischen ParusiaT o p o s weiterentwickelt z u m T o p o s der „apostolischen P a r u s i e " , w i r d hier nicht übernommen. Diese B e h a u p t u n g Funks (1967), die Schnider u n d Stenger bekräftigen 9 1 u n d etliche rezipieren 9 2 , bezieht sich auf die A u s s a g e n der Briefe über Reisepläne. W ä h r e n d Schnider u n d Stenger sich auf die Besuchsankündig u n g e n a m Schluss des Briefkorpus, nach ihrer D e u t u n g Teil der Schlussparänese, beschränken 9 3 , bezieht Funk weitere Texte ein 94 . N a c h ihm handelt es sich bei der "apostolic parousia" u m einen v o n Paulus aus konventionellen V o r g a b e n entwickelten Briefteil, der die drei Weisen der Präsenz des Apostels in der G e m e i n d e reflektiere: den Brief " a s an anticipatoric surrogate for his (sc. P a u l ' s ) p r e s e n c e " , die S e n d u n g v o n Boten u n d den Besuch. " T h r o u g h these m e d i a his apostolic authority and p o w e r are m a d e effective." 9 5 A l s Teile dieser Form, die am deutlichsten in R o m 15 vorliege, bestimmt Funk u.a. die emphatische Selbst-Thematisierung seiner Person ( w i e Phlm 1 9 ; G a l 5,10; R o m 15,14t), Rekurse auf die Beziehung zu den E m p f ä n g e r n u n d die "apostolic p a r o u s i a " im engeren Sinne, d.h. A u s s a g e n über geplante Besuche oder die E n t s e n d u n g anderer 9 6 . Ich halte diese Kategorie aus z w e i G r ü n d e n f ü r heuristisch ungeeignet. Erstens fasst sie unterschiedlich Thematisiertes zu grob z u s a m m e n . Ich unterscheide d a r u m die Topoi v o n der Quasi-Anwesenheit, der Sehnsucht u n d die Reisepläne 9 7 . Die A u s l e g u n g e n v o n i T h e s s 2 , 1 7 f t (§6.5.1), i K o r 4,14ft ( § 7 . 4 ) u n d Gal 4,12 ft ( § 8 . 4 ) w e r d e n auch zeigen, dass die These F u n k s die

go

Mit Thraede 1970, 64 f.

91 92

Vgl. dies. 1987, 92ft. Vgl. z.B. White 1972, 6off.85 (Parusia als Briefkorpusabschluss); 1984, 1745ft; Berger 1984, 1331t; Aune 1987, 190t; Jervis 1991, 110-131; Probst 1991, 62 und Rötzel 1998, 77.87; Schnelle 1999, 55t; Eckstein 2004, 269t allgemein; Wünsch 1996, 310-317 in Bezug auf 2 Kor 8,16-9,5; vgl. auch die Auslegung von 1 Thess 2,17 in § 6.5.1.

93 94

Rom 15,14-19; 1 Kor 16,1-12; 2 Kor 12,14-13,10; Phil 2,19-30; Phlm 22. Rom i,8ff; i K o r 4,14-21; iThess 2,17-3,13; Phil 2,19-24.25-30; Gal 4,12-20 und 2 Kor 9,1 - 5 ; 8,6-23; vgl. die Zusammenstellung Funks 1967, 253t. Funk a.a.O., 266. Funk a.a.O., 25iff; White 1984,1746 ergänzt hier noch den Bezug auf die Vergangenheit. Vgl. zu Letzterem bereits die Kritik von Mullins 1973; Aune 1987,190 f.

95 96 97

68

Im Brief gesagt

Textintention nur ungenau trifft. Zweitens ist der behauptete Topos der „apostolischen Parusie", wie das obige Zitat zeigt, belastet mit der Annahme einer vollmächtigen Gegenwart, der „apostolic presence" 98 . Dies unterscheide den paulinischen Topos qualitativ von der Topik der Freundschaftsbriefe 99 . Doch wäre die implizite Prämisse erst zu beweisen, dass die Gegenwart des Paulus in der Gemeinde, sei es brieflich, durch Gesandte oder persönlich, als spezifisch „apostolisch" verstanden wurde, und vor allem, dass die „apostolische Parusie" als briefliche Form qua Form nicht nur eine enge Verbundenheit mit den Gemeinden, sondern eine vollmächtige Autorität vermitteln sollte. Die Beschreibung der Passage bzw. dieser Autorität als „apostolisch" 100 - der Term απόστολος spielt in den besagten Kontexten keine Rolle - kaschiert, dass die Autoritätsfunktion des Autors für die jeweilige Gemeinde in der brieflichen Kommunikation nicht einfach vorausgesetzt war (vgl. bereits oben 1.3 und § 4·1)·

Als ein gewisses Pendant zur sog. Parusia wollen Schnider und Stenger die „briefliche Selbstempfehlung" als letzten regelmäßigen Teil des paulinischen Briefanfangs ausmachen 101 . Die Rhetorik wirke an dieser Stelle auf diese Briefe, da sich diese ja nicht wie sonst an eine Einzelperson richteten. Die Selbstempfehlung entspreche der Aufgabe des Rede-Exordiums, das Ethos des Redners zu repräsentieren 102 , sie habe ihre funktionale Notwendigkeit dadurch, „daß der paulinische Brief zugleich apostolische Rede ist" 103 . Schnider und Stenger deuten dies freilich - bewusst oder nicht - auch im Sinne der sonstigen epistolaren Topik als „Gegenwart des Briefschreibers bei den Adressaten" 104 , und stellen zu Recht fest, dass die Texte mehrfach auf die gemeinsame

98

Funk 1967, 249 u.ö.; vgl. auch a.a.O., 258t: "The significance Paul attached to his personal presence in relation to letter and emissary might be deduced from the structure of the apostolic parousia itself had Paul not made the point explicit". Ähnlich formuliert White 1984,1745.

99

Funk a.a.O. 2 6 3 ^ vgl. Schnider/Stenger a.a.O., 96f: Hinter der paulinischen Verwendung des Parusie-Motivs stehe „nicht der für den griechischen Brief bezeichnende Freundschafts-Gedanke, sondern das apostolische Bewußtsein des Paulus wie die besonderen Beziehungen, die er als Gemeindegründer zu seinen Gemeinden hatte" (96).

100 So Funk 1967, White 1984 und Schnider / Stenger 1987 passim. 101

Vgl. a.a.O., 51ft. Sie sei strukturell erkennbar durch ihre Einleitung mittels Kundgabeformel und Ablösung durch ein neues Thema. So identifizieren sie R o m 1 , 1 3 - 1 5 ; 1 Kor 1 , 1 0 - 4 , 2 1 ; 2 Kor 1 , 8 - 2 , 1 7 ; Gal 1 , 8 - 1 0 ; Phil 1 , 1 2 - 3 0 ; 1 Thess 2 , 1 - 1 2 ; 2 , 1 7 - 3 , 8 ; Phlm 7 - 9 . Ahnlich nennt Berger R o m 1 , 1 - 5 / 1 Thess 1,9t; Gal i , i f . 1 0 - 2 1 ; 1 K o r 1 , 1 0 - 4 , 2 1 und weitere Texte „ A p o s t o l i k o n " , definiert als „ d i e Selbsteinführung des Apostels zu Beginn eines Briefes", entwickelt aus der Selbstempfehlung hellenistischer Briefe. Wesentlich gehe es u m die Darstellung des Amtes und Selbstverständnisses (1984, I353f, Zitat 1353).

102 So in A u f n a h m e von Wuellner 1976, 335 über Rom 1 , 1 3 - 1 5 . Ein Eigentor ist es, w e n n Schnider und Stenger a.a.O., 53 ausgerechnet 2 Kor 3,1 d a f ü r anführen, dass Paulus sich des Abschnitts der brieflichen Selbstempfehlung bewusst w a r . 103

A.a.O., 58.

104 Schnider/ Stenger a.a.O., 55, dort hervorgehoben.

Form und Topik der Paulusbriefe

69

Vergangenheit rekurrieren. Das tut aber ein Rhetor nicht. Die Benennung und Zuordnung zur Ethos-Präsentation verkürzt also die Texte. Auch lässt sich m.E. kein durchgängiges Muster eines Textabschnitts erkennen105. Vielmehr sind die Texte bereits mit dem inhaltlichen Briefanliegen befasst, das sich oft nicht von dem der Beziehung trennen lässt, und dienen verschiedenen Intentionen wie etwa dem Entwurf der Missionare als Vorbild ( i K o r 1 - 4 ) oder der Information über das Ergehen des Briefschreibers (2 Kor 1,8ff; Phil i , i 2 f f ) oder eine Bitte einzuleiten (Phlm 8f). Angemessener ist es m.E., die Relevanz der Beziehung in der Auslegung zu berücksichtigen, ohne zu unterstellen, dass ihre Erwähnung vorgegebenen Motiven gehorcht. Dasselbe gilt schließlich für die von White aufgestellte Behauptung, es gebe charakteristische Konventionen "in Paul's appeal to his past relationship with his correspondents" 106 als Teil des Briefkorpus. Ein solcher Teil sei durch die Einleitung mit einer Freudensäußerung oder παρακαλώ o.ä. und durch die Anrede indiziert. Dass White Texte aus Rom darunter subsumiert, also solche an Adressatinnen, mit denen Paulus keine "past relationship" verbindet, zeigt bereits, dass die Intention der von ihm angeführten Texte107 nicht auf diesen gemeinsamen Nenner zu bringen ist. Zutreffend ist aber die Beobachtung, dass die gemeinsame Beziehung mehrfach thematisiert wird. Sie wird nach meiner Überzeugung persuasiv so eingesetzt, wie es nur dem Brief, nicht der Rede möglich ist.

2.2.2

Die Relativierung der Trennung d u r c h d e n Brief

Der Absicht, die räumliche u n d zeitliche E n t f e r n u n g z w i s c h e n den Briefpartnern so z u überbrücken, dass die A n w e s e n h e i t des Briefschreibers b e i m A d r e s s a t e n suggeriert w i r d , dient ein g a n z e s K o n glomerat v o n Topoi 1 0 8 . In ihrem Z e n t r u m steht der T o p o s v o n der Parusia oder Quasi-Anwesenheit 1 0 9 . Er ist terminologisch fest mit d e m O x y m o r o n ά π ώ ν - π α ρ ώ ν v e r b u n d e n ( „ o b g l e i c h a b w e s e n d , bin ich

105 Am plausibelsten scheint mir die These für Rom 1,13-15, denn dort geht es tatsächlich um eine Selbstempfehlung, nicht um die gemeinsame Vergangenheit. 106 White 1984,1748 f t Zitat 1748. 107 White nennt Rom I2,iff; 16,17; 1 Thess 4,i.i6f; 1 Kor 4,14.17; Gal 4,12; 5,12; Phil 3,1; 4,8t u.a. 108 Vgl. insgesamt Koskenniemi 1956, 38 ft. 109 Vgl. Ps.-Libanius, Char 2: 'Επιστολή μέν ούν έστιν ομιλία τις ε γ γ ρ ά μ μ α τ ο ς απόντος πρός απόντα γ ι ν ο μ έ ν η και χρειώδη σκοπόν έκπληροϋσα, έρεϊ δέ τις έν αύτη ώσπερ παρών τις πρός παρόντα. Zur Praxis vgl. Thraede 1970, 3 9 f t anhand von Ciceros sowie Ovids Briefen. Er weist hin auf die Nähe der Vorstellung, der Brief sei ein Gespräch und vermittele die Begegnung. Jenes wird aber durch Bilder vom Sehen, dieses vom Hören ausgedrückt. Ovid, der zwangsweise exiliert nicht anders denn brieflich kommunizieren kann, hat den Topos vom absens videre besonders ausgearbeitet (a.a.O., 55). Vgl. auch Bünker 1983, 25.

Im Brief gesagt

70

d o c h a n w e s e n d " ) 1 1 0 . A b e r a u c h die Topoi, d a s s d e r Brief ein G e s p r ä c h sei111, die G e g e n w a r t i m Geist vermittele112 u n d ein l e b e n d i g e s Bild des Schreibers, der Schreiberin zeichne113, k a n n Element dieser

Inszenie-

r u n g sein. Einige A u s s a g e n der p a u l i n i s c h e n Briefe k a n n m a n als U m s e t z u n g dieser T o p i k lesen. Das Begriffspaar ά π ώ ν

-

π α ρ ώ ν findet sich mehrfach114.

geht es nie u m eine direkte Ü b e r n a h m e

Jedoch

des T o p o s , als stellten

die

Briefe eine Q u a s i - A n w e s e n h e i t her. D e r A u t o r reflektiert v i e l m e h r die D i f f e r e n z z w i s c h e n A n w e s e n h e i t u n d A b w e s e n h e i t auf je n a c h Briefsituation unterschiedliche Weise115. N u r ι K o r 5 , 3 " 6 beschreibt die briefliche K o m m u n i k a t i o n als d e n A k t , der die A n w e s e n h e i t v o r Ort herstellt, freilich nicht als A u s d r u c k d e r P h i l o p h r o n e s i s , s o n d e r n d r o h e n d g e g e n ü b e r d e m „ U n z u c h t s s ü n d e r " . i T h e s s 2,17 ( v g l . d a z u 2.2.4) relativiert die räumliche Distanz u n a b h ä n g i g v o m Brief als „ v o n A n gesicht, nicht i m H e r z e n " . H i e r w i r d die plötzlich e r z w u n g e n e T r e n n u n g verarbeitet" 7 . Die A u s s a g e n in Phil 1 , 2 7 ; 2 , i 2 u 8 stellen sich h i n g e g e n d e r M ö g lichkeit, d a s s P a u l u s die G e m e i n d e nicht m e h r w i r d b e s u c h e n können. Sie

110

Vgl. Koskenniemi 1956,175t, ältere Belege trägt Thraede 1970, 79f nach; zur Verwurzelung des Oxymorons in der Freundschaftslehre vgl. Thraede a.a.O., 45 sowie Bünker 1983, 25 f.

111

So seit Demetrius, de elocutione, s. Koskenniemi 1956, 42ft („Homilia"); Thraede 1970, 22f; vgl. auch 36t (Cicero). 70 (Seneca). Besonders durch die Betonung der Quasi-Anwesenheit (auch Als-Ob-Unmittelbarkeit genannt), als ob man sich sehe, kann dieser Topos verstärkt werden (vgl. Thraede a.a.O., 39 zu Cicero); zu diesem Topos vgl. auch Bünker 1983, 24. Man findet ihn im NT nicht, wenn man nicht, wie Bünker a.a.O., 2ηί erwägt, in diatribenartigen Passagen oder i K o r 10,15 einen Anklang hören will.

112

Vgl. Thraede 1970, 55 (Ovid); 80 zu (späten) Papyrus-Belegen.

113

Vgl. Demetrius, de elocutione 227: „Gewissermaßen als ein Abbild seiner eigenen Seele (εϊκών της ψυχής) nämlich verfaßt jeder seinen Brief" (Ubers. Klauck 1998, 150); vgl. dazu Koskenniemi 1956, 4of. Für Bünker 1983, 32t lässt sich 2 K o r 2,i2f; 7,4 „ansatzweise" so verstehen, insofern es über die Nachrichtenfunktion des Briefes hinausgehe. Einblicke in die Verfassung des Paulus geben auch viele andere Texte, vgl. nur iThess 2,17ft; 3,iff; Phil i,i2ff. Dass die Briefe damit diesem Topos folgen, scheint mir zweifelhaft. Richtig ist aber, dass sie Nähe zum Briefschreiber durch Einblicke in sein Innenleben zulassen.

114

Vgl. neben den hier diskutierten noch Kol 2,5 und dazu Thraede 1970,102 ff.

115

Vgl. auch insgesamt Bosenius 1994,114ft zu dieser Topik bei Paulus.

116

Vgl. zu i K o r 5,3 als Niederschlag des Topos Thraede 1970, 97ft (kritisch allerdings Berger 1984,1329t Anm.354); Bünker 1983, 28f; Bosenius 1994, ii4f.

117

Zu diesem Topos zählen 1 Thess 2,17 Thraede 1970, 95 f; Bosenius 1994,114.

118

Bosenius 1994, 115 t; sie meint allerdings, dass es hier nicht um eine Einebnung der Differenz zwischen An- und Abwesenheit ginge, sondern darum, dass sich der Glaubensvermittler von der Gemeinde zurückziehe und sie nun erst (νϋν πολλω μάλλον, Phil 2,12) ihren Glauben bewähren könne.

Form und Topik der Paulusbriefe

71

schwören die Adressatinnen darauf ein, dennoch evangeliumsgemäß zu leben. Die Sätze aus 1 Thess und Phil sind zu verstehen als Aufnahme des Topos, der nicht notwendig auf den Brief selbst zu beziehen ist" 9 , insofern sie zeigen, dass die Anwesenheit das eigentlich Erwünschte ist. Sie wollen jedoch die Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit des Paulus prinzipiell einebnen. Phil I,27 fordert, das rechte Leben der Gemeinde vor Gott auch zu führen, wenn Paulus nicht vor Ort ist, sondern nur davon hört. Damit ist angedeutet, dass der abwesende Gemeindegründer das Leben der Gemeinde weiter verfolgt, was als Anteilnahme oder Drohung verstanden werden kann. Eine Differenz zwischen der brieflichen Präsenz und dem Besuch vor Ort hingegen markieren Gal 4,20 und die korinthische Korrespondenz. In 2 Kor 2,1 ff wird dem Brief der Vorzug gegeben vor dem Besuch, damit der Konflikt nicht eskaliert120. Dass das Ausbleiben eigens begründet wird, zeigt, dass die Ausrichtung auf die persönliche Anwesenheit eigentlich „normal" wäre. - In 2 Kor 1 0 - 1 3 fallen das Begriffspaar bzw. Synonyma gleich mehrfach (10,1.10.11; II,9; 13,2.1ο) 121 . Der Autor reagiert deutlich auf die Kritik, er wirke παρών nicht so eindrucksvoll wie άπών durch die Briefe (10,1.10). Problematisch ist hier also gerade umgekehrt die Anwesenheit, nicht die durch Briefe zu überbrückende Abwesenheit. Auf dem Hintergrund des Topos gelesen 122 , bekommt der Vorwurf mehr Schärfe, da die nach dem Allgemeinplatz ersehnte Anwesenheit geschmäht wird: Die Briefe zeigen nicht ein „Bild der Seele", sondern täuschen etwas vor, was ihr Autor gar nicht ist. In Frage steht also auch die Wahrhaftigkeit des Briefes. Der Briefschreiber antwortet 10,11; 13,2-4 drohend, dass die nächste Anwesenheit durchaus dem Brief nicht nachstehen wird, ja sogar über andere Mittel verfügt (έργον ιο,ιι; δύναμις έκ θεοϋ 13,4; vom Herrn gegebene zweischneidige έξουσία 13,10). In Gal 4,20 wiederum bezeugt der Autor die Grenzen seiner brieflichen Überzeugungsmittel. Das Eingeständnis der Ratlosigkeit dient rhetorisch als Appell an das Mitleid, indirekt auch daran, sich die persuasiven Mittel des verbalen Vortrags hinzuzudenken. Wir erkennen also, dass die A n w e s e n h e i t des G e m e i n d e g r ü n d e r s v o r Ort der eigentlich erwünschte Z u s t a n d ist b z w . ( i m 2 K o r ) sein sollte. Der bereits beschriebene A n r e d e - u n d B e g e g n u n g s - C h a r a k t e r der Briefe trägt d e m Rechnung. A u c h die im F o l g e n d e n beschriebenen Mittel demonstrieren auf Basis der faktischen T r e n n u n g die geistige A n teilnahme des A b s e n d e r s , halten die Erinnerung an die g e m e i n s a m e Zeit lebendig, bekräftigen die gegenseitige V e r b u n d e n h e i t über die

119

Die Topik kommt offensichtlich aus der Freundschaftslehre, so dass sie nicht notwendig mit dem Brief verbunden ist, vgl. Thraede 1970, z.B. 64.

120 Vgl. dazu ausführlich Bosenius 1994 und zu ihrer These unten Anm.141. 121

Vgl. ausführlich Bosenius 1994, u y f f .

122 So auch Bünker 1983, 29t; vgl. auch Bosenius 1994, ii7ff, die allerdings meint, Paulus spreche hier von „den unterschiedlichen Funktionen, die apostolischer Anwesenheit und Abwesenheit ... zukommen" (117).

72

Im Brief gesagt

Briefsituation hinaus und geben der Beziehung eine Dynamik durch die Erwartung des Wiedersehens.

2.2.3 Die Bitte um Nachrichten von den Adressatinnen Dieser Topos begegnet in den Paulusbriefen nur in Phil 1,27 in etwas abgewandelter Form 123 . Er vermittelt jenseits des Informationsbedürfnisses das Interesse des Absenders an den Adressatinnen.

2.2.4 Der Sehnsuchtstopos124 Der Sehnsuchtstopos begegnet mehrfach, in 1 Thess 2,17t, vgl. 3,10; Gal 4,20; Rom 1,11a; 15,23; Phil 1,8. Auch die Notiz, dass die Adressatinnen die Absender ersehnen (1 Thess 3,6; 2 Kor 7,7), stärkt das Band zwischen beiden.

2.2.5

Der Topos des wechselseitigen Gedenkens 125

Die geistige Vergegenwärtigung des abwesenden Briefpartners wird mit diesem in den antiken Briefen ganz verbreiteten Topos bekräftigt. In den paulinischen Briefen ist er wiederum religiös eingetönt als Gedenken im Gebet vor Gott, also im Sinne der Fürbitte126, und findet sich in fast allen Briefanfängen als Teil der sog. Danksagung 127 . In 1 Thess 3,6 wird umgekehrt das Gedenken der Adressatinnen an die 123 Vgl. White 1984,1738 über die allgemeine Konvention; Alexander 1989, 95t zu Phil. 124 Vgl. zum Wunsch nach Wiedersehen in Papyrus- und literarischen Briefen Koskenniemi 1956, i7off. Zur „geflügelten" Version des Sehnsuchts-Topos s. insbesondere Thraede 1970, 63f.8of.i74ff („die Flügel der Sehnsucht"), der diesen Topos allerdings nicht mit dem πόθος-Topos zusammenordnet. Das Motiv, das später unter Aufnahme von Ps 54,7LXX christianisiert wurde, ist uns in dem Volkslied „Wenn ich ein Vöglein w a r " , überkommen. „,Weil's aber nicht sein kann', bedient man sich ... des Briefes" (Thraede a.a.O., 174). - Warum Thraede das Sehnsuchtsmotiv in den Briefen des Paulus nicht erkennen will (a.a.O., 96t ), ist mir nicht einsichtig. 125 Vgl. Koskenniemi 1956, I23ff.i45ff zur Bedeutung dieses Topos in Freundschaftsbriefen und im NT, aber auch darüber hinaus. 126 Dies ist aber kein paulinisches Spezifikum; vgl. Koskenniemi a.a.O., 147 für entsprechende außerchristliche Belege. 127 Rom 1,9; Thess 1,2; Phlm 4 wie auch Eph 1,16 mit der typischen Formulierung μνείαν ποιεΓσθαι; ähnlich Phil 1,3; 2 Tim 1,3; zur Danksagung vgl. oben 2.1.3).

Form und Topik der Paulusbriefe

73

Absender angesprochen, vgl. ähnlich Phil 4,10; 2 Kor 1,11 und in einer captatio benevolentiae 1 Kor 11,2 128 .

2.2.6

Die Adaption der formelhaften Gesundheitswünsche

Der Wunsch um Wohlergehen des Adressaten und Mitteilung des eigenen gesundheitlichen Wohlbefindens gehört zu den Stereotypen der antiken Briefe 129 . Gerade die zur formula valitudinis eingefrorene Wendung „si vales, bene est, ego valeo", in der Regel am Anfang des Briefes, oder ihre Schwester „cura ut valeas" am Schluss, sind fester Teil der brieflichen „Phraseologie" 130 . In den paulinischen Briefen finden wir dieses Mittel, Anteilnahme zu zeigen 131 , transformiert. Der Briefautor interessiert sich nicht für die Gesundheit, sondern für das geistliche Wachstum seiner Konvertiten. In diesem Sinne könnten die Aussagen über das Befinden der Gemeinde in der Danksagung, vor allem die Wünsche für ihre „geistliche Gesundheit", Adaption des Topos sein132. Der Gotteszuspruch am Schluss des Briefkorpus ist als Modifikation der formula valitudinis finalis zu verstehen 133 . Diese typische Aufforderung an die Adressatin oder den Adressaten, sich um das eigene Wohlergehen zu bemühen, kann auch vorchristlich in Gebetsform ausgesprochen werden. 1 Thess 5,23, Rom 15,13 und Phil 4,19 mögen den Platz der Bitte um Wohlergehen übernommen haben. Als performativer Akt 134 setzen sie die religiöse Autorität des Autors bzw. der Autoren für das geistliche Wohlergehen der Adressatinnen ein, bezeugen also die Zuneigung und Verbundenheit des Absenders.

128 Vgl. zu 1 Kor 11,2 in diesem Sinne Bünker 1983, 32. 129 Zur Formel allgemein Koskenniemi 1956,128ff; White 1984, i734f. 130 Vgl. die Belege bei Koskenniemi 1956,129 ff. Im NT begegnet die Formel in 2 Joh 3. 131

Koskenniemi 1956,138.

132 So Bünker 1983, 32t in Bezug auf i K o r 1,4-9; 2 Kor 2,12t; 7,5, ähnlich Mullins 1973, 356. Eine Wunschformel im Sinne des „ut valeas" findet sich aber in den Paulinen nur gelegentlich, vgl. die 1 Kor 1,7t; Phil 1 , 9 - 1 1 ; 1 Thess 3,12t; Phlm 6 an Gott gerichteten Bitten. 133 Vgl. dazu M. Müller 1997, insbesondere 58ft zur formula valitudinis finalis und ii4ff zu 1 Thess 5,23. 134 Vgl. die These Müllers, a.a.O., 124ft; ihm geht es freilich nicht um die Beziehungsdimension, sondern die texthermeneutische Schlüsselstellung der Briefkorpusabschlüsse.

Im Brief gesagt

74

Der entsprechende valeo-Topos, die Aussage über das Wohlergehen des Absenders, kann sich in 2 Kor i,8-ii 1 3 5 ; Phil 1,12ff sowie in den Nachrichten über Epaphroditus in Phil 2,25-30 niedergeschlagen haben.

2.2.7

Reisepläne oder der Topos vom Wiedersehen

Während wir, wie oben begründet, das spezifisch paulinische Motiv einer "apostolic parousia" als besonderer Präsenz des Apostels nicht verifizierten, zeichnen sich die im Zentrum jener angeblichen Form stehenden "visit talks" 136 als Brieftopos ab. Es handelt sich bei diesen Äußerungen über Reisepläne oder -hindernisse um "a common epistolary theme" 137 . Das Kommen des Paulus kann neutral (Rom 15,28; i K o r 16,5ff; Phlm 22c) oder als Drohung ( i K o r 4,18-21; 2 Kor 12,14) angekündigt werden. Ein Wiedersehen kann auch als sehnlicher Wunsch und Bitte an Gott geäußert werden, was das Fernbleiben indirekt entschuldigt (1 Thess 2,17f; 3,iof; Phil 2,24). Diese Blicke in die gemeinsame Zukunft richten, ungeachtet ihres Informationsgehaltes, die Beziehung auf ein Wiedersehen bzw. ein persönliches Kennenlernen (Rom) aus. Sie geben so der gegenseitigen Gemeinschaft, der Sehnsucht oder Drohung, ein Ziel 138 .

135

So Bünker a.a.O., 32t, der auch den Peristasenkatalog 1 Kor 4,9-13 hinzurechnen will. Scharf pointiert ist Gal 6,17, liest man es als Inversion der formula valitudinis finalis: Die Aussage über die eigene Gesundheit steht am Schluss, wo sonst die Aufforderung „cura ut valeas" steht, und noch dazu negativ, um die Angeschriebenen zu düpieren: non valeo.

136 So die Benennung durch Mullins (1973) in Abgrenzung zur These Funks 1967; vgl. auch Bünker 1983, 33t; Aune 1987,190f zum "topos of reunion". 137 Vgl. Mullins 1973, 352ff mit Nachweisen aus Papyrusbriefen; White 1972, 29ff. 138 Vgl. White 1972, 30 zum Topos in Papyrusbriefen: Die Besuchsankündigungen stärken die Gemeinschaft, "as the means whereby the relationship, already implicit in the epistolary situation, is empowered". Besuchsankündigungen können auch in nichtpaulinischen Briefen drohend sein (Beispiele bei White 1972, 31).

Zur Gattungspragmatik

75

3 „Ein Brief verbindet" 139 . Schlussfolgerungen zur Gattungspragmatik der Paulusbriefe Die Paulusbriefe partizipieren an antiken Briefkonventionen in der äußeren Gestalt, der Sprache, mithin auch an der Funktion. Eine allein auf theologische Inhalte konzentrierte Lektüre steht in der Gefahr, diesen Aspekt zu unterschätzen. Die Wahl des Mediums Brief erklärt sich dabei bereits aus dem Anliegen, eine räumliche Distanz zu überbrücken. Diese pragmatische Eigenheit der Briefe verkennt, wer die Paulinen allein durch rhetorische Analysen zu begreifen sucht. Die Briefe selbst thematisieren mehrfach die Differenz zwischen der schriftlichen, zeitverzögerten Kommunikation und der leibhaftigen Begegnung. Die Beziehung der Trennung zum Trotz aufrecht zu erhalten, ist ein eigenständiges Anliegen, das sich bereits in der Rahmengattung Brief und durch Übernahme konventioneller Form und Topik äußert. Auch inhaltlich vergegenwärtigen die Briefe durch Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Zeit die συνουσία und antizipieren die παρουσία durch Ausblicke auf ein Wiedersehen. Innerhalb dieses Rahmens gehen die einzelnen Briefe aber unterschiedlich auf das jeweilige Verhältnis ein, erkennbar abhängig davon, wie es um die Beziehung steht. Dass die Briefe die jeweilige Situation, gerade die Relation zwischen den Briefpartnern, schon in Rahmen und Topik reflektieren, macht noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, ihre Aussagen kontextuell zu lesen. Wenn die Differenzen zwischen den Briefen bislang übergangen sind, so zeigt der Überblick das als bekannt vorauszusetzende Paradigma von Formular und Topik. Die unterschiedliche Verwirklichung dieses Paradigmas lässt die jeweilige Beziehungsdefinition und Pflege deutlicher ablesen140. 139 So Werbeplakate der Deutschen Post 2003. In der Antike bedurfte es eines solchen Slogans nicht. 140 Die Auslegung unten wird für iThess (§6) die besondere Bedeutung der Beziehungsebene aufzeigen. Auch dem Phil geht es vor allem um Nachrichtenaustausch und Beziehungspflege (vgl. §5.2.3). Dies hat Alexander 1989 anhand eines Vergleichs der Form und Topik mit derjenigen hellenistischer Familienbriefe aufgewiesen. Dies gilt, so ist Alexander zu ergänzen, für den Phil besonders, da die Gefangenschaft des Autors den direkten Kontakt unmöglich machte und die Nachricht, dass es Paulus gut geht, zum wesentlichen Gegenstand des Briefes wurde (vgl. 1,12, mittels der disclosure-Formel hervorgehoben; Alexander a.a.O., 88ff). Wenn für den Rom das Umgekehrte gilt, dass das Interesse an der Sache das an der Beziehung überwiegt, so kann doch gerade der sachorientierte Charakter der Ausführungen der angestrebten persönlichen Bekanntschaft dienen. Diese soll nicht durch Miss- oder mangelndes Verständnis für das Heidenevangelium des Paulus verstellt sein.

76

Im Brief gesagt

Allen Briefen gemeinsam ist aber ihre kräftige religiöse Grundierung, die von der Gattung nicht vorgegeben ist. Die Paulusbriefe nehmen die Formensprache und Topik so auf, dass sie die Relation zwischen Adressant und Adressatinnen sogleich hinordnen auf Gott bzw. Jesus Christus als den Horizont ihrer Begegnung. Ein Brief sagt, wie der Überblick über die Formeln und Topik zeigte, bereits durch seine Gattung, dass die Gemeinschaft zwischen Absender und Adressierten ein hohes Gut ist. Diese Gemeinschaft hat in den Paulinen ihr Zentrum in einer gemeinsamen, alles bestimmenden Gottesbeziehung. Weil die Beziehung zu Gott, gerade im Gebet, anders als die zwischen Menschen nicht durch Zeit und Raum begrenzt ist, vermag dieser Horizont die Grenzen des menschlichen Miteinanders zu transzendieren zu einer höheren Gemeinschaft vor Gott. Die Paulusbriefe stehen nicht ein einer Gattungstradition, die eine spezifische Autorität des impliziten Autors oder gar einen „Offenbarungsanspruch" transferiert. Die Intitulierung des Absenders als „Apostel" bzw. „Knecht Jesu Christi" benennt eine göttliche Legitimation und Aufgabe, nicht jedoch eine Funktion für die adressierte Gemeinde. Die Rolle, die der Autor für die Gemeinde haben will, muss er durch den Briefinhalt erarbeiten, sei es durch Hinweise auf seine geistliche Autorität, seine gemeindegründende Tätigkeit oder anderes. Die einzelnen Briefe tun das in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise, explizit oder subtil; die Analyse wird dies an Beispielen erheben. Dass sich die Theologie des Paulus in hervorragender Weise brieflich vermittelt141, mag die Kommunikationssituation von 2 Kor 1 - 7 treffen. Eine allgemeine hermeneutische Regel lässt sich daraus nicht ableiten. Die Briefe des Paulus selbst und ihre Wirkungsgeschichte, die

141 So die These Bosenius' (1994, vgl. bereits die Vorgabe Vougas 1992, 25ff; in der Sache ähnlich auch Weder [s. übernächste Anm. ] und M. Müller 1997, 48f). Spezifisch ist nach Bosenius die Weise, in der das „briefliche Ich" in Differenz zum realen Ich entworfen wird. Nach dieser an 2Kor 1,23t; 2,1-11; 7,8-13 begründeten These ist der Brief für Paulus gerade nicht Ersatz für die persönliche Anwesenheit. Er biete vielmehr die „Idealform" der Evangeliumsverkündigung (73.92 u.ö.), weil er die Möglichkeit gebe, das Evangelium in existenzieller Weise als Rede des Apostels von sich selbst so darzustellen, dass es aufgrund der Differenz des brieflichen Ich zum Ich des Apostels zugleich Identifikationsraum bleibe. So zutreffend das sein mag, so verzerrend ist doch die Verallgemeinerung der These. Denn die Erstverkündigung des Evangeliums ist nie in Briefform geschehen (auch der Rom richtet sich an bereits Evangelisierte), sondern die Briefe beziehen sich zurück auf einen Aufenthalt und die persönliche Mission. Dass die persönliche Anwesenheit Vorteile vor dem brieflichen Medium hätte, sagen deutlich 1 Thess 3,10; Gal 4,20.

Zur Gattungspragmatik

77

das frühe Christentum beinahe zu einer Briefreligion machen142, belegen nicht, dass der Brief als solcher das geeignete Medium sei zur Vermittlung der existentiellen Bedeutung des Evangeliums. Dass wir die paulinische Theologie als Brieftheologie wahrnehmen, liegt ja daran, dass sie uns nur durch einen Ausschnitt der Korrespondenz zwischen Paulus und den Gemeinden bekannt ist143. Oft spricht der Autor jedoch an, dass der Brief nur der unvollkommene Ersatz für den persönlichen Besuch ist. Niemand soll durch einen Brief zum Glauben an Gott und Jesus Christus bekehrt werden. Die Briefe spiegeln vielmehr wider, dass das Evangelium durch die Anrede und das persönliche Vorbild weitergegeben wird, also von Angesicht zu Angesicht. Der Gemeindegründer Paulus schreibt sich dabei durch die Briefe eine bleibende, besondere Bedeutung zu144, zeigt aber auch, wie wichtig ihm diese Begegnungen sind, „weil ich euch im Herzen habe" (Phil 1,7, vgl. 1 Thess 2,17).

142 Vgl. nur den kurzen Überblick bei Stowers 1986, 43ft und für die älteste Rezeptionsgeschichte Vouga 1992. Die umfassende Adaption des Briefes im frühen Christentum liegt darin begründet, dass es die angestrebte überregionale Gemeinschaft und Identität nur so erreichen konnte. 143 Dies übersieht etwa Weder (1989, 3i4ff), wenn er die Wahl des Mediums Brief kurioserweise alternativ zum Telefon - als nicht rein technisch bestimmte Entscheidung für eine ganz spezifische Form der Zuwendung und „Theologie in Briefform" (319) sieht. Diese Theologie mische sich ein, ohne zudringlich zu werden, sei im „Vordergrund des Lebens" (318) angesiedelt, „ihrem Inhalt, welcher das Geschehen Gottes als Liebe in der Welt ist, angemessen" (319). Alternativen der „ Z u w e n d u n g " waren für Paulus die persönliche Anwesenheit vor Ort, die Sendung von Mitmissionaren als Boten oder aber das Versenden von Texten anderer literarischer Gattungen. Das Recht, die Brieflichkeit des brieflichen Mediums hervorzuheben, liegt genau darin, dass letzteres nach unserer Kenntnis ausblieb. 144 Das ist jedoch kein christliches Spezifikum des Evangeliums, wie die wissenssoziologische Analyse von Konversionen oder Übernahme neuer Paradigmen zeigt (vgl. § 6.7.2 zu 1 Thess).

78

Im Brief gesagt

Exkurs: Wer ist „ Wir " ? Eine prinzipielle Notiz zur Referenz der 1. Person Plural 1 Für die Bestimmung der Rolle, die sich der Briefautor gegenüber seinen Gemeinden zuschrieb, ist von erheblichem Belang, auf wen die häufig verwendete i. Pers. PI. referiert. Insbesondere der 2 Kor, der über weite Strecken in der „Wir"-Form schreibt, wirft die Frage auf, wer „ w i r " ist. Der oft unbedachte Bezug des Plurals auf Paulus allein ist jüngst in mehreren Aufsätzen problematisiert worden. M. Müller macht darauf aufmerksam, dass sich mit diesem exegetischen Kurzschluss ein bestimmtes Paulusbild vom „Apostel gleichsam als einsame[m] Held[en]" 2 verbindet. Ein „schriftstellerischer Plural" sei aber in der Literatur um Paulus herum, zumal in Briefen, kaum nachweisbar 3 . Zu Recht wird deshalb gefordert, bei jeder Verwendung der 1. Pers. PL sorgfältig zu prüfen, wer aus dem Kontext als Referent zu supplieren sei4. In dieser Untersuchung wird daher der Numerus-Gebrauch jeweils „vor Ort" geprüft. Dem ist jedoch Grundlegendes voranzuschicken. Dass eine 1. Pers. Pl. auf ein singulares Subjekt verweist, ist nicht unmöglich, selbst wenn es in der Briefliteratur unüblich ist5. Hier kann sich auch eine literarische oder umgangssprachliche Gepflogenheit niedergeschlagen haben. Einzelne Sätze im corpus Paulinum sind m.E. am besten so zu verstehen, dass der Autor im Plural auf sich selbst referiert6. Bezieht man eine Aussage in der 1. Pers. PL nur auf Paulus, so ist darüber hinaus zu überlegen, welche Pragmatik

1

Die umfangreiche Literatur zum Thema wird hier nur exemplarisch herangezogen. Wie sich aus den folgenden Überlegungen ergibt, ist die Referenz der 1. Pers. PI. im Einzelfall zu klären. Dies geschieht im Rahmen der Auslegungen.

2

Müller 1998, 199ft; positiv folgert er, dass Paulus „kollegialer" denkt. Er verteidige im 2 Kor nicht nur seinen eigenen Apostolat, sondern das gemeinsame Missionswerk. Aber er verteidige auch seinen spezifischen Auftrag, damit nicht die Mitarbeiter „zwischen die Fronten ... geraten" (a.a.O., 201).

3

Die Belege des opus classicum von Dick 1900 (vgl. i 5 f f ) mustert M. Müller 1998,183ft sehr kritisch durch; auch BDR § 280 ist reserviert gegenüber dieser Erklärung von Pluralen bei Paulus.

4

Vgl. so Thrall 2 Kor Bd.i, 105-107; Verhoef 1996; Byrskog 1996; M. Müller 1998.

5

Es gibt diesen Plural selten, aber es gibt ihn. Auch M. Müller 1998 lässt einzelne Beispiele von Dick gelten. Vgl. weiter BDR § 280, der zwar gegenüber der Verwendung eines „schriftstellerischen Plurals" bei Paulus skeptisch ist, aber für Hebr ebenfalls einen auffallenden Wechsel der Numeri konstatiert. Belege finden sich bei B A A s.v. έγώ (vgl. z.B. Josephus, Ant 2,68 mit Gen 4o,i4LXX); Kühner/Gerth ΙΙ,ι §371,3 (S.83f) vor allem aus der älteren poetischen Literatur, bei Mayser Papyri II/i 1926, §10,7 (S.4off), aber auch aus Briefen. Zwar ist auch hier jeweils zu prüfen, ob nicht an ein plurales Subjekt gedacht werden sollte (vgl. z.B. Schwyzer II/2 1950, 243t zu den Belegen bei Kühner/Gerth). Dennoch hat es eine solche Verwendung des Plural gegeben, die vielleicht zunächst Bescheidenheit intendierte, indem man andere einschloss, später jedoch Autorität signalisierte (mit Schwyzer II/2 1950, 243). Dies lassen die amtlichen Papyri eindeutig erkennen (vgl. Mayser ebd.).

6

Dies gilt gerade für die Aussagen, die auf die besondere Berufung des Paulus im Plural referieren, vgl. 2 Kor 2,14; 4,6; 5,18 und für 2 Kor 4,10-12, wo die körperliche

Exkurs: Die Referenz der 1. Person Plural

79

sich mit d e r W a h l des Plurals an Stelle des m ö g l i c h e n u n d v o m B r i e f a u t o r a u c h e m p h a t i s c h einsetzbaren „ I c h " verbindet 7 . M ö g l i c h e pluralische Referenten sind 8 : 1 ) A l l e C h r i s t i n n e n o d e r alle M e n schen, 2 ) P a u l u s u n d die A d r e s s a t i n n e n , 3 ) P a u l u s u n d ein Teil d e r A d r e s s a t i n nen, 4 ) P a u l u s u n d seine M i t a b s e n d e r b z w . ein Teil d e r M i t a b s e n d e r , 5 ) P a u l u s u n d die a n d e r e n A p o s t e l 9 o d e r M i s s i o n a r e o d e r - in d e r A u s l e g u n g ü b e r s e h e n - 6) P a u l u s u n d die a n d e r e n C h r i s t i n n e n jüdischer H e r k u n f t (z.B. G a l In j ü n g e r e r Zeit öfter vertreten w i r d die These, d a s s M ö g l i c h k e i t 4 ) die P l u r a l e v o r allem i m 2 K o r u n d 1 Thess erkläre, die g e m e i n h i n n u r auf P a u l u s b e z o g e n w e r d e n 1 0 . D i e N e n n u n g v o n M i t a b s e n d e r n ist in der A n t i k e nicht

Konstitution des Paulus reflektiert wird (vgl. §5 zu den Stellen). Für die Referenz auf Paulus sprechen aber auch pluralische Aussagen im Wechsel mit singularischen in 2 Kor 1 0 - 1 3 passim; Gal i,8f; Phil 3,17. 7

In der Literatur werden verschiedene Deutungen vorgeschlagen: Handelt es sich um einen pluralis modestiae (so z.B. Ethelbert Stauffer, Art. έγώ, in: ThWNT 2 [1935] 341-362: 354t, vgl. 354,9t: „Es ist der Stil des feinen Mannes, der im Hintergrund bleiben will.") oder um Autoritätssignale (so Furnish 2Kor, 43t, und ähnlich Wolff 2 Kor, lof in Bezug auf 2 Kor 1 - 9 ) ? Bosenius (1994, i35ff) will im Numerus-Gebrauch des 2 K o r die Regel erkennen, dass Aussagen von ,,geringe[r] theologische!r] Relevanz" (135) im Singular formuliert sind, während Paulus im Plural von sich selbst „als Inhaber des Apostelamtes" (136) schreibt, so dass man gewissermaßen von einem „apostolischen Plural" sprechen könne (137). So würde der Verweischarakter der Aussagen auf die allgemeine christliche Existenz eröffnet: „Im ,Wir' tritt die Person des Paulus hinter dem Apostel Paulus zurück" (137; zu ihrer These vgl. bereits § 2 Anm.141); ähnlich auch Carrez 1979/80. Abgesehen davon, dass diese These die Pluralität der Adressanten nicht berücksichtigt (vgl. dazu Anm.10) und mithin zirkulär argumentiert, setzt sie mit der Differenz zwischen profanen und apostolischen Aussagen eine petitio principii und ist darin auch ungenau, weil vom „Apostel" im ganzen Kontext nicht die Rede ist. - Nach E.-M. Becker 2002, 149ft zeigt der Plural unter den Absendern eine „Inter-Kommunikation" (vgl. unten Anm.10). Doch noch unbeantwortet ist, welche extratextuelle Referenz die Lesenden vollziehen sollen.

8

Vgl. die divergierenden, aber in der Sache ähnlichen Listen von Carrez 1979/80, 476; Byrskog 1996, 323; M. Müller 1998,183.

9

Ein „wir Apostel" fällt jedoch nur in 1 Kor 4,9, vgl. Murphy-O'Connor 1993, 571.

10

Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass im Rom, der nur Paulus als Absender nennt, die 1. Pers. Sg. vorherrscht, im 1 Thess und 2 Kor, Briefen mit mehreren Adressatinnen, hingegen die 1. Pers. PI. Im 1 Kor, Gal, Phil und Phlm sind zwar mehrere Adressanten genannt, jedoch beginnend mit der Danksagung in der 1. Pers. Sg. (εύχαριστώ bzw. θαυμάζω in Gal 1,6) dominiert das „Ich". Vgl. Murphy-O'Connor 1993 (vgl. aber bereits die Kritik Verhoefs 1996, 418ff in Bezug auf Sosthenes als Mitautor in i K o r ) ; M. Müller 1998; Byrskog 1996 (mit älterer Literatur 230-232). Byrskog begründet angesichts der brieflichen Praxis im Umfeld die Regel, dass ein literarischer Plural nur dann anzunehmen ist, wenn ein realer nicht in Frage kommt (a.a.O., 233t). Er präzisiert, dass die im Präskript genannten "co-senders" nach ihrer Erwähnung in den folgenden Ausführungen nicht als "co-authors" fungieren (vgl. zusammenfassend a.a.O., 249). Was den realen Autor angeht, hat schon Ollrog 1979 darauf hingewiesen, dass die alte Formel, „Mitabsenderschaft" bedeute nicht „Mitverfasserschaft", „nicht differenziert genug ist. In den Briefen des Paulus tritt uns nicht nur die affektive Individualität oder der nicht mit Normalmaß meßbare Genius

8o

Im Brief gesagt

üblich 11 . Müller schließt daraus auf das Selbstverständnis des Paulus. Unterscheidbar sei der Gebrauch eines „ I c h " für „Paulus ganz persönlich" und eines „ W i r " , „ w o es um den Apostolat des Paulus und damit um ,sein' Missionswerk insgesamt geht - was mit der Nennung eines Kollektivs in der Absenderangabe einhergeht" 12 . Gegen eine pauschale Geltung dieser Regel spricht, dass der Autor durchaus singularisch von seinem „Missionswerk" 1 3 schreibt. Auch ist prinzipiell fraglich, ob die Unterscheidung zwischen Persönlichem und dem Missionswerk dem Selbstverständnis des Paulus gerecht wird, so wie es die Briefe entwerfen. Vor allem ist aber bei der Korrelation von 1. Pers. PL und im Präskript genannten Mitadressanten schärfer zu berücksichtigen, welche Wirkung die auch nur gelegentliche Verwendung der 1. Pers. Sg. für die Konstruktion des „impliziten Autors" hat. Der Numeruswechsel im i T h e s s und 2 Kor lässt deutlich durchblicken, dass unter einem „ I c h " nur Paulus verstanden wird und mithin dieser im Präskript Erstgenannte zumindest als „Chef vom Dienst" im „ T e a m " der impliziten Autoren spricht 14 .

des Paulus entgegen". Ollrog verweist nicht nur auf die eingeflossenen Traditionen, sondern auch darauf, dass anzunehmen ist, dass die „Mitarbeiter" des Paulus dessen Denken mit beeinflusst haben (183ft, Zitat 186). - Eine ganz andere Intention sieht E.-M. Becker 2002, i5off hinter der Nennung von Mitabsendern: Sie seien abgesehen von 1 Thess dann genannt, wenn die Adressatenschaft ebenfalls deutlich plural gestaltet ist, so dass einerseits Absender und Mitabsender, andererseits Adressaten und Co-Adressaten „interkommunikativ" aufeinander bezogen seien. 11 12

13

14

Vgl. Murphy-O'Connor 1993, 56iff. Vgl. a.a.O., 183. Mit der Nennung mehrerer Absender würden sich die Briefe in die Tradition der gemeindeleitenden Briefe stellen (188.199, i m Anschluss und Verschärfung von I. Taatz 1991, vgl. § 2.1.3). Rom 14,15ff; Gal 2,7-9; 4' 11 ' Phil 2,16. Andererseits ist der Plural in Rom 3,8t am besten auf den Autor zu beziehen (mit Cranfield 1982, 286). Nicht erklären kann Müller, wieso in den singularisch formulierenden 1 Kor, Phil und Phlm im Präskript Mitabsender genannt werden. Vgl. zum 1 Thess ausführlich § 6.2.1. Eindeutiger noch als 1 Thess unterstellt 2 Kor 1 9, dass die 1. Pers. Sg. selbstverständlich auf Paulus als impliziten Autor referiert. Vgl. neben Numeruswechseln wie in 1,13.17; 5,11; 6,13 insbesondere 1,19. Wahrhaft kollegial hätte es heißen müssen: ό υιός ... ό δι' ημών κηρυχθείς, διά Παύλου και ΣιΛουανοϋ και Τιμοθέου oder δι' ήμών και Σιλουανοϋ. Vgl. ähnlich auch Byrskog 1996, 245 t, der allerdings darin keine Leseanleitung für den gesamten Kontext erkennt. Er bezeichnet Paulus deshalb als "main sender and author of 2Cor 1 - 9 " . In den wenigen Briefen der Umwelt, in denen Mitabsender genannt werden, ist gelegentlich eben dies zu beobachten, dass eine 1. Pers. Sg. auf den erstgenannten Sender referiert (vgl. Byrskog 1996, 235). - Die beschriebene Textstrategie wirkt, z.B. auf M. Müller. Er hält offenbar Paulus trotz seiner Kritik am Konzept vom „einsamen Helden" unreflektiert für den alleinigen Autor auch von Briefen mit Mitabsendern. Dies lässt seine Erklärung des Numeruswechsels in 2 Kor 2,10 f durchblicken: „Paulus reiht sich verallgemeinernd in das Wir der apostolischen Mitarbeiter ein" (a.a.O., 193).

§3

Metaphern verstehen. Zum Charakter metaphorischer Sprache und der Methodik der Metaphernauslegung. Zugleich ein Glossar „ Im letzten hat jede Metapher ihr eigenes Gesicht und ist unverwechselbar wie der Text, in dem sie erscheint. Man wird sorgfältig lesen müssen." 1

Seit der Rehabilitation der Metapher als rationaler und wahrheitsfähiger Sprachform im 20. Jahrhundert ist eine unüberschaubare Zahl metapherntheoretischer Darstellungen entstanden. Was eine Metapher ist und wie sie wirkt, wird sowohl in lingustischer, sprachphilosophischer als auch in erkenntnistheoretischer und allgemein hermeneutischer Perspektive diskutiert2. In die Exegese sind diese Überlegungen inzwischen über die Frage der Gleichnisauslegung hinaus eingeflossen. Nach Ablösung eines rein rhetorischen Metaphernbegriffs behandeln zahlreiche jüngere Arbeiten neutestamentliche Metaphern vor dem Hintergrund eines reflektierten Metaphernbegriffs. Viele Arbeiten ziehen die noch sprachwissenschaftlich-strukturalistisch geprägte „Bildfeldtheorie" Harald Weinrichs heran3, die sich insbesondere zur Untersuchung traditionsgeschichtlicher Zusammenhänge eignet. Andere Auslegungen machen die sprachphilosophisch-hermeneutische Theorie Paul Ricoeurs fruchtbar. Ihr geht es letztlich um die Rationalität und

1

Weinrich 1976, 316.

2

Vgl. nur Kuschnerus 2002, 9t zu der surrealistischen Anregung der Metapherntheorie; Zimmermann 2003, 14t für die Theologie (Lit.!). Als Einführung in die metapherntheoretische Diskussion geeignet sind Kurz 1993; die von Haverkamp herausgegebene Sammlung klassischer Aufsätze (1983); gute Einführungen in die jeweiligen Theorien sind die in Weinrich 1976 gesammelten Aufsätze; Ricceur 1991 [1975]; Lakoff/Johnson 1980.

3

Vgl. die Untersuchungen von Klauck 1986; Röhser 1987; Hezser 1990; von Gemünden 1993.

82

Metaphern verstehen

Wahrheitsfähigkeit von Metaphern4. Neue Arbeiten berücksichtigen auch die kognitivistische Theorie, die seit den 8oer Jahren des 20. Jahrhunderts von Johnson, Lakoff und Turner entwickelt wurde 5 . In der letzten Zeit überwiegen aber exegetische Untersuchungen, die nicht mehr nur eine Theorie verwenden, sondern einen Metaphernbegriff zugrundelegen, wie er den verschiedenen Theorien unter Ausklammerung ihrer Divergenzen, die gerade im unterschiedlichen Gegenstand und Fragehorizont begründet sind, gemeinsam ist6. So soll es auch hier sein. Die Differenzen zwischen den Theorien resultieren nicht nur aus den unterschiedlichen methodischen Ansätzen und den jeweiligen sprachwissenschaftlichen Uberzeugungen. Die Bestimmung dessen, was eine Metapher ist, kann nur phänomenologisch und induktiv sein, d.h. die vorhandenen Metaphern in ihrer Wirksamkeit erklären. Die Wahl bestimmter Metaphern als Paradigma prädisponiert also auch die Metapherntheorie7. Ich unterlasse daher den Versuch, eine allgemeine Metaphorologie zu skizzieren und den guten Einführungen in die Metapherntheorie für die exegetische Arbeit, die die exegetische Praxis in den Horizont der Sprachphilosophie und Hermeneutik einordnen8, eine weitere beizugesellen, und konzentriere mich auf die 4

Vgl. neben vielen Anwendungen für Gleichnisauslegungen von Allmen 1981 für die paulinische Metaphorik; Meurer 1997 für die „metaphorische Interpretation" des „Symbols Gottesherrschaft/Reich Gottes" (so a.a.O., 347) im Anschluss an die Theorie Ricceurs.

5

Vgl. Kos-Schaap 1988; Burke 2003; Aasgaard 2004 als Auslegung von Metaphern in diesem Paradigma; Liebenberg 2001 im Blick auf Gleichnisse. Vgl. auch die Durchsicht der Theorien im Blick auf die Gleichnisauslegung bei Massa 2000.

6

Vgl. zur Sache Zimmermann 2000, 1 1 2 - 1 1 8 ; 2003, 6-9. Wie eine Metapherntheorie von dem gewählten Paradigma bestimmt wird, zeigt sich auch in meiner Untersuchung daran, dass bestimmte theoretische Aspekte wie die Widersprüchlichkeit der Prädikation oder der Einfluss des Bildfeldes in der Auslegung kaum zum Tragen kommen. Als „synkretistische" Adaptionen der Theorie in der Auslegung von Metaphern vgl. C.G. Müller 1995; Zimmermann 2001; Kuschnerus 2002.

7

In diesem Sinne sind etwa die metapherntheoretischen Bemerkungen Kuschnerus' 2002 und Pöttners 1997, die jeweils unterstreichen, dass Metaphern den Charakter der Anrede haben und ein neues Selbstverständnis eröffnen, bestimmt durch die Auswahl solcher Metaphern, die das Gegenüber provokant prädizieren.

8

Vgl. so neben den Einleitungen von Gemündens 1993, Schwankls 1995 und C.G. Müllers 1995 besonders die Zimmermanns 2001 und Kuschnerus' 2002, die ihren Ansatz jeweils literaturwissenschaftlich und hermeneutisch begründen. Während letzterer die Besonderheit der Metapher als Sprachform, ihre kommunikative Leistung hervorhebt, zielt Zimmermann stärker auf das Verhältnis der Metapher zu mythischer Rede und die exegetische Auslegungspraxis. Im Unterschied zu ihnen geht es mir um eine präzisere Darstellung der metaphorischen Interaktion, die von Kuschnerus

Definition der Metapher

83

Aspekte, die für die Auslegung der im Mittelpunkt der Arbeit stehenden Metaphern und Vergleiche relevant sind. Während viele metapherntheoretische Reflexionen das Verstehen von Metaphern als gegeben voraussetzen, wird hier rezeptionsorientiert gefragt, wie das Verstehen der Metapher in semantischer und pragmatischer Hinsicht vom Text geführt wird. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen Metaphern, die eine Beziehung beschreiben, die nicht in die gängigen sozialen Konzepte einzuordnen ist. Für Metaphorik dieser Art ist die Fähigkeit bildlicher Sprache zentral, ein Konzept zu übertragen und das Neue im Rahmen des Bekannten als etwas Neues darzustellen. Ich stelle unter Aufnahme der erwähnten Theorien dar, was eine Metapher ist (1) und auf welche Weise sie rezipiert wird (2). Das besondere Augenmerk liegt entsprechend meiner Fragestellung auf der kommunikativen Pragmatik der Metaphern (3). Kurz ist darauf einzugehen, wie sich andere Formen bildhafter Rede zur Metapher verhalten (4). Schließlich werden aus diesen theoretischen Überlegungen Folgerungen für die Praxis der Auslegung gezogen (5). Im Verlauf der Darstellung erkläre ich auch die in der Exegese verwendete heuristische, Terminologie, hier kursiv hervorgehoben. Beispiele aus den hier analysierten Metaphern sollen die Theorie illustrieren.

1

Was ist eine Metapher ?

Die Definition dessen, was eine Metapher an sich ist, ist keine Kleinigkeit. Sie kann nur induktiv gewonnen werden und ist daher abhängig vom gewählten Paradigma, sei es lyrisch, sei es alltagssprachlich, und von der Beziehung, die die Begriffe der exemplarischen Metaphern aufeinander haben9. Doch der induktive Erklärungsweg steht vor dem Problem, dass ein und dieselbe Aussage metaphorisch sein kann oder

bestritten und von Zimmermanns m.E. missverstanden wird (vgl. unten Anm.38). Für den rezeptionsorientierten Ansatz, der die Interaktion in den Mittelpunkt stellt, führt Massas Analyse der „Verstehensbedingungen der Metapher" weiter, die detaillierter als hier auf die kognitiven Prozesse der Sprachverarbeitung eingeht (2000, 239-296, Zitat 239). 9

Anhand der vier Metapherntypen des Aristoteles (der Übertragung von genus auf species bzw. umgekehrt, von species zu species und nach Analogie) zeigt Eco, dass diese Typen je unterschiedliche Beziehungen zwischen den Aktanten implizieren (Eco 1985,138ft).

Metaphern verstehen

84

auch nicht, je nach Kontext 1 0 . Die Einsicht in die z w i n g e n d e A b h ä n g i g keit einer M e t a p h e r v o n ihrem Kontext ist dabei bereits ein Erkenntnisfortschritt, d e n n sie führt über die herkömmliche, in der A l l t a g s s p r a c h e noch übliche V e r w e n d u n g v o n „ M e t a p h e r " f ü r ein einzelnes Wort hinaus. In der A b g r e n z u n g v o n diesem rhetorischen Metaphernbegriff sind sich auch neuere Theorien einig. Sie führt uns deshalb auf ein sachgerechteres Metaphernverständnis hin 1 1 . Als durchschnittliche rhetorische Auffassung sei die wirkungsvolle Definition und Einordnung bei Lausberg zitiert12: Die Metapher falle unter die Tropen, d.h. Wortfiguren, bei denen ein Wort „an die Stelle eines im natürlichen Satzund Sinnzusammenhang stehenden Wortes gesetzt" wird, und zwar nach bestimmten Beziehungen 13 . Die Metapher im engeren Sinn sei eine Übertragung von species zu species, daneben werde auch die Übertragung nach der Analogie meist als Metapher bezeichnet14. Dieser Tropus wird weiter als abgekürzter Vergleich verstanden 15 , der mehr oder weniger gelungen sein kann: Er verdränge ein verbum proprium, was an sich ein Fehler sei, aber gerechtfertigt sei durch bessere Verständlichkeit oder als ornatus16, oder aber als Katachrese, eine aus Mangel eines eigentlichen Ausdrucks notwendige Metapher 17 . Die Metapher substituiert also ein „verbum proprium", ist übersetzbar und stellt keine semantische Neuerung dar 18 . Diese Theorie wird deshalb in der Regel als „ Substitutionstheorie " gebrandmarkt. Jenseits von jeder ausgefeilten Metapherntheorie lassen sich einige grundsätzliche Einsprüche dagegen vorbringen 19 : zunächst, dass eine Metapher nicht wie im üblichen Sprachgebrauch ein Wort ist, sondern erst durch den Satz und

10

Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Wenn Paulus seine Aussage: „Ich habe euch gezeugt" (1 Kor 4,15b) an seine leiblichen Kinder richtet, ist sie nicht metaphorisch.

11

Zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem rhetorischen Metaphernbegriff aus je unterschiedlichen Perspektiven vgl. Ricoeur 1991, 13-55; Pielenz 1993, 61-64; Kuschnerus 2002,13-15.

12

Das Verständnis von Metaphern im rhetorischen Paradigma wird gemeinhin auf Aristoteles zurückgeführt, der sich einerseits in der Rhetorik (3,3,4 i4o6b5ff), andererseits in der Poetik (21 145706ff) dazu äußerte. Ricoeur zeigt jedoch in einer feinsinnigen Auslegung der Aussagen Aristoteles' in der Poetik, dass dort zumindest weiterreichende Ansätze vorhanden sind (vgl. vor allem 1991, 13ft und weitere Anknüpfungen an Aristoteles, z.B. i82ff.29off).

13

Lausberg i960 § 552, Zitat S.282.

14

A.a.O. §555 3) und 4) (S.284) sowie §558.

15

A.a.O. §558; prägend ist hier Quintilian, Institutio 8,6,4: „metaphora brevior est similitudo ..."·, Aristoteles hatte das Verhältnis umgekehrt bestimmt.

16

Lausberg i960 § 561.564; dort weitere Kriterien des aptum.

17

A.a.O. §562.

18

Vgl. insgesamt auch Ricoeur 1974a, 46 und 1991,147·

19

Vgl. auch Ricoeur 1974a, 47-49.

Definition der Metapher

85

A u s s a g e k o n t e x t entsteht 2 0 . D i e s e Erkenntnis ist Teil der a l l g e m e i n e n W e n d e d e r S e m a n t i k v o m W o r t z u m Satz als kleinster B e d e u t u n g stiftender Einheit 2 1 . Umstritten ist d e r B e z u g der M e t a p h e r z u r Ähnlichkeitsrelation: E r w o g e n w i r d , d a s s sie eine Ä h n l i c h k e i t behauptet. Deutlich ist aber, d a s s sie nicht einf a c h eine v o r h a n d e n e Ähnlichkeit abbildet, kein tertium c o m p a r a t i o n i s v o r a u s setzt, also kein a b g e k ü r z t e r V e r g l e i c h ist 22 . D a m i t ist schließlich die R e d e v o n „ B i l d " u n d „ S a c h e " z u r B e z e i c h n u n g der z w e i z u s a m m e n w i r k e n d e n G r ö ß e n z u v e r a b s c h i e d e n , w e i l sie eine U n a b h ä n g i g k e i t der b e i d e n G r ö ß e n s o w i e d e n „ b i l d l i c h e n " C h a r a k t e r der einen suggeriert. E i n e M e t a p h e r ist d a h e r a u f d e r E b e n e d e r A u s s a g e 2 3 a l s s e m a n t i s c h e s Geschehen zwischen zwei Bedeutungsträgern anzusehen, die syntaktisch o d e r referentiell v e r k n ü p f t sind, ohne d a s s ihre V e r b i n d u n g

der

h e r k ö m m l i c h e n E r w a r t u n g an die B e d e u t u n g entspricht. Weinrich vollzieht d e n P a r a d i g m e n w e c h s e l

v o n der rhetorischen Perspektive

zur

semantischen, g e n a u e r zur Frage nach der B e d e u t u n g der M e t a p h e r in textsemantischer,

nicht

mehr

wortsemantischer

Perspektive24,

und

erklärt, dass der Kontext f ü r das Bestehen u n d Verstehen der M e t a p h e r e n t s c h e i d e n d ist. D i e M e t a p h e r w i r d d e f i n i e r t a l s „ e i n W o r t i n e i n e m Kontext, d u r c h d e n es so determiniert w i r d , d a ß es e t w a s

anderes

20

Darüber darf die lexikalische Auflistung von metaphorischen Bedeutungen nicht täuschen: Was im Lexikon als „übertragene" Bedeutung eines Wortes angegeben wird, ist keine Metapher mehr - selbst wenn sie einmal so entstand - , sondern gehört nun zur Denotation des Lexems. Im Lexikon erscheint - frei nach Ricceur (1991, vi) - nur noch die Todesanzeige einer Metapher. Auch eine erfolgreiche Katachrese hat damit als Metapher ausgedient.

21

Wenn wir Ricoeurs subtilen Analysen folgen, dann sind auch die strukturalistischen linguistischen Auffassungen im Grunde nicht in der Lage, die Metapher als mehr denn ein Wort aufzufassen; vgl. genauer 1991, 56ff.

22

Vgl. Weinrich 1976, 317 zur Definition der Metapher als abgekürzter Vergleich: „Das ist eine schlechte Definition, die alle Prioritäten umkehrt. Aber es ist eine bequeme Definition. Mit ihrer Hilfe konnten sich die Logiker leicht des ganzen Metaphernproblems erwehren. Denn wenn die Metapher ein verkürztes Gleichnis ist, braucht man einen metaphorischen Satz nicht mehr auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Er ist dann weder wahr noch falsch, sondern - poetisch."

23

Den Ort der Aussageinstanz (discours) betont Ricceur gegen eine auf der Ebene des Satzes verhaftete Semantik (parole), vgl. 1991, ligff. Ricceur legt damit m.E. ein Problem der Theorie Weinrichs bloß (vgl. dazu unten). Ricceurs Theorie lebt allerdings von ihrer Orientierung an „lebendigen" Metaphern, denen etwas Unerhörtes innewohnt. Dies ist für die Konzeption hier weniger relevant (vgl. die Kritik von Massa 2000, 27off).

24

Weinrich 1976, 319 in Abgrenzung zur Wortsemantik; der Textbegriff wird anders als bei Ricoeur selbst freilich nicht pointiert gegenüber der Einheit des Satzes.

86

Metaphern verstehen

meint, als es bedeutet" 25 oder auch als „eine widersprüchliche Prädikation" 26 . Die Erwartung der „Determination" eines Wortes wird durchkreuzt durch andere Worte 27 . Und die „Kontextdetermination" - sei es durch den beschriebenen Gegenstand, sei es durch andere Metaphern - bestimmt auch die Deutung der Metapher. Genau genommen muss man zur Kennzeichnung der Kontextabhängigkeit präzise von einer „metaphorischen Äußerung" sprechen. Ich vereinfache dies, wenn nicht besondere Präzision vonnöten ist, und spreche wie geläufig von einer „Metapher". Und exakt müsste eine Metapher nicht allein durch ihren Bildspender, sondern auch durch den Bildempfänger bezeichnet werden, doch ich vermeide diese Wortungetüme 28 . Weinrichs Bezeichnung der beiden Größen als „Bildspender" und „Bildempfänger" anstelle der Rede von „ B i l d " und „Sache" hat sich in der deutschsprachigen Exegese durchgesetzt und wird auch hier übernommen 29 . Sie verdeutlicht die Zusammengehörigkeit der beiden Seiten einer Metapher, die nur miteinander so fungieren. Beide Seiten bringen dabei nicht nur ein Wort mit einer Denotation ein, sondern jeweils einen Zusammenhang. In strukturalsemantischer Perspektive nannte Weinrich sie Sinnbezirke, „bildspendendes und bildempfangendes Feld" 3 0 ; ich modifiziere dies als Hinweis auf die kognitiven Gehalte (s.u.) zur Bezeichnung „bildspendender" und „bildempfangender Bereich". Ein Problem der Auslegung bleibt allerdings, dass die Bestim-

25

Weinrich 1976, 311. Zwar wird die Metapher hier noch als ein Wort bezeichnet, aber dann wird deutlich, „ daß Metaphern, im Unterschied zu Normalwörtern, unter keinen Umständen von den Kontextbedingungen entbunden werden können ... Eine Metapher ist folglich nie ein einfaches Wort, immer ein - wenn auch kleines - Stück Text" (1976, 318f, Zitat 319; die Darstellung ist später entstanden als die zuerst zitierte).

26

1976,308.

27

Sog. „Konterdetermination", vgl. 1976, 319 und zur Sache insgesamt 317ft.

28

Exaktheit strebt hier die kognitivistische Theorie Johnsons und Lakoffs an.

29

Wenn ich recht sehe, ist die Terminologie bei Weinrich wesentlich offener als in der Rezeption durch die neutestamentliche Exegese, da er „Bildspender" und „-empfänger" nicht erkennbar von den zugehörigen „Feldern" abgrenzt. Ich verwende das Begriffspaar für allgemeine Hinweise auf die interagierenden Parteien, verdeutliche jedoch den Aspekt des Konzeptes einerseits, der sprachlichen Niederlegung andererseits, durch präzise Terminologie.

30

1976, 284. Weinrich verdeutlicht das an einem Bildfeld, das aus der Koppelung von Wörtern des Finanz- und des Sprachwesens entsteht und zu dem Metaphern wie „Wortmünze", „Wortschatz" oder Aussagen wie die Montesquieus, dass Ubersetzungen nur Kupfergeld sind, gehören (vgl. die Beispiele a.a.O., 278-282).

Definition der Metapher

87

mung der Extension eines solchen „Bereiches" nicht objektiv gegeben ist, die Auslegung aber prädisponiert. Die Bestimmung von Bildspender und -empfänger ist bereits ein interpretativer Akt. Zur präzisen Darstellung der syntaktisch-textuellen Ebene im Unterschied zur semantischen ziehe ich daher ein Begriffspaar heran, das Max Black (s.u.) prägte. Das Wort oder die Wörter, die dem bildspendenden Bereich zugehören, nenne ich „Fokus", den Aussagekontext „Rahmen ". Die Bezeichnungen und Fragestellungen seien am Beispiel von 1 Kor 4,14 verdeutlicht: Die Aussage des Briefautors Paulus: „Ich ermahne euch als meine geliebten Kinder" ist eine Metapher, da die so Prädizierten nicht die leiblichen Kinder des Paulus sind. Der Fokus ist „τέκνα μου", der Rahmen der Aussagekontext - der über die Referenz auf das Schreiben des Briefes (γράφω) auch den weiteren Aussagekontext einbezieht. Der Bildspender ist die darin implizierte Eltern-Kind-Relation, der Bildempfänger die adressierte Gemeinde in ihrer Beziehung zu Paulus. Die Metapher wäre korrekt als „Eltern-KindPaulus-Gemeinde-Relation-Metapher" o.a. zu bezeichnen. In V.15 wird der Fokus erweitert (πατέρες, έγώ ύμας έγέννησα). Blicke in das enzyklopädische Konzept der Vater-Kinder-Relation lassen erkennen, dass auch νουθετεΐν und παιδαγωγοί zum Fokus gehören, insofern sie die elterliche Erziehungskompetenz betreffen. Weiterführend für die Auslegung, aber bereits interpretativer Akt ist zu entscheiden, was alles zum Fokus der Metapher gehört. Gelegentlich begegnen bei Paulus Metaphern, deren fokale Worte auch vom Rahmen her verstehbar sind (vgl. § 5.1.11.1 zu 2 Kor 11,if).

Dieses von einer Metapher inszenierte semantische Geschehen wird nicht auf der Ebene des Textes, sondern in der Lektüre oder Rezeption vollzogen: Die Rezipientin, der Rezipient muss eine Metapher als solche erkennen 31 . Die Metapher als Sprachform wendet sich auf besondere Weise an diese Mitarbeit des Rezipierenden, an lector und lectrix in metaphora. Ist die Semiose weder abschließend noch allgemein für alle Arten von Metaphern zu beschreiben, so haben doch Interaktionstheorien analytische Regeln benannt, die sich in der Praxis der Auslegung bewähren.

31

Für die Rezeptionsperspektive (vgl. § 1.1) führt unter den hier genannten die Theorie Ecos weiter. Auf die Bedeutung des Lesens für die Metapher weist auch Ricoeur in seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung der „Lebendigen Metapher" (1991, vi): „Erst in der Erzeugung eines neuen Satzes, in einem Akt unerhörter Prädizierung entsteht die lebendige Metapher wie ein Funke, der beim Zusammenstoß zweier bisher voneinander entfernter semantischer Felder aufblitzt. In diesem Sinne existiert die Metapher nur in dem Augenblick, in dem das Lesen dem Zusammenstoß der semantischen Felder neues Leben verleiht und die impertinente Prädikation erzeugt." Vgl. auch die rezeptionsästhetischen Überlegungen von Frey 2000 über die „Wirkung sprachlicher Bilder" (a.a.O., 341) im Blick auf erzählerische Texte.

88

Metaphern verstehen

2 Verstehen von Metaphern als enzyklopädische Aufgabe „Der lichtvollste und deshalb notwendigste und häufigste' ... aller Tropen, die Metapher, trotzt jeder enzyklopädischen Eintragung" 3 2 , und dennoch ist der Griff zur Enzyklopädie der einzige Weg zu seinem Verstehen 33 . Diese Metapher Ecos von der „ E n z y k l o p ä d i e " erhält ihre Prägnanz durch ihr Gegenüber zum „Wörterbuch" als einer einfachen Kodierung jeden Wortes mit einer Bedeutung, das an einer Metapher bereits scheitert 34 . Texte setzen ein wesentlich umfangreicheres Hintergrundwissen bei ihrem Modell-Leser voraus, das es jeweils partiell zu aktualisieren, zu „narkotisieren" und schlussfolgernd einzubringen gilt. Inhalt einer „Enzyklopädie" sind nicht nur ein „grundlegendes Wörterbuch", sondern „Koreferenzregeln", „kontextuelle und situationelle Selektionen", „Szenographien" etc.35 Metaphern regen auf besondere Weise „Inferenzen" an. Als solche bezeichnet man, in Abgrenzung von deduktiven Schlüssen, „Prozesse der Erschließung nicht in der materialen Textgestalt vorliegender Wissensbestände" 3 6 , kognitive Hypothesen, die ein Rezipient macht mittels seines extratextuellen Wissens in Bezug auf etwas, das im Text nicht expliziert ist 37 . Z w e i Weisen enzyklopädischen Wissens sind von besonderer Relevanz, u m der widersprüchlichen Prädikation auf höherer Ebene Sinn abzugewinnen. Es sind das Wissen von den beteiligten Konzepten (2.1) und die Kenntnis verwandter Metaphern (2.2).

2.1

Die Interaktion

Dass die Metapher eine „Interaktion" zweier Größen darstellt und auf einen kognitiven Prozess zielt, wird in verschiedenen Spielarten der

32

Eco 1985,133 unter Aufnahme eines Zitates von Vico.

33

Vgl. Eco 1996, 1318 zur Relevanz des Enzyklopädiekonzepts anstelle einer „Wörterbuch-Semantik", die nur synekdochische Metaphern (wie Ausdrücke pars pro toto) zulässt.

34

Vgl. Eco 1994, 94f; 1995,196t.

35

Vgl. die Übersicht a.a.O., 89; im einzelnen 94ft.

36

Massa 2000, 27; vgl. auch Pellegrini 2000,106-110 zu „inferentiellen Spaziergängen" in der Enzyklopädie mit Eco.

37

Vgl. Zimmermann 2000,127; Pellegrini 2000,108.

Verstehen von Metaphern als enzyklopädische Aufgabe

89

Interaktionstheorie 38 formuliert. Beide Teile der Metapher, fokale Worte und Aussagekontext, rufen Konzepte ab, die in „ein Gespräch" miteinander treten, wobei die Rollen der Gesprächspartner nicht austauschbar sind. Ich spreche daher im folgenden von „Übertragung" (für „ m a p p i n g " ) , wenn es gilt, das Gerichtetsein der Interaktion zu verdeutlichen. M.E. immer noch hilfreich hat Max Black beschrieben, dass in einer Metapher nicht zwei Worte, sondern zwei „Systeme" aufeinander bezogen werden. Die metaphorischen Worte rufen ein „System assoziierter Gemeinplätze" 3 9 ab und wirken dabei auf das System des Bildempfängers. Die Theorie wurde in erkerintnistheoretischem Interesse weiterentwickelt in der kognitivistischen Interaktionstheorie, die unter den Namen von Lakoff und Johnson firmiert 40 . Ihr Interesse richtet sich auf den Erkenntnisprozess, den eine Metapher widerspiegelt, und die Steuerung kognitiver Prozesse durch die omnipräsenten „trivialen"

38

Den Begriff hat Black in die Diskussion eingebracht, der Gedanke ist bereits bei I. A. Richards (1983 [1936]) vorhanden. Die Theorie wird dann aber sehr unterschiedlich entfaltet in der kognitivistischen Theorie, von Eco oder von Ricoeur (als Theorie der Wechselwirkung). Die Kritik Kuschnerus' (2002, 42 Anm.86) am Interaktionskonzept, dass es die Asymmetrie zwischen Bildspender und -empfänger nicht berücksichtige und wieder hinneigt zu einer Vergleichstheorie, ist m.E. zu dogmatisch. Jede Metapher ist individuell zu verstehen und die Beschreibung der Interaktion insofern eine Abstraktion. Zielt der heuristische Begriff der „Interaktion" auf die Mitwirkung beider Konzepte, so hält die Rede von „Übertragung" oder „Projektion" das Gerichtetsein fest. Zu Recht kritisiert Kuschnerus m.E. aber Thesen, nach denen das Konzept des Bildspenders selbst durch die Metapher erweitert wird (und in diese Richtung weist Black 1983, 73.75), etwa in dem Sinne, dass die Vaterprädikation Gottes auch die Väter dieser Welt als Väter beeindrucken sollte (so Weder 1984, 79f). Dies wird von einer Aussage m.E. nur dann nahegelegt, wenn sie eine Konkurrenz zwischen wörtlichem und nichtwörtlichem Gebrauch des Fokus signalisiert. So sollte Mk 3,34 der biologischen Familie Jesu durchaus zu denken geben. Die paulinische Selbstprädikation als „Vater" lässt hingegen keinerlei Erziehungstipps oder andere Implikationen für vorfindliche Väter in christlichen Gemeinden erkennen. Nur ein hehres Postulat bleibt auch die Schlussfolgerung Zimmermanns aus der Darstellung der Gottesbeziehung als Mann-Frau-Relation (2001, 688ff): Die Metaphorik stelle beide Aspekte in „reziproke Wechselwirkung" (a.a.O., 690), so dass auch die vorfindlichen Geschlechterbeziehungen durch die metaphorische Verwendung dieses Wirklichkeitsbereiches aufgewertet würden („religiöse Geschlechtsmetaphorik wirkt nun ihrerseits wieder zurück in die sexuelle Wirklichkeit", a.a.O., 688). Für Paulus ist nach 1 Kor 6,12-20 die Christusbeziehung zumindest mit außerehelichen sexuellen Beziehungen unvereinbar.

39

So Black 1983 [1954], 7of.

40

Vgl. initiativ Lakoff/Johnson 1980; eine Übersicht bietet Lakoff 1993; einführend sind Pielenz 1993, Ö4ff und Liebenberg 2001, 84ff. Zum theoretischen Hintergrund vgl. Baldauf 2000, bes. 120-124.

9

o

Metaphern verstehen

Metaphern 41 , allerdings mit dem Anspruch, dass die poetischen Metaphern nicht anders funktionierten42. Black unterscheidet Primärgegenstand (hier Bildempfänger genannt) und Sekundärgegenstand (Bildspender) und erklärt die Interaktion produzentenorientiert: „Die metaphorische Äußerung funktioniert, indem sie auf den Primärgegenstand eine Menge von assoziierten Implikationen' (associated implications) projiziert', die im Implikationszusammenhang (implicative complex) enthalten sind und als Prädikate auf den Sekundärgegenstand anwendbar sind. ... Wer eine metaphorische Aussage macht, selegiert, betont, unterdrückt und organisiert Merkmale des Primärgegenstandes, indem er auf ihn Aussagen bezieht, die den Gliedern des Implikationszusammenhangs des Sekundärgegenstandes isomorph sind. ... Im Kontext einer bestimmten metaphorischen Aussage ,interagieren' die beiden Gegenstände auf folgende Weise: (I) Das Vorhandensein des Primärgegenstandes reizt den Zuhörer dazu, einige der Eigenschaften des Sekundärgegenstandes auszuwählen; und (II) fordert ihn auf, einen parallelen ,Implikationszusammenhang' zu konstruieren, der auf den Primärgegenstand paßt; und umgekehrt (III) wiederum parallele Veränderungen im Sekundärgegenstand bewirkt." 43 Modifiziert wurde diese Analyse in der kognitivistischen Erkenntnistheorie, der es um die Metapher als "conceptual mapping" geht. "The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another" 44 . Eine Metapher ist in diesem Sinne nicht ein Wort, sondern eine Handlung, das Übertragen (mapping) zwischen zwei Konzepten, von denen das eine als Ursprungskonzept (source), das andere als Zielkonzept (target) fungiert. Hinter einer konkreten Metapher (token) steht eine "basic metaphor"

41

Sie gehen nicht nur davon aus, dass Metaphern, wie bereits gesagt, erst auf Satzebene entstehen, sondern auch davon, dass bereits das Denken metaphorisch strukturiert ist und die metaphorische Sprache - ihrerseits unhintergehbar - nur Abglanz dieses metaphorischen Denkens ist. Vgl. dazu Lakoff 1993, 202ft; er betont, dass auch poetische Metaphern nur Ausdruck dieses allgemeinen Hangs zum übertragenden Denken sind (a.a.O., 203 mit Lit.).

42

Vgl. genauer Lakoff 1993, 237ff.

43

Black 1983a, 392t (im Original Hervorhebungen; das Englische ist aus der Übersetzung übernommen). - Wie diese Interaktion im Sinne einer enzyklopädischen Semiotik zu rekonstruieren ist, deutet Eco 1985,169 ft an. Eine Komponentenanalyse im Sinne einer Kasusgrammatik seziert die beiden Konzepte auf das hin, was in der gegebenen Kultur beiden Zeichen interpretierend hinzugegeben werden kann und wo die Differenzen liegen. Aus dem riesigen „Universum der Enzyklopädie" (175t) aktiviert der Ko-Text einer Metapher durch ein Thema oder eine Isotopie einen Aspekt. Dementsprechend formuliert Eco fünf Regeln für die kontextuelle Interpretation einer Metapher (a.a.O., 182t: als abduktive Erschließung der Metapher über Sememe der beteiligten Größen, die beiden gemeinsam zugewiesen werden können oder gerade interessante Unterschiede darstellen), die ich aus Gründen mangelnder Praktikabilität nicht anwende: Obschon die Art, wie man eine Metapher zu verstehen scheint, einfach ist, ist „semiotisch gesprochen ... der Prozeß der metaphorischen Produktion und Interpretation ... langwierig und quälend" (191t, Zitat 192).

44

Lakoff / Johnson 1980, 5.

Verstehen von Metaphern als enzyklopädische Aufgabe

91

oder auch konventionelle oder konzeptuelle Metapher (type) 45 . Konzeptuelle Metaphern sind konventionell, insofern sie sich auf Konzepte zurückbeziehen, die allgemein geteilt werden. Eine metaphorische Aussage ist also nur der Niederschlag, die sog. „Installierung" einer konzeptuellen Metapher. Diese wird genauer definiert als "a connection through which one conceptual domain is understood in terms of the other ... A basic metaphor has three parts: first, a fixed conceptual domain that is the source; second, a fixed conceptual domain that is the target; and third a fixed metaphoric mapping at the conceptual level of entities, relations, knowledge, reasoning patterns, image-schemas, and schematic structure from the source to the target. The target is usually to some degree structured and created by the mapping." 46 Das "mapping" ist nicht beliebig: Es beruht darauf, dass die beiden beteiligten Konzepte auf der allgemeinen Strukturebene gemeinsame Strukturen haben47 bzw. (in den Aspekten, da die Struktur des Zielbereichs erst erschaffen wird) die metaphorisch neu entworfene Zielstruktur nicht sinnlos ist. Regulativ gegen ein "anything goes" sind die (nicht nur visuellen) "image-schemas", kollektive Vorstellungen mit einem Minimalprogramm von dem, was „Reise", „Schrei" etc. ist4®. Die genauere Beziehung wird in der "invariance hypothesis" bestimmt: " ( 1 ) Preserve the generic level of the target except for what the metaphor exists explicitly to change. (2) Import as much of the generic level structure of the source as is consistent with the first condition." 49 Der kognitive A s p e k t der Metapher w i r d in der These J o h n s o n s u n d L a k o f f s deutlicher als bei Black. Er ist wichtig, u m die Leistung der M e t a p h e r z u w ü r d i g e n (vgl. d a z u unten 3), aber auch, u m d e n V e r stehensprozess nachzuvollziehen. Für unser A n l i e g e n , die A u s l e g u n g einzelner „ a l t e r " M e t a p h e r n in ihrem Kontext methodisch z u b e g r ü n den, ist die „ o n t o l o g i s c h e " Priorisierung der konzeptuellen M e t a p h e r n i m kognitivistischen A n s a t z allerdings w e n i g fruchtbar. Weiter führt h i n g e g e n die an semantischen K o n z e p t e n orientierte Theorie Ecos, die bei Blacks in der Kritik stehenden 5 0 Beschreibung der Interaktion ansetzt: Die interagierenden K o n z e p t e sind Teil der im Text unterstell-

45

Vgl. Pielenz 1993, 71.

46

Turner 1991,158.

47

Diese Beobachtung erinnert an Jülichers tertium comparationis (vgl. ähnlich Raguse 1995, 26). Demgegenüber ist freilich zu beachten, dass es unserer Theorie folgend nicht nur einen Vergleichspunkt, sondern eher mehrere gemeinsame Strukturelemente gibt und dass diese z.T. erst qua Metapher geschaffen werden.

48

Vgl. genauer Liebenberg 2001,115 f.

49

Liebenberg 2001,123, vgl. auch 116.

50

Vgl. Liebenberg 2001, 92f. Vorgeworfen wird Black, dass er letztlich eine Vergleichstheorie entfalte.

Metaphern verstehen

92

ten Enzyklopädie 51 . Das Konzept der Enzyklopädie macht deutlicher als die an trivialen Metaphern der Muttersprache entwickelten Theorien, dass das Wissen, auf das eine sprachliche Äußerung zurückgreift 52 , kulturabhängig ist. Weiß die historisch-kritische Exegese prinzipiell um die kulturelle Distanz, so unterlaufen doch gerade in der Auslegung von Familienmetaphern unbewusste Eintragungen, offenbar in der irrigen Annahme, dass Familienkonzepte anthropologische Konstanten seien. Diese Theorien konvergieren darin, dass die beiden Konzepte nur teilweise relevant werden, und zwar in Abhängigkeit von einer Hypothese über den Aussagezusammenhang. Mag die Interaktion auch nicht nach allgemeinen Regeln erfolgen, sondern bestimmt vom Kontext, aber auch von der Beziehung zwischen den beiden Konzepten 53 , so wird doch der Verstehensprozess in jedem Fall nicht allein durch den Fokus und den Bildspender geleitet, sondern auch durch den Rahmen und den Bildempfänger, und er wird auch von einer Annahme über die Bedeutung des weiteren Aussagekontextes geleitet. "Since an encyclopedic competence is potentially unlimited - and since the idea of encyclopedia itself is a theoretical postulate - in order to interpret a metaphor an ideal reader is supposed to single out... only the features that the context suggests as the most relevant for the metaphorical interaction." 54 Das stellt einerseits die Aufgabe, den Bildempfänger ebenfalls zu studieren, entlastet andererseits die prinzipiell unendliche „Lektüre" in der Enzyklopädie.

51

Das, was ich mit Eco summierend als „Enzyklopädie" begreife, wird in der „holistischen kognitiven Semantik" genauer untersucht auf seinen kognitiven Status, etwa Bildschemata (vgl. Baldauf 2000, 120-124). Ich nehme hier das Enzyklopädie-Konzept auf, weil es unseren Zugang zu 2000 Jahre altem Denken und Texten besser erschließt.

52

Der für die Auslegung biblischer Metaphern so wichtige Aspekt der kulturellen Dependenz einer Metapher wird wohl deshalb oft übersehen, weil die Theorien an zeitgenössischen Metaphern der eigenen Sprache entfaltet werden. Eco hingegen bringt einleuchtende Beispiele von älteren Metaphern, deren Pointe sich erst erschließt, wenn man sie im Sinne damaliger kultureller Gegebenheiten liest (1985, 151-155)·

53

Vgl. beispielhaft die Analyse Ecos von den vier Metaphernarten des Aristoteles (1985,138-155).

54

Eco 1996,1319.

Verstehen von Metaphern als enzyklopädische Aufgabe

93

2.2 Bildfelder und konzeptuelle Metaphern als enzyklopädische Inhalte Um eine Metapher zu verstehen, wird nicht nur das Wissen über Bildspender und -empfänger virulent. Teil der Enzyklopädie sind auch Metaphern als solche. Wenn eine Metapher bereits in der Enzyklopädie „eingetragen" ist, kürzt sich der Prozess des Verstehens praktisch ab, ja wird im Falle der lexikalisierten Metapher gar überflüssig 55 . Die Erklärung der Metapher als Interaktion zweier Konzepte, nicht nur Wörter, zeigt aber, dass nicht allein - nur theoretisch mögliche identische Instantiierungen einer Metapher das Verstehen leiten können, sondern auch Metaphern, die aus denselben Bildspende- und Bildempfängerbereichen gebildet wurden. Hier setzt die Bildfeldtheorie Weinrichs an, die in kognitivistischer Perspektive eine Entsprechung in der Theorie von Konzeptmetaphern und basalen Metaphern hat. Ich gehe ausführlich auf die Bedeutung dieser Theorien ein, weil ihre Relevanz in der Auslegungspraxis m.E. überschätzt wird. Weinrich entwickelte aus der Beobachtung, dass immer wieder dieselben bildspendenden und bildempfangenden Bereiche in Metaphern liiert sind, die Theorie des Bildfeldes 56 . Das Verständnis einer Metapher ist nach dieser strukturalistischen These geprägt durch ihre Zugehörigkeit zu einem Bildfeld. Die These über die diachrone Verwandtschaft von Metaphern wurde für traditionsgeschichtliche Auslegungen wichtig. Ein solches diachron immer wieder anzutreffendes Bildfeld ist etwa die metaphorische Beschreibung der Relation Gottes zu Menschen als sexuelle und eheliche Beziehung 57 . Weinrich sah hier ein analoges Phänomen zur linguistischen Unterscheidung de Saussures zwischen langue, als dem „objektiven strukturierten Sprachbesitz einer Gemeinschaft", und parole als dem „individuellen Sprechakt ..., der gewisse Elemente des Sprachbesitzes aktualisiert" 58 . Auch die einzelne Metapher sei wie die parole nicht vom Sprachsystem isolierbar, sondern

55

Ich übergehe die Diskussion über die „Kühnheit" von Metaphern (die Kategorie führte Weinrich ein, vgl. 1976, 295-316) und ihre „Usualität" (Pielenz 1993, 72), weil es sich hier m.E. um Urteile handelt, die zeitbedingt und nur für die eigene Muttersprache zu fällen sind.

56

Vgl. neben den im folgenden genannten Einzelnachweisen 1976, 325-327. Der Begriff „Bildfeld" wird allerdings in der Exegese öfter fälschlich verwendet für das, was Weinrich „Bildspender" nennt, sodass die „Bildfeldanalyse" im Prinzip eine Analyse des Gebrauches eines Konzeptes als Bildspenders ist (so bei Röhser 1987; Hezser 1990; von Gemünden 1993). Diese Missadaption Weinrichs offenbart wider Willen die Grenzen einer „Bildfeldanalyse".

57

Vgl. insbesondere die diachrone Analyse der Geschlechtermetaphorik durch Zimmermann 2001.

58

1976,277.

Metaphern verstehen

94

stehe als solche nicht nur in einem diachronischen Traditionszusammenhang, sondern - fast immer59 - auch „in sprachinternen Zusammenhängen mit anderen Metaphern, die deskriptiv-systematisch dargestellt werden können." 60 Das Verständnis von vielen Metaphern sei gerade deshalb möglich, weil sie schon längst „in einem festgefügten Bildfeld" stünden 61 , wie Weinrich in Analogie zum linguistischen Begriff des Wort- oder Bedeutungsfeldes sagt62. „In dem Maße, wie das Einzelwort in der Sprache keine isolierte Existenz hat, gehört auch die Einzelmetapher in den Zusammenhang ihres Bildfeldes." 63 In paradigmatischer Relation seien also auch bei der einzelnen Metapher andere Metaphern desselben Bildfeldes in absentia präsent. Der synchronische Blick auf das Bildfeld soll zeigen, welche Möglichkeiten bei der Auswahl einer Metapher des Bildfeldes bestanden, und mithin, welche zugleich negiert wurden 64 . Die Beobachtung, dass Metaphern in ihren Bestandteilen verwandt sind, von „Bildfeldern" nach Weinrichs Diktion, ist im kognitivistischen Paradigma die Grundlage der Theorie, dass Konzeptmetaphern das Denken strukturieren. Insofern metaphorische Ausdrücke nur die kognitiven Konzepte widerspiegeln, ergeben sich zwei Ebenen von Metaphern: metaphorische Ausdrücke (im beliebten Beispiel: "Our relationship has hit a dead end street" 65 ) und konzeptuelle Übertragungen, die den metaphorischen Ausdrücken zugrunde liegen (im Beispiel: Love is a journey) 66 und jede Menge anderer, auch neuer metaphorischer Ausdrücke generieren können, die aufgrund der Kenntnis des Konzepts verstanden werden können. Die Konzeptmetaphern sind wiederum zu subsumieren unter allgemeinere Konzepte (im Beispiel: purposeful life is a journey 67 ) . Die Beobachtung das Verstehen lenkender Konzepte unterschiedlicher Hierarchie wird noch weiter getrieben. Selbst grundlegende abstrakte Konzepte werden als Metaphern verstanden, etwa wenn von der Zeit in räumlichen Kategorien gesprochen wird oder von Ereignissen als handelnden Personen. Auch eine Personifikation ist also eine Metapher68. Ganz basal sind die Metaphern "the generic is specific", die Übertragung, die ermöglicht, in Einzelheiten vom Allgemeinen zu reden, und "the great chain of being meta-

59

Diese Einschränkung ist allerdings für Weinrich nicht so relevant, weil die isolierte Metapher selten und in der Sprachgemeinschaft nicht so erfolgreich sei, vgl. a.a.O., 286.

60

A.a.O., 279.

61

A.a.O., 282.

62

Weinrich übernimmt hier Theorie und Terminologie J. Triers.

63

Weinrich 1976, 283.

64

So Hezser 1990, 224t in der Darstellung des Anliegens Weinrichs.

65

Lakoff 1993, 2o6ff, Zitat 206 (im Original mit Hervorhebung).

66

Zum "conceptual mapping" vgl. Lakoff 1993, 2o6ff. Es beruht in der Terminologie Lakoffs auf "ontological correspondences" (210 u.ö.).

67

Lakoff 1993, 224.

68

Vgl. Lakoff 1993, 23iff.

Verstehen von Metaphern als enzyklopädische Aufgabe

95

phor" 69 , die Annahme, dass alles Sein zusammenhänge. Nach Lakoff und Johnson kann man aus der Vielfalt der konzeptuellen Metaphern ein kohärentes System von Subkategorien ableiten70.

Wie in der exegetischen Literatur eingebürgert, bezeichne ich mit dem Begriff „Bildfeld" eine feste Liaison von Bildspender und Bildempfänger, die sich in der Literatur der Zeit greifen lässt, um den Traditionsaspekt einer Metapher zu bezeichnen. Der Begriff ist jedoch relativ unscharf, weil er den Umfang der beteiligten „Bereiche" offen lässt. Je nachdem, wie weit man die Bereiche fasst, können zwei Metaphern einem Bildfeld zugewiesen werden oder auch nicht. Deutlicher als das semantische Paradigma ist hier das kognitivistische, weil es erfasst, dass die Zuordnung der Konzepte vom Abstraktionsgrad abhängt. Aber auch dieses kann nicht verhehlen, dass die Bestimmung dessen, was semantisch oder konzeptuell zusammengehört, eine Frage der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion ist und nicht in der Natur der Dinge liegt. In der kognitivistischen Sicht der metaphorischen Hierarchien wird der Begriff „Metapher" polysem, denn er kann sowohl die kognitive Konzeptmetapher als " t y p e " bezeichnen wie ihre Instantiierung, die metaphorische Äußerung, das "token". Ich spreche von „Metaphern" nur im Blick auf konkrete metaphorische Äußerungen, verwende jedoch gelegentlich den Begriff „Konzeptmetapher", um den kognitivgenerischen Aspekt einer Übertragung zwischen Konzepten hervorzuheben. Diese Aspekte seien an i K o r 4,14 verdeutlicht: Die Metapher „Ich ermahne euch als meine Kinder" kann man auf das Bildfeld der Verbindung von Familienrelationen als Bildspender und nichtfamiliären Relationen als Bildempfänger zurückführen. Einem so umrissenen Bildfeld gehört auch die Geschwisteranrede unter nichtverwandten Christinnen an. Doch ist für das Verstehen von 1 Kor 4,14 die frühchristliche Geschwisterfiktion relevant? Wird der Text verständlich, wenn man Paulus als Vater (vgl. 4,15) und Bruder egalisiert? Enger kann man das Bildfeld beschreiben als Menge von Metaphern, in denen die Eltern-Kinder-Relation auf eine Beziehung zwischen Menschen appliziert wird, die nichtgenealogisch ist. Dann gehört die Metapher Gal 4,19 von Paulus als kreißender Mutter der galatischen Adressatinnen zum selben Bildfeld (vgl. § 8). Die Frage ist dann, ob die Beziehung einer gebärenden Mutter und eines Vaters zu Kindern in den Metaphern identisch gedacht ist. Definiert man als Bildfeld die Übertragung von Vater-Kind-Relationen auf nichtgenealogische Relationen, so gehört die Metapher 1 Kor 4,14 zum selben

69

Vgl. dazu genauer Liebenberg 200i,i22ff mit biblischen Beispielen.

70

Vgl. Pielenz 1993, 85 ff, zugleich kritisch und modifizierend.

96

Metaphern verstehen

Bildfeld wie die Vater-Anrede Gottes in ι Kor 1,3, und wieder ist zu fragen, ob und inwieweit diese Metaphern miteinander in Beziehung stehen. Im kognitivistischen Paradigma lassen sich diese Metaphern in Baumdiagrammen nach allgemeineren und speziellen hierarchisieren. Ein solches kann zeigen, wie die Denk- und Verstehensprozesse bereits geschult sind. Als relativ allgemeine Konzeptmetapher kann man die Übertragung genealogischer Beziehungen auf nichtgenealogische Beziehungen bestimmen. Die Metaphern von Paulus als Vater einer Gemeinde und die Prädizierung eines Kampfes als „Mutter aller Schlachten" sind Instantiierungen derselben Konzeptmetapher. Der Wert dieser Feststellung ist damit aber noch nicht geklärt.

Anhand des Beispiels wird deutlich, dass die Rückführung von konkreten Metaphern auf Bildfelder oder Konzeptmetaphern nur bedingt erklärt, wie eine bestimmte metaphorische Aussage verstanden werden soll. Dennoch leitete die Annahme, dass die „Verwandtschaft" von Metaphern ihre Auslegung erklärt, die Exegeten längst vor Weinrichs theoretischer Fundierung als Bildfeldtheorie. Der übliche exegetische Reflex auf eine paulinische Metapher ist der Verweis auf vergleichbare Metaphern - bzw. vielfach oft nur auf Verwendungen desselben Bildspenders - in älteren Texten, der oft genug als Interpretation der Metapher fungiert. Tatsächlich kann ein Vergleich mit anderen Metaphern oder Verwendungen des Bildspenders für uns Nachgeborene erhellend sein als „Blick" in die „Enzyklopädie". Doch allein die Tatsache, dass eine metaphorische Aussage einer anderen metaphorischen Aussage ähnelt, erklärt noch nicht ihre Bedeutung und Intention. Eine Metapher kann eine andere Metapher plagiieren, ohne dass das als solches erkannt werden soll. Aber auch intendierte Referenzen 71 können sich auf unterschiedliche Weise auf bekannte Metaphern beziehen. Wie, ist jeweils im Einzelfall zu prüfen. Ich nenne hier nur vier allgemeine Formen: Die Anspielung auf eine metaphorische Tradition kann Assoziationen eröffnen. Eine Metapher kann autorisierend zitiert werden, aber auch gegen ihre ursprüngliche Intention „enteignet" werden. Und die Variation eines traditionellen Bildfeldes kann als Textsignal fungieren und die Veränderung hervorheben 72 .

71

Von einer intendierten Referenz rede ich hier in Analogie zur intendierten Intertextualität im Unterschied zur latenten, vgl. Merz 2004, 29ft und die folgende Anmerkung.

72

Der Rekurs einer Metapher auf metaphorische Traditionen ist m.E. zu erfassen als Intertextualität (vgl. auch die Andeutung Ecos 1995, 210ff; 1996, 1321) und dementsprechend so differenziert wahrzunehmen wie dieses Phänomen, vor allem unter Klärung der jeweiligen Prämissen. Denn im Prinzip kann, wie in einem weiten Sinne von Intertextualität alles „Text" ist, auch eine Metapher mit vielen anderen desselben Bildfeldes ins Gespräch gebracht werden. Da wir hier jedoch versuchen, den in

Verstehen von Metaphern als enzyklopädische A u f g a b e

97

Am Beispiel von i K o r j f lässt sich durchspielen, welche Intention der Anschluss an ein traditionelles Bildfeld haben kann. Paulus bezieht hier mehrfach Bildspender, welche die Bibel sonst von Gott gebraucht, auf sich (pflanzen, bauen, zeugen; vgl. §7.3 und 7.4). Man kann diese Adaption biblischer Metaphorik als Aufwertung der eigenen Rolle verstehen. Wäre die Gemeindegründer-Vater-Metapher jedoch eine Anspielung auf Mysterienterminologie, die Bezeichnung des Mystagogen oder Initianten als Vaters des Neophyten, dann könnte sie eine polemisch-enteignende Note haben. Eine solcher „Eintrag" der zeitgenössischen Enzyklopädie lässt sich aber nicht nachweisen.

Eine Metapher kann also als Aufnahme einer älteren sinnerschließend gelesen werden; der Sinngewinn und Textsignale können eine solche Lektüre legitimieren. Dennoch dispensiert der Rückbezug auf eine andere Metapher als Prätext nicht von der Frage nach den interagierenden Konzepten in der zu deutenden metaphorischen Aussage, nach der mit ihnen jeweils vorausgesetzten Enzyklopädie 73 . Vor allem aber bestimmt der Aussagekontext, der Rahmen, das Verstehen einer metaphorischen Aussage.

den Text eingeschriebenen Leseprozess zu rekonstruieren, fragen w i r nach der in tendierten Intertextualität. Eine genauere Kriteriologie im Blick auf Metaphern kann hier - w e n n überhaupt - nicht geleistet werden angesichts der Vielfalt metaphorischer A u s s a g e n und Rückbezüge. Vgl. als allgemeine Hinführung auf den wissenschaftstheoretischen Hintergrund und die unterschiedlichen Möglichkeiten, Intertextualität zu thematisieren, Alkier 2004; ausführlich Merz 2004, 5ff. Merz zeigt a.a.O., 4 6 - 5 7 am Beispiel der Löwenmaulmetapher in 2 Tim 4,17, dass diese lesbar ist auf dem Hintergrund von verschiedenen Prätexten, sowohl als Anspielung auf metaphorischen Gebrauch des „ L ö w e n " (Ps 2 i , 2 2 L X X ; l S a m 17,37 u.a.m.) wie unmetaphorischen (Dan 6,2iTheod; i M a k k 2,60). Intertextuell mehrfach kodiert ermöglicht die Metapher eine „Sinnkomplexion", reichert den Textsinn an (a.a.O., 56). Der so erschlossene Gehalt ergibt sich aber auch bereits aus dem Kontext. 73

Dies lässt sich leicht am Beispiel der autorisierenden A u f n a h m e biblischer Metaphorik in liturgischer Sprache zeigen. In heutiger Gebetssprache etwa m a g die Anrede Gottes als „unser Vater im H i m m e l " im Sinne eines bürgerlich-neuzeitlichen Konzepts v o m alltäglich abwesenden Vater und eines populärwissenschaftlichen Weltbildes v o m unendlichen Universum verstanden werden als Transzendenz-Metapher. Für jüdische Menschen des 1. Ih. n.Chr. hingegen benannte es wohl die N ä h e und Zugehörigkeit der Betenden zu Gott und diesen als Fürsorgenden (in Einleitung zu den folgenden Bitten), während „ i n den H i m m e l n " die Differenz zu irdischen Vätern markiert (vgl. L u z Mt B d . i , 443f).

9

Metaphern verstehen

8

3 Zur Leistung von Metaphern 3.1

Metaphern als Vermittlung von Kognitionen 74 und als offene Kunstwerke

Die Frage, wie Metaphern sich zur Wirklichkeit verhalten, ist diffizil und wird unterschiedlich beantwortet, je nachdem, welche Metaphern als Paradigma dienen, aber auch abhängig von der jeweiligen Auffassung davon, was Sprache ist und wie sie sich zur Wirklichkeit verhält75. Ich klammere die Frage nach Referenzfähigkeit von Sprache auf „außersprachliche Wirklichkeit" und die Wahrheitsfähigkeit von Metaphern aus und setze nur voraus, dass es eine sprachimmanent konstruierte und vermittelte Wirklichkeit gibt. Für zwischenmenschliche Beziehungen sollte evident sein, dass sie existieren, aber ihre Bedeutung und Praxis je verschieden verstanden werden können. Für die Kommunikation derartiger Wirklichkeit kommt Metaphern eine besondere Fähigkeit zu, die allgemein, auch jenseits des kognitivistischen Paradigmas, als ihr „kognitiver" Aspekt beschrieben wird 76 . Die ungewohnte Perspektive auf einen mehr oder weniger bekannten Gegenstand eröffnet eine neue Sichtweise. Metaphern erschließen gerade insofern Wirklichkeit in einem wissenssoziologischen Sinne, als sie die inter subjektive Kommunikation über Wirklichkeit und damit ihre soziale Konstruktion ermöglichen77.

74

Kognitionen sind Erkenntnisse aus inferentiellen Prozessen, also neu gewonnenes Wissen aus kognitiven Prozessen; vgl. Massa 2000, 28.

75

Vgl. dafür beispielhaft Pöttners Kritik an Ricoeur aufgrund eines anderen Begriffs von Realität (1997) und die ganz andere Kritik von Massa 2000, 270ff aufgrund eines anderen Begriffs von Referenz und Wirklichkeit.

76

Vgl. dazu z.B. Massa 2000, 27off. In Analogie zu wissenschaftlicher Erkenntnisbildung spricht Eco im Anschluss an Ch. Peirce von abduktiver Erkenntnisführung, weitergeführt durch Induktion und Deduktion im Verlauf des Erkenntnisprozesses (1985, 152t; 1996, i32of). Die kognitive Leistung von Metaphern lässt sich besonders an „theoriekreativen" Metaphern ablesen, in denen ein neuer Wissenschaftsgegenstand analog einem bekannten Gegenstand begriffen wird. So wird in der Kognitionsforschung das Hirn als Computer metaphorisiert, die linguistischen Erklärungsmuster wurden zunächst aus der Biologie, später aus der Chemie, dann aus der Mathematik übernommen (vgl. Pielenz 1993, 76ff).

77

Vgl. zur Funktion ntl. Metaphern in der Konstruktion und Kommunikation eines neuen Wirklichkeitsverständnisses Sandnes 1994, i3ff-34f (s. §1.2.3.2) und M. Walter 2001, 50ff, zur Funktion der Metapher, „Sinn darzustellen und als akzeptabel erscheinen zu lassen" (53). Sie greifen die erkenntnistheoretischen Thesen Bergers und Luckmanns (1994) auf, Sandnes vor allem zur Beschreibung des Charakters von Konversionen, Walter auch zur Darstellung der Legitimation von Sinnwelten.

Die Wirkung und Pragmatik von Metaphern

99

Metaphern können sich eher abbildend auf die „Wirklichkeit" beziehen, um Aspekte hervorzuheben, oder eher gestaltend auf die Wirklichkeitskonstruktion einwirken. Zwischen den Dimensionen der „Mimesis" und „Poiesis" lässt sich die Wirkung der Metapher umreißen78. Geht man davon aus, dass die „Wirklichkeit" nur als sozial erarbeitete Konstruktion „wirklich" ist, ist der „poietische", wirklichkeitserschließende Aspekt einer Metapher stets virulent, auch wenn sie nicht mehr beansprucht, als Bestehendes abzubilden. Insofern in Metaphern die „Dynamik des Wirklichen" durchscheint, bereichern sie auch „meta-metaphorisch" die Erkenntnis.79 Die inferentiellen Prozesse, die eine Metapher anregt, sind jedoch nicht vollkommen determiniert. Sind sie durch die Aussage und ihren Kontext geleitet und insofern nicht beliebig, so sind sie doch auch durch eine „konstitutive Offenheit" gezeichnet, da „der Rezipient ... wesentliche Elemente zur Sinnerstellung notwendig beitragen" muss80. Die Menge inferentieller Leistungen ist nicht scharf umgrenzt, und auch individuelle Assoziationen werden durch beide interagierenden Konzepte abgerufen. Metaphern mögen wirken wie Denkaufgaben ohne eine „objektive" Lösung und erweisen der Mitarbeit der Lesenden insofern eine besondere Reverenz.

3.2 Pragmatische Dimensionen von Metaphern Die im folgenden differenzierten Aspekte sind nicht alternativ, sondern additiv zu verstehen. Je nach Metapher und Leseprozess herrschen einzelne Funktionen vor 81 .

78

Vgl. Zimmermann 2003,13; vgl. Ricoeur 1991, 35 f.

79

Vgl. Eco 1985, 154 (mit Bezug auf Aristoteles): „Metaphorisches Wissen ist also das Wissen um die Dynamik des Wirklichen" bzw.: „die besten Metaphern sind jene, in denen der kulturelle Prozess, die eigenständige Semiose durchscheint".

80

Vgl. so Massa 2000, 28f, Zitat 28, in Bezug auf Gleichnisse.

81

Hilfreich ist die Liste Bertaus (1996, 216-242), die Funktionen und Gebrauchsweisen der Metapher nennt. Als Funktionen differenziert sie die phatische, katachrestische, epistemische, illustrative, argumentative und sozial-regulative. Zimmermann 2000, 127 unterscheidet kognitive, affektive, argumentative und ethische (gemeint ist wohl paränetische) Aspekte. Vgl. auch die "powers of metaphor" laut der kognitivistischen Theorie, dazu Liebenberg 2001,118 ff.

100

Metaphern verstehen

3.2.1

Die appellative Funktion

Durch den semantischen Bruch mit der herkömmlichen Bedeutung provozieren Metaphern eine besondere Mitarbeit des Lesers, der Leserin am Text. Gefordert ist die „Arbeit" an der Metapher, um über dem zerbrochenen Sinn einen neuen zu entdecken82. Metaphern stellen implizite Thesen dar, insofern sie beanspruchen, zutreffend zu sein. In diesem Sinne können sie appellieren, sich bzw. die Wirklichkeit im Sinne der Metapher neu zu verstehen83. Dieser Aspekt kann der Sprachform der Metapher besonders eignen, weil sie zugleich den Bruch des alten und den neuen Sinn kommuniziert84. Als auktoriale Setzung können Metaphern aber m.E. auch weniger einladend als zwingend sein85.

3.2.2 Die katachrestische Funktion Die katachrestische Fähigkeit von Metaphern, semantische Lücken zu füllen oder schwer fassbare oder unbekannte Dinge zu beschreiben86, steht im Vordergrund der hier analysierten Metaphern: Die Metaphern suchen in Anknüpfung an bekannte Konzepte etwas in Worte zu fassen, für das es ein „nomen proprium" nicht gibt, und es so mitteilbar zu machen87. Hat eine Katachrese den Weg ins Lexikon gefunden, so ist sie im strengen Sinn keine Metapher mehr. Die hier untersuchten paulinischen Beziehungsmetaphern haben dies durch ihre Verschiedenartigkeit selbst verhindert88. In der Auslegungsgeschichte hat dies dazu geführt, dass die bleibende Bedeutung des Gemeindegründers unter

82

Diese Arbeits-Metapher ist angeregt von Ricceur, der von „Arbeit am Sinn" und „Arbeit der Ähnlichkeit" spricht (1974a, 47t).

83

Auf diese Funktion von Metaphern zielen in unterschiedlicher Weise Kuschnerus 2002; Pöttner 1997 oder Weder 1984 (vgl. 87ft) in ihrem Interesse an Gleichnissen und Metaphern als ansprechender und beanspruchender Sprache.

84

Vgl. Kuschnerus 2002, 39 mit Ricoeur 1991, 216 u.a.

85

Dies gilt m.E. etwa für die nach Kuschnerus „einladende" Briefmetapher 2 Kor 3,1-3 (vgl. §5.1.4.1).

86

Vgl. Bertau 1996, 2i7ff.232f.

87

Vgl. entsprechend die Hinweise auf die „soziale Funktion" der Metapher bei M. Walter 2001, 48 und 53f.

88

Dies wird im einzelnen an der Auslegung erkennbar. Auffällig ist hier besonders die Häufung von Metaphern in 1 Kor 3t; vgl. § 7.

Die Wirkung und Pragmatik von Metaphern

101

den Begriff „Apostel" gefasst als eigenständiges Anliegen des Paulus übersehen wurde.

3.2.3 Die heuristische Funktion®9 Die kognitive Leistungsfähigkeit von Metaphern war bereits ausgeführt worden. Hier ist ihr „didaktisches Geschick" hervorzuheben: Die Metapher knüpft an das Bekannte an, den Bildspendebereich, um durch die Übertragung zugleich anzuzeigen, dass es gilt, Neues zu erschließen. Es „gehört ... gerade zur Strategie der Metapher, die Rede auf der Ebene der wörtlichen Auslegung zum Scheitern zu bringen, um aus den Trümmern dieser absurden und ungeheuerlichen Aussage einen neuen Geltungsbereich erstehen zu lassen, der eine neue, sinnstiftende Interpretation der Aussage ermöglicht." 90 Indem Metaphern bestimmte Zusammenhänge ins Licht rücken, stellen sie zugleich andere in den Schatten. Derartige Vereinfachungen können didaktisch sinnvoll sein, aber auch primär der persuasio dienen.

3.2.4 Die strukturierende und wertende Funktion 91 Bei Metaphern, die einen bislang nicht definierten Bildspender neu beschreiben, wird ihre organisierende Leistung durch Übertragung von linearen, räumlichen oder relationalen Strukturen besonders wichtig. Die Bildspender, die auf mit dem christlichen Glauben neu entstandene Beziehungen projiziert werden, bringen jeweils eine Zahl von „Valenzen" ein. Mit dieser chemischen Metapher sei die „Bindungsfähigkeit" der Bildspender bezeichnet, die Rollen und Beziehungen sichtbar zu machen. Zur Verdeutlichung noch einmal das Beispiel: Eine Szene von Eltern und Kindern bietet mehrere „Rollen", Vater, Mutter, Kind resp. Kind und Geschwisterkind. Die narrative Entfaltung von Lk 15,11ft zeigt eine mögliche Auswahl aus dem Rollenrepertoire: Vater, erster Sohn, zweiter Sohn. In i K o r 4,14-17 ist ebenfalls die Mutter nicht im Blick, aber das Repertoire wird etwas erweitert: Zu Vater, Kindern und anderem Sohn (Timotheus 4,17) wird hier eine „Unzahl

89

Vgl. auch M. Walter 2001, 48.

90

Meurer 1997, 211 im Anschluß an Ricceur.

91

Vgl. ähnlich Liebenberg 2001, 118.120 über "power to structure" und "power of evaluation".

102

Metaphern verstehen

von Betreuern" (παιδαγωγοί, 4,15) herbeizitiert. Damit ergeben sich insgesamt vier Valenzen, die jeweils unterschiedliche Beziehungen darstellen. Für Gott resp. Christus ist in diesem Beziehungsszenario, anders als in der Parabel Lk I5,iiff, kein Platz. Christus wird dementsprechend additiv hinzugefügt (4,15). Die Ü b e r t r a g u n g v o n kollektiv geteilten W e r t u n g e n des B i l d s p e n d e r s auf d e n B i l d e m p f ä n g e r liegt gerade bei B e z i e h u n g s m e t a p h e r n nahe, w e i l die zwischenmenschlichen Relationen mit allgemein geteilten, ja z u m Teil biologisierten Wertungen ( „ M u t t e r l i e b e " ) besetzt sind. Solche Urteile können d e n Status u n d Stellenwert einer Position betreffen, ihre Autorität, ihre Legitimität. In unserem Beispiel 1 Kor 4,i4f behauptet Paulus eine exklusive Vater-Rolle. Die ergibt sich aus der im Text ausgesprochenen Auffassung, dass ein Kind nur einen Vater hat. Die Einzigartigkeit wird noch durch die alternative Rolle der παιδαγωγοί unterstrichen. Der Unterschied zwischen Vater und Betreuern wird markiert im Blick auf die Quantität, ergibt sich aber auch aus dem in V.15 hervorgehobenen Aspekt der „Erzeugerschaft". Dieser kommt mit der zeitlichen Priorität nach antiker Uberzeugung zugleich eine qualitative Priorität

3.2.5

Die argumentative Funktion

M e t a p h e r n können in nuce argumentieren. Pielenz zeigt dies an konzeptuellen Metaphern 9 2 : Sie vereinigen in sich d a s A r g u m e n t u n d die Regel, nach der das A r g u m e n t das z u B e w e i s e n d e z u sichern vermag. Pielenz verbindet die kognitivistische Metapherntheorie mit der alltagssprachlichen Argumentationstheorie Toulmins93. Metaphern würden in formaler Hinsicht wie Topoi fungieren 94 . Argumente setzen sich zusammen aus dem, dessen Geltung gesichert werden soll, d.h. der Konklusion, dem Argument als dem, das die Geltung sichern soll, und der Schlusspräsupposition als dem, das den Ubergang vom Argument zur Konklusion sichert. „Jede konzeptuelle Metapher läßt sich als eine stille Matrix impliziter Schlußpräsuppositionen quasi-topisch deuten, die in Rechtfertigungszusammenhängen Argumente zur Befestigung kritisierter Geltungsansprüche anbietet." 95 Konventionelle Meta92

Vgl. Pielenz 1993 oder eine geraffte Darstellung der Arbeit durch Buntfuß 1997, 53 ff.

93

Vgl. Pielenz 1993, 47ff. Pielenz modifiziert die Argumentationstheorie mit Öhlschläger, indem er statt einer in praxi schwierigen funktionalen Unterscheidung von Schlussregel und Stützung zusammenfassend von der „Schlusspräsupposition" spricht als einer Äußerung, die eingebracht wird für den Übergang von dem Argument zur Konklusion.

94

A.a.O., ii9ff.

95

A.a.O., 12, als Zusammenfassung der These.

Die Wirkung und Pragmatik von Metaphern

103

phern fungierten als „ein erkenntnismächtiges System internalisierter Muster, die, selten objektiviert, jeglichem argumentativen Handeln vorausliegen. Metaphern sind implizit erlernter Teil der individuellen kommunikativen Kompetenz und gleichzeitig überindividuelle Facette eines je gesellschaftlichen Erfahrungshorizontes." 96 Aus dieser argumentativen Fähigkeit der Metaphern lasse sich letztlich ablesen, welche Relevanz sie für die gemeinschaftliche Wirklichkeitskonstruktion, Alltagsbewältigung und Stabilisierung des Konsenses hätten97.

Dieses argumentative Vermögen ist nach der Analyse Pielenz' insbesondere konventionellen konzeptuellen, d.h. das allgemeine Urteil prägenden Metaphern eigen. Aber auch neue Analogie-Argumente beruhen auf der argumentativen Fähigkeit der Metaphern (s. 4). Auch aus einer Metapher kann ein Argument abgeleitet werden unter Voraussetzung der impliziten Schlussregel, dass sich das metaphorisch Prädizierte verhält wie der Bildspender. So kann Paulus aus der metaphorischen Verhältnisbeschreibung von sich als einzigem Vater der Korintherinnen die Forderung ziehen, ihn nachzuahmen, weil dies im Konzept des Vaters mitgegeben ist (1 Kor 4,15t).

4 Bild, Metapher, Vergleich, Analogieargument. Formkritische Klärungen Im folgenden sind kurz die Arten bildhafter Rede voneinander zu unterscheiden, die in meinen Referenztexten begegnen. Ich gebrauche im Anschluss an die Alltagssprache um der Aussagekraft willen, nicht im Sinne ästhetischer Theorien, „Bild" als Oberbegriff verschiedener Formen bildhafter Rede in optischer Metaphorik. Der Unterschied von Metapher und Vergleich, der formal durch eine Vergleichspartikel wie ώς gekennzeichnet sein mag, ist nur relativ. Die sachliche Differenz liegt darin, dass der Vergleich zwei Größen zunächst gleichberechtigt nebeneinander stellt und so prinzipiell umkehrbar ist, während die Metapher ein Gefälle hat, indem ein Teil auf den anderen projiziert wird. Der Vergleich zielt auf ein tertium comparationis, ob explizit oder implizit. Die Differenz verliert jedoch an Bedeutung im sogenannten „gerichteten Vergleich", bei dem die eine Größe nur dazu dient, die andere zu interpretieren. Eine Umkehrbarkeit ist darin nicht behauptet. Der Unterschied von Vergleich und

96

A.a.O., 132.

97

Vgl. dazu a.a.O., i6iff.

Metaphern verstehen

104

Metapher wird noch geringer, wenn man einer Metapher prinzipiell zugesteht, auf eine Ähnlichkeitsrelation hinzuweisen. Auch im Blick auf gerichtete Vergleiche lassen sich Fokus und Rahmen, Bildspender und -empfänger unterscheiden, und wenn das tertium comparationis nur implizit ist, gilt es wie bei der Auslegung einer Metapher, auf Spender und Empfänger zu schauen. Ein Unterschied zwischen beiden Sprachformen besteht darin, dass in der Metapher der Bildspender den Bildempfänger zum Teil „übermalt", also in bestimmten Aspekten ausblendet, während der Vergleich den Bildempfänger erweitert 98 . Dieser Unterschied ist jedoch für die uns interessierenden katachrestischen Metaphern, bei denen kein einhelliges Konzept vom Bildspender vorauszusetzen ist, weniger relev a n t " . Durch ihre semantische Offenheit gibt die Metapher den Rezipientlnnen mehr Arbeit, aber auch mehr Freiheit bei der Sinnbildung. Indem sie sich nicht auf ein tertium comparationis kapriziert, kann sie komplexere Konzepte und vielfältige Intentionen kommunizieren. Das Analogieargument führt ein als allgemein anerkanntes Faktum an zum Beleg für etwas zu Beweisendes, das aus einem anderen Bereich stammt. Auch hier werden zwei Sinnbezirke miteinander verbunden, kann man also „Bildspender" und „Bildempfänger" unterscheiden. So werden oft Sprichworte angeführt, ohne dass die argumentative Funktion expliziert wird. Das argumentum per analogiam funktioniert nur, wenn die behauptete Analogie akzeptiert wird, d.h., wenn akzeptiert wird, dass die beiden parallelisierten Gegebenheiten tatsächlich in dem angesprochenen Aspekt analog sind. Diese Voraussetzung wird aber in der Regel als persuasive Strategie verschleiert. Doch dass Argumentationen 98

Mit Kuschnerus 2002, 52f.

99

Gegen Kuschnerus, der sich an absurden Metaphern orientiert und die Neubeschreibungsfunktion allein dem Vergleich zuspricht. Den Unterschied zwischen gerichtetem Vergleich und Metapher will er an den paulinischen Familienmetaphern festmachen (2002, 46-52). Die Vergleiche aus iThess 2 (vgl. dazu unten § 6); Phil 2,22 (vgl. dazu §5.1.10.1) einerseits, Metaphern in 1 Kor 4,i4ff (vgl. § 7) und Gal 4,19 (vgl. § 8) andererseits dienten durch ihre unterschiedliche Sprachgestalt unterschiedlichen Funktionen. „Der Vergleich dient dazu, eine bestimmte Eigenschaft am thematischen Gegenstand herauszustellen oder ihn neu zu beschreiben. Die Metapher hingegen spricht die Adressatinnen und Adressaten in ihrer durch das Evangelium vermittelten Relation zum Apostel an ... in einer Weise ..., die sie von ihrer faktischen Situation unterscheidet. Durch den Vergleich wird das, was von ihrer Situation gesagt werden kann, erweitert" (a.a.O., 53, dort z.T. hervorgehoben). Nach der hier vorgelegten Analyse der Familienmetaphern lässt sich diese Differenz nur als petitio principii beurteilen. Auch die Metaphern beschreiben die Relation neu und beanspruchen, die Situation zutreffend zu beschreiben.

Metapher, Vergleich, Analogieargument

105

Prämissen haben, gilt allgemein, ebenso wie, dass alltagslogische Argumentationen ihre Prämissen nicht hinreichend explizieren 100 . Das Analogieargument rückt insofern in die Nähe zur Metapher, als es den hypothetischen Charakter der Analogie übergehend eine Übertragbarkeit behauptet, die nachvollzogen werden muss 101 . Hier wurzelt die argumentative Fähigkeit der Metapher (vgl. oben 3.2.5), und es überrascht nicht, das Paulus aus demselben Bildfeld eine Metapher und ein Analogieargument schöpfen kann 102 . Rhetorisch gesehen zielt das Analogieargument darauf, die „Zustimmungsbereitschaft der Dialogpartner zu wecken" 103 .

5

Schlussfolgerungen für die exegetische Praxis

Die methodischen Schlussfolgerungen 104 sind ausgerichtet an den hier untersuchten Metaphern und unserem Frageinteresse, das letztlich dem Bildempfänger gilt, und reflektieren bereits die Auslegungen in §5-8·

5.1 Der Charakter der untersuchten Metaphorik Die im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden Metaphern teilen einen Bildempfängerbereich: die Rolle des Paulus und die Beziehung zwischen ihm und den von ihm gegründeten Gemeinden. Die in § 6-8 analysierten Metaphern gehören darüber hinaus einem Bildfeld im Weinrich'sehen Sinne an, da als Bildspender jeweils Familienbeziehungen fungieren. Es ist jedoch zu prüfen, inwieweit die Zugehörigkeit zu einem Bildfeld das Verstehen leitet. Dies bedeutet eine kritische Auseinandersetzung mit dem üblichen exegetischen Reflex auf Metaphern, sich mit dem Hinweis auf frühere oder andere Instantiierungen der-

100 Vgl. Perelmann 1980, 119-129 zu Analogie und Metapher und ihrer argumentativen Valenz; Siegert 1985, 76 zur persuasiven Funktion. 101

Vgl. Kuschnerus 2002, 74t.

102 Vgl. so die Familienmetaphern i K o r 4,i4ff; 2 Kor 6,13 einerseits, das Analogieargument 2 K o r 12,14 andererseits; die Pflanzungsmetapher i K o r 3,5-9 und die Kriegsmetapher 2 Kor 10,1-6 einerseits, die Argumente 1 Kor 9,7 andererseits. 103 Kuschnerus 2002, 61. 104 Vgl. aber die anders ausgerichteten Leitfragen bei C.G. Müller 1995, 45ff; Zimmermann 2000, 129ff.

ιο6

Metaphern verstehen

selben Konzeptmetapher oder sonstige Verwendungen des Bildspenders als Erklärung zu bescheiden. Die Paulusbriefe wählen als Bildspender in der Regel der Alltagserfahrung zugängliche Aspekte 105 . Gemeinsam ist den Metaphern darüber hinaus ihre Referenz auf eine außertextliche lebendige Person bzw. flexible Beziehung, die den Kommunikanten in einer gewissen Weise präsent ist. Dieses enzyklopädische Wissen ist uns jedoch nur durch die Briefe zugänglich, und innerhalb dieser Briefe pointiert vor allem metaphorisch. Das stellt uns vor das Problem, dass der Bildempfänger, der aufgrund seiner Bedeutung für die Interaktion eigentlich in gewisser Weise bekannt sein muss, relativ dunkel ist. In der Auslegung zu gewahren ist also dieser besonders kleine Radius des hermeneutischen Zirkels.

5.2 Der die Metapher determinierende Kontext in einem Paulusbrief Determinierend sind einerseits textueller, andererseits situativer Kontext: Für die Beziehungsmetaphern ist über den unmittelbaren Aussagekontext, den „Rahmen", hinaus der briefliche Makrokontext relevant, insofern er die Beziehung gestaltet, die in der Metapher pointiert beschrieben wird. Die Beziehung zwischen Briefautor und -empfängerlnnen ist im Brief nicht nur explizit thematisiert und mit der Gattung involviert (vgl. §2). Der implizite Autor erarbeitet sich auch durch den Brief als Sprechakt eine bestimmte Rolle. Damit ist der situative Kontext in gewisser Weise durch den brieflichen Gesamtzusammenhang als in den Brief eingeschriebene „rhetorische Situation" zu erfassen, die klassischerweise in den sog. Einleitungsfragen thematisiert wird.

5.3 Die vom Text intendierte Interaktion Die Metapher provoziert durch Interaktion von Fokus und Rahmen ein Verstehen, lenkt es in bestimmte Bahnen, ohne doch eine gewisse Unschärfe zu verlieren. Diese Lenkung gilt es nachzuvollziehen. Das Konzept des Bildspenders wirft ein Licht auf das des Bildempfängers und gibt diesem Struktur, Wertung. Der Bildempfänger bestimmt jedoch seinerseits, welche Aspekte vom Bildspender erhellend werden.

105 Vgl. Frey 2000, 342 zur Offenheit und Zugänglichkeit solcher Bilder.

Schlussfolgerungen für die exegetische Praxis

107

Neben den Möglichkeiten eines Textes, Signale zu setzen etwa durch Wortstellung, Alliteration, Rekurrenzen, und den satzpragmatischen Indikatoren wie Imperativen, Anreden, haben Metaphern eigene Möglichkeiten zur Selektion aus der Enzyklopädie bzw., kognitivistisch gesprochen, aus dem Konzept. Bildspender und -empfänger wirken gegenseitig aufeinander, indem bestimmte Aspekte aktualisiert, andere narkotisiert werden. Fokale oder rahmende Worte, aber auch ein bekanntes Bildfeld können bestimmte Aspekte der je abgerufenen Konzepte aktualisieren. Prinzipiell haben wir es in der Enzyklopädie, die paulinische Briefe ihren intendierten Leserinnen unterstellen, nicht mit einer geschlossenen Einheit zu tun. Sowohl religiös wie regional kann es Unterschiede geben. Die Auslegung der Texte wird allerdings zeigen, dass die Bildspender kaum auf eine spezifische religiöse Gegebenheit anspielen, kaum Lokaltradition aufnehmen.

5.4 Die Bedeutung der Bildfeldtradition oder Konzeptmetapher für das Verstehen einer Metapher Nach den Ausführungen in 2.2 lässt sich die Bedeutsamkeit einer Bildfeldtradition für das Verstehen einer metaphorischen Aussage einerseits durch Textsignale rechtfertigen, etwa eine wörtliche Zitation einer biblischen Metapher, andererseits dadurch, dass ihre Lektüre vor einer metaphorischen Tradition an Bedeutung gewinnt. Das zweite Kriterium „zirkuliert" unbestreitbar - wie jede Auslegung.

5.5 Die Verbindung mehrerer Metaphern 106 In mehreren der unten analysierten paulinischen Texte begegnen bildhafte Sprachformen gehäuft. Darum ist hier kurz darauf einzugehen, wie mehrere Metaphern bzw. gerichtete Vergleiche in einem Text mit-

106 Gemeint sind hier abgegrenzte Metaphern. Metaphern, die unmittelbar weitergesponnen werden (vgl. 1 Kor 4,14117.21), werden als eine einzige Metapher verstanden. - Vgl. auch die Überlegungen von Burke 2003, 24ft über den „nexus" von Metaphern angesichts der nicht in sich konsistenten Familienmetaphorik in 1 Thess. Ohne klare methodische Begründung argumentiert Burke vom Textbefund aus für die getrennte Wahrnehmung der Metaphern und ihre begrenzte Aussagekraft.

ιο8

Metaphern verstehen

einander in Beziehung zu setzen sind107. Ich sehe hier von Metaphern ab, die sowohl im Bildspendebereich wie im -empfängerbereich keine Uberschneidung haben. Dann sind prinzipiell zu unterscheiden: 1) Häufungen von Metaphern aus demselben Bildfeld, 2) Metaphern desselben Bildspendebereiches für verschiedene Bildempfänger und 3) Metaphern, die verschiedene Bildspender auf denselben Bildempfängerbereich beziehen. Entsprechend der am Bildempfänger, der Relation zwischen Paulus und seinen Gemeinden orientierten Fragestellung konzentriere ich mich auf die erste und dritte Kategorie, also auf Metaphern, die denselben Bildempfänger haben. Wie sind sie als Textphänomen zu beurteilen, d.h. inwiefern leiten sie die Lektüre? Eine entsprechende Regel der „Metaphernsyntax" gibt es nicht, doch der Text kann die Wahrnehmung von Zusammenhängen anregen. Berührungen zwischen Bildspendern oder Bildempfängern auf sprachlicher Ebene als Rekurrenzen oder auf semantischer Ebene als Sinnlinien108 verknüpfen die Textfäden und lassen die Metaphern bzw. Vergleiche als zusammengehörig lesen. Auch die Sprachform der Metapher selbst kann metasyntaktisch einen Zusammenhang herstellen, wenn eine Metapher als solche wahrgenommen wird, weil sie nicht usuell ist. Gleichwohl ist dies im Einzelfall je unterschiedlich, und die jeweilige Lektüre ist zu rechtfertigen durch ihren Beitrag zur Erhellung der Kohärenz. Ich verdeutliche dies an Beispielen: Ad 1) Metaphern desselben Bildfeldes bilden z.B. eine inclusio um den Rom: Paulus stellt seinen Dienst in Rom 1,9 und 15,16 mittels kultischer Sprache dar und bildet mit diesem Aspekt einen Rahmen seiner inhaltlichen Ausführungen 109 .

107 Zimmermann 2003a, 97-102 spricht in Bezug auf die metaphorische Christologie des Joh in mir nicht evidenter Metaphorik von „Bildnetzen", die durch Wiederkehr von Motiven geflochten werden (im Sinne des hier als 2) Benannten), und „Bildclustern" als Überlagerung verschiedener Bilder. Diese Kompositionsprinzipien bilden insgesamt ein „Mosaik" (a.a.O., 103). Von Gemünden/Theißen 1999 analysieren die „metaphorische Logik im Römerbrief" (so der Titel) und weisen auf die KohärenzFunktion von Metaphern und Bildfeldern hin, um letztlich zu zeigen, „ daß Paulus in Bildern denkt" (a.a.O., 110). Demgegenüber wird hier rezeptionsorientiert gefragt, wie der implizite Leser auf die Häufung von Metaphern reagieren soll. 108 Vgl. Egger 1990, g6( zum Konzept der Sinnlinien als Gruppen von bedeutungsmäßig zusammengehörigen Worten. 109 Vgl. z.B. auch von Gemünden/Theißen 1999, 1 1 1 - 1 1 3 Rom 1 , 1 - 5 ur >d 15/9-13 als Rahmung des Briefes.

zur

politischen Metaphorik in

Schlussfolgerungen für die exegetische Praxis

109

Prinzipiell möglich ist, dass sich im wiederholten Auftreten einer Metapher ein „Modell" niederschlägt 110 . Auch die in der Exegese beliebte Subsumption der paulinischen Eltern-Kind-Metaphern unter das Konzept von Paulus „als geistlichem Vater" (vgl. §1.2.3) unterstellt avant la lettre, dass sie als unterschiedliche Instantiierungen der Konzeptmetapher in einem Zusammenhang zu sehen sind und nicht Vorschlag, sondern Ausdruck einer allgemeinen Idee von Beziehung sind. Doch da eine Metapher ihrem Wesen nach immer zunächst in einer Äußerung und deren Kontext existiert, muss nicht das Bildfeld, sondern die Einzelmetapher Ausgangpunkt der Deutung sein. Daher lege ich jede Metapher für sich aus und unterstelle ihre semantisch gesehen bloß punktuelle Gültigkeit, so lange der Text nicht anderes indiziert 111 . Mit dieser „aristotelischen" Priorisierung der Einzelmetapher ist nicht bestritten, dass eine Metapher pragmatisch weiterführende Implikationen für den Makrokontext besitzt. In der brieflichen Kommunikation, der der Aspekt der Beziehung ein wesentliches Anliegen ist (vgl. § 2), kann eine Beziehungsmetapher weitergehend die Lesehaltung beeinflussen; dies gilt m.E. z.B. für die Schlussmetapher i K o r 4,14-16 (vgl.§7)· Ad 2) Auch aus demselben Bildspendebereich geschöpfte Metaphern, die sich auf unterschiedliche Bildempfänger beziehen 112 , können Kohärenzfaktoren sein, wenn auch weniger eng als die unter 1) genannten" 3 . Übereinstimmende Implikate können verbindend wirken (vgl. so die Kultmetaphorik im Phil, vgl. §5.2.3). Andererseits kann derselbe Bildspendebereich ganz unterschiedliche Inferenzen anregen, so dass eine Nähe hier nicht notwendig zu unterstellen ist. Ein Neben-

110 Von einem Modell kann man dann sprechen, wenn der Bildspendebereich die Wahrnehmung des Bildempfängerbereichs weitergehend strukturiert (vgl. Black 1983a, 394ff). So sieht z.B. Macky 1998 in den paulinischen Kriegsmetaphern nicht allein punktuelle metaphorische Aussagen, sondern den Ausdruck einer durchgängigen Wahrnehmung der Wirklichkeit als endzeitlichen Kampfes. 111

Dies lässt sich am Beispiel der zwei gerichteten Vergleiche aus dem Familienleben in iThess 2 beobachten. Hier handelt es sich nicht um eine unmittelbare Rekurrenz, insofern aus dem Bildspendebereich unterschiedliche Beziehungen zum Fokus werden, die der Mutter zu ihren Kindern und die des Vaters zu seinen Kindern. Doch die Verwandtschaft der Vergleiche regt an, sie additiv zu verstehen und so einen tieferen Sinn zu erkennen (vgl. genauer § 6).

112

Vgl. die Darstellung der Metaphern anhand von Bildspendebereichen in §5.1 zur Verwendung derselben Bildspendebereiche zu unterschiedlichen Metaphern.

113

Kurz 1993, 24f spricht diesbezüglich von „Metaphernfeldern". Das Weiterspinnen einer Metapher und die Metaphorisierung des Kontextes bilden den Ausgangspunkt für Allegorien als metaphora continua, vgl. Klauck 1986.

110

Metaphern verstehen

einander der Prädizierung von Gott als „Vater" aller Christinnen bzw. jüdischen Menschen einerseits, der Missonare andererseits als „Vater" der angeschriebenen Gemeinde wie in ι Thess 1,1.3 u n d 2,11 f muss nicht als spannungsvoll wahrgenommen werden. Der gerichtete Vergleich kann in diesem Fall allein punktuelle Pragmatik haben114. Ad 3) Mehrfach beschreibt Paulus denselben Bildempfänger mit unterschiedlichen Bildspendebereichen. Dies wird unten ausführlich an iKor 3t dargestellt, übersichtsweise auch für 2 Kor 2,14-7,4 ( v g'§5.2.1) und 2Kor 10-13 ( v gl· §5· 2 · 2 )· Die Metaphern in iKor 3f und 2 Kor 10-13 zeigen die Relation von Paulus und Gemeinde, die in 2 Kor 2 - 7 auch die Rolle des Paulus coram Deo. Auch hier gilt die Priorität der Einzelmetapher in der Auslegung, doch die Frage, wie die Metaphern im Verbund semantisch und pragmatisch wirken, drängt sich auf. Sie ist wiederum nur individuell zu beantworten. Für die hier beispielhaft angeführten „Metaphernkumuli" lassen sich einige gemeinsame Aspekte benennen. Zunächst erklärt sich die Häufung mit der katachrestischen Funktion der Metaphern: Es fehlen die Worte. Unterstellt man, dass die Metaphorik als Sprachform eine strukturelle „Rekurrenz" darstellt, rückt die Häufung der Metaphern das mit ihnen kommunizierte Thema in den Mittelpunkt. Metaphern schärfen aber auch die Aufmerksamkeit für die jeweils verbildlichten Aspekte. Sie ergänzen sich also, beschränken sich aber auch: Der Wechsel zwischen Bildspendebereichen verhindert eine Bevorzugung und Ontologisierung eines Konzeptes, wie es etwa die juridische Metaphorik im Rom in der Dogmengeschichte anregte" 5 ; solch Wechsel weist immer wieder auf die Grenzen auch metaphorischer Kommunikation hin. Diese Aspekte der gemeinschaftlichen Wirkung an einem Gesamtbild und der gleichzeitigen gegenseitigen Beschränkung werden mit der optischen Metapher der Collage zusammengefasst.

5.6 Die Grenzen der Interpretation einer Metapher Unser Wunsch, die Beziehungsmetapher der Paulusbriefe so zu lesen, wie sie die intendierten Leserinnen verstehen sollten, wird mehrfach 114

Vgl. so das Nebeneinander von Geschwistermetaphorik und Eltern-Kind-Metaphorik in den in § 6 - 8 untersuchten Texteinheiten.

115

Vgl. dazu du Toit 2003; nach du Toit hat die forensische Metaphorik die Funktion, die iustitia Dei mit der iustitia Romana zu konfrontieren.

Schlussfolgerungen für die exegetische Praxis

111

begrenzt. Die Paulusbriefe setzen als echte, adressierte Briefe einen „Modell-Leser" voraus, der wesentlich konkreter gedacht ist, als der Textentwurf erkennen lässt. Unsere Rekonstruktion des Leseprozesses wird also an dieser Stelle vom Text im Stich gelassen. Darüber hinaus haben Metaphern als solche eine gewisse „Unscharfe" 116 , die mit dem zeitlichen Abstand wächst. Für die hier analysierten Metaphern wird insbesondere die Mitarbeit des Bildempfängers am Sinn problematisch, ist sein Inhalt doch nur durch zirkulären Rückschluss zu erfassen. Weiter präjudizieren unumgängliche Entscheidungen wie die über den relevanten Kontext und über die zum Vergleich heranzuziehenden Bildfelder das Lektüreergebnis. Schließlich hat die Interpretation das Dilemma, eine vitale Metapher, die sich der Substitution und Paraphrase verweigert, in eine Paraphrase verendlichen zu müssen" 7 . Die exegetischen Ergebnisse dieser Untersuchung sind nur dann haltbar, wenn diese Grenzen bewusst bleiben und nicht rhetorisch unterlaufen werden. Dass das Lesen eines Textes über die individuelle Lektüre hinaus auch im besten Falle nur zur intersubjektiv nachvollziehbaren Rekonstruktion eines Textsinns und seiner Referenz führt, ist im Falle der Auslegung von Metaphern aus fast 2000 Jahre alten Briefen besonders augenfällig.

116

Vgl. dazu Zimmermann 2000, 118.129 zur rezeptionsanregenden Funktion der Unscharfe, die freilich bei der Auslegung von für ein anderes Publikum geschaffenen Metaphern auch frustrierend sein kann.

117

Vgl. zur Diskussion, ob die Metapher ob des "open ended nature of the interpretative process" paraphrasierbar ist oder nicht, Eco 1996, 1321t (Zitat 1312). Auch wenn die kognitivistische Metapherntheorie den kognitiven Gehalt einer Metapher für paraphrasierbar hält, so ist doch der sprachwissenschaftlich und -philosophisch hervorgehobene Bruch mit der konventionellen Prädikation ein Teil des Gehaltes einer Metapher und kaum paraphrasierbar.

Teil II

Für das Neue Worte finden Die Rolle des Paulus in der frühen Christenheit wird heute gern zusammengefasst unter dem Stichwort „Apostel". Dieser Sprachgebrauch nimmt den des Paulus auf, der sich mit dem Begriff απόστολος z.B. am Anfang von Briefen vorstellte (Rom 1,1; 1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1; Gal 1,1). „Apostel Paulus" ist im exegetischen Sprachgebrauch eine stehende Wendung. Was ein „Apostel" ist, was der „Apostolat" des Paulus, sein „apostolisches Amt", seine „apostolische Autorität" und dergleichen sind, scheint klar. Die verschiedenen Selbstauskünfte des Paulus, seine christliche Biographie, seine Aufgabe lassen sich, so scheint es, treffend unter der Kategorie des „Apostolats" subsumieren 1 . Der Exegese diskussionswürdig scheint nur der Anspruch anderer, „Apostel" zu sein (2 Kor 10-13). Die Bezeichnung ist zumal in der protestantischen Sprache nahezu zum Synonym für Paulus geworden, eine Entwicklung, für die sich bereits die Pastoralbriefe einsetzten. Der Begriff bezieht sich erkennbar auf die Aussendung zur Evangelisierung nichtchristlicher Menschen (vgl. §4.1) - doch was bedeutete es, „Apostel" für eine bereits bestehende Gemeinde zu sein? Paulus bezeichnet sich nur einmal, in 1 Kor 9,if, als „Apostel" für eine von ihm gegründete Gemeinde. In dem Kapitel i K o r 9 präsentiert Paulus seinen Unterhaltsverzicht der Gemeinde in Korinth als Beispiel für einen frei gewählten Verzicht auf Rechte oder Ansprüche. Dafür geht er ausführlicher auf die Rechte eines Apostels und seinen eigenen Umgang damit ein. Ein Blick auf dieses Kapitel 2 gibt uns daher einen ersten Eindruck, wie Paulus sich unter den „Aposteln" sah, und führt

1

Ein augenfälliges Beispiel ist der Wörterbuch-Artikel von Jan-Α. Bühner (Art. α π ό στολος, in: E W N T 1 [H992.] 3 4 2 - 3 5 1 : 344-346), der nicht die Wortbedeutung in der paulinischen V e r w e n d u n g klärt, sondern alle Aussagen der paulinischen Briefe über die Rolle des Paulus zusammenfasst als Erklärung der Wortbedeutung; vgl. ähnlich Berger 1995, 20iff.252f.

2

Vgl. dazu genauer § 5.1.1.1.

ii4

Für das Neue Worte finden

uns zum Thema der § 4 und 5, den Bezeichnungen und Metaphern, mit denen Paulus seine Rolle beschreibt3. „Bin ich etwa nicht frei? Bin ich etwa nicht Apostel? Habe ich nicht Jesus unseren Herren gesehen? Seid ihr nicht mein Werk im Herrn? Wenn ich auch nicht für andere Apostel bin, so bin ich es doch in jedem Fall für euch. Das Siegel meines Apostolats seid ihr in dem Herrn!" ( i K o r 9,if). Die rhetorischen Fragen und Metaphern fordern die Angeschriebenen auf, zuzustimmen: Paulus ist Apostel. Darum nennt er die Kriterien, die er erfüllt: Eine Vision des Herrn und missionarischen Erfolg, dessen unbestreitbarer Beweis die Existenz der Gemeinde von Korinth ist. Sie ist „Produkt" (έργον) des apostolischen Wirkens des Paulus und sein „Beglaubigungszeichen" (σφραγίς). Daher ist zu folgern, dass Paulus dieselben Rechte hat wie „die übrigen Apostel und die Geschwister des Herren" (9,5), nämlich mit Ehepartner zu reisen und Essen und Trinken anzunehmen, statt selbst den Unterhalt zu erarbeiten (9,4-6). Paulus deduziert aus seinem Apostolat also sein Recht auf Unterhalt. Er fasst ihn mithin hier auf als einen durch bestimmte Kriterien definierten Status mit gewissen Rechten und setzt voraus, dass die Gemeinde in Korinth dieses Konzept kennt. Im Anschluss an diese Feststellung bringt Paulus weitere Argumente für das Recht eines Apostels, sich den Lebensunterhalt erstatten zu lassen. Er vergleicht den Anspruch eines Apostel auf Unterstützung mit dem Recht eines landwirtschaftlichen Arbeiters, eines Soldaten oder Priesters auf Essen von dem Erwirtschafteten (9,7.11.13). Gott selbst hat dieses Prinzip am Ochsen klar gemacht (9,8-10), und „so hat der Herr denen angeordnet, die das Evangelium verkündigen, vom Evangelium zu leben" (9,14). Doch Paulus nimmt dieses Unterhaltsrecht gar nicht in Anspruch, wie er wiederholt betont (9,12.15.18). Seine Missionsarbeit gestaltet er so, dass er kein Entgelt annehmen muss für die Verkündigung des Evangeliums. Mit dem „Apostel"-Status hat das nichts zu tun. Der Begriff fällt im ganzen Kapitel gar nicht mehr. Vielmehr greift Paulus zu anderen Metaphern aus der Welt der Arbeit und Wirtschaft, um zu begründen, warum er das Evangelium gratis anbietet. Der Gipfel der Argumentation ist die Aussage, dass er, der seine Freiheit eingangs betonte (9,1a), sich freiwillig selbst an die unterschiedlichsten Menschen versklavt, um diese zu gewinnen (9,19). Diese Missionsweise

3

Vgl. zu i K o r 9,if und der Argumentation genauer §4.1.3, zur Metaphorik §5.1.1.1; §5.1.6.1.

Für das Neue Worte finden

"5

führt er nicht auf seinen „Apostolat" zurück, sondern auf seine besondere Verpflichtung zum εύαγγελίζεσθαι. (9,16) und seine Bindung an das εύαγγέλιον (9,12.18.23). Es ist nicht Beruf, sondern Berufung, er lebt nicht „vom Evangelium" (9,14), sondern handelt „um des Evangeliums willen" (9,23). Paulus lebt nicht wie die üblichen „Apostel", er folgt nicht der gottgewollten Ordnung in der Alltagswelt und der Wirtschaft, und auch als Sportler (9,24-27) kämpft er unorthodox: Er schlägt beim Boxen kräftig zu, aber verpasst sich selbst das blaue Auge (9,27a)4. Wenn es um die konkrete Missionspraxis des Paulus geht, reichen weder die üblichen Begriffe noch die gängigen Metaphern hin. Verzichten wir einmal auf „Apostel" als Metakategorie, so erkennen wir, wie vielfältig die Weisen der Selbstbezeichnung und -darstellung des Paulus sind. Neben dem nicht sehr häufigen απόστολος fallen der Begriff διάκονος und vor allem zahlreiche Metaphern aus den unterschiedlichsten Bildspendebereichen. Insbesondere zur Inszenierung seiner Beziehung zu den Gemeinden bildet Paulus immer wieder vitale Metaphern, um einzelne Aspekte aufzuzeigen, zu begründen oder einzufordern. Die Überblicke über Begrifflichkeit (§4) und Metaphorik (§5) zeigen, wie wenig Paulus seinen Selbstentwurf mit gängigen Kategorien kommunizieren konnte und wie schöpferisch er die metaphorische Sprache anwandte, um brieflich zu verbildlichen, was er nach seiner Meinung für die Gemeinden war oder doch sein sollte.

4

Vgl. dazu genauer § 5.1.6.1.

§4

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus vor Gott und Christus Nach unserem Sprachgebrauch fassen wir Wirken, Autorität und Bedeutung des Paulus zusammen unter dem Oberbegriff „Apostolat". Ich möchte im folgenden aufzeigen, dass dies weder der Semantik des Begriffs απόστολος noch dem paulinischen Sprachgebrauch entspricht. Es ist m.E. auch heuristisch nicht hilfreich, weil es den Blick auf die Selbstdarstellung des Briefautors Paulus trübt1. Weitere Bezeichnungen und vor allem Metaphern vermitteln andere Bedeutungsaspekte, die durch die allwaltende Verwendung des Begriffs „Apostel" verdunkelt werden. Dass die Berufung zum „Apostel" und dieser Status für Paulus eine fundamentale Bedeutung hatten, wird mit den folgenden Überlegungen nicht bestritten. Im brieflichen Rückblick fasst er seine Wandlung vom Christenverfolger zum Anhänger Jesu zusammen mit seiner Berufung durch Christus zum απόστολος. Sie wurde zum bestimmenden Ereignis für sein weiteres Leben danach. Er wusste sich bereits im Mutterleib von Gott dazu ausersehen, das Evangelium den Heidinnen zu verkünden (Gal 1,15()• Mit der Erscheinung des Auferstandenen erhielt er, der Christenverfolger, eine besondere Gnade, die ihm größere Leistung als allen anderen ermöglichte ( i K o r 15,10). Sein weiterer Lebenslauf und gewiss auch sein „Selbstverständnis" waren umfassend geprägt von seinem Apostolat, d.h. seiner Aussendung durch Christus zur Verkündigung des Evangeliums. Und selbstbewusst autorisiert er sich am Anfang eines seiner Briefe als „Apostel", der nicht von Menschen gesandt ist, sondern von Christus und Gott selbst (Gal 1,1, vgl. Rom 1,1). 1

Dies gilt auch, wenn „Apostel" von Paulus-Auslegerinnen nicht als quellensprachlicher, sondern als metasprachlicher Term verwendet wird im Wissen um den abweichenden Sprachgebrauch des Paulus, weil die einheitliche Terminologie die Einheitlichkeit des Konzepts suggeriert.

Il8

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

Die Beobachtungen zur allgemeinen Semantik des Wortes απόστολος und seiner Verwendung in den Paulusbriefen zeigen jedoch, dass der Begriff noch keine klare Bedeutung unter Christinnen trug und auch für Paulus gegenüber seinen Gemeinden kein umfassendes Autoritätskonzept implizierte. Der Autor Paulus verwendet απόστολος gegenüber den Gemeinden nicht als zentrale und umfassende Selbstbezeichnung. Neben diesem Wort spielen andere Begriffe und Metaphern eine wichtige Rolle, um je nach Kontext die Funktion, Legitimation und Würde des Paulus zu beschreiben2. Für das Handeln des Paulus werden durchgängig verba dicendi und Derivate von diesen verwendet, unter ihnen speziell εύαγγελίζεσθαι und εύαγγέλιον. Damit ist jedoch nur ein Aspekt der Beziehung zu den Gemeinden berührt. Was schließt sich an die erste Verkündigung des Evangeliums an? Vor einem Überblick über die Metaphorik (§5) werde ich in § 4 die Bedeutung der wichtigsten nominalen Bezeichnungen für die Aufgabe des Paulus vor Gott und Christus klären, von απόστολος und διάκονος sowie der Metapher δοϋλος Χρίστου. Dabei werde ich, ausgehend von der allgemeinen Semantik, untersuchen, welche Bedeutung diese Begriffe und Metaphern im Sprachgebrauch der paulinischen Briefe haben. Die Tatsache, dass verschiedene Wörter auf dasselbe referieren, darf nicht zu dem Kurzschluss führen, dass sie auch dasselbe bedeuten. Intensionen und Extensionen sind zu unterscheiden, Wortinhalt und Referenzmöglichkeiten für jede Bezeichnung differenziert wahrzunehmen. Die folgenden Ausführungen wollen, nota bene, keine Feststellung über das Selbstverständnis des „historischen Paulus" treffen. Erfragt ist, wie der implizite Autor „Paulus" in seinen Briefen sich und seine Rolle entwirft, insbesondere gegenüber einzelnen Gemeinden, die er gegründet hat.

2

Beobachtungen in dieser Hinsicht hat, soweit ich sehe, nur Dautzenberg veröffentlicht, vgl. 1986, 150-153 und 2001 in Bezug auf 2 Kor 2 - 7 . Best bemerkte, dass die Ausübung von Autorität gegenüber den Gemeinden nie mit dem Begriff απόστολος verbunden ist; er sah die Ausübung der Autorität mit dem Vaterverständnis verbunden (1986, vgl. 1988). Hier werden demgegenüber noch prinzipiellere Differenzen und Konsequenzen behauptet.

Zur Bedeutung von α π ό σ τ ο λ ο ς

ii9

ι απόστολος Χριστοΰ. Wider die Überbeanspruchung eines Wortes l.i

Zur allgemeinen Bedeutung von απόστολος κτλ.

Meist wird die Frage nach der Bedeutung der Rede vom απόστολος von der Traditionsgeschichte her diskutiert. Die Debatte um die Herkunft des άπόστολος-Titels ist offen, seit Lightfoot 1865 erstmals bestritt, dass es ein einheitliches Konzept des durch Jesus eingesetzten απόστολος im Urchristentum gab 3 . Das Problem besteht darin, dass der Term in außerneutestamentlichem Griechisch keine Amtsbezeichnung ist, ja selten überhaupt eine Person bezeichnet, und im religiösen Kontext nicht verwendet wird 4 . Einen A u s w e g bot die These, der Begriff übersetze das hebräische IT1?^ und meine das jüdische Rechtsinstitut des Gesandten, der seinen Sender vollmächtig repräsentiere. So konnte ein vorösterlich- gemeinsamer Ursprung der Apostel-Begriffe und eine christologische Bestimmung des Apostolats weiterhin postuliert werden: Der Bote gewinne seine Autorität dadurch, dass er den Sendenden - Christus - vollmächtig vertrete 5 . Inzwischen ist einhellig anerkannt, dass diese These rabbinische Quellen anachronistisch auswertet und Differenzen verwischt 6 . Sie wird daher nur noch in abge3

Vgl. den Exkurs J. B. Lightfoots von 1865 "The name and office of an apostle" (Gal, 92-101). Auf genauere Daten zur Forschungsgeschichte kann hier verzichtet werden, weil sie sehr gut mitgeschrieben wurde, vgl. nur Kredel 1956; A g n e w 1986; Lohmeyer 1995,18-122; vgl. auch Lee 2000.

4

α π ό σ τ ο λ ο ς bezeichnet z.B. öfter die Aussendung einer Flotte (z.B. Lysias, Or 19,21), die Flottenexpedition (Demosthenes, Cor [Or. 18] 80), in Papyri auch den Lieferschein (Preisigke 1195). Vgl. die ausführliche Durchmusterung des Vorkommens bei Lohmeyer 1995,123ft, bes. 133ft; vgl. auch Haacker in: Klaus Haacker/Rainer Studemund, Art. Sendung/Mission, in: ThBLNT 2 2 (2000) 1654-1667:1655.

5

Vgl. die klassische These Karl H. Rengstorfs, Art. α π ο σ τ έ λ λ ω κτλ., in: T h W N T 1 (1933) 397-448: 4i4ff; vgl. Lohmeyer 1995, i8ff. - Einen anderen Versuch, die Einheitlichkeit der Denotation von α π ό σ τ ο λ ο ς zu wahren, hat Ysebaert 1994, 4ff vorgelegt. Er interpretiert die Referenz auf „die Z w ö l f " als den eigentlichen, technischen Gebrauch und alle anderen als „übertragen"; das scheint historisch gesehen kaum plausibel.

6

Zur Kritik vgl. A g n e w 1986, 86ff; Lohmeyer 1995, 78ft, und - sehr scharfsichtig bereits Schmithals 1961. Schmithals selbst vertrat eine originelle Ableitung, die die missionarische Komponente ins Zentrum stellte: Paulus habe die gnostische Vorstellung v o m gesandten Erlöser christianisiert. Die These scheitert jedoch in der Sicht der Forschung an den gnostischen Quellen, vgl. Lohmeyer a.a.O., io8ff. - K. Berger (1995) behauptet hingegen eine doppelte Herkunft des Apostolats: Die „typisch antiochenische Position" (199) des Apostolats sei auch in der Gesandten-Christologie erkennbar. Konstituenten des Konzepts seien, dass der Gesandte den Senden-

120

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

schwächter F o r m vertreten7: Hinter der urchristlichen Begriffsprägung απόστολος

stehe

das

semitische

Botenrecht,

zwar

Determination, aber d o c h als zunächst „ f o r m a l e r

ohne

juristische

Autorisationstermi-

n u s " , d e r christlich g e f ü l l t w o r d e n sei8. E s gelte s a c h l i c h , w e n n nicht juristisch fixiert: „ D e r G e s a n d t e eines M e n s c h e n ist w i e selbst"9.

So

gedeutet,

kann

die

Christusrepräsentanz

des

auch dieser

Apostels

bereits i m Begriff festgemacht w e r d e n . D a s s diese R e p r ä s e n t a n z f u n k t i o n v o m „ A p o s t e l " i m N T gilt, w i r d a n d e n L o g i e n d e r A u s s e n d u n g s r e d e n L k 1 0 , 1 6 ; M t 10,40, a n J o h 13,20 u n d 2 K o r 5,20 festgemacht 1 0 . D o c h 2 K o r 5 w i r d hier aus d e n g e n a n n t e n m e t h o d i s c h e n Prinzip i e n nicht als Beleg akzeptiert, d e n n dort w i r d die R o l l e als Stellvertreter Christi in a n d e r e r T e r m i n o l o g i e u n d M e t a p h o r i k ( v g l . § 5 . 1 . 9 . 1 ) dargestellt. M t 10,40 u n d J o h 13,20 sollen nicht die theologische Autorität d e r G e s a n d t e n als R e p r ä s e n t a n t e n b e g r ü n d e n , s o n d e r n seine g a s t f r e u n d l i c h e A u f n a h m e m o t i v i e ren. D i e s z e i g e n die j e w e i l i g e n K o n t e x t e d e u t l i c h " . W i r b e f i n d e n u n s hier also, w e n n w i r d e n Z u s a m m e n h a n g z u m A p o s t o l a t s t h e m a festhalten w o l l e n , b e i m

den repräsentierte, dass er wie dieser leiden müsse und dass er bei der Rückkehr zur Rechenschaftsablage verpflichtet sei (looff). Im Unterschied zu den Aposteln des antiochenischen Typs, die nur zeitweise gesandt seien und zurückkehrten zur aussendenden Gemeinde (207), sei im Jerusalemer Typ der Apostel durch die Vision des Auferstandenen legitimert: Er sei rpW, mit Geistgabe ausgestattet und an Mose orientiert (472f). Paulus habe sich anfangs verstanden als antiochenischer Apostel, dann aber als Jerusalemer vom Rang des Petrus (ebd.). 7

Diese Vorstellung begegnet weithin. Vgl. zu den Vertretern Agnew 1986, 90ff; Lohmeyer 1995, 58ft; z.B. Jürgen Roloff, Art. Apostel etc., in: TRE 3 (1978) 430-445: 432; Hahn 1974, 62ft; Bühner E W N T i , 345t; K. Berger 1995, 205f.

8

So Roloff TRE 3, 433.

1

9

So die Wiedergabe Roloffs 1978, 432 der allseits gern zitierten Sentenz Ber 5,5: ΊΠΊ?» ΊΠ103 ms W. Die Vertretungsfunktion wird jedoch deutlicher in der Übertragung Horowitz': „Denn der Vertreter eines Menschen wird wie er selbst angesehen" (Jerusalemer Talmud 1975,156).

10

So etwa Hahn 1974, 63 ft.

11

Vgl. die Analyse Lohmeyers 1995, 186ff.277ft.289ft: Es geht letztlich um gemeinschaftsförderndes Verhalten. Eine analoge Motivation der Zuwendung zu den Kleinen findet sich in Mk 9,37, explizit auf die Gastfreundschaft gegenüber ά γ γ ε λ ο l bezogen auch in Hebr 13,2. Ähnlich geht es auch in der Forderung Phlm 17 (προςλαβοϋ αύτόν ώς έμέ) um eine Aufnahme in Gemeinschaft als Bruder, nicht um Repräsentanz. Zur Gastfreundschaft reisenden Missionaren gegenüber vgl. P. Müller 1992, 2i4ff. - Der verschiedentlich geäußerte Hinweis auf die Parallelität der johanneischen und paulinischen Gesandten-Vorstellungen (vgl. z.B. K. Berger 1995, 252t; Schröter 1993, 30 mit Anm.i) ist nicht sachgerecht, insofern die johanneische Repräsentations-Christologie wesentlich durch die Sohnes-Vorstellung geprägt ist und nicht einfach durch eine hinter den Sendungsaussagen liegende Tradition (so vor allem Bühner 1977); vgl. zur Differenzierung Schnackenburg 1991.

121

Zur Bedeutung von απόστολος

T h e m a d e s Unterhaltsrechts 1 2 . S o k a n n also n u r L k 10,16 h e r a n g e z o g e n w e r d e n als ntl. B e l e g eines K o n z e p t e s v o n der stellvertretenden R e p r ä s e n t a n z des B o t e n s : Ό ά κ ο ύ ω ν ύ μ ώ ν έ μ ο ϋ α κ ο ύ ε ι , κ α ι ό ά θ ε τ ώ ν ύ μ α ς έ μ έ άθετεΓ· ό δε έ μ έ ά θ ε τ ώ ν ά θ ε τ ε Γ τ ό ν ά π ο σ τ ε ί λ α ν τ ά με. D a s s dieses L o g i o n ein b e s t i m m t e s B o t e n k o n z e p t abruft 1 3 u n d nicht erst postuliert, w i r d a u c h angesichts d e r Parallele M k 9,37 fraglich. Diese Deutung des Apostolats v o m Botenrecht her verursacht überdies ein P r o b l e m , v e r m a g sie d o c h nicht z u erklären, w a r u m d e r A p o s t o l a t im Verständnis des Paulus so unmittelbar mit der V e r k ü n d i g u n g

des

E v a n g e l i u m s v e r b u n d e n ist. D e n n d e r R e p r ä s e n t a t i o n s g e d a n k e b e z i e h t sich nicht auf das U b e r b r i n g e n einer Botschaft, s o n d e r n auf die bevollmächtigte Vertretung der Person14. Dieser Z u s a m m e n h a n g dung

und

Verkündigung

ist f r e i l i c h in d e r

gegeben, z w a r nicht mit d e m

atl.

von

Sen-

Prophetentradition

Stichwort απόστολος,

aber mit

dem

zugehörigen Verb15. Nun

hat M o n i k a

Lohmeyer

unter sorgfältiger A n a l y s e

gemeinen Sprachgebrauchs nachgewiesen, dass α π ό σ τ ο λ ο ς

des

all-

außerhalb

d e r B i b e l k e i n s p e z i e l l e r T e r m f ü r „ G e s a n d t e r " ist, s o n d e r n a l s A b l e i tung v o m Verb den V o r g a n g des Sendens bezeichnet ohne

spezielle

Implikationen w i e die der vollmächtigen Stellvertretung16. D a s N o m e n α π ό σ τ ο λ ο ς w u r d e i m christlichen G e b r a u c h offenbar v o m V e r b

her

12

So versteht es auch die frühe Rezeption des Logions in Did 11,4ft. Diesen Sinn zeigt nicht zuletzt die parallele Aussage Mt 18,5: και ος έάν δέξηται εν παι&ίον τοιούτο έπί τω ονόματι μου, έμέ δέχεται. Es würde wohl kein Exeget aui die Idee kommen, dass das Kind ein vollmächtiger Repräsentant und Stellvertreter Jesu sein solle (so auch P. Müller 1992, 2i8f zu Mk 9,37, obwohl er 218 vom Repräsentationsgrundsatz spricht). Dennoch sieht z.B. Luz Mt Bd.2, 150 z.St. „das jüdische Botenrecht" hinter Mt 10,40.

13

So z.B. Wiefel Lk, 199 z.St.; Schürmann Lk Bd.2, 84.

14

Diese Differenz wird leicht übersehen. Für die Repräsentationsrolle vgl. insbesondere die von Bühner 1977, 209 ff rekonstruierte Vorstellung. Den Unterschied gegenüber der prophetischen Rolle, ein Wort Gottes zu verkünden, bzw. der Evangeliumsverkündigung macht ein Beispiel deutlich: Die Repräsentationsfunktion ermöglicht, dass jemand in Abwesenheit, vertreten nur durch einen „Gesandten", verlobt oder geschieden wird; rabbinische Belege bei Rengstorf ThWNT 1, 415,12ft.

15

Vgl. Rengstorf a.a.O., 401; Haacker/Studemund ThBLNT 2 2,1656.1658. Auf die Übereinstimmung zwischen prophetischer Aussendung in einer Theophanie und der Sendung des christlichen „Apostels" durch Christophanie hat Hahn 1974, 68f aufmerksam gemacht. Er leitet auch plausibel die Verbindung von άποστέλλειν und εύαγγελίζεσθαι für den frühchristlichen Sprachgebrauch und insbesondere 1 Kor 1,17 ab aus dem prägenden Einfluss von Jes 61,1 (1974, 7off).

16

Vgl. auch, unter Aufnahme Lohmeyers 1995, jetzt Haacker, ThBLNT 2 2,1655.

122

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

gebildet und spezifisch geprägt 17 . Zentral ist die Sendung, aber ohne rechtliche Implikation. Dieser „sondersprachliche Neologismus" 18 des Wortes erklärt, wieso es im NT noch keine einheitliche Auffassung gibt von dem, was einen „Apostel" und eine „Apostelin" auszeichnet. Die Extension des Begriffs ist im lukanischen und paulinischen Corpus geradezu gegensätzlich 19 , und der paulinische Gebrauch zeigt deutlich, dass das Wort nicht univok verstanden wird. Eindeutig ist nur, dass ein απόστολος von jemandem zu jemandem gesandt ist20.

1.2

Das Vorkommen in den authentischen Paulus-Briefen. Ein Uberblick

Ziel ist nicht, alle Aspekte des paulinischen Apostolatsverständnisses zusammenzustellen, sondern zu untersuchen, wann und wie Paulus den Begriff dezidiert gebraucht. Bereits ein Blick auf Häufigkeit und Referenz der Wortfamilie ergibt Signifikantes: Die als authentisch anerkannten Paulusbriefe verwenden den Term απόστολος nicht gerade häufig und fast zur Hälfte für andere Personen als Paulus 21 . Mehr-

17

Vgl. Haacker, ThBLNT 2 2, i66if: „ A m Anfang des ntl. Gebrauchs von απόστολος steht ... keine gezielte Einführung eines klar definierten Begriffs, sondern eine semantische ,Lücke' im verfügbaren Wortschatz, die durch eine in ihrer Bedeutung noch flexible Vokabel gefüllt werden mußte." Der paulinische Sprachgebrauch setzt also ebenfalls keine feste Denotation voraus. Damit ist auch die Annahme hinfällig, Paulus habe den Begriff aufgenommen und uminterpretiert (so Hans Dieter Betz, Art. Apostle, in: ABD ι [1992] 309-311: 310).

18

Mit Haacker a.a.O., 1661.

19

Augenfällig ist, dass Paulus für die Apg kein Apostel ist, weil er Jesus nicht zu Lebzeiten folgte (Apg i,2if; eine Ausnahme liegt nur in 14,4.14 vor), wohingegen Paulus beansprucht, Christi Apostel zu sein (vgl. unten) und für Kol und Past nur Paulus Apostel ist, während Hebr den Begriff nur für Jesus verwendet (3,1). Vgl. nur Roloff TRE 3, 432-443; Reinbold 2000, 32-42 zu den unterschiedlichen Konzeptionen und Haacker 1988 zu einer Erklärung der Wortwahl der Apg. Bieberstein 1998,179 ff zeigt, dass der Sprachgebrauch im Lukasevangelium noch „terminologische Unschärfen" (185) aufweist. Der Zwölferkreis ist nicht strikt mit den Aposteln identisch, sondern kann auch eine größere Gruppe von Jüngerinnen umfassen.

20

Vgl. zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs bei Paulus Hahn 1974, 56 ff.

21

Von den 24 Belegen referieren 11 auf andere απόστολο ι als Paulus: Gemeindegesandte 2 K o r 8,23 (Kollekte); Phil 2,25 (Gemeindegesandte); i K o r 12,28t (innerhalb der Auflistung von Gott gegebener Charismata in der Gemeinde); 1 Kor 15,7: Gal 1,17.19 und Rom 16,7 (andere Apostel vor Paulus); 2 K o r 11,13 (die in Korinth wirkenden Apostel Christi, auch ύπερλίαν απόστολοι 2 Kor 11,5; i2,iif bzw. ψευδαπόστολοι 11,13 genannt).

Zur Bedeutung von απόστολος

123

fach subsumiert sich Paulus unter απόστολοι 22 , selten spricht er dezidiert von sich allein23. Nur in vier von sieben Präskripten stellt sich der Autor als Παϋλος απόστολος vor24. Im Phil und Phlm fehlt der Begriff mit Bezug auf Paulus ganz. Besonders auffällig ist, dass der 2 Kor, der Brief (bzw. die Brief Sammlung), der gemeinhin als „Apologie des Apostolats" verstanden wird, den Begriff nur im Präskript für Paulus aufnimmt. Die Verwendungen des Paulus für seine eigene Person erklären sich gewissermaßen organisch, ohne ideologische Überhöhung, aus dem Gedanken der Sendung: Wer sendet, bei welcher Gelegenheit, mit welcher Botschaft und wohin? Hier entsteht ein kohärentes Bild: Paulus weiß sich von Christus bzw. „dem Sohn" in einer Vision berufen zum Gesandten, betraut mit dem Evangelium 25 , gesandt zu den Völkern. Insofern die Sendung eine „Reisetätigkeit" verlangt, ist auch das Thema des Unterhalts unterwegs berührt. 1.3

Der Gebrauch in den authentischen Paulus-Briefen

Denotiert das Wort zunächst nur den Vorgang des Sendens, so müssen wir die Bedeutung in der Kommunikation zwischen Paulus und seinen Gemeinden von der Begriffsverwendung her klären26. Dafür beziehe ich mich entsprechend der Einleitung zu § 4 strikt auf diejenigen Äußerungen, die mit den Worten απόστολος, αποστολή und αποστέλλ ε ι 2 7 verbunden sind. Der „Apostolat" wird nie als eigenes Thema 22 23

24

25

26 27

iKor 4,9; 9,5; 15,9 (2x); Gal 1,17; iThess 2,7 (vgl. § 6.4.2) und αποστολή Gal 2,7. Abgesehen von den Präskripten (vgl. die nächste Anm.) fällt απόστολος mit exklusiver Referenz auf das Handeln des Paulus nur in Rom 11,13; iKor 9,if; 15,9 sowie αποστολή in Rom 1,5; 1 Kor 9,2 und αποστέλλε iv von Christus in Bezug auf Paulus in 1 Kor 1,17. Rom 1,1 (nach δούλος Χρίστου Ίησοϋ); iKor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1, dann aber steht απόστολος durchgängig in den Präskripten der deuteropaulinischen Briefe wie auch - in Bezug auf Petrus - in 1 und 2 Petr. Zur Nähe von Apostolat und Evangelium vgl. nur Roloff TRE 3, 438f (allerdings mit einem weiteren Begriff von „Apostel" und mithin weiterer Textbasis). Die Zusammengehörigkeit beider wird etwa deutlich in Rom 1,1; 1 Kor 1,17; Gal 2,7t; dies mag traditionsgeschichtlich auf Jes 61,if beruhen (vgl. oben Anm.15). Vgl. diese Summe als Konsens bei Roloff TRE 3, 432; für die Durchführung vgl. z.B. einerseits Schmithals 1961, y f f ; andererseits Hahn 1974. Dass auch das Verb spezifische Bedeutung trägt, wird daran erkennbar, dass πέμπειν steht, wenn es um die Aussendung von den Mitarbeitern des Paulus geht (iThess 3,1.5 u.ö.), (έξ-)άποστέλλειν aber nur mit Gott als (logischem) Subjekt (mit Ausnahme von 2 Kor 12,17). Die Verben sind sonst prinzipiell austauschbar (vgl. nur den johanneischen Sprachgebrauch und Lohmeyer 1995, i4iff).

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

124

behandelt. M.E. wird er auch nirgends als solcher explizit verteidigt. Der Begriff απόστολος fällt vielmehr in bestimmten thematischen bzw. pragmatischen Zusammenhängen 2 8 : 1 ) Der Autor beginnt seine Briefe nach Korinth, Galatien und Rom mit einer Selbstvorstellung als απόστολος. Dies dient offenbar der Legitimierung des Boten und der Botschaft, wie sie nicht nur in der mündlichen Verkündigung, sondern auch in den Briefen vermittelt wird. Darum wird betont, dass die Sendung von Christus ausgeht und dem Willen Gottes entspricht und dass Paulus berufen, ja ausgesondert ist29. 2) Dass der Apostolat des Paulus in einer speziellen Vision des Auferstandenen begründet ist, setzt i K o r 9,1 als allgemein anerkannt voraus und erzählt 15,8 f. Im letztgenannten Zusammenhang - der ebenfalls nicht vom Apostolat als solchem, sondern von der Gewissheit der Auferweckung Jesu handelt - gesteht der Autor ein, dass er nicht würdig sei, „ A p o s t e l " genannt zu werden, weil er die Gemeinde Gottes verfolgt hat (15,8). „Doch durch die Gnade Gottes bin ich, w a s ich bin, und seine Gnade für mich w a r nicht umsonst" (15,9): Der Apostolat ist reiner Gnadenakt, der keine bestimmte Befähigung oder vorher erbrachte Verdienste voraussetzt. Die erfolgreiche Missionstätigkeit jedoch zeigt, dass die Gnade „ g u t investiert" wurde (15,10). Wir beobachten in diesem Zusammenhang die im Vergleich mit dem paulinischen Konzept διακονία signifikante Tatsache, dass der Apostolat eindeutig christologisch begründet ist: Christus ist der Sendende, so wie er auch der in der Berufungsvision Geschaute ist. Gott

28

Nicht in diese Zusammenhänge gehören nur zwei Aspekte, die nach Darstellung des 2 Kor die ύπερλίαν απόστολοι für sich behaupten, bei denen Paulus aber auch Kompetenz beansprucht: besondere γνωσις (ii,5f) und σημεία τοϋ αποστόλου

29

Vgl. so insbesondere Gal 1,1; zur Legitimationsfunktion der Intitulatur απόστολος vgl. auch Schnider/Stenger 1987, 8-12. - Im Brief an die ihm von Angesicht unbekannte Christenheit in Rom geht Paulus darauf ein, warum er sich motiviert sieht, die bestehende Gemeinschaft zu besuchen (i,nff), und wagt, ihr zuvor zu schreiben (15,14ff, vgl. §5.1.3.2). Sie gehören zu seiner Zielgruppe, den Heidinnen (1,15). Seine Gnade gilt auch ihnen, um sie durch einen Besuch zu bestärken (i,iifin) und im Brief zu erinnern (15,15). Die Bemerkungen, insbesondere der Hinweis auf die Kühnheit des Schreibens (τολμηρότερον έγραψα, 15,15), zeigen, dass Paulus nicht voraussetzt, dass die Adressatinnen sich etwas von ihm sagen lassen. Auch beschränkt er seine Autorität auf nichtjüdische Menschen bzw. nichtjüdische Christinnen (vgl. 11,13; 15,16). Auch als „berufener Apostel" (1,1) erwartet er keine allgemeine Anerkennung seiner Autorität.

(12,12).

Z u r Bedeutung von α π ό σ τ ο λ ο ς

125

steht nur mittelbar mit Gnade oder Willen hinter dieser Aussendung durch Christus 30 . 3) In Engführung der allgemeinen Legitimationsfunktion rekurriert Paulus besonders auf seinen Apostolat im Zusammenhang seiner Sendung mit dem Evangelium zu den Völkern. Die Ausrichtung auf die Völker ist offensichtlich das Spezifikum seines Apostolates, wie es Rom 11,13 auf die Formel έ θ ν ώ ν απόστολος bringt. Dass sich die Sendung zu den Völkern für Paulus mit seinem Apostel-Sein verbindet, lässt sich an den Verwendungen des Wortes im Rom und Gal ablesen, die das Recht der Völkermission behandeln. So fällt α π ό σ τ ο λ ο ς κτλ. in Bezug auf Paulus im Rom (1,5; 11,13) sowie in Gal i f (Gal 2,8 im Kontext von i , n f f . i 7 ; 2,2.7 31 ). In diesem letztgenannten Kontext dient der Rekurs auf die Berufung und Sendung zu den Völkern der Legitimation des „Evangeliums der Unbeschnittenheit". Ziel der Argumentation ist es, das beschneidungsfreie Evangelium zu verteidigen, nicht den Apostolat 32 . Mit diesem Legitimationsbedarf erklärt sich, dass gerade in solchen Zusammenhängen deutliche Anspielungen auf atl.-prophetische Prätexte fallen. Bieten sich die atl. Propheten generell als Paradigma des

30

Eindeutig auf Christus führen den άπόστολος-Status des Paulus R o m 1,4t; 1 Kor 1 , 1 ; 2 K o r 1 , 1 ; G a l 1,1 zurück. Die Christusrelation benennen auch die allgemeinen b z w . f ü r andere geltenden A u s s a g e n 2 Kor 11,13 / 1 Thess 2,7. Inhalt der den Apostolat legitimierenden Vision ist der Auferweckte nach i K o r 9,1; 15,8; vgl. im Themenfeld des Apostolats zur Heidenmission auch Gal 1,16 über die Offenbarung des „ S o h n e s " . Offen lassen das logische Subjekt der Sendung R o m 1,1, w o aber durch i,4f und die Parallelität zu δούλος Χρίστου Ί η σ ο ϋ eine christologische Affinität vorliegt; R o m 13,11; Gal 2,8. N u r in Gal 1,1 wird Gott nach Jesus Christus als Autor der Sendung genannt, dies aber indirekt mit seinem Auferweckungshandeln an Jesus Christus in Verbindung gebracht. Im Zusammenhang der Sendung durch Christus benennen Gottes Initiative 1 Kor 1 , 1 ; 2 Kor 1 , 1 ; 1 Kor 15,9. N u r auf Gott w i r d der Apostolat lediglich in der allgemeinen Charismen-Liste 1 Kor 12,28 zurückgeführt. - Die christologische Begründung des Apostolats beschreibt besonders deutlich l K l e m 42,1t: OL α π ό σ τ ο λ ο ι ήμΓν ε ύ η γ γ ε λ ί σ θ η σ α ν ά π ό τοϋ κ υ ρ ί ο υ Ί η σ ο ϋ Χρίστου, Ί η σ ο ϋ ς ό Χριστός ά π ό τοϋ θ ε ο ϋ έ ξ ε π έ μ φ θ η . Ό Χριστός ο ύ ν ά π ό τοϋ θεοϋ, κ α ι οί ά π ό σ τ ο λ ο ι ά π ό τ ο ϋ Χριστοϋ· έ γ έ ν ο ν τ ο ο ύ ν ά μ φ ό τ ε ρ α ε ύ τ ά κ τ ω ς έκ θ ε λ ή μ α τ ο ς θεοϋ.

31

Obwohl Gal 2,8 nicht explizit v o m Apostolat des Paulus spricht, sondern von dem des Petrus, legt der Briefkontext von 1,1 her eine Lektüre als Ellipse nahe, also in dem Sinne, dass Christus resp. Gott in Paulus den Apostolat „ z u den V ö l k e r n " wirkte. (Anders W. Walker 2003, der u.a. deshalb Gal 2,7b.8 als Interpolation ausscheiden will.)

32

Vgl. zur Diskussion der Pragmatik von Gal i f ausführlicher unten § 8.2.1 ad Gal i f .

120

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

„Gesandten" 33 , so werden in Gal 1,15f gerade solche Aussagen abgerufen, nach denen Propheten unter die „Völker" gesandt werden 34 . 4) Mehrfach wird aber erkennbar, dass die Apostelinnen gerade zur allerersten Verkündigung des Evangeliums an einem Ort gesandt sind. Deutlich geht das aus i K o r 1,17; 9,if 3 5 ; 15,9-10 hervor. Auch Verwendungen der Wortfamilie ohne Referenz auf Paulus zeigen, dass die Aussendung (άποστέλλεσθαι) der Anfang der Gewinnung neuer Christinnen ist (Rom io,i4f), weshalb die Apostelinnen in der Charismenliste 1 Kor 12,28 f als Erste aufgeführt werden 36 . Aus dieser Konnotation vom Apostel als „Erstem" erklärt sich auch die Verwendung des Begriffs in der Einleitung zum Peristasenkatalog in 1 Kor 4,9 anstelle des in i K o r 3t dominierenden semantischen Feldes „nicht-selbständige Arbeit" für Gott resp. Christus 37 . In

33

So spielt i K o r 1,17 auf Jes 61,1 an (vgl. Hahn 1974 [s.o. Anm.15] und genauer zur Stelle Wilk 1998, 30οί). Doch weder Prätext noch Text sprechen von einer Sendung zu den Heidinnen.

34

Rom 1,2 nennt in Hinleitung auf die Aussage über die αποστολή ... έν πασιν τοις έθνεσιν pauschal die Evangeliumsverkündigung der Schriftpropheten. Gal 1,15f knüpft an die Prophetenberufungsberichte in Jer 1,5 und/oder Jes 49,1.6 an. Während Holtz 1966 einen alleinigen Bezug auf Jes 49,1.6 propagiert (vgl. so auch Wolff 1976, 139t; Wilk 1998, 292t, im Verbund mit Jes 42,6), sieht Sandnes einen Nebenbezug auf Jer (vgl. Sandnes 1991, 63f.i39-i49). Berührungen liegen vor in den Stichworten έκ κοιλίας μητρός μου, καλεϊν und dem Gedanken der Aussonderung. Die Sendung zu den Völkern mit einer Heilsbotschaft legitimiert insbesondere das besagte Gottesknechtslied (mit Holtz 1966; Wilk ebd., der a.a.O., 295t weitere intertextuelle Rückbezüge in Gal if zu Jes 49,1.3-8 und Jes 42,3.6.8 aufführt). Die Mission der Heidinnen zeichnet auch Rom 15,21 in Aufnahme von Jes 52,15 als Erfüllung der Prophetie (mit Wilk a.a.O., 8off.i75f), allerdings ohne die spezifische Terminologie von απόστολος κτλ. - Zum allgemeinen prophetischen Hintergrund der αποστέλλε iv-Terminologie vgl. bereits oben. Zur Diskussion und der These eines prophetischen Selbstverständnisses des Paulus vgl. oben § 1.2.2.5 u n d ingesamt Sandnes 1991, der ein solches im weiten Sinne, d.h. nicht nur orientiert an den atl. Propheten und nicht nur an dieser Stelle, postuliert. Er übersieht jedoch die spezielle Legitimationsfunktion für die Sendung unter die Völker.

35

i K o r 9,if begründet mit den Adressatinnen als „Werk" des Paulus, dass dieser zumindest απόστολος ύμιν ist; vgl. zur Argumentation unten.

36

Ebenso beginnt die Liste von kirchlichen Funktionen in Eph 4,11 mit Aposteln, und unter dem verwandten Stichwort ά γ γ ε λ ο ς lässt i T i m 3,16 die selbe Konzeption durchscheinen. Dem entspricht, dass die Anzahl und Zeit der Apostel begrenzt ist, wie es 1 Kor 15,7 oder auch 1 Klem 44,if voraussetzen. Im Primat der Apostel liegt der Grund dafür, dass απόστολος in Hebr 3,1 parallel zum „Erzpriester" (άρχιερεύς) zur Jesusbezeichnung werden kann.

37

Vgl. διάκονοι 3,5; συνεργοί 3,9; ύπηρέται Χρίστου καί οικονόμοι μυστηρίων θεοϋ 4,1 sowie die metaphorischen Beschreibungen der Aufgaben der Missionare als Land- und Bauarbeiter in 3,6ff. Zu diesem Konzept vgl. §5.1.1; zur Auslegung von i K o r 3 f s. §7.3.

Zur Bedeutung von απόστολος

127

den anderen Briefpassagen zur verzichtvollen Lebensweise des Paulus, den sog. Peristasenkatalogen, fällt der Begriff α π ό σ τ ο λ ο ς nicht (vgl. unten 2.1). 1 K o r 4,9 nimmt ihn jedoch auf, u m mit der Opposition v o n α π ό σ τ ο λ ο ι u n d έ σ χ α τ ο ι zu spielen: Die „ E r s t e n " , die das E v a n g e l i u m in die Welt tragen, w e r d e n v o n Gott als nach menschlichen Maßstäben „ L e t z t e " in der Öffentlichkeit präsentiert. Könige könnten sie sein, w e n n die Gemeinde ihrerseits schon in dieser Position w ä r e (4,8), denn dann w ä r e ihre Mission beendet 38 . Dass die Apostel - nicht nur Paulus - v o n Gott zu einem unehrenhaften Leben bestimmt sind, w i r d als bekannt u n d unter den Aposteln akzeptiert vorausgesetzt. Die Apostel allgemein stehen im Z u s a m m e n h a n g der Argumentation als Beispiele f ü r den Verzicht auf menschliches Ansehen, der gleichwohl einen hohen religiösen Status nicht ausschließt. Mit der Übernahme dieser verzichtvollen Lebensweise u n d dem Aushalten v o n Verachtung ermöglichen sie der Gemeinde einen hohen Status 39 . 5) Bei Paulus fällt das Stichwort α π ό σ τ ο λ ο ς κτλ. im Z u s a m m e n hang des Unterhaltsrechts in i K o r 9,1t; 2 Kor u f ; i T h e s s 2,7. Der Gesandte hat nach Bestimmung des Herrn έ ξ ο υ σ ί α . , sich u n d seinem mitreisenden Ehepartner von den Menschen, zu denen er gesandt ist, Kost u n d Unterbringung erstatten zu lassen ( i K o r 9,5). Dieses Recht des Apostels ist in der Tradition der synoptischen A u s s e n d u n g s r e d e n u n d Did ebenfalls erwähnt (vgl. oben). Die Bedeutung des Apostels als Gemeindegründer und das sich aus der Sendung ergebende Recht auf Unterhalt seitens der gegründeten Gemeinde erklären auch die Formulierung in 1 Kor 9,1f. Nur in dieser Textstelle wird απόστολος syntaktisch und semantisch in Beziehung zu einer Ortsgemeinde gesetzt. Ziel der Argumentation ist es, den Verzicht des Paulus auf Unterhalt als beispielhaften Verzicht auf eine έξουσία darzustellen40. Dazu muss zunächst feststehen, dass Paulus dieses Recht hätte. Das Recht wird deduziert aus dem άπόστολος-Sein (9,5). Den Nachweis, dass Paulus selbst Apostel ist, führt er in aller Kürze, beschränkt auf das Nötigste, nämlich das, was die Adressatinnen als Argument anerkennen müssen. Folgende mehr oder weniger explizierte Syllogismen begründen das Recht:

38

Vgl. zur Auslegung genauer § 7.3.7.

39

Das Thema der Niedrigkeit und Schwachheit wird nur in der Auslegung, nicht von Paulus unter dem Schlagwort „Apostel" diskutiert.

40

Zur Diskussion um die Pragmatik des Kapitels und die Gründe für eine paradigmatische, nicht apologetische Lektüre vgl. § 5.1.1.1 zu 1 Kor 9.

128

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

(a) Ein Apostel hat Unterhaltsrecht. (b) Paulus ist ein Apostel. (a) et (b) => (c) Paulus hat Unterhaltsrecht. Der Mittelsatz (b) wird seinerseits kurz begründet, wobei der Obersatz (d) nicht expliziert wird: (d) (Ein Apostel ist, wer den Herrn gesehen hat und ein „Werk" an Menschen vollbracht hat). (e) Paulus hat den Herrn gesehen und ein „Werk" an Menschen vollbracht. (d) et (e) => (b) Paulus ist ein Apostel (9,1b). Die zweite Bedingung des Mittelsatzes (e) wird eigens gestützt mit 9,id.2: Die Adressatinnen können an sich als „Werk" selbst ablesen, dass Paulus ein Apostel zumindest für sie ist. Diese A n d e u t u n g einer Argumentationsanalyse legt die Prämissen o f f e n : Der Autor nimmt an, dass auch f ü r die Adressatinnen das Unterhaltsrecht im ά π ό σ τ ο λ ο ς - S e i n mitgesetzt war. Er hält weiter die Tatsache, dass er eine ihn z u m Apostel machende O f f e n b a r u n g hatte, f ü r unstrittig. A u c h w i r d erkennbar, w i e unmittelbar das Apostel-Sein mit d e m „ W e r k " der Evangelisierung b z w . G e m e i n d e g r ü n d u n g verb u n d e n ist. 6) Im Z u s a m m e n h a n g mit Kritik an seiner Person fällt α π ό σ τ ο λ ο ς in 2 Kor 11 f . A u c h hier geht es nicht u m die Entfaltung eines prägnanten Apostel-Konzepts und Selbstverständnisses als „ A p o s t e l " , sondern der Begriff steht offenbar im R a u m , weil andere, mit denen Paulus verglichen wird, als solche gelten 41 . Paulus will in 2 K o r 1 0 - 1 3 V o r w ü r f e w e g e n seines schwachen Auftretens parieren u n d die B i n d u n g der Gemeinde an ihn als deren weiterhin vorrangige, da christliche „ P r i m ä r b e z i e h u n g " darstellen (vgl. §5.2.2). Die Argumentation setzt voraus, dass Paulus απόστολος ist, aber begründet diesen Status nicht. Deshalb ist anzunehmen, dass das nicht strittig war. Der Text argumentiert jedoch auch nicht mit diesem Begriff für Paulus. Daher ist der Text am besten so zu lesen, dass er nicht auf Zweifel an der Sendung des Paulus reagiert, sondern auf massive Kritik an seinem Auftreten im Vergleich

41

Dass sich die anderen als απόστολοι Χρίστου bezeichneten, geht deutlich aus 11,13 hervor. - Eine Synonymie von απόστολοι und διάκονοι geht aus 2 Kor 11,13-15 nicht hervor (so de Oliveira 1990, 153), auch wenn beide Begriffe auf dieselben geschmähten Konkurrentinnen referieren: Der Gegensatz zu απόστολοι Χρίστου ist ψευδαπόστολοι, d.h. Leute, die gar nicht wirklich gesandt sind und deshalb auch kein Recht auf Unterhalt haben (vgl. das Thema von ii,7ff). Ihm korrespondiert der vorgebliche ά γ γ ε λ ο ς φωτός, der Gesandte des Lichtes. Der Gegensatz zu διάκονοι sc. σατανά ist διάκονοι δικαιοσύνης (11,15). Unterschieden wird nach dem jeweiligen Auftraggeber bzw. dem, dessen Gut vermittelt wird.

Zur Bedeutung von απόστολος

129

mit anderen (vgl. bes. 10,1.10). Mit diesen tritt Paulus in eine Synkrisis 42 , ein Kräftemessen. In der Disziplin „Apostel" ist offenbar nicht viel zu gewinnen. Der Text polemisiert zwar gegen das Apostel-Sein der anderen, argumentiert aber nicht dagegen und markiert auch keine Unterschiede im jeweiligen Apostolatsverständnis. Die ironisierende Bezeichnung als ύπερλίαν απόστολοι (11,5) akzeptiert ja, dass diese Konkurrentinnen vordergründig „SuperApostel" sind. Die scharfe Invektive in 11,13 (ψευδαπόστολοι) spricht den anderen ab, wahrhaft Apostel zu sein. Es ist unklar, ob ψευδαπόστολοί auf die selben Leute referiert wie ύπερλίαν απόστολοι 43 . Die Argumentation geht jedenfalls einen anderen Weg: Der Autor zeigt - unter gleichzeitiger Problematisierung dieses Vorgehens - , dass er den Vergleich mit den Konkurrentinnen aufnehmen kann. Paulus beansprucht, diesen ebenbürtig zu sein (11,5 in der γνώσις, i2,nff in den σημεία τοϋ αποστόλου 44 , n,22 im Blick auf die Herkunft). Was seinen Verzicht auf das Unterhaltsrecht angeht, ist er ihnen sogar überlegen (ii,i2ff). Auch in der Kategorie διάκονοι Χριστοϋ ist er besser (11,23ff). Neu ist für uns, dass hier das Apostel-Sein mit Erkenntnis und Zeichen verbunden wird, also mit einer gewissen demonstrierbaren Wirkung. Diese Kriterien werden jedoch als von anderen erwünschte eingeführt. Der eigentliche Maßstab sollte der eigene Missionserfolg sein (10,12ff). Der Begriff α π ό σ τ ο λ ο ς in 2 K o r 1 1 f ist also d u r c h d e n Status-Anspruch der anderen Apostelinnen v o r g e g e b e n u n d fällt insbesondere dann, w e n n es u m d e n Unterhalt geht. D e n n diesen, so die B e h a u p t u n g des Paulus, erschleichen sich andere durch ihre T a r n u n g als A p o s t e l ( 1 1 , 1 2 f f ) ; damit ist implizit freilich das Apostel-Sein bestritten. Z u r Selbstverteidigung führt P a u l u s nicht seinen Status als „ A p o s t e l " an, s o n d e r n d e n E r f o l g seiner S e n d u n g in der G e m e i n d e v o n Korinth ( 1 0 , 1 3 ^ 11*2).

1.4

Schlussfolgerungen

Diese Beobachtungen zeigen, dass die B e g r i f f s v e r w e n d u n g in d e n p a u linischen Briefen d e n allgemeinen semantischen Feststellungen über α π ό σ τ ο λ ο ς als Funktionsbegriff „ A b g e s a n d t e r " entspricht. W e n n P a u l u s sich als „ A p o s t e l " bezeichnet, so impliziert d a s eine göttliche A u t o r i s i e r u n g u n d damit einen bestimmten Status in der Christenheit

42

Zur rhetorischen Argumentation in 2 Kor l i f vgl. Forbes 1986.

43

Einen Unterschied nehmen Hafeman 1995, 259 ft und andere an, vgl. Bieringer 1994, 193 f.

44

Vgl. dazu Alkier 2001, 24off. Paulus kommt offensichtlich auf diese Zeichen zu sprechen, weil sie von anderer Seite reklamiert wurden. Er selbst relativiert das Kriterium implizit, indem er es passivisch ohne logisches Subjekt von sich distanziert ( κ α τ ε ι ρ γ ά σ θ η , 12,12), wie er auch vorher schon eingeschränkt hatte: ούδέν είμι (12,11).

130

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

sowie eine Aufgabe: Ziel seiner Sendung ist, dass er das Evangelium Menschen bringt, und zwar insbesondere Heidinnen. In zwei Kontexten führt Paulus seine Berufung zum απόστολος implizit oder explizit argumentativ an: Erstens benennt er damit seine Legitimation von Christus resp. Gott prinzipiell, insbesondere die Gottgemäßheit seiner Version des Evangeliums an die nichtjüdischen Menschen. Zweitens begründet er mit diesem Status das Recht, Unterhalt zu verlangen. Dass der Begriff ein Konzept von vollmächtiger Repräsentanz oder „Stellvertretung" Christi beinhalte, ist auch bei Paulus nirgends erkennbar vorausgesetzt. Dieses Konzept kommuniziert Paulus anders45. Intertextuell aufgefüllt wird das Konzept „Völkerapostel" nur durch den Rekurs auf prophetische Sendung zu den Völkern. Im Gebrauch des Paulus konnotiert der Begriff απόστολος, dass dieser als Erster das Evangelium in einen Ort trägt. Paulus interpretiert seine Sendung deshalb als Auftrag, „das Evangelium zu verkündigen nicht dort, wo Christus schon bekannt ist" (Rom 15,2ο) 46 ; insofern er sich an nichtjüdische Menschen wendet, wird der Pioniercharakter noch deutlicher. Paulus reist weiter, wenn diese erste Mission erfüllt ist47. Der Begriff απόστολος wird nur einmal, in 1 Kor 9,2, verwendet 45

Am deutlichsten geschieht dies mit der Botschafter-Metapher, die auf die politische Praxis Bezug nimmt, also gerade nicht auf ein „jüdisches Botenrecht", in 2 Kor 5,20: ύπέρ Χρίστου ούν πρεσβεύομεν ώς τοΰ θεοϋ παρακαλοϋντος δι' ήμών· δεόμεθα ύπέρ Χρίστου κτλ.; vgl. dazu § 5.1.9·!· Vgl. auch 2 Kor 13,3: έν έμοί λ α λ ώ ν Χριστός, hier aber als etwas, was die Adressatinnen bewiesen haben wollen; ähnlich auch 2 Kor 2,17 (άλλ' ώς έκ θεοϋ κατέναντι θεοϋ έν Χριστώ λαλοϋμεν) und Rom 15,18 (κατειργάσατο Χριστός δι' έμοϋ). Die Vergegenwärtigung Christi wird außerdem in 2 Kor 2,i4b-i6a mit einer kultisch signierten Duftmetapher (vgl. §5.1.3.3) und in 4,ioff mit der Vorstellung der körperlichen Repräsentanz des Jesus-Geschicks (vgl. §5.1.13) dargestellt. Auch diese extravaganten Metaphern referieren nicht auf den „Apostolat", sondern, soweit erkennbar, auf das persönliche Geschick des Paulus.

46

Vgl. 15,21 und neben dieser prinzipiellen Aussage i K o r 3,10 in Bezug auf die Gemeinde in Korinth. Dass Paulus diesem Prinzip der „Pioniermission" nicht streng gefolgt ist, wie nicht zuletzt sein langer Aufenthalt in Ephesus zeigt, dessen Gemeinde er selbst nicht gegründet hat, steht auf einem anderen Blatt (vgl. dazu Haacker Rom, 308, Zitat ebd.).

47

Hier liegt das Recht der These Roloffs, dass der Apostolat für Paulus innerhalb der Bewegung vom Evangelium zur Kirche „Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit" besitzt, weil er „an eine einmalige heilsgeschichtliche Situation gebunden ist, die durch den Ubergang von Jesus zur Kirche und damit den Beginn dieser Bewegung des in der Auferstehung gründenden Evangeliums bestimmt ist" (so zusammenfassend 1965,136). Entsprechend formuliert auch die Metaphorik vom Fundament aus Aposteln und Propheten in Eph 2,20 und die Ämterliste 4,11. Die geschichtliche Einmaligkeit des Apostolates spiegelt auch die Reservierung des Titels für Paulus in den Pastoralbriefen; vgl. auch l K l e m 42. Die These, aus dem Apostolat seien die verschiedenen „Amter" deduziert (so etwa Hainz 1972, 336ft), ist deshalb unplausibel.

Zur Bedeutung von απόστολος

X31

zur Bezeichnung einer besonderen Beziehung eines Gesandten zu einer von ihm gegründeten Gemeinde, dort jedoch in bestimmter argumentativer Abzweckung. Für die Rolle, Funktion und Beziehung, die sich der Erstmission anschließen, wählt Paulus andere Metaphern. Nirgendwo verbindet sich mit απόστολος ein besonderes „ A m t " in der Ortsgemeinde. Die Autorität des Apostels besteht darin, von Christus gesandt zu sein und das wahre Evangelium zu verkündigen. Nirgends argumentiert Paulus, soweit erkennbar, um seinen άπόστολος-Status als solchen gegen Angriffe oder Bestreitung zu verteidigen4®. Ist das Wort απόστολος also in der Korrespondenz des Paulus ein bedeutsamer Ausdruck der Beauftragung zur Evangeliumsverkündigung, so ist doch die Intension des Begriffs spezifischer, als der verbreitete Sprachgebrauch suggeriert. Zwar muss der heute geübte Gebrauch des Lehnwortes „Apostel" etc. nicht obsolet sein, insofern ihm eigenständige Bedeutung zukommen kann, doch wenn er die vielfältigen Aspekte des paulinischen Selbstentwurfs verdeckt, ist er nicht hilfreich.

2 διάκονος Gottes. Zur Rehabilitation einer unterschätzten Bezeichnung 2.1

Zur Bedeutung von διάκονος κτλ. allgemein und zum Wortgebrauch bei Paulus

Wenn dem Begriff „Apostel" bei Paulus zu viel Bedeutung unterstellt wird, so auf Kosten der Wortfamilie διακονία. Sie wird gemeinhin konkordant mit einem christlich assoziierten „Dienst" wiedergegeben, obgleich dies z.T. gezwungen ist49 und das Wort auch andere Bedeutungen hat. In der Auslegung wird die Alternative diskutiert, ob die Auch später wurden in der Regel nur Christinnen und Christen der ersten Generation als Apostel bzw. Apostelin verehrt; vgl. zur Weiterentwicklung des Begriffs Bienert 1989,16ff; Eisen 1996,55ff. 48

Dies wird immer wieder unterstellt und z.B. insbesondere in Bezug auf 1 Kor 9,iff behauptet (vgl. dagegen aber 1.3 und §5.1.1.1); vgl. für viele nur neuerdings wieder Schnelle: „iKor 9,iff und iKor I5,iff müssen textpragmatisch als Apologien des paulinischen Apostolats gelesen werden" (2003, 77f). „Die Legitimität seines Apostolats wurde Paulus zeitlebens bestritten", da er nicht dem bisherigen Apostelbegriff entsprochen habe (a.a.O., 84).

49

Die sprachliche Präzision geht erst recht verloren, wenn man, wie verbreitet, vom „apostolischen Dienst" spricht. Gezwungen ist z.B. die Übersetzung von έπιστολή διακονηθεΓσα ύφ' ήμών 2 Kor 3,3 m i t „durch unsern Dienst zubereitet" (Luther 1984); vgl. dazu weiter §5.1.4.1.

132

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

„Ursprungsbedeutung" von διακονεΐν „Tischdienst leisten" 50 sei oder ganz anders „vermitteln" bzw. „go between" 51 . Für die Interpretation der paulinischen Aussagen ergibt sich damit eine weites Spektrum 52 : Konnotiert διάκονος Dienst53, Niedrigkeit 54 oder Verkündigungstätigkeit55, gar im Sinne vollmächtiger, persönlicher Repräsentation Gottes resp. Christi 56 ? Wir betreiben keine „Ursprungssemantik", sondern suchen die Begriffsverwendung in konkreten Kontexten, die in dieser Diskussion

50

So Wolfgang Beyer, Art. διακονέω κτλ., in: ThWNT 2 (1935) 81-93: 81 u.ö.; dezidiert bes. Roloff 1972/73, 5off; Alfons Weiser, Art. διακονέω κτλ., in: E W N T 1 ( 2 i992) 726732: 726t; Klaus Heß/Hans Bietenhart, Art. herrschen/dienen: διακονέω, in: ThBLNT 2 (1997) 941-944: 941; Roloff und Weiser ebd. versuchen, den christlichen Gebrauch aus der Abendmahlspraxis herzuleiten.

51

So J.N. Collins 1990,194 u.ö.

52

Vgl. zur Forschungsdiskussion Bieringer 1994b, 413 ff.

53

Bei der Übersetzung „service" etwa bleibt Hafemann 1995, lioff (im Interesse an der Auslegung von 2 Kor 3,6) auch nach Durchmusterung des Sprachgebrauchs; er versteht darunter die Bezeichnung der nicht-selbständigen Funktion und Rolle des Apostels, sieht daher eine große Nähe zu δούλος (a.a.O., 111).

54

So etwa Roloff 1965, 122; Schottroff 1994, 299ft; auch Bash 1997, 28f als spezifisch christliche, nämlich christologische Assoziation. Vgl. dagegen J.N. Collins 1990, 80f.88f.193f, der anhand des außerchristlichen Sprachgebrauchs nachweist, dass diese Konnotation, die sich auf Mk io,42~45parr berufen kann, nicht allgemein zu unterstellen ist. - Aalen 1984 interpretiert im Rahmen dieser „Grundbedeutung" διακονία als Dienst, „Assistentsein", weist aber präzisierend darauf hin, dass es nicht wie im Sinne heutiger „Diakonie" das allgemeine Ethos der Nächstenliebe ist, sondern ein „auf das innere Leben der Kirche begrenzter]" Dienst (a.a.O., 12).

55

So Georgi 1964, 34ff; Ollrog 1979, 73t in Bezug auf die Verwendung bei Paulus; er sieht diese Bedeutung auch in i K o r 16,15ft; Phlm 13 und dem ihm als authentisch geltenden Kol in Bezug auf „Mitarbeiter" des Paulus vorliegen (a.a.O., 99f.ioiff).

56

So Georgi 1964, 31-38 in einseitiger Zuspitzung. Er belegt diese s.E. dem Apostelbegriff parallele Bedeutung an wenigen Texten, vor allem an Epiktets Rede vom διάκονος in Relation zum Gott im kynischen und stoischen Kontext. Paulus und seine Gegner in Korinth hätten gleichermaßen beansprucht, als διάκονοι Χρίστου (vgl. 2 Kor 11,23) Repräsentanten Christi zu sein. Ein Unterschied bestehe freilich in der Art und Begründung der Repräsentation. Diese religionsgeschichtliche Herleitung ist von J.N. Collins plausibel widerlegt worden (1990, i 7 i f f ; vgl. auch noch einmal detailiert ders. 1992). Der Kyniker oder Stoiker ist διάκονος nicht im Sinne eines solchen Repräsentanten, sondern als „Diener" Gottes, der nur diesem, nicht anderen Kreaturen untergeordnet ist. Gleichwohl hat Georgi richtig gesehen, dass es um Vermittlung geht, nicht nur um Dienst; vgl. dazu die Reaktion Georgis auf die Kritik von J.N. Collins in der englischen Ubersetzung 1986, 354; Dautzenberg 2001a in Bezug auf 2 Kor 3.

Zur Bedeutung von διάκονος

133

vernachlässigt wird, διακονεΐν κτΛ. bedeutet „Tischdienst leisten" 57 , „dienen", aber auch „mit Waren handeln", „Worte weitergeben, Bote sein" oder „Güter vermitteln", profan, aber auch in religiösem Zusammenhang 58 . Dem paulinischen Gebrauch geht ähnlich wie bei απόστολος κτλ. keine bibelgriechische oder sonst religiöse technische Terminologie voraus 59 , doch διάκονος κτλ. ist bereits im Schwange in christlichen Kontexten. Das können wir dem Wortgebrauch im NT entnehmen60. Damit ist freilich nicht besagt, dass es ein univok verstandenes Konzept darstellt. Der Gebrauch und die Begriffsgeschichte deuten vielmehr darauf hin, dass es auch hier unterschiedliche In- und Extension gibt61. Die Denotationen sind vielfältig, und der folgende Durchgang durch die paulinischen Verwendungen zeigt, dass eine konkordante Übersetzung mit „Diener" das Verständnis der Texte verstellt62. Die Wortfamilie wird vor allem im 2 Kor herangezogen 63 : In 2 Kor 2 - 7 geht es nicht um „den Apostolat", sondern διακονία κτλ. ist das Stichwort, unter dem die Rolle des Paulus präsentiert wird. Die diffizilen Auslegungsprobleme dieses Textes und der weiteren Verwendungen von διάκονος κτλ. können wir nicht angemessen diskutieren

57

Vgl. die Belege bei J.N. Collins 1990, i5off, der aber diese Denotation relativiert im Widerspruch zur These vom „Tischdienst" als Grundbedeutung (a.a.O., 74ff). Ollrog 1979, 73 weist darauf hin, dass diese Denotation bei Paulus fehlt (zu dem oft so verstandenen Phlm 13 vgl. loif).

58

Für die Bedeutungsmöglichkeiten im außerchristlichen Sprachgebrauch wie auch die Verwendung in christlicher Literatur vgl. jetzt grundlegend J.N. Collins 1990; zum allgemeinen Sprachgebrauch 7iff (zum Gebrauch in griechisch-jüdischen Schriften auch Hafemann 1 9 9 5 , 1 1 5 - 1 1 8 ) . Mit dieser sorgfältigen Analyse sind die Wörterbuchartikel überholt. Auch Collins übersieht allerdings den hier markierten Bedeutungsunterschied zwischen απόστολος und διάκονος und Derivaten. - Als Beispiele für die Verwendung von διάκονος für die Vermittlung von Himmlischem an Irdische vgl. Plato, Polit 290C4f (εϊσί δέ οϊ τε περί μαντικήν εχοντές τίνος έπιστήμης διακόνου μόριον); Josephus, Bell 3-354' 4'6 2 6 (Vespasian deutet Josephus nach seinem Orakel als ή άρχή και διάκονος της τοϋ θεοϋ φωνής).

59

Die Wortfamilie ist wie άπόστολος im Bibelgriechisch unvorbelastet (nur wenige Belege in den späteren Schriften: διάκονος Esth 1,10; 2,2; 6,1 ( R ) ; 6,3.5; Spr 10,4a; 4 Makk 9,17; διακονία Esth 6,3.5 ( A ) ; 1 Makk 11,58. Zu anderen Ableitungsvorschlägen vgl. Bieringer 1994b, 4i4ff.

60

Dass der Begriff bereits im Gespräch ist, ergibt sich deutlich aus Rom 16,1; 2 Kor 11,23, v g l · 1:LA5) Phil 1,1. Hierin konvergieren Georgi 1964, yii; Ollrog 1979, 3 1 ; de Oliveira 1990,153; Bieringer 1994b, 42Öf u.a.

61

Vgl. J.N. Collins 1990, i93ff zu den divergenten Rezeptionen im christlichen Kontext.

62

Dies haben bereits wesentlich Georgi und Collins in den zitierten Arbeiten herausgestellt; vgl. auch Bash 1997, 2 5 - 2 9 zur Diskussion.

63

Hier finden sich 20 von 100 ntl. Vorkommen der Wortfamilie. Zahlen mit Bieringer 1994b, 414 Anm.4.

134

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

geschweige denn lösen64. Wir zeigen nur vor dem Bedeutungsspektrum auf, in welchen Kontexten das Wort Verwendung findet, um zu belegen, dass die Wortfamilie auf spezifische Weise und anders gebraucht wird als απόστολος κτλ. ι ) διακονεΐν und Derivate werden verwendet im Zusammenhang der Kollektenübergabe, und zwar nicht nur in den Paulusbriefen 65 . Der Sprachgebrauch zeigt bereits, dass die übliche Ubersetzung mit „Dienst" unpassend ist, geht es hier doch um die Weitergabe von etwas an andere in deren Interesse. 2) Im Zusammenhang der Frage nach der Befähigung und Referenzen fällt das Stichwort in 2 Kor 2-y 6 6 . διακονία κτλ. wird so auch in Bezug auf andere verwendet: Ein „Bruder" (2 Kor 8,18) und Stephanas ( i K o r 16,15-17) sowie Phoebe (Rom 16,if) werden aufgrund ihrer bereits geleisteten διακονία bzw. als διάκονοι empfohlen. Andererseits wird die Eignung des Paulus zur διακονία (2Kor 2,16^3,3; 3,6; 6,3f zusammenfassend) kritisch befragt 67 . Ein Befähigungsnachweis oder eine Referenz ist wichtig für diejenigen, denen der Auftrag gilt. Die positive Aufnahme setzt ja Vertrauen in den διάκονος voraus. Zur Empfehlung können bisherige Erfolge angeführt werden oder kann derjenige, der den Auftrag gab, eintreten. 2 Kor 2,i4ff betont zur Beantwortung der Frage nach den Referenzen die Öffentlichkeit des Wirkens

64

Zur Literatur vgl. §5.2.1. Die spezifische Wortwahl wird meist ignoriert und die Selbstdarstellung unter dem Stichwort „Apostel" diskutiert. Dies tun, um hier nur auf neuere Arbeiten zu verweisen, Hafemann 1986; Schröter 1993; Gruber 1998; Kuschnerus 2002, Back 2002; Gräßer 2 Kor Bd.i trotz der Beobachtungen von Georgi 1964, 31ft; Dautzenberg 1986; J.N. Collins 1990. De Oliveira (1990) beachtet zwar die Wortwahl, würdigt sie gar im Titel seines Buches „Die Diakonie der Gerechtigkeit und der Versöhnung" und rezipiert die These Georgis, dass es sich nicht einfach um einen „Dienst" handele, sondern der Begriff im Munde der Gegner im stoischen Sinne „Herold" bedeute (a.a.O., i54f). Doch er macht die Gleichsetzung von Apostolat und Diakonie zum Ausgangspunkt der Bedeutungsklärung des letzteren (a.a.O., 152; vgl. so bereits Georgi 1964, 31), so dass er sich selbst den Blick verstellt. Die Annahme, dass Paulus mit der Wortfamilie διακονία im prägnanten Sinne auf seinen „apostolischen Dienst" referiere, ist auch in den meisten anderen Exegesen die unreflektierte Voraussetzung.

65

Apg 11,29; I 2 ' 2 5 ; Rom 15,25.31; 2 Kor 8,4.19t; 9,1.12t; vgl. J.N. Collins 1990, 217ft.

66

ικανός κτλ. in 2,16; 3/5; συνιστάνειν κτλ. in 3,1; 4>2ί 5>12ί 6,4; ω,ΐ2.ι8; έαυτούς κηρύοσειν κτλ. 4,5·



Dies trifft m.E. der Begriff „Legitimität" nicht, mit dem die Bedeutung des Abschnitts oft beschrieben wird (vgl. Gräßer 2 Kor Bd.i, 102.105ff; Back 2002, 88.94 u.ö.), denn es geht nicht um Legitimität, d.h. formale Rechtmäßigkeit, sondern um inhaltliche Fähigkeiten.

Zur Bedeutung von διάκονος

135

Gottes an Paulus und die Transparenz seines eigenen Handelns 68 , seinen Erfolg ( 3 , 1 - 3 ) sowie die Befähigung durch Gott (3,6). 3) Die Wortfamilie wird herangezogen, um die Aufgabe des Paulus gegenüber den anderen Menschen zu beschreiben. Das Wort impliziert, dass es erstens eine verliehene Aufgabe ist, diese sich zweitens auf andere Menschen bezieht und drittens einen Gegenstand hat. διάκονος ist also zunächst recht allgemeinen Inhalts, der jeweils der Präzisierung durch den Beauftragten, die Empfänger oder den Gegenstand bedarf. Darum wird διάκονος resp. διακονία auch meist durch Genitive spezifiziert 69 , seien es objektive, subjektive oder qualitative. A u f grund dieses allgemeinen Gehaltes eignet sich διάκονος κτλ. auch als Oberbegriff für verschiedene Menschen, die im Auftrage Gottes stehen (vgl. i K o r 3,5; 2 K o r 3,6ff, s.u.). Die Ubersetzung als „ D i e n e r " bzw. „Dienst" trägt dieser implizierten Relation zwischen Auftraggeber und Beauftragtem Rechnung, verdeckt jedoch den Gegenstandsbezug. Steht dieser so im Vordergrund, ergibt die Wiedergabe von διακονία und Derivaten als „ Vermittlungsaufgabe" sowohl in Bezug auf die Kollekte als auch in Bezug auf die Heilsgüter die beste Interpretation. Dies ist an den Texten zu verdeutlichen: 1 Kor 3,5 nennt Paulus und Apollos διάκονοι als diejenigen, die den Glauben vermitteln 70 . Der Begriff vermag sowohl die Arbeit des Erstmissionars ( „ p f l a n z e n " 3,6; vgl. „Grundstein legen" 3,10), die wir als Bedeutung von απόστολος erkannt hatten, als auch die Weiterarbeit („gießen", 3,6) zu subsumieren, διάκονος erscheint damit als weiterer Begriff als απόστολος 7 1 . Es wird ausdrücklich als Oberbegriff für verschiedene Aufgaben (και έκάστω ώς ό κύριος εδωκεν) verwendet. Die Gegenüberstellung von Mose und „unserer δ ι α κ ο ν ί α " in 2 Kor 3 , 4 ^ vergleicht beide im Blick auf ihre Rolle als „Gottesboten", um via comparationis den unvergleichlichen Glanz der Person und A u f g a b e

68

Vgl. neben dem gehäuften Vorkommen von φανεροϋν κτλ. in 2,14; 3,3; 4,2.iof; 5,iof die Aussagen über Redlichkeit und Öffentlichkeit in 2,17; 3,12; 4,2; 7,4 und die Hinweise auf die „globale" Öffentlichkeit des Wirkens Pauli in 2,14 (έν παντϊ τόπω); 3,2 (επιστολή ... γινωσκομένη και άναγινωσκομένη ύπό π ά ν τ ω ν ά ν θ ρ ώ π ω ν ) ; 4/2 (συνιστάνοντες έαυτούς προς π ά σ α ν συνείδησιν άνθρώπων). Diese Sinnlinie wird oft vernachlässigt; vgl. Dautzenberg 1986; § 5.2.1.

69

Vgl. die Auflistung Bieringers 1994b, 423.

70

Vgl. J.N. Collins 1990,100-107

71

Von den Ausführungen her dürfte Apollos im Sinne des Paulus kein Apostel gewesen sein, denn die folgenden Metaphern beschreiben seine Arbeit nicht als die den Aposteln aufgetragene Primärmission. Vgl. auch Merklein i K o r Bd.i, 312; Wolff 1 Kor, 87; § 7.3.1 Anm.110 zu 1 Kor 3,5; § 7.3.7 zu 1 Kor 4,9.

zu

dieser Bedeutung und ig6f z.St.

136

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

des Paulus herauszustellen 72 . Der Glanz als Zeichen des Offenbarungsempfangs verbürgt die Göttlichkeit des Auftrags 73 . Übergeordnetes Ziel der Argumentation ist es, die Frage nach der Befähigung zur übertragenen Aufgabe (2,16) zu beantworten und damit das Selbstvertrauen des Autors (πεποίθησις τοιαύτη 3,4, τοιαύτη έλπίς 3,12; vgl. 4,1; 5 ' 1 1 t ) z u begründen. Die jeweilige διακονία wird daran bemessen, was sie vermittelt74, so dass von dem Wert des Gegenstandes (Tod oder Geist etc.) auf die Größe der δόξα der jeweiligen Aufgabe zu schließen ist. διακονία ist wiederum der Oberbegriff, unter dem die Aufgabe des Paulus und die des Mose subsumiert werden können. Die These, dass α π ό σ τ ο λ ο ς einen spezifischen A s p e k t der paulinischen A u f gabe beschreibt, w i r d bekräftigt dadurch, dass sie ein Problem der A u s l e g u n g v o n 2 Kor 2,iy lösen kann. Dort kritisiert Paulus mit traditioneller p a g a n e r Polemik, dass οι π ο λ λ ο ί das Wort Gottes „ v e r s c h e r b e l n " ; er spielt vermutlich darauf an, dass jene sich v o n den G e m e i n d e n bezahlen lassen 7 5 . Anschließend polemisiert er g e g e n die Praxis, mit E m p f e h l u n g s b r i e f e n anzureisen ( 3 , 1 - 3 ; vgl. § 5.1.4.1). Dieser Z u s a m m e n h a n g ist nicht evident, u n d v o r allem scheint w i d e r sprüchlich, dass Paulus in 1 K o r 9,4ft das Recht der Apostel auf Unterhalt, w i e gesehen, ausführlich bejaht hatte 76 . Unterscheiden w i r jedoch zweierlei Konzepte, so löst sich der Widerspruch: Einerseits gab es das spezielle Recht des

72

Vgl. zu dieser Auslegung von 2 Kor 3 Back 2002, 88 ff; zur Diskussion anderer Thesen 9off; ähnlich bereits Schröter 1993, 74ft. Backs Auslegung, dass der gesamte Text 2,14-4,6 sich um die Aufgabe des Paulus dreht und der Rekurs auf Mose und seine δόξα ebenfalls diesem Thema zugehört, vermag die scheinbar auseinander strebenden Argumentationslinien kohärent zu erklären.

73

Vgl. dazu die motivgeschichtliche Begründung von Back 2002, 24ft und 97ft. Back betont (a.a.O. i2iff), dass es in Bezug auf Paulus wie auf Mose nicht nur um den Glanz der Aufgabe, sondern auch der Person geht.

74

„Vermittlungsaufgabe" oder entsprechend zu übersetzen, erleichtert die Deutung der Genitiv-Verbindungen, etwa διακονία τοΰ θανάτου 3,7 und τοΰ πνεύματος 3,8 (vgl. dazu Dautzenberg 2001a, 38t u.ö; vgl. bereits Thrall 2 Kor Bd.i, 231 ad 3,6 in Aufnahme von J.N. Collins 1990: "an intermediary who is charged with a message from G o d " ) anstelle der durch die Grammatik nicht gut gedeckten Deutung als Genitiv der Wirkung (so Back 2002, 95.106 unter fragwürdigem Bezug auf BDR § 166).

75

Zum Hintergrund der Metapher vgl. Hafemann 1986, io6ff; Schröter 1993, 37ft; Kuschnerus 2002, 143ft, die darin übereinstimmen, dass es sich um eine metaphorische Polemik aus der Tradition der Sophismus-Kritik handelt. Ob damit eine inhaltliche Kritik verbunden ist, ist allerdings umstritten (so etwa Schröter ebd. gegen Hafemann a.a.O., bes. 124t).

76

Diesen Widerspruch diskutiert vor allem Hafemann 1986, 126ft; vgl. auch Schröter 1993, 45 t. Beide führen die scheinbar widersprüchliche Argumentation auf eine gegenüber 1 Kor veränderte kritische Front zurück; im Unterschied zu 1 Kor 9 sei in 2 Kor des Paulus „apostolische" Legitmation selbst angefochten. Eine andere Lösung ist z.B., in καπηλεύειν keine Anspielung auf finanzielle Interessen zu hören, sondern den Vorwurf der Verfälschung (ähnlich δολοΰν τόν λόγον 4,2), so etwa Wolff 2 Kor, 57t; Thrall 2 Kor Bd.i, 2i2ff.

Zur Bedeutung von διάκονος

137

„ A p o s t e l s C h r i s t i " , sich auf R e i s e n z u r M i s s i o n i e r u n g unterhalten z u lassen v o n denjenigen, d e n e n er als erster das E v a n g e l i u m gebracht hatte. D i e m e t a p h o r i s c h e n B e g r ü n d u n g e n des Unterhaltsrechts in i K o r 9,7.11.13 leiten dieses ab a u s der A r b e i t in der G e m e i n d e ( „ k ä m p f e n " , „ p f l a n z e n " , „ w e i d e n " etc.). D i d 11,6 kennt d a r ü b e r h i n a u s d a s Recht, v o n b e s t e h e n d e n G e m e i n d e n U n t e r s t ü t z u n g auf Reisestationen z u erhalten 7 7 . A n d e r e r s e i t s g a b es o f f e n b a r R e i s e n d e , die nicht d e n Status des „ A p o s t e l s " hatten u n d bereits b e s t e h e n d e G e m e i n d e n aufsuchten. U m dort A u f n a h m e u n d G a s t f r e u n d s c h a f t z u f i n d e n , ließen sie sich E m p f e h l u n g s b r i e f e ausstellen mit R e f e r e n z e n f ü r sich. D i e s e P r a x i s steht w o h l hinter d e n E m p f e h l u n g e n d e r δ ι ά κ ο ν ο ς P h o e b e in R o m 1 6 , i f u n d des E p a p h r a s in P h i l 2 , 2 5 - 2 9 7 8 . Ein M i s s i o n a r w i e P a u l u s , der a m liebsten „ d a predigt, w o d e r N a m e Christi noch nicht b e k a n n t i s t " ( R o m 15,20), konnte mit derartigen E m p f e h l u n g s b r i e f e n w e n i g anfangen 7 9 . W i r v e r s t e h e n 2 K o r 2,16 f ; 3 , 1 - 3 a m besten, w e n n w i r es nicht als P o l e m i k g e g e n „ A p o s t e l " lesen, s o n d e r n g e g e n christliche R e i s e n d e z w i s c h e n G e m e i n den, „ d i e M a s s e " (οί π ο λ λ ο ί 2,17), w e l c h e die G a s t f r e u n d s c h a f t der G e m e i n d e n in A n s p r u c h n e h m e n , u m dort z u p r e d i g e n . D a s s P a u l u s d a m i t auf b e s t i m m t e G e g n e r i n n e n zielt, ist nicht vorauszusetzen 8 0 . A u c h eine p a u s c h a l e

77

Während für Paulus die Bereisten idealerweise noch gar nicht missioniert sind, definiert Did 11,6 das Unterhaltsrecht der Apostel gegenüber bestehenden Gemeinden, die offensichtlich nicht zur Erstevangelisation und Gründung besucht werden. Denn die echten Apostel bleiben nur zwei Tage vor Ort.

78

In beiden Fällen wird προσ&έχεσθαί erbeten. Epaphras wird nicht als διάκονος empfohlen, und auch bei Phoebe wird diese Funktion zunächst auf ihre Wirkung in der Gemeinde Kenchreäs bezogen. Die Bezeichnung wird nicht spezifisch für Reisende verwendet. Dass Paulus seine reisenden Mitarbeiter Timotheus und Titus zwar empfahl, aber nicht der Gastfreundschaft (vgl. i K o r 4,17; i6,iof; Phil 2,19-23), liegt offenbar daran, dass sie ebenfalls die Unabhängigkeit des Paulus vorzogen; vgl. in Bezug auf die finanzielle Unabhängigkeit des Titus und der sonstigen Gesandten in Korinth 2 Kor 12,17t; vielleicht spielt auch Phil 2,21 darauf an. - Auch 3 Joh spiegelt die Fragen um gastliche Aufnahme reisender Christinnen (in dem Falle auch ξένοι, d.h. unbekannter) und ihrer Empfehlung (hier des Demetrius V.12). Zu dieser allgemeinen Gastfreundschaft vgl. Meeks 1993, 229f.

79

So zu Recht Theißen 1989 [1974/75], 212. Theißen stellt ebenfalls zwei Typen urchristlicher Wanderprediger gegenüber. Er unterscheidet die palästinisch geprägten Wanderprediger und die „Gemeindeorganisatoren" jedoch vor allem nach sozialen Faktoren, nicht nach Funktionen im Blick auf Mission und Gemeindeaufbau. Wenn er dieselbe Opposition wie in 2 K o r 1 0 - 1 3 auch in 2,17ft rekonstruiert (a.a.O., 2i4ff), verkennt er jedoch die Spezifik des Apostelbegriffs im Zusammenhang des Unterhaltsverzichts.

80

Zur umfangreichen Diskussion über die „Gegner" im 2 Kor vgl. Sumney 1990 und 1999; Bieringer 1994a. Eine Interpretation der paulmischen Position im 2 Kor von der hypothetischen Rekonstruktion von Gegnern her wird mit guten Gründen inzwischen prinzipiell kritisiert (vgl. Dautzenberg 1986, 158; Schröter 1993, 7f; Bieringer 1994a; Hafemann 1995, 259ft; Back 2002, 92t). Gleichwohl wird bei der Auslegung von 2,i6ff allgemein unterstellt, dass die in 2 Kor 2 - 7 implizit Bekämpften identisch sind mit den in 2 Kor 1 0 - 1 3 angesprochenen Konkurrentinnen, denen der ApostelStatus vordergründig zumindest zugestanden wird (so fast alle Ausleger, vgl. z.B. Georgi 1964, 219t [bei Annahme mehrerer Brieffragmente ]; Wolff 2 Kor, 57; Bieringer

i38

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

A b g r e n z u n g v o n anderen ohne konkrete Gegnerschaft kann Mittel zur Präsentation des eigenen Ethos sein 81 . Paulus stellt seine eigene Wirksamkeit u n d seinen Erfolg heraus, indem er auf seinen außergewöhnlichen Unterhaltsverzicht anspielt. V o r allem verweist er w i e in ι Kor g,if (vgl. auch 2 K o r 1 0 , 1 2 f f ) auf seine erfolgreiche Gemeindegründungstätigkeit, nämlich die Gem e i n d e in Korinth als seinen Empfehlungsbrief. A u f g r u n d dieser hat er keine menschlichen E m p f e h l u n g s b r i e f e nötig, die seine B e f ä h i g u n g bestätigen oder gastfreundliche A u f n a h m e erbitten. Doch P a u l u s übt indirekt, w i e die positive Selbstdarstellung 2,17b zeigt, auch inhaltliche Kritik. Wer das Wort Gottes „ v e r h ö k e r t " , w i r d k a u m den „ T o d e s g e r u c h " verströmen (2,16), denn mit diesem lässt sich schlecht Geld oder Unterkunft einspielen. Er steht also in der Gefahr, das Wort Gottes zu „ b i l l i g " , nur in seinem angenehmen Aspekt, unter die Leute z u bringen. Paulus beansprucht hingegen, „ a u s Lauterkeit, aus Gott, vor Gott, in C h r i s t u s " zu sprechen (2,17), u n d das heißt dann o f f e n b a r : den einen z w a r z u m Leben, den anderen aber z u m Tod (vgl. 2,16). Die Frage κ α ι π ρ ό ς τ α ϋ τ α τις ι κ α ν ό ς ; ( V . i 6 b ) f c w i r d in 3,5t mit der B e f ä h i g u n g durch Gott beantwortet. In 2,i6f w i r d bereits ein anderer A s p e k t der E i g n u n g aufgezeigt: Fähig zu dieser heil- und unheilbringenden V e r g e g e n w ä r t i g u n g Christi ist nur, w e r u n a b h ä n g i g ist w i e Paulus, nicht aber die Masse, die G e l d verdienen will mit d e m Wort Gottes u n d deshalb mit f r a g w ü r d i g e n E m p f e h l u n g s b r i e f e n v o n anderen reist.

In 2 Kor 5,18-20 bekommt die διακονία Prägnanz durch das Genitivattribut της καταΛΛαγης (5,i8fin) und die weitere Ausmalung. Der Ausdruck wird nicht nur als Λόγος της καταλΛαγης paraphrasiert (5,19), sondern in einer ungewöhnlichen Metapher pointiert, die den Autor als Überbringer des Versöhnungsangebotes im Sinne hellenistischer Friedensdiplomatie darstellt (vgl. §5.1.9.1). Als Stellvertreter Christi und direkt von Gott mit diesem Angebot Beauftragter bekommt

1994a; Schröter 1996, 680; Kuschnerus 2002, 148 und andere, vgl. dort Anm.210 und Bieringer 1994a, 185t; gegen eine Identifizierung wendet sich m.W. nur Thrall 2 Kor Bd.i, 2iif). Doch es ist ganz unwahrscheinlich, dass οί πολλοί auf dieselben Menschen referieren soll wie ύπερλίαν απόστολοι (11,5; i2,ii) oder ψευδαπόστολοι (11,13). Auch das indeterminierte πολλοί in 11,18 ist besser nicht auf die Gegner des Paulus zu beziehen (so Sumney 1990, 152 bzw. 1999, i04f), sondern auf die Allgemeinheit, die zur Selbstempfehlung neigt. Füllt man 2,14-3,3 nicht auf mit den Aussagen über Konkurrentinnen in Korinth aus Kap.10-13, so weist nichts darauf hin, dass οί πολλοί (2,17) bzw. τίνες (3,1) auf „Gegner" referiert, die gegen Paulus agitieren und apostolischen Status für sich reklamieren. 81 82

Vgl. zu diesem argumentativen Mittel, das sich gerade im Proömium einer Argumentation wie hier anbietet, Zeilinger 1997, 31.59.62. Es ist keineswegs angebracht, die Frage als „Resignationsfrage" in der Tradition der selbstzweifelnden Propheten (vgl. Joel 2,11) zu verstehen und Paulus mithin ein gebrochenes Selbstbewusstsein zu unterstellen (so erstmals Windisch 2 Kor, 100; dann etwa Georgi 1964, 223t; Barth 1980, 262t; Kuschnerus 2002, 138, weitere Literatur dort); mit Gräßer 2 Kor Bd.i, 113; Back 2002, 89 u.a.

Zur Bedeutung von διάκονος

139

er eine zentrale Rolle im Handeln Gottes®3. Auch hier bezeichnet διακονία also die Weitervermittlung einer Botschaft und ist mit „Dienst" nur unzureichend übersetzt. 4) Die Verwendung der Begrifflichkeit für die Vermittlungsaufgabe dient in den eben genannten drei zentralen Kontexten dazu, die Rückbindung an Gott als denjenigen, der die Aufgabe übertrug, zu betonen; vgl. 2 Kor 3,5; 5,18. Die sich an 1 Kor 3,5 anschließenden Metaphern verbildlichen die beschränkte Bedeutung, um die Position der διάκονοι in der Gemeinde zu relativieren. Sie ziehen auch die Linie weiter zur leistungsgerechten Entlohnung (3,8; 3,13ff) 84 , hier nun nicht von Seiten der Gemeinde, sondern von Seiten Gottes. Anders als der auf Christus zurückgeführte Apostolat ist der Vermittlungsdienst theologisch begründet 85 . Auf dieser Relation ruht auch die Funktion als Christus-Vertreter nach 2 Kor 5,2ο86. In diesem Zusammenhang ist schließlich bemerkenswert, dass die im Kontext der διακονία-Aussagen stehenden Anspielungen auf die Berufung des Paulus im 2 Kor (2,14; 3,5 f ; 4,6; 5,18) alle von Gott als Subjekt der umstürzenden Veränderung handeln. Dass es dennoch sinnvoll ist, die semantische Differenzierung zwischen απόστολος und διάκονος zu gewärtigen, lässt sich gerade an der Lektüre von 2 Kor 2 - 7 erkennen. Es schärft das Verständnis, wenn man berücksichtigt, dass der Autor seine Rolle als „unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang" 8 7 unter der Bezeichnung διάκονος κτλ. entwirft und nicht vom „Apostolat" spricht, wie gemeinhin paraphrasiert wird, διάκονος zeigt viel klarer als das christologisch assoziierte άπόστολος die theo-logische Basis und die Vermittlungsarbeit an und gibt so nicht zufällig den Oberbegriff ab für die durch verschiedene Argumentationsstränge und Metaphern vertiefte Mittlertätigkeit in 83

Vgl. im einzelnen Breytenbach 1989, bes. 132.fi; Schröter 1993, 291ft; Bash 1997, 8γ{(. Bash (a.a.O., 93) weist zurecht darauf hin, dass διακονία 5,18 der gegenüber πρεσβεύειν weitere Begriff ist, also selbst nicht die Botschafterfunktion bezeichnet.

84

Vgl. zur Auslegung § 7.3.3.

85

Die im engeren Sinne theologische Basis ist auch impliziert in der Parallelisierung mit Mose in 2 Kor 3 und in einer Formulierung wie διακονία δικαιοσύνης.

86

Die Christus-Relation der Bezeichnung διάκονος Χρίστου in 2 Kor 11,23 wird durch das Zitat der Selbstbezeichnung anderer motiviert sein. Die im engeren Sinne theologische Relation von διάκονος ist auch in der Paulus-Schule nicht gewahrt, vgl. in Bezug auf Paulus Eph 3,7 und Kol 1,23 (in Relation zum Evangelium); 1,25 (in Relation zur Kirche).

87

So der Untertitel von Schröter 1993, der die These, Paulus handele hier von seiner Aufgabe (bei Schröter allerdings undifferenziert „Apostolat") in soteriologischer Funktion, besonders stark gemacht hat; vgl. zur These auch Schröter 1996.

140

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

Verlängerung des Christus-Geschehens (vgl. §5.2.1). Hat διάκονος eine weitere Intension als απόστολος, so mag sich damit auch die Verwendung der 1. Pers. PI. erklären, insofern der Text hier durchlässig formuliert auf andere διάκονοι hin, die nicht notwendig άπόστολοι sind. Einzigartige Bedeutung gewinnt die so präsentierte Rolle des Paulus erst durch die Antithetik zu Mose und die Metaphern, welche ihn persönlich als soteriologisch unersetzbar pointieren 88 . 5) Viel deutlicher als in Bezug auf άπόστολος (vgl. oben 1. zu i K o r 4,9) ist der Zusammenhang zwischen διακονία und Leiden; vgl. neben 2 Kor 6,3ff und 11,23ff auch 4,8ff im Kontext von 4,1 und Kol i,24f. Die Peristasenkataloge in 2 Kor 6 und 11 werden so motiviert, dass das Ertragen der widrigen Lebensumstände, aber auch die Tugenden etc. (6,6ff) den διάκονος θεοϋ (6,4) bzw. Χρίστου (11,23) a ls s °l~ chen zeigen (ebd.) bzw. empfehlen (συνιστάντες 6,4). Die übernommene Aufgabe wird erfüllt, trotz der Schwierigkeiten, um sie nicht dem Spott auszusetzen (6,3). Die Beziehung zwischen Leiden und Aufgabe sollte nicht umkehrbar verstanden werden, als sei die διακονία nur deshalb eine solche, weil sie mit Leiden vollbracht werde 89 . Im Hintergrund steht auch nicht, dass διακονεΐν niedrige Arbeit konnotiere. Es geht vielmehr um den Vergleich mit anderen und mithin wiederum um die Frage der Referenzen (vgl. oben 1 ) : Die Tatsache, dass jemand seine Aufgaben auch unter Ertragen widriger Umstände durchführt, empfiehlt ihn als διάκονος bzw. bürgt für seinen Auftrag 9 0 .

2.2

άπόστολος oder διάκονος - ein Vergleich

Auch mit διάκονος κτλ. greift Paulus also einen in christlichen Kontexten gebräuchlichen, aber noch nicht eindeutig technisch definierten

88

Vgl. insbesondere Bilder für die Heilsvermittlung in 2,14-16; 5,18-20, auch 4,10-12; vgl. §5.1 zu den Texten.

89

Vgl. so Bieringer 1994b, 427: "The hardships explain what makes Paul's διακονία to be διακονία ... In 2 Cor διακονία must be understood on the basis of suffering which has a Christological meaning." Vgl. auch de Oliveira ad 6,4 unter Vermengung der Bezeichnungen: „Die Leiden gehören deshalb (wegen ihres Bezugs zum Kreuzesgeschehen, C.G.) zum Wesen der christlichen Diakonia, sind Zeichen des echten Apostels" (1990, 408, im Orig. z.T kursiv). Vgl. treffend hingegen J.N. Collins 1990, 199ff: "Paul is certainly not cavalier about his own exploits, but ... he can use them to show how busy a god's emissary and spokesman must be" (202).

90

Vgl. auch Epiktet, Diss 3,24,64^ wo von Diogenes als τοΰ Δώς διάκονος gesprochen wird, der Mühen erträgt; Fitzgerald 1988,190f.

Zur Bedeutung von διάκονος

i4i

Begriff ohne jüdische Vorgeschichte auf, um seine Rolle zwischen Gott und Christus einerseits, den Menschen andererseits zu beschreiben. Referieren die Verwendungen von απόστολος und διάκονος mehrfach auf denselben Menschen, so haben sie doch prinzipiell unterschiedliche Extensionen91. Vor allem heben sie unterschiedliche Aspekte und Funktionen hervor. Die Bezeichnung διάκονος weist auf eine bis zu vierstellige Relation zwischen Auftraggeber, -nehmer, Aufgabe und dem von der Aufgabe Begünstigten, konkret also etwa die Übermittlung einer Botschaft. Impliziert, z.T. auch expliziert ist, dass die Initiative für das Handeln des διάκονος Paulus bei Gott liegt, er also nicht im eigenen Interesse agiert. Απόστολος lenkt den Blick auf die Initiation des Geschehens und so auf die Legitimität des Gesandten aufgrund einer besonderen Christuserfahrung. Es bezeichnet einen Status und für Paulus seine besondere Sendung zu den Heidinnen sowie die „Pionierarbeit", διάκονος spricht die Vermittlungs- und Verkündigungsaufgabe auch jenseits der ersten Evangelisierung an, ihre Durchführung und die Frage der Befähigung. Als διάκονος -positioniert sich Paulus in direkter Relation zu Gott. Ausgehend von dieser Relation kann er seinen spezifischen Auftrag als Verlängerung des Christusgeschehens darstellen, ohne dass eine „vollmächtige Repräsentanz" mit der Position des διάκονος als solchen impliziert wäre 92 . Als Christusvergegenwärtigung deutet Paulus nur seinen Diakonat. διάκονος hat eine geringere Intension als άπόστολος und eignet sich auch als Oberbegriff zum Vergleich, etwa mit Mose. Ein διάκονος kann ortsfest sein; darum steht hier die Frage des Unterhaltsverzichts nicht im Vordergrund. Die Bedeutung bezieht der διάκονος vielmehr aus dem je spezifizierten Inhalt seines Auftrags und dessen Rückführung auf Gott. Während Paulus seine Berufung zum Völkermissionar mit dem Begriff άποστολή verbindet, fehlt eine Adressatinnenspezifizierung

91

Nicht jeder απόστολος ist ein διάκονος, und nicht jeder διάκονος ist ein άπόστολος. Die weitere Begriffsgeschichte differenziert ja auch. So nennen Kol 1,7; 4,7; Eph 6,21 Epaphras bzw. Tychikus διάκονος.

92

Die Stellvertretungsposition, die Paulus in 2 Kor 5,18-20 entwirft, bezieht sich auf Christus, die Aufgabe aber wird von Gott hergeleitet, vgl. §5.1.9.1. Zwischen Auftraggeber und Vertretenem besteht also eine Differenz, welche durch die gängige Rede von „Repräsentanz" verwischt wird. Genau diese Differenz zeigt auch Gal 4,14 (von K. Berger 1995, 476 angeführt als Beleg für die „stellvertretende Affiziertheit", die für den Apostelbegriff typisch sei): Paulus wurde aufgenommen ώς ά γ γ ε λ ο ς θεοϋ, ώς Χριστός Ίησοϋς. Die „Repräsentanz", will man sie denn hier herauslesen, bezieht sich also auf Jesus Christus, die Beauftragung als „Bote" kommt von Gott.

142

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

beim Gebrauch von διακονία κτλ.: Hier lässt sich jeweils auch an die Verkündigung des Evangeliums unter Jüdinnen und Juden denken. 93 Dass diese Wortfamilie gerade in der korinthischen Korrespondenz so prominent ist, könnte also daran liegen, dass es sich u m eine aus Heidinnen, Jüdinnen und Juden gemischte Gemeinde handelt und die Legitimität der Heidinnenmission hier nicht in Frage steht.94 Der Begriff mag aber auch deshalb geeigneter sein, weil diese Korrespondenz auf das im engeren Sinne „apostolische" Wirken, die erste Evangeliumsverkündigung vor Ort, bereits zurückblickt. Vor allem entspricht der Semantik des Stichworts διάκονος κτλ. der theo-logisch pointierte Entwurf des paulinischen Auftrags in 2 Kor 2 - 7 : Nichtjüdischen wie jüdischen Menschen wird er zum Mittler des Heilshandelns Gottes in subordinierter Parallelität zum Leben und Sterben Jesu. Damit ist schließlich wie für απόστολος festzuhalten, dass die paulinische Verwendung von διάκονος nicht erkennbar eine konkrete Funktion in einer Ortsgemeinde beschreibt. Die Rolle des Paulus bleibt definitionsbedürftig, und dies leisten andere Metaphern.

3 δοϋλος Χριστοϋ. Die Metapher vom Sklaven Christi Z u den signifikanten Selbstbezeichnungen gehört schließlich auch δοϋλος Χριστοϋ 9 5 . Die Bezeichnung ist metaphorisch (vgl. §5.1.1 zum Bildfeld), entwickelt sich jedoch zu einem feststehenden Begriff. Uns geht es hier nur u m den Nachweis, dass auch diese Selbstbezeichnung 93

Eine entsprechende Differenzierung scheint jedenfalls in Rom 11,13 durch: Paulus ist Gesandter der Heiden, hofft jedoch mit der διακονία, indirekt Jüdinnen und Juden zu erreichen.

94

Zur Zusammensetzung der Gemeinde in Korinth vgl. Schräge i K o r Bd.i, 3if. Namentlich in 2 Kor 3 geht es nicht um die Sendung zu den Heidinnen, sondern die Mission unter Jüdinnen und Juden, deren mangelnder Erfolg in 3,i2ff reflektiert und rationalisiert wird (mit Back 2002, H4ff).

95

Zur Fragestellung vgl. besonders Saß 1941; D.B. Martin 1990 (über den sozialgeschichtlichen Hintergrund mit speziellem Interesse an 1 Kor 9); Combes 1998 (über die Entwicklung der Metaphorik bis in die frühe Kirche); Byron 2003 (über die paulinische Metaphorik als Aufnahme der atl. und frühjüdischen). In der Forschung wird diskutiert, ob die Metaphorik eher von der sozialen Institution der Sklaverei (Lyall 1984; Martin; M. Brown 2001) oder von dem biblisch-jüdischen Bildfeld her (Combes; Byron) zu verstehen ist. - Der Selbstbezeichnung gilt sonst nicht besonders viel Aufmerksamkeit; vgl. etwa Wilckens, der in seine Ausführungen über die Intitulatur in Rom 1,1 Textstellen zu διάκονος einmengt und deshalb erwägt, dass hier eine „gemeinchristliche Bezeichnung für Missionare" aufgenommen sei (Rom Bd.i, 6if, Zitat 62).

Zur Bedeutung von δοϋλος Χρίστου

143

in den paulinischen Briefen gezielt gebraucht wird. Dazu reicht eine knappe Analyse der Semantik und der Pragmatik der paulinischen Verwendungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet δοΰλος/ δούλη, das Verb δουλεύειν sowie δουλεία einen Sklaven bzw. eine Sklavin, deren Position und Tun96. Auch die Verwendungen im NT heben oft auf die Opposition zum freien Menschen ab97. Aufgrund dieser klaren Bedeutung eignet sich die Wortfamilie als Bildspender zur metaphorischen Bezeichnung von Abhängigkeitsverhältnissen 98 . Die paulinische Metapher vom „Diener" oder „Sklaven Christi" 99 gehört jedoch in ein biblisch geprägtes Bildfeld, das die Relation zwischen Mensch und Gott resp. Christus durch die Relation eines Sklaven, einer Sklavin zum Herren oder zur Herrin abbildet100. Diese Metaphorik ist im Neuen Testament zahlreich belegt, sowohl durch Nomina als auch durch Verben1™, aber auch narrativ entfaltet in den „Knechtsgleichnissen" 102 . Im nicht-jüdischen Sprachraum begegnet dieses Bildfeld selten103, so dass die Metapher als Wetterführung eines biblischen Sprach96

Z u m S p r a c h g e b r a u c h vgl. e t w a L S J s.v.; K a r l H . R e n g s t o r f , Art. δ ο ϋ λ ο ς κτλ., in: T h W N T 2 (1935) 2 6 4 - 2 8 3 : 264. Im Übersetzungsgriechisch der L X X f ü r iny k a n n die spezifische B e d e u t u n g der Unfreiheit zurücktreten (Rengstorf a.a.O., 268).

97

V g l . diese Opposition in i K o r 7 , 2 1 - 2 3 ; 9,19; 1 2 , 1 3 ; G a l 3,28; R o m 8,21; G a l 5,1. A u f derselben Linie liegen auch die G e g e n ü b e r s t e l l u n g e n v o n S k l a v e u n d S o h n ( G a l 4,1.7; R o m 8,15) b z w . B r u d e r ( P h l m 16), insofern S o h n u n d B r u d e r Freie sind.

98

V g l . e t w a die M e t a p h o r i k in G a l } ( ; R o m 6,6; J o h 8,34.

99

Welches deutsche W o r t die Konnotationen p a s s e n d überträgt, ist nicht generell z u entscheiden. Ist „ S k l a v e " z w a r despektierlicher als die hoheitsvolle B e z e i c h n u n g (so H a a c k e r , R o m 2 o f ) , drückt es doch das Besitzverhältnis aus, d a s gelegentlich visualisiert w e r d e n soll.

100

Ich f o l g e hier also der A n n a h m e , dass die M e t a p h e r ihre B e d e u t u n g v o r allem aus d i e s e m B i l d f e l d s c h ö p f t (vgl. C o m b e s 1998 u n d B y r o n 2003, 2 2 - 1 4 2 zur M e t a p h o r i k in A T u n d F r ü h j u d e n t u m ) . D o c h ist d a m i t nicht ausgeschlossen, d a s s sie rezipiert w e r d e n im G e d a n k e n a n die soziale Institution d e r Sklaverei u n d ihre Implikationen. Diesen Z u s a m m e n h a n g stellt ja z.B. die S k l a v e r e i - M e t a p h o r i k in G a l 4 her.

101

V g l . A p g 20,19; R ö m 1 2 , 1 1 ; 14,18; G a l 4,8t (mit οι φ ύ σ ε ι μ ή ο ν τ ε ς θ ε ο ί als Objekt); E p h 6,7; K o l 3,24; i T h e s s 1,9; vgl. auch Phil 2,22 (mit ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν als Objekt).

102

V g l . M t 1 8 , 2 3 - 3 5 ; 2 4 ' 4 5 _ 5 ! Ρ 3 Γ ; 25M~3°Par:

103

Die V e r w e n d u n g ist allerdings nicht ausgeschlossen, w i e gelegentlich behauptet w i r d ( v g l . e t w a A l f o n s Weiser, Art. δ ο υ λ ε ύ ω κτλ., in: E W N T 1 [ ^ 9 9 2 ] 8 4 4 - 8 5 2 : 846). V g l . D.B. Martin 1990, x i v - x v i z u V o r k o m m e n , v o r allem in orientalischen Religionen, u n d Konnotation ( " t h e r e w a s something eastern about calling p e o p l e slaves of the g o d " , a.a.O., 5 6 ; vgl. schon Rengstorf T h W N T 2, 2 6 7 ) ; C o m b e s 1998, 4 2 f f . D a s s die B e z e i c h n u n g in d e n Ohren besserer Schichten in der griechich-römischen Welt schlecht klang, belegt w o h l auch die V e r m e i d u n g der M e t a p h e r in d e r Bibelparap h r a s e des l o s e p h u s (es begegnet n u r einmal im M u n d e J o s u a s A n t 5,39 u n d in A n t 11,90.101, aber hier im Sinne v o n K u l t d i e n s t ; mit Rengstorf a.a.O., 2 7 1 A n m . 4 8 ) .

Lk 17,7-10.

144

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

gebrauchs zu hören ist 104 . Sklavendienst ist exklusiv auf einen Herren gerichtet, und so trägt die verbale Metapher (δουλεύειν) oft die positive Konnotation rechter Monolatrie 105 . Der δοΰλος Gottes begegnet in der Septuaginta in Bezug auf das Volk Israel 106 und den einzelnen Beter 107 . Prägend für den uns interessierenden Sprachgebrauch dürfte vor allem die Verwendung für einzelne Menschen mit besonderer Gottesbeziehung sein, für Abraham 108 , Mose 109 , David 1 1 0 , und insbesondere Propheten 111 . Diese geben als „Knechte Gottes" das Wort Gottes weiter. Auch die Verwendung für andere als Propheten verknüpft die Bezeichnung als δοϋλος θεοϋ oft mit einer Aussage über Sendung oder Beauftragung 1 1 2 . Es ist also nicht nur eine exklusive Gottesbeziehung in der Bezeichnung impliziert" 3 , sondern oft eine spezifische Inanspruchnahme seitens Gottes und für Gott. Gut atl. noch nennt sich im NT Maria mit den Worten Hannas δούλη Gottes, als sie ihre Aufgabe annimmt 114 ; atl. Sprache entspricht auch Simeons Selbstbezeichnung im Gebet (Lk 2,29). In Texten, die das Christusgeschehen voraussetzen, referiert die Bezeichnung δοϋλος Gottes bzw. Christi einerseits auf christliche Funktionsträger 115 , andererseits, aber selten, auf Christinnen allgemein 116 . Begegnet letztgenannter Sprachgebrauch vor allem in Offb, so kon104 So auch Saß 1941; Weiser EWNT 1, 846 u.a.; zur Forschungsgeschichte vgl. D.B. Martin 1990, xvi. - Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verwendung der Bezeichnung δούλος für Höflinge in orientalischen Monarchien, die etwa in 1 Βας 19,4 u.ö. rezipiert ist, diesen Sprachgebrauch ermöglichte (so Rengstorf ThWNT 2, 269t). 105 Mit Combes 1998, 43ft; vgl. z.B. Ex 23,33; Dtn 28,64; iSam 12,10. Diese und die folgenden Stellenangaben beziehen sich auf die LXX. 106 Vgl. Dtn 32,36; Jer 26,27; Jes 49,3. 107 Vgl. ψ 115,7; 118,76.84; SapSal 9,5; 2 Makk 8,29; Parjer 1,4; 3,9 u.ö. Dieses Element der Gebetssprache begegnet (mit "Π!ί) auch in den Qumrantexten (vgl. 1QH 5,15.28; 7,16; 9,11 u.ö.); vgl. auch Joachim Jeremias, Art. παις θεοϋ, in: ThWNT 5 (1954) 653-713: 658.678 mit Anm.164. 108 ψ 104,42; in einer Reihe mit den anderen Patriarchen 2 Makk 1,2. 109 Vgl. LXX Α Jos 14,7; ψ 104,26; Josephus, Ant 5,39. 110 2 Sam 7,5; lKön 11,13; ψ 77/7°; 88,4.21; iMakk 4,30; vgl. auch in Bezug auf Salomo Sap 9,5, hier aber mit der Konnotation der Niedrigkeit. 111 Die Propheten werden dann (in der LXX) als οί 6οϋλοί μου (θεοϋ) οί προφηται bezeichnet, erstmals in Am 3,7; dann Jer 7,25; 25,4; Sach 1,6, auch in 2Kön 17,13.23; 21,10; 24,2. Einzelne Propheten werden δούλος Gottes genannt in lKön 18,36; 2Kön 9,36; 10,10 (Elia) und 1 Kön 15,29 (Achia von Silo). In den letztgenannten Fällen geht es darum, dass Gott έν χειρί des δοϋλος spricht. Vgl. weiter 1QS 1,3. 112 ψ 104,26; 2 Sam 7,5; Jos 14,7; 1 Makk 4,30. 113 Mehrfach steht es in enger Verbindung bzw. parallel zur Erwählung; vgl. Jes 65,9 ; ψ 77,70; 88,4.21. 114 Lk 1,48 in Aufnahme von iSam 1,11, wobei allerdings Niedrigkeit konnotiert ist; Lk 1,38. 115 Vgl. Apg 4,29; 16,17; Kol 4,12; 2 Tim 2,24 auch σύνδουλος Kol 1,7; 4,7. Vgl. auch die unten aufgelisteten Intitulaturen in den Briefanfängen. 116 Eph 6,6; iPetr 2,16, jeweils noch deutlich metaphorisch; lKlem 60,2 (im Gebet); 2 Klem 20,1; Herrn Vis 1,2; 4,1; Mand 3; vgl. die nächste Anm.

Zur Bedeutung von δούλος Χρίστου

145

notiert er doch eine besondere, auserwählte Schar" 7 . Die Offb kennt auch den atl. Sprachgebrauch, Propheten als δοϋλοι θεοϋ zu bezeichnen, wobei diese nicht notwendig die Propheten des AT sind" 8 .

Auch wenn die Heranziehung des Bildspenders „Sklave-Sein" oft eine negative Wertung dieses Standes voraussetzt, ist im Bildfeld „Sklave Gottes resp. Christi" diese Rolle sowohl im Alten wie im Neuen Testament positiv konnotiert. Auch im sozialen Kontext der paulinischen Welt wurde der Status eines Sklaven, einer Sklavin nicht undifferenziert negativ gesehen" 9 . Für Menschen niederen Standes klang auch ohne die Assoziation an den biblischen Gebrauch die Metapher „Sklave Gottes/Christi" nicht unbedingt absurd. Eine positive Wertung der Metapher ergibt sich aber auch aus der Mitarbeit des Bildempfängers an der Bedeutung der Metapher, auf welche die Metapherntheorie hinwies 120 . Biblisch gelesen, bezeichnet die Metapher jedoch nicht nur eine noble Zugehörigkeit, exklusive Gottesbeziehung und daraus abgeleitet Autorität, sondern auch die spezifische Indienstnahme durch Gott 121 . Bescheidenheit ist also nicht zwingend konnotiert mit dieser Selbstbezeichnung 122 . Paulus greift die Metaphorik verschiedentlich auf, doch als Χρίστου δοΰλος (Gal 1,10) bzw. δοϋλος Χρίστου Ίησοΰ (Rom 1,1; Phil

117 ιι8

Offb ι , ι ; 7,3; 19,5; 22,3 und σύνδουλοι 6,ιι. Offb 10,7; 11,18; 15,3; 22,6; vgl. auch σύνδουλος 19,10; 22,9; zur Referenz sowohl auf Propheten der atl. Zeit als auch der christlichen vgl. Beale Offb, 546. Auch Apg 2,18 assoziiert δοϋλοι μου und δοϋλαί μου (sc. Gottes) und Prophetinnen durch die Ergänzung (der uns bekannten Rezensionen) des LXX-Zitats aus Joel 3,2 mit dem Possessivum μου und προφητεύσουσιν. Auf die atl. Propheten sind auch die δοϋλοι im Winzergleichnis Mk i2,i-9parr bezogen (mit Weiser E W N T 1 , 849).

119

Darauf hebt die sozialgeschichtliche Untersuchung D.B. Martins ab (1990, i f f ; vgl. aber die Kritik von Byron 2003, 8 - 1 2 ) : Die Lebenssituation von Sklavinnen war sehr unterschiedlich, je nach Arbeitsauftrag und Besitzerin. Obschon versklavt, bedeutete es einen Prestige- und Machtgewinn, im Dienst eines hochstehenden Besitzers zu sein. Die in der Sekundärliteratur kolportierte völlige Verachtung des Sklavenstatus (vgl. etwa Rengstorf ThWNT 2, 264^274) entspricht nur der Oberschichtperspektive, die sich literarisch durchgesetzt hat. Eine positivere Selbstsicht der Sklavinnen lässt sich demgegenüber aus epigraphischem Material erheben, vgl. Martin a.a.O., 42ff.

120 Dies übersieht etwa Combes, die nachdrücklich darauf hinweist, dass die Bezeichnung anstößig sei angesichts der sozialen Realität der Sklaverei im frühen Christentum (1998, 69^77 u.ö.). 121

Diese spezifische Bedeutung der atl. Metapher, die Saß 1941, 25ff bereits betonte, übersieht D.B. Martin, der auf eine allgemeine Verständlichkeit der Metapher abhebt.

122 So aber z.B. Schnider/Stenger 1987,10 (zu Rom 1,1).

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

146

1,1) bezeichnet er n u r sich selbst u n d Timotheus123. D a s s er z u d e m d a s S y n t a g m a in Intitulaturen v e r w e n d e t , w e l c h e g a t t u n g s m ä ß i g die spezifische Bedeutung

der Briefverfasser einschreiben,

zeigt, dass

damit

nicht eine allgemeine B e z e i c h n u n g v o n M e n s c h e n als S k l a v i n n e n Gott e s r e z i p i e r t ist, s o n d e r n d e r G e b r a u c h f ü r e i n z e l n e

Persönlichkeiten

mit besonderer Gottesbeziehung u n d besonderem Auftrag124. Die V e r w e n d u n g in der brieflichen Intitulatur griff nicht erkennbar a u f e i n e T r a d i t i o n z u r ü c k , p r ä g t e j e d o c h e i n e 1 2 5 . S i g n i f i k a n t ist,

dass

P a u l u s i m U n t e r s c h i e d z u m atl. S p r a c h g e b r a u c h u n d z u r v o r h e r r s c h e n d e n ntl. R e z e p t i o n 1 2 6 n i c h t d a s Gottes-, s o n d e r n d a s C h r i s t u s v e r h ä l t n i s so darstellt. D a m i t g e w i n n t die B e z e i c h n u n g eine spezifische N o t e u n d nähert sich der B e d e u t u n g v o n α π ό σ τ ο λ ο ς an127. Gal 1,10 lässt m e h r v o n der Semantik der M e t a p h e r u n d ihrer P r a g m a t i k in d i e s e m Brief e r k e n n e n als die brieflichen Intitulaturen. D a s s P a u l u s Χ ρ ί σ τ ο υ δ ο ϋ λ ο ς ist, ist als unstrittig unterstellt, d e n n es soll a r g u m e n t a t i v die Tatsache belegen, d a s s P a u l u s sich nicht an M e n s c h e n orientiert: ή ζ η τ ώ ά ν θ ρ ώ π ο ι ς ά ρ έ σ κ ε ι ν ; εί ε τ ι ά ν θ ρ ώ π ο ι ς ή ρ ε σ κ ο ν , Χ ρ ί σ τ ο υ δ ο ϋ λ ο ς ο ύ κ α ν ή μ η ν . V o r a u s gesetzt ist also die O p p o s i t i o n v o n M e n s c h e n - G e f a l l e n u n d Sklave-Christi-Sein. Sie erinnert an die Selbstvorstellung als A p o s t e l Christi in d e r O p p o s i t i o n v o n M e n s c h u n d Gott (1,1). Impliziert ist, d a s s m a n d e m j e n i g e n gefällt o d e r d o c h

123 Provokant ist deshalb die Aussage ού γ α ρ εαυτούς κηρύσσομεν άλλα Ίησοϋν Χριστόν κύριον, εαυτούς δέ δούλους ύ μ ώ ν διά Ίησοϋν 2 Kor 4,5' m i t der Paulus seine Selbstaufopferung gegenüber der Gemeinde bezeichnet. Vgl. unten § 5.1.12.1. 124 Anders Combes 1998, 77ft, welche den paulinischen Sprachgebrauch aus einem kreuzestheologisch gefüllten Verständnis aller Glaubenden als Sklaven Gottes bei Paulus herleiten will. Sie hält die atl. Basis der Metaphorik für zu schwach, weil der exakte Ausdruck δούλος θεού selten fällt, unterscheidet aber ihrerseits nicht zwischen der formgeschichtlich und argumentativ exklusiv gesetzten Selbstbezeichnung des Paulus einerseits, andererseits Aussagen wie Rom 14,18, die davon sprechen, Christus zu dienen (δουλεύειν). Auch Byron 2003 ebnet die paulinische Selbstbezeichnung in den unspezifischen Gebrauch ein; er verbindet mit ihr nur die allgemeine Beschreibung des erforderten Gehorsams. Eine spezielle Bedeutung impliziert nicht nur die Intitulation, sondern auch die von Combes und Byron nicht reflektierte Mitarbeit des Bildempfängers an der Bedeutung einer Metapher. Byron argumentiert zudem mit einer nicht plausiblen Deutung des Phil, vgl. unten. 125 Vgl. Tit 1,1; Jak 1,1; 2Petr 1,1; Jud 1,1; Offb 1,1. Zur prägenden Kraft der paulinischen Intitulaturen vgl. Schnider/ Stenger 1987, 13 t. Einzig in Parjer 6,17 (6,19) nennt sich Baruch in der Intitulatur eines Briefes an Jeremia ό δοϋλος τού θεού. Dies entspricht der atl. Bezeichnung für Propheten. - Für die spätere Verwendung in der alten Kirche, etwa als Titel für Kleriker, vgl. Combes 1998, 95 ff. 126 Christologisch rezipiert ist die Metapher in Eph 6,6; Kol 4,12; Offb 2,20 und in den brieflichen Intitulaturen in 2Petr 1,1; Jak 1,1; Jud 1,1. Letztere reflektieren die Nähe der impliziten Autoren zum irdischen Jesus. 127 Er ist aber weder pragmatisch noch semantisch synonym mit diesem Titel (gegen Schnider/Stenger 1987,10, die semantische Synonymie behaupten).

Zur Bedeutung von δούλος Χρίστου

147

zu gefallen sucht, dem man dient/ 28 und dass sich Menschen- und ChristusDienst ausschließen. Die Christus-Relation ist exklusiv 129 . Die Metapher wird, die brieflichen Ausführungen inkludierend, wieder aufgenommen in dem Hinweis auf die στίγματα Ίησοϋ, die Paulus trägt (6,17 )13°, und bezeichnet so, analog zur Selbstvorstellung als απόστολος ... δια Ίησοϋ Χρίστου καϊ τοϋ θεοϋ πατρός κτλ. (ι,ι) die besondere Christus-Relation und den Auftrag des Paulus 131 . Eine Sinnlinie des Briefes gibt dieser Alternative Gott/Christus versus Menschen und damit der Bezeichnung Χρίστου δοϋλος polemische Schärfe. Das ετι in 1,10 impliziert, dass es einst anders war, dass Paulus einst Menschen gefiel oder zu gefallen suchte. Damit kann nur die in 1,13 f erzählte vorchristliche Zeit des Apostels gemeint sein132. So ergibt sich eine spezifischere Opposition zum jetzigen Sklave-Christi-Sein: Die damalige hervorragende Praxis des 'Ιουδαϊσμός (1,14), gar das Verfolgen der Kirche Gottes wird indirekt abgewertet als „Menschen wohlgefällig Sein". In analoger Alternative wirft Paulus auch denjenigen eine feige Orientierung an Menschenmaßstäben vor, die in Galatien die Beschneidung propagieren: Sie wollen „im Fleisch gut ausschauen", um nicht verfolgt zu werden (6,12). Die Selbstbezeichung des Paulus als Χρίστου δοϋλος beschreibt also seine exzeptionelle Beauftragung durch Christus und diffamiert zugleich implizit eine Beschneidungsforderung als allein menschenorientiert. Paulus hingegen erträgt Anfeindungen seitens anderer Menschen wegen Nicht-Beschneidung der Konvertiten (5,11). Das spricht,

128 „Jemandem dienen" und diesem „gefallen" sind auch in i K o r 7,32; Rom 14,18; Tit 2,9 verknüpft. 129 Mit Dunn Gal, 50. Eine Ausschließlichkeit des άρέσκειν setzen auch Rom 8,8; 1 Thess 2,4; 1 Kor 7,32-34 voraus; dieselbe Opposition begegnet insbesondere in Eph 6,6. 130 Vgl. D.B. Martin 1990, 59t; Vouga Gal, 158t. Zur „Brandmarkung" von Sklavinnen vgl. O. Betz, Art. στίγμα, in: ThWNT 7 (1946) 657-667: 658f.662f. Was Paulus so interpretiert, kann dahingestellt bleiben. - Diese Inklusion steht quer zu der Sirmlinie des Briefes, die die Bedeutung des Christusgeschehens als Befreiung von Knechtschaft darstellt (vgl. bes. 4,6^31; 5,1.13) und damit jene „Oberschichtverachtung" der Sklaverei voraussetzt (vgl. zu dieser gegenläufigen Verwendung auch D.B. Martin 1990, 50.59). Obschon die Befreiung keine schlechthinnige Freiheit impliziert (vgl. 5,13), ist deutlich, dass die Rolle des Paulus eine besondere ist und δοϋλος Χρίστου hier nicht den Christenstand an sich bezeichnet (so die Tendenz von Dunn Gal, 5of). 131

Dementsprechend wird die biographische Wende nicht unter dem Aspekt der Christ-Werdung, sondern der spezifischen Berufung zur Heidenmission behandelt (i,i5f). Anders Byron, der, obschon er die polemische Note bemerkt, die Selbstbeschreibung als rein paradigmatische liest: "Paul is the exemplary 'slave of Christ' whom the Galatians are to emulate and obey" (2003, 201), weil er die Bezeichnung in die sonstige Sklaverei-Metaphorik des Briefes einebnet. Vgl. dagegen die vorausgehende Anm. - Nach Wilk 1998, 295f ist bereits diese Selbstbezeichnung im Kraftfeld des Intertextes Jes 49,iff vom Gottesknecht zu lesen, wie dann in 1,15 deutlich werde (vgl. oben Anm.34); so bleibt aber die christologische Zuschreibung und die polemische Ausdeutung der Rolle des δοϋλος Χρίστου unbeachtet.

132 Mit Mußner Gal, 64 u.a. Zur genaueren Diskussion der Bedeutungsmöglichkeiten des ετι vgl. Vouga Gal, 26.

148

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

so mag man folgern, nicht nur nicht gegen, sondern geradezu für die Christusgemäßheit der Botschaft vom beschneidungsfreien Evangelium. Der Römerbrief beginnt in Rom 1,1 mit einer ausführlichen Selbstvorstellung, die auf die Abfassungsituation reagiert: Es gilt, das paulinische Evangelisieren zu verdeutlichen, die Legitimität der heidenchristlichen Mission und ihre Schriftgemäßheit nachzuweisen 133 . Παϋλος δοϋλος Χρίστου Ίησοϋ sind die ersten Worte des Briefes, noch vor dem Hinweis auf die Berufung zum Apostel und Aussonderung zur Evangelisierung. Die Reihenfolge der Intitulaturen erklärt sich daraus, dass Paulus hier an eine Gemeinde schreibt, die er nicht selbst gegründet hat, für die er also nicht „Apostel" im oben spezifizierten Sinne ist. Er beginnt nicht mit einer Bezeichnung, die Autorität unter den Christinnen ausdrückt, sondern einer Würdebezeichnung, die seine Christusbeziehung herausstellt134. Die biblische Tradition erinnert an die atl. Propheten, die in 1,2 als Vorauskünder des Evangeliums angeführt werden 135 . In Realisierung von deren Ankündigung richtet Paulus das ihm aufgetragene Evangelium aus, und zwar gemäß Begnadung und Apostolat den Völkern (1,5). Wie jene Propheten δοϋλοι θεοΰ waren, so ist er nun δοϋλος Χριστοί). Die in der Bezeichnung implizierte Beauftragung wird mit der anschließenden Intitulatur als απόστολος κτλ. spezifiziert 136 . Der Briefschreiber wirbt damit um eine Brieflektüre, welche ihn als von Christus in Dienst genommen versteht, in prophetischer Tradition und mit dem Evangelium zu den Heiden gesandt. Phil 1,1 intituliert die Absender Paulus und Timotheus gleichermaßen: Παϋλος και Τιμόθεος δοϋλοι Χριστοϋ Ίησοϋ. Diese Rollenbezeichnung gereicht also zur Einebnung des Unterschiedes zwischen Paulus und seinem „Mitarbeiter" 137 , obschon die Uberordnung des Paulus durch die Reihenfolge und seine Empfehlung des Timotheus (2,19ff) gewärtig bleibt. In der Intitulatur fällt keine weitere Bezeichnung, welche die Bedeutung für die Gemeinde beschreiben würde. Gemeindefunktionäre, έτιίσκοποί και διάκονοι, werden vielmehr auf der Seite der Adressierten eigens erwähnt. Der Verzicht auf weitere Legitimierung und Autorisierung entspricht der brieflichen Situation, die sich auch sonst im Fehlen von hierarchischen Metaphern niederschlägt (vgl. §5.2.3): Paulus ist gefangen und rechnet mit seinem Tod. Timotheus wird der Gemeinde empfohlen (2,i9ff). Hier rekurriert das Motiv vom „Dienen"

133

Zum komplexen Abfassungszweck des Rom vgl. Reichert 2001.

134 Mit du Toit 1989, 204, der aufzeigt, wie Paulus auch im weiteren Präskript, trotz Intitulatur als απόστολος, autoritatives Auftreten unterlässt. 135 Die prophetische Assoziation sieht z.B. auch Sandnes (1991,148t; mit weiterer Literatur). Anders z.B. Lohse Rom, 60, der hier „bescheidene Zurückhaltung" heraushört. Noch anders Brown 2001, der die biblische Tradition der Bezeichnung ignoriert und hier eine Anspielung auf die Sklaven aus der familia Caesaris, die Glieder der Gemeinde Roms waren, hören will, mit der Paulus einen hohen Status beanspruche. 136 Mit Reichert 2001, 110. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass der Beginn mit δοϋλος Χριστοϋ die Autorität gegenüber der Gemeinde zurückhält (so aber Reichert a.a.O., 119 Anm.38 gegen du Toit 1989). 137 So auch Gnilka Phil, 30; Walter Phil, 32.

Zur Bedeutung von δοϋλος Χρίστου

149

beider 1 ' 8 . „ A p o s t e l " nennt P a u l u s n u r E p a p h r o d i t u s (2,25). D i e Selbstvorstell u n g als δ ο ϋ λ ο ς statt als A b g e s a n d t e r ist also in dieser Situation sinnvoll 1 3 9 . Eine w e i t e r e N u a n c e der Selbstbezeichnung k a n n w i e in G a l 1 , 1 0 a u c h i m Phil a n k l i n g e n : A l s S k l a v e Christi gehört P a u l u s d i e s e m u n d nicht jenen, die ihn g e f a n g e n halten. D i e s e Pointe impliziert in a n a l o g e r Situation die Intitulatur als δ έ σ μ ι ο ς Χ ρ ί σ τ ο υ Ί η σ ο ΰ in P h l m 1 1 4 0 . A u c h sonst bestreitet d e r Phil die M a c h t derer, die P a u l u s g e f a n g e n halten: D e r A u t o r berichtet v o n seiner erfolgreichen E v a n g e l i u m s v e r k ü n d i g u n g g e r a d e in Fesseln ( 1 , 1 2 f f ) u n d identifiziert sein L e b e n mit C h r i s t u s ( 1 , 2 1 ) . Im

Vergleich

mit d e m

zu

απόστολος

und

διάκονος

Festgestellten

ergibt sich damit eine g a n z eigene Semantik u n d Pragmatik. M i t einer Metapher,

die ihre B e d e u t u n g

aus biblischer Tradition schöpft,

be-

zeichnet P a u l u s sich als „ S k l a v e Christi J e s u " . D a m i t b e n e n n t er mittels der Tradition eine A u f g a b e u n d eine W ü r d e , die nicht j e d e m Christen, jeder

Christin

eignet.

Die

Umwidmung

der

geläufigen

Rede

vom

S k l a v e n Gottes in eine Sklave-Christi-Metapher pointiert d e n christolog i s c h e n B e z u g . P a u l u s ' A u f g a b e ist m i t d e m K o m m e n C h r i s t i gestellt, gilt d e m E v a n g e l i u m selbst, nicht n u r seiner

„Vorherankündigung"

( R o m 1 , 2 ) . T r o t z d e r A s s o z i a t i o n a n atl. P r o p h e t e n b e s t e h t h i e r a l s o e i n signifikanter Unterschied. Eine Relation z u

den

angeschriebenen

Gemeinden

ist n i c h t

im

Blick; mit δοΰλος w i r d keine bestimmte G e m e i n d e a u f g a b e bezeichnet, w i e a u c h der Begriff, anders als δ ι ά κ ο ν ο ς , keine w e i t e r e Karriere als kirchliche Funktionsbezeichnung machte141. Die Extension der Bezeich-

138 Vgl. 2,22: ώς πατρί τέκνον σύν έμοϊ έδούλευσεν εις τό εϋαγγέλιον, sc. Timotheus. 139 Anders U.B. Müller Phil, 33, der meint, απόστολος fehle, da es aufgrund der inhaltlichen Verwandtschaft zu δούλος verzichtbar sei. - Noch anders deutet Byron 2003, 150-177 die Selbstbezeichnung. Er liest sie auf dem Hintergrund der Aussage des Hymnus, Christus habe freiwillig die μορφή δούλου angenommen, womit die Selbstunterordnung als Sklave Gottes gemeint sei. Diese sei vorbildlich für alle Menschen, und in diesem Sinne bezeichne 1,1 nur den paradigmatischen Gehorsam gegenüber Christus, der letztlich Gott gilt. - Der theologische Bezug fehlt freilich in Phil 2,7. Viel näher liegt es, darunter die soziale Rolle eines Sklaven zu verstehen als der niedrigsten menschlichen Position (vgl. nur Walter Phil, z.St.). Auch wird die christologische Spezifik der Metapher in Phil 1,1 nivelliert. 140 Vgl. einen entsprechenden Zusammenhang in ψ 115,7 (Ps 116,16) im Munde des Gott dankenden Beters: ώ κύριε, έγώ δοϋλος σός, έγώ δοϋλος σός και υιός της παιδισκης σου. διέρρηξας τούς δεσμούς μου. 141

Auch wenn die Metapher δοϋλος θεοϋ resp. κυρίου κτλ. in der Alten Kirche rezipiert wurde für Christinnen allgemein oder besondere Amtsträgerinnen oder Märtyrerinnen, so bekommt der Ausdruck doch keine technische Bedeutung für eine bestimmte Funktion, sondern beschreibt die Gottesbeziehung. (Vgl. für die Tradition Combes 1998, 9 6 f t die freilich loof hier unscharf von "technical connotations" und "title" spricht.)

150

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

nung ist weiter als die von απόστολος. Dies lässt sich deutlich an der Referenz auf Timotheus in Phil 1,1 ablesen. Aus der Gefangenschaft, an der Reisemission gehindert, schreibt auch Paulus selbst nicht als απόστολος, sondern als δοΰλος Christi Jesu. Damit betont er nicht nur seine bleibende Indienstnahme für das Evangelium (vgl. Phil 1,12ff). Das exklusive Christus-Verhältnis negiert auch die Abhängigkeit von Menschen. Auf die Freiheit von Menschenmaßstäben zielt die Verwendung in Gal 1,10. Eine ähnliche Aussage lässt sich in Phil 1,1 heraushören: Paulus gehört auch in der Gefangenschaft nur Christus.

4

Schlussfolgerungen

Wir haben die Selbstbezeichnungen des Paulus unter dem Blickwinkel ihrer semantischen und pragmatischen Differenz betrachtet. Gerade zwischen den Konzepten απόστολος und διάκονος ergab sich eine relevante Unterscheidung 142 . Zugespitzt ist für Paulus sein Apostolat die Sendung durch Christus insbesondere zu den nichtjüdischen Menschen, seine Legitimation, aus der ein Unterhaltsrecht folgt. Sein Diakonat aber deutet auf die von Gott verliehene Aufgabe zur Vergegenwärtigung der Heilsbotschaft in Verlängerung des Wirkens Jesu Christi auch für bereits christusgläubige Menschen und bestehende Gemeinden. Beide Begriffe sind weder als univok noch als termini technici in der Kommunikation vorausgesetzt und werden in Bezug auf andere Menschen sowohl in den Paulusbriefen als auch im Umfeld weniger spezifisch gebraucht, wobei der Bezeichnung απόστολος freilich eine klarere Intension zukommt. Während diese beiden Begriffe die göttliche Beauftragung zur Mission unter den Menschen bezeichnen, fokussiert die Selbstbezeichnung als δοϋλος Χρίστου die ex-

142 Dieser Impetus ist also der Diskussion über die soteriologische Metaphorik bei Paulus analog, die in den letzten Jahren die Differenzen zwischen den verschiedenen Konzepten bzw. Metaphern zur Deutung des Todes Jesu herausgestellt und damit deren einebnende Systematisierung und Hierarchisierung etwa unter dem Konzept „Sühne" kritisiert hat (vgl. nur Breytenbach 1993). Die Beobachtung von der je spezifischen Bedeutung der Bezeichnungen und ihrer vermuteten Ursache, der Variabilität der Rollen, widerrät auch in unserer Frage, an einem Aussagezusammenhang erhobene Vorstellungen auf andere zu übertragen. Insbesondere der in 2 Kor 2 - 7 entfaltete Anspruch des Paulus, in exklusiver Weise für die Adressatinnen das Christusgeschehen zu vergegenwärtigen, sollte nicht verallgemeinert werden. Damit bestätigt der Wortgebrauch das hier vorausgesetzte „Lokalprinzip" (vgl. §1.1)·

Schlussfolgerungen über die Eigenheiten der Bezeichnungen

151

klusive Christusrelation, deutet allerdings mittels der Metapherntradition auch auf eine besondere Beauftragung. Tabellarisch lassen sich die Ergebnisse so pointieren: απόστολος

διάκονος

δοϋλος

Bedeutung

Abgesandter (verbal)

Vermittler, Diener, Verkündiger

Sklave

atl. Hintergrund

άποστέλλειν (Propheten)

Konnotation in Bezug auf Status

religiös hoch

sozialer Status neutral

sozial niedrig, aber qua atl. Bildfeld Ehrentitel

Extension im Sprachgebrauch des Paulus

Paulus, wenige bestimmte andere

Oberbegriff

Paulus und Timotheus, ansonsten offen

logisches Subjekt

Christus

Gott

Christus

Relation

dreistellig: Sender Gesandter Adressatinnen

vierstellig: Auftraggeber Beauftragter, Aufgegebenes, Adressatinnen

zweistellig: Herr Sklave

Kontexte, Assoziationen

Intitulation im Präskript Evangelium; konkrete Adressatinnen, die noch nicht Christinnen sind, bei Paulus namentlich Heidinnen; Unterhaltsrecht

-

Funktion vor allem für bereits bestehende Gemeinde; Referenz; Leiden; Christusstellvertretung ; Kollekte

δοϋλος θεοϋ

Intitulation im Präskript Christus gehörend, also exklusive Bindung an diesen und Freiheit gegenüber Menschen; intertextuelle Semantik durch christologisch modifizierte Aufnahme atl. Bezeichnung

'Απόστολος fungiert nicht, wie gemeinhin angenommen, als allumfassendes Autoritätskonzept gegenüber den Gemeinden. In iThess, Phil und Phlm fehlt die Legitimierung als „Apostel Christi". In der Auseinandersetzung mit Konkurrenten in Korinth reicht diese Autorisierung nicht hin, geht es doch um die Eignung zur Vermittlungs-, Verkündigungsaufgabe (2 Kor 2 - 7 ) und Angriffe auf die Person des Paulus (2 Kor 10-13). In der Situation der Gefangenschaft, in der seine

152

Die Bezeichnungen der Aufgabe des Paulus

Verkündigung des Evangeliums unter Menschen an ihr Ende gelangt zu sein scheint, intituliert sich Paulus nicht mehr als Gesandter, sondern als „Sklave" bzw. „Gefangener Christi", um darauf hinzuweisen, dass er allein Christus gehört (Phil 1,1; Phlm 1). Mit diesem Nachweis der differenzierten Bedeutung ist nicht bestritten, dass es eine große Schnittmenge zwischen den Konzepten gibt und man ebenso additiv ein umfassendes Konzept vom „Selbstverständnis des Paulus" zeichnen kann; solche Paulus-Portraits existieren ja in großer Zahl. Aber gerade darum galt es hier, die Nuancen des Sprachgebrauchs herauszustellen. Dass auf diesen genauer zu hören ist, wäre an der Detailauslegung der hier nur kurz aufgerufenen Passagen zu bewähren. Für unser Unterfangen kann als Ergebnis genügen, dass die Paulus-Briefe keinen umfassenden Begriff und keine globale Metapher verwenden, um die Rolle des Paulus zwischen Gott und Christus einerseits, den Gemeinden andererseits darzustellen. Die beste Erklärung dieses Befundes ist, dass es für die ersten Männer und Frauen, die zur Verkündigung des Evangeliums ausgesandt wurden, nicht nur keine feste Bezeichnung gab, sondern auch kein univokes Konzept und keine eingespielten Rollen. Autorität, konkrete Aufgaben und Befugnisse solcher Menschen mussten in der Kommunikation mit den Gemeinden erst je und je erarbeitet werden. Spielregeln mussten neu ausgehandelt, Worte und mithin kommunikable Konzepte für das Neue aus bekannten Beziehungsmustern gewonnen werden, Beziehungen so definiert werden. Den ausgeführten Metaphern als der Möglichkeit, Neues im Rahmen des Bekannten zu konzeptualisieren und zu kommunizieren, kommt dabei eine hervorragende Rolle zu.

§5

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus. Ein Überblick Der folgende Überblick zeigt, welche Vielfalt von Metaphern sich die paulinischen Briefe zunutze machen, um die dem Paulus aufgetragene Aufgabe und seine Rolle gegenüber den Gemeinden zu beschreiben 1 . Ich analysiere die Metaphern zunächst nach Herkunftsbereichen, um das Panorama der zur Metaphorik herangezogenen Lebensbereiche und die Originalität der Metaphern zu zeigen (1) und zeichne dann die bedeutsamen Metapherncollagen in 2 Kor und Phil nach, die in der auf Eltern-Kind-Metaphern konzentrierten Detailauslegung § 6 - 8 nicht berücksichtigt werden (2). Die Gruppierung der Metaphern nach Herkunftsbereichen (1) ist nur z.T. sachbedingt und folgt auch der exegetischen Pragmatik und Ordnungsliebe. Denn wie die Analysen erkennen lassen, sind Metaphern desselben Herkunftsbereiches oft kaum durch ein Bildfeld bestimmt, sondern originäre Übertragungen aus einem Wirklichkeitsbereich. Zudem ist die Bestimmung dessen, was ein „Wirklichkeitsbereich" ist, abhängig von der individuellen oder kulturspezifischen

1

Einen entsprechenden Überblick über diese Metaphern des Paulus zur Beschreibung seiner Rolle und Beziehung zu den Gemeinden gibt nur Roloff 1965, i04ff. Um zu zeigen, dass der Apostolat grundsätzlich ekklesiologisch ausgerichtet ist, aber einen ganz besonderen Dienst unter den Aufgaben in der Gemeinde hat, stellt er die Metaphorik vor, gruppiert nach Herkunftsbereichen und im Blick auf die von ihnen aufgenommene Tradition. Die Tempelbaumetaphorik sei grundlegend (a.a.O., 105), die Vaterschaftsmetapher zeige den in allen Metaphern vorausgesetzten christologischen Bezug. Roloff analysiert die Metaphern also nicht nach Aussagekontexten, sondern im Blick auf ein allgemeines Apostolatskonzept, das s.E. zeigt, dass das Spezifikum des Apostolats nicht der inhaltliche Unterschied von anderen Diensten sei, sondern sein einmaliger heilsgeschichtlicher Ort am Übergang von Jesus zur Kirche (a.a.O., i24f). Im Unterschied dazu will ich zeigen, dass die metaphorische Sprache gerade dazu dient, einzigartige Beziehungen zu festigen oder erst zu erarbeiten und dass die Vielfalt der Metaphern gerade die Vielfalt der Situationen und Beziehungen und Absichten bezeugt.

154

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Wahrnehmung (vgl. §3.2.2). So könnten z.B. die Lebensbereiche Eltern-Kinder (1.10), Ehe (1.11) und Sklaverei (1.12) im Sinne des antiken Oikos zu einem „Wirklichkeitsbereich" zusammengefasst werden; die Metaphern lassen jedoch eine je unterschiedliche Heranziehung je binärer Relationen erkennen. Der Überblick zeigt, in welchem Mataphern-Paradigma die Vaterbzw. Mutter-Kinder-Bilder zu lesen sind. Ausführlicher gehe ich ein auf jene in § 6 - 8 nicht analysierten Metaphern, die elaboriert die Missionsarbeit des Paulus darstellen2 und vor allem die Relation des Paulus zu konkreten Gemeinden 3 konzipieren. Auch die Eltern-KindMetaphern, mit denen Paulus seine Gemeinderelation beschreibt, werden, soweit nicht im Anschluss ausführlich analysiert, hier skizziert4. Haben wir so das „Paradigma" überblickt, ist nach den Metaphern-,, Syntagmen" zu fragen (2): Welche Metaphern werden in Briefen bzw. Abschnitten für den erfragten Zielbereich kombiniert? Unter Aufnahme der Analysen in §5.1 werden Blicke über 2 Kor 2,14-7,4; 2 Kor 1 0 - 1 3 u n d Phil zeigen, wie Paulus verschiedene Kommunikationsrelationen durch unterschiedliche Auswahl aus dem Metaphernparadigma inszeniert. Wir erhalten so eine „Gegenprobe" zu den in § 6-8 ausgelegten Selbstentwürfen. Wer auch immer sich mit einem metaphorischen Bildfeld oder einem einzelnen Text detaillierter beschäftigt hat, wird in der Diskussion der Texte etwas vermissen, möglicherweise gar seine oder ihre eigene publizierte Deutung. Der erwünschte Uberblick kann jedoch auch bei mangelnder Scharfsicht für Einzelheiten einen Eindruck von der Vielfalt der Metaphern und der Art ihrer Verwendung durch Paulus vermitteln.

2

Als allgemeine Rollenmetaphern sind vor allem i K o r 9,iff; 9,24-27; 2 Kor 2,14a; 2,i4b-i6; 4,6; Rom 15,16 zu lesen.

3

2 Kor 3 , 1 - 3 ; 4,5; 4,10-12; 5,18-20; 6,11-13; 10,1-6; 1 1 , 1 - 4 ; u ^ - 1 1 ; Phil 2,17.

4

Vgl. unten 1.10 zu 2 Kor 6,11-13; 12,15; Phlm 10; Phil 2,22.

Beziehungsmetaphern

155

1 Die Bildfelder und ihr Vorkommen. Das Paradigma der Rollenmetaphorik Im folgenden werden Vokabular, Verwendung und mögliche Bildfeldtraditionen benannt; vielfach kann auf Studien zu den einzelnen Bildfeldern zurückgegriffen werden 5 . Elaborierte Metaphern des hier besprochenen Zielbereichs werden in aller Kürze interpretiert.

1.1

Arbeiten als Bildspender

Wenn der Einsatz zur Ausbreitung des Christentums und die Übernahme von Aufgaben in der Gemeinde als „Arbeiten" u.ä. beschrieben werden, so wird das nicht unbedingt als semantisch spannungsvoll, also als Metapher empfunden, und doch inferiert diese Wortwahl eine bestimmte Auffassung der Aufgabe. Selten ist die Beschreibung des Evangelisierens als Arbeit pointiert und kaum exklusiv auf Paulus gemünzt. Sie bildet in der Regel eine zweistellige Relation ab, die Beziehung von „Arbeitgeber" und „Arbeitnehmer" (vgl. auch 1.12 zur Sklavenmetapher) oder die zwischen Arbeitendem und seinem Gegenstand. Deutlicher metaphorisch sind jene Aussagen, die konkrete Berufstätigkeit auf das missionarische Handeln abbilden wie die Bauarbeit (vgl. 1.2), kultische (1.3) oder die agrarische Tätigkeit (1.7). Die verschiedenen fokalen Worte heben jedoch je Unterschiedliches hervor. κόπος und κοτηαν 6 beschreiben die Anstrengung des christlichen Lebens 7 , den „Stress" der missionarischen Arbeit allgemein 8 , nicht exklusiv der apostolischen, und tendieren bereits zur Lexikalisierung. Wenn sie in Peristasenkatalogen 9 und im Zusammenhang der Frage des Erfolgs 1 0 auf Paulus selbst bezogen sind, so doch nicht als Bezeichnung einer einzigartigen Aufgabe.

5 6

7 8 9 10

Für den Überblick hilfreich ist trotz der methodischen Mängel Straub 1937. Zur Bedeutung „anstrengen, ermüden" und den Verwendungen im NT und im zeitgenössischen Umfeld vgl. Spicq 1982, 404ft; zum frühchristlichen Sprachgebrauch allgemein Harnack 1928; Friedrich Hauck, Art. κόπος κτλ., in: ThWNT 3 (1938) 827829. Der spezifisch christliche Sprachgebrauch scheint auf Paulus zurückzugehen (vgl. Harnack a.a.O., 4f). 1 Kor 15,58; 16,16; iThess 1,3; vgl. lTim 4,10; Offb 2,2; 14,13. Vgl. 2 Kor 10,15; Röm 16,6.12; vgl. iKor 3,8; κοπιών bezeichnet jemanden von hervorgehobener Position in der christlichen Gemeinde in 1 Thess 5,12; vgl. 1 Tim 5,17. 1 Kor 4,12; 2 Kor 6,5; 11,23.27; vgl. 1 Thess 2,9. 1 Kor 15,10; Gal 4,11; Phil 2,16; vgl. Kol 1,29 und bereits Jes 49,4.

i56

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Auch έργον und Derivate bezeichnen ganz allgemein den aktiven Charakter der vita Christiana (ι Thess 1,3), aber auch genauer die Arbeit für die christliche Gemeinschaft und deren Ausbreitung. Etliche Menschen können daher als συνεργοί des Paulus gewürdigt werden. Die Vorsilbe kann aber auch die Zusammenarbeit von Missionaren allgemein 11 und insbesondere des Paulus mit Gott 12 beschreiben. Die Rede von συνεργοί zeigt neben der Beziehung zwischen Arbeiter und Gegenstand eine dritte „kollegiale", εργάτης hingegen wird zur abwertenden Bezeichnung anderer Missionare 13 , έργον kann das „Produkt" der Arbeit am „Gemeindebau" bezeichnen ( i K o r 3,13-15) oder die noch zu leistende Arbeit „des Herrn" ( i K o r 16,10). Wenn Paulus der Gemeinde in Korinth schreibt: τό έργον μου ύμεϊς ... έν κυρίω ( ι K o r 9,1), so nimmt er diesen Sprachgebrauch auf und formt ihn zur metaphorischen Beanspruchung der Gemeinde als sichtbaren Zeichens seines persönlichen Apostolates 14 . Die Beziehung Arbeitgeber-Arbeitnehmer tritt wie bei der SklavereiMetapher (vgl. unten 1.12) in 1 Kor 4,if in den Vordergrund. Missionare sollen als ύπηρέται Χρίστου και οικονόμοι μυστηρίων θεοϋ begriffen werden, ύπηρέτης und οικονόμος deuten auf eine übertragene, untergeordnete Aufgabe 15 , implizieren damit einen Widerspruch gegen den Personenkult in Korinth. Als „Verwalter der Geheimoffenbarungen Gottes" kommt ihnen gleichwohl eine wichtige Aufgabe zu, weshalb sie ehrlich und zuverlässig sein müssen (4,2). In 4,3 ff wertet Paulus diese Relationsbestimmung so aus, dass er dem „Herren" allein Rechenschaft schuldet und ihm Kritik von den Adressatinnen einerlei ist (vgl. weiter § 7.3.5). Die Welt der Arbeit ist also ein verbreiteter Bildspender, u m d e n Einsatz z u r A u s b r e i t u n g des Christentums u n d das E n g a g e m e n t einzelner in der G e m e i n d e zu beschreiben. P a u l u s zieht in 1 K o r 9 die Welt der Arbeit u n d Ökonomie, eingeschlossen die Sklaverei (vgl. 1 . 1 2 ) u n d ergänzt u m den Wettkampf (s. 1.6.1), heran, u m die Einzigartigkeit seiner A u f g a b e z u beschreiben. Die metaphorische A r g u m e n t a t i o n soll an dieser Stelle g e n a u e r vorgestellt w e r d e n .

11

i K o r 3,9; vgl. dazu §7.3.3; 1 Thess 3,2 von Timotheus. In 2 K o r 1,24 hingegen ist wegen der Opposition (κυριεύομεν ύ μ ώ ν ) συν- auf das Miteinander von Adressanten (Paulus, Timotheus und Silvanus) und Adressatinnen zu beziehen.

12

2 Kor 6,1, vgl. dazu unten 1.9.1. Gelegentlich wird bestritten, dass συνεργός „synergistisch" die Mitarbeit mit Gott benennt; vgl. so W.-H. Ollrog, Art. συνεργός κτλ., in: EWNT 3 ( 2 i992) 726-729: 727t.

13

Vgl. das cave canem Phil 3,2 und die Invektive 2 Kor 11,13.

14

Vgl. zur Parallelaussage 1 Kor 9,2 unten 1.4.

15

Zur Bedeutung vgl. § 7.3.5. Auch der Kontext gibt keine solche Implikation, und auch die weiteren „Arbeitsmetaphern" in i K o r 3 sprechen nicht von Sklaven. - οικονόμος und οικονομία begegnen auch später als Metapher für kirchliche Aufgaben bzw. Kirchenmitarbeiter, vgl. Eph3,2; Tit 1,7; iPetr 4,10; Ign Pol 6,1.

Arbeitsmetaphern in ι Kor 9

1.1.1

157

Von der Evangeliumswirtschaft und Paulus als freiwilligem Sklaven (1 Kor 9)

Der u m f a n g r e i c h e n Diskussion über das Kapitel k ö n n e n w i r hier nicht gerecht w e r d e n . Ich g e h e d a v o n aus, d a s s d e r T e x t i m b r i e f l i c h e n Z u s a m m e n h a n g n i c h t d a z u dient, d e n V e r z i c h t d e s P a u l u s auf U n t e r h a l t g e g e n ü b e r d e n A d r e s s a t i n n e n z u v e r t e i d i g e n , s o n d e r n als b e i s p i e l h a f t e n R e c h t s v e r z i c h t d e n „ s t a r k e n " G e m e i n d e g l i e d e r n v o r z u f ü h r e n 1 6 . In f ü r P a u l u s u n g e w ö h n l i c h e r W e i s e p r ä g t ein k o h ä r e n t e r B i l d s p e n d e b e r e i c h d i e v e r s c h i e d e n e n M e t a p h e r n u n d A n a l o g i e a r g u m e n t e i n 9 , 1 - 2 3 ( z u 9 , 2 4 - 2 7 v g l . u n t e n 1.6.1 f 7 : Es ist d i e W e l t d e r A r b e i t , d a r g e s t e l l t a n g a n z v e r s c h i e d e n e n A r b e i t s b e r e i c h e n u n d -Verhältnissen. D e r

16

Es geht nicht um eine Apologie des Apostolats o.a., wie oft behauptet (so etwa Theißen 1989, 2x4ft im Zusammenhang mit der Frage des Lebensunterhalts; Wolff i K o r , 187t). Zur Diskussion und Deutung als Exemplum vgl. Willis 1985; Schräge i K o r Bd.2, 278ft; Μ. Mitchell 1991, 243ft (vgl. auch Vollenweider 1989,199ft zu einer Lektüre als Gegenentwurf zum philosophischen Freiheitsentwurf). 9,3 charakterisiert das Folgende als απολογία (gegen Schräge a.a.O., 280t, der αϋτη anaphorisch liest und die Apologie in V.3 bereits abgeschlossen sieht, vgl. Lehmeier 2003, 3.1.4.2). Die Formulierung indiziert aber nicht, dass die Pragmatik „Verteidigung" die Kommunikation zwischen Adressant und Adressatinnen betrifft. Und wenn Paulus konzediert, dass er möglicherweise nicht für andere Apostel sei (9,2a), liegt das nicht an einem Konflikt. Der Apostolat für Korinth ist hinreichend für seine Argumentation (vgl. §4.1.3, zur Diskussion Schräge a.a.O., 289^. Auch die rhetorischen Fragen und die ausführliche Begründung des Unterhaltsrechts wären sinnlos, wenn der Verzicht ein Streitpunkt zwischen den Kommunikantinnen wäre. Die „Verteidigungsrede" gilt nicht einer aktuellen, sondern einer potentiellen Kritik, und die Pragmatik in der Kommunikation ist die, den Unterhaltsverzicht des Paulus als beispielhaften Rechtsverzicht zu entwerfen. Darum wird zunächst das Recht argumentativ abgesichert. Der von der „Verteidigungssituation" unterstellte Angriff ist dann analog zu dem Problem von Kap.8; 10 zu rekonstruieren (vgl. ähnlich Probst 1991, 195ft): Wie sich ein „Starker" gegen den Vorwurf rechtfertigen muss, wenn er Götzenopferfleisch meidet, ob er etwa „schwach" sei und an die Existenz von Götzen glaube, so wehrt sich Paulus gegen die Schlussfolgerung, er sei kein echter Apostel, da er das Recht auf Unterhalt nicht in Anspruch nimmt. Dass diese kritische Anfrage tatsächlich geäußert wurde, ist nicht notwendig zu unterstellen. Die Einleitung als Verteidigungsrede kann auch einfach legitimieren, dass der Verfasser so ausführlich über die eigene Praxis als vorbildlich spricht (vgl. Mitchell a.a.O., 246). - Möglich ist, dass der Unterhaltsverzicht im Rahmen der antiken Praxis von Geben und Nehmen, Freundschaft und Patronat eine besondere Pointe bekam, etwa sich vor der Einbindung in patronale Strukturen zu verwahren (vgl. Lehmeier 2003, 3.1.4.5.2.3 zu dieser oft vertretenen These), oder dass die verzichtvolle Lebensweise Anstoß erregte. Ein Problem solcher Erklärung ist jedoch, dass die Aussage, Paulus habe sich allen versklavt (9,i9ff), gerade einem solchen Vorwurf nicht widerspricht.

17

Als Zusammenhang der verschiedenen Themen nennt Lehmeier 2003, 204ft das antike Ökonomie-Konzept, zu dem nicht nur die Themen „Arbeit, Sklaverei", sondern auch „ G e l d " und „Umgang mit Ehefrauen" gehörten. Paulus müsse sich mit dem Vorwurf seiner servilen Lebensweise auseinandersetzen und entwerfe ein von den üblichen Haushalten unterschiedenes Konzept. Demgegenüber ist aber der metaphorische Charakter der Aussagen zu wahren.

i58

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Soldat, der Weinbauer, der Hirte (9,7), der Säende (9,11) haben das Recht, den Ertrag ihrer Arbeit selbst zu genießen bzw. von anderer Seite für ihren Einsatz besoldet zu werden. Die Priester haben das Recht, von den Opfern zu essen (9,13), und ebenso hat „der Herr denen geboten, die das Evangelium verkündigen, vom Evangelium zu leben" (9,14). Die Alltagslogik und das OchsenGesetz (9,8-10) zeigen die Struktur des Unterhaltsrechtes: Wer leistet, hat Recht auf Entgelt, konkret darf er nehmen von dem, was er erwirtschaftet hat. Die Analogien setzen dabei voraus, dass die missionierten Menschen, die den Unterhalt zahlen, Gegenstand oder „Produkt" der Arbeit sind (vgl. έργον 9,1). Um sich von den anderen abzugrenzen, die das Unterhaltsrecht in Anspruch nehmen, wechselt der Autor innerhalb des Bildspendebereiches zu Arbeit, die „unfreiwillig" ist (9,17b), unter Zwang (ανάγκη, 9,16b) 18 . Er kann gar nicht anders, denn das Evangelium zu verkündigen, weshalb dies allein ihm noch keinen Ruhm verschafft. Paulus stellt sich, an 1 Kor 4,1 erinnernd, als mit der οικονομία betraut dar 19 . Die Metapher setzt als logisches Subjekt „Herr" voraus und zeigt die Dreierrelation zwischen dem Herrn, Paulus und dem ihm anvertrauten „Haushalt". Als Lohn erhält Paulus nicht Anteil an dem Erwirtschafteten wie in den erstgenannten Beispielen. Sein „ L o h n " ist, das Evangelium zu etwas Unentgeltlichem zu machen (9,18). Das mutet paradox an, hat aber eine wirtschaftliche Logik: Wenn Paulus das Evangelium als etwas anbietet, das kostenfrei ist, dann kann er natürlich von dessen Ertrag nicht leben20. Unfreiheit gegenüber Gott und Christus ist an sich nichts Besonderes. Paulus bringt, um seine ungewöhnliche Haltung zu begründen, eine besondere Sklavenmetapher 21 ein: Er hat sich selbst aus freien Stücken (vgl. 9,1a) „allen versklavt, damit ich die Mehrzahl gewinne" (9,19, vgl. 9,27), „einige rette"

18

Die Auslegung der schwierigen Stelle (Byron 2003, 249ft) muss sich hier auf die Feststellung beschränken, dass Paulus von seiner Arbeit sagt, sie sei unfreiwillig (άκων) und ihm aufgegeben (πεπίστευμαι), und dass ihr kein materieller Lohn zukommt. Der Zwang und das Wehe erinnern an die ebenfalls nicht freiwillige Verpflichtung der atl. Propheten (vgl. Nasuti 1988, 256-258; Wolff i K o r , 200). Andere schlagen vor, dass Paulus sich hier zu popularphilosophischen Diskussionen verhält, etwa positioniert im Sinne der Stoiker, die äußerliche Unfreiheit ignorieren (Malherbe 1994), oder an die soziale Beschreibung der Sklaverei anknüpft (so Marshall 1987, 296ft; D.B. Martin 1990, 7iff).

19

Der οικονόμος ist nicht notwendig ein Sklave (vgl. Byron 2003, 242ft, gegen Martin 1990,15ft u.ö.; Schräge 1 Kor Bd.2, 326). Der Kontext legt nahe, nicht an eine Sklavenabhängigkeit zu denken, weil erstens von Lohn die Rede ist (9,18) und zweitens die Sklavenrelation nach 9,19 anderweitig gilt. Dennoch hebt die Formulierung ab auf Passivität und Zwang.

20

Leicht übersehen wird, dass άδάπανον nicht adverbiell steht, sondern ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν prädiziert (zur Syntax vgl. Schräge 2 Kor Bd.i, 326 Anm.283) und so die causa efficiens des Verzichts benennt: Das Evangelium wird damit gratis. Die Tatsache, dass es in der üblichen Praxis etwas kostet, hatten die alltagslogischen Analogien 9,7ft noch nicht offengelegt.

21

Vgl. zur Sklavenmetaphorik § 4.3 und unten 1.12.

Arbeitsmetaphern in ι Kor 9

159

(9,22c!)22. Damit nimmt er gegenüber seiner Zielgruppe also eine ganz andere Haltung ein als die eingangs in den Analogien unterstellte. Sie sind nicht sein Gegenstand, Produkt, sondern er ihr Sklave. Konkretisiert ist dies darin, dass er sich dem Leben der unterschiedlichen Menschen angleicht (9,20-223), einer von ihnen wird, und das heißt im Zusammenhang, dass er sich nicht von ihnen aushalten lässt23. Der „Gewinn" seiner Arbeit (κερδαίνειν 9,i9~2224) liegt also nicht in einer Entlohnung oder dem Recht auf freie Kost, sondern in den Menschen, die er „rettet" (9,22). Paulus identifiziert sich so sehr mit der Aufgabe des Evangeliums, Menschen zu retten, dass er dessen Erfolg statt einer Entgeltung als seinen eigenen Gewinn ansieht. Ziel ist es, „Teilhaber des Evangeliums" zu werden (9,23)25. Die Finanzsprache in heutige Marktpraktiken übersetzt, lässt Paulus sich seinen Lohn nicht auszahlen, sondern in Aktienanteilen vergüten, so dass er Teilhaber des Unternehmens „Evangelium" wird 26 . Weniger börsen(kon)notiert kann man die Formulierung so verstehen, dass Paulus Teil des Evangeliums wird, weil er dessen Geschenk-Charakter verkörpert. Die Bereitschaft zum Rechtsverzicht hat also ihren Grund in der Identifizierung mit dem Evangelium, das auf den „Gewinn" anderer Menschen aus ist, so wie auch der Verzicht auf das Götzenopferfleisch dem „Bruder" zuliebe geschieht (8,13; vgl. 10,23 f).

22

Der Verweis auf ά ν ά γ κ η stellt nicht in Frage, dass Paulus die Freiheit zur Inanspruchnahme des Unterhaltsrechts gehabt hätte, also wirklich freiwillig verzichtet (vgl. Merklein i K o r Bd.2, 226). Eine christologische Begründung der Selbstversklavung als Mimesis Christi, Reflex auf die Knechtschaft Christi (Phil 2,7, so Vollenweider 1989, 217t; Berger 1995, 477 u.a.), lässt der Text nicht erkennen. Die Aussage vom Sklavenstatus des Präexistenten in Phil 2,7 zielt auf die Opposition von Gottgleichheit und Niedrigkeit und deren Freiwilligkeit. In i K o r 9,i9ff beschreibt die freigewählte Selbstversklavung hingegen metaphorisch eine Bindung an Menschen durch eine diesen „dienende", d.h. zugute kommende Lebensweise.

23

Zum möglichen Verständnis der „Selbstversklavung" als provokanter Hierarchiekritik vgl. D.B. Martin 1990, ii8ff. Die „Selbstversklavung" wird im Blick auf die finanziellen Verhältnisse konkretisiert. Von Handarbeit des Paulus, die als Statuserniedrigung gedeutet werden könnte (so Martin ebd. u.a.), steht nichts im Text.

24

Man verkürzt die metaphorische Pointe, wenn man die übliche finanzielle Bedeutung von κερδαίνειν übergeht und es als missionssprachlichen terminus technicus versteht (gegen Schräge 1 Kor Bd.2, 339; Wolff 1 Kor, 202 u.a.).

25

Die kurze Formulierung (vgl. Schräge 1 Kor Bd.2, 348 zur Diskussion) lässt sich m.E. am besten als Metapher analog zu 9,14 auffassen: Vom Evangelium wird wie von einem quantifizierbaren Gut geprochen. Dass sich das συν- auf die gemeinsame Teilhabe mit anderen Menschen bezieht (so Merklein i K o r Bd.2, 232; Wolff i K o r , 205) nimmt dem Satz seine begründende Pointe: Paulus will nicht wie andere „vom Evangelium leben" (9,14), sondern „um des Evangeliums willen" so, dass er selbst Besitz daran erwirbt. Es „handelt ... sich um umfassende Teilhabe am Evangelium, an seinem Lauf, an seiner Gestalt und seiner Verheißung ..." (Dautzenberg 1969, 229). Das kann dann so vorgestellt sein, dass er selbst Teil des Evangeliums wird; vgl. dazu die strukturelle und metaphorische Analogie 2 Kor 4,5, s.u.

26

Zu dieser Bedeutung von κοινωνός vgl. Friedrich Hauck, Art. κοινός κτλ., in: ThWNT 3 (1938) 789-810: 799 Z . n f .

ΐ6θ

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Die Argumentation ist nicht zwingend. Man könnte einwenden, dass Paulus umso mehr gewönne, wenn er sich von anderen unterstützen ließe und alle Kraft in die Mission stecke, oder dass ein Sklave Kost und Logis erhält. Die Bildersprache hat Grenzen, aber sie leistet das Ihre für die Argumentation: Die Präsentation des Unterhaltsrechts im Sinne der Alltagsökonomie fundiert diesen Anspruch, so dass der Verzicht darauf als frei gewählte Aufgabe eines Rechts sichtbar wird. Wenn sich Paulus dann im Unterschied zu den Landarbeitern, Soldaten, Priester und Ochsen „zwangsverpflichtet" zur Verwaltungsarbeit nennt, markiert er Gott als Grenze seiner Freiheit. Von den Menschen ist er frei (9,19a). Nur darum macht er sich selbst zum Sklaven der Adressatinnen seiner Botschaft. So präsentiert er seine Haltung als frei gewählten Rechtsverzicht, der anderen zugute kommt, um damit den Starken als Beispiel zu dienen in der Argumentation i K o r 8;io. Weil sowohl das Unterhaltsrecht wie seine Beauftragung und auch der Verzicht als Varianten in einem einzigen Bildfeld erfasst sind, kann Paulus auf Basis von Gemeinsamkeiten - Recht und Logik - das Besondere und Evangeliumsgemäße seiner individuellen „Berufung" beschreiben, das ihm persönlich Ruhm verschafft (9>15c)·

1.2

Bauten u n d B a u e n 2 7

B a u e n u n d Bauten sind in der E r f a h r u n g s w e l t so „ g r u n d l e g e n d " , dass sie w i e selbstverständlich als Bildspender dienen. Verbildlichen lassen sich s o w o h l statische Verhältnisse an der N o t w e n d i g k e i t eines guten F u n d a m e n t s w i e d y n a m i s c h e Prozesse des „ A u f b a u e n s " u n d auch gegenseitige B e z i e h u n g e n im Bilde der Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t verschiedener Bauteile. Folgende fokale Worte begegnen bei Paulus: οίκοδομεϊν, οικοδομή, έποικοδομεΐν, έποιχοδομή, οικία, οίκητήριον, σκήνος, αρχιτέκτων, θεμέλιος, καθαίρεσις, έργον, ναός, στϋλοι.

27

Grundlegend ist immer noch die Darstellung Vielhauers (1939) und Kitzbergers Wortfeldanalyse des paulinischen Sprachgebrauchs (1986), die beide aber am Wort οικοδομή κτλ. orientiert sind; vgl. auch Otto Michel, Art. οΓκος κτλ., in: ThWNT 5 (1954) 1 2 2 - 1 6 1 ; Pfammatter 1960, freilich sehr veraltet.

Baumetaphern

l6l

Paulus zieht die Welt des Baus relativ häufig als Bildspender heran, aber außer in 2 Kor 5,iff 2 8 und Gal 2,i8 29 nur für ekklesiologische Aussagen 3 0 , und zwar in unterschiedlichen Teilbildfeldern. 1 ) Das statische Bild von der Gemeinschaft als Gottes Bau vor allem in späteren neutestamentlichen Texten der paulinischen Tradition. Elaboriert ist diese Metaphorik von der Gemeinde als Haus Gottes in Eph 2 , i 9 - 2 2 3 \ Auch Paulus nennt die Kirche in 1 Kor 3 Bau Gottes ( θ ε ο ϋ οικοδομή, V.9) und Tempel Gottes (ναός θεοΰ, V . i 6 f ) . Werden verschiedene Bauteile differenziert, vermag die Metapher insbesondere, die Bedeutung kirchlicher Funktionsträger und Christi zu relationieren (Eph 2,20). Paulus deutet diese Konzeptmetapher nur an in der Bezeichnung der Jerusalemer Autoritäten als στΰλοί (Gal 2,9; vgl. Offb 3,12) sowie einmal christologisch gewendet in der Sentenz

28

Hier ist der Bau auf den Leib geschrieben. Fokal fungieren οικοδομή, οικία, οίκητήριον, σκήνος, καταλύειν. Mit anderer Terminologie vom Haus bzw. der Hütte des Leibes und Auferstehungsleibes und mit Bekleidungsmetaphern gekreuzt wird eine durch das hellenistische Judentum bekannte griechische Konzeptmetapher vom Körper als Haus bzw. - häufiger, da die Vergänglichkeit indizierend - Hütte abgerufen (vgl. Windisch 2 Kor, i58f; z.B. Ps.-Plato, Axioch 3656-3668 [vgl. Neuer Wettstein 2/1, 444]; SapSal 9,15; Parjer 6,6; Philo, Praem 120; aber auch Hi 4,19; Jes 38,12; 1 Q H 7,4). Auch in der Bezeichnung des σώμα als mit heiligem Geist bewohnten ναός ( i K o r 6,19) kann man dieses Bildfeld erkennen, doch ist der Tempel hier weniger als Bauwerk, denn als Kultort gesehen (vgl. unten 1.3).

29

Von der scheidenden Wirkung des Gesetzes handelt Gal 2,18 mit der Aussage über die Restaurierung (πάλιν οίκοδομεΐν) des selbst eingerissenen (καταλύειν) Bauwerks. Man kann das Bild von der Konzeptmetapher einer Scheidewand zwischen Heiden und Juden her auffüllen, vgl. Jes 5,5; EpArist 139; Eph 2,14 (so z.B. Dunn Gal, i42f). Dazu passt, dass hier ungewöhnlicherweise nicht die Destruktion das Negative ist (wie etwa bei Jer, bei dem das Begriffspaar von „Bauen und Einreißen" häufig auftaucht, vgl. nur 1,10; 12,17; 24,6 u.ö.), sondern die Re-Konstruktion. Paulus' metaphorisches Argument zielt aber vor allem darauf, dass es widersinnig ist, das wiederaufzubauen, was man selbst niedergerissen hatte.

30

Vgl. Kitzberger 1986, vor allem die Zusammenfassung 29iff über die Bedeutung von οίκοδομεΐν κτλ. zur Beschreibung des erwünschten innergemeindlichen Umgangs. Das Bildfeld wurde in unserer Kirchensprache von „Gemeindegründung", ,,-aufbau" oder „Erbaulichem" etc. lexikalisiert.

31

οικείοι τοϋ θεοϋ (V.19) und κατοικητήριον τοϋ θεοϋ (V.22); ναός άγιος έν κυρίω als Zielvorgabe führt das Bild in 2,21 (αϋξει ...) dynamisch weiter. Dynamisiert ist die Vorstellung auch in 1 Petr 2,4ft zur Rede von „lebendigen Steinen", die zu einem geistlichen Haus gebaut werden. Auch der ekklesiologische Entwurf der Pastoralbriefe orientiert sich am ο ικος; die Pointe der Metapher lebt jedoch von dem οίκος als sozialer Größe, für die es eine „Hausordnung" geben muss. Vgl. l T i m 3,15f und grundlegend Wagener 1994, bes. 64f.235ff; Roloff 1993, 253ff.

1Ö2

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

i K o r 3,11 von Christus als dem einzigen Grundstein (θεμέλιος) 32 . Gemeindliche Funktionsträger sind hier jedoch nicht Bau-Elemente, sondern „Bau-Arbeiter". Die Rede von einer Gemeinschaft als „Haus" ist in der Antike verbreitet33. In griechischen Texten begegnen Baumetaphern zur Beschwörung der politischen Einigkeit34. Das ekklesiologische Bildfeld geht jedoch eher auf die biblische und frühjüdische Beschreibung der Relation Gottes zu Israel zurück, die vom Bauen Israels etc. oder von einer Gemeinschaft als Haus/Tempel Gottes spricht35. Freilich ändert Paulus diese Konzeptmetapher in bemerkenswerter Weise originär ab, wenn er sich und andere als diejenigen zeichnet, die am Bau wirken. 2) Diese dynamische Seite der Baumetaphorik 36 ist bei Paulus vor allem durch οίκοδομειν und Derivate präsent. Objekt der „Erbauung" ist das Gemeindemitglied oder die Gemeinde als ganze. In den authentischen Paulusbriefen sind genauer zwei Aussagekreise zu unterscheiden, einerseits Baumetaphern, die in paränetischen Kontexten die

32

Die Metapher von Christus als einem zentralen Element im Bau Gottes begegnet öfter als christologische Rezeption zweier atl. „Stein-Sentenzen". Jes 28,16, das Wort Gottes vom Eckstein (ακρογωνιαίος), den er in Zion legen wird, wird unterschiedlich aufgegriffen in Eph 2,20 und iPetr 2,4.6 (vgl. auch die Zitation in Rom 9,33; 10,11). In der letztgenannten Stelle wird auch Ps 118,22 zitiert, auf den auch Mk i2,ioparr; Apg 4,11 Bezug nehmen. Formal analog ist das Petruswort Mt i6,i7ff von Kephas als dem Baugrund.

33

Vgl. C.G. Müller 1995, 85; vgl. etwa das „Haus Israel" in Num 20,29; i S a m 7,3; 2 Sam 1,12; Jes 5,7; Jer 2,4; Ez 3,4-7; Mt 10,6; Apg 2,36; Hebr 8,10.

34

Vgl. z.B. Xenophon, Mem 4.41b. Zur Verwendung des Bildspenders in politischen Kontexten, die Vielhauer entging, vgl. M. Mitchell 1991, 99ff. Nach Mitchell setzt Paulus die Baumetapher daher in 1 Kor ein, um seinen Appell zur Einigkeit (1,10) zu unterstreichen. Die konkreten Instantiierungen der Metapher nehmen jedoch keinen Bezug auf die Differenzen innerhalb der korinthischen Gemeinde. Vgl. zur Diskussion § 7.3.3 zu 1 Kor 3,9 ff.

35

So etwa Jer 24,6; 31,4, vgl. 18,9 vom (Wieder-)Aufbau Israels durch Gott; vgl. Vielhauer 1939, g f f ; Michel ThWNT 5,1231128. Israel wird „Haus Gottes" bzw. in Gottesrede „mein Haus" genannt in Num 12,7 (vgl. Hebr 3,2.5); Jer 7,14; 12,7; Hos 8,1 u.ö.; Sach 9,8. Vgl. auch die Rezeption des atl. Sprachgebrauchs in A p g 15,14-18; 20,32; s. Roloff 1993, 112f zum möglichen traditionsgeschichtlichen Hintergrund. Als exklusives Selbstverständnis einer Gemeinschaft ist uns die Metaphorik vor allem aus den Qumrantexten bekannt, vgl. bes. i Q S 8,5 und 9,6; 11,8; 1 Q H 6,26; 7,9; vgl. O. Betz 1957; Klinzing 1971, 5off. Zu den Differenzen zwischen NT und Qumran vgl. (gegen Klinzing) Schüssler Fiorenza 1976.

36

Dynamische Adaptionen sind uns aus der popularphilosophischen Literatur geläufig. Dort sind sie aber auf einzelne bezogen, so etwa zur Beschreibung von Prozessen menschlichen Reifens durch die Gegenüberüberstellung von θεμέλιος und οίκοδομειν bei Epiktet, Diss 2,15,8-9 und oft bei Philo, z.B. Cher 101. Weitere Belege bei Vielhauer 1939, 28 ff.

Baumetaphern

163

Beziehung der Gemeindeglieder untereinander beschreiben37, andererseits solche, die vom Wirken des Paulus an Gemeinden handeln. Für unser Frageinteresse sind die drei Baumetaphern vom paulinischen Wirken bedeutsam, in denen die Metapher jeweils vitalisiert ist durch weitere fokale Worte (αρχιτέκτων, θεμέλιος resp. θεμέλιον, καθαίρεσις, έποικοδομεΐν, έργον, ναός). Neben i K o r (vgl. dazu § 7.3.3) und 2 Kor 1 0 - 1 3 (10,8,12,19; ^AO, s. 1.2.1) beschreibt Paulus in Rom 15,20 seinen missionarischen Ehrgeiz in diesem Bildfeld: Er will fundamentieren statt auf dem von anderen gelegten Fundament zu bauen. Das mag Befürchtungen vor anderen Absichten bei seinem geplanten Rom-Besuch entgegenwirken 38 (vgl. zu Rom 15,14-21 weiter 1.3.2).

1.2.1

Bauen und Niederreißen (2 Kor 10,8 und 13,10; 12,19)

Die Installierungen der Konzeptmetapher in 2 Kor 1 0 - 1 3 sind kurz, aber bedeutsam. Anders als sonst ist hier nicht nur die konstruktive Kraft der „Bauarbeit" des Paulus benannt, sondern auch ihr destruktives Gegenteil, καθαίρεσις war bereits in 10,4 als Potenz der „ W a f f e n " des Paulus benannt worden, καθαιροϋντες als sein Wirken (vgl. dazu unten 1.5.3). D i e Metapher von der vom κύριος 39 verliehenen εξουσία εις οίκοδομήν και ούκ εις καθαίρεσ ι ν rahmt in fast wortgleicher Wiederholung die weiteren Ausführungen. Zunächst wird sie als Gegenstand des den Verfasser nicht beschämenden Ruhmes eingeführt (10,8), am Schluss des Briefes als das, was der Verfasser bei seinem Besuch nicht gebrauchen will (13,10). Die Formulierungen sind in ihrer 37

οίκοδομεϊν κτλ. wird im Blick auf innergemeindliche Beziehungen gerade in paränetischen Kontexten verwendet. Es inferiert vom Bildspender die positive Wertung des Bauens, den „konstruktiven" Charakter der Tätigkeit (nur in iKor 8,10 beschreibt das Verb eine falsche Handlung, das Motivieren zum Essen von Götzenopferfleisch) und die Vorstellung, dass das Objekt dieser Tätigkeit andere als der Bauende selbst sind. Vgl. die Unterscheidung zwischen der negativ konnotierten „Selbsterbauung" mit Zungenrede und der Erbauung der Gemeinde durch Prophetie in 1 Kor 14,4. So wird zur gegenseitigen „Erbauung" in 1 Thess 5,11 (par. zu παρακαλείς αλλήλους) und Rom 14,19; 15,2 aufgerufen. In den Ausführungen über das innergemeindliche Miteinander in Korinth, in iKor 8; 10; 14 (8,1.10; 10,23; H'3~ 5.12.17.26), beschreibt οίκοδομεϊν resp. οικοδομή des Gemeindemitgliedes bzw. der Gemeinde (1 Kor 14,5.12) das angemessene Verhalten.

38

Vgl. Wilckens Rom Bd.3, 121. Zum paulinischen Verständnis seiner Sendung zur „Pioniermission" vgl. oben §4.1.3. κύριος referiert entweder in Aufnahme der atl. Tradition auf Gott, der in 2 Kor 10-13 als der genannt wird, der die δύναμις verleiht (12,9; 13,4) oder auf Christus. Letzteres ist vom Kontext her, d.h. der Frage der Christuszugehörigkeit, nahegelegt; so Thrall 2 Kor Bd. 2, 624. Speziell an die Berufung zum Apostel durch Christus denkt Furnish 2 Kor, 467.

39

164

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Kürze nicht sehr luzid, heben aber deutlich ab auf die Opposition von Bauen und Niederreißen. Das Begriffspaar ist geläufig aus der jeremianischen Tradition, dort jedoch vom Handeln Gottes40. 13,1ο 41 und der Rückbezug auf 10,4 zeigen, dass die Formulierung 42 nicht bedeuten kann, dass Paulus εξουσία nur zum Aufbau erhalten habe, das Zerstören also nicht von Gott verliehene Potenz sei43. Die Verneinung ούκ vor εις καθαίρεσιν ist nicht auf εξουσία zu beziehen, sondern auf den finalen Präpositionalausdruck: Die vom Herrn gegebene Vollmacht vermag beides, aber ihr Zweck ist eigentlich die Auferbauung 44 , nicht das Niederreißen45. So fasst auch 12,9 die Briefhandlung zusammen: τα δέ πάντα, αγαπητοί, ύπέρ της ύμών οικοδομής. Die Metapher 10,8; 13,10 transportiert also in aller Kürze sowohl eine Drohung als auch den Wunsch des Verfassers, von seiner destruktiven Macht keinen Gebrauch machen zu müssen, und die Tatsache, dass diese doppelte Möglichkeit vom Herrn verliehen ist. Sie fasst damit einen Tenor des Textes pointiert zusammen (s. unten 2.2). D a s B i l d f e l d v o m missionarischen Wirken des P a u l u s als B a u e n hat also die Valenz, verschiedene Rollen i m G e m e i n d e a u f b a u darzustellen, insbesondere F u n d a m e n t - L e g u n g u n d Weiterbau z u unterscheiden. O d e r es k a n n d a z u dienen, die doppelte B e f ä h i g u n g z u k o n s t r u k t i v e m u n d destruktivem Wirken an der G e m e i n d e gegenüberzustellen. Die G e m e i n d e selbst k o m m t nur als Objekt des H a n d e l n s u n d nur als Kollektiv in d e n Blick. In 1 K o r 3 u n d 2 K o r 1 0 ; 13 ist Platz im Bild f ü r d e n „ H e r r e n " als „ A u f t r a g g e b e r " . Der Bildspender inferiert die positive B e w e r t u n g der konstruktiven Arbeit, die B e d e u t u n g dessen, der a m B a u arbeitet, u n d die Passivität des Bauobjekts.

40

Vgl. Jer 31,28 (38,38LXX); 42,10 (49,IOLXX); 24,6. Am ehesten als Intertext würde der Auftrag an Jeremia in 1,9 f passen, doch dort begegnen andere Vokabeln. Zum Zweifel an Bezügen des Paulus auf das Jeremiabuch vgl. auch Wolff 1976, 134ft; ders. 2 Kor, 201 f.

41

Die Aussage 13,10 unterstellt, dass der zu meidende Gebrauch der Vollmacht negativ ist, also die zerstörende Wirkung auch Teil der Vollmacht ist.

42

Zu Deutungsmöglichkeiten vgl. Thrall 2 Kor Bd. 2, 625 f. Um die harte Aussage von der Zerstörung zu erklären, wird hier wie sonst gern zur Annahme gegriffen, Paulus repliziere gegnerische Vorwürfe.

43

Zu diesem Verständnis tendiert Thrall a.a.O., 626 in Bezug auf 10,8, ohne allerdings 13,10 zu berücksichtigen. Wolff 2 Kor, 201 und ähnlich Furnish 2 Kor, 477f sehen ebenfalls keine destruktiven Kräfte bei Paulus und unterscheiden zwischen 10,4, das sich gegen Gegner richte, und 10,8, das den Adressatinnen bzw. der Gemeinde gelte.

44

Furnish 2 Kor, 467 denkt wegen 1 Kor 3,gf speziell an die Gemeindegründung, doch dies ist weder vom sonstigen Metapherngebrauch noch von 12,9 angeraten.

45

Vgl. ähnlich Bultmann 2 Kor, 191.

Kultmetaphern

1.3

165

Aspekte des Kultes

Elemente und Kategorien des Konzepts Kult, d.h. von Handlungen zur Gottesverehrung nicht nur im Opferkult 46 , werden bei Paulus mehrfach metaphorisch eingesetzt47. Unterschiedliche Termini und Aspekte werden auf verschiedene Bildempfänger projiziert48. Die Terminologie ist meist so offen, dass sie sowohl mit paganen wie jüdischen Vorstellungen gefüllt werden kann49. Diese Beobachtung zeigt bereits, dass die paulinische Kultmetaphorik nicht generell auf eine „Spiritualisierung" des israelitischen Kultes zielt50, auch nicht „ein rituelles Gottesdienstverständnis ... (ge)sprengt" 51 . Dies entspräche auch nicht dem Charakter metaphorischer Sprache, die den Bildspender überträgt, nicht enteignet, es sei denn, sie weist darauf hin52.

46

Zur Definition vgl. Dorothea Baudy, Art. Kult/Kultus I. Religionswissenschaftlich, in: RGG 4 4 (2001) 1799-1802.

47

Vgl. die Ubersicht bei Klauck 1989a und vor allem den Durchgang durch kultische Terminologie in ekklesiologischen Aussagen von Strack 1994; auch Weiß 1954 und Denis 1958 interpretieren die hier ausführlich besprochenen Texte im Zusammenhang von Kultmetaphorik. Man kann zur Kultmetaphorik auch die Bezeichnung der Gemeindeglieder als άγιοι zählen (Rom 1,7; Phil 1,1; 4,22; Phlm 5; vgl. auch 1 Thess 4,3.7; die Bezeichnung fehlt signifikant in Gal), und nach Stracks Verständnis ist bereits έκκλησία ein kultischer Term (vgl. die Ubersicht a.a.O., i4ff). In i K o r 5,7 wird Jesus als Passalamm beschrieben, um die Schutz wirkende Bedeutung seines Todes für die Gemeinde zu beschreiben (vgl. Schröter 2003, 66f). Christologisch wird die kultische Terminologie auch bezogen in Rom 3,25; i K o r 15,20. Der Leib (1 Kor 6,19) bzw. das ethische Leben (Rom 12,1) wird sakralisiert, in Phil 3,3 auch in Negation der ursprünglichen „Beschneidung".

48

Fokal können fungieren ναός, θυσία, λειτουργεΓν κτλ., λατρεύειν, άφορίζειν, ίλαστήριον, πάσχα, σπένδεσθαι, ίερουργεϊν, προσφορά, άγιος u. weitere.

49

Wohl kein Zufall ist, dass spezifisch atl. Kultvorstellungen gerade in christologischem Zusammenhang abgerufen werden in Rom 3,25; 1 Kor 5,6-8. Das Emblem ist seit Wenschkewitz' Arbeit von 1932 beliebt zur Beschreibung übertragener Verwendungen von Kultbegriffen; zur Forschungsgeschichte vgl. Strack 1994, 375ft zur Problematik des Begriffs bereits Schüssler Fiorenza 1976, i59ff. Auch die an dessen Stelle vorgeschlagene heilsgeschichtliche Deutung von Weiß 1954, dass die Verwendung bei Paulus die „endgeschichtliche(r) Verwirklichung des Kultus" (a.a.O., 362) impliziere, verkennt den metaphorischen Charakter.

50

51

So aber Horst Balz, Art. Λειτουργία κτλ., in: EWNT 2 (^1992) 858-861: 860 mit älterer Literatur in Bezug auf Rom 15,16; Phil 2,17. - Kritisch zu solchen Konzepten etwa Hartwig Thyen, Art. θυσία κτλ., in: EWNT 2 ( 2 i992) 399-405.

52

Eine Konkurrenz zum Bildspender wird etwa in Phil 3,3 durch die Identifizierung und in Rom 12,1 durch λογική signalisiert. - Zur Kritik an der Lektüre als Neuinterpretation des Kultes durch Paulus vgl. insbesondere Strack 1994, 375ft. Zur Diskussion vgl. beispielhaft auch die Ausführungen § 7.3.3 über 1 Kor 3,16 f.

ι66

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

W i r k o n z e n t r i e r e n u n s hier auf die Texte, w e l c h e d i e R o l l e d e s P a u l u s in K u l t b i l d e r n k o n z i p i e r e n . Sie g e h ö r e n in e i n u m f a n g r e i c h e r e s e k k l e s i o l o g i s c h e s B i l d f e l d , d a s biblischer T r a d i t i o n folgt 5 3 . D i e K u l t - G e m e i n de-Metaphorik, die Metapher v o n der G e m e i n d e b z w . d e n einzelnen C h r i s t u s a n g e h ö r i g e n als „ T e m p e l G o t t e s " 5 4 , ist n i c h t p r o v o k a n t , d e n n b e i m B i l d e m p f ä n g e r g e h t es w i e b e i m B i l d s p e n d e r u m d i e B e z i e h u n g z u Gott. D i e k u l t i s c h e R e d e ü b e r t r ä g t eine p o s i t i v e W e r t u n g , G o t t n ä h e u n d - w o h l g e f ä l l i g k e i t d e r so P r ä d i z i e r t e n . U n g e w ö h n l i c h s i n d j e d o c h d i e k u l t i s c h e n M e t a p h e r n , m i t d e n e n P a u l u s seine A u f g a b e beschreibt. W ä h r e n d d i e G e m e i n d e b e z e i c h n u n g e n u n d - m e t a p h e r n statisch sind, s i n d d i e s e i m f o l g e n d e n b e s p r o c h e n e n Bilder d y n a m i s c h , i n d e m sie kultische H a n d l u n g e n u n d W i r k u n g e n übertragen.

1.3.1

P a u l u s als T r a n k o p f e r u n d O p f e r n d e r ( P h i l 2,17)

Der Philipperbrief ist durchzogen von einer Sinnlinie kultischer Metaphern. Abgesehen von der polemischen Umdefinition der Beschneidung (3,3 t) referieren die kultischen Metaphern auf zwischenmenschliche Relationen: Der Autor bildet nicht nur sein Handeln und Geschick (s.u.) mit Kultterminologie ab, sondern auch die Geldspende der Gemeinde (4,18 τά π α ρ ' ύμών, όσμή εύωδίας, θυσία δεκτή, εύάρεστος τω θεω) und das Wirken des Epaphroditus (2,25 Λειτουργός της χρείας μου) sowie der Gemeinde an ihm (2,30 ή πρός με λειτουργία sc. der Adressatinnen), λειτουργία κτλ. bezeichnet allgemein einen „Dienst", aber auch „Gottes-Dienst". Diese Bedeutung findet sich bereits im Bibelgriechisch der Septuaginta und auch sonst im NT, w o es zumeist den Tempeldienst bezeichnet 55 . Die kultische Assoziation wird durch die Rekurrenz von 2,17 (dort parallel zu θυσία) in 2,25.30 eingetragen. Werfen wir im folgenden nur auf die auf Paulus bezogene Aussage in 2,17 einen genaueren Blick, so bleibt doch bemerkenswert, dass die kultische Wertung im Phil nicht exklusiv dem Handeln des Paulus gilt (s. unten 2.3). Phil 2,17 gehört in den Abschnitt 2,12-18, in dem Paulus seinen in 1,27 begonnenen paränetischen Appell nach dem Christuslied 2,6-11 unterstützt durch Ausführungen über die gegenseitige Relation von Gemeinde und sich selbst56. Mit dem 1,27 wieder aufnehmenden Reflex des Verfassers auf seine Abwesenheit, die den brieflichen Parusie-Topos beachtlich variiert (vgl. § 2.2.2.2), beschwört Paulus „meine Geliebten", auch nun, da er abwesend ist, das eigene Heil z u wirken. Die Anrede lässt familäre Gefühle anklingen. Mit

53

Vgl. Strack 1994 zu den einzelnen Termini.

54

1 Kor 3,16t (vgl. § 7.3.3); 6,19; 2 Kor 6,16 (so der Text paulinisch ist).

55

Zur Bedeutung vgl. Balz EWNT 2, 859t; Strack 1994, 44-47; für kultische Referenz vgl. z.B. Ex 28,35LXX; N u m 8,22LXX; Lk 1,23; Hebr 10,11.

56

Z u dieser Gliederung bereits Dibelius Phil, 82.

Die Kultmetapher in Phil 2,17

167

d e r B e z e i c h n u n g d e r A d r e s s a t i n n e n als „ K i n d e r G o t t e s " ( V . 1 5 ) w i r d die G e s c h w i s t e r r e l a t i o n evoziert, w i e sie d a n n in d e r A n r e d e 4,1 α δ ε λ φ ο ί μ ο υ α γ α π η τ ο ί unter A u f n a h m e des Attributs expliziert w i r d . D e r Text ist gesättigt mit atl. A n s p i e l u n g e n 5 7 , unter ihnen a u c h atl. Metaphern 5 8 . D a s W i r k e n des M i s s i o n a r s u n d die A n n a h m e d e r B o t s c h a f t v o n d e n M e n s c h e n in P h i l i p p i w i r d n u n a u c h in d e r O p f e r m e t a p h e r V . 1 7 visualisiert. σ π έ ν δ ο μ α ι , θ υ σ ί α u n d λ ε ι τ ο υ ρ γ ί α f u n g i e r e n fokal, σ π έ ν δ ε ι ν ist terminus technicus f ü r d a s T r a n k o p f e r , d a s s o w o h l in p a g a n e n w i e in j ü d i s c h e n O p f e r riten selbstverständlich war 5 9 . N a c h d e m B i l d v o m L ä u f e r u n d Arbeiter überrascht j e d o c h d a s P a s s i v . D e r A u t o r zeichnet sich jetzt als m ö g l i c h e s „ L i b a t i o n s o p f e r " . W i r lesen d a s a m besten als A n s p i e l u n g d a r a u f , d a s s seine G e f a n g e n s c h a f t z u m T o d f ü h r e n könnte 6 0 , also die T r e n n u n g v o n d e r G e m e i n d e endgültig ist. D o c h w i e d a s L i b a t i o n s o p f e r i m K u l t n e b e n a n d e r e n O p f e r n vollz o g e n w i r d 6 1 , so a u c h h i e r : A u c h d a s aktive m i s s i o n a r i s c h e B e w i r k e n des G l a u b e n s unter d e n P h i l i p p e r i n n e n w i r d als O p f e r h a n d l u n g u n d Gottesdienst gezeichnet 6 2 . P a u l u s könnte g e r a d e b e i m O p f e r d i e n s t selbst z u m O p f e r w e r d e n .

57

Vgl. zu Aufnahme und Funktion Fee Phil, 242ff.

58

Der Familienmetapher aus Dtn 32,5, welche die Gemeinde von der Welt abgrenzt, folgt das Bild von der Gemeinde als Licht, Stern in der Welt (Dan 12,3LXX). Auf das Wirken des Absenders referiert in atl. Diktion die Arbeitsmetapher (V.i6c): Die Gemeinde wird der Ruhm ihres Missionars sein, wenn er sich nicht vergeblich abgemüht hat (so mit Jes 49,4).

59

Zur Bedeutung und allgemein-religiösen Verwendung vgl. O. Michel, Art. σπένδομαι, in: ThWNT 7 (1964) 529-537.

60

Diese Möglichkeit war bereits in i,2iff angesprochen worden; die Auslegung ist hier auch fast einig. Die entsprechende Metapher begegnet auch in 2 Tim 4,6; Ign Rom 2,2 und den in Anm.63 genannten Tacitus-Texten. (Anders deuten allerdings Denis 1958, 63off.642ff und Fee Phil, 253t es als Verbildlichung der Gefangenschaftssituation). Nicht notwendig ist jedoch auf das Vergießen von Blut angespielt, da davon im Kontext keine Rede ist (vgl. auch Fee Phil, 252 mit Anm.56).

61

Vgl. Michel ThWNT 7, 530.532. Libationsopfer (σπονδή, hebr. vor allem ηοι) stehen z.B. in Lev 23,37; Num 29,36-39 neben anderen Opfern.

62

θυσία und λειτουργία sind am besten als nomina actionis zu lesen (mit Lohmeyer Phil, 113 Anm.2; U.B. Müller Phil, 121 u.a.), bezeichnen also das Opfern und Dienen und fokussieren nicht das zu opfernde Tier bzw. die Gemeinde als Schlachtopfer. Ich lese es so, dass Paulus logisches Subjekt ist, πίστεως gen. objectivus: Paulus wird als Trankopfer geopfert, während er selbst den Opferdienst versieht, der den Glauben in Philippi gewirkt hatte (mit Lohmeyer ebd.; Dibelius Phil, 83; Weiß 1954, 357t; Strack 1994, 305t, der etwas anders deutet, dass das Libationsopfer noch zusätzlich zu dem anderen geschieht). Dies wird allerdings oft bestritten. Alternativ wird gedeutet, dass die Philipperinnen selbst ihren Glauben priesterlich darlegen, πίστεως daher gen. epexegeticus sei (so etwa Gnilka Phil, 154t; U.B. Müller Phil, 1 2 1 ; Klauck 1989a, 355f u.a.). Für die hier entfaltete Auffassung spricht nicht nur das Vorliegen der nämlichen Konzeptmetapher in Rom 15 (s. unten 1.3.2), sondern auch der das Metaphernverständnis lenkende Kontext, der bereits vom missionarischen Wirken des Paulus sprach (V.16). Zudem bleibt sonst unklar, wieso beide Opferhandlungen in einen Zusammenhang gestellt werden durch das έπί (hier am besten temporal oder gar kausal zu lesen; vgl. BDR § 235y).

ι68

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Die kultische Sprache deutet die Möglichkeit des gewaltsamen Todes, indem sie nicht nur das Wirken am Glauben der Philipperinnen und den möglichen Tod korreliert und beide implizit als Gott wohlgefällige Geschehnisse zeichnet. Zugleich wird die Widersinnigkeit dieses Geschehens dargestellt: Denn geopfert wird hier der, der selbst die Opfer darbringt. Paulus nimmt sich damit die Deutungshoheit über das gewaltsame Geschick, dem er ausgeliefert 1st63: Die Glaubensverkündigung wie der Einsatz des Lebens sind Akte des GottesDienstes. So begründet die Metapher die plerophore Aussage über die eigene Freude „mit euch allen" (V.17b) und die Aufforderung zur Mitfreude: Der mögliche Tod des Paulus ist kein Grand zu verzagen, sondern im Gegenteil, die eschatologische Freude 64 jetzt bereits zu erfahren und in der gemeinsamen Freude die räumliche Distanz zu überbrücken.

1.3.2

P a u l u s als Priester, d e r die H e i d e n d a r b r i n g t ( R o m 15,16)

A u c h im Rom fallen mehrere kultmetaphorische Aussagen an prominenten Stellen. Eine Klammer um das Briefkorpus bilden 1,9 (Λατρεύω) und 15,16 (λειτουργός, ιερουργών, προσφορά, ευπρόσδεκτος, s.u.), die beide auf das missionarische Handeln des Paulus referieren und Teil einer großen Inclusio des Briefes sind 65 . 12,1 überschreibt die folgende Paränese mit der Forderung nach λ ο γ ι κ ή λατρεία, indem die Körper als θυσία ζ ώ σ α αγία εύάρεστος bereitgestellt werden 66 . Anders als in dieser allgemein religiösen Sprache greift die Metapher von Christus als ίλαστήριον (3,25) auf die spezifisch atl. Tradition zurück 67 .

63

Ähnlich deuteten nach Tacitus, A n n 15,64,3 f und 16,35,1 Seneca und Paetus ihr von Nero gefordertes Sterben als Libationsopfer an Jupiter um (Texte im Neuen Wettstein 2/1, 690).

64

Vgl. zu diesem Verständnis der Freude § 6.3 5) ad i T h e s s 1,6f.

65

Z u m inklusiven Charakter vgl. Michel Rom, 362; Strack 1994, y j i und vor allem du Toit 1989,198ff mit ausführlichem A u f w e i s der inklusiven Gestaltung des brieflichen Rahmens und Schlussfolgerungen daraus für die Vermittlung des Briefanliegens. Kultmetaphorisch kann man auch die Selbstaussage 1,1 άφωρισμένος εις εύαγγέλ ι ο ν θεοϋ vernehmen (so Weiß 1954, 358; Strack 1994, 97ff), so dass Paulus sich als ausgesondert z u m heiligen Dienst beschreibt (vgl. Lev 20,26). - Nach Chae 1997 ist Rom I5,i4ff gar der Schlüssel z u m Verständnis des Rom als eines Briefes, der sich vor allem für die Inklusion der Heidinnen in das Gottesvolk einsetzt, wohingegen die Rechtfertigungsthematik untergeordnet sei.

66

Vgl. z u 12,1 insgesamt Wilckens Rom Bd.3, 4ff; Strack 1994, 29off zur Herkunft der Terminologie und ihrer Rezeption bei Paulus. Ob damit eine Spiritualisierung des Kultes (so etwa Haacker Rom, 253) oder eine Ethisierung der Gottesbeziehung (so Strack ebd.) impliziert ist, mag dahingestellt bleiben. Kultische Terminologie wird auch in der Bezeichnung der Adressierten als άγιοι (Rom 1,2-7) u n d i n π ρ ο σ α γ ω γ ή (5,2) sowie άφωρισμένος (ι,ι) aufgenommen; vgl. Strack a.a.O., ^yfi.i^iff.iy^K. Doch hier ist keine lebendige Metaphorik erkennbar.

67

Z u r Diskussion dieses umstrittenen Textes, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. nur Haacker, Rom 90ff; Schröter 2003, 63-66.

Die Kultmetapher in Rom 15,16

169

Im Interesse unserer Frage betrachten wir die elaborierte Metapher Rom 15,16 in ihrem Kontext I5,i4~2i 68 . Nach den ausführlichen theologischen Argumenten und Mahnungen des Briefkorpus beginnt Paulus den Briefschluss 69 mit Selbstaussagen 70 , die Gedanken des Präskriptes und Proömiums aufnehmen, und wiederholt seinen Besuchswunsch. Bevor der Autor ausführt, was er mit dem Besuch der Christinnen in Rom bezweckt (V.22ff), umreißt er zunächst sein Mandat, damit auch seine Rolle gegenüber der ihm persönlich nicht bekannten Gemeinschaft in Rom. Eine captatio benevolentiae 71 und Bescheidenheitsfloskeln bedeuten den Adressatinnen zunächst, dass nicht unterstellt sei, dass sie die Ausführungen des Briefes und die abschließende Fürbitte (15,13) nötig hätten: Der Briefschreiber wisse um die gute Gesinnung 72 und Erkenntnis und die Fähigkeit der Gemeinde, sich selbst zu ermahnen (V.14). Seinem gleichwohl ausführlichen Brief reicht der Verfasser eine Leseanleitung nach: Er habe, wohl gewagt, zur Erinnerung geschrieben „wegen der mir von Gott verliehenen Gnade" (V.15; vgl. 1,5). Adressatin dieser Gnade sind also durchaus auch die angeschriebenen Christinnen in Rom 73 . Der Autor konkretisiert dann seine Aufgabe, allerdings nicht spezifisch für die Adressatinnen. So schließt er den Kreis zum Briefanfang, zwar ohne terminologische Rekurrenz von απόστολος (ι,ι; 11,13) oder αποστολή (i,5), aber in Aufnahme der Inhaltsbeschreibung als εύαγγέλιον τοϋ θεοϋ 74 und Weiterführung der Aussagen über seine Sendung zu den Völkern (1,5.14; 11,13). Die im Mittelpunkt unseres Interesses, aber auch des Textabschnittes75 stehende Kultmetapher deutet die Sendung des Paulus zu den Heidinnen auf prägnante Weise, prägnanter offenbar, als es der bloße Verweis auf den Apostolat vermöchte. Die Selbstbeschreibung des Absenders als λειτουργός ΧριστοΟ Ίησοϋ εις τά εθνη fällt als eine von wenigen nominalen Selbstaussagen auf (vgl. noch 1,1; 11,13). Syntaktisch und semantisch klingt die Superscriptio an (δοϋλος Χρίστου Ίησοϋ). Doch das folgende Partizip ιερουργών 76 weckt eine kultische Vorstellung. Paulus ist Kultdiener Christi

68

Zum Text unter der Perspektive der Kultmetaphorik, die in den meisten Kommentaren nur beiläufig behandelt wird, vgl. besonders die ausführliche Analyse Stracks 1994,19-95.

69

Vgl. zur Gliederung nur Wilckens Rom Bd.3,117; Klauck 1998, 229.

70

Zur Dominanz der 1. Pers. Sg. vgl. Strack 1994, 27-30. Ähnlich stellt sich der Verfasser nur im Präskript und Proömium sowie 9,1-5 heraus; vgl. auch 12,3.

71

So mit Wilckens Rom Bd.3,117; Strack 1994, 34.39 u.a.

72

So ά γ α θ ω σ ύ ν η mit Wilckens Rom Bd.3,117 Anm.563.

73

Vgl. 1,14 und vgl. Reichert 2001,139.

74

Vgl. 1,1 und 1,9 mit 15,16; die Rekurrenz von εύαγγέλιον (τοϋ θεοϋ) ist auffällig, da ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν κτλ. im Rom selten vorkommt.

75

Vgl. Strack 1994, 32f.

76

Das Verb ist hapax legomenon im NT und auch sonst sehr selten, so dass seine Bedeutung nicht präzise zu erfassen ist. Deutlich ist jedoch, dass es „priesterliches Handeln" bezeichnet. Vgl. Ponthot 1986, 257ff zu Auslegungsfragen; Strack 1994, 47-49 zum Vorkommen sonst; zur Bedeutung der anderen hier kultisch assoziierten Termini Strack a.a.O., 44ff.

170

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

J e s u , „ d e r d a s E v a n g e l i u m Gottes priesterlich v e r w a l t e t , d a m i t die D a r b r i n g u n g der H e i d e n v ö l k e r ( G o t t ) w o h l g e f ä l l i g w e r d e als geheiligte i m heiligen G e i s t " 7 7 . Deutlicher als in der e n t s p r e c h e n d e n M e t a p h e r v o n d e r M i s s i o n als k u l t i s c h e m Dienst in Phil 2,17 u n d in i K o r 9A3 78 erscheint P a u l u s hier als „ P r i e s t e r " 7 9 . D o c h a u c h dieser Text zeigt k e i n präzises B i l d u n d hebt natürlich nicht auf die V o r s t e l l u n g ab, d a s s die H e i d i n n e n P a u l u s z u m O p f e r fallen 8 0 . Deutlich w i r d g l e i c h w o h l , d a s s die V ö l k e r A d r e s s a t e n des W i r k e n s sind u n d d a s s P a u l u s sie in die G o t t e s b e z i e h u n g stellt, i n d e m sie „ k u l t f ä h i g " , Gott w o h l g e f ä l l i g w e r d e n d u r c h d e n heiligen Geist, w a s sie n a c h israelitischem Kultk o n z e p t g e r a d e nicht w a r e n 8 1 . W e l c h e I n f e r e n z e n regt die K u l t s p r a c h e a n ? D i e B e s c h r e i b u n g d e r H e i d i n n e n als v o n Gott a n g e n o m m e n e , v o n i h m geheiligte K u l t g a b e f a s s t die argumentativ v o n 1,16 ab b e g r ü n d e t e U b e r z e u g u n g in ein Bild, d a s s die E v a n g e l i u m s v e r k ü n d i g u n g an die H e i d i n n e n ( 1 , 1 6 ) g o t t g e w o l l t ist u n d die V ö l k e r in dieselbe Relation z u Gott f i n d e n k ö n n e n w i e Israel ( 3 , 2 8 - 3 0 ; 1 5 , 8 f ) . D i e s e H i n f ü h r u n g geschieht eben d u r c h die gottverliehene 8 2 W i r k s a m k e i t d e s A d r e s s a n t e n , des „ A p o s t e l s der V ö l k e r " ( 1 1 , 1 3 ) . P a u l u s ist mit seiner b e s o n -

77

Übersetzung nach Strack 1994, 26; zur Übersetzung der Genitiv-Verbindung vgl. unten Anm.8o.

78

Dort wird mit der Praxis der Priester, sich vom Opferdienst zu ernähren (vgl. Lev 6,7-11; Num 18,31; s. Strack 1994, ii2ff), für das Unterhaltsrecht der Apostel argumentiert. Die Priester werden angeführt neben anderen Arbeitern aus dem Agrarbereich (9,7) und dem dreschenden Ochsen (9,10).

79

Die Redeweise weckt, im Interesse am „Amtsverständnis" des Paulus oder der Kirche, Fragen, inwiefern Paulus sich als „Priester" verstand; vgl. etwa Ponthot 1986; Strack 1994, 73ff. Cranfield Rom, 754-756 versucht das zu vermeiden, indem er gemäß der in der LXX belegten Bezeichnung der Leviten als λειτουργοί vorschlägt, dass auch Paulus sich darstellt als Levit, der dem Priester Jesus zur Hand geht. Die Fragen resultieren m.E. aus einem ontologisierenden Missverständnis der metaphorischen Aussage.

80

Das scheint anstößig, weil es mit der Idee konkurriert, dass Jesus Christus das einzig wahre Opfer ist. Die Lösung von Denis 1958, 405t u.a. (vgl. Strack 1994, 29 Anm.19), των έθνών als gen. subjectivus zu fassen, so dass also die Heiden sich selbst darbringen, vernachlässigt die Bedeutung der 1. Pers. PI. (mit Strack 1994, 29). Überfrachtet ist die Metaphorik allerdings auch bei Strack 1994, 67ft, der sie aufgrund einer Rekonstruktion des atl. Kultes als Sühnegeschehens von einer Sühnechristologie her füllen will: „Die Heiden werden von Paulus durch die Evangeliumsverkündigung dem Kreuzesgeschehen inkorporiert und sind insofern προσφορά" (71). Doch im Kontext fehlt jede Korrelation von Heidinnen und Christus als Opfer.

81

Mit Strack 1994, 77. Zum Heiligkeitskonzept und der Verwendung bei Paulus insbesondere im Blick auf die Erwählung der Heidinnen vgl. auch a.a.O., 57ff. Mit diesem Aspekt der Heiligkeit der Christinnen liegt die Metaphorik auf einer Linie von Rom 12,1, freilich ohne terminologische Rekurrenz (mit Ponthot 1986, 259). Die Rede von der Heimbringung der Diasporajuden als „ G a b e " (δώρον für rmn, Jes 66,2oLXX) zeigt dassselbe Bildfeld (vgl. Kuschnerus 2002, 125), erklärt jedoch die Pragmatik der paulinischen Aussage nicht.

82

Gott bzw. Jesus Christus sind „tiefengrammatisches Subjekt", vor allem in V.i7f (mit Strack 1994, 29).

Die Kultmetapher in Rom 15,16

171

deren Gnade ein besonderer „Gottes-Dienst" verliehen worden. Zwar impliziert die Priesterrolle keine Einzigartigkeit wie etwa das Vaterbild, doch eine herausgehobene Vermittlerfunktion zwischen Menschen und Göttlichem. Die Metapher soll jedoch nicht nur zeigen, dass Paulus mit der Heidinnenmission göttlichem Willen folgt. Sie schreibt auch Paulus in dieser vertikalen Bewegung der Heidinnen zu Gott83 ein und blendet die lokale Perspektive aus: Erstens ist die Sendung des Paulus wie die Gottesverehrung nicht auf bestimmte Orte beschränkt®4, sondern translokal und ökumenisch. Dies zeigt V.ic)b mit großzügiger Geste an der Weltkarte85. Zweitens deutet bereits die Metapher vom Priester und seinem Opfer auf die Initiatorenrolle, welche die folgende Baumetapher und das Schriftzitat (V.2of) genau zeichnen: Wie ein Opfer nur einmal Gott dargebracht wird 86 , so will Paulus Gottesbeziehung initiieren, nicht bestehende Gemeinden organisieren, will Fundamente legen, nicht weiterbauen. Die „Zielgruppe" des Paulus ist, wie die Metapher und das abschließende Jesajazitat (V.20) 87 zeigen, geradezu komplementär zu den Adressatinnen in der freundlichen Beschreibung eingangs des Abschnitts (V.14). Er will Weiterreisen nach Spanien, wenn er seinen Dienst an Jerusalem erfolgreich ausgeführt hat (i5,25ff), in Rom aber sich „mit euch zusammen erholen" 88 . Schreibt Paulus als der Apostel der Völker den Christinnen in Rom seine Interpretation des Evangeliums und des ihm gemäßen Lebens ausführlich, so sieht er doch seine eigentliche Aufgabe bei anderen89.

83

Diese Bewegung zu Gott verbildlicht προσφορά (von προσφέρειν - hinzubringen), anders als etwa θυσία, mit dem es oft kombiniert wird (vgl. etwa Ps 39,7ff; Eph 5,2).

84

Auch darum ist es fehlgeleitet, hier insbesondere Implikationen für den Jerusalemer Kult zu assoziieren.

85

Inwiefern diese Aussagen der Realität entsprechen, mag dahingestellt bleiben (zu den Anfragen vgl. Haacker Rom, z.St.). Das universale Ideal begegnet etwa auch in Mt 20,19; Apg 1,8 (mit Wilckens Rom Bd.3, ligf).

86

Die manche Exegeten irritierende, da zu Christus als Opfer scheinbar konkurrierende Bezeichnung der Heidinnen als προσφορά vermag gerade diesen einmaligen Aspekt abzubilden.

87

Zur möglichen intertextuellen Valenz des Zitats vgl. Strack 1994, 88ff; Wilk 1998, 8082; Wagner 2002, 329 ff. Dass die Prophetie Jes 52,7-12 im Hintergrund des größeren Textzusammenhangs steht, macht Wilk a.a.O., 233-235 wahrscheinlich. Wagner (ebd.) liest das Zitat im Kontext von i5,7ff als Ankündigung der Heidenmission des Paulus, der nicht explizit identifizierte Knecht sei aber nicht Paulus, sondern Christus.

88

So 15,32 in der Übersetzung Haackers Rom, 302.

89

Anders Reichert 2001,139t vgl. auch 97t, die die Bau-Metapher als Beschreibung der Funktion für die Adressatinnen liest: „Deren Platz ist also hier wie in 1,13-15 an der Seite der ,Missionsobjekte' des Verfassers" (140). Paulus wolle auch in der nicht zentral organisierten Christenheit in Rom gemeindebauend wirken. Nach vorliegender Analyse differenzieren die Priester- und die Baumetapher und ihr Kontext gerade zwischen den Adressatinnen und der Zielgruppe des paulinischen Apostolats.

172

Die Metaphern zur Beschreibung der A u f g a b e des Paulus

1.3.3

Paulus als Christi Duft vor Gott und den Menschen (2 Kor 2,14-16)

D i e D u f t m e t a p h e r 2 K o r 2 , i 4 b - i 6 a f o l g t d e r „ T r i u m p h z u g m e t a p h e r " 2,14a ( v g l . u n t e n 1.5.1) u n d d a m i t d e m M o t t o „ D a n k sei G o t t " (2,14a). D i e A u s l e g u n g d i e ser V e r s e ist m i t e i n e r M e n g e P r o b l e m e n belastet, d e r e n L ö s u n g a u f Z e i l e n n i c h t a n g e m a ß t sei9" Fokus

benannt:

όσμή

und

N u r mit z w e i Wörtern w i r d der εύωδία.

Dieses

Begriffspaar

wenigen

metaphorische

weist

auf

einen

kultischen Kontext91. D e r G e d a n k e v o m D u f t liegt nicht fern v o n d e m

des

T r i u m p h z u g e s , w e i l a u c h d i e s e r k u l t i s c h s i g n i e r t ist u n d D u f t als E p i p h a n i e z e i c h e n kennt92. D e r Text wirft viele g r a m m a t i s c h e F r a g e n auf93 u n d

irritiert,

weil die Duft-/Geruch-Aussagen keine kohärente Szene ergeben. W i r g e h e n v o n d e n Textsignalen aus94: V o n der anschließenden Frage V . i 6 b n a c h d e r B e f ä h i g u n g π ρ ό ς τ α ϋ τ α h e r ist d i e M e t a p h e r als B i l d v o m W i r k e n d e s

90

91

Z u d e n Deutungsalternativen s. Thrall 2 Kor B d . i , 196ff; z u r A n a l y s e vgl. v o r allem Strack 1994, u f f (textanalytisch u n d im Fokus des Bildspenders K u l t ) ; K u s c h n e r u s 2002, 101 ff.112ff ( z u r grammatischen, rhetorischen u n d metaphorischen A n a l y s e des Textes). ό σ μ ή ε ύ ω δ ί α ς (Phil 4,18; Eph 5,2) ist die stereotype LXX-Wiedergabe v o n ΠΓΡίΠ m b z w . ΠΙΠΤΠΉ ( v g l . G e n 8 , 2 1 ; L e v 1 , 9 . 1 3 u . ö . , ü b e r t r a g e n z . B . i n S i r 3 9 , 1 4 ; l Q S

8,9).

Z u m hebräischen D o p p e l a u s d r u c k vgl. Bechmann 2000, 6 i f f ; z u m antiken K o n z e p t v o n D u f t vgl. K ü g l e r 2000 u n d immer noch E. L o h m e y e r 1919. Eine kultische Konnotation sehen auch H a f e m a n n 1986, 86ff; Strack 1994, i 2 6 f f ; Thrall 2 Kor B d . i , i g 8 f f ; K u s c h n e r u s 2002,120ff u.a.; d a g e g e n votiert insbesondere A t t r i d g e 2003, 83f.87f, vgl. auch Zeilinger 1997, 55ff. Beide stellen den D u f t in den Kontext d e s „ G e s a l b t e n " Χριστός (Attridge ebd., Zeilinger 1997, 56, so z.B. schon W i n d i s c h 2 Kor, 98). A n d e r e beschreiben den Bildspendebereich nur als Duft, ohne kultisches K o n z e p t , so Gerhard Dautzenberg, Art. εύωδία u n d ό σ μ ή , in: E W N T 2 (^992) 226-229. 92

V g l . z u r Diskussion ausführlich A t t r i d g e 2003, 72ft. D e n Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n T r i u m p h z u g u n d K u l t d u f t stellt insbesondere K ü g l e r 1998 heraus. M a n k a n n also d e n D u f t als Teil des militärisch verstandenen T r i u m p h z u g b i l d e s sehen, w i e neben vielen älteren K o m m e n t a r e n neuerdings etwa Fitzgerald 1988, i 6 i f f ; Breytenbach 1990; K ü g l e r 1998. D a z u passt aber die Beschreibung der ambivalenten D u f t w i r k u n g u n d der V e r s 16a nicht (vgl. z u diesen A r g u m e n t e n v o r allem Schröter 1993, 27t). U m g e k e h r t ist vorgeschlagen w o r d e n , θ ρ ι α μ β ε ύ ε ι ν v o m kultischem Z u s a m m e n h a n g her z u verstehen als nicht militärische, sondern religiöse Prozession (vgl. unten 1.5.1). W e d e r die eine noch die andere Z u o r d n u n g v e r m a g die Explizierung u n d die Pointen der D u f t m e t a p h e r z u erklären. D a r u m fasse ich die b e i d e n M e t a p h e r n unabh ä n g i g auf.

93

N e b e n der 1. Pers. PI. (vgl. d a z u unten 2.1) kann auch das α ύ τ ο ϋ in V.14C auf Verschiedenes b e z o g e n w e r d e n . Die Kasus in V . i 5 a lassen ebenfalls mehrere D e u t u n g e n zu. Z u τ ω θ ε ω vgl. unten A n m . 9 8 ; ΧριστοΟ εύωδία k a n n als objektiver, subjektiver oder epexegetischer Genitiv aufgefasst w e r d e n ( z u r Diskussion K u s c h n e r u s 2002, 103).

94

Die D e u t u n g der Metaphern durch ihren sie determinierenden Kontext macht Schröter z u m A u s g a n g s p u n k t seiner Interpretation (1993, 24ff). W e n n er allerdings d a z u nicht, w i e hier, Textsignalen u n d R a h m e n folgt, sondern seinem Verständnis des g a n z e n Abschnittes als prononcierter Entfaltung des Apostolates des Paulus als Mitt-

Die Kultmetapher in 2 Kor 2,14-16

173

Verfassers zu lesen (und ggf. anderer von besonderer Position), έν παντϊ τόπω führt das πάντοτε von W.i^a weiter und betont die Universalität des Wirkens. Die adressierte Gemeinde wird im Bilde nicht erfasst. Auf allgemeine Wirkung deuten auch die Präsentia sowie das Verb φανεροϋν. Die Metaphern konzipieren das Wirken allerdings dreifach. Zunächst (V.i4b) offenbart Gott „durch uns" den „Geruch seiner Erkenntnis". Das Attribut γνώσις zeigt, dass dies Geschehen positiv ist. Wir sehen eine durch Offenbarungssprache verdeutlichte vertikale Bewegung Gottes zu den Menschen, die durch Paulus vermittelt wird. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass der Duft den Menschen die Gegenwart Gottes anzeigt95. In V.15 wird dann die bislang nur präpositional behauptete (δι' ήμών), aber im Bilde nicht erfasste Vermittlung des Paulus visualisiert. Die Identifizierung des Verfassers mit Christi Wohlgeruch für Gott ist sprachlich hervorgehoben 96 und zeigt: Paulus ist nicht Christus, aber er ist das, was Christus verströmt 97 . Die Wirkung wird, wie für Opferduft üblich, auf Gott bezogen98. Betont ist jedoch weniger Gott als Adressat denn die extravagante Identifizierung des Verfassers mit dem Duft, der Außenwirkung Christi99. Eben dieser Aspekt wird mit V.i5b.i6a vertieft 100 , und hier wird die Wirkrichtung des Duftes resp. Geruchs so wie in V.i4a wieder auf die Menschen bezogen. Der Geruch wirkt zwiefältig, wie durch Aufnahme einer geläufigen Opposition von eschatologisch konnotierten Worten, in verschränktem Parallelismus aufgezeigt wird. Als Gestank vom Tod 101 oder Geruch vom Leben entfaltet Paulus eine doppelte Wirkung,

lerdienstes und als grundsätzliche Aussage über die Berufung, schließt er den hermeneutischen Zirkel kurz. 95

Vgl. vor allem Strack 1994, i3if zum Ort solcher Epiphanieerfahrung im Opferkult. Ähnlich auch Wolff 2 Kor, 55; Kuschnerus 2002,114 f; Dautzenberg EWNT 2, 227.

96

Mit Strack 1994, 119. Die Metaphernbildung mag anknüpfen an Sir 24,15, wo die Weisheit als göttlicher Geruch prädiziert wird (mit Kügler 1998,163t u.a.).

97

Der Genitiv ist hier also als subjectivus bzw. auctoris aufgefasst (anders etwa Wolff 2 Kor, 56: Leute, „die nach Christus ... duften"). Der Unterschied ist allerdings nicht groß, insofern der Duft eines Menschen nach dem Menschen duftet.

98

Gott ist als Adressat des Geruchs zu verstehen, obschon sich die Richtung des Duftes gegenüber V.i4b.i5b umkehrt, sowohl von der Grammatik her (vgl. BDR §190^ als auch vom Bildspendebereich (der Geruch des Brandopfers ist Gott angenehm, vgl. Kuschnerus 2002,121). Anders z.B. Zeilinger 1997, 56 (dativus commodi).

99

Vgl. ausführlicher Kuschnerus 2002,126.120. Strack 1994,133f vernimmt hier eine Andeutung an das Verkündigungsverständnis im Sinne eschatologischen Opfervollzugs. Deutlicher noch sieht Hafemann 1986, 51ft die Rede vom Opfer Christi impliziert. Für ihn liegt hier die Kohärenz zwischen der Triumphzugmetapher, die Paulus als zum Tode Geführten darstelle (vgl. zu dieser These unten 1.5.1), und der Opfermetapher, insofern diese auf das Sterben Christi hindeute. Der Text hebt darauf jedoch explizit nicht ab.

100 Vgl. zu den wiederum vielfältigen Fragen der Deutung Thrall 2 Kor Bd.i, 202ft. 101

Die Verbindung von Tod und Gestank ergab sich aus dem Verwesungsgeruch, vgl. Kügler 1998, 165 zum „Gestank als Symbol des Todes"; Bechmann 2000, 60 zu atl. Belegen der Verbindung „Gestank und Tod".

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

174

z u m T o d o d e r z u m L e b e n : Er w i r k t die jetzt bereits b e g i n n e n d e eschatologische S c h e i d u n g 1 0 2 . F a s s e n w i r diese drei M o m e n t a u f n a h m e n z u s a m m e n in ein Bild, so sehen w i r die B e z i e h u n g Gottes zu d e n M e n s c h e n als S i n n e s e r f a h r u n g , die d u r c h Christus vermittelt wird, den der Adressant vergegenwärtigt. Der B i l d s p e n d e b e r e i c h K u l t trägt bereits diese horizontale P e r s p e k t i v e der Bezieh u n g Gottes z u d e n M e n s c h e n ein. D i e A s s o z i a t i o n v o n „ G e r u c h " ist die einer v o n e t w a s a u s g e h e n d e n , aber v o n i h m d i f f e r e n t e n sinnlichen W i r k u n g . D i e s e ist Z e i c h e n d e r E p i p h a n i e Gottes. D e r V e r f a s s e r schreibt C h r i s t u s u n d sich ein in die a u s d e m K u l t g e l ä u f i g e V o r s t e l l u n g , d a s s Gottes G e g e n w a r t i m D u f t des O p f e r s p r ä s e n t w i r d u n d der O p f e r d u f t Gott selbst a n g e n e h m ist. D o c h z u g l e i c h ist d e r G e r u c h ambivalent. D i e M e t a p h e r zerfällt w i e d e r in einzelne Bilder, betont j e d o c h z u s a m m e n g e s e h e n die u n i v e r s a l e Mittlerrolle d e s Verf a s s e r s v o n eschatologischer Relevanz 1 0 3 . D i e s e Rolle ist trotz ihrer v e h e m e n t e n W i r k u n g p a s s i v konzipiert. D i e f o l g e n d e n Kapitel v e r d e u t l i c h e n die A u f g a b e d e s P a u l u s als Vermittlers z w i s c h e n Gott u n d d e n M e n s c h e n z u r V e r g e g e n w ä r t i g u n g des W i r k e n s Christi 1 0 4 . Ü b e r b l i c k e n w i r die drei A d a p t i o n e n der K u l t m e t a p h o r i k auf d a s Wirk e n d e s P a u l u s , so zeigt sich, d a s s sie sehr u n t e r s c h i e d l i c h e

Aspekte

des Kultus übertragen u n d ebenso unterschiedliche A s p e k t e des Bildempfängers visualisieren.

Strukturierend

wirkt das

Rollenrepertoire

v o n verehrter Gottheit, v e r e h r e n d e n M e n s c h e n u n d Mittler b z w . Verm i t t e l n d e m . G e m e i n s a m ist a u c h , d a s s a u s d e m K o n z e p t d e s nicht

der

Gedanke

an

einen

hervorgehobenen

Ort

der

Kultus

Gottesver-

102 Mit Wolff 2 Kor, 56. Zur Deutung der präpositionalen Wendungen in V.i6a als Beschreibungen von Prozessen vgl. Zeilinger 1997, 57t. Diese doppelte Valenz des Geruchs ist schwerlich vom Bildspender her abzuleiten (vgl. nur wenige Parallelen in Colpe/Berger 1987 z.St.; in diese Richtung weist etwa Schröter 1993, 24), eher vom Bildempfänger her eingetragen (so vor allem Dautzenberg EWNT 2, 228), denn im kultischen Zusammenhang ist die negative Wirkung des Geruchs nicht beheimatet. So oder so greift der Text über das Gewöhnliche hinaus, auch wenn er im Bereich von Geruchserfahrungen bleibt. Dass diese doppelte Wirkung von der Wahrnehmung der Botschaft abhängt (so vor allem Kuschnerus 2002, 128), wird in der Metapher gerade nicht dargestellt. - In vielen Auslegungen wird diese Opposition bzw. die ganze Aussage von i K o r 1,18 her christologisch aufgefüllt (so z.B. Hafemann 1986, 50.55ft; Strack 1994, 136t; Kuschnerus 2002, i3off). Damit wird der Text auf eine von ihm nicht indizierte Weise gefüllt. Angemessen ist, die Offenheit des Textes von den folgenden Ausführungen her zu präzisieren (so Kuschnerus 2002, i32ff). Doch trotz der terminologischen Berührungen zu 3,13-18; 4,iof bleibt ein Unterschied, da dort Paulus seine Wirksamkeit nur im positiven Sinne entfaltet. 103 Vgl. Thrall, die jenseits aller Auslegungsfragen die Bedeutung zusammenfasst: "The apostolic proclamation is the medium of universal divine revelation" ( 2 K o r Bd.i, 196). Diese Rolle des Paulus wird im übrigen auch akzeptiert, wenn die Metaphorik nicht kultisch verstanden wird, vgl. etwa Schröter 1993, 30t; Zeilinger 1997, 50f. 104 Dieses Vermittler-Konzept wird mit dem Wort διάκονος und weiteren Metaphern (5,18-20) kommuniziert und ist nicht im Begriff απόστολος impliziert. Vgl. dazu §4.2.1.

Die Kultmetapher in 2 Kor 2,14-16

175

ehrung, sondern die Gottesverehrung selbst übertragen wird. Die Metaphorik überträgt die allgemein geteilte Hochschätzung der Gottesverehrung als Ausdruck der Gottesbeziehung auf die Evangeliumsverkündigung des Paulus. Deshalb sind die drei behandelten Texte nicht zu lesen als Ausdruck der „Spiritualisierung" des Kultus oder einer impliziten Kultkritik. Sie nehmen zum praktizierten Kult, sei es dem jüdischen, sei es dem paganen, ebenso wenig Stellung wie die Familienmetaphorik zur Existenz genealogisch verbundener Familien 105 . Der Autor konzipiert trotz des gemeinsamen Bildspendebereichs seine eigene Rolle je unterschiedlich. Nur in Phil 2,17 und Rom 15,16 entwirft Paulus sich als Kultdiener und Darbringer von Opfern. Im Rom beschreibt er so seine spezifische Aufgabe an den Heidinnen. In Phil hingegen billigt er diese Metapher auch anderen zu und beschreibt seine hervorgehobene Rolle damit, dass er opfernd selbst Opfer werden könnte. Mit der bei Paulus ohnehin nur selten begegnenden Vorstellung von Christus als Opfer wird dies nicht korreliert. Ein die Evangelisierungsarbeit oder Beziehung zu den Gemeinden allgemein prägendes Konzept liegt hier nicht vor. Für das Selbstportrait im jeweiligen Briefkontext sind diese beiden Bilder jedoch von besonderer Strahlkraft.

1.4

Brief

Angesichts der Bedeutung der Briefe in der Beziehungskommunikation der Antike allgemein und für Paulus speziell (vgl. § 2 ) überrascht es nicht, dass er dieses Medium zu einer originellen und wichtigen Metapher für seine Bedeutung und die Beziehung der Gemeinde von Korinth zu ihm macht (2 Kor 3,1-3). Aus der Praxis des Schriftverkehrs stammt auch die Rede von der Gemeinde als σφραγίς in 1 Kor 9,2. Ähnlich wie in 2 Kor 3,1-3 beansprucht Paulus dort die Gemeinde als das sichtbare Indiz seines Erfolges 106 , in diesem Falle als Zeichen seines Apostolates. Er prädiziert die Gemeinde als sein έργον (vgl. oben 1.1) und fährt fort: ή γ α ρ σφραγίς μου της αποστολής ύμεϊς έστε έν κυρίω. Die in der Antike ganz verbreitete Praxis der Ver- oder Besiegelung diente der sichtbaren Beglaubigung eines Dokumentes oder Briefes. Ein Siegel 105 Sie sind aber auch nicht zu verwenden als Begründung eines besonderen priesterlichen Amtes aus dem NT, wie es Schelkle 1956 tut in Abwehr des evangelischen Verständnisses von der Wortbezogenheit des Amtes. Auch damit ist der metaphorische Charakter verkannt. 106 Vgl. Scholtissek 2000,185t zur „Sachanalogie" zwischen beiden Metaphern.

176

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

ist einzigartig u n d v e r w e i s t als Zeichen auf ein bestimmtes Individuum 1 0 7 . N a c h 1 K o r 9,2 beglaubigt die G e m e i n d e durch ihre Existenz e x k l u s i v den Apostolat des Paulus 1 0 8 .

1.4.1

Der allseits bekannte Empfehlungsbrief Paulus (2 Kor 3,1-3)

Eine vitale Metapher großer A u s s a g e k r a f t spricht v o m Verhältnis des Paulus zu den Adressatinnen, n a c h d e m die T r i u m p h z u g - u n d D u f t m e t a p h e r n in 2 Kor 2 , 1 4 - 1 6 seine Wirksamkeit v o n Gott her dargestellt hatten. 3,1 bringt das Stichwort der Selbstempfehlung ein, das immer w i e d e r im Briefteil b e g e g n e n wird 1 0 9 , u n d präzisiert es dann im Blick auf den Bedarf an brieflichen Referenzen. „ B e g i n n e n w i r , u n s noch einmal z u e m p f e h l e n ? 1 1 0 Brauchen w i r etwa, w i e manche, E m p f e h l u n g s b r i e f e f ü r euch oder v o n e u c h ? " (V. 1). Die Fragen nach Selbstempfehlung u n d N o t w e n d i g k e i t v o n Referenzen folgen auf die selbstbewusste A u s s a g e 2,17b des Paulus 1 1 1 . Beide Fragen verneint die Briefmetapher. Mit vielen fokalen Worten w e c k t sie die Vorstellung v o m Briefschreiben u n d -lesen im engeren Sinne u n d v o m Schreiben i m weiteren Sinne 1 1 2 . Der Text spielt nicht mit einer bekannten Konzeptmetapher, sondern mit der Praxis „ g e w i s s e r L e u t e " , sich E m p f e h l u n g s b r i e f e v o n den A d r e s s a t i n nen ausstellen zu lassen oder mit solchen bei ihnen anzureisen (3,1b). Im Kontrast dazu 1 1 3 w i r d n u n die G e m e i n d e prädiziert: „ U n s e r Brief seid ihr, ein107 Zu den Realien vgl. Fitzer, Art. σφραγίς κτλ., in: ThWNT 7 (1964) 939-954: 93gff; zur häufigen metaphorischen Verwendung (bei Paulus auch in 2 Kor 1,22 in Bezug auf die Taufe, in Rom 4,17 in Bezug auf die Beschneidung) a.a.O., 943. 948ff. 108 Vgl. auch Schräge xKor Bd.2, 290; Tim Schramm, Art. σφραγίς, in: EWNT 3 ( 2 i992) 758-761: 759. Damit erhebt Paulus einen gewissen Besitzanspruch, zeigt aber auch seine Abhängigkeit von der Gemeinde (vgl. Merklein 1 Kor Bd.2, 214). 109 Vgl. 4,2; 5,12; 6,4. 110 πάλιν im Sinne von „erneut" (vgl. § 8.4.6.1) bezieht sich auf συνιστάνειν. Die Frage impliziert also, dass es eine Selbstempfehlung gab, dass aber keine erneute Empfehlung nötig ist. Vorausgesetzt ist nicht, dass die Praxis der Selbstempfehlung per se verpönt ist, wie Paulus sie auch in 4,2; 6,4 für sich in Anspruch nimmt (mit Thrall 2 Kor Bd.i, 218; Gruber 1998, i7iff; Schröter 1993, 49. Wenn Schröter und ähnlich Zeilinger 1997, 67, für πάλιν deshalb eine adversative Bedeutung annehmen, passt dies kaum zur rhetorischen Frage. Zeilinger a.a.O., 64 übersetzt auch gar nicht adversativ, sondern „erneut"). 111 Zur Referenz der 1. Pers. PI. auf Paulus vgl. unten 2.1. 112 έπιστολή (bis), εγγεγραμμένη (bis), γινωσκομένη και άναγινωσκομένη, μέλαν. Die Struktur und semantische Spannung der Metapher ist sehr gut dargestellt durch Kuschnerus 2002,150-172. Zum Bildspender „Empfehlungsbriefe", die hier nicht per se negativ gesehen werden, vgl. Schröter 1993, 51ft; Klauck 1998, 75-79; Scholtissek 2000, i94ff. 113 Der Kontrast wird durch die Asyndese und den syntaktischen Chiasmus zwischen V.ib und V.2a unterstrichen. Die metaphorische Prädizierung der Adressierten ist betont durch das Nebeneinander der Personalpronomina in V.2a (mit Kuschnerus 2002,152).

Die Briefmetapher 2 Kor 3,1-3

177

graviert in unsere Herzen" (V.ia.b). Diese Metapher überträgt also nicht nur vom Bildspender zum Bildempfänger, sondern behauptet geradezu umgekehrt: Die Prädizierten substituieren als „eigentliche Wirklichkeit" den Bildspender, die herkömmlichen Empfehlungsbriefe 114 , für den Verfasser 115 . Aufgrund der Explikation des Bildspenders tritt zunächst ein deutliches Bild vor Augen: Die Gemeinde ist der Empfehlungsbrief des Paulus, ihm selbst ins Herz geschrieben" 6 und damit „bekannt und gelesen von allen Menschen" 1 1 7 . War in 3,1 fin sowohl von Referenzen die Rede, die in Korinth vorgelegt werden, als auch von solchen, die dort ausgestellt werden, so geht es hier also nur um letztere. Dass Paulus in der Gemeinde von Korinth eine Empfehlung nötig hätte, zieht der Text nicht einmal als Möglichkeit in Betracht. Er behauptet vielmehr hyperbolisch eine öffentliche Bekanntheit der korinthischen Gemeinde, die weit über die üblicher Empfehlungsschreiben hinausgeht. Die Beziehung von Paulus und Gemeinde ist dabei paradox anmutend innigst 118 und zugleich ein „offener Brief" (φανερούμενοι V.3a), weiß doch alle Welt, dass die Gemeinde „eingraviert" ist in das Herz des Paulus (V.2b) 119 . Das spielt offenbar darauf an, dass Paulus allgemein als Begründer des christlichen Glaubens in Korinth gilt (vgl. 1 Kor 4,15; 2 Kor 10,12ff; 11,2). Dieses übersichtliche Rollenrepertoire wird in V.j erweitert in einer Weise, die nicht mehr ganz durchsichtig ist und die Perspektive etwas verschiebt. Eindeutig aber ist die Pragmatik, die Beziehung zwischen Paulus und seinem „Brief" als christus-, gott- und geistbestimmt zu zeigen. Nach dem Vergleich der Wirkungen V.2 soll er nun auch inhaltlich abgehoben werden von den üblichen Empfehlungsbriefen. Die Genitivverbindung έτηστολή Χρίστου kann

114 Dass unter der επιστολή in 3,2a ebenfalls eine συστατική vorzustellen ist, ergibt sich durch die Frage-Antwort-Folge V.i-V.2a. 115

Diese Pointe geht verloren, wenn man wie Gruber (1998,175) 3,2 als „Empfehlungsmetapher" liest und die Vorstellung des brieflichen Mediums gegenüber dem Inhalt unterdrückt. Dagegen spricht auch die Formulierung, die nur επιστολή wiederholt.

116 Das ist eine geläufige Vorstellung, vgl. Gottlob Schrenk, Art. γράφω κτλ., in: ThWNT 1 (1933) 742-773: 770,38ft. (Unverständlich bleibt mir, wie man den Dativ έν ταϊς καρδίαις instrumental statt lokal auffassen kann, wie E.-M. Becker 2002, 209 es will.) - Ich lese mit der besseren Bezeugung (zur textkritischen Diskussion vgl. Thrall 2 Kor Bd.i, 223t) ήμών; anders Bultmann 2 Kor, 74t; Murphy-O'Connor 1987, 123t; Schröter 1993,59ft; erwogen auch von Thrall ebd. 117

Die Paronomasie der Partizipien in 3,2c, im Deutschen nicht wiederzugeben, unterstreicht die Bekanntheit des „Briefes".

118 Vgl. 6,13, dazu unten 1.10.2. - Wenn Hafemann 1986, i89ff diese Herzensaussage auflöst als Ausdruck der elterlichen Rolle des Paulus („his genuine fatherly affection", 192), die generell seine Haltung zur Gemeinde in Korinth präge, eliminiert er gegen den Text die Metapher zugunsten einer anderen, die der Kommunikation nicht unterstellt werden darf. 119 Mit Kuschnerus 2002, 155 f. - De Oliveira 1996 sieht in der Metapher zugleich eine Anspielung auf die Berufung des Paulus, denn das ihm ins Herz Geschriebene sei eigentlich die ihn verwandelnde Evangeliumsbotschaft (vgl. bes. 363). Er übersieht, dass die Relation des Paulus zur Gemeinde im Fokus der Metapher ist.

178

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

subjektiv o d e r objektiv a u f g e l ö s t w e r d e n 1 2 0 . Eindringlicher w i r d die A u s s a g e , w e n n m a n nicht C h r i s t u s als V e r f a s s e r des E m p f e h l u n g s s c h r e i b e n s versteht 1 2 1 , s o n d e r n als Inhalt u n d Gott als impliziten Autor 1 2 2 . P a u l u s beschreibt seine R o l l e d u r c h die P a r t i z i p i a l w e n d u n g δ ι α κ ο ν η θ ε ϊ σ α ύ φ ' ή μ ώ ν u n d lässt d a m i t erstmals d a s Stichwort δ ι α κ ο ν ί α κ τ λ . anklingen, d a s f ü r seinen Selbstentwurf z u m B e z u g s p u n k t w i r d (3,6.7; 4 , 1 ; 5 , 1 8 ; 6,3.4). N a c h u n s e r e n s e m a n t i s c h e n Ü b e r l e g u n g e n ( v g l . § 4 . 2 . 1 ) u n d angesichts der B e d e u t u n g des W o r t e s i m K o n t e x t ist die übliche U b e r s e t z u n g „ d i e n e n " u n p a s s e n d . δ ι α κ ο ν ε ΐ ν bezeichnet „ v e r m i t t e l n i m A u f t r a g " , u n d δ ι α κ ο ν ί α i m K o n t e x t i n s b e s o n d e r e die A u f g a b e der V e r k ü n d i g u n g ( v g l . 3,6). D i e G e m e i n d e ist z u m Brief Gottes g e w o r d e n d u r c h die V e r m i t t l u n g s l e i s t u n g des P a u l u s ; dieser ist nicht e i n f a c h d e r „ B r i e f t r ä g e r " 1 2 3 , der d e n Brief ausliefert. E r ist derjenige, der d e n „ B r i e f " des Inhalts „ C h r i s t u s " , d e m A u f t r a g Gottes f o l g e n d , d e n M e n s c h e n in K o r i n t h vermittelt, v e r k ü n d e t hat. D i e dort entstandene christliche G e m e i n s c h a f t ist d a h e r n u n f ü r P a u l u s hinreichender „ R e f e r e n z b r i e f " 1 2 4 . D i e P a r t i z i p i a l w e n d u n g f ü g t also in d a s die G e g e n w a r t d e u t e n d e Bild eine ätiologische R ü c k b l e n d e ein.

120 Für beides plädieren Zeilinger 1997, 72f; Scholtissek 2000, 193. E.-M. Becker 2002, 210ff nimmt eine gezielte Polyvalenz der Genitive V.2a (έπιστολή ήμών) und 3a (έπιστολή Χρίστου) an, womit mehrere Verstehensweisen (u.a. apologetische, paränetische, philophronetische) eröffnet werden. Diese Lektüren müssten freilich nach dem hier angelegten Maßstab der Metapherntheorie durch den Kontext angeregt sein. 121

So aber Furnish 2 Kor, 182; Wolff 2 Kor, 59; Murphy-O'Connor 1987, 124 t; Thrall 2 Kor Bd.i, 224; de Oliveira 1996,365.

122 So Gruber 1998,176; Kuschnerus 2002,162. Ahnlich plädiert Schröter 1993, 59.65t für einen respektiven Genitiv. Für diese Deutung spricht auch der weitere Kontext, der die διακονία des Paulus als theo-logisch bezogene Vermittlung in untergeordneter Stellvertretung Christi sieht; vgl. dazu oben §4.2.1. - Die Gleichzeitigkeit von Christus als Inhalt und Paulus als Empfohlenem lässt sich mit der modernen Unterscheidung von Semantik und Pragmatik gut erfassen (gegen Gruber a.a.O., 177, die meint, dass eigentlich Christus empfohlen werde; ähnlich E.-M. Becker 2002, 211). 123 Vgl. so de Oliveira 1996, 363; vgl. Scholtissek 2000, 199: „Briefbote". Manche Übersetzungen erinnern an den Dienst der Postbeamten, vgl. die Übertragung Bultmanns: „amtlich (oder dienstlich) bestellt" (2Kor, 75), E.-M. Beckers: „Christi Brief ..., bedient von uns" (2002, 205), oder Kuschnerus' „Dienstleistung" (2002, 164). Auch die Vorstellung, dass Paulus als „amanuensis" den Brief geschrieben hat (erwogen von Thrall 2 Kor Bd.i, 225 mit anderen), greift zu kurz. Zur Diskussion um die Bedeutung vgl. Schröter 1993, 66f, der in der Sache so votiert wie hier, allerdings ohne die semantische Basis. J.N. Collins 1990, i26f verweist auf eine interessante Parallele (Chariton 8,8,5), i n der das Verb transitiv wie hier "delivered" bedeutet, wehrt aber rein technische Deutungen ab: "his participle expresses only the notion of a connection ..., not technically (as through a postal service), or even from a perspective that might be called horizontal (Paul to Corinth), but in the perspective of the vertical (God to man)" (a.a.O., 204). 124 Die Perspektive wechselt also von der gegenwärtigen Wirksamkeit der Gemeinde als Empfehlung in 3,2 zur Begründung dieses Charakters der Gemeinde in V.3 mit Rekurs auf die Entstehung der Gemeinde.

Die Briefmetapher 2 Kor 3 , 1 - 3

179

Zum eindeutig gezeichneten Bildspender leistet sich der Text einen vielstimmigen atl. Anklang, der verschiedene Auslegungen zulässt 125 . Klar ist jedoch, dass die Gegenüberstellung von zweierlei Schreibmaterial in 3,3c das paulinische Empfehlungsschreiben noch einmal abheben soll von üblichen mit Tinte verfassten. Die Alternative des Beschreibstoffes, steinerne Tafeln oder Tafeln, die fleischliche Herzen 126 sind, schlägt den Bogen zurück zu V.2b, leitet aber mit der Anspielung auf Ex 31,18 (vgl. 24,12) weiter zur folgenden Gegenüberstellung der Wirksamkeit des Mose und Paulus (3,6ff). Die Metapher vom Empfehlungsbrief eignet sich besonders für das pragmatische Anliegen, den Adressatinnen die göttliche Befähigung an sich selbst zu demonstrieren. Die Kommunikation von Adressant Paulus und Adressatin Gemeinde wird hier zusammengefasst zu einem Gegenstand der Kommunikation zwischen Gott und Welt. Denn der Bildspender „Empfehlungsbrief" trägt, betont durch den Kontext 127 , die „Leserinnen" des Briefes ein als vierte Größe von Bedeutung 128 . Doch die Metapher leistet noch mehr: Diese vierstellige Relation steht alternativ neben ordinären Empfehlungsschreiben, um die kategoriale Differenz zwischen der üblichen innermenschlich beschränkten Kommunikation und der Kommunikation, die von Gott zur Gemeinde durchs Herz des Paulus geht, zu visualisieren 129 .

125

Z u r Identifizierung vgl. Gruber 1998, i54ff. Sie beschreibt die mehrsinnige Schriftanspielung als „anspielendes E c h o " (153, im Anschluss an R.B. H a y s ) .

126 Dass dies als Anspielung auf Ez 36,26 zu lesen ist, als w ü r d e n die Steintafeln, also das Sinaigesetz, als geistlos gegenüber dem fleischlichen Herzen abgewertet, hat m.E. Gruber 1 9 9 8 , 1 6 3 f t treffend widerlegt (vgl. so bereits Koch 1986, 45). Die „Herztafelmetapher" (vgl. Gruber a.a.O., 168) hebt auf die Unterscheidung der beschriebenen Materialien ab, besagt aber nicht im Bruch mit der atl.-jüdischen Tradition, dass die steinernen Tafeln des Gesetzes nicht mit dem Geist des lebendigen Gottes beschrieben seien. „ D e r Vergleich zwischen Steintafeln und fleischernen Herzenstafeln wertet in diesem Zusammenhang nicht etwa die Steintafeln durch Anspielung auf das ezechielische ,Steinherz' ab, sondern den V o r g a n g der Gemeindegründung von den mosaischen Steintafeln auf" (a.a.O., 169, Hervorhebung übernommen). Dass es auch in 3,6ff, insbesondere beim Verwandlungsmotiv, nicht u m eine A b w e r t u n g der Diakonia des Mose geht, sondern u m die Legitimierung des Dienstes des Paulus, hat Back 2002 gezeigt (vgl. zusammenfassend 157t). 1 2 7 Vgl. die Sinnlinie „allgemein öffentliche W a h r n e h m u n g " in 2,14-3,3: 2,14 τ η ν ο σ μ ή ν της γ ν ώ σ ε ω ς α ύ τ ο ϋ φ α ν ε ρ ώ ν (sc. θ ε ό ς ) δι' η μ ώ ν έν π α ν τ ί τ ό π ω ; 3,2 ε π ι σ τ ο λ ή ... γ ι ν ω σ κ ο μ έ ν η κ α ι ά ν α γ ι ν ω σ κ ο μ έ ν η υ π ό π ά ν τ ω ν α ν θ ρ ώ π ω ν ; 3,3 φ α ν ε ρ ο ύ μ ε ν ο ί οτι έστέ ε π ι σ τ ο λ ή Χρίστου ... Die ortsübergreifende Verbreitung w i r d nach unserer A u s l e g u n g durch die Duftmetapher unterstrichen (vgl. oben 1.3.3). 128 Gegen de Oliveira 1996, der eine Dreiecksrelation betont. Wenn er diese rekonstruiert mit der im Text nicht angesprochenen Kategorie des Evangeliums als drittem Punkt neben Paulus und Gemeinde, demgegenüber sich Paulus und Gemeinde „ a n a l o g " verhalten, verkennt er überdies die durch die Metapher eingeschriebene Asymmetrie. 129

Kuschnerus 2002, 333t weist zu Recht darauf hin, dass diese fundamentale Differenz gerade durch die Sprachform der Metapher mitgeteilt wird, die nicht auf ein tertium comparationis zu reduzieren ist. „Die semantische Absurdität des in ihr (sc. der

ι8ο

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Adressant

eine Gemeinde

Gott (Christus ?)

Brief Beschreibstoff Schreibmaterial Inhalt Pragmatik

normaler Empfehlungsbrief

Gemeinde in Korinth Herz des Paulus Geist des lebendigen Gottes Christus ( ? ) Empfehlung des Paulus

Leserinnen

eine andere Gemeinde

Tinte die zu Empfehlenden Empfehlung

alle Welt

Die Gemeinde erhält in dieser Besetzung nur eine passive Rolle. Sie ist nicht Verfasserin eines Briefes wie sonst (3,ifin), sondern der Brief, verfasst von Gott, von Christus handelnd, ausgefertigt von Paulus. Wird ihr ein besonderer Charakter zugesprochen, so wird sie doch „herzlich" vereinnahmt als Verweis auf die erfolgreiche Wirksamkeit des Paulus, der sie zu einem Brief Gottes gemacht hat, der in aller Welt von Christus erzählt. Das ist argumentativ trickreich: Denn wollte die Gemeinde bestreiten, dass Paulus zu empfehlen ist, müsste sie nach der Vorgabe dieser Metapher zugleich ihren eigenen geistlichen Stand bezweifeln. Paulus stellt sich zwischen Gemeinde und Gott resp. Christus dar als das Medium, das den Brief realisiert hat und enthält. Die Öffentlichkeit sieht in der Gemeinde seinen Erfolg, aber dieser fällt nicht auf ihn selbst zurück, sondern auf das Wirken Gottes. Die meisten Auslegungen unterstellen, dass der Verfasser damit bestimmte „Gegner" bekämpft, vor allem konkret deren Praxis, sich mit Empfehlungsbriefen für Reisen auszurüsten 130 . Doch der Text lässt weder eine solche Veranlassung noch Intention erkennen. Der Vergleich mit ol πολλοί in 2,17 (vgl. dazu oben §4.2.1) und den τίνες in 3,1 zeigt nur, dass der Autor Konkurrenz

Metapher) Ausgedrückten offenbart eine im Horizont gegebener Welterfahrung klaffende Erfahrungslücke". 130 Von 2,17 her wird in der Regel auf Vorwürfe anderer „Apostel" geschlossen. Vgl. den forschungsgeschichtlichen Rückblick bei Thrall 2 Kor Bd.i, 219t; für die Durchschnittsthese Sumney 1990, I28f.i32f und 1999, 83t; Bieringer 1994a, 188. Um nur neuere Arbeiten zu nennen: Murphy-O'Connor 1987 liest die Aussage als Reaktion auf Gegner, die „appear as accredited representatives of the Jerusalem church" (129). Schröter 1993, 4gff sieht nicht konkrete Vorwürfe, aber Gegner, die Paulus bekämpft, im Hintergrund. Scholtissek 2000 meint, die Metapher richte sich gegen die allgemein übliche und für die Mission im Christentum unerlässliche Praxis der Empfehlungsbriefe. Paulus verlange, dass „solches Empfehlen nicht selbstmächtig geschieht, sondern in einer Empfehlung von Gott gründet" (198). Nach E.-M. Becker 2002, 214 führt Paulus „jeden ,mit Tinte geschriebenen Empfehlungsbrief' ad absurdum".

Die Briefmetapher 2 Kor 3,1-3 s a h u n d g e g e n A n f r a g e n seine Qualifikation u n d seine R e f e r e n z b e n e n n e n wollte. D e r R e k u r s auf die g e w ö h n l i c h e P r a x i s d e r τ ί ν ε ς enthält keine inhaltliche Kritik d e r anderen, s o n d e r n soll v i a c o m p a r a t i o n i s die L e i s t u n g des P a u l u s b e m e s s e n : P a u l u s steht g e r a d e a u f g r u n d des W i r k e n s in Korinth, d.h. angesichts d e r A d r e s s a t i n n e n jenseits solchen B e d a r f s an L e g i t i m a t i o n u n d Vergewisserung131. D i e E m p f e h l u n g s b r i e f - M e t a p h e r richtet sich a n die A d r e s s a t i n n e n , w e l c h e a n h a n d d e r W i r k s a m k e i t des P a u l u s an sich u n d a n d e r B e z i e h u n g die B e f ä h i g u n g des P a u l u s e r k e n n e n sollen. So b e g r ü n d e t sie, w o h e r P a u l u s d a s Selbstbew u s s t s e i n n i m m t (3,4), geeignet z u sein ( v g l . die F r a g e 2 , 1 6 c ) : E r h a n d e l t nicht z w i s c h e n - m e n s c h l i c h selbstreferentiell, s o n d e r n i m W i s s e n u m seine B e f ä h i g u n g d u r c h Gott (3,5, v g l . 2 , 1 7 b ) mit f ü r alle sichtbarem E r f o l g . D e n k a n n die G e m e i n d e - c o r a m p u b l i c o ! - n u r leugnen, w e n n sie sich selbst in F r a g e stellt 132 .

1.5

Krieg

Wird Diplomatie selten als Bildspender herangezogen, so ihr Gegenteil, Krieg, umso öfter. Militärwesen und feindliche Auseinanderset-

zt

Vgl. ähnlich zurückhaltend gegenüber der Lektüre als Polemik gegen Gegner Furnish 2 Kor, 192t; Thrall 2 Kor Bd.i, 22of; Zeilinger 1997, 65^74. Nach Zeilinger hat der s.E. exordiale Abschnitt darüber hinaus eine beziehungspflegende Funktion (a.a.O., 74f). Dass Paulus sich hier abgrenzt von Gegnern, die sich selbst empfehlen, oder von dem Vorwurf, er empfehle sich selbst, bezweifelt auch Gruber 1998, 171t, wie sie auch die atl. Anspielungen nicht polemisch versteht (vgl. Anm.126).

132 Vgl. ähnlich Hafemann 1986, 185. Die Pragmatik der Metapher zielt deshalb m.E. stärker auf eine Vereinnahmung der Gemeinde als auf die Einladung, sich der Metapher zustimmend neu zu verstehen. So deutet Kuschnerus 2002, 330 ft 3,1-3, da eine Metapher als solche ansprechende Rede sei: Die Metapher stelle durch ihre semantische Impertinenz „eine Zumutung dar, die den Angeschriebenen die Möglichkeit eröffnet, sich gerade vor dem genannten situativen Hintergrund als Brief zu erkennen und so zugleich einer neubestimmten Situation zuzustimmen." (331) Die Adressierten könnten die semantische Spannung gerade damit überwinden, dass sie sich in der „vom Autor angetragenen Perspektive wahrnehmen" (ebd.). Die Gemeinde werde nicht durch Verweis auf empirische Wirklichkeit vereinnahmt, denn die Metapher brauche das Einverständnis der Adressierten in ihre Darstellung, um plausibel zu sein (a.a.O., 156-159, gegen Hafemann, unter Verweis darauf, dass auch die analoge Formulierung in 1 Kor 9,1t im Verlauf der Argumentation ironisiert werde). Doch die Metapher erzwingt, wie hier gezeigt, „Einverständnis" und führt zudem die Öffentlichkeit als Zeugen für ihre Richtigkeit an. Die Metapher als Sprachform ist der rhetorischen Durchsetzung der eigenen Ziele dienstbar gemacht! Darum sollte sie auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Verfasser sich mit dieser Passage durchaus „selbst empfiehlt". Wirklich „einladend" sind erst die explizit appellierenden Metaphern 5,18 f; 6,11-13.

182

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

zungen konzipieren unterschiedliche Bildempfänger 133 . In zum NT zeitgenössischen Texten begegnet die Militärmetaphorik vor allem in der Popularphilosophie, um das Leben schlechthin als Kampf darzustellen 134 . Aus der atl. Tradition ist uns die übertragene Verwendung des Militärischen weniger geläufig 135 . Doch die paulinische Metaphorik kann auch aus der Erfahrung des Krieges geschöpft sein. Durch die Eroberungspolitik des römischen Reiches, die Sicherung der Provinzen durch Heere und durch Ansiedlung von Veteranen in allen Teilen des Reiches war die Welt der Soldaten und des Krieges Teil der Gesellschaft 136 . Das von Paulus verwendete Vokabular setzt keine eingehendere Kenntnis der Kriegskunst, verschiedener Kämpftechniken oder der militärischen Hierarchie 137 voraus. Fokal fungieren in den Paulusbriefen οπλον (παριστάνειν), όψώνιον, στρατιώτης κτλ., αίχμαλωτίζειν, καθαιρεΐν κτλ., θώραξ, περικεφαλαία, συλαν, θριαμβεύειν. Außerdem können die Worte άγων κτλ. sowie συναθλεΐν auf kriegerischen Kampf hindeuten. Einige Vokabeln sind so unspezifisch, dass sie auch aus der Vorstellung des Wettkampfes übertragen sein mögen 138 . Im Unterschied dazu trägt der Bildspender „ K r i e g " eine feindliche Opposition ein. Dieser

133

Ein jüngerer Überblick über Militärmetaphorik bei Paulus fehlt m.W. Eine prononcierte These bietet nur Macky 1998. Er sieht in den Militärmetaphern des Paulus, zu denen er auch die hier als deuteropaulinisch ignorierten Texte zählt, den Niederschlag des "cosmic war myth", eine aus dem AT weitergeführte dualistische Weltkonzeption in Kriegsbildern. Auch wenn sie nur gelegentlich aufscheine, habe Paulus ein komplettes Bild vor Augen gehabt von der Welt im endzeitlichen Krieg zwischen Satan und Gott, auf dessen Seite er kämpfe. Das ist freilich mehr, als die Texte nüchtern gelesen hergeben.

134 Krieg als Bildspender ist nicht selten in der griechischen Literatur, insbesondere für individuelle geistige Prozesse, aber die paulinische Verwendung lässt sich nicht auf eine Konzeptmetapher zurückführen. Vgl. für die Metaphern in der griechischen und lateinischen Literatur Emonds 1938; Leipoldt 1958. Beispiele für den ethischen Gebrauch im kynischen Diskurs finden sich auch bei Malherbe 1989c, für die Stoa bei Krentz 1993, logff. Zur Weiterführung des Bildfeldes im frühen Christentum im Zusammenhang mit der Haltung der „christlichen Religion" zum „Soldatenstand" vgl. immer noch Harnack 1905. 135 Vgl. Yoder Neufeld 1997 zur Tradition des Motivs von Gott als Krieger (Jes 59); vgl. auch die Hinweise von Macky 1998, 25 ff. 136 Vgl. Alföldy 1987. Krentz 1993, 110 moniert, dass in der ntl. Sozialgeschichtsschreibung dieser Aspekt zu wenig berücksichtigt wird. 137 Vgl. zu den Details und der historischen Entwicklung Kromayer/Veith 1928. 138 Vgl. unten 1.6 und zur Nähe der aus Krieg und Sport geschöpften Metaphorik Pfitzner 1967, i57ff.

Militärmetaphem

183

Antagonismus prägt die Konzeptmetapher „vivere militare est" 139 und ihre Adaption für die christliche Lebensführung des Individuums: Das Leben der Christin, des Christen ist Kampf gegen einen Feind. In der paulinischen Adaption ist die Metapher vertieft durch die Deutung der Gegenwart als endzeitlichem Kampf in atl. Tradition. V o m verlorenen K a m p f im Menschen spricht Rom 7,23. D a s „ G e s e t z der S ü n d e " obsiegt über das „ G e s e t z der V e r n u n f t " u n d n i m m t „ m i c h gef a n g e n " 1 4 0 . Die Metaphorik verdeutlicht die A u s w e g l o s i g k e i t : Es bleibt als Retter aus der K r i e g s g e f a n g e n s c h a f t nur Christus (7,24). A u ß e r h a l b des Menschen w i r d der Feind hingegen gesichtet in der M a h n u n g an die einzelnen Christinnen, den „ H e l m des Glaubens u n d der L i e b e " u n d den „ P a n z e r der H e i l s h o f f n u n g " anzulegen (1 Thess 5,8) 1 4 1 . Die metaphorische A u f f o r d e r u n g kombiniert die Beschreibung der militärischen A u s r ü s t u n g Gottes in Jes 59,17 mit der Trias christlicher T u g e n d v o n „ G l a u b e , Liebe, H o f f n u n g " (i,3) 1 4 2 . Sie setzt voraus, dass K r i e g s g e f a h r besteht, fordert jedoch nicht zur A u f r ü s t u n g , sondern zur W a p p n u n g gegen A n g r i f f e . Deutlicher noch ist die M e t a p h e r aus Jes 59,17 neben weiteren atl. Bilder in E p h 6 , 1 0 - 1 7 ( V . 1 4 . 1 7 ) zitiert 143 . Die Bilder zeigen, d a s s der Christenmensch gerüstet sein w i r d g e g e n die A n g r i f f e des Bösen, w e n n er sich auf seine H o f f n u n g u n d christlichen T u g e n d e n besinnt. Die Ü b e r n a h m e der atl. Metaphorik v o n Gottes R ü s t u n g deutet darauf hin, dass die Verteidigungsfähigkeit v o n Gott kommt 1 4 4 . Im selben Kontext, allerdings aggressiver, fordert Rom 1 3 , 1 2 z u m A n l e g e n der „ W a f f e n des L i c h t s " . Die Metapher w i r d überlagert v o n der Metaphorik v o n Licht u n d Finsternis b z w . Tag u n d N a c h t ( V . i 2 f ) 1 4 5 . Der Konnex der Metaphern erklärt sich damit, dass m a n die W a f f e n nur des Tags trägt.

Die Grundstruktur des feindlichen Gegenübers kann erweitert werden durch den Aspekt des gemeinsamen Kampfes. Hier impliziert der Bildspendebereich also nicht nur den Feind als Gegenüber, sondern auf der

139 Seneca, Ep.mor 16,96,5; vgl. auch Epiktet, Diss 3,24,31.34: ούκ οίσθ', ότι στρατεία τό χρήμά έστιν; τον μεν δει φυλάττειν, τόν 6έ κατασκοπήσοντα έξιέναι, τον δέ και πολεμήσοντα· ... στρατεία τίς έστιν ό βίος εκάστου και αϋτη μακρά και ποικίλη. 140 Zum Auslegungsproblem Wilckens Rom Bd.2, 89ft, der allerdings wie andere die Kriegsmetapher überliest. Die Metapher vom Kampf „zweier Seelen" (δυό ψυχαί, Xenophon, Cyr 6.1.41) begegnet in der griechischen Philosophie und sonstigen Literatur, vgl. neben Xenophon Plato, Leges ι, 626ε; Epiktet, Diss 2,26,2; s. Leipoldt 1958, ii7f mit Anm.11. 141 Ubersetzung im Anschluss an Holtz 1 Thess, 208. 142 Vgl. zur Auslegung Holtz a.a.O., 245ff. 143 Zur „demokratisierenden" Aufnahme des Motivs vom kämpfenden Gott aus Jes 59 vgl. Neufeld 1997. Daneben ist Sap 5,17ft eingeflossen, vgl. Schnackenburg Eph, 284ft. Die elaborierte Metapher mahnt, den διάβολος im Visier (6,11), zum Anlegen der ganzen Rüstung (πανοπλία 6,11.13), die dann in Einzelteilen beschrieben wird. 144 Mit Schnackenburg, Eph 283. 145 Vgl. zu dieser Metaphorik Wilckens Rom Bd.3, 76t.

184

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

eigenen Seite eine willkommene „Kameradschaft" 146 . Neben den beiden Relationen der Feindschaft und Kriegskameradschaft kann die Militärwelt eine hierarchische Beziehung eintragen, die Loyalität zu demjenigen Kriegsherrn, für den bzw. in dessen Namen gekämpft wird 147 . Anders als bei der Loyalitätsbeziehung der Arbeitsmetaphorik (vgl. oben 1.1) ist hier stets der Feind im Blick148. Diese Dreiecksbeziehung Kriegsherr-Soldat-Feind steht hinter dem Konzept von „Mission als Kampf" 1 4 9 , als Kampf für Gott bzw. Christus. Diesen Kampf kämpfen nicht alle Christinnen, sondern einzelne, die sich besonders einsetzen als „miles Dei" resp. „Christi" 150 . Z u diesem B i l d f e l d gehört die Bezeichnung des in der Mission aktiven Mitchristen als σ υ σ τ ρ α τ ι ώ τ η ς (Phil 2,25 v o n Epaphroditus, parallel z u σ υ ν ε ρ γ ό ς ; Phlm 2 v o n A r c h i p p u s , vgl. 1 Tim 1,18). Sie impliziert die g l e i c h w ü r d i g e A n e r k e n n u n g des anderen 1 5 1 . - 1 Kor 9,γα argumentiert mit d e m Sold f ü r das Unterhaltsrecht derer, die das E v a n g e l i u m v e r k ü n d i g e n . Wie der Söldner nicht sich selbst besoldet, so hat ein Apostel Recht auf Unterhalt 1 ^ 2 .

146 Diese Vorstellung vom gemeinsamen Kampf rufen in Phil 1,27-30 συναθλεϊν (vgl. auch 4,3) und ά γ ώ ν ab. Zwar klingt hier lexikalisch zunächst der Sportwettkampf an. Doch die Betonung des gemeinsamen Kampfes und des Leidens lässt an den kriegerischen Kontext denken. Als feindlich (άντικείμενον) gedeutet wird die Verfolgung, in der Christus, Gemeinde und Paulus verbunden sind (V.28f). So gelesen fordert 1,27: „Haltet euren Platz (in der Kampflinie) und kämpft in einem Geist, einer Seele zusammen für das Evangelium!". Vgl. Krentz 1993, ii2ff für diesen Sprachgebrauch, i2of für die angesprochene Kampftechnik. Für Krentz ist der ganze Brief von dieser Eröffnung her wie die Ermunterung der Truppen zu lesen (vgl. dagegen unten 2.3). 147 Das römische Heer war ein Berufsheer, und nach diesem Konzept ist diese Loyalität vorzustellen. 148 Vor der Opposition von Gott und Sünde argumentiert Paulus in Rom 6,12-14.23 mit der je exklusiven militärischen Loyalitätsbeziehung und ihrem Ertrag, dem „Sold". Anhand der bleibenden Folgen der Selbstverpflichtung als Söldner stellt er drastisch die Konsequenzen dar, die eine „Verpflichtung" des Getauften zur Sünde hat: „Der Sold der Sünde ist der Tod" (6,23; zum Verständnis dieser Verse vgl. Gerber 2001). 149 Diese Metaphorik, uns noch geläufig in der „Heilsarmee", wird heute legitimierend umgekehrt zur Rede von Krieg als „Mission". 150 Diese Bezeichnung begegnet aber erst in 2Tim 2,3 (καλός στρατιώτης Χρίστου Ίησοϋ). Harnack 1905,14 weist darauf hin, dass der Term des στρατιώτης bei Paulus nicht Christinnen allgemein bezeichnet, sondern reserviert ist für jene, die in der Mission „kämpfen". Noch genauer ist zu beobachten, dass das allgemein-christliche Leben vor allem als Verteidigungskampf entworfen wird, die Missionsarbeit hingegen meist als Angriffskampf. 151 Zur ehrenvollen Konnotation vgl. EWNT 3 (^992) 752 s.v. συστρατιώτης. 152 Vgl. 1.1.1. Zur argumentativen Struktur und den Prämissen des Herkunftsbereichs vgl. Gerber 2001,134.

Militärmetaphern

185

Zu diesem Konzept gehören schließlich auch die Metaphern, die das Wirken des Paulus mit Aspekten des Krieges darstellen. Vielleicht nicht zufällig begegnen sie uns nur im 2 Kor, dort aber mehrfach (2,14a; 6,7b; 10,3-6; 11,7-9; v gl- unten 2). Wenn die hier bevorzugte Deutung von 2 Kor 2,14a (1.5.1) zutrifft, gibt es freilich einen Unterschied in der Rolle des Paulus, ist er doch zunächst Gefangener Gottes, später erst „miles Dei". Diese Aufgabe wird in 2 Kor 10,3-6 in einer Aggressivität beschrieben, welche der folgenden Diskussion der angeblichen Schwäche des Paulus eine militante Eröffnung gibt. - Wir schauen genauer auf die elaborierten Metaphern, welche die Rolle des Paulus in kriegerischem Kontext darstellen.

1.5.1

Der besiegte Paulus im Triumphzug Gottes (2 Kor 2,14a)

Mit der partizipialen Wendung ό πάντοτε θριαμβεύων ήμας sc. θεός führt der Verfasser den Dank an Gott begründend fort, der diesen Briefteil bzw. dieses Brieffragment einleitet, θριαμβεύειν, ein Lehnwort, führt die Institution des römischen Triumphzuges vor Augen 153 . Die Kürze der Wendung und der Fortgang der Aussage in V.i4C.i5f (vgl. oben 1.3.3) gibt der Forschung viel Diskussionsstoff 54 . Die Metapher beschreibt ein Handeln Gottes an Paulus 155 , das durch die polyseme PräpositionalWendung έν τω Χριστώ mit Christus korreliert wird. Doch was bedeutet das? Auszuschließen ist mit den jüngeren Untersuchungen, dass es sich hier um eine verblasste Metapher handelt, die nur besage, Gott habe Paulus „ öffentlich bekannt gemacht" 156 . Auch die neu belebte These, der Triumphzug sei eine Kultprozession, in der Paulus als Sklave den Duft verströmt, ist lexikalisch schlecht belegt 157 . Wir sehen also Gott als Triumphator, Paulus als Mit-

153 Zur Syntax und Semantik des Wortes vgl. Breytenbach 1990, aber auch die Überprüfung seiner Deutungen durch Gruber 1998, 99 ff. 154 Zu den Deutungsalternativen vgl. Thrall 2 Kor Bd.i, i9iff, und als neuesten Artikel zum Thema Attridge 2003, der aber die deutschsprachige Literatur nicht rezipiert. 155 Mit den meisten Kommentatoren lesen wir hier ήμας und die Aussagen in der l.Pers. PL zuallererst als Aussagen über den Verfasser Paulus (vgl. zum exegetischen Problem den Exkurs nach § 2). 156 So aber noch Gerhard Dautzenberg, Art. θριαμβεύω, in: EWNT 2 (^992) 384-386, dort ältere Vertreter. Vgl. dagegen z.B. Hafemann 1986, 36-38. 157 Attridge 2003, 79ff deutet den „Triumphzug" als metaphorisch bezeichnete religiöse Prozession. Paulus stelle sich dar als einen Sklaven, der im Triumph mitgeht und den Geruch verströmt, der Zeichen der Epiphanie Gottes ist. Dann bleibt aber die Verwendung der militärischen Metapher unerklärt. Nach Duff 1991 ist θριαμβεύειν gerade bewusst gewählt, um der gegnerische These, die Leiden des Paulus seien Ausdruck göttlicher Strafe, zu begegnen: Die Lesenden sollen zunächst an den militärischen Triumph, d.h. die Leiden, das Todesurteil über Paulus denken, dann

ι86

Die Metaphern zur Beschreibung der A u f g a b e des Paulus

geführten 158 . Diese Rollenverteilung kann nicht anders verstanden werden, als dass Gott Paulus besiegt hat. θριαμβεύων ή μ α ς bedeutet dann, dass Gott den Sieg über Paulus feiert bzw. dass er ihn als Gefangenen im Zuge herumführt 159 . Die Metapher bedient sich keiner bekannten Konzeptmetapher und steht auch quer z u m Bildfeld von Paulus als Kämpfer für Gott (vgl. 1.5.2; 1.5.3). A u c h der Aussagekontext klärt die Szene nicht völlig. Die χάρις-Formel deutet auf eine positive Wertung des im participium coniunctum angefügten Handelns Gottes, der Sprechende heißt also den darin implizierten Sieg Gottes über sich selbst gut. Diese Einbindung der Metapher hindert, v o m Bildspender die Wertung zu übertragen, dass die öffentliche Zurschaustellung eines Besiegten für diesen negativ ist. Sie behauptet ihn umgekehrt als Grund z u danken. Die Weiterführung in 2,14b durch das zu θριαμβεύων parallele Partizip φ α ν ε ρ ώ ν macht die Metapher kaum einsichtiger, weil sie mit την όσμήν της γ ν ώ σ ε ω ς αύτοϋ ein anderes Objekt einführt. Die Verbreitung des Duftes zur Erkenntnis Gottes ruft einen kultischen Zusammenhang auf (vgl. oben 1.3.3). Dieser ist auch beim römischen Triumphzug, der kultisch signiert ist, konzeptionell gegeben. Der Triumphator erscheint in der Rolle eines Gottes 160 . Ordnet man die Duftmetapher dem Triumphzugbild zu, kann man Paulus als weihrauchtragenden Mitläufer sehen161. Doch bleibt eine Spannung zwischen den Rollen des im Triumphzug mitgeführten Besiegten und dem Weihrauchträger. Es bleibt ein Interpretationsraum, der in der Exegese unterschiedlich gefüllt wird, je nach Deutung des folgenden Selbstentwurfes des Paulus (2,14-7,4). Weil die Metapher diesen Abschnitt eröffnet mit einer dankenden Aussage über Gottes Handeln an Paulus, den die folgende „Duft"-Metapher als Werkzeug Gottes zeigt, ist es sinnvoll, hier eine Anspielung auf die „Besiegung" des Christenverfolgers Paulus zu lesen, von der auch in 5,18 die VersöhnerMetapher spricht (vgl. dazu 1.9.1). Nicht der Sieg selbst ist jedoch im Fokus der

aber verstehen, dass dies eigentlich eine religiöse Prozession sei, welche die Gottheit epiphan werden lässt. Es ist aber zweifelhaft, ob Triumphzug und Ephiphanieprozession überhaupt distinkte Konzepte waren (vgl. zur Kritik an Duff Kuschnerus 2002, i05f Anm.44). 158 Gegen die faktitive Deutung vgl. ausführlich die lexikalische Untersuchung Breytenbachs 1990, 259-265; auch als Soldat des siegreichen Triumphators, wie Barrett 2 Kor, 97t u.a. es möchten, lässt Paulus sich im Triumphzug lexikalisch bedingt nicht unterbringen. 159 Z u Vertretern dieser Deutung vgl. Kuschnerus 2002,109 Anm.52. 160 Vgl. dazu ausführlich jetzt Kügler 1998,159 ff. 161

So meint etwa Breytenbach 1990, dass der als Objekt zu θριαμβεύειν Genannte nicht notwendig im Z u g mitgeführt wird. Das Bild stelle Gott dar als den, der den Sieg feiert, und Paulus nicht als Gefangenen, sondern als mit Weihrauch Mitziehenden. Kügler nivelliert v o n der Duftmetapher her die lexikalische Provokation des A k k u sativobjektes, indem er Paulus in der Rolle eines Sklaven im Triumphzug deutet (a.a.O., 173), da die Vorstellung eines „Gefangenen" auch der Konzeption des Apostolats als Gnade widerspreche. Der Triumphzug Gottes sei die Feier des allgemeinen Sieges Gottes in Christus, nicht auf Paulus selbst bezogen (a.a.O., 170t).

Die Triumphzugmetapher 2 Kor 2,14a

187

Metapher, θριαμβεύων und πάντοτε zielen vielmehr auf die Öffentlichmachung, die auch im Kontext hervorgehoben wird 162 . Der Rahmen rät ab, aus dem Konzept des Triumphzuges zu inferieren, dass Paulus öffentlich beschämt wird 163 , gar als zum Tode Verurteilter auf dem Weg zu seiner Hinrichtung ist164. Im Bild ist das „allezeit" triumphierende Handelns Gottes an Paulus. An ihm, an seinem Geschick demonstriert Gott in aller Öffentlichkeit seinen Sieg. Hieran knüpft unmittelbar die Duftmetapher an: Sie zeigt, wie Gott Paulus als sein Werkzeug „benutzt". Dies ist Grund, Gott zu danken 165 . 162 Die allgemeine Öffentlichkeit des Wirkens des Paulus visualisieren auch die Duftmetapher (vgl. 1.3.3) U R d die Briefmetapher (vgl. 1.4.1). So paraphrasiert Wolff 2 Kor, 55: „Gott läßt Paulus in seiner Abhängigkeit von Christus immer ,publik' werden ...". Den Aspekt der Öffentlichkeit arbeitet Gruber 1998, 98ft als ein semantisches Merkmal von θριαμβεύειν heraus, ohne es allerdings selbst in den Mittelpunkt der Aussage zu stellen (vgl. zu ihrem Verständnis die folgende Arm.). 163 Vgl. so Marshall 1983 über die "metaphor of social shame" (so der Titel) und mit ihm Gruber 1998, 98 ft, bes. 115 ft auf Basis weiterer semantischer Untersuchungen. Zum Beleg wird auf entsprechende metaphorische Verwendungen in lateinischer Literatur verwiesen ohne Beachtung des hier vorliegenden Kontextes. Zur Kritik vgl. auch Schröter 1993,19 t. 164 Die These, der Triumphzug versinnbildliche Paulus "as one of God's previously conquered enemies, who 'as a slave of Christ' (δούλος Χρίστου) was now ... being led by God to death in order that he might display or reveal the majesty, power and glory of his conquerer" hat insbesondere Hafemann vertreten (vgl. 1986, 18ff, Zitat 34t, im Original mit Hervorhebungen). Ihm folgend interpretiert Gruber: „Gottes Triumphzug über Paulus bedeutet also seine öffentliche Darstellung in einer verachteten Todesexistenz. ... sie ist, mit einem Wort, eine Todesmetapher" (1998, 112, im Original z.T. hervorgehoben; vgl. weiter ligff). Auch Kuschnerus (2002, i04ff) liest in diesem Sinne. Er deutet die Unklarheit der Metapher als strategische Offenheit, die die Lesenden zur Auflösung durch 4,7-12 fordere. Von dort werde erkennbar, dass im Apostel auf paradoxe Weise die Repräsentanz von Leiden und Tod sowie die Offenbarungsfunktion verbunden sind (a.a.O., nof). Doch Kuschnerus selbst weist darauf hin, dass der Kontext die Metapher nicht nur präzisiert, sondern auch begrenzt: Dass Paulus dennoch behaupte, nicht als Verlorener, sondern als Offenbarungsmedium am Triumphzug beteiligt zu sein, sei Aspekt der „ metaphorischen Unähnlichkeit" (a.a.O., 112). Eben diese kontextuelle Eingrenzung der metaphorischen Übertragung hindert m.E. eine Lektüre als „Todesmetapher", zumal weder der δούλος Χρίστου irgendwo todgeweiht begegnet noch in 4,7-12 davon die Rede ist, dass Gott den Tod des Paulus will oder gar verhängt hat. 165 In diesem Sinne deuten viele neuere Auslegungen, wenn auch jeweils unterschiedlich pointiert, die Metapher als Darstellung der „Einvernahme" des Paulus zum Apostel. Vgl. z.B. Breytenbach 1990: Der Apostolat des Paulus ist Feier der Eroberung des Paulus durch Gott, den früheren Kirchenverfolger. Dieses Bild werde in 2,i4b-i6 fortgesetzt: Nun verbreite Gott durch Paulus seinen Wohlgeruch wie im Triumphzug Weihrauch verteilt werde (ihm folgt Lambrecht 2 Kor, 38t). Nach Schröter (1993,13ft) wird die Verkündigung mittels des Besiegten visualisiert, „seine Apostelexistenz ..., die er von seinem Damaskuserlebnis her als Sieg über sein eigenes Eifern beim Verfolgen der Gemeinde sowie als Bekehrung zum vom Willen Gottes erfüllten Mittlers des Evangeliums versteht" (a.a.O., 22). Ahnlich votiert Zeilinger 1997, 52 t, der überdies hervorhebt, dass die Präpositionalwendung auf den christologischen Bezug deutet.

ι88

Die Metaphern zur Beschreibung der A u f g a b e des Paulus

1.5.2

Die Waffen des Paulus (2 Kor 6,7b)

Der Präpositionalausdruck δια των ο π λ ώ ν της δικαιοσύνης τ ω ν δεξιών και αριστερών markiert einen Übergang in dem Peristasenkatalog 2 Kor 6,4~io l66 . Er leitet über von der durch wiederholtes έν verketteten Aufzählung von Leiden (6,40.5) und Tugenden (6,6.7a) z u der durch wiederholtes διά c.gen. sowie ώς ... καί verknüpften Antithesenreihe. Die Wendung fällt formal und durch ihren mit dem fokalen ό π λ α signalisierten metaphorischen Charakter aus der Liste heraus 167 . Bezogen ist die Rede von den „Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken" auf das Wirken der θεοϋ διάκονοι, das diese als solche empfiehlt (6,4). Mit der Rechten werden die Angriffs-, mit der Linken die Verteidigungswaffen geführt 168 , etwa „Schwert und Schild" 169 . Die Qualifizierung als ö π λ α της δικαιοσύνης ist mehrdeutig 170 . Als Anspielung auf Jes 59,17 gelesen, w o δικαιοσύνη Panzer und Helm Gottes 1st171, spricht er von der Ausrüstung seitens Gottes (gen. subj.), führt also V.4a weiter: Die δύναμις des διάκονος sind Waffen, von Gott verliehen 172 . Die beiden Waffenarten deuten aber auch auf die folgenden Antithesen, insofern sie den aktiven und den passiven Part, das erfolgreiche, ehrenhafte und das geschmähte, ignorierte Wirken des göttlichen Mittlers 173 zeigen 174 . Die Metapher verwendet also das Konzept vom Missionar als Kämpfer für Gott im Blick auf seine doppelte Ausrüstung. Er ist zum Angriff und zur Verteidigung gerüstet, dem Gegenüber von Tugenden und Leiden sowie den Antithesen des Peristasenkatalogs entsprechend.

166 Vgl. Ebner 1991, 259-261; Schröter 1993, 200f. 167 Mit Ebner ebd. 168 Vgl. B A A 214 s.v. αριστερός (Belege). 169 Bultmann 2 Kor, 174. 170 Vgl. zu den Möglichkeiten Thrall 2 Kor Bd.2, 46if. Der Genitiv ist am ehesten subjektiv aufzufassen („Waffen, die von der göttlichen Gerechtigkeit dargereicht w e r d e n " , so etwa Gottlob Schrenk in: Gottfried Quell - ders., Art. δίκη κτλ., in: T h W N T 2 [1935] 176-229: 213t) oder objektiv (zur Verteidigung der Gerechtigkeit, vgl. Rom 6,13). Andere wollen δικαιοσύνη hier im hellenistischen Sinne als Tugend der „Rechtschaffenheit" verstehen (so Bultmann 2 Kor, 174; Thrall 2 Kor Bd.2, 462; Ebner 1991, 269t; Zeilinger 1997, 37if). Dann wäre die Metapher von den Tugenden als Waffen des Weisen als nur ethische Beschreibung aus kynisch-stoischer Tradition übernommen, die evtl. auch den ganzen Katalog prägt (so vor allem Ebner a.a.O., 264ft). Hier ist hingegen die atl. Assoziation vorausgesetzt (vgl. für diese und gegen Ebner vor allem Krug 2001, 239t). 171

Vgl. SapSal 5,18; Eph 6,14.

172 A l s Explikation zur δύναμις-Aussage deutet vor allem Krug 2001, 237ff die Metapher; er übersieht aber den weiterleitenden Doppelcharakter der Waffen. 173 Zur Bedeutung von διάκονος θεοϋ vgl. oben § 4.2.1. 174 Diese tiefere Bedeutung beider Waffenarten legt sich durch den antithetischen Aufbau nahe (vgl. ähnlich Zeilinger 1997, 372t); bestritten wird sie jedoch z.B. von Thrall 2 K o r Bd.2, 462, die meint, die Doppelheit bezeichne nur "the completeness of his spiritual equipment".

Die Kriegsmetapher in 2 Kor 10,1-6 1.5.3

189

Stell dir v o r , es ist K r i e g ! P a u l u s b e l a g e r t K o r i n t h (2 K o r 1 0 , 1 - 6 )

Eine gewalttätige Drohung leitet die Verteidigung des Paulus gegen Angriffe auf seine Person ein (2 Kor 1 0 - 1 3 ) . Da ich andernorts eine ausführliche Interpretation veröffentlicht habe 175 , nenne ich hier nur die mir wichtigsten Aspekte der metaphorischen Aussage, die wohl wegen ihrer Militanz in den jüngeren Paulusdeutungen gern überlesen oder abgeschwächt wird 176 . Der Text reagiert auf Vorwürfe gegen Paulus aufgrund eines enttäuschenden persönlichen Auftretens, das hinter der „Stärke der Briefe" (10,10) zurückbleibt 177 . Mit 10,if deutet Paulus sein persönlich „niedriges" (ταπεινός) Auftreten als freiwillige Zurückhaltung; sie entspricht der Milde Christi als der Tugend eines Herrschers, auf Machtausübung zu verzichten 178 . Paulus bittet darum, nicht „ k ü h n " (θαρρησαι) vor Ort auftreten zu müssen (V.2), behauptet also indirekt, dass er das durchaus könnte. Den Beweis dessen kann er im Brief nur mit den Waffen der Sprache liefern, und so schleudert er den Kritikerinnen in einem atemlosen Satz eine geschickt gestaltete Militärmetapher entgegen (V.3-6) 1 7 9 , die deutlich macht, dass er beim dritten Besuch (vgl. 1 3 , 1 - 4 ) durchgreifen wird. Die Metapher ist durch vier Aspekte besonders schlagkräftig. Erstens zieht sie die Frontlinien so, dass Paulus als Kämpfer für Gott 180 zu stehen kommt und die Kritik an Paulus unter der Hand zum Widerstand gegen Gott umgedeutet wird 1 8 1 . Dass der Kampf, der zunächst der Kritik an Paulus galt, nicht

175 Vgl. Gerber 2005,105-113. 176 Die einzig profilierte Auslegung ist von Malherbe 1989c. Er deutet die Metaphorik nicht wie hier von der Erfahrungswelt des Krieges her, sondern rekonstruiert sowohl den Vorwurf gegen Paulus als auch die Kriegsmetapher auf dem Hintergrund von kynischen Diskussionen, verfehlt damit jedoch m.E. ihre Pragmatik (vgl. genauer Gerber a.a.O., uof Anm.56). 177 Darin kongruieren 10,1 und 10,10. Die Frage, was genau Paulus vorgeworfen wurde, kann hier nicht diskutiert werden (vgl. en detail Thrall 2 Kor Bd.2, 925-945). Ich gehe davon aus, dass V.i und V.10 auf dasselbe zielen, eine enttäuschende „Performance", insbesondere körperliche Verfassung des Paulus bei seinem Aufenthalt in Korinth. Darauf geht 11,5 ff dann genauer ein. Wie sich der ταπεινός-Vorwurf genetisch verhält zur Unterstellung mancher, Paulus würde κατά σάρκα wandeln (V.2, zur Diskussion der Bedeutung vgl. Thrall a.a.O., 6o5f) verhält, ist unklar. Beide Kritikpunkte werden jedenfalls in 10,3-6 zusammen bekämpft. 178 Zu dieser Deutung von δια της πραϋτητος και επιεικείας vgl. Gerber 2005, 106 Anm.32 im Anschluss an die semantischen Untersuchungen von D. Walker 2002. Ich grenze mich damit vor allem ab gegen Deutungen im Gefolge Leivestadts 1965/66, dass die Beschreibung Christi in V.i ein Argument sei, um die Schwäche des Paulus zu bewerten als wahre apostolische Existenz (vgl. zu dieser Lektüre von 2 Kor 10-13 vgl. §5.2.2). 179 Vgl. zu den rhetorischen Mitteln genauer Gerber a.a.O., i07ff. 180 τω θεω kann kein dativus auctoris sein, wie es oft übersetzt wird, sondern muss dativus commodi sein (vgl. BDR § 188J. 181 Der Kriegsgrund wird uminterpretiert dadurch, dass der Text zwischen der Gegnerschaft gegen Gott bzw. Christus und der Kritik an Paulus nicht unterscheidet; hier wirkt besonders die Rekurrenz von λογίζομαι V.2 in λογισμοί V.4.

190

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

nur sein persönlicher Feldzug ist, sondern „Mission für Gott", wird auch durch die Tradition des oben skizzierten Bildfeldes nahegelegt 182 . Zweitens stellt die Metapher die Feinde des für Gott kämpfenden Paulus als reine Gedankengebäude (λογισμοί, νόημα) dar, also wehrlos gegen den bewaffneten Paulus1®3. Drittens malt sie eine siegreiche Belagerung aus, also nur noch die letzte Phase eines erfolgreichen Kriegszuges. Im Bilde liegt Paulus vor Korinth, so dass seine Anwesenheit drohend spürbar wird. Viertens schließlich erinnert diese Bedrohung der Festung (όχύρωμα), der Höhe (ύψωμα 184 , V.5) an die Belagerung der befestigten und durch Akrokorinth bekrönten Stadt Korinth durch die Römer im Jahre 146 v.Chr. 185 . Wer sollte da nicht an die katastrophale Niederlage, die Schleifung der Stadt 200 Jahre zuvor denken ? Die Metapher malt also den erfolgreichen Kriegszug des Paulus aus, um so die Bitte zu begründen: Gehorsam gegen Christus (V.5fin) bedeutet, dem Kämpfer für Gott keinen Widerstand zu leisten. Die Adressatlnnen, die nicht explizit mit den Kritikerinnen des Paulus identifiziert werden, sollen Position beziehen. Sie können dem Angriff entgehen, wenn „euer Gehorsam vollständig hergestellt ist" (V.6b), und so appellirt der Text implizit: Sie sollen Paulus nicht verfemen. 1.5.4 P a u l u s plündert andere G e m e i n d e n . Unterhaltsverzicht nach 2 K o r 1 1 , 7 - 1 1 Als einen Streitpunkt zwischen Verfasser und der Gemeinde in Korinth behandelt 2 Kor 1 0 - 1 3 den Verzicht des Gemeindegründers darauf, sich während seines Aufenthaltes in Korinth seinen Aufwand von der Gemeinde erstatten zu lassen. Mehrfach kommt der Verfasser darauf zu sprechen186. Anlass ist offenbar, dass hier ein Unterschied zwischen Paulus und den Konkurrenz-Missionaren besteht (11,12.20), aber auch zwischen dem Verhalten des Paulus gegenüber der adressierten Gemeinde und anderen Gemeinden (12,13). 12,13 ironisiert dieses Vorgehen als αδικία, 12,14 bietet ein Analogieargument durch den Vergleich mit der Eltern-Kinder-Relation (vgl. unten 1.10.3). I n 1 1 >7~ 11 wird hingegen die Annahme von Geld anderer Gemeinden metaphorisch bewertet. Die rhetorische Frage 11,11 lässt einen tatsächlichen oder vom Autor unterstellten Grund der Kritik am Unterhaltsverzicht erkennen, διά τί; οτι ούκ α γ α π ώ ύμας; Die Christinnen in Korinth könnten den Verzicht auf Unterhalt als Ausdruck mangelnder Zuneigung des Gemeindegründers zu ihrer Ge-

182 Vgl. zur Diskussion genauer Gerber 2005,112 Anm.62. 183 Paulus nimmt hier eine andere Konzeptmetapher von „Gedankengebäuden" auf zur Darstellung der Gegenseite, vgl. Belege bei Gerber a.a.O., m f mit Anm. 184 Zur Bedeutung vgl. Gerber a.a.O., 111 Anm.57. 185 Vgl. genauer Wiseman 1979, 450-462 zu diesen Ereignissen, zur Lage Korinths Thomas Lenschau, Art. Korinthos, in: PRE.S 4 (1924) 991-1036: 998.1004ff. 186 Zu 1 1 , 7 - 1 2 vgl. 11,20; 12,13-18. Für das Thema, das gerade die Beziehung zur korinthischen Gemeinde betrifft, vgl. insbesondere Pratscher 1978/79; Marshall 1987 und jetzt den Exkurs von Thrall 2 Kor Bd.2, 699-708.

Die Metapher vom Plündern 2 Kor 11,8

191

m e i n d e missverstehen 1 8 7 . Mit d e r v o r a u s g e h e n d e n Charakteristik d e s Unterhaltsverzichts ist diese D e u t u n g bereits a b g e w i e s e n . Erstens w i r d die unentgeltliche E v a n g e l i s i e r u n g beschrieben als S e l b s t e r n i e d r i g u n g z u g u n s t e n d e r G e m e i n d e , die d a m i t erhöht w i r d : έ μ α υ τ ό ν τ α π ε ι ν ώ ν ϊ ν α ύ μ ε ϊ ς ύ ψ ω θ η τ ε , ο τ ι δ ω ρ ε ά ν τό του θ ε ο ϋ ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν ε ύ η γ γ ε λ ι σ ά μ η ν ύ μ ϊ ν (V.7)188. Die Formulier u n g b e w e r t e t d a s V o r g e h e n als „ G e s c h e n k " an die G e m e i n d e auf K o s t e n des Paulus. D a s s nicht die G e m e i n d e in Korinth, s o n d e r n a n d e r e einen S c h a d e n d a d u r c h erlitten, w i r d in prononcierter Weise d u r c h die f o l g e n d e M i l i t ä r m e t a p h e r V . 8 verbildlicht 1 8 9 . Sie w i r d d u r c h die f o k a l e n Worte σ υ λ α ν 1 9 0 u n d ό ψ ώ ν ι ο ν 1 9 1 indiziert. W i e d e r sehen w i r P a u l u s als K ä m p f e r , n u n aber ist nicht d e r G e g n e r i m Visier, s o n d e r n w i e in 1 K o r 9,7 die Frage, w e r d e n K ä m p f e r v e r s o r g t , α λ λ α ι

187 Ähnlich Zmijewski 1978, 135 f. Zu den damit in Frage gestellten Konventionen des Austausches von Gaben vgl. Marshall 1987, iff. Die Annahme, man habe Paulus vorgeworfen, dass er nur zum Schein auf die Annahme von Geld verzichtet habe, aber nun die Kollekte einfordere (so Sundermann 1996,104, vgl. 227ft), erklärt den vorliegenden Text kaum. 188 Immer wieder wird die „Erniedrigung" damit erklärt, dass Paulus handwerkliche Tätigkeit ausübte, die nach Oberschichtmeinung nieder war (vgl. Hock 1978, 561t; auf „Handarbeit" deuten z.B. auch Bultmann 2 Kor, 209 z.St.; Barnett 2 Kor, 514; Furnish 2Kor, 506t [neben anderen Aspekten]; Zeilinger 1992, 73 neben einer christologischen Deutung im Sinne von Phil 2,6-11). Doch nur in iThess 2,9; i K o r 4,12, nicht aber in 2 Kor spricht Paulus davon, dass er sich durch eigene Arbeit oder gar Handwerksarbeit ernährt habe. Daher ist dies auch trotz der Vorsilbe προς- in προςαναπληρώσαι 11,9 nicht hineinzulesen (so aber Pratscher 1978/79, 289). Das Problem besteht vielmehr gerade darin, dass der Missionar Geld angenommen hat, auch für die Zeit des Missionsaufenthaltes in Korinth, aber von anderen Gemeinden. Damit ist auch die Annahme hinfällig, die Kritik an Paulus' Leben „nach dem Fleische" (10,3) nehme am Unterhaltsverzicht Anstoß, weil er zuviel an seine materielle Existenz denke, anstatt „ausschließlich für und vom Evangelium zu leben" (Theißen 1989, 218ff, Zitat 221). 189 Als Militärmetapher lesen den Satz auch Windisch 2 Kor, 355; Bultmann 2 Kor, 207; Furnish 2Kor, 492; Prümm 1967, 620; Zmijewski 1978, 134; Thrall 2 K o r Bd.2, 648f; Sundermann 1996, 102 u.a., doch ohne die damit inferierte Wertung für die Pragmatik der Aussage zu erkennen. Im Sinne von Beraubung deutet hingegen z.B. Barrett 2 Kor, 282f; skeptisch gegenüber einer militärischen Anspielung ist auch Wolff 2 Kor, 220f. Spicq 1978b, 840 s.v. συλάω meint, dass Paulus juridisch auf ein Pfändungsrecht anspiele, dass er nicht in Anspruch genommen habe (vgl. die nächste Anm.). 190 Das Verb bedeutet „berauben", daher im kriegerischen Kontext auch „plündern", z.B. sich die Waffen eines getöteten Soldaten aneignen (vgl. Pape II, 974 s.v. mit Belegen). Die Konnotation ist eindeutig negativ. Die technische Bedeutung des Verbs, sich anderer Gut gewaltsam anzueignen zur Durchsetzung eines Rechtsanspruchs (Kurt Latte, Art. συλαν, in: PRE 2.R. 7. Halbband [1931] 1035-1039; vgl. Spicq 1978b, 840t) zeigt die negative und gewaltsame Konnotation, auch wenn das Verb im Kriegszusammenhang nicht technisch belegt ist. 191

Im militärischen Zusammenhang hat das Wort neben „Sold" auch die Bedeutung „Kriegsproviant" von seiner Wortwurzel behalten (von οψον „Fleisch, Fisch"; vgl. Spicq 1978b, 635ft).

192

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

έ κ κ λ η σ ί α ι am Satzanfang ist betont 1 9 2 : „Andere G e m e i n d e n plünderte ich, i n d e m ich ( v o n ihnen) Kriegsproviant nahm 1 9 3 , f ü r den A u f t r a g 1 9 4 an e u c h " (V.8). Gemeint ist zunächst der Weg nach Korinth, w i e die Fortsetzung V . 9 zeigt ( „ u n d als ich bei euch w a r " ) . A b e r Paulus n a h m auch bei d e m Aufenthalt in Korinth G e l d v o n Geschwistern aus M a z e d o n i e n (ebd.). Der Bildspender, die fokalen Worte deuten nicht auf die Besoldung durch den Kriegsherren 1 9 5 , sondern auf das Plündern. Ein Mittel der T r u p p e n v e r s o r g u n g w a r die Beraub u n g der Besiegten 1 9 6 . Die Kriegsmetapher verbildlicht nicht die verschiedenen Rollen. D e n n sofort erhöbe sich die Frage, w e r „ b e k ä m p f t " u n d „ b e s i e g t " w i r d . Vielmehr transferiert sie eine W e r t u n g : Der U m g a n g mit den anderen G e m e i n d e n ist f ü r diese nachteilig. Diese bildliche Version des Unterhaltsverzichts negiert den Gedanken, dass die A n n a h m e einer Gabe ein A u s d r u c k der Freundschaft sei 1 9 7 oder Zeichen der B e v o r z u g u n g anderer. Dementsprechend stellt V . 8 b den Unterhaltsverzicht als Entlastung der G e m e i n d e in Korinth dar 1 9 8 . D a s verdient bleibenden R u h m in A c h a i a - nicht in M a z e d o n i e n ! ( V . 1 0 ) . So kann der A u t o r schließen mit rhetorischen Fragen u n d Gott: „ W i e s o ? Weil ich euch nicht liebe ? Gott w e i ß ! " ( 1 1 , 1 1 ) .

1.6 Laufen und Wettkampf Die „Sportmetaphern" sind kaum elaboriert, sondern nur durch einzelne Worte dargestellt, so dass mehrfach nicht klar ist, ob hier der Bildspendebereich „Sport" konzeptualisierend wirkt oder Krieg (vgl. 192 Vgl. Zmijewski 1978,130. 193 Zur instrumentalen Auflösung des Partizips vgl. Zmijewski 1978,133. 194 Zur Bedeutung von διακονία vgl. oben §4.2.1; zur Stelle J.N. Collins 1990, 211 (der aber übersetzt: "mission to you"). Das Wort impliziert die göttliche Beauftragung, die auch sonst im hier besprochenen Bildfeld von der militia Dei vorausgesetzt ist. 195 So etwa funktioniert die Metapher in IgnPol 6,2. 196 Vgl. dazu Friedrich Lammert, Art. Stipendium, in: PRE 2.R. 6 Halbband (1929) 25362538: 2538 (Belege von Caesar, De bell; Livius); vgl. Edmond u. Friedrich Lammert, Art. Kriegskunst, in: PRE 22 (1922) 1827-1858: 1851 zu diesem „alte(n) Mittel, sich den Lebensunterhalt zu verschaffen, ... zugleich ein Mittel der Kriegsführung" und seinen problematischen Seiten. Vgl. auch Kromayer-Veith 1928, 452t zum Prinzip „bellum se ipsum alet" (M. Porcius Cato nach Livius 34,9,12), was in der Praxis die Requirierung von Verpflegung bedeutete. Vgl. ähnlich Windisch 2 Kor, 355: Es handele sich um die Praxis, einer bereits besiegten Provinz die Kosten für einen neuen Feldzug aufzuerlegen. Doch auch so verstanden muss gewärtigt bleiben, dass das Verb συλαν dieses Vorgehen als nachteilige Belastung der anderen Gemeinden qualifiziert. 197 Dass dieser Gedanke nicht abwegig ist, lässt der Phil erkennen (vgl. § 5.2.3). 198 Auch hier begegnet mit ού κατενάρκησα ein „recht ausdrucksstarkes Wort" (Zmijewski 1978,135), bedeutet das Verb doch, durch das Präfix κατα- im negativen Sinne verstärkt, „narkotisieren"; vgl. auch I2,i3f.

Sportmetaphern

193

1.5 )199. Bezogen wird die Metaphorik einerseits auf das christliche Streben überhaupt, andererseits speziell auf die missionarische AnstrengungVerschiedene fokale Worte mögen den Bildspendebereich aufrufen mit der Bedeutung Kampf ( ά γ ώ ν κτλ. 200 , άθλεϊν κτλ. 201 ), boxen (πυκτεύειν 2 0 2 ), laufen (τρέχειν 203 , διώκειν 204 ) sowie Siegpreis (στέφανος 205 und βραβεΐον 206 ) und στάδιο ν 207 .

Die Sportmetaphorik ruft eine wegen der Isthmischen Spiele gerade den Korintherinnen bekannte Welt ab208. Der sportliche Wettkampf 199 άγών, ursprünglich den sportlichen Wettkampf bezeichnend, wird auch für den Kampf im Krieg verwendet, wie die sportliche Betätigung auch den Zweck hatte, tüchtige Krieger zu trainieren, vgl. Poplutz 2004, 58.301. Bereits in der metaphorischen Vorläufertradition ist die Sportmetaphorik mit der Kriegsmetaphorik kombiniert, vgl. Pfitzner 1967, 42t und i57ff zur Verbindung beider Metaphern bei Paulus. Umstritten ist insbesondere der Text Phil 1,27-30, der nach Pfitzner 1967, i44ff zur Wettkampfmetaphorik gehört, weil er wie diese Zielgerichtetheit impliziert, hier aber wie bei Poplutz a.a.O., 30if als kriegerisches Bild verstanden wird (vgl. oben 1.5). 200 ά γ ώ ν fällt in Phil 1,30 (analog zu πάσχε iv); iThess 2,2 (in der Sache als Leiden); beide Male ist nicht eindeutig an Wettkampf gedacht, sondern möglicherweise an militärischen Kampf; vgl. so B A A s.v. άγωνίζεσθαι steht vom Sportkampf in i K o r 9,25, σ υ ν α γ ω ν ί ζ ε σ θ α ι bezeichnet in Rom 15,30 den Kampf der Gemeinde zusammen mit Paulus durch Gebete. 201 Zu συναθλεϊν vgl. Phil 1,27 (von der Gemeinde, als Sinnesgemeinschaft); Phil 4,3 (von einzelnen Gemeindegliedern mit Paulus); vgl. aber oben 1.5. 202 πυκτεύειν, boxen, begegnet nur in i K o r 9,26 (vgl. zum Vorkommen Papathomas 1997, 2 3 7 f ) . 203 τρέχειν wird in Bezug auf Menschen allgemein in Rom 9,16 (parallel zu θέλειν); Gal 5,7 (sachlich parallel zu „dem Evangelium gehorchen") und deutlich sportiv in 1 Kor 9,24 verwendet, τρέχειν εις κενόν begegnet mit Paulus als Subjekt in Phil 2,16 (parallel zu κοπιαν); Gal 2,2. Dass dabei an einen Wettlauf zu denken ist und nicht einfach an „Laufen zu einem Ziel", ist nicht indiziert. 204 διώκειν in Phil 3,12 (von Paulus in Bezug auf ein nicht deutlich identifiziertes Ziel) wird durch die Aufnahme in 3,14 (διώκειν εις τό βραβεΐον) als Wettkampfmetapher spezifiziert, επεκτεινόμενος (3,i3fin) mag auf die typische Haltung des Wettläufers beim Endspurt, die ausgestreckten Arme, anspielen (vgl. Metzner 2000, 577). 205 στέφανος fällt in Phil 4,1 (von der Gemeinde in Bezug auf Paulus, parallel zu χαρά); iThess 2,19 (στέφανος καυχήσεως; vgl. dazu §6.5.1); i K o r 9,25 vom Siegeskranz des Wettläufers. Zur üblichen materiellen Belobigung der Sieger vgl. vor allem Papathomas 1997, 225ff.23of. Im Unterschied zur Arbeitswelt (vgl. oben 1.1) erhielten die Athleten Preise und Geschenke, nicht jedoch Lohn (a.a.O., 232). 206 βραβεΐον bezeichnet in Phil 3,14 und i K o r 9,24 den Siegpreis. Zum Begriff vgl. Papathomas 1997, 234t. 207 Zu σταδίον im Sinne von „Stadionrund" in 1 Kor 9,24 vgl. Poplutz 2004, 264. 208 Zu den Realien von Spielen und Sportarten vgl. ausführlich Poplutz 2004, 71-99. Papathomas 1997 weist anhand der ägyptischen Papyri der Zeit nach, dass Paulus mit der agonistischen Terminologie und Konzeption seiner Alltagswelt vertraut war:

194

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

war wie heute beliebt und professionalisiert 209 , und die großen Wettkämpfe waren sozial bedeutsam und kultisch konnotiert210. Den paulinischen Metaphern geht bereits eine Metaphorisierung der Sportwelt voraus, zwar nicht in der Bibel 211 , aber in der zeitgenössischen Popularphilosophie 212 . In der „Diatribe" 213 und im Frühjudentum 214 dient die Metaphorik zur Beschreibung der individuellen zielgerichteten Anstrengung, die positiv konnotiert ist. Meist geht es um den „Tugendkampf". Die Konzeptmetapher gibt eine lineare Struktur und Zielstrebigkeit vor. Bei der Laufmetapher ist dies besonders sinnfällig. Kampf als Bildspender überträgt darüber hinaus die Vorstellung, dass es einen Gegner gibt, der Widerstand leistet. Die paulinischen Verwendungen reihen sich in dieses Bildfeld ein, formen jedoch nur in ι Kor 9,27 (vgl. unten) eine Pointe. Die mehrfache Aufnahme der Metaphorik im Phil 2,16; 3,12-16; 4·,ΐ·3215 gibt diesem eine Sinnlinie, welche die Darstellung der missionarischen Anstrengung des Paulus locker miteinander korreliert. Impliziert ist in den Metaphern jeweils die eschatologische Perspektive; aus der Vorstellung vom Laufsport wird also die lineare Zeit- und Zielperspektive transferiert. „Er besitzt wohl die Kenntnisse des durchschnittlichen Menschen seiner Zeit" (a.a.O., 241). Dass die Metaphorik nicht nur auf Vertrautheit mit dem Bildfeld zurückgeht, sondern auf Bekanntschaft dem Sport selbst, meint Poplutz 2004, 409 ft, wie bereits Metzner 2000 vermutet, dass Paulus die Isthmien im Jahre 51 erlebte. 209 Vgl. Papathomas 1997, 225 ft. 210 Pfitzner 1967,18-20. 211

Auch im NT begegnet die Metaphorik außerhalb des corpus Paulinum (vgl. Kol 1,29; 2,1; 4,12; i T i m 4,10; 6,12; 2Tim 4,7; dazu Pfitzner 1967,165ft) kaum (vgl. Hebr 12,iff und vereinzelte Verwendungen fokaler Termini; vgl. Pfitzner a.a.O., 78 Anm.2).

212 Vgl. nach der grundlegenden Studie Pfitzners 1967 jetzt Poplutz 2004, 102-217 ( v g ' · auch die pointierte Zusammenfassung der Texte bei Schwankl 1997,177-179, der 174t darauf hinweist, dass auch heute noch Sportmetaphorik gut im Rennen liegt). Pfitzner hob die Eigenständigkeit der paulinischen Metaphorik gegenüber der stoischen hervor, insofern sie bei Paulus nicht im moralischen Kontext der Leistungsethik stehe. Poplutz zeigt sowohl Gemeinsamkeiten wie Differenzen (a.a.O., 403-409). Schwankl 1997,190 weist zu Recht darauf hin, dass Lesende die Metaphorik sowohl aus der realen Welt des Sports wie aus der hellenistischen Moralphilosophie verstehen konnten, je nach ihrer Kenntnis und Vorstellungswelt eher an Sport oder Philosophie denken mochten. „Diese Anpassungsfähigkeit macht gerade die Stärke der Metaphorik mit aus" (ebd.) 213 Namentlich Epiktet und Seneca; vgl. Pfitnzer 1967, 23ft; Poplutz 2004, H5ff. 214 Bei Philo begegnet die Metaphorik wie in der Stoa (Textbeispiele im Neuen Wettstein 2/1, 322t), im 4 Makk bezogen auf das Martyrium (vgl. besonders i 7 , n f f ) ; vgl. im Einzelnen Pfitzner 1967, 38ft sowie Poplutz 2004, i74ff. Auch dem Judentum waren die sportlichen Institutionen geläufig; vgl. Papathomas 1997, 230f. 215 Zu 1,27-30 vgl. oben 1.5. Vgl. im einzelnen Poplutz 2004, 2.93ff.349ff, die die Metaphorik allerdings auf zwei verschiedene Briefe nach Philippi aufteilt.

Die Sportmetapher ι Kor 9,24-27

195

1.6.1 Paulus als Sportler (1 Kor 9,24-27) P a u l u s stellt sich z u m Abschluss seiner A u s f ü h r u n g e n über den vorbildlichen Verzicht auf Unterhalt u n d seine Selbstversklavung als Sportler dar 2 1 6 . Wettlauf u n d Faustkampf sind z w e i der z.B. bei den Isthmischen Spielen geübten Disziplinen, passen insofern nebeneinander, auch w e n n sie nicht v o n einem Sportler ausgeübt wurden 2 1 7 . Zunächst appelliert P a u l u s jedoch in V. 24 mit der Wettlaufmetapher allgemein, sich so zu bemühen, als gelte es, erste/r zu w e r d e n . Es geht natürlich nicht darum, andere Christinnen auszustechen d a g e g e n spricht schon der pluralische Konjunktiv κ α τ α λ ά β η τ ε - , sondern u m den Siegesehrgeiz 2 1 8 . „ D a b e i s e i n ist alles" gilt f ü r die christliche L e b e n s f ü h r u n g nicht. Wichtig ist die Ausrichtung auf das Ziel ( β ρ α β ε ϊ ο ν b z w . σ τ έ φ α ν ο ς ) . D a s s dieses Ziel i m Gegensatz z u m w e l k e n d e n Blätterkranz, den Sportlerinnen erhielten, u n v e r g ä n g l i c h ist (V.25), wertet den Bildspender in einem A r g u m e n t a minore ad maius gegenüber d e m B i l d e m p f ä n g e r ab 219 . V . 2 5 w ä h l t einen weiteren A s p e k t des Bildspenders, die enthaltsame Vorbereitung auf den Wettkampf, u m auf den Lebenskampf z u übertragen, dass auch in diesem Entsagung in Kauf g e n o m m e n w e r d e n muss 2 2 0 u m des Sieges willen. Erst in V . 2 6 w e n d e t Paulus die Metaphorik auf sich selbst an. D a s Bild zeigt den, der g e r a d e w e g s ins Ziel stürmt 2 2 1 b z w . der nicht in die L u f t boxt 2 2 2 , sondern T r e f f e r platziert, u m den A s p e k t der A n s t r e n g u n g auf das Ziel hin hervorzuheben. V . 2 7 , durch ά λ λ ά abgesetzt, bricht jedoch mit der Metapherntradition u n d den unproblematischen Inferenzen aus der Welt des Sports in die der Mission. Paulus schlägt zu - u n d verpasst seinem eigenen K ö r p e r ein blaues Auge 2 2 3 . Die Metapher frappiert. Sich selbst z u schlagen ist ebenso unüblich w i e die freiwillige Selbstversklavung, v o n der V.2r/b in A u f -

216 Fokal fungieren hier στα&ίον, τρέχειν, βραβεΓον, άγωνίζεσθαι, στέφανος, πυκτεύειν, ϋπωπιάζειν. Vgl. insgesamt die Analyse von Poplutz 2004, 245-291, die auch auf Parallelen der Metaphorik hinweist. Zur Pragmatik des Exemplum im Kontext von 1 Kor 8 - 1 0 vgl. Schwankl 1997,185ft; vgl. auch 1.1.1 zu 1 Kor 9. 217 S. Poplutz 2004, 278; vgl. a.a.O., 82ff und auch Schräge 1 Kor Bd.2, 363 mit Anm.498 zu Details der Isthmischen Spiele (Lit!). 218 Vgl. auch Schräge 1 Kor Bd. 2, 304f mit Abweisung anderer Auslegungen, die im Sieg gegen andere die Pointe sehen wollen. - Dieser Appell antizipiert bereits io,iff (vgl. γάρ ιο,ι), mit Fee 1 Kor, 435 u.a. 219 Auch das ist traditionell im Bildfeld; vgl. Pfitzner 1967, 38f. 220 Vgl. Schräge 1 Kor Bd.2, 365t zu den damaligen Enthaltsamkeitsempfehlungen (von Wein, Fleisch, Sex) an Sportler; vgl. genauer Poplutz 2004, 270-276, insbesondere zum Begriff έγκράτεια. Auch dieser Aspekt ist bereits im Bildfeld verwendet (Belege bei Schräge ebd.; Textbeispiele auch im Neuen Wettstein 2/1, 326). 221 Vgl. zur Bedeutung von ούκ ά&ήλως Schräge 1 Kor Bd.2,368t mit Anm. 222 Vgl. zur Formulierung Poplutz 2004, 279. 223 Zu ύπωπιάζω μου τό σώμα (9,27a) vgl. Konrad Weiß, Art. ύπωπιάζω, in: ThWNT 8 (1969) 588-560: 588; Poplutz 2004, 280. Dass hier von einer Selbstverletzung die Rede ist, wird in den Ubersetzungen meist ignoriert.

196

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

n ä h m e v o n V . 1 9 spricht. Es ist mehr als nur die έ γ κ ρ ά τ ε ι α des Sportlers 2 2 4 . Paulus geht i m K a m p f seiner Mission (vgl. κ η ρ ύ ξ α ς V.2.jb) rücksichtslos mit seinem K ö r p e r u m , so w i e m a n es eigentlich mit einem G e g n e r pflegt 2 2 5 . Die abschließende Finalbestimmung zeigt aber, dass es ihm nicht u m die Selbstverletzung an sich geht. Die P r ü f u n g , das Aushalten v o n L e i d ist die Disziplin, in der Paulus sich bewährt 2 2 6 . Er mutet sich selbst mehr zu als üblich u m derer willen, die seine V e r k ü n d i g u n g hören. Damit ist Paulus einzigartig u n d mehr als nur ein Beispiel f ü r die Starken in Korinth, die auf ihr Recht verzichten sollen 2 2 7 .

Zwei Zielbereiche werden mit diesen Bildern von Lauf und Kampf, Wettlauf und Wettkampf dargestellt, einerseits die christliche Lebensführung allgemein, andererseits die Bemühungen und Anstrengungen des Missionars Paulus und anderer. Übertragen werden kann aus dem Herkunftsbereich im Sinne der Tradition des Bildfeldes, je nach Hervorhebung des Kontextes, Anstrengung, die gesellschaftliche Akzeptanz solcher Anstrengung als sinnvoll, die Linearität des Tuns, d.h. die Ausrichtung auf ein Ziel, und der doppelte Ausgang, Erfolg oder Misserfolg, sowie die sichtbare Belobigung des Siegers. 224 Folglich sagt Paulus nicht einfach im Bilde, „daß er seinen Leib im Dienst der Verkündigung in Zucht nimmt" (so Schräge i K o r Bd.2, 37of; ähnlich auch z.B. Lindemann xKor, 215; Poplutz 2004, 280) oder sich selbst als Beispiel dafür präsentiert, dass Selbstkontrolle notwendig ist, um zu gewinnen (so die Pointe der Verse nach Fee 1 Kor, 435.438t). Auch Pfitzner sieht in der εγκράτεια die Pointe der gesamten Metapher, in V.27 namentlich "the athlete who does all to discipline himself and to keep his body under rigorous control, in order that it might serve and not hinder his progress to the goal" (1967, 85ff, Zitat 91). Den Sinn verkürzt auch Schwankl, der V.27ab als Ausführung über das notwendige „Training" versteht (1997,184). Das zu sagen, hätte es nicht der extravaganten Metapher von der Selbstverletzung bedurft. Treffender deutet Wolff iKor, 207, der allerdings auch keinen Bruch mit Bildfeld bzw. Bildspender sieht: „[ύπωπιάζω] beschreibt hier ein gewaltsames Gefügigmachen für die Anforderungen des apostolischen Dienstes. Man wird nicht an Selbstkasteiungen, sondern an das bewußte Ertragen aller Beschwernisse, die mit der Missionstätigkeit verbunden sind ..., zu denken haben." 225 Das heißt nicht, dass der Körper der eigentliche Gegner ist (darin ist Pfitzner 1967, 9iff im Recht, der entsprechende Auslegungen kritisiert); die Pointe liegt gerade darin, dass der Norm-Boxer nicht den eigenen Körper trifft. 226 αδόκιμος könnte auch fokal verstanden werden, so etwa Fee 1 Kor, 433.440 ("disqualified for the prize"). Zum Zusammenhang von δοκιμή κτλ. und Leiden vgl. Rom 5,4; 2 Kor 8,2. Zur inhaltlichen Füllung kann man an den Peristasenkatalog 4,9-13 denken (so Pfitzner 1967, 93ff; Wolff 1 Kor, 207 u.a.). 227 Vgl. den Abschluss der Ausführungen in 11,1. Dass Paulus sich hier nicht als Kopiervorlage darstellt, sondern sich nach Aussage der Metapher V . i j a mehr zumutet, als er von den anderen verlangt, wird in der abschwächenden Deutung der Metapher (vgl. Anm.224) übersehen (so etwa die Tendenz von Schwankl 1997, i85f). Gegen die direkte paränetische Deutung votiert vor allem Pfitzner 1967, 97t, wenn auch auf Basis einer etwas anderen Auslegung. Es sei eine parallele Situation von Freiheit und Verzicht.

Die Sportmetapher ι Kor 9/24-27

197

Eine Relation zwischen Menschen, eine Gemeinschaft oder die Beziehung des Paulus zu einer Gemeinde, konzipiert das Bildfeld bei Paulus wie in der Tradition kaum. Der Aspekt der sportlichen Gegnerschaft wird nicht aufgenommen 228 . Und die Aufforderung zu gemeinsamem Kampf bleibt eine in der Wettkampfmetaphorik ohne „Mannschaftssportarten" blasse Vorstellung, wie Paulus selbst in i K o r 9,24 sagt: Nur eine/r bekommt den Siegpreis. „Gemeinsamer K a m p f " lässt daher eher an militärische Szenarien denken. Eine Beziehung zwischen Paulus und Gemeinde sowie Gott resp. Christus wird freilich in der Metapher vom eschatologischen Siegeskranz in 1 Thess 2,i9 229 und Phil 4,1 abgebildet. Demnach ist die Gemeinde Zeichen des missionarischen Erfolges des Paulus vor Gott oder Christus. Die Beziehung zwischen Missionar und Gemeinde wird so als Gegenseitigkeit in unterschiedlichen Rollen dargestellt: Der Missionar erhält den Preis für die Wettkampfleistung, aber diese liegt nicht allein bei ihm, sondern im Glauben der Adressatinnen.

1.7

Vegetation

Die Welt der Vegetation, die in der biblischen Literatur häufig herangezogen wird als Bildspenderin von Metaphern230, begegnet bei Paulus relativ selten231, was an der Urbanen Prägung der Gemeinden und des Briefschreibers liegen mag. Neben lexikalisierten Metaphern, die vor

228 Mit Poplutz 2004, 397. 229 Vgl. § 6.5.1 zu 1 Thess 2,19. 230 Vgl. die Gesamtschau von Gemündens 1993. Sie zeigt, dass unterschiedliche Aspekte der Vegetationswelt herangezogen werden aus den beiden „Teilbildfeldern" B a u m Frucht sowie Saat-Wachstum-Ernte. Verdeutlicht werden kann die Zusammengehörigkeit von Frucht und Baum oder die Entsprechung von Saat und Ernte, Wachstum, unterschiedliches Wachstum der Saat, Vergänglichkeit etc. Vegetationsmetaphern gibt es auch in der Literatur des Umfeldes (vgl. etwa von Gemünden a.a.O., 35off). Ob sich die konkreten Metaphern auf die Tradition des Bildfeldes beziehen oder vor allem auf das Alltagswissen, ist im Einzelfall zu entscheiden. 231 Die Belegstellen sind hier komplett aufgeführt; vgl. auch die Zusammenfassung bei von Gemünden 1993, 310-314.

198

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

allem im ethischen Kontext um καρπός kreisen 232 , gibt es wenige elaborierte Metaphern 233 . Von der missionarischen Arbeit sprechen wenige Vegetationsbilder 234 . καρπός als Ergebnis der Arbeit des Paulus (Phil 1,22; Rom 1,13) ist wiederum stehende Metapher. 1 Kor 9,7.11 begründet mit einem Analogieargument aus der Agrararbeit das Unterhaltsrecht: Es ist sinnvoll wie die Gepflogenheit, von der eigenen Ernte zu essen. In 1 Kor 3,6-9 wird die missionarische Aufgabe als Pflanzen und Gießen beschrieben zwischen anderen Metaphern vom Nähren, Bauen, Zeugen. So wird die Bedeutung von Paulus und Apollos in Korinth relativiert als Gärtnern unter Gott, der allein wachsen lässt. Dabei wechselt der Fokus von der Vegetation zur agrarischen Arbeitswelt. Wie bei den anderen elaborierten Metaphern 235 wird hier das Bildfeld gezielt verändert, um eine neue Pointe zu setzen (vgl. genauer § 7.3.2).

1.8

Licht und Sehen

Im Verhältnis zur Bedeutung der Lichtmetaphorik für die religiöse Sprache236 und des Lichtes für das nicht elektrisierte Alltagsleben im Mittelmeerraum verwendet Paulus diesen Bildspender selten, kaum vitalisiert 237 und nur einmal für seine Bedeutung als Diakonos und

232 Vgl. im ethischen Zusammenhang καρπός κτλ. in Gal 5,22; Phil 1,11; Rom 6,2if; Rom 7,4f; i K o r 14,14 (vgl. auch καρπός von der Kollekte in Rom 15,28); σπείρειν und θερίζειν in Gal 6,7ff. Stehende Metaphern sind auch die vom spirituellen Wachsen (2Kor 10,15 α ύ ξ ά ν ε ι ν ) oder „Aufblühen" (Phil 4,10 ά ν α θ ά λ λ ε ι ν ) der Gemeinde. Mehr visuelle Kraft hat 2 Kor 9,10, das Gottes Gabe im Anschluss an Ps 111,9 LXX ur >d Jes 55,10 als Wachsen der Saat Gottes beschreibt. 233 Das „Ölbaumgleichnis" stellt die heilsgeschichtlich-ekklesiologischen Zusammenhänge dar (Rom 11,17-24). Nur hier wird ein Zugehörigkeitsbild (vgl. Joh 15,iff) von Paulus dynamisiert (anders von Gemünden, die auch 1 Kor 3,5ft zu den „Zugehörigkeitsbildern" zählt). Das Auferstehungsbild i K o r I5,35ff leitet analogisch argumentierend die Veränderung des Auferstehungsleibes aus der Naturerfahrung vom Sterben der Saat her. 234 Dieses Bildfeld ist in einigen synoptischen Gleichnissen narrativ entfaltet, vgl. etwa die Gleichnisse von Mk 4par und Mk 12,iff. 235 Vgl. dazu die Auslegungen von Gemündens 1993, z.St. und zusammenfassend 3ioff. 236 Vgl. Schwankl 1995, 38 ft zur Metaphorik in der antiken Literatur ausgehend von der Bedeutung des Lichts; Kuschnerus 2002, 208-219. 237 Vgl. Schwankl 1995, 77. In den authentischen Paulusbriefen bezeichnet Sicht- bzw. Sehvermögen die Erkenntnisfähigkeit in Rom 1,21; 2,19. Paränetisch wird die Dualität von Licht und Finsternis eingesetzt in Rom 13,11-14; 2 Kor 6,14; iThess 5,5. Im Blick auf das Gericht spricht 1 Kor 4,5 von der Sichtbarmachung des Dunkels, d.h.

Lichtmetaphorik

199

G e m e i n d e g r ü n d e r . Der Bildspender inferiert i m m e r eine deutliche W e r t u n g : Helligkeit, Tag, S e h v e r m ö g e n , O f f e n b a r s e i n sind gut, Dunkelheit, Nacht, Verborgenheit, Blindheit schlecht.

1.8.1

Licht v o m Licht (2 K o r 4 , 1 - 6 )

Nur in 2 Kor 4,6 beschreibt Paulus seine Bekehrung und ihre Wirkung in dieser Metaphorik 238 , die den ganzen Abschnitt 4,1-6 beherrscht239. Eine Sinnlinie des Textabschnittes 2,14-7,4, ^ie vom Sehen, Unverhüllt-, Offenbar-Sein und deren Opposita handelt, wird damit in den Vordergrund gestellt240. Die in 3,6 ft beschriebene διακονία wird herausgestellt als transparente, vor Gott offengelegte verantwortungsvolle Arbeit, die sich als solche selbst empfiehlt (4,if). Der Autor greift die Konzeptmetapher auf, die religiöse Erkenntnis als Schau oder Sehen darstellt241. Aus der Metapherntradition stammt auch die duale Implikation des Bildfeldes - Licht und Finsternis als sich ausschließende Gegensätze - und ihre soteriologische Applikation. Die ausbleibende Reaktion auf das Evangelium wird mit der „Blendung" durch „den Gott dieses Äons" erklärt (4,3 ο 2 4 2 . In Antithese dazu 243 führt V.^i die positive Wirkung der Verkündigung des Paulus auf Gottes Erleuchtung zurück. Statt der geläufigen akustischen Vorstellung (verba dicendi, in 4,5 κηρύσσειν) beschreibt V.6 244 ein visuelles des im Herzen Verborgenen durch den Herren. Diese Bilder partizipieren jeweils an geprägten Bildfeldern. 238 Dass dies der Bildempfänger ist, ist freilich nicht unbestritten; vgl. zur Diskussion jetzt Dautzenberg 2001. 239 Aus dem Wortfeld Licht, Sehen, Sichtbares begegnen τα κρυπτά, φανέρωσις (V.2), κεκαλυμμένον (V.3), τυφλοϋν, αύγάζειν, είκών (V.4), φωτισμός (V.4-6), σκότος, φως, λάμπειν. Auch ένώπιον τοϋ θεοϋ (V.2), πρόσωπον (V.6) und δόξα (ebd.) gehören zu diesem semantischen Feld. - Zur Auslegung des Textes vgl. vor allem Kuschnerus 2002, 204ff, bes. 22gf. - Meist wird angenommen, dass Paulus hier, besonders in V.2, Vorwürfe repliziert (vgl. Wolff 2 Kor, 83; Schröter 1993, 132ft; Kuschnerus 2002, 22iff). Der Text indiziert aber nicht, dass die abgewiesenen Negativa dem Paulus unterstellt wurden (vgl. ähnlich zurückhaltend Thrall 2 Kor Bd.i, 300f). 240 Vgl. zur Sinnline φανεροϋν κτλ. 2,14; 3,3; 4,2; 4,iof; 5,10.11, zu κάλυμμα κτλ., der Opposition von verhüllt und unverhüllt, 3,13-16; 4,3; vgl. weiter 4,18; 5,7. S. Gruber 1998, 83 f. 241 Uns ist diese Metapher insbesondere aus der platonischen Tradition vertraut. Vgl. die Ubersicht über das Vorkommen bei Kuschnerus 2002, 208 ff, der für 2 Kor 4 einen jüdisch-hellenistischen Hintergrund ausmacht (a.a.O., 219). Bei Paulus begegnet die Konzeptmetapher auch in Rom 1,21; 2,19 (vgl. Anm.237). 242 Zu den Auslegungsproblemen und zur Deutung auf „Satan" vgl. Thrall 2 Kor Bd.i, 306ff, zum Verständnis auch Zeilinger 1997, i43f. 243 Vgl. zur antithetischen Entsprechung von V.4 und V.6 Zeilinger 1997,150. 244 Zur etwas undurchsichtigen Syntax des Verses vgl. Zeilinger 1997,151.

200

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Geschehen. Er begründet V . 5 (οτι), die A u s s a g e über die A u s r i c h t u n g der V e r k ü n d i g u n g d e s V e r f a s s e r s auf J e s u s u n d d i e s i m D i e n s t e d e r A d r e s s a t i n n e n . V . 6 spricht also nicht a l l g e m e i n ü b e r G o t t e s e r l e u c h t e n d e s W i r k e n i n C h r i s t u s , s o n d e r n v o n d e r B e k e h r u n g d e s P a u l u s 2 4 5 . Z u r B e s c h r e i b u n g einer B e k e h r u n g w i r d L i c h t b z w . S e h e n a u c h sonst h e r a n g e z o g e n 2 4 6 . D i e K o n z e p t m e t a p h e r w i r d hier durch das Lichtmotiv der Schöpfungsgeschichte247 prägnant zugespitzt. Die B e r u f u n g des Paulus w i r d analogisiert mit der Erleuchtung der Welt a m B e g i n n d e r S c h ö p f u n g . S o streicht d e r T e x t d e n göttlichen U r s p r u n g d e r „ E r l e u c h t u n g " 2 4 ® u n d i h r e initiale W i r k u n g heraus 2 4 9 . M i t d e r E r g ä n z u n g d e s π ρ ό σ ω π ο ν Χ ρ ί σ τ ο υ als „ S p i e g e l " d e s G l a n z e s w i r d z u d e m d a s c h r i s t o l o g i s c h e Z e n t r u m d e r B e r u f u n g sichtbar. G o t t e s L i c h t auf d e m A n g e s i c h t C h r i s t i scheint w i d e r i m H e r z e n d e s P a u l u s 2 5 0 . D e r T e x t spricht a l s o a u c h ü b e r d i e m i s s i o -

245 Mit Wolff 2 Kor, 86f; de Oliveira 1990, 254t; Thrall 2 Kor Bd.i, 316t; Zeilinger 1997, I53f; Dautzenberg 2001, 326ft; Kuschnerus 2002, 229t u.a. Dass zwar durchlässig für die Bekehrungserfahrung anderer Christinnen formuliert ist, hier aber zuallererst an die des Paulus zu denken ist, zeigt der Aorist ε λ α μ ψ ε ν und der Aussagekontext (das Thema διακονία 4,1, die Weiterführung 4,7ft, die von Paulus' persönlichem Geschick handelt, und der kausale Rückbezug von V.6 zu V.5). Teilen Christinnen die Erleuchtungserfahrung, so weiß sich doch Paulus mit ihr zu seinem singulären Dienst berufen (mit Zeilinger 1997,156). 246 Vgl. neben A p g 26,18; i P e t r 2,9 auch über die Bekehrung des Paulus als „Sehen" i K o r 9,1 und die Darstellungen in der A p g 9,3parr. Weitere ntl. sowie frühjüdische Texte bei Schröter 1993,135 f. 247 Die Formulierung lässt aufgrund der Einleitung ό ε ι π ώ ν trotz der Unterschiede zuerst an Gen 1,3 denken (vgl. genauer Thrall 2 K o r Bd.i, 315). Wer statt dessen oder zusätzlich wegen der wörtlichen Berührungen in φως, σχότος und Λάμψει einen intertextuellen Bezug zu Jes 9,iLXX sieht, kann als Aussage hören, dass die eschatologische Verheißung des Lichtes für die im Finsteren Wohnenden erfüllt ist (so de Oliveira 1990, 25if; Zeilinger 1997,152 mit anderen, vgl. aber kritisch z.B. Wolff 2 Kor, 88).

248 Mit der Aussage über die göttliche Gabe an Paulus inkludieren 4,6 und das passivum divinum έ λ ε ή θ η μ ε ν 4,1 den Abschnitt. Damit wird der legitimierende Verweis auf die Befähigung durch Gott in 3,5 wieder aufgegriffen (mit Schröter 1993,130). 249 Demgegenüber tritt die dualistische Inferenz der Metapher zurück; mit Kuschnerus 2002, 231. 250 Die Deutung hängt davon ab, wen man als „logisches Subjekt" des πρός φωτισμόν unterstellt. Dass hier nicht nur an das Leuchten Gottes im Angesicht Christi zu denken ist (so Thrall 2 K o r Bd.i, 318; Dautzenberg 2001, 339ft), sondern „ z u m Leuchten" die Wirkung des Paulus als passive Weitergabe des göttlichen Lichtes beschreibt, legt sich vom Kontext nahe, der Einführung als διακονία 4,1, und der Begründungsfunktion von V.6 für V.5. So lesen z.B. Bultmann 2 Kor, 1 1 1 ; Wolff 2 Kor, 87; Schröter 1993, 136; Zeilinger 1997, 153t. Noch weiter in diese Richtung, allerdings ohne zwingende Gründe, geht Grubers Auslegung (1998, 298ft) von 2 Kor 4,6 als „Apostelmetapher" in Weiterführung des Mosevergleichs 3,7ft. πρόσωπον referiere auf das Angesicht des Paulus, „das er der Gemeinde unverhüllt zuwendet und in dem als in einem Gesicht Jesu Christi für sie die Doxa Gottes aufstrahlt" (a.a.O., 299, im Original z.T. hervorgehoben). - Eine kreuzestheologische Dialektik in dem Sinne, dass die Doxa gerade auf dem Angesicht des Gekreuzigten aufscheine (so Kuschnerus 2002, 232t mit anderen), indiziert der Text nicht.

Lichtmetaphorik

201

narische Wirkung des Paulus. Gerade „Licht" mit seinen besonderen physikalischen Eigenschaften kann dies verdeutlichen: „Mit der Erleuchtungssemantik wird die Selbigkeit dessen unterstrichen, was Paulus erfahren hat und was er verkündigt" 251 . Deshalb spricht er nicht von sich, sondern ist „Herold" Jesu Christi, der den Adressatinnen dient (4,5, vgl. dazu 1.12.1).

1.9

Botschaft u n d V e r s ö h n u n g

A u s d e m Bereich der offiziellen Weitergabe v o n Botschaften, „ a g e n t s of c o m m u n i c a t i o n " 2 5 2 , hat P a u l u s n u r in 2 K o r 5 , 1 8 - 2 0 a n h a n d des K o n z e p t s v o n π ρ ε σ β ε ύ ε ι ν 2 5 3 (Botschafter sein), inhaltlich gefüllt d u r c h das K o n z e p t der κ α τ α Λ Λ α γ ή ( V e r s ö h n u n g ) , eine vitale M e t a p h e r g e s c h a f f e n , κ η ρ ύ σ σ ε ι ν , „ p r o k l a m i e r e n " dürfte nicht als M e t a p h e r verstanden w o r d e n sein. Der κήρυξ ist ein „Herold", der sich vor allem durch eine laute Stimme auszeichnet und dem die wörtliche Weitergabe einer Botschaft obliegt, dem aber auch kultische Funktionen zukommt 254 . Der Gebrauch des Verbs scheint zur Zeit des Paulus jedoch bereits zur Lexikalisierung der Metapher als Missionsterminus zu tendieren255.

1.9.1

Der Versöhner (2 K o r 5 , 1 8 - 2 0 )

2 Kor 5,18-6,2 256 ruft mit dem fokalen Wort πρεσβεύομεν (V.2o) die Praxis des öffentlichen Austausches durch Gesandtschaften ab, die in der damaligen Welt 251 Kuschnerus 2002, 230. Vgl. zu einer ähnlichen Selbstaussage des „Lehrers der Gerechtigkeit" in 1 QH TV,5.2.7 Wolff 2 Kor, 87. 252 Vgl. Bash 1997, 6ff zu den „Realien". 253 Die Konjektur πρεσβευτής statt πρεσβύτης in Phlm 9 ist nicht gerechtfertig; vgl. Bash 1997,117t; gegen Petersen 1985,125 ft. - Wenn Paulus in Gal 4,14 sagt, man habe ihn wie einen ά γ γ ε λ ο ς θεοϋ in Galatien aufgenommen, rekurriert dies bereits auf die spezifisch biblische Bezeichnung des Götterbotens, die Paulus hier nicht selbst für sich reklamiert (vgl. § 8.4.3). 254 Vgl. G. Friedrich, Art. κήρυξ κτλ., in: ThWNT 3 (1938) 682-717: 683ff; Bash 1997, 7f. 255 Vgl. nur 2 Kor 1,19; 11,4; Gal 2,2; Phil 1,15; 1 Thess 2,9; weiter Mk 13,10; 14,9; Lk 24,47; Apg 8,5; 9,20; 19,13; vgl. Otto Merk, Art. κήρυξ κτλ., in: EWNT 2 ( 2 i992) 710-720: 712t; s. auch 1.12.1 zu 2 Kor 4,5. Wenn die Pastoralbriefe das Verb nominal zu einer Paulus-Metapher beleben (lTim 2,7; 2 Tim 1,11), folgen sie damit ihrer Bezeichnung des Evangeliums als κήρυγμα (so Roloff 1 Tim, 124). 256 Das hier knapp dargestellte Verständnis kann nicht gegenüber der exegetischen Detaildiskussion vieler umstrittener Einzelheiten verantwortet werden (vgl. dazu vor allem die Kommentare von Thrall 2 Kor, Bd.i; Zeilinger 1997), legitimiert sich nach meiner Überzeugung aber auch durch die Kohärenz der Lektüre.

202

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

ohne unsere Möglichkeiten grenzenlos direkter Kommunikation ein wichtiges Mittel offiziellen Kontakts war 257 . Zur Kontaktpflege, zur Befriedung, zur Vertretung bestimmter Anliegen oder auch zur Informationsweitergabe zwischen lokalen oder imperialen Größen wurde eine Gesandtschaft aus einer oder mehreren Personen auf den Weg geschickt. Obschon keine technischen Termini, gehören zu diesem semantischen Feld auch die Verben παρακαλείν (5,20b; 6,ia) und δεϊσθαι (5,20c). Das Stichwort κ α τ α λ λ α γ ή κτλ., das den Aussagekontext durch fünffache Rekurrenz beherrscht, gehört nicht im engeren Sinne zu diesem Bildspendebereich „Gesandtschaft", ist aber ebenfalls bezogen auf die Kommunikation zwischen zwei Parteien, seien es Menschen oder politische Größen258. Während das Konzept „ Gesandtschaftsverkehr" eine dreistellige Relation bezeichnet, aber inhaltlich neutral ist, beschreibt καταλλ α γ ή κτλ. eine Beziehungsveränderung zwischen zwei Parteien von Feindschaft zu Frieden, die durch einen Dritten vermittelt sein kann259. Jenseits aller Diskussionen um die Soteriologie des Paulus ist unbestritten, dass Paulus das Konzept und seinen metaphorischen Gebrauch dezidiert bricht, wenn er die Veränderung nicht in Gott sieht, sondern Gott als Subjekt der Veränderung in den Menschen beschreibt260. Paulus verbindet diese beiden Konzepte in 2 Kor 5,18-6,2 zu einer prägnanten Aussage über seine Mission an den Adressatinnen, vertieft durch allgemein-soteriologische Aussagen (5,14.17.193^.21). Seit 5,11 spricht der Verfasser wieder über das aktuelle gegenseitige Verhältnis coram Deo 261 . Er ist sich seiner Verantwortung bewusst (V.iia) 262 , vor Gott ist er „offenbar" (V.iic, vgl. V.10), und er wünscht auch, dass die Gemeinde seine Lauterkeit wahrnimmt (V.iid), so dass sie sich seiner rühmen kann (V.i2b.c). Die Sentenz V.13, seinerseits ausführlich begründet durch den soteriologischen Spitzensatz V.i4f,

257 Vgl. Bash 1997, bes. 38ff. 258 Zum metaphorischen Charakter vgl. Breytenbach 2005, Nr.i. Während Breytenbach 1989, bes. 64ft die Zusammengehörigkeit der Konzepte unterstellte, hat Bash 1997 aufgezeigt, dass die Versöhnung einen spezifischen Kontakt darstellt, der nur selten Inhalt der Gesandtschaft ist, und der Gesandte selten eine Mediatorenrolle innehatte (vgl. bes. 43f-98ff; vgl. jetzt aber die Belege Breytenbachs [2005, Nr.3] für eine Verbindung beider Konzepte aus Dionysius Halicarnassus, Ant Rom). Bash meint, die Verbindung beider Konzepte verdanke sich der jüdisch-hellenistischen Mosetradition und setze die Synkrisis mit der Mose-Diakonia fort (a.a.O., l o i f f ; vgl. dagegen Breytenbach 2005, Nr.3). Seine Ausdeutung dessen, was die Metapher vielfältig vermittelt (Reisetätigkeit, Gefahren, Appellcharakter) und auch schockierend an Missverständnissen weckt (a.a.O., 103ft), übersieht, dass die metaphorische Übertragung vom Bildempfänger begrenzt und präzisiert wird. 259 Vgl. zur Semantik Breytenbach 1989, 45 ft, zur Verbundenheit mit der Friedensterminologie (z.B. Rom 5,10) too ff. Kurzgefasst ist der semantische Befund bei dems. 2005, Nr.2. 260 Vgl. vor allem Breytenbach 2005, Nr.3 z u r Besonderheit des paulinischen Sprachgebrauchs auch gegenüber der jüdisch-hellenistischen Übertragung auf das Gottesverhältnis. 261 Vgl. zu dieser Auslegung der umstrittenen Verse Zeilinger 1997, 250 ff. 262 Vgl. Wolff 2 Kor, 119.

Die Metapher vom Versöhnungsbotschafter 2 Kor 5,18-20

203

erklärt, w a r u m die G e m e i n d e sich seiner r ü h m e n k a n n : Weil P a u l u s f ü r d e n H e r r n „ a u ß e r sich w a r " , n u n , H e r r seiner selbst, f ü r die A d r e s s a t i n n e n d a ist 263 . D i e f o l g e n d e n A u s s a g e n k a n n m a n lesen als w e i t e r g e h e n d e B e g r ü n d u n g dieser impliziten A u f f o r d e r u n g : „ . . . die G e m e i n d e soll sich des P a u l u s rühm e n ! " 2 6 4 . Z w i s c h e n e x e m p l a r i s c h e n A u s s a g e n ü b e r seine e i g e n e r a d i k a l e E r n e u e r u n g d u r c h d a s C h r i s t u s g e s c h e h e n ( 5 , i 6 f ) u n d d e r P r o k l a m a t i o n der G e g e n w a r t dieses Heils (6,2) beschreibt d e r V e r f a s s e r diese E r n e u e r u n g in 5 , 1 8 - 6 , 1 als B e z i e h u n g s g e s c h e h e n z w i s c h e n Gott, Christus, d e r Menschheit, P a u l u s u n d d e n A d r e s s a t i n n e n . D a s s es letztlich u m einen A p p e l l an die E m p f ä n g e r i n n e n des B r i e f e s geht, der Botschaft des P a u l u s z u f o l g e n , hält der A u t o r j e d o c h als Ü b e r r a s c h u n g s m o m e n t z u r ü c k . Z u n ä c h s t ist Gottes H a n d e l n a n P a u l u s „ d u r c h C h r i s t u s " i m Blick ( V . 1 8 ) , d a s w i r a m besten als R e f e r e n z auf seine B e k e h r u n g verstehen 2 0 5 : " G o d c h a n g e d P a u l into a f r i e n d a n d entrusted h i m w i t h the m e d i a t i o n of the reconciliation" 2 6 6 . M a n k a n n bereits V . 1 9 als W i e d e r g a b e dieser δ ι α κ ο ν ί α , der V e r k ü n d i g u n g s a u f g a b e hören 2 6 7 : Gott, d u r c h die F o r m u l i e r u n g in V . i 8 a als der H a n d e l n d e betont 2 6 8 , v e r s ö h n t e d e n „ K o s -

263 Die Bedeutung der Alternative von vergangenem έξέστημεν und gegenwärtigem σωφρονοϋμεν ist völlig umstritten; vgl. Zeilinger 1997, 264ff, dessen hier aufgenommene Deutung von V.i3a als Referenz auf die Bekehrung gut in den Kontext passt (vgl. V.i8b; 4,6 und bereits 2,14). Beide Aspekte der Alternative sind positiv gewertet. 264 Bultmann 2 Kor, 149; Zeilinger 1997, 261. Die polemische Frontziehung in V.12C scheint vor allem den Zweck zu haben, die Vorzüge des Paulus zu verdeutlichen, nicht konkrete Gegner zu bekämpfen (vgl. Zeilinger a.a.O., 258f.2Ö2f). 265 Dass V.i8b.c wie V.16 zuallererst auf Paulus und seine Berufung durch eine Auferstandenenvision referiert (vgl. dazu Schröter 1993, 299t; so auch Wolff 2 Kor, 129; Zeilinger 1997, 306; Breytenbach 2005, Nr.4; gegen Thrall 2 K o r Bd.i, 429 u.a.), wird im Text durch das spezifische Stichwort διακονία indiziert, dass, wie wir sahen (§4.2.1) nicht einfach den „Dienst" bezeichnet, sondern die Übermittlungsaufgabe und spezifisch an die Weitergabe einer Botschaft, also Verkündigung denken lässt. So gelesen ist V.19C eine direkte Parallelaussage zu V.i8c. Zu diesem Verständnis von V.19C vor dem Hintergrund von Ps 104,27LXX vgl. Zeilinger 1997, 317t; vgl. bereits Wolter 1978, 82f. 266 Breytenbach 2005, Nr.4. Zu den Übersetzungsmöglichkeiten von διακονία της καταλλαγής vgl. die Überlegungen Bieringers 1994b, 422 ff. Angesichts der semantischen Feststellungen zu διακονία (vgl. §4.2.1) und der Inhaltsausführung 5,19t ist der Genitiv am besten inhaltlich zu deuten als Angabe dessen, was die διακονία übermittelt; vgl. die entsprechenden Genitive 3,6-9. 267 Versteht man διακονία so wie hier, schließt es den Gedanken an eine mündliche Botschaft ein. Das erklärt das Problem des umstrittenen ώς οτι (vgl. zur Diskussion Thrall 2 Kor Bd.i, 43if): Der Autor zitiert sich selbst, geht daher sowohl auf die allgemeine Versöhnung (V.iga.b) wie auf seine Berufung ein (V.19C). An ein solches Selbstzitat allgemeinen Inhalts schließt die Applikation V.20 bestens an. 268 V.iga ist am besten als coniugatio periphrastica zu verstehen, vgl. Breytenbach 1989, l i o f ; so auch die neueren Kommentare, Wolff 2 Kor, 129t; Zeilinger 1997, 308; Thrall 2 Kor Bd.i, 433; Lambrecht 2Kor, 98; anders aber Gräßer 2Kor, 226. Zur den Implikationen vgl. unten Anm. 275.

204

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

mos" „in Christus" (V.i9a). Kaufmannssprache 209 beschreibt in V.icjb die Veränderung noch einmal in Schuldkategorien, um wie die ungewöhnliche Syntax καταλλάσσειν έαυτω τι,να zu verdeutlichen, dass der Mensch dieses Gotteshandeln nicht „verdient" hat. Die Metapher der Versöhnung führt darüber hinaus zur Inferenz, dass die Versöhnten dieses Angebot auch annehmen müssen, weil dieses Geschehen auf Gegenseitigkeit beruht270. Der Blick wechselt zur Gegenwart und präzisiert nun metaphorisch die Rolle des Paulus. „ A n Christi Stelle271 sind wir nun als Gesandte unterwegs". Inhalt der Gesandtschaft ist eine Bitte Gottes, die plerophor eingeleitet und dann in direkter Rede zitiert wird. Der Imperativ καταλΛάγητε τω θεω kann als Appell an die Lesenden, aber auch nur als Zitat der Botschaft des Paulus verstanden werden 272 . Wer nicht will, muss sich zunächst nicht angesprochen fühlen. Doch die Bitte 6,ifin richtet sich dann eindeutig an die Adressatinnen, die empfangene Gnade nicht zu verspielen. Von 6,1 her behauptet also der Appell 5,2od provokant: Die angeschriebenen Christinnen sind unversöhnt mit Gott, nicht nur mit Paulus, seinem Mitarbeiter273. Inwiefern - das überlässt der Brief dem Weiter-Denken. Die Metapher vom Botschafter, der das Versöhnungsangebot überbringt, formiert eine „Aufstellung", in der dieser Appell aus der Feder des Paulus „legitim" ist. Allerdings ist das Verhältnis von Gott und Christus nicht expliziert. Dies, vor allem die Unschärfe der soteriologischen Aussagen, ist auf die Grenzen der Metaphorik zurückzuführen: Die Versöhnungsvorstellung bietet höchstens drei Rollen, hier auf Gott und Mensch sowie Paulus als den Vermittler der Versöhnung bezogen. Dass die Versöhnung „in Christus" geschehen ist, lässt sich nur präpositional addieren. Im Gesandten-Modell gibt es ebenfalls nur drei „Plätze" für die Vier, Gott, Christus, Paulus und die Adressatinnen. Vom Duktus der Rollenentwürfe in 2 Kor 2 - 7 her lässt sich diese Rollenverteilung m.E. am besten so verstehen, dass der versöhnende Gott der „Sender" der Gesandtschaft ist, Paulus damit „als Mitarbeiter Gottes" (6,1a) ύπέρ Χρίστου (5,2oa.c) die Stelle einnimmt, die nach 5,18b Christus

269 Zu λογίζεσθαι als „Kaufmannssprache" vgl. Hans-W. Bartsch, Art. λογίζομαι., in: EWNT 2 ( > 9 2 ) 874-876. 270 Mit Schröter 1993, 298; Gräßer 2 Kor, 225 u.a. Vgl. für das Konzept die Zusammenstellung von Belegen bei Breytenbach 1989,45ff. 271 Bash 1997, 92 (ähnlich Zeilinger 1997, 326) versteht ύπέρ Χριστού mit vor allem epigraphisch belegter Syntax so, dass Christus der Auftraggeber der Gesandtschaft ist, der durch Paulus vertreten wird. Dann ist aber die Relation von Gott und Christus unklar. Versteht man die Präpositional Wendung hingegen als „anstelle von Christus" (vgl. so auch Lambrecht 2Kor, 99; Gräßer 2Kor, 230), wird die Relation von Christus, Paulus und Gott klar: Gott ist der Sendende, sandte Christus, und nun ist Paulus stellvertretend für den Erhöhten gesandt. Diese Bedeutung trägt die Präposition ύπέρ, mit der auch V.14 spielt, auch in V.2ia. 272 Zur Diskussion vgl. Zeilinger 1997, 330, der sich gegen eine strikte Alternativsetzung wendet. 273 Das Präfix von συνεργοϋντες ist am besten auf Gott zu beziehen, vgl. Zeilinger 1997, 341·

Die Metapher vom Versöhnungsbotschafter 2 Kor 5,18-20

205

innehatte274. Was Paulus durch eine direkte Christusbegegnung erlebte, vermittelt er jetzt der Gemeinde, indem er Christus re-präsentiert. Im Blick auf die Gemeinde von Korinth beschreibt Paulus seine διακονία metaphorisch als Überbringen des Versöhnungsangebots Gottes in Repräsentanz Christi. Was gemeinhin als Teil des Konzeptes „Apostolat" behauptet wird (vgl. §4), beschreibt der Text also nicht unter diesem Begriff, sondern mittels zweier origineller Metaphern aus dem Bereich der öffentlichen Kommunikation. Die Bildspender übertragen die Bewegung von einem Partner zum anderen, ein unverdientes Friedensangebot, die autorisierte Vermittlungsrolle und die Notwendigkeit der Reaktion auf das Angebot. Die Metaphorik schreibt also Zeitachse, Vermittler und Erwartung an eine Reaktion in das Heilsgeschehen ein. Der Text macht daraus sogar eine Szenenfolge. Paulus wird zunächst selbst „versöhnt", erhält dann allgemein die Aufgabe der Versöhnung, beschreibt diese und appliziert sie erst zum Schluss explizit auf die Briefsituation zu einem provokanten Appell an die Gemeinde. Damit kann Paulus seine Aufgabe als ihm persönlich aufgegebene, unhintergehbare Verkündigung an die Adressatinnen fokussieren. Die Pointe liegt in dem aktualisierenden Appell, der impliziert, dass dieser Auftrag des Paulus noch nicht vollendet 1st275: Sie mögen Gottes Versöhnungsangebot annehmen, und das heißt, Paulus als ihren Botschafter Gottes auch jetzt anerkennen - Grund genug, sich ihres „Gesandten" zu rühmen (V.12).

1.10 Eltern und Kinder Das Bildfeld der Familie, genauer gesagt der Vater-Kinder- und Mutter-Kinder-Beziehung, steht im Mittelpunkt unserer Untersuchung über die Rolle Paulus zu den von ihm gegründeten Gemeinden. Die folgenden Textanalysen (§ 6-8) werden die Bedeutung und Pragmatik einzelner elaborierter Familienmetaphern276 in ihrem Kontext und ihre mögliche Tradition intensiv durchleuchten. Dieser knappe Überblick dient dazu, den Spielraum von Eltern-Kind-Metaphern zu bemessen und sie in das Paradigma von Metaphern einzuordnen (vgl. 1.14).

274 Dafür spricht die Parallelität διά Χρίστου V.i8b - δι/ ήμών V.2ob. 275 Zu diesem Verständnis von 6,1 vgl. Wolff 2 Kor, 137 mit Anm.472; Thrall 2Kor Bd.i, 451. Die Metaphorik bestärkt die Deutung von V.iga als coniugatio periphrastica (vgl. oben Anm.268). ήν καταλλάσσων impliziert als Imperfekt diese Unabgeschlossenheit; zur Diskussion um die These Breytenbachs von der Unabgeschlossenheit der Versöhnung (1989, bes. 111) vgl. Schröter 1993, 292 mit Anm.2 und 30if (Lit!). 276 Der Begriff „Familienmetaphorik" ist wegen der unterschiedlichen Familienkonzepte eigentlich ungenau (vgl. §1.2.3), wird aber wie in der Literatur auch hier der Einfachheit halber im Sinne des modernen Familienbegriffs verwendet für die Eltern-Kinder-Relation, wenn Missverständnisse ausgeschlossen sind.

2o6

Die Metaphern zur Beschreibung der A u f g a b e des Paulus

Wir hatten darauf hingewiesen, dass für das Verstehen von Familienmetaphern sowohl ein traditionelles Bildfeld wie die Erfahrungswelt der Familie leitend sein kann 277 . Das zugrundeliegende metaphorische Konzept ist die Beschreibung einer nichtgenealogischen Beziehung zwischen Gott und Mensch oder zwei Menschen bzw. einem Menschen und einer Gruppe von Menschen als Beziehung eines Vaters zu seinen bzw. einer Mutter zu ihren Kindern. Solcherart Metaphern sind im ganzen griechisch-römischen Kulturkreis vielfältig belegt. Z u m Bildfeld im weiteren Sinne gehören die im NT zahlreichen Metaphern, welche die Relation Gottes zu Jesus und zu den Glaubenden konzipieren als Vater-Kind-Relation. Sie greifen atl. Vorstellungen von Gott als Vater (oder Mutter) auf 278 . Die Metaphern aus diesem Bildfeld sind jedoch so unterschiedlich in der Rezeption des Bildspenders, dem Kontext und mithin der Pragmatik, dass das Bildfeld nicht generell verstehensleitend sein kann. Auch unter den paulinischen Bildern aus dem Familienleben sind drei Gruppen zu unterscheiden: Die uns interessierende Eltern-Kind-Metaphorik in Bezug auf Paulus ist selbständig gegenüber der Gott-Vater-Metapher und auch gegenüber der Metapher von Mitchristinnen als Geschwistern 279 . Paulus prädiziert nur in Briefen an von ihm gegründete Gemeinden die Adressatinnen als seine „Kinder". Doch jenseits dieser Ubereinstimmung haben die einzelnen Instantiierungen sehr unterschiedliche Aspekte der gegenseitigen Relation im Blick. Daher war bereits in der Diskussion der Forschungsgeschichte bestritten worden, dass sich in den Familienmetaphern ein Selbstverständnis des Paulus, „geistlicher Vater" seiner Gemeinden zu sein, manifestiert (§1.2.3). Für das

277 Vgl. § 1.2.3 z u r Erforschung der Familienmetaphorik sowie methodologisch § 3.2 z u m Verstehen von Metaphern. 278 Traditionsgeschichtlich zu unterscheiden ist die Vorgeschichte der Rede von Christus als Sohn Gottes und von allen Menschen als Kindern Gottes. Unter der umfangreichen Literatur sei hier nur verwiesen auf Hahn 1995, 28off.474ff für den Gottessohntitel; P. Müller 2002 für die Metaphorik der Gotteskindschaft im N T ; Sandnes 1994 für die Bedeutung des Familienkonzepts für die Konversion im N T ; für die paulinische Heranziehung des Eltern-Kind-Verhältnisses Theobald 1994 (zur Sohn-Gottes-Metapher); von Allmen 1981 zu allen Familienmetaphern; Gutierrez 1968 für die Relation des Paulus zu seinen Gemeinden. Eine analoge Analyse der johanneischen Metaphorik bieten Rusam 1993, unter synchroner Perspektive van der Watt 2000, i6iff. 279 Vgl. dazu den Exkurs nach § 6. Dass die Gott-Vater-Metapher und die Paulus-Vater/Mutter-Metapher nicht nur traditionsgeschichtlich, sondern auch pragmatisch unabhängig sind, wird auch in den Einzelauslegungen deutlich (anders etwa von Allmen 1981, der alles zum Konzept der „famille de D i e u " addiert).

Eltern-Kinder-Metaphern

207

Verstehen leitend ist vielmehr in erster Linie die Erfahrungswelt der Familie bzw. deren gesellschaftlich entworfene Rollenmuster, Werte etc., die nicht unbedacht mit unseren kulturell anders bestimmten Auffassungen zu identifizieren sind280. Insbesondere der Hang der Exegese, aus jeder Instantiierung der Metapher Liebesbekundungen herauszuhören, führt an den Texten vorbei. Denn die jeweiligen Kontexte wählen aus den Paulus zeitgenössischen Konzepten der ElternKinder-Relation je unterschiedliche Aspekte aus. Eine Übersicht über die Texte, welche die Eltern-Kind-Beziehung auf die von Paulus und Mitchristinnen anwenden, zeigt dies bereits, bevor die genauen „Fallstudien" in III die Bedeutung und Pragmatik einzelner Eltern-Kinder-Metaphern für die Kommunikationskontexte erheben. Kurz ist daher auf jene nicht genauer analysierten Texte einzugehen, die gemeinhin dem Konzept von „Paulus als Vater" zugeschlagen werden. Unter die Beziehungsmetaphorik fällt auch 1 Kor 3,1-4, eine Metapher, in der Paulus die Korintherinnen als Säuglinge darstellt, die von ihm passende Nahrung erhielten. Sie zählt nicht zu den „Eltern-Kinder-Metaphern", weil sie nicht auf eine genealogische Beziehung anspielt, steht ihnen aber nahe, insofern sie die Adressatlrtnen als Kinder visualisiert. Zur Auslegung vgl. § 7.2.

1.10.1

Timotheus und Onesimus, die Kinder des Paulus (Phil 2,22; 1 Kor 4,17; Phlm 10)

Dreimal werden mit je unterschiedlichen fokalen Indikatoren einzelne Mitchristen als Kind des Briefschreibers vorgestellt. Den Timotheus empfiehlt er für seine Sendung nach Korinth bzw. Philippi der Gemeinde 281 , den Onesimus erbittet er umgekehrt von Philemon zurück. Auf entsprechende Weise, wenn auch mit anderer Pragmatik, kann Paulus die Mutter des Rufus „seine und meine Mutter" nennen (Rom 16,13). 1 Kor 4,17 (vgl. §7.4.4) steht im Spannungsfeld der Vater-Kinder-Metapher 4,i4ff. Timotheus wird als Kind mit Attributen empfohlen (μου τέκνον ά γ α π η τόν και πιστόν έν κυρίω), die ihm unter den „ K i n d e r n " des Paulus eine exklusive Rolle zuschreiben. Das Kindesverhältnis wird in den Zusammenhang 280 Über die Alltagskonzeption von Vater-, Mutter- oder Kinderrolle hinaus - m.E. dieser aber untergeordnet - sind allerdings auch Einflüsse von metaphorischen Verwendungen zu vernehmen. So erinnert der Familienentwurf in 1 Thess an die Bedeutung der Familienfiktion in anderen frühjüdischen und -christlichen Texten (§6.7.2), die Vaterrolle des Paulus in 1 Kor 4,14t auch an die Vater-Lehrer-Metapher in paganen Philosophenschulen (§7.4.3). 281 Die Metapher vom Kind (τέκνον) des Paulus tradieren die Pastoralbriefe in Anreden weiter, vgl. 1 Tim 1,2.18; 2 Tim 1,2.

208

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

der ungebrochenen Tradierung der „Wege des Paulus" gerückt. Das entspricht der argumentativen Anwendung der Metapher in 4,16, die aus der Vaterschaft des Paulus die Nachahmungsforderung ableitet. Nach Phil 2,igjf soll Timotheus Nachrichten aus der Gemeinde zu Paulus bringen. Er wird hier weniger in seinem Verhältnis zu Paulus dargestellt, als in seiner Paulus ebenbürtigen Haltung (ίσόψυχος) gegenüber der Gemeinde. Seine Redlichkeit ist bekannt, weil er „wie einem Vater das Kind mit mir für das Evangelium diente" (ώς πατρί τέκνον σύν έμοί έδούλευσεν εις τό εύαγγέλιον V.22). Hier wird nicht metaphorisch spannungsvoll prädiziert, sondern nur verglichen. Und der Vergleichspunkt liegt nicht in der gegenseitigen Relation, sondern in der gemeinsamen Arbeit für das Evangelium: So wie ein Sohn in den Beruf des Vaters eintritt, so engagierte sich auch Timotheus mit Paulus 282 . Die etwas gewundene Formulierung mildert das Gefälle zwischen „Vater" und „Sohn". Diese egalisierende Tendenz und das Verb δουλεύειν erinnern an die Superscriptio des Briefes, die beide, Paulus wie Timotheus, als δοΰλοι Χρίστου intitulierte. Was Timotheus anbetrifft, der nach Apg bereits Christ war, als Paulus ihn traf, bleibt offen, ob die Metaphorik auf die Bekehrung durch Paulus hinweist, zumal die eben besprochenen Texte darauf keinen Bezug nehmen2®3. Phlm 10 zielt hingegen mit dem ebenfalls fokalen γ ε ν ν α ν darauf ab: παρακαλώ σε περί τοϋ έμοϋ τέκνου, öv έγέννησα έν τοις δεσμοΓς, Όνήσιμον. Paulus hat den Onesimus im Gefängnis zum Christentum bekehrt, wie er in V.16 noch einmal bekräftigt, wo er ihn nun als „geliebten Bruder" bezeichnet. Paulus will mit der Mitteilung von der Bekehrung des Onesimus die Adressatinnen offenbar überraschen, weshalb er den Namen erst zuletzt verrät2®4. Die Bezeichnung „mein Kind" verdeutlicht metaphorisch den „ParadigmenWechsel" im Leben des Sklavens 285 . Das „Besitzverhältnis", das durch das possessive Pronomen έμόν und die Rekurrenz in dem ebenfalls dem Bildspender zurechenbaren τά έμά σ π λ ά γ χ ν α (V.12) stark betont ist, ist Teil des Arguments des Paulus 286 . Als Mutter oder Vater2®7 hat er Anspruch auf Onesimus und tritt damit in direkte 282 Vgl. Balla 2003,55^196 Anm.6o. 283 Vgl. zum Problem §7.4.4 bzw. Ollrog 1979, 2of, der aufgrund der Metapher die Historizität der Apg-Darstellung bezweifelt. 284 Vgl. Lampe Phlm, 217. - Was dem Aufenthalt des Onesimus bei Paulus vorausging (vgl. zur Diskussion Frilingos 2000, 98), kann hier dahingestellt bleiben. 285 Mit Wolter Phlm, 262. 286 Zur argumentativen Verwendung des Rolleninventars von Herr und Sklave, Eltern und Sohn vgl. Petersen 1985, 93ff; Wolter Phlm, 256ff. Dass Philemon in Onesimus deshalb seinen Bruder sehen soll (V.16), weil er wie dieser Kind des Paulus ist, dass also die Geschwisterbeziehung über Paulus vermittelt wird (so Wolter Phlm, 262), wird allerdings vom Text nicht evoziert, der vielmehr die stehende Metapher von αδελφός als Mitchrist auch für die Beziehung des Paulus zu Onesimus verwendet (V.16). 287 έγέννησα wird meist mit „ich zeugte" übersetzt und als Ausdruck der „geistlichapostolischen Vaterschaft" des Paulus verstanden (so Stuhlmacher Phlm, 38; vgl. Lampe Phlm, 217; Fitzmyer Phlm, 107t; Frilingos 2000, loof). Doch hier ist (anders

Die Paulussöhne nach Phil 2,22; 1 Kor 4,17; Phlm 10

209

K o n k u r r e n z z u d e m Recht des P h i l e m o n a n s e i n e m Sklaven 2 8 8 . E r schickt O n e s i m u s n u r d e s h a l b z u r ü c k , w e i l er P h i l e m o n s E i n v e r s t ä n d n i s e r w i r k e n w i l l ( V . 1 4 ) . I n d e m P a u l u s O n e s i m u s als B r u d e r anerkennt, verzichtet er sogleich d a r a u f , d e n Statusunterschied z w i s c h e n Eltern u n d K i n d a u s z u l e b e n , w i e er bereits g e g e n ü b e r P h i l e m o n seine Autorität nicht w a h r n i m m t ( V . 8 ) . D a m i t gibt er P h i l e m o n ein V o r b i l d z u e n t s p r e c h e n d e m Verzicht auf d e n „ S k l a v e n " u n d A n n a h m e als „ B r u d e r " ( V . 1 6 ) .

1.10.2 Was Kinder den Eltern schulden (2 Kor 6,13) A m E n d e seiner Selbstpräsentation spricht P a u l u s die A d r e s s a t i n n e n in K o r i n t h direkt a n u n d appelliert v o l l e r E m o t i o n e n ( 6 , 1 1 - 1 3 ; 7 / 2 ~ 4 ) 289 · W i r b e s c h r ä n k e n u n s hier auf die Sätze 6 , 1 1 - 1 3 m i t der i m Blick auf die Familienm e t a p h o r i k interessierenden Parenthese ώ ς τ έ κ ν ο ι ς Λ έ γ ω (6,13). Sie gibt d e m A p p e l l m e t a s p r a c h l i c h eine L e s e a n w e i s u n g , die b e s o n d e r e s G e w i c h t erhält d u r c h d a s u n g e w ö h n l i c h e „ i c h " 2 9 0 . D i e F o r m u l i e r u n g appliziert die Eltern-

als in i K o r 4,14t) offen, ob γ ε ν ν α ν „zeugen" oder „gebären" bedeutet. Verstehen wir es als „gebären" (so Wolter Phlm, 262 mit Gnilka Phlm, 44t, erwogen auch von Balla 2003,194t), finden wir eine Parallele zu Gal 4,19, wo mit der Geburt auf die Bekehrung der Galaterlnnen hingewiesen wird (vgl. §8). Für die Deutung als „Zeugen" spricht die Parallelität zu i K o r 4,15 und, dass das patriarchale Gefälle von Vater zu Sohn größer ist. Die Lesart „Gebären" stützt Gal 4,19 und, dass sich die Geburtsmetaphorik besser für die Vorstellung von der Christwerdung eignet. Denn sie markiert den Beginn des neuen Erdenlebens, nicht dessen Verursachung (vgl. dafür Joh 3,4; π α λ ι γ γ ε ν ε σ ί α Tit 3,5; vgl. Gerber 1995, 48ff). Vielleicht kann man so auch die Prädizierung des Onesimus als τοϋτ' έστιν τά έμά σ π λ ά γ χ ν α (V.i2; vgl. auch V.7.20) verstehen als metaphorische Metonymie: Dies ist mein „Mutterleib", d.h. mein „Geborenes". (Zu dieser Bedeutung von σ π λ ά γ χ ν α vgl. LSJ s.v.; Helmut Köster, Art. σ π λ ά γ χ ν ο ν κτλ., in: ThWNT 7 [1964] 548-559: 548,25; in der LXX ist es gelegentlich Übersetzungswort für Dm [Spr 12,10; vgl. Köster a.a.O., 550 Anm.17] und 102 [Spr 26,22].) Dass die „Fesseln, unter denen Onesimus geboren wurde, ... dann auf die Geburtswehen an(spielen)" (so Gnilka a.a.O., 45), bestätigen allerdings weder die Erfahrungswelt noch entsprechende Konzeptmetaphern. 288 Frilingos 2000 streicht diese Implikation der Familienmetaphorik, dem Haushalt des Philemon zu konkurrieren, besonders heraus und stützt so die Deutung, dass Paulus schreibt, damit Philemon Onesimus zu ihm zurückkehren lässt (zur Diskussion über das Briefanliegen vgl. Wolter Phlm, 227ff). 289 Zur antithetischen Struktur von 6,11-13 mit V.12 im Zentrum vgl. Zeilinger 1997, 392f. - Über die Frage der Authentizität der Passage 6,14-7,1 ist in dieser Versangabe kein Urteil impliziert. Sie fällt aus dem Zusammenhang heraus, insofern sie nicht die persönliche Beziehung des Autors zu den Angeschriebenen thematisiert; allerdings passt zum Kontext und zur Familienmetapher die für den Briefteil ansonsten eher überraschende Adresse άγαπητοί η,\. Dass 7,2t die Körpermetaphorik wieder aufgreift, lässt sich als Inklusion nach einem Exkurs oder als ursprünglicher Zusammenhang begreifen (mit Furnish 2 Kor, 368f). 290 Die 1. Pers. Sg. begegnet im Abschnitt 2,14-7,4 nur in 6,13; 7,3 (jeweils λ έ γ ω ) und in 5,n.

210

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Kinder-Relation nicht ausdrücklich auf die Briefpartner, ja der Verfasser lässt zunächst offen, ob an seine eigenen „ K i n d e r " zu denken ist oder an die anderer Eltern, wie auch die Vergleichspartikel ώς distanziert 291 . Dass es um „seine" Kinder geht, zeigt erst der Aussagekontext (s.u.). Sachlich bleibt auch die Adresse Κορίνθιοι (6,ii) statt der im gesamten Briefabschnitt fehlenden Anrede αδελφοί, die familiäre Verbundenheit suggerieren könnte. Von „Liebe" wird nicht gesprochen. Den Text als Ausdruck liebender elterlicher oder väterlicher Gefühle, als «une expression vibrante de cette apage» 292 zu lesen, ist von der zurückhaltenden Formulierung her nicht gerechtfertigt. Die Verse 6 , 1 1 - 1 3 werden dominiert von einer atl. klingenden Körper-RaumMetaphorik 293 , welche die Bitte verbildlicht. Der Verfasser deutet sein Schreiben 294 als Offenheit des Mundes und Weite des Herzens für die Adressatinnen (V.11). Genug Raum ist da: „Ihr seid nicht beengt in u n s " (V.i2a). In 7,3 wird dies rekurrierend auf 3,2 noch einmal wiederholt: „Ihr seid in unserem Herzen zum gemeinsamen Sterben und Leben" 295 . Im Gegensatz dazu „seid ihr in euren Eingeweiden 296 verengt". Herz und Eingeweide sind als Sitz der Emotio291 Dass die Adressierten sehr distanziert angesprochen werden und nicht „meine Kinder" genannt werden, wird oft ignoriert, vgl. etwa Balla 2003,185. 292 So Gutierrez 1968,198. Für ihn sind 2 Kor 6,iff und 12,14ft Belege dafür, dass die Liebe das Zentrum der «attitude paternelle» sei (vgl. a.a.O., 197ft, Zitat 197). Dieser Nachweis gelingt aufgrund der petitio principii: «la relation entre un pere et ses enfants est par definition celle de l'amour» (a.a.O., 199). Elterliche, in der Regel väterliche Gefühle vernehmen auch Bultmann 2 Kor, 178; Gräßer 2 Kor, 253, der mit Luther Paulus „streicheln" hört; Furnish 2Kor, 361; Yarbrough 1995, 133; Zeilinger 1997, 396 („ein verhaltenes Einbekenntnis seiner väterlichen Liebe"). Der Gedanke an den Vater legt sich höchstens in Verlängerung von 1 Kor 4,14t nahe. Der Text kann ebenso gut die Pflichten der Kinder gegenüber ihrer Mutter abrufen, an die zumindest die Metapher vom „Raum in uns" eher denken lässt. 293 Zur atl. Körpermetaphorik vgl. Schröer/Staubli 1998, bes. 45 ff zur Herzsymbolik, 75ff zum „Bauch" als „Seismographen des Gefühls" (75). Die Rede vom weiten Herzen begegnet in Ps h8,32LXX; Dtn 11,16, dort allerdings negativ konnotiert als Offenheit zum Götzendienst. Dass dieser Intertext herausgehört werden sollte (so Thrall 2 Kor Bd.i, 469; Schröter 1993, 323, womit sich ein Zusammenhang zum Thema Götzendienst von 6,14 ergibt), unterstellt einen zu hohen Anspruch an die Lesenden (vgl. dagegen Zeilinger 1997, 394). 294 Das Perfekt zeigt, dass die vorausgehenden Äußerungen so zu lesen sind. Der Text bildet mit der ebenfalls auf die gegenseitige Beziehung zielenden Briefmetapher 3,13 (vgl. oben 1.4.1) eine Inklusion, u.a. durch Rekurrenz von καρ&ίαι aus 3,2 (mit Schröter 1993, 322). 295 Vgl. Wolter 1990, 553t zum Verständnis der Wendung εις τό συναποθανεϊν και συζήν als Ausdruck des Freundschaftsideals. 296 Der Wechsel von καρδία zu σπλάγχνα sollte nicht überlesen werden, auch wenn beides den Sitz von positiven Gefühlen bezeichnet, σπλάγχνα sind zunächst die Eingeweide, der Mutterleib, also mehr „Raum" als das Herz, und als Körperraum ist es hier aufgrund des Kontextes zu verstehen (vgl. auch Apg 1,18 oder Philo und losephus für die physiologische Verwendung des Wortes; vgl. Helmut Köster, Art. σπλάγχνον κτλ., in: ThWNT 7 [1964] 548-559: 552). Als Beschreibung einer selbst gemachten „Angina pectoris" weist der Text weniger auf mangelnde Gefühle als auf die Möglichkeit zur Änderung.

Eltern-Kinder-Vergleich in 2 Kor 6,13

211

nen angesprochen, stehen also für die nicht genannte Zuneigung. Das Bild kontrastiert Weite, Offenheit, die Paulus riskiert, und die selbstgemachte Enge der Adressatinnen, um die fehlende Entsprechung der Korintherinnen zur Haltung des Paulus zu schildern. Diese Entsprechung fordert der Appell V.13, der die Körper-RaumMetapher fortsetzt. Mit der die Aussagen über die „Enge" inkludierenden Rekurrenz von πλατύνεσθαι, mit emphatischem ύμεϊς und vor allem dem aus der Handelswelt genommenen Konzept „Gegenleistung entsprechend der Vorleistung" 297 wird unmissverständlich 298 : Die Forderung „Werdet auch ihr weit!" ( V . 1 3 C ) ist bestens begründet aus der „Vorleistung" des Verfassers. Die Parenthese ώς τέκνοις Λέγω, an sich mehrdeutig, bekommt durch diesen Kontext eine Sinnrichtung. Zu denken ist an die allgemein geteilte Überzeugung, dass Kinder ihren Eltern deren Einsatz vergelten sollen, nicht nur Gefühle, sondern bereits die Tatsache, dass sie ihnen das Leben gaben299. Die Parenthese unterstützt also die implizite Begründung des Appells, indem sie die Adressatinnen als Kinder vorstellt, die ihren Eltern etwas zurückgeben sollen. Eingetragen wird damit in das Verhältnis von Verfasser und Adressatinnen eine Hierarchie, wie sie im Ideal einer reziproken Freundschaft nicht gegeben wäre, und ein durch zeitliches Nacheinander bestimmtes Konzept von Leistung und Gegenleistung. Die aus dem Text sprechenden positiven Emotionen werden nicht, wie allgemein behauptet, durch diesen Vergleich des Sprechaktes mit einer Rede „wie zu Kindern" eingetragen, sondern durch die Körpermetaphorik. Sie greift eine oppositionelle Sinnlinie des Briefabschnitts auf, die „Offenheit/Freimut/Wahrheit auf der einen und Verhüllung/Verborgenheit/Betrug auf der anderen Seite " 3 °° konfrontiert. Durch die doppelte Metaphorik deutet sie die Ausführungen des Verfassers als einseitig riskierte Offenheit, und diese Offenheit als Ausdruck emotionaler Zuwendung, die eine entsprechende Reaktion „verdiente".

1.10.3 Eltern sparen für ihre Kinder. Unterhaltsverzicht nach 2 Kor 12,14t Das Thema des Unterhaltsverzichts hatte Paulus im Brief (teil) 2 Kor 1 0 - 1 3 bereits anhand der Militärmetapher angesprochen (vgl. oben § 5 . 1 . 5 . 4 ) . In 297 Darauf deutet der Ausdruck ή αύτη αντιμισθία besonders durch die Vorsilbe (vgl. B A A s.v.) und das Pronominalattribut. 298 Wie die elliptische Formulierung aufzufüllen ist (vgl. zu den Möglichkeiten Bultmann 2 Kor, 178; BDR §154; am leichtesten mit άποδίδοτε), ist offen, inhaltlich ist die Aufforderung jedoch unmissverständlich. 299 Vgl. ausführlich Balla 2003 zu den Verpflichtungen der Kinder den Eltern gegenüber sowie zu deren Begründungen in der paganen Antike sowie im Judentum; zum Text a.a.O., 200f; vgl. Yarbrough 1995, 133^ Im NT begegnet diese Erwartung an Gegenleistungen in 1 Tim 5,4. Begründet wird sie u.a. bei Plato, Leg 4,171b; Sir 7,27t damit, dass die Eltern den Kindern das Leben geschenkt haben. 300 Schröter 1993, 323.

212

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

kommt er nach seiner „Narrenrede" noch einmal ironisch darauf zurück. „Was ist es denn, worin ihr gegenüber den anderen Gemeinden zu kurz gekommen seid, außer dass ich selbst euch nicht,betäubt' habe ? Vergebt mir diese Ungerechtigkeit!" ( 1 2 , 1 3 ) . Auch bei dem bevorstehenden dritten Besuch ( 1 2 , 1 4 a ) will er der Gemeinde nicht zur Last fallen, sie nicht „narkotisieren", wie es in Aufnahme von 11,9 plastisch heißt. Das Wortspiel ού γ α ρ ζητώ τα ύμών άλλα ύμας ( V . 1 4 C ) unterscheidet geschickt zwischen dem Interesse am Besitz der Menschen und dem Interesse an den Menschen selbst. Die Annahme von Unterstützung schließt, so lässt die Dissoziation inferieren, echtes Interesse an den Menschen aus. Es scheint, dass der Verfasser weiterhin (vgl. 1 1 , 1 1 , s. 1 . 5 . 4 ) g e g e n die Unterstellung anschreibt, dass der Verzicht auf Unterstützung seitens der Gemeinde mangelnde Zuneigung offenbare. Dies begründet die Sentenz V.i4d mit einem Analogieargument: „Nicht nämlich müssen die Kinder für die Eltern Schätze sammeln, sondern die Eltern für Kinder." Der allgemeine Grundsatz rekurriert darauf, dass Eltern für ihre Kinder Vorsorge leisten und nicht umgekehrt 301 . Mit Bedacht spricht das Verb θησαύριζε lv vom Ansparen von Vermögen 302 , nicht von finanzieller Unterstützung, denn erwachsene Kinder sind durchaus verpflichtet, für den Unterhalt ihrer Eltern zu sorgen303. Die Eltern-Kinder-Beziehung wird hier nicht wie in den Familienmetaphern direkt auf das gegenseitige Verhältnis abgebildet. Doch das Argument setzt unausgesprochen eine Analogie voraus zwischen der Beziehung der Kommunikanten einerseits, Eltern und Kindern andererseits. Dass Eltern für ihre Kinder ein Erbe ansparen sollen, nicht umgekehrt, wird jede/r bejahen. Zum Argument für das Anliegen des Verfassers kann dieser allgemeine Satz jedoch nur werden, wenn man die Prämisse akzeptiert, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie Missionar und Gemeinde sich entsprechen. Damit überträgt der Satz metaphorisch eine Hierarchie zwischen Paulus und Gemeinde in Korinth. Denn der Satz betont ja, dass in dieser finanziellen Beziehung keine Gegenseitigkeit oder Reziprozität, kein Ausgleich von Geben und Nehmen vorliegt, wie etwa im Ideal der Freundschaft 304 .

12,13ff

301 Vgl. Yarbrough 1995, 134t; Balla 2003, 186. Zum Grundsatz vgl. Philo, VitMos 2,245: νόμος φύσεως έστι κληρονομεϊσθαι γονεΓς ύπό παίδων άλλα μή τούτους κληρονομεΓν. Plutarch, De Cup Div (= Mor 526a, zitiert im Neuen Wettstein 2/1, 513 z.St.) zeigt, dass es durchaus eine allgemein geteilte Auffassung war (mit Yarbrough 1995,134 t mit Anm.334). 302 Der θησαυρός ist das, was über das Lebensnotwendige hinausgeht, vgl. nur 2 Kor 4,7; i K o r 16,2. S. Dieter Zeller, Art. θησαυρός κτλ., in: EWNT 2 (^1992) 369-375: 370 f. 303 Vgl. Balla 2003, bes. 64ff.94 zu den in den unterschiedlichen Kulturen gleichermaßen gestellten Forderungen an Kinder ihren Eltern gegenüber. Die finanziellen Pflichten obliegen erst den erwachsenen Kindern alter Eltern und sind in der ökonomischen Notwendigkeit von deren Alterssicherung begründet. - Daher ist aus der Wortwahl nicht zu schließen, dass Paulus hier auf einen in Korinth für ihn angelegten Fond anspiele (zu dieser Diskussion Thrall 2 Kor Bd.2, 845). 304 Vgl. anders Phil 4,15; s. dazu unten 2.3.

Die Eltern-Kinder-Analogie in 2 Kor 12,14t

213

Die Aussage zielt zunächst auf die finanziellen Verpflichtungen, nicht auf Gefühle. Diese kommen erst in V . i j b zur Sprache. Zuvor wird in V.i5a der finanzielle Aspekt der Eltern-Kinder-Sentenz für eine Metapher ausgebeutet: „Ich werde fröhlich ausgeben, und ich werde ausgegeben werden für euer Leben!" 305 . Erinnert der erste Satz an das Sprichwort „einen fröhlichen Geber hat Gott lieb" 3 " 6 , so wird der finanzielle Einsatz des Paulus nochmals positiv gewürdigt. Die Umkehrung ins Passiv, verstärkt durch das Kompositum, münzt das reale „ G e l d " um in den Bildspender einer Metapher, welche die Freigebigkeit des Paulus steigert: Er wird sogar gänzlich „verausgabt" für die Korintherinnen. Die Bereitschaft zur Aufopferung lässt die Gefühlsbindung anklingen, die der Autor in V.i5b ausspricht. Doch dem Eingeständnis der Liebe folgt die ratlose Frage: „Wenn ich euch umso mehr liebe, werde ich weniger geliebt?" Damit deutet der Verfasser gleichwohl an, womit die Gemeinde statt mit finanzieller Unterstützung dem Missionar seinen Einsatz entgelten sollte (vgl. 2 Kor 6,13, s. oben §5.1.10.2). Der Ammenvergleich in 1 Thess 2,7f verwendet ein entsprechendes Bildfeld zur Bewertung des Unterhaltsverzichts und zur Verdeutlichung der daraus sprechenden Liebe (vgl. §6.4.2). Eine Gegenüberstellung beider Texte zeigt, wie distanziert die Analogie in 2 Kor 12 die Eltern- und Kinderrolle handhabt und wie fern ihr liegt, mit den Gefühlen von Eltern und Kindern zu operieren. Die Analogie mit der Elternschaft dient dazu, die Hierarchie und die daraus resultierende finanzielle Asymmetrie darzustellen. Die Liebe des Autors zu den Angeschriebenen wird nicht aus seiner „Elternschaft" abgeleitet, sondern aus seinem Verzicht auf Unterstützung durch die Gemeinde (12,15, v gl· 11,11)3°7· D e r D u r c h g a n g d u r c h die Texte hat g e z e i g t , d a s s die Eltern-KinderM e t a p h e r n i m 2 K o r u n d die B e z e i c h n u n g einzelner Mitchristen als S o h n V e r s c h i e d e n e s beschreiben. W i e d e r u m je a n d e r s f u n g i e r e n die M e t a p h e r n in 1 Thess 2 , 7 - 1 2 ; 1 K o r 4A4f u n d G a l 4,19, die in § 6 - 8 ana305 ύπέρ των ψυχών ύμών weist auf das physische Leben (mit Wolff 2Kor, 255). Der finanzielle Tenor wird oft überlesen, doch legt er sich nicht nur nahe aufgrund der Wortbedeutung von banaväv („ausgeben", vgl. Mt 5,26, mit der Konnotation „verschwenden", s. Lk 15,14) und έκbanaväv („aufwenden", z.B. das Vermögen; vgl. jeweils BAA s.v.), sondern auch vom Kontext her. Ob dabei auch an weitergehende „Opfer" gedacht ist, lässt der Text offen (zur Diskussion Thrall 2 Kor Bd.2, 846t). 306 So sagt Paulus es selbst in 2 Kor 9,7 im Anschluss an Prov 22,8aLXX. 307 In der exegetischen Literatur werden jedoch immer wieder „väterliche Gefühle" wahrgenommen, obschon von Paulus als „Vater" im 2 Kor nirgends die Rede ist (so z.B. Zeilinger 1992, i2if mit Bezug auf i K o r 4,14t; Gutierrez 1968, 198ft; vgl. Wolff 2 Kor, 254). Unlegitimiert ist erst recht, weitere Passagen aus 2 Kor 10-13 vor dem Hintergrund des Eltern-Kinder-Bildes oder gar der Vater-Rolle zu lesen. So etwa will es Balla ausgehend von diesem Text: "Paul's repeated reference to the authority he can claim among the Corinthians may be seen as grounded in his relationship to them, i.e. in the relationship of a father to his children (cf. 2 Cor 10:1-2.8; also 2 Cor 13:10)" (2003,185ft, Zitat 187); ähnlich Yarbrough 1995; Joubert 1995. Dass Paulus ein allgemeines Konzept von Vaterschaft hier abruft, unterstellen auch Furnish 2 Kor, 565; Thrall 2 Kor Bd.2, 845t.

214

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

lysiert werden. Die Tabelle fasst diese Unterschiede zusammen unter Vorgriff auf diese Detailanalysen. Wir erkennen trotz aller Differenzen bemerkenswerte Strukturkonstanten : Die Plätze von Vater und Mutter einerseits, Kindern andererseits sind festgelegt, und die Elternposition kommt (mit Ausnahme von Rom 16,13) n u r Paulus zu. Die im Eltern-Kind-Verhältnis gesetzte biologische und rechtliche Priorität der Eltern wirkt immer implizit gestaltend und gibt der Relation ein anderes Gefälle als die άδελφόςAdresse (vgl. dazu den Exkurs nach § 6). Auch die einseitige Exklusivität von Vater und Mutter - die einzigartig sind, selbst aber mehrere Kinder haben können - wird auf das Verhältnis projiziert. Und wenn es auch zu pauschal ist, aus den Eltern-Kind-Bildern wie in der Exegese üblich Liebesbekundungen zu sehen, so trifft doch zu, dass sie nie negative Gefühle transferieren. 1 Thess

1 Thess 2,11 f

1 Kor 4,1416

2 Kor 6,13

2 Kor 12,14

Gal 4,19

Form

Vergleich

Vergleich

Metapher Anrede

Vergleich Parenthese

Analogieargument Sentenz

Metapher Anrede

fokale Worte

(νήπιοι) τροφός θάλπη τά έαυτης τέκνα; αγαπητοί

πατήρ, τέκνα έαυτοϋ, τταρακαΛοϋντες, παραμυθούμενοι, μαρτυρόμενοι

τέκνα μου αγαπητά νουθετώ[ν], παιδαγωγοί, πατέρες , εγώ ΰμας έγέννησα.

ώς τέκνοις

τά τέκνα, οΐ γονείς

τέκνα μου, ους πάλιν ώ&ίνω; μορφωθη Χριστός έν ύμΐν

Relationen explizit (implizit)

Amme/ leibliche Kinder

Vater/ seine Kinder

Vater/ meine geliebten Kinder/ παιδαγωγοί

(Elternteil) Kinder

Eltern/ Kinder

(Mutter) meine Kinder ζηλοϋσιν

Implikate

Gründung Erziehung Nachahmen Entsprechen Liebe Unterhalt Konkurrenz

• • •

• • • •



6,12 4Ί9

• •

παιδαγωγοί

Kontexte

Liebe Besuch Konkurrenz



12,15 12,13 (Gemeinden)

(4-12) 4Α7 £

4,20

Ehemetaphorik

1.11

215

Ehe

Wenn Paulus selbst die Ehe mied und sie nur als remedium concupiscentiae empfahl ( i K o r 7,1-7), da sie von der Christusbeziehung ablenke ( i K o r 7,34-36; vgl. 6,12-20), so zieht er sie aus eben diesen Gründen mit der Tradition als Bildspender heran: Die Verbindlichkeit der Ehe und insbesondere der nur hier statthaften sexuellen Beziehung ist das, was die Ehe nach Paulus für viele zwar nötig macht, doch wenn möglich zu meiden. Diese Verbindlichkeit der Zweierbeziehung steht auch im Mittelpunkt der bildhaften Heranziehung der Ehe in Rom 7 , ι ό; 2 Kor 11,1-4. Sie greift zurück auf eine Konzeptmetapher von Gott und Israel als Ehepaar, die seit den atl. Propheten in jüdisch-christlicher Tradition geläufig ist und ihrerseits religionsgeschichtlich anschließt an die Vorstellung einer heiligen Hochzeit zwischen Gott und Mensch308. In der prophetischen Verkündigung dient die Metapher der Geißelung von Götzendienst, sind Ehebruch und Götzendienst eng verbunden 309 . Das Bildfeld ist in der frühjüdischen Weisheitstheologie310 bezeugt und frühchristlich modifiziert zur Vorstellung von der Ehe Christi mit der Kirche 311 , schließlich in gnostischen Texten verarbeitet 312 . Festgelegt sind im Bildfeld die Geschlechterrollen: Ehemann ist Gott resp. Christus, Ehefrau Israel bzw. die Kirche. Damit inferiert die Metapher ein bestimmtes Beziehungsgefälle. Denn in antiker Geschlechter- und insbesondere Eheauffassung ist die Ehefrau dem Ehemann untergeordnet, und nur für die Frau ist diese Bindung in sexuel308 Das Bildfeld ist diachron gut beschrieben, deshalb reicht eine kurze Skizze. Einschlägige Texte bietet Windisch 2 Kor, 320-322; vgl. die breite Ausarbeitung durch Zimmermann 2001; zum mythischen Hintergrund vgl. Theobald 1990, zum religionsgeschichtlichen Zusammenhang J. Schmid, Art. Brautschaft, in: R A C 2 (1954) 528564. Zum atl. Vorkommen und dessen Konnotationen von Sexualität und Gewalt vgl. Baumann 2000. 309 Ältere Texte sprechen von der Ehe zwischen Jahwe und dem Volk Israel bzw. Israel und Juda (vgl. bes. Hos 1 - 3 ; Jer 2f), spätere referieren mit der „Frau" auf Städte (vgl. etwa Ez 16; 23; Jes 52,iff; 61,1-10). 310 Hier wird Gott mit der weiblich vorgestellten Weisheitsfigur verbunden, vgl. Prov 1 - 9 passim; Zimmermann 2001,153ff. Der Gedanke des Ehebruchs tritt hier zurück. 311

Diese Vorstellung ist erst hier und dann Eph 5,22-33 wirklich greifbar. Evangelientexte referieren auf Jesus als Bräutigam (Mk 2,18-22; Joh 3,28f; vgl. das Hochzeitsgleichnis Mt 22,i-i4par; 25,1-13). Die apokalyptischen Visionen der Offb sind teils stark geprägt von geschlechtsbestimmter Frauensymbolik in Kap.17-21. Frühchristliche Texte außerhalb des NT wie 2 Clem 14,2; Herrn Vis 4,2 haben die Geschlechtermetaphorik wieder anders instantiiert (vgl. ausführlich Zimmermann 2001, 49iff).

312 Vgl. Zimmermann 2001,580 ff.

2l6

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

ler Hinsicht exklusiv 3 1 3 . Diese Exklusivität spielt auch eine Rolle in der ältesten uns greifbaren christlichen Rezeption des atl. Bildfeldes in 2 K o r 1 1 , 1 - 4 , die ein Bild v o n der Rolle des Paulus entwirft u n d daher hier vorzustellen ist. 1.11.1

Paulus als Ehestifter (2 Kor 1 1 , 1 - 4 )

Mit diesen Versen leitet Paulus den Prolog zur sog. Narrenrede ein und begründet, warum er erwartet, dass die Adressatinnen seine „Narretei" anhören werden (V.i): Er weist auf seine Bemühungen um die Gemeinde mit dem „Eifer Gottes" hin (V.2) und auf die Bereitschaft der Adressatinnen, sich die Auslassungen anderer anzuhören (V.4) 314 . Mit wenigen, aber anspielungsreichen Worten stellt Paulus die Konstellation so dar, wie er sie sieht: Er wirbt für Gott und Christus um die Adressatinnen, diese jedoch lassen sich auf die Avancen anderer ein; er hat die Gemeinde gegründet und „eifert um sie", Eindringlinge gefährden jedoch die Christusbindung der Gemeinde. Jenseits der Begründungsfunktion ist also das eigentliche Anliegen der Verse, die Position des Paulus in der Gemeinde gegen Konkurrenz von anderen zu verteidigen. Dieses Anliegen wird in der Auslegung oft übersehen315, doch gerade darauf zielen die Veränderungen und Erweiterungen der traditionellen Ehemetapher. Ich stelle meine Auslegung hier gerafft dar, da ich sie andernorts ausführlich begründet habe316. Die Ehe der Gemeinde von Korinth mit Christus ist, anders als nach Eph 5,22-33, noch nicht vollzogen: Es ist die Zeit der Verlobung 317 , und das heißt, die Zeit der Bewährung der Braut in sexueller Reinheit bis zur Hochzeit, dem 313 Die sexuelle Beziehung gilt in der Antike allgemein nur für die Frau als exklusive, obwohl Paulus in ι Kor 7,2-5 eine Reziprozität entwirft. Für einen Ehemann ist nur die Beziehung zu einer anderen verheirateten bzw. verlobten Frau verboten. Vgl. für die unterschiedlichen Kulturen Tiedemann 1998,193 ft, bes. 203.206. Die hierarchische Struktur der Ehe, die negative Bewertung der Ehe und der Ehefrau in der atl. Ehemetaphorik zeigt Baumarm 2000, vgl. bes. 49 t. 314 Zur Struktur der Narrenrede 2 Kor 11,1-12,18 vgl. Heckel 1993a, 22ff; Furnish 2 Kor, 498. Der Prolog 1 1 , 1 - 2 1 thematisiert die Beziehung von Paulus zur Gemeinde ( V . i 12.16), der Gemeinde zu anderen Aposteln (V.4.igf), den sog. „Überaposteln" (V.13-15), und blickt voraus auf die in ii,2iff folgende Synkrisis mit diesen (V.5.12.18). V . 1 - 4 ist in sich eine Einheit durch die Inklusion des άνε(ι)χεσθε V.1.4, das in V.20 zum Schluss des Prologs rekurriert. 315 Zu genaueren Auslegungen vgl. Zmijewski 1978, 7 7 - 1 1 3 ; Sundermann 1996, 82ff; zur Metaphorik speziell Zimmermann 2001,300-325 (vgl. auch Batey 1963). 316 Gerber 2005,113-123. 317 άρμόζεσθαι, „verbinden", wird in der Regel und zu Recht angesichts des Kontextes mit „verloben" übersetzt, obwohl es kein terminus technicus ist. Das eigentlich ungewöhnliche Medium ist als Ausdruck der Beteiligung des Paulus zu lesen (mit Zmijewski 1978, 83; von Allmen 1981, 242 mit Anm.208 u.a.). Konkrete Vorstellungen von der Verlobung als Institution (diskutiert etwa bei Zimmermann 2001, 230fff-300) spielen keine Rolle.

Die Metapher vom Ehestifter 2 Kor 1 1 , 1 - 4

217

Eschaton318. Um die Gefährdung des Ehebundes weiß man aus den traditionellen Metaphern 319 . Wie V.i an das Monolatriegebot erinnert320, so die Verlobungsmetapher V.2 an die Erzählungen von Israels Bruch der Ehe mit Gott. V.3 malt diese Gefahr überdies aus durch eine originelle Verbindung der Ehemetapher mit einer Anspielung auf die sog. Sündenfallerzählung (V.3; vgl. Gen 3, 13). Die auch sonst bekannte sexualisierte Rezeption 321 interpretiert das Ereignis zwischen Eva und der (männlichen) Schlange als Ehebrach oder gar als Vergewaltigung Evas 322 . Die Adressatinnen werden also verglichen mit der verführbaren Eva, und der V.4 erwähnte Eindringling, ό ερχόμενος, rückt in die Position der dämonischen Schlange323, seine Verkündigung eines „anderen Jesus", eines anderen Mannes, wird also als Bedrohung der Verlobung dargestellt324. Neu im Bildfeld ist aber auch die Rolle des Paulus als Vermittlers der Verlobung, der Rettung in der Gefahr verheißt325: Er stellt sich vor als derjenige, der die Beziehung überhaupt gestiftet hat und nun eifernd überwacht. Der ingressive Aorist ήρμοσάμην bildet die initiative Wirkung des Paulus in der Gemeinde ab, analog zu den Metaphern vom Pflanzen (1 Kor 3,6), Fundamentlegen ( i K o r 3,10) und Zeugen ( i K o r 4,15). Der metaphorische Fokus zeichnet ihn genauer als Vermittler der Christusbeziehung. Denn Paulus changiert hier zwischen den Rollen des Brautvaters, auf Seiten der Gemeinde, und des Freundes des Bräutigams, also auf Seiten Christi und Gottes326. Doch die Metapher erfasst nicht nur die Rolle des Paulus in der Vergangenheit, sondern vor allem seine Bedeutung in der Gegenwart, der „Verlobungszeit" 327 , im Interesse der 318 παριστάναι bedeutet auch „vorstellen" im forensischen Sinne, so dass an das Gericht als „Hochzeit" zu denken ist; vgl. B A A s.v. le (Sp.1268). 319 Vgl. nur Hos 2 f ; Ez 16; 23; vgl. Baumann 2000, 5iff. 320 Vgl. θεός ζηλωτής Ex 20,5; 34,14; Dtn 5,9; 6,15. Zu dem Motiv vgl. ausführlich Zimmermann 2001, 307-310. 321 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Küchler 1986, 36-50 und weitere Belege bei Gerber 2005, ii8f mit Anm.95. 322 φθείρειν bedeutet u.a. verführen, vergewaltigen, d.h. „zerstören" einer Jungfrau (vgl. Günther Harder, Art. φθείρω κτλ., in: ThWNT 9 [1973] 94-106: 95 Z.4off und in diesem Sinne z.St. 104 Z.6f; B A A s.v. ic mit Belegen). 323 Zur dämonischen Assoziation vgl. u.a. Rom 16,20; Offb 12,9; 20,2. Die Identifizierung des ερχόμενος mit der Schlange wird nicht ausgesprochen, aber nahegelegt: Als logisches Subjekts von φθαρή ergänzt man mit V.4 ερχόμενος. 324 Die Darstellung der Konkurrentinnen in V.4 ist einerseits polemisch, andererseits durch die Metapher nahegelegt, άλλος Ίησοΰς erscheint als Nebenbuhler zum Bräutigam Christus. Eine Rekonstruktion der „gegnerischen Botschaft" ist aus V.4 daher nicht möglich (vgl. genauer Gerber 2005,117 Anm.88 zur Diskussion). 325 In V.if stehen sich die Adressierten und Paulus jeweils als Subjekt und Objekt gegenüber. Der Autor stellt sich selbst heraus durch die am Satzanfang betonten Verben in der 1. Pers. Sg., ζηλώ, ήρμοσάμην und φοβούμαι. 326 Vgl. zur Diskussion der Alternativen Gerber 2005, i22f mit Anm.113-115. Gerade in dieser „Doppelrolle" sehe ich, anders als die meisten Ausleger, die sich auf eine der beiden Rollen festlegen, eine Pointe. 327 Die beiden am Anfang des Satzes, mithin betonten Präsentia ζηλώ V.2; φοβούμαι V.3 heben das gegenwärtige Engagement des Paulus für die Gemeinde hervor.

218

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Z u k u n f t , der „ H o c h z e i t " . Die A v a n c e n anderer w e r d e n indirekt als G e f ä h r d u n g der Christusbeziehung dargestellt, die G e m e i n d e als alte E v a , als williges Objekt v o n Einflüsterungen. Paulus selbst erscheint als derjenige, der sich f ü r die G e m e i n d e engagiert, nicht zuletzt mit diesem Brief. W a s m a n also als K a m p f des Paulus u m die eigene Autorität lesen könnte, ist nach der Szenographie v o n V . 1 - 4 ein selbstloser Einsatz f ü r die G e m e i n d e u n d ihre bleibende B i n d u n g an Christus „ m i t d e m Eifer G o t t e s " ( V . 2 ) .

1.12

Sklaverei

Die vertraute Institution der Sklaverei wurde oft zum Bildspender von Metaphern in der Bibel. Bildfeld, Realienhintergrund und Literatur wurden im Zusammenhang mit der δοϋλος Χρΐ-στοϋ-Metapher dargestellt (§ 4.3). Sie gehört zu dem biblischen Bildfeld, in dem Menschen als Sklavin oder Sklave Gottes resp. Christi bezeichnet werden, um insbesondere Zugehörigkeit, Loyalität, Dienst zu Gott bzw. Christus zu beschreiben. Überraschend, vitalisiert zu einer besonderen Beziehungsbeschreibung ist die Projektion der Sklavenmetapher auf die Relation von Paulus und Menschen in 1 Kor 9,19 (vgl. § 5.1.1.1) und 2 Kor 4,5.

1.12.1

Paulus als Sklave der Adressatinnen (2 Kor 4,5)

N u r mit d e m fokalen δ ο ϋ λ ο ς w i r d der Bildspender Sklaverei inmitten lichtmetaphorischer A u s s a g e n (vgl. § 5 . 1 . 8 ) a u f g e r u f e n , doch a u f g r u n d des Z e u g mas u n d der unvermittelten Referenz auf die Leserinnen des Briefes u m s o pointierter. Sie w a r e n seit der Briefmetapher 3 , 1 - 3 nicht mehr apostrophiert w o r d e n . Der A u s s a g e v o n 1 K o r 9,19 ff entsprechend zeigt sich der A u t o r als S k l a v e v o n Menschen, allerdings hier als δ ο ϋ λ ο ι ύ μ ω ν διά Ί η σ ο ϋ ν , ihr Sklave u m J e s u willen. Dies überrascht nicht nur die, denen die - in der korinthischen K o r r e s p o n d e n z nicht b e g e g n e n d e - P a u l u s - δ ο ΰ λ ο ς Χ ρ ί σ τ ο ϋ - M e t a p h e r vertraut ist 328 . A u c h v o n der Opposition V.4a her w ä r e zu erwarten, dass P a u l u s formuliert: „ W i r v e r k ü n d i g e n Jesus Christus als Herrn, u n s selbst aber als seinen S k l a v e n " 3 2 9 . Frappant ist schließlich, dass dies Sklave-Sein G e g e n s t a n d des κ η ρ ύ σ σ ε ι ν ist. Trägt d a s Verb bereits die missionssprachliche Konnotation, die 328 So Rom 1,1; Phil 1,1; Gal 1,10, vgl. oben § 4.3. 329 Eben diese Erwartung leitet die Lektüre von Gruber 1998, 296f, die, syntaktisch fernliegend, den Genitiv objektiv deutet und διά Ίησοϋν als „kraft Jesu", mithin die Aussage auf der Linie der δοϋλος Χριστοϋ-Prädikationen liest: Paulus bezeichne sich als Sklave für die Gemeinde kraft Jesu und adaptiere die Gottesknechtsidee für sich. Die Pointe der Aussage geht aber auch verloren, wenn man wie Kuschnerus 2002, 228 t die δοϋλος-Prädikation mit der Konnotation der auf Gott bezogenen SeptuagintaWendung δοϋλος θεοϋ (zur Differenz vgl. oben § 4.3) überfrachtet.

Die Sklavenmetapher 2 Kor 4,5

219

Heilsbotschaft zu „verkündigen", so ist hier impliziert, dass der Status des Verfassers gegenüber der Gemeinde Teil dieser Botschaft ist330. Liest man das Verb noch als vitale Metapher 331 , so bedeutet es zumindest, die Sinnlinie „Öffentlichkeit" von 2,14-16; 3,1-3 fortsetzend und in Opposition zu Heimlichkeiten (4,2f), dass Paulus öffentlich seinen loyalen Dienst an den Adressatinnen proklamiert. Die Metapher erhält ihre Bedeutung nicht nur durch diesen Überraschungseffekt, sondern auch durch die doppelte Opposition zu εαυτούς κηρύσσομεν und Ίησοϋν Χριστόν κύριον sc. κηρύσσομεν. Sie zeigt, was vom Bildspender δούλος zu übertragen ist: Es geht nicht um Abhängigkeit von der Gemeinde als „Besitzerin", denn „Herr" ist Jesus Christus, und dargestellt wird kaum eine besondere „Niedrigkeit" 332 , sprechen doch die folgenden Verse 4,6-7ff von seiner religiösen Bedeutung, die auch durch das „irdene Gefäß" nicht in Frage gestellt wird. Die Pointe ist vielmehr in der Verbindung von Proklamation Jesu Christi als Herren und des Paulus als Sklaven der Gemeinde: Er stellt sich öffentlich dar als der Gemeinde verpflichteter Sklave, aber nicht um sich publik zu machen, sondern Jesus Christus als Herrn333.

1.13 Sterben und leben lassen. Paulus als Medium der Offenbarung (2 Kor 4,10-12) An dieser Stelle ist kurz auf diese christologische Spitzenaussage einzugehen334, weil auch sie metaphorischen Charakter trägt335 und dem persönlichen

330 Vgl. so Zeilinger 1997, I47f- Als Terminus der Missionssprache zur Lexikalisierung tendierend begegnet das Verb etwa in 1,19; 11,4; 1 Kor 1,23; 15,12; Phil 1,15. 331

Vgl. Zeilinger ebd.

332 Vgl. so Kuschnerus 2002, 228f über die „Niedrigkeit des Apostels". Stärker noch als Zeilinger (1997,149) w i U Kuschnerus die Referenz auf Ίησοϋς von 4,7-12 her als Anspielung auf die „Leidensexistenz des Gekreuzigten" verstehen (a.a.O., 227). Da der Text das nicht indiziert und von „Kreuz" und „Leiden" Jesu auch in 4,7ff nicht gesprochen wird, sondern vom Sterben und Leben, scheint dies zu stark dramatisiert. Anders etwa Schröter 1993,137t, der διά Ίησοϋν zu ύπέρ'Ιησοϋ in 5,20 analog sieht. 333 Eine polemische oder apologetische Implikation der Aussage - vgl. zur Diskussion Thrall 2 Kor Bd.i, 3i2f - bleibt hypothetisch. Auch als nicht reaktive, positive Aussage hat der Satz eine Pointe in der Kommunikation. 334 Zur Struktur der Aussage in ihrem Kontext vgl. insbesondere die Analyse Lambrechts 1986,122ff.i36ff; Schröter 1996. 335 Zum metaphorischen Charakter der Aussage, der, wohl aufgrund der fehlenden Anschaulichkeit durch Prädizierung mit Abstrakta, selten bemerkt wird, vgl. Kuschnerus 2002, 255t mit Anm. Die Deutung als Metapher impliziert, dass die Aussage notwendig semantisch spannungsvoll ist und nicht aufzulösen ist, weder als Beschreibung der Leidensgemeinschaft im Sinne von Freundschaftstopik (so Wolter 1990, 546t vgl. dagegen Kuschnerus a.a.O., 255 Anm.256) noch als Analogisierung des Leidens Pauli und Christi (vgl. dagegen Kuschnerus a.a.O., 161 mit Anm.740; impliziert „Analogie" im Sinne des Lateranense IV zugleich die maior dissimilitudo,

220

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Geschick des Paulus Offenbarungswirken zuschreibt, das schließlich auf die Gemeinde appliziert wird (vgl. 4,i2fin). Die Aussage verknüpft die Sinnlinien öffentlicher Sichtbarkeit bzw. Offenbarung 3 3 6 und der Opposition von Leben und Tod 337 , u m dem Verfasser auf pointierte Weise eine Jesu Sterben wie Leben offenbarende Funktion zuzuschreiben. Die Metapher überträgt mit der Opposition von Leben und Sterben eine Wertung: Leben ist positiv, Sterben negativ. Das ist auch hier vorausgesetzt. Die Reihenfolge S t e r b e n - L e b e n zeigt, dass es u m das Auferstehungsleben Jesu geht. Eine soteriologische Deutung des Sterbens Jesu ist nicht im Blickpunkt der Metapher, obschon dessen positive Valenz vorausgesetzt ist. Die körperliche Befindlichkeit des Paulus wird interpretiert als „ H e r u m tragen" der ν έ κ ρ ω σ ί ς Jesu 338 , die dazu dient, dass auch 339 das Leben Jesu in seinem Körper „offenbart w i r d " . Die semantische Spannung besteht also darin, dass das Sterben und Leben Jesu prädiziert werden als sichtbar am äußeren Ergehen des Verfassers^0. Lesen wir die Aussage als Interpretation der antithetischen Peristasen V.8P 4 1 , so ist beim „Sterben" an Verfolgungen des Paulus bis hin zu Todesdrohungen „ u m Jesu willen" (vgl. V . n a a 3 4 2 ) zu denken, wie ja auch Jesus aufgrund von Gewalt anderer starb 343 . Die Identifizierung der Peristasen des Paulus als Sterben Jesu wertet diese auf, sie sind "not just human pain caused by opposition ... No, the dying of Jesus himself is present in it" 3 4 4 .

ist die Kritik Kuscherus' an entsprechenden Exegesen vor allem katholischer Provenienz aber überzogen), noch als "kind of ontological union (sc. Pauli) with Christ" (Lambrecht 1986,137t). 336 Vgl. φανερωθήναι und weitere Beschreibungen der Öffentlichkeit des Wirkens Pauli in 2,14-3,3; die Opposition von „verhüllt" und „unverhüllt" (3,7-18); die Lichtmetaphorik in 4,1-6 (vgl. oben 1.8); 4,18. 337 Vgl. 2,16; 3,6f; 5,4.14; 6,9; vgl. Gruber 1998, 82f. 338 Zur Diskussion der Bedeutung von νέκρωσις und der Referenz auf prozessual verstandenes Sterben vgl. Schröter 1993, i85ff. 339 Das Verhältnis von Tragen der Sterblichkeit bzw. Auslieferung in den Tod und Lebensoffenbarung ist nicht auf eine direkte finale Beziehung zu verkürzen in dem Sinne, dass „die Leiden (sc. des Paulus) der Epiphanie des Lebens Jesu (dienen)" (so Kuschnerus 2002, 259). Das και in V.iob und 11b indiziert eine Differenz zwischen Sterbensaspekt und Lebensoffenbarung. Das übersieht Kuschnerus, der den Bezug von Leben und Tod zu den beiden Seiten der Peristasen bestreitet (a.a.O., 257) und darum hier ein „paradoxes Ineinander von Leben und Tod" erkennt, das konstitutiv sei für das Evangelium (a.a.O., 261): „Dem behaupteten Herumtragen der νέκρωσίς Jesu am Leib des Apostels wird ein explikativer Charakter zugeschrieben: Es dient dem Offenbarwerden der ζωή Jesu" (a.a.O., 258). Vgl. auch die entsprechende Kritik von Lambrecht 1986, i28ff; Thrall 2 Kor Bd.i, 335 an der These Güttgemanns, dass in der νέκρωσις auf paradoxe Weise das Leben „epiphan" werde (1966, i2iff). 340 341 342 343

Eine ähnliche metaphorische Struktur liegt in Gal 6,17 vor. Mit Wolff 2 Kor, 92; Thrall 2 Kor Bd.i, 331; Schröter 1996, 683ff; Zeilinger 1997, i78f. Vgl. zu diesem Verständnis von 4,11a Lambrecht 1986,131. Vgl. παραδιδόναι in diesem Passionskontext in Rom 4,25; i K o r 11,22; vgl. Mk 15,1; Lk 23,25; Joh 19,16. 344 Lambrecht 1986,136.

Das Sterben und Leben des Paulus als Metapher (2 Kor 4 , 1 0 - 1 2 )

221

Der Lebensaspekt zeigt sich darin, dass Paulus diese Bedrängnisse „überlebt"345. Beide Aspekte sind also gemeinsam offenbar in dem „zerbrechlichen Gefäß" (4,7a), in dem Körper des Paulus (V.iob), „in unserem sterblichen Fleisch" (V.iifin). Behauptet wird, dass die Sterblichkeit des Diakonos, der zerbrechliche Charakter des Gefäßes, der Offenbarung des Lebens nicht nur nicht widerspricht, sondern ihr im Gegenteil gerade dient346. V.12 zieht eine Schlussfolgerung (ώστε) aus diesem Offenbarungsgeschehen für die angeschriebene Gemeinde. Im Blick auf die „Wirksamkeit" {ενεργείται) werden Sterben und Leben, die beide am Adressanten „offenbar" werden, nun aber aufgeteilt auf Paulus und die Adressatinnen. Das antithetische Zeugma lässt den logischen Zusammenhang zwischen der Wirksamkeit des Todes auf Seiten des Missionars und der Wirksamkeit des Lebens auf Seiten der angesprochenen Gemeinde offen. Es kann in Verlängerung von V.10-12 konzessiv gedacht sein: Trotz der Zerbrechlichkeit ihres Missionars erfährt die Gemeinde das Leben. Von 4,5 und 4,15 her kann man auch an einen kausalen Zusammenhang denken: Weil dem Apostel der Todespart auferlegt ist im Sinne der beschriebenen Lebensoffenbarung, kann das Leben an der Gemeinde wirksam werden347. So oder so weist der Verfasser hier auf einen fundamentalen Unterschied zwischen sich und den Adressatinnen und deutet sein eigenes Ergehen als Jesus-Repräsentanz, die ihnen zugute kommt.

1.14

Rückblick auf das Metaphern-Paradigma

Überraschend zahlreich und vielfältig sind die in §5.1 zusammengestellten Beziehungs- und Rollenmetaphern, erstaunlich ist auch die Menge der herangezogenen Bildspendebereiche. Viele Metaphern sind 345 Vgl. Thrall 2 Kor Bd.i, 334f. Nach Schröter 1996, 683ff stellt der zweite Aspekt der Antithesen jeweils das dem Leiden vorgängige rettende göttliche Handeln heraus. 346 Der syntaktisch parallele Finalsatz 4,7 steht 4,iob.nb auch semantisch nahe, insofern die δ ύ ν α μ ι ς θεοΰ sich nach Paulus gerade in der Auferweckung Jesu manifestiert, s. Rom 1,4; i K o r 6,14; 2 Kor 13,4; Phil 3,10; vgl. Mk 12,24. - Zur revelatorischen Funktion der Schwäche als „ G e w ä h r für die Authentizität der göttlichen D y n a m i s " nach 4,7b vgl. Krug 2001, 200ff, Zitat 204. 347 Nicht dem Text entspricht jedoch die Deutung, dass der Verfasser seinem Leiden soteriologische Bedeutung für die Gemeinde in Korinth zuschreibe. Selbst wenn φ α ν ε ρ ο ϋ σ θ α ι als Erkenntnis Gottes soteriologische Qualität hat, geht es hier zunächst um einen hermeneutischen Aspekt (vgl. Kuschnerus 2002, 258 Anm.727 im Anschluss an W. Harnisch). Anders liest vor allem Schröter 1993, 184ft die Aussagen von V . 1 2 her als Beschreibung der „christologischen Struktur des Apostolates. Wie bei Jesus selbst, dessen Tod Leben für andere bewirkte, ist der Vorgang also so vorgestellt, daß die Leiden des Paulus als ,Tod' interpretiert werden können, der Leben auf Seiten der Gemeinde hervorbringt" (a.a.O., 189, im Original z.T. hervorgehoben). Doch ist auch in V.i2b logisches Subjekt des ενεργείται Gott, nicht der Tod bzw. das Leiden des Paulus. Der Satz kann auch banal darauf anspielen, dass die lebensbedrohlichen Bedrängnisse, die Paulus von Gott zugemutet werden, der Gemeinde erspart bleiben.

222

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

ungewöhnlich pointiert, und sie dominieren auch mengenmäßig die in § 4 dargestellten Bezeichnungen απόστολος und διάκονος. Die Vielfalt der Metaphern zeigt, dass keine Konzeptmetapher und kein „Modell" bereits auf dem Weg zur Katachrese waren, um die semantische Lücke zu schließen, welche die christliche Innovation öffnete. Den Metaphern kommt je unterschiedliche Aussagekraft zu, und sie haben jeweils auch ihre Grenzen. Dies lässt sich vor allem an der korinthischen Korrespondenz ablesen, in der mit Abstand die meisten Metaphern begegnen. Die Bilder aus 2 Kor 2 - 7 ; 10-13 werden daher in §5.2 noch einmal im Zusammenhang dargestellt. Die Analyse hat gezeigt, dass sowohl traditionelle Metaphern, aus der Bibel, seltener aus der philosophischen Literatur, als auch die Alltagserfahrung Quelle der Bilder sind. Nimmt man die traditionellen und biblisch konnotierten Bildspender Bau, Vegetation und Licht sowie die extravagante Sterbensmetapher aus, so sind es vor allem Lebensbereiche, die ein zwischenmenschliches Geschehen bereits im Bildspender erfassen: Familie, Ehe, Arbeit, Krieg, Kommunikationsmedien und Wettkampf. Kult impliziert die Gottesbeziehung. Die Bildspender geben zwei-, drei- oder vierstellige Relationen vor, die zur Beschreibung der Beziehung des Paulus zu Gott resp. Christus oder der Beziehung des Paulus zur Gemeinde oder zur Darstellung komplexerer Gefüge dienen. Bemerkenswert ist, dass auch jene Metaphern, deren Bildspendebereich keine Valenz zur Darstellung der Relation zu Christus bzw. Gott bietet, immer wieder additiv um diese erweitert werden. So wird der Triumphzug Gottes mit έν τω Χριστώ „christianisiert" (2 Kor 2,14a), Christus als Inhalt des Empfehlungsbriefes für Paulus ergänzt (2 Kor 3,3) oder zur Vaterschaft des Paulus das vom Bildspender her unpassende έν Χριστώ δια τοϋ εύαγγελίου (ι Kor 4Α6, vgl. § 7 4 ) notiert. Nicht zuletzt hieran ist erkennbar, wie sehr Paulus seine Metaphern vom Bildempfänger her prägt, was nicht am bildnerischen Unvermögen des Paulus liegt, sondern dieser Sprachform inhäriert, wie die metapherntheoretischen Überlegungen § 3 zeigten. Große Unterschiede bestehen darin, wie die Metaphern die jeweiligen Beziehungen darstellen, doch fast immer wird eine besondere Beziehung und ein asymmetrisches Gefälle des Paulus zu den Gemeinden ins Bild gesetzt. Metaphern, die nicht exklusiv für Paulus verwendet werden, wie die Arbeits-, Sklaven- oder Sportmetapher, werden durch ungewöhnlichen Gebrauch zur Beschreibung einzigartiger Relationen.

Rückblick auf das Metaphernparadigma

223

Der Überblick ermöglicht nun auch, die Bedeutung der Vater- bzw. Mutter-Kinder-Bilder unter den Metaphern des Zielbereichs PaulusGemeinde zu ermessen. Die Metaphern und Vergleiche mit Eltern und Kindern werden mehrmals in Briefen an Gemeinden herangezogen, deren Gründer Paulus zu sein beansprucht. So deutlich wie wenige andere verbildlichen sie die ursprüngliche und bleibende Zusammengehörigkeit von Paulus und den Adressatinnen. Zum Gewicht der Metaphorik trägt auch die benachbarte Verwendung der Eltern-KindMetaphorik für die Beschreibung des Gottesverhältnisses einerseits, die Beschreibung der Beziehung zwischen Missionar und Gemeinde andererseits bei. Im Paradigma der Beziehungsmetaphern zeichnet sich das Bildfeld auch dadurch aus, dass es nicht nur eine Hierarchie, sondern auch die einseitige Exklusivität der Beziehung impliziert: Mögen Eltern mehrere Kinder haben, so hat ein Kind nur einen Vater und eine Mutter348. Doch entwerfen die verschiedenen Instantiierungen der Konzeptmetapher kein geschlossenes Bild „geistlicher Vaterschaft" oder ähnliches, sondern sind je unterschiedlich zu pointierten, situationsbezogenen Aussagen geformt.

2 Metaphorische Selbstinszenierungen im Zweiten Brief nach Korinth und im Brief nach Philippi. Zur Syntagmatik der Metaphern Die Vielzahl der Beziehungsmetaphern deutet bereits quantitativ darauf hin, dass das Verhältnis zwischen Absender Paulus und den Adressatinnen und Adressaten ein wichtiges Sujet seiner Briefe ist. In § 2 hatten wir bereits festgestellt, dass der Beziehungsaspekt der Literaturgattung Brief an sich schon inhärent ist. „Fallstudien" an den Briefen nach Thessalonich, nach Galatien und an i K o r 1 - 4 werden dies ausgehend von Eltern-Kinder-Bildern in § 6-8 detailliert zeigen: Die „Beziehungsebene" ist in allen Briefen ein Teil der „Sachebene", die Thematisierung der Beziehung Mittel der persuasiven Strategie, ihre Gestaltung neben anderem pragmatisches Ziel. Trifft dies auf alle

348 Eine einseitig exklusive Relation strukturiert zwar auch die Ehemetapher (vgl. 1.11). Die Relation zwischen Ehegatten ist jedoch anders als die zwischen Eltern und Kindern weder von Anfang an gegeben noch dauerhaft, kann doch eine Ehefrau nicht nur illegal, sondern nach dem Tod des Mannes auch legal eine neue Beziehung eingehen (vgl. Rom 7,1-6). Im übrigen appliziert Paulus die Ehebeziehung nicht auf seine Gemeindebeziehung.

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

224

B r i e f e z u , s o d o c h in je u n t e r s c h i e d l i c h e r Weise, a b h ä n g i g v o n d e r V o r geschichte d e r B e z i e h u n g , d e r a k t u e l l e n Situation d e s P a u l u s u n d d e r jeweiligen G e m e i n d e u n d den weiteren sachlichen Anliegen. D i e s e s B i l d w ä r e nicht v o l l s t ä n d i g o h n e e i n e n Blick auf 2 K o r 2 , 1 4 7,4 u n d 1 0 - 1 3 , d e r e n M e t a p h e r n r e i c h t u m in § 5.1 u n ü b e r s e h b a r w u r d e . Eine

wenigstens

oberflächliche Z u s a m m e n s c h a u

der Bilder

dieser

B r i e f t e i l e zeigt, w i e a u c h hier d e r A u t o r seine B e d e u t u n g f ü r d i e G e m e i n d e in K o r i n t h z u v e r g e g e n w ä r t i g e n u n d b e f e s t i g e n s u c h t ( v g l . 2.1 u n d 2.2). V o n Interesse ist schließlich d e r P h i l i p p e r b r i e f . O b w o h l er eine V i e l z a h l v o n p h i l o p h r o n e t i s c h e n T o p o i a u f w e i s t ( v g l . § 2.2), ist er v e r g l e i c h s w e i s e a r m a n v i t a l e n B e z i e h u n g s m e t a p h e r n . E s fällt a u f , d a s s d e r A u t o r bei d e r B e s c h r e i b u n g dieser „ h a r m o n i s c h e n B e z i e h u n g " auf F a m i l i e n m e t a p h e r n verzichtet. D i e s e B e o b a c h t u n g ist z u e r k l ä r e n (2.3). Auch Rom und Phlm thematisieren die Beziehungen zwischen Adressant und Adressatinnen, jedoch vergleichsweise subtil. Der Römerbrief des Paulus kann nicht auf eine gegenseitige Beziehung zurückgreifen und dieser erst recht keine Heilsrelevanz zuschreiben 349 . Die Relation von Adressant und Adressatinnen ist ein jedoch Aspekt der Pragmatik, was besonders im brieflichen Rahmen zum Ausdruck kommt. Es gilt, einen Besuch vorzubereiten, um Unterstützung zu bitten und den Brief als solchen zu rechtfertigen ( 1 , 9 - 1 5 ; 15,14ft). Die Selbstaussagen sind bestimmt von einer inkludierenden Kultmetapher (1,5.9; 15*16, vgl. §5.1.3.2). Diese entwirft - das wird vor dem Metaphernparadigma deutlicher erkennbar - keine spezifische Beziehung zur Gemeinde in Rom: Paulus ist „Priester", der die Heidinnen als Gott wohlgefälliges Opfer darbringt (15,16). Der Bildspendebereich qualifiziert das heidenmissionarische Wirken des Paulus als gottgefällige „vertikale" Bewegung zwischen Gott und Mensch. Paulus ist nicht an einen bestimmten Ort gesandt, sondern zu bestimmten Menschen auf dem ganzen Erdkreis (vgl. 15,19). Die Christinnen heidnischer Herkunft in Rom gehören zur Zielgruppe der paulinischen Mission (1,13t). Deutet bereits die Opfer-Metapher auf ein initiatives Handeln, so drückt es die folgende Baumetapher noch deutlicher aus: Paulus will lieber nicht auf den Fundamenten anderer bauen (15,20). Deshalb war er auch bislang nicht nach Rom gekommen (15,22) und will er von Rom aus Weiterreisen nach Spanien. So vermittelt der Autor metaphorisch, dass er begnadet ist, den Christinnen in Rom das Evangelium zu verkündigen (1,15) und sie zu mahnen (15,15t), was er im Brief tut, aber doch seine originäre Aufgabe als Erstmissionar nicht in Rom, sondern jenseits dessen sieht. Für den Philemonbrief hat Petersen 350 eindrücklich gezeigt, dass das Schreiben das Beziehungsgeflecht zwischen Paulus, Philemon, Onesimus und

349 Zur Diskussion um die Briefpragmatik vgl. Reichert 2001. 350 Petersen 1985, vgl. zum Ansatz §1.2.1.4; v gl· auch Wolter Phlm, 256ft; Lampe Phlm, 212 ff.

Das Zusammenspiel von Metaphern

225

d e r Öffentlichkeit der H a u s g e m e i n d e quasi narrativ gestalten w i l l . P a u l u s konfrontiert die h e r k ö m m l i c h e H e r r - S k l a v e - B e z i e h u n g mit a n d e r e n hierarchischen B e z i e h u n g s k o m p l e x e n d e r s y m b o l i s c h e n u n d sozialen Welt, u m sich f ü r Onesim u s mit v o r b i l d l i c h z u r ü c k g e n o m m e n e r Autorität z u v e r w e n d e n ( V . 8 ) . D a b e i a r g u m e n t i e r t er v e r d e c k t auch mit H a u s h a l t s m e t a p h e r n , d a diese Status- u n d Besitzverhältnisse verbildlichen. Er hätte A n s p r u c h auf „ s e i n K i n d " O n e s i m u s , u n d w i l l d o c h P h i l e m o n s E i n w i l l i g u n g , d a s s auch dieser n u n nicht m e h r „ S k l a v e " , s o n d e r n „ B r u d e r " ist 351 .

2.1

P a u l u s als Vermittler Gottes u n d R e p r ä s e n t a n t Christi. Die Metapherncollage von 2 Kor 2 - 7

Der Eindruck, dass Paulus ein christologisch vertieftes Selbstverständnis seines „ A p o s t o l a t s " Briefteil 2 K o r 2,14-7,4

a u s

vertritt, g e h t v o r a l l e m v o n d e m Brief

oder

· D a s s der V e r f a s s e r a u c h in jenen Wir-Passa-

gen, die traditionell als A u s s a g e n ü b e r „ u n s C h r i s t i n n e n " gelesen w u r d e n , z u a l l e r e r s t ü b e r sich u n d s e i n e A u f g a b e spricht, ist in j ü n g e r e n Arbeiten herausgestellt worden352. A u c h die Metaphern dieses Textes sind, a n d e r s als in a n d e r e n Paulus-Briefen, bereits ent-deckt w o r d e n als pointierte, tiefgründige Versprachlichung des Neuen353. Mit innovati-

351 Vgl. §5.1.10.1 zur Kinder-Metapher. Die in der vorigen Anm. genannten Auslegungen gehen davon aus, dass Paulus eigentlich als „Apostel" hätte fordern können, dass Paulus also auch in der Auslassung des Apostelbegriffs in der Intitulatur bereits Autoritätsverzicht signalisiert. Dies beruht m.E. auf einer Überinterpretation des άπόστολος-Titels (vgl. dazu §4.1). 352 Vgl. Dautzenberg 1986; Schröter 1993; Back 2002; Kleine 2002; Vogel 2003. Ich beziehe die fast durchgäng verwendete 1. Pers. PI. wie die meisten Exegetlnnen auf den Autor Paulus. Dies ist prinzipiell möglich (vgl. dazu den Exkurs nach § 2). Die metasprachlichen Selbstthematisierungen 6,13; 7,3 und 5,11 legen die Spur zum Individuum „Paulus" als implizitem Autor. Einige Sätze sind auch nur als Aussagen über die Person des Paulus sinnvoll (2,14a; 4,6; 5,18). Dass aus der Verwendung der Plurale eine andere Autorität, ein „apostolisches Wir" spricht (vgl. zu solchen Annahmen den Exkurs nach § 2), zeigt der Text nicht. Unbestreitbar und durch die Rezeption des Textes mannigfach bezeugt ist jedoch, dass das „Wir" einlädt, die Aussagen durchlässig auch für eigene Erfahrungen zu lesen. 353 Allein in den letzten 15 Jahren sind mehrere deutschsprachige Monographien zu den Kapiteln bzw. zu Abschnitten daraus erschienen, welche zeigen, wie unterschiedlich der Text gedeutet werden kann, die aber in der Überzeugung konvergieren, dass Paulus als „Apostel" der Gemeinde in Korinth eine eminent wichtige Rolle beansprucht. 2,14-4,6 und 5,11-6,10 sind Gegenstand der Untersuchung de Oliveiras (1990). Er findet einen rhetorisch strukturierten Brief, der die Eignung des Paulus zum Apostolatsdienst nachweist. Paulus ist befähigt zum Diener der Gerechtigkeit (3,9) und der Versöhnung (5,20), d.h. durch Gottes Gerechtigkeit und Versöhnung zur Verkündigung dieser Inhalte berufen (a.a.O., 424). Schröter (1993, vgl. auch ders. 1996) liest 2 Kor 2,14-7,4 als Apologie des Paulus, der darin seine aufgrund seiner

220

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

ven Bildern verfolgt der Autor sein Ziel, sein individuelles Lebensgeschick und seinen göttlichen Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums (διακονία) eindringlich darzustellen. Es bedarf also diesbezüglich weder einer Rehabilitation des Textes noch seiner metaphorischen Redeweise. Dem Text, seiner Strategie und seinem metaphorischen Rollenentwurf des Paulus und den vielen bedenkenswerten Deutungen kann diese Untersuchung keinesfalls gerecht werden. Für das Interesse unserer Untersuchung an der Rolle, die sich der Autor in den Briefen an von ihm gegründete Gemeinde einschreibt, muss ein tabellarischer Uberblick über die Metaphern des Kapitels genügen. Er simplifiziert, zeigt so jedoch die Vielfalt der Bildmotive: Immer neue Bildspender werden herangezogen, um das Wirken des Paulus in seinen Relationen zu Gott und Christus sowie zu der Gemeinde zu deuten. Jede Metapher hebt einen anderen Aspekt der Beziehungen hervor.

Berufung exklusive, soteriologische Rolle für die Gemeinde in Korinth in der Übermittlung des Heilsangebotes Gottes darstellt. Die Auslegung von 2,14-6,13 durch Gruber (1998) nimmt insbesondere textgrammatisch und -semantisch den gesamten Abschnitt in den Blick. Er wolle die Versöhnung des Apostels gegen Zweifel an seiner Autorität aufgrund seiner „Schwachheit" wirken. Die Textdynamik ergebe: „Herrlichkeit (2,14-4,6) in Schwachheit (4,7-5,10) zur Versöhnung (5,11-6,13)" (vgl. a.a.O., 435). Der theologische Entwurf des Aposteldienstes als Dienstes der Versöhnung gehe aber über den konkreten Anlass hinaus (a.a.O., 437). Kuschnerus (2002) analysiert mit der Metapherntheorie der hermeneutischen Schule die kommunikative Kraft der Metaphern in 2,14-5,10. Paulus wirbt um das Einverständnis der Adressatinnen in die ihnen via metaphorae dargestellte eschatologische Möglichkeit. Diese Sprachform entspreche dem Evangelium als Wort vom Kreuz, durch das sich ereigne, was durch es zur Sprache kommt. E.-M. Becker (2002) erkundet hingegen am als Einheit gelesenen 2 Kor die „paulinische Briefhermeneutik", d.h. die Reflexion des Paulus auf die spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten dieser schriftlichen Kommunikationsform, nachdem bereits Wünsch 1996 die kommunikative Struktur von 2 Kor 1 - 9 als eines Briefes auf dem Hintergrund rhetorischer Theorien analysiert hatte. Die uns interessierenden Passagen der nach Wünsch apologetischen Rede 1,15-7,3 dienen s.E. vor allem dem Ethos-Entwurf des Autors und der Affekterregung. Auf denselben „Brief" bezieht sich auch Kleines „textlinguistische Untersuchung des Briefes 2 Kor 1 - 9 zur wechselseitigen Bedeutsamkeit der Beziehung von Apostel und Gemeinde" (so der Untertitel, 2002). 2,14-7,3 seien „Confessio zur Beziehung von Apostel und Gemeinde" (a.a.O., 154), die darauf ziele, die gegenseitige Beziehung wieder herzustellen als „ Folge und sichtbarer Ausdruck des Neuen Bundes" (a.a.O., 174, mit Bezug auf 3,6). Paulus betreibe Konfliktmanagement, um seine Autorität wiederzuerlangen, ohne mit kontraproduktiver Superiorität aufzutreten.

227

Die M e t a p h e r n in 2 Kor 2 - 7

Verse (s. §5-i)

Bildspender / -bereich

abgebildete Relationen

Referenz, Pragmatik

Rekurrenzen Sinnlinien

2,14a (1.5.1)

Triumphzug / Krieg

Gott - P a u l u s „in C h r i s t u s "

B e r u f u n g als Sieg über Paulus öffentliche Präsentation

Χάρις πάντοτε Öffentlichkeit

2,14b16a

Duft/ Kult

Gott - P a u l u s Christus - P a u l u s „für Gott" P a u l u s - die Geretteten u n d die Verlorenen

missionarisches Wirken allerorten

έν π α ν τ ί τ ό π ω , φανεροϋν, γνώσις ζωή, θ ά ν α τ ο ς

3,1-3 (1.4.1)

Brief

Adressatinnen Paulus Christus, Gott alle M e n s c h e n ordinäre Empfehlungsbriefe

Gemeindegründung durch Paulus allgemein bekannt; andere Missionare

συνιστάνει.ν καρδίαιήμων, φανερούμενοι, διακονηθεϊσα

4S (1.12.1)

Herold

P a u l u s - Christus

Sklave

Paulus Adressatinnen u m Jesu willen

Öffentlichkeit; Verkünden Christi; Dienst f ü r die Gemeinde, Selbstlosigkeit

4,6 (1.8)

Erleuchten/ LichtFinsternis

Gott in P a u l u s

Bekehrung u n d B e r u f u n g des Paulus und deren Wirken

γνωσις, καρδίαι ήμών, δόξα

4>7354

Schatz-Gefäß / Geldverwahrung

P a u l u s - seine Botschaft

Gebrechlichkeit/ Sterblichkeit des Paulus

δύναμις

4,10-12. 13-16

E r g e h e n des Paulus

Paulus - Jesus Öffentlichkeit - Adressatinnen

Gebrechen u n d Überleben d e s Paulus, d e n Adressatinnen zugute; Offenbarungsfunktion

πάντοτε θάνατος, ζωή φανερωθήναι

(ΐ·3·3)

(1-13)

354 Die M e t a p h e r zielt, u n b e n o m m e n verschiedener A n n a h m e n ü b e r R ü c k b e z ü g e (vgl. Thrall 2 Kor Bd.i, 322ft, insbesondere z u d e n biblischen K o n n o t a t i o n e n v o n ό σ τ ρ ά κ ι ν α σ κ ε ύ η als Sterblichkeit; vgl. Zeilinger 1997, 169t), offensichtlich auf die Antithetik z w i s c h e n zerbrechlichem Gefäß u n d k o s t b a r e m Inhalt u n d ihren Z w e c k (4,7)·

228

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Verse (s.

Bildspender / -bereich

abgebildete Relationen

Referenz, Pragmatik

5/1-4 5/3 f

Haus / Bau Kleidung Ein-, Ausziehen

Paulus' K ö r p e r Gott

Sterblichkeit u n d Sterben des Paulus

5/io

Richterstuhl / Recht

alle gleichermaßen vor Christus

Gericht

φανερωθηναι

5,18-20 (1.9.1)

Versöhnung,

Gott - Paulus „durch Christus" Gott - alle Menschen durch Paulus stellvertretend für Christus, konkret: Paulus Adressatinnen

Bekehrung u n d Übergabe der διακονία

διακονία παρακαλεΐν

Botschafter

Rekurrenzen Sinnlinien

briefliches Handeln Appell zur Annahme des Versöhnungsangebots

6,1 (1.1)

Mitarbeiter / Arbeitswelt

Paulus - Gott (für die Adressatinnen)

Briefkommunikation Appell

6/7 (1.5.2)

Waffen / Krieg

Paulus δικαιοσύνη

Bewährung des διάκονος, Verteidigung u n d Angriff

6,11-13 7/3 (1.10.2)

Körper Raum; Eltern Kinder

Offenheit des Paulus für die Adressatinnen u n d mangelnde Vergeltung

Appell zur entsprechenden Reaktion

παρακαλεΐν χάρις

καρδίαιήμών συναποθανεΓν συζήν

Die Metaphorik zeigt bei aller Variabilität der Bildspender bestimmte Gemeinsamkeiten, die ein zentrales Anliegen des Textes deutlich machen. Immer ist die Relation des Paulus (bzw. aller Menschen in 5,10) zu Gott und/oder Christus im Blickpunkt der Metaphern. Mehrere Bilder handeln von der Bekehrung bzw. Berufung des Paulus allgemein. Einige Metaphern sprechen jedoch von der Beziehung des Briefschreibers zu den Adressatinnen (in der Tabelle hervorgehoben). Bemerkenswert ist, dass im Unterschied zu den Bildern von 2 Kor 10 f (vgl. unten 2.2) keine Metapher auf „Gegnerinnen" Bezug nimmt, deren Bekämpfung meist dem Text als eine Intention unterstellt wird 355 . 355 Vgl. zu diesen Thesen das zu den einzelnen Texten in § 5.1 Bemerkte.

Die Metaphern in 2 Kor 2 - 7

229

Fragt man, was die auseinanderstrebenden Metaphern verbindet, so ist es zunächst die gemeinsame Intention, die Wirksamkeit des Paulus als διάκονος Gottes (vgl. 3,3.7-9; 4,1; 5,18; 6,3t) darzustellen, und dies insbesondere für die angeschriebene Gemeinde. Extravagante Metaphern verdeutlichen, dass es dabei um die Darstellung von etwas Außergewöhnlichem geht. In ihrer Summe zeigen die Metaphern dies umso mehr: Kein gängiger Vergleich, keine bekannte Funktion reicht hin, um die Besonderheit der paulinischen Berufung zur Ausbreitung des Evangeliums darzustellen. Trotz der unterschiedlichen Bildspender können wir auch eine Konvergenz erkennen. Die Metaphern vom „Empfehlungsbrief", „Leben und Sterben des Paulus", „Botschafter" übertragen „Medien" der Kommunikation auf die gegenseitige Beziehung von Paulus und Adressatinnen. Die Gemeinde ist Medium der öffentlichen Empfehlung des Paulus, Paulus aber ist Medium der Botschaft Gottes, der Wirkung Christi und hat auch als epiphan konnotierter „ D u f t " mediale Bedeutung „an jedem Ort" (2,14b). Das Leitwort des Abschnitts διακονία, das nicht einfach den „Dienst", sondern die Vermittlungsaufgabe beschreibt (vgl. §4.2), wird also semantisch gefüllt durch diese „Medien-Metaphorik". Die Metaphern ergeben zusammen ein kohärentes Bild von den gegenseitigen Relationen: Gott ist es, der den Adressanten „besiegte" (2,14a), erleuchtete (4,6) versöhnte (5,18), ihn als riechbares „Medium" verwendet (2,i4b-i6a), so dass er Gottes „Mitarbeiter" ist (6,1). Er wird damit zum Repräsentanten des Christus: Er ist „Duft Christi" (2,15), verkündet Jesus Christus (4,5), lässt ihn aufleuchten (4,6), bittet an seiner Statt (5,20). Besonders prägnant, obschon bildlich kaum vorstellbar, ist die Interpretation des vom Tod gezeichneten Lebens als Herumtragen des Sterbens und Offenbaren des Lebens Jesu (4,10-12). Der Verfasser zeichnet sich als sterblichen Menschen, der gerade in seiner Gebrechlichkeit das Christusgeschick sichtbar macht, als Botschafter Gottes, als Ubermittler (διάκονος) der göttlichen Botschaft in Verlängerung des Wirkens Christi. So beschreibt Paulus metaphorisch die Christusrepräsentanz, die nach üblichem Verständnis mit der Bezeichnung απόστολος behauptet wird (vgl. §4.1). Diese Mittelposition bilden die Metaphern auch damit ab, dass sie die Adressatinnen kaum in direkter Beziehung zu Gott resp. Christus zeigen356. 356 Da, wo es um eine unmittelbare Gottes- oder Christusbeziehung der Adressatinnen geht („Brief Christi" 3,3; Wirken des Lebens 4,12; Versöhnung mit Gott 5,20), steht dies jeweils in Verbindung mit dem Wirken des Adressanten (als dessen, der den Brief vermittelt, an dem der Tod wirksam wird, der den Versöhnungsappell spricht).

230

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Nur manche soteriologischen Aussagen (3,18; 5,14.21) beziehen sich auf alle Christinnen gleichermaßen, und sub specie finis, im Gericht, in gängiger, nicht mehr vitaler Metapher ist die Vorordnung des Paulus egalisiert (5,10). Die Bilder geben der Beschreibung des Diakonos ein Gefalle und dem Text so eine Dynamik. Der Verfasser stellt sich zunächst vor allem passiv dar (2,14-16), als der von Gott Befähigte (3,4f). Ist sein Herrlichkeitsdienst dargestellt (3,7.18) und seine menschliche Begrenztheit in 4,6.7-15 als Medium der Offenbarung göttlicher Lebensmacht interpretiert, so zeigt der Verfasser sich am Schluss des Textes in einer aktiven appellierenden Rolle (5,18-6,1; 6,11-13), die er mit dem Briefabschnitt als solchem von Anfang an spielt. Er überbringt die Versöhnungsbitte (5,20) und plädiert, die Gnade Gottes nicht zu vergeuden (6,1). Die Beziehungsgestaltung des Paulus zur angeschriebenen Gemeinde in Korinth ist ein zentrales Anliegen des Textes und insbesondere seiner Metaphern. Das verdeutlicht die rückblickende Leseanleitung in 6,ii-i3 3 5 7 . Sie interpretiert den Brief bzw. Briefteil als riskierte Offenheit gegenüber Verschlossenen, als bislang unabgegoltenen Einsatz von Eltern gegenüber ihren Kindern und appelliert an die Korintherinnen und Korinther, sich als Reaktion auf diese Selbstbeschreibung zu öffnen. In 7,2-4 bekräftigt der Verfasser seine lautere Haltung und betont, dass er alles nicht als Anklage geschrieben hat. Die „Herzens-Inklusion" 3 , 1 - 3 ; 6,11-13; 7>3 lenkt den Blick auf die Relation zwischen Adressanten und Adressatinnen als Thema des Textes: Eingangs reklamierte der Verfasser aufgrund seiner initialen Wirksamkeit eine besondere Beziehung der Adressatinnen zu seiner Person, die ihn jeglicher Empfehlungspraxis enthebt, schließlich bittet er, seine briefliche Offenherzigkeit ebenso zu beantworten, und erinnert daran, dass sie in seinem Herzen sind, um gemeinsam zu sterben und zu leben. Die Metaphern innerhalb dieses Rahmens tragen die Argumente dafür: Sie stellen den Autor dar als besonderen Mittler Gottes an Christi Statt und seine persönliches Ergehen als Offenbarungsmedium des Christusgeschicks. Der Vergleich mit Beziehungsmetaphern anderer Aussagekontexte zeigt, dass der Autor seine bereits bestehende Beziehung zur Gemeinde kaum ins Spiel bringt und vor allem mit seiner allgemeinen

357 Dies indiziert der Text durch die ungewöhnliche namentliche Anrede Κορίνθιοι und den Einsatz der 1. Pers. Sg., die inkludierende Rekurrenz von καρδίαι und die Andeutung einer Eltern-Kinder-Relation, vgl. § 5.1.10.2.

Die Metaphern in 2 Kor 2 - 7

231

göttlichen Befähigung argumentiert 358 . Seine Aufgabe gilt allen, nicht nur den angeschriebenen Christinnen (vgl. bes. 2,14-16), aber auch und gerade diesen (5,20, vgl. 4,5.12). Ob der Text als Widerlegung von expliziten Vorwürfen geschrieben wurde oder Konkurrenzmissionare verdrängen will, bleibt offen. Die Metaphorik geht den Weg der positiven Selbstdarstellung, eingangs durch Vergleich mit anderen (2,17; 3,1; 3,7ff), vor allem aber unter Rekurs auf die individuelle Berufung und Befähigung des Paulus. Insofern konvergieren schließlich die vielfältigen Metaphern in der Absicht, den Verfasser der Gemeinde als ihren unersetzlichen göttlichen Beauftragen zu empfehlen 359 .

2.2 Krieg und Hochzeit in Korinth. Die Beziehung des Paulus zur Gemeinde angesichts anderer Missionare als Thema von 2 Kor 10-13 Wenn wir uns im Folgenden der Beziehungsmetaphorik im Briefteil oder Brief 2 Kor 10-13 widmen 360 , greifen wir einen in der exegetischen Diskussion um die Kapitel kaum beachteten Aspekt heraus. Doch eine Zusammenschau der Bilder des Textes - Metaphern, Vergleiche und ein Analogieargument - zeigt, dass die Beziehung des Paulus z u der angeschriebenen Gemeinde vor Gott und Christus und in Abgrenzung von Konkurrentinnen 361 ein zentrales Thema des Textes ist. Alle bildlichen Aussagen sprechen von mehreren Größen dieses Beziehungsquadrats und sind Teil einer rhetorischen Strategie, mit der die Beziehung der Gemeinde zum Autor in Sinne des letzteren bestimmt werden soll. Die rhetorischen Mittel abgesehen von den bildlichen können hier nur angedeutet werden 362 . Geschickt stellt der Autor sich selbst in den Vordergrund. Nach dem Beginn mit αύτός δέ έγώ Παϋλος (ιο,ι) bleibt er durchgängig als

358 Auf die bestehende Beziehung rekurriert nur 3,1-3; anders ist dies etwa in i K o r •}( (vgl. § 7), i T h e s s 2,17-20 (§6.5.1); Gal 4,12-20 (§ 8) und auch 2 Kor l i f (s.u. 2.2). 359 So könnte man schlussendlich, nicht nach der Brieftypik, aber der Pragmatik, den Brief b z w . Briefabschnitt als Empfehlungsbrief lesen (vgl. Schröter 1993,52t). 360 Ohne die Frage des ursprünglichen literarischen Zusammenhangs von 2 Kor 1 - 9 und 10-13 (vgl. zur Diskussion Thrall 2 Kor Bd.i, 3-48) zu entscheiden, können die Kapitel 2 Kor 10-13 als selbständig gelesen werden, da sie es im Blick auf die Beziehungsthematik, die Auseinandersetzung mit Konkurrenz und den Einsatz von Metaphorik sind. 361 Wer diese sind, kann aus dem tendenziösen Text nicht mehr genauer erschlossen w e r d e n ; zur Diskussion vgl. Sumney 1990,13-73; Bieringer 1994a. 362 Vgl. genauer Gerber 2005,103 f.

232

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Missionar der Gemeinde und Briefautor präsent durch die 1. Pers.363. Er rühmt seine Herkunft (n,22f), die ertragenen Peristasen (11,23(f), die ihm zuteil gewordene Offenbarung (12,iff) im Rahmen der Narrenrede (11,21-12,10 )364. Da er sich nur seiner Schwächen rühmen will (11,30), tritt in den Passagen, in denen er von sich mehr berichtet als sonst, die 1. Pers. zurück365. - Die Konkurrentinnen werden hingegen nicht namentlich genannt, sie bleiben durch abwertendes Non-naming366, Ironie (11,7; 12,11) und Invektive (11,12-15) fü r die Leserinnen ohne eigenes Profil. Nach der Synkrisis 11,22-29 verschwinden sie als Zeichen des Sieges aus dem Text367. Die Adressatinnen werden von den Konkurrentinnen deutlich abgesetzt durch die Anrede in der 2. Pers. PL, und werden, nachdem die Konkurrentinnen „verdrängt" sind, schließlich sogar liebevoll apostrophiert (12,19, v gl· 13/ui)· Wo die theologischen Differenzen liegen, bleibt für uns unklar - wir sehen einen Machtkampf 368 , und in diesem spielen die Bilder, insbesondere 10,3-6 und 1 1 , 1 - 4 , e i n e hervorgehobene Rolle. Es geht nicht prinzipiell um die „Legitimität des Apostels" 309 , sondern um das persönliche Auftreten des Paulus und die Bindung der Gemeinde in Korinth an 363 Es überwiegt die 1. Pers. Sg. Zur Verwendung beider Numeri der 1. Pers. nebeneinander vgl. den Exkurs nach § 2. Der Text lässt sich nur verstehen, wenn man auch die pluralischen Aussagen auf Paulus bezieht. Sie können gelegentlich dabei größere Autorität konnotieren. Eine Unterscheidung zwischen dem Ich des Paulus und einem „apostolischen Plural" (so Bosenius 1994, 133ft) unterstellt hingegen eine vom Text nicht indizierte Doppelrolle des Paulus. 364 Zur Analyse der Narrenrede vgl. Zmijewski 1978, zur Diskussion der dahinter stehenden Tradition Heckel 1993a, i94ff. 365 An ihre Stelle tritt die Rede vom άνθρωπος (i2,2ff), und im Peristasenkatalog 11,32b29 fällt die 1. Pers. Sg. nur am Schluss, wenn der Verfasser auf seinen Einsatz für die Gemeinden zu sprechen kommt (ii,28f). 12,12 spricht von seiner Wirksamkeit durch „Apostelzeichen" in einem auf Gott verweisenden Passiv. 366 Auf die anderen referieren τις oder τίνες (vgl. so 10,2.7.12; 11,20.21), daneben unpersönliches φησί in 10,10, ό τοιούτος ιο,ιι; 11,13, ό έρχόμενος 11,4, Imperative der 3· Person in 10,7.11. Auch in 11,22 wird das Subjekt zum Prädikat nicht genannt. Zur Strategie des Non-naming vgl. auch § 8.2.2 am Beispiel des Gal. 367 Sie werden nur noch kurz in 12,11 erwähnt. Zur Strategie des „alienating" vgl. du Toit 1992 am Beispiel des Gal. 368 Mit Heckel 1993a, 10. Damit ist nicht bestritten, dass es theologische Differenzen gibt und diese hier angesprochen werden. Sachlich bzw. theologisch argumentierend nimmt der Text Stellung, wenn er die Frage des richtigen Maßstabes (io,i2ff) und Rühmens (10,17t; 12,9ft) und der Einschätzung der „Schwachheit" (bes. 12,9; 13,3t) benennt. 369 So wird der Gegenstand der Auseinandersetzung immer wieder beschrieben seit Käsemann 1942 (vgl. G. Strecker 1992). Doch απόστολος bzw. ein damit verbundener Status ist nicht erkennbar Gegenstand der Auseinandersetzung, sondern die Persönlichkeit des Paulus (vgl. auch §4.1). Zur positiven Selbstdarstellung rekurriert Paulus nur in 12,12 darauf, dass die σημεία τοϋ αποστόλου in Korinth gewirkt wurden. Da die Rollenbezeichnungen fehlen, spielen die Metaphern u.E. eine desto größere Rolle.

Die Metaphern in 2 Kor 1 0 - 1 3

ihn. Fassen wir die in die Kapitel eingeblendeten Bilder zu einer Collage zusammen, zeigt sich ihr Beitrag zu dieser Beziehungsarbeit: Focus (s. §5-i)

Herkunftsbereich (Form)

dargestellte Relation

Zeitstufe

Bezug // Pragmatik

Stichwortverbindungen

10,3-6 (1-5-3)

Belagerungskrieg Bau (Metaphern)

Paulus mit Gott für Christus gegen andere; gegen Adressatinnen

Zukunft

Auftreten vor Ort beim Besuch und allgemein der missionarische Kampf// Drohung

καθαίρεσις νόημα

10,8 (1.2.1)

Bau (Metapher)

des Paulus Vollmacht vom Herrn

allgemein

doppelte Wirksamkeit // relativierte Drohung

οικοδομή καθαίρεσις

11,2

Paulus mit Gott für Christus Adressatinnen, betört von „Kommendem"

Vergangenheit Zukunft Gegenwart

Paulus als bleibender Vermittler, die anderen als Gefährdung der Christusbeziehung // Warnung

νοήματα

11/3

Ehevermittlung (Metapher) Sündenfall (Vergleich)

11,7-11 (1-5-4)

Krieg (Metapher)

Paulus Adressatinnen - andere Gemeinden

Vergangenheit

Unterhaltsverzicht // Bewertung als Zeichen der Liebe

άγαπώ ύμας 11,11

11,2212,10

Narrenrede

Paulus - andere Apostel Paulus - Gott

12.14

Eltern - Kinder (Analogieargument) Geld ausgeben (Metapher)

Paulus Adressatinnen

allgemein jetzt und Zukunft

Unterhaltsverzicht // Begründung mit asymmetrischer Relation, Bewertung als Liebe und Opfer

12,19

Bau (Metapher)

Paulus Adressatinnen

allgemein

Funktion der Rede

οικοδομή

13,10 (1.2.1)

Bau (Metapher)

Paulus' Vollmacht vom Herrn

allgemein

doppelte Wirksamkeit, Besuch // Drohung

οικοδομή καθαίρεσις

(1.11.1)

12.15 (1.10.3)

ύμας άγαπώ 12,15

234

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

Die Metaphern sind miteinander verknüpft durch wörtliche Berührungen sowie gemeinsame Bildspendebereiche und Bildempfänger. Bauund Kriegsmetapher sind besonders eng verwoben. Die Narrenrede wird inkludiert durch die Wiederholung von 10,8 in 13,10 im Weiteren und das Thema des Unterhaltsverzichts im Engeren 370 . Die beiden elaborierten Metaphern, die mit ihrem Kontext jeweils das ganze Beziehungsgeflecht abzubilden vermögen, 10,1-6 und 11,1-4, stehen vor der Narrenrede, jeweils am Beginn eines Abschnitts. Sie stellen die beiden Möglichkeiten des Paulus, zu zerstören und aufzubauen (10,8; 13,10), in plastischen Bildern vor Augen 371 . Die Eingangsmetapher droht der Kritik an Paulus, „niederzureißen", also auch vor Ort „mutig" auftreten zu können. Wie allgemein die Mission als Kriegszug für Gott begriffen werden kann, so wird hier die machtvolle Anwesenheit vor Ort ausgemalt als Belagerung auch jener Glieder der christlichen Gemeinschaft, die anders über Paulus denken. Feinde des Paulus werden als Feinde der Erkenntnis Gottes ausgemacht. Die Metapher vom Brautvermittler stellt dann die beziehungsstiftende Fähigkeit, das „werbende" Engagement des Paulus um die Gemeinde heraus. Er hat die Christusbeziehung gestiftet und wacht weiterhin über sie. Kritik gilt der Gemeinde, die sich wie die alte Eva auf Avancen anderer einlässt. Gewarnt wird vor Konkurrenzmissionarlnnen, die wie die Schlange dämonisch in die „monogame" Beziehung der Gemeinde zu Christus einzudringen drohen. Die Collage aller Bilder gibt einen Eindruck von der Beziehung des Paulus zur Gemeinde: Sie ist eine bleibende Bindung, aber asymmetrisch und hierarchisch, mit großem Einsatz von Paulus betrieben, der auf Seiten Gottes steht und die Christusbeziehung begründet hat. Paulus zeigt sich in verschiedenen Handlungen, kämpfend, verlobend, bauend, niederreißend, Schätze sammelnd, jeweils machtvoll und bereit zum Einsatz für die Gemeinde, von großer Präsenz und von ungeteilter Hingabe. Die Gemeinde ist das Objekt der Zuwendung, aber aktiv nur dargestellt, wo es um ihre Bereitschaft geht, auf andere zu hören (11,1-4). Die Bilder unterstützen das Anliegen des gesamten Abschnitts, Vorwürfe 372 zu entkräften: Die Bilder nivellieren die räumliche Distanz von Adressant und Adressatinnen und überspielen damit auch die Dif370 Zur Ringkomposition von 2 Kor 1 0 - 1 3

u m

die Narrenrede vgl. Lambrecht 2001.

371 Vgl. genauer Gerber 2005,123 f. 372 Vgl. Heckel 1993a, 16 zu einem Überblick über die Vorwürfe; Sumney 1990,149ft und 1999,102 ff.

Die Metaphern in 2 Kor 10-13

235

ferenz zwischen anwesend schwachem und brieflich imposantem Paulus (10,10). Dem Vorwurf, ιδιώτης τω Λόγω zu sein (11,6), stellt Paulus eine rhetorisch geschickte Widerrede entgegen. Seine Rolle als „Narr" korrigiert er im Rahmen der Rede mit dem Bild des seiner selbst Bewussten. Die Metaphern, die Paulus im Kampf für Gott und als Vermittler der Christusbeziehung zeigen, widersprechen den Zweifeln daran, dass er auf Seiten Christi steht, dass Christus durch ihn spricht (10,7; 13,3). Der als Liebesentzug verdächtigte Verzicht auf Unterhalt durch die Gemeinde wird durch die Bilder gedeutet als Verschonung, ja als Zeichen der asymmetrischen, aber gleichwohl liebenden Beziehung. Und dem Vorwurf der Schwäche (10,1.10) widerspricht bereits die militante Eröffnung 10,1 ff. In seiner Verteidigung kommt Paulus immer wieder auf die ihm eigene „Schwäche" ( α σ θ έ ν ε ι α ) zu sprechen 373 , vermutlich in wörtlicher Aufnahme eines Vorwurfs 3 7 4 . Er selbst subsumiert unter α σ θ έ ν ε ι α das Anteilnehmen an der Schwäche anderer Christinnen (11,29), seine Krankheit (12,7ft, vgl. Gal 4,13 )375, die Verfolgungen seitens anderer Menschen (12,10), aber auch das Todesleiden Christi (13,3). Blickt man von der Kriegsmetapher im Eröffnungsappell und den Baumetaphern her auf den Text, so lässt sich das Verhältnis von α σ θ έ ν ε ι α und δύναμις in diesem Brief bzw. Briefteil nur so bestimmen, dass Paulus trotz der Schwäche Stärke eignet als vom Herrn verliehene Möglichkeit, sich zu wehren bis hin zur Zerstörung von Widerständen. Der Kampf für Gott und gegen persönliche Kritik wird identifiziert. Schwäche wird nicht in Abrede gestellt, aber als Grund zur Kritik doppelt entkräftet 376 : 1 ) Die Eröffnung 10,iff stellt das ταπεινός-Sein als Christus

373 10,10; 11,21.29.30; 12,5.9t; i3,3f-9. 374 Vgl. 10,10. Für einen gegnerischen Vorwurf, die Aufnahme eines korinthischen Schlagwortes spricht auch die Verwendung von άσθενεϊν in der ironischen Bemerkung 11,21 und in 13,9. Eventuell ist der Schwachheitsvorwurf von den in Korinth als Rivalinnen Aufgetretenen geschürt worden (vgl. Heckel 1993a, g£f). Dass Paulus auf diese Schwächen nur im 2Kor eingeht, in iKor 2,1-5 hingegen seine „Schwäche" noch als exemplum verwendete, bekräftigt die Annahme, dass er hier auf Vorwürfe aus Korinth und den Vergleich mit den „Uberaposteln" reagiert. 375 Vgl. zur Deutung der ασθένεια als „Krankheit" und zu deren genauer Bestimmung Heckel 1993b. 376 Vgl. insgesamt Heckel 1993a zur Analyse der Argumentation als Widerlegung des Schwachheitsvorwurfes. Heckel übersieht jedoch die hier unter 1) aufgeführte Leistung von 10,1-6 für den Widerspruch.

236

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

gemäßen, freiwilligen Verzicht auf Macht dar 377 und demonstriert die Behauptung, auch vor Ort tatkräftig sein zu können. 2) Paulus interpretiert die Schwäche um als Gegenstand des Ruhmes, womit er sich von den Rivalinnen absetzt378, und wertet sie auf als Ort, in dem Gottes Kraft zur Vollendung kommt 379 . Z w a r hat seine Krankheit nur für ihn einen pädagogischen Sinn 380 . Doch das an ihr Erlernte gilt prinzipiell: In seiner Schwäche ist die Kraft Gottes resp. Christi wirksam 381 . In 13,4 parallelisiert Paulus seine Schwäche mit der tödlichen Schwäche Christi 382 , um der Behauptung entgegenzutreten, dass seine Schwäche verrate, dass Christus nicht in ihm spricht (13,3). Aber er parallelisiert sich auch mit der machtvollen Seite Christi: A u s der Auferweckung Jesu έκ δ υ ν ά μ ε ω ς θεοϋ ist auch sein zukünftiges Leben έκ δ υ ν ά μ ε ω ς θεοϋ εις ύ μ α ς abzuleiten. Dem Kontext ist zu entnehmen, dass diese eschatologisch

377 Vgl. dazu oben §5.1.5.3 und genauer Gerber 2005, io6f. Von der Eröffnung 10,1a aus, die die Tugend Christi als milden Herrschers benennt, versteht D. Walker die ganzen Kapitel als "Paul's offer of leniency" (so der Titel dess. 2002). Milde, eine damals hoch geschätzte Verhaltensmaxime (vgl. a.a.O., i9iff), sei Kennzeichen des pastoralen Umgangs des Paulus mit seinen Gemeinden "like the good minister of the good king" (a.a.O., 254). Walker liest den Abschnitt 2Kor 10-13 ganz als Verarbeitung philosophischer Traditionen (a.a.O., 258ff). Der These Betz' über den „Apostel Paulus und die sokratische Tradition" (1972) folgend, erkennt er sokratisch-bescheidene, ironische Selbstpräsentation, mit Malherbe (1989c) aber auch ein kynisch-stoisches Niedrigkeitsideal. Diese Lektüre scheint mir zu einseitig. Sie unterschätzt den drohenden Charakter des Textes, den in ihm präsenten „Besitzanspruch" des Paulus und überliest die theologische Dimension des Schwäche-Diskurses. Die europäische Diskussion um Kraft und Schwachheit hat Walker nicht zur Kenntnis genommen. 378 Vgl. 11,30; 12,5; 12,9. 379 Vgl. 12,9 t. 380 Die Einordnung dieser Krankheit in den Argumentationsgang von 2 Kor 10 ff zeigt, dass sie für Paulus nicht zu den „Berufsleiden" gehört, die er in 11,23-33 darlegt, sondern zu den privaten Widerfahrnissen neben der Entrückung (mit Heckel 1993b, 7of). Nach Paulus hat Gott die Krankheit gegeben (έ&όθη 12,7 als passivum divinum), damit er sich trotz der überwältigenden Offenbarung (2 Kor 12,7a), der Entrückung in das Paradies (i2,2ff), nicht überhebe. So zeigt die inclusio von 12,7b i2,7fin, dass Satan nur der Erfüllungsgehilfe Gottes ist (mit Heckel 1993b, 70). 381 Paulus will anhand der ihm als Antwort auf seine Heilungsbitte zuteil gewordenen Audition exemplarisch belegen, dass seine ασθένεια prinzipiell der Wirkung der δύναμις Χρίστου nicht im Wege steht. Die indeterminierte Erwähnung von ασθένεια in der Gottesrede 12,9 wie die Verallgemeinerung in dem kurzen Peristasenkatalog 12,10 (ασθένεια steht nun im Plural, indeterminiert und neben weiteren Bedrängnissen, die eher auf Menschen zurückzuführen sind; vgl. Heckel 1993a, 313) und der Iterativ in i2,iod (vgl. dazu Heckel 1993a, 322t) zeigen, dass es Paulus auch auf eine prinzipielle Wahrheit ankommt. 382 Zur kausalen Deutung des έκ von έξ ασθενείας als Hinweis auf die faktische Schwäche Christi Heckel 1993a, 124ft; Thrall 2 Kor Bd. 2, 883f; anders z.B. Krug 2001, 295 mit Anm.1026.

Die Metaphern in 2 Kor 1 0 - 1 3

237

anmutende Kraft bereits beim nächsten Besuch spürbar werden könnte (13,1p 83 . So hatte bereits 10,1 ff die kraftvolle Exekution der Macht vor Ort angedroht3®4. Diese Lektüre widerspricht der Interpretation, dass Paulus Stärke und Schwäche als logisches Paradox darstelle3®5; die Schwäche sei das signum der „apostolischen Existenz", weil sich nur in der Schwachheit des Apostels die Kraft Gottes offenbaren könne386. Hat die jüngere Forschung diesem Paulusbild den machtvollen Paulus entgegengestellt387, so bleibt doch die genaue Bestimmung des Gegenübers von Kraft und Schwachheit umstritten. Zur Klärung müssten entsprechende Aussagen in anderen Paulusbriefen diskutiert wer383 Z u r Begründung dieser nicht-eschatologischen A u s l e g u n g vgl. u.a. Wolter 1990, 538f mit A n m . 1 4 ; Lambrecht 1994b (vgl. ders. 1996b, 3 4 3 f f ) ; Thrall 2 Kor Bd.2, 886f; K r u g 2001, 297. Heckel 1993a, I33ff.i38f sieht Bezüge auf das Eschaton u n d auf den kommenden Besuch spannungslos nebeneinander. - Denkbar ist, dass Paulus eine Präsenz der Auferstehungskraft in der Gegenwart beansprucht wie etwa in 1 Kor 5,4 (so Thrall 2 Kor Bd.2, 887 mit N. Baumert). 384 A u c h 12,9 ist bereits auf die Gegenwartserfahrung bezogen; zur Diskussion des Zeitbezugs vgl. K r u g 2001, 283ff. 385 So Käsemann 1942, 5 3 f f ; Güttgemanns 1966, 168f, jeweils mit Bezug auf 2 Kor 12,9; vgl. weiter zu dieser Deutung K r u g 2001, 24ff. 386 Vgl. etwa Bultmann 2 K o r , 229 ad 2 K o r 12,9c: „ S o ist die α σ θ έ ν ε ι α die Bedingung f ü r die Realisierung der δ ύ ν α μ ι ς w i e der Tod die Bedingung f ü r das φ α ν ε ρ ω θ ή ν α ι der ζ ω ή τ ο ϋ ' Ι η σ ο ϋ 4 , i o f . " ; vgl. in dieser Tendenz auch Sundermann 1996 und Grabe 2000, 146ft zu 2 Kor 12,9. - Treffend verweist Heckel darauf, dass das Problem der Schwachheit durch die Kritik eingebracht w u r d e und man nicht „ d e n Stein des Anstoßes ... zum Gütesiegel apostolischer Existenz erheben" solle (1993a, 34). 387 Vgl. Hübner 1987, 2726-2729 zur Diskussion u m die existenzielle Seite der sog. theologia cruris des P a u l u s ; K r u g 2001, 20ff zur Forschungsgeschichte der Diskussion, welche nicht weniger als die paulinische Begründung der lutherischen Kreuzestheologie in Frage stellt (vgl. K r u g 2001, i 5 f f ) . Jervell hatte 1976 darauf verwiesen, dass aus den Selbstaussagen des Paulus durchaus charismatische Gaben erkennbar werden. (Dies in Auseinandersetzung mit Güttgemanns 1966, aber auch anderen, die die A u s s a g e n über Wundertaten f ü r nachrangig oder relativiert halten, 187 mit Anm.13. Referenztexte sind z.B. R o m 15,19; 2 K o r 12,12; Gal 3 , i f f ; i K o r 2,4.) Paulus verwahre sich gegen den V o r w u r f , das Charismatische erscheine nicht wirklich durch ihn (1976, 188). - Nielsen (1980) definierte das Verhältnis beider als dialektisch, nicht paradox, in dem Sinne, „daß die α σ θ έ ν ε ι α sozusagen eine Leere ausmacht, die die δ ύ ν α μ ι ς Gottes ausfüllen k a n n " (a.a.O., 157). Er rekurriert u.a. auf 2 K o r 6,6f; 1 0 , i f f ; 1 3 , 3 - 4 ; i K o r 4,20; 5,4. Paulus vertrete im Gegensatz zu seinen Gegnern, dass es Gottes Macht ist, die sich manifestiert in einer gleichwohl noch von Leiden und Schwachheit gekennzeichneten Welt unter dem eschatologischen Vorbehalt (a.a.O., 154). - N a c h K r u g 2001 hingegen (vgl. bereits K. Berger 1995, 478) geben die paulinischen Briefe der Schwäche des Paulus legitimatorische Funktion als Zeichen der Gottinspiriertheit und revelatorische Funktion als Indiz dessen, dass Gott resp. Christus in Paulus wirksam sind (vgl. zusammenfassend 2001, 3 i 3 f f ) . Gott habe gerade den schwachen Menschen zum Mittler inspiriert (a.a.O., 65ff.iioff mit Bezug auf 1 K o r 2 , i f f ) . Das paradoxe Ineinander v o n Kraft und Schwäche in des Paulus Person beruhe auf dessen ,,konsequente[r] ,Mimesis-Theologie"', indem Paulus das, w a s bei Christus in z w e i Phasen ablief (vgl. 1 Kor 1,23t; 2 Kor 13,4; R o m 1,3), in seiner Person gleichzeitig erlebe (a.a.O., 294ff, Zitat 313, vgl. 134 mit Bezug auf i T h e s s 1,6; vgl. 221).

238

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

den 3 8 8 . H i e r soll d a r u m n u r u n s e r e L e k t ü r e v o n 2 K o r 1 0 - 1 3 a u s g e w e r t e t w e r den 3 8 9 . D a n a c h b e h a u p t e t P a u l u s , d a s s er v o m H e r r n v e r l i e h e n e K r a f t einsetzen kann. D i e s e ist nicht erst eschatologisch p r ä s e n t u n d nicht n u r „ v i s aliena" 3 9 0 . D i e i h m eigene S c h w ä c h e w i d e r l e g t nicht, d a s s er mit Gottes resp. Christi K r a f t wirkt. D i e angebliche S c h w ä c h e v o r Ort i m U n t e r s c h i e d z u r b r i e f l i c h e n Stärke ( 1 0 , 1 0 ) ist j e d o c h Z u r ü c k h a l t u n g , C h r i s t u s g e m ä ß e r Verzicht auf Machta u s ü b u n g ( i o , i f ; 13,10). In d i e s e m Sinne k a n n P a u l u s s a g e n : „ W i r f r e u e n uns, w e n n w i r s c h w a c h sind, ihr aber stark s e i d ! " (13,9). D i e Bilder des Textes stellen die B e z i e h u n g des P a u l u s z u r G e m e i n d e in K o r i n t h in d e n V o r d e r g r u n d : Sie zeigen seine Bereitschaft, v o r Ort aggressiv g e g e n Kritik v o r z u g e h e n (10,3-6, vgl. 13,4), seine i h m verliehene doppelte Autorität (10,8; 13,10), seine bleibende B e d e u t u n g

als

Erstmissionar in K o r i n t h (11,2). Sie b e g r ü n d e n seine E n t s c h e i d u n g , die G e m e i n d e nicht finanziell z u belasten (11,8; 12,15). D a m i t bestreitet der Verfasser

den

Vorwurf,

die

Schwäche

widerlege

seine

geistliche

Autorität, u n d bebildert die A s p e k t e , die M a ß s t a b sein sollten, a n d e r s als bei anderen, die sich selbst e m p f e h l e n ( i o , i 2 f ) : Das, w a s

jemand

selbst geleistet hat, nicht anderer M ü h e (10,15), d a s s P a u l u s also bis nach Korinth erfolgreich missioniert hat (10,13) u n d dass er sich nicht

388 Den „starken Paulus" zeigen etwa die von Jervell 1976 und Nielsen 1980 bereits hervorgehobenen Aussagen, denen zufolge Paulus durchaus charismatisch begabt war, aber auch Aussagen der Peristasenkataloge des 2 Kor, die nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken des Apostels benennen (vgl. 4,8f, dazu Krug 2001, 2i2.2i8f; 6,6ff, dazu a.a.O., 232ft.255). Es wäre jedoch zu prüfen, ob eine kohärente Theorie den jeweiligen kommunikativen Kontexten gerecht wird und die Vielfalt der negativen Aspekte hinreichend berücksicht, die gemeinhin zum „Leiden des Apostels" zusammengefasst werden. M.E. werden Verfolgungsleiden, die verzichtvolle Existenz des Apostels, seine Krankheit und sein rhetorisch schwaches Auftreten unterschiedlich interpretiert. Eine christologische und ekklesiologische Pragmatik erhalten in erster Linie die Verfolgungsleiden des Paulus (iThess 1,6; 2,2; 2 Kor 1,5; 4,9t; Gal 6,17; Phil 3,10). 389 Die metaphorischen Aussagen und insbesondere 10,iff werden in der Literatur wenig berücksichtigt. Die nach unserer Interpretation den Text von 10,iff her bestimmende Aussage, dass die Schwäche vor Ort Christus gemäßer Machtverzicht war, den Paulus beim nächsten Besuch aufgeben könnte, ist etwa Heckel 1993a und Krug 2001 entgangen. 390 So die beliebte Formulierung bei Schräge 1974, 152 (ergänzt durch virtus resp. vita aliena und als Analogie zur iustitia aliena), Jervell 1976,198 (ebenfalls in Verbindung mit der iustitia aliena); Heckel 1993a, 282; in der Sache auch Nielsen 1980,156ff. Zur Kritik daran vgl. Krug 2001 auf Basis religionsgeschichtlicher Studien zum δύναμιςKonzept insbesondere im Judentum (2001, 7iff, bes. 78ff.93ff.i2off). Ein Mensch, der die δύναμις Gottes zeige, erfahre diese nicht als „vis aliena", sondern als eigene Kraft (vgl. a.a.O., 44ft über die Deligierbarkeit von δύναμίς und die Möglichkeit der Anteilhabe).

Die Metaphern in 2 Kor 1 0 - 1 3

239

von der Gemeinde aushalten lässt (ii,iif) 3 9 1 . Wo die Konkurrentinnen nur am Rande der Gemeinde und blass gezeichnet sind, sind das Portrait des Paulus und sein Anspruch an die Adressatinnen als Kämpfer für Gott und Brautwerber für Christus umso kräftiger ausgemalt.

2.3

Kriegskameraden, verbunden im Leid und in der Freude. Die Metaphorik im Philipperbrief

Die Pflege der Beziehung zwischen Paulus und „allen Heiligen ... in Philippi" ist ein wesentliches Anliegen des Briefes. Diese Skizze kann nur die Eigenart der Metaphorik im Philipperbrief untersuchen und vor der durch den Brief gestalteten Beziehung deuten392. Der Phil gibt sich als Freundschaftsbrief zu erkennen mit einer unter den Paulus-

391 Dass Paulus sich in 2 Kor 1 0 - 1 3 durchaus selbst rühmt, zeigt Lambrecht 1996b. Es gibt legitime Aspekte des an sich "Dangerous Boasting" (so der Titel), so lange es „im Herren" geschieht (vgl. io,i7f). 392 Eine eingehende Darstellung des Verhältnisses von Paulus und Adressatinnenschaft hätte sich vielen Vorfragen zu stellen. Vor allen Einzelheiten ist jede Verhältnisbestimmung abhängig von der zugrundegelegten Rekonstruktion der Korrespondenz (s.u.), in die verwoben die Frage ist, ob Kap.3 eine nur virtuelle oder faktische Auseinandersetzung widerspiegelt. Weiter ist strittig, wie Paulus sich im Verhältnis zu Christus gegenüber der Gemeinde entwirft: Schreibt er sich eine vermittelnde Rolle zu, als Nachahmer Christi, Vorbild der Gemeinde im Leben gemäß Christi Ethos? (Zur Diskussion vgl. Dodd 1999, i87ff.) Schließlich wäre genau zu analysieren, wie die das Verhältnis direkt betreffende Annahme einer Geldgabe im Brief verarbeitet wird (vgl. Peterman 1997; s.u. Anm.402). - Ich gehe im folgenden von der literarischen Einheitlichkeit des kanonischen Phil aus, obwohl diese sehr umstritten ist; ein Bruch scheint insbesondere zwischen 3,1 und 3,2 vorzuliegen. Vgl. zur Diskussion Wiek 1994, i 6 f f ; Horst Balz, Art. Philipperbrief, in: TRE 26 (1996) 504-513: 505-507; Brucker 1997, 280-290. Für die Einheitlichkeit votieren etwa Wiek 1994; U.B. Müller Phil, 4ff, der allerdings mit einem Neuansatz in 3,2 nach Eingang neuer Nachrichten rechnet. Gnilka Phil, 6ff unterscheidet wie viele andere einen Gefangenschafts- und einen Kampfbrief, Walter Phil, i7ff drei Briefe. Doch für die Integrität des Briefes spricht die durchgängige Beziehungsthematik (die Rekurrenz des κοινωvia-Motivs und der Freudensaufforderungen, der freundschaftliche Ton; vgl. auch die Kohärenzfaktoren, die Brucker a.a.O., 286ff auflistet). 3,2ft lässt keine aktuelle Veranlassung oder Irrlehre erkennen, sondern kann eine potentielle Gefahr thematisieren (vgl. Balz a.a.O., 505), etwa um die paradigmatische Selbstdarstellung 3,3ft zu legitimieren. Es ist jedenfalls nicht angedeutet, dass ein Streit um die Bedeutung des Gesetzes das Verhältnis zwischen Autor und Adressatinnen trübte. Auch epistolographische Untersuchungen stellen die Scheidungsgründe in Frage (vgl. Alexander 1989 ausgehend von 1,12; zur überleitenden Funktion von 3,1 im Lichte brieflicher „hesitation formulas" s. Reed 1996; vgl. auch Watson 1997, der die Integrität durch eine Kombination rhetorischer und epistolographischer Analyse erweisen will).

240

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

briefen singulären Häufung von Topoi393. Der Hauptanlass ist der Korpuseinleitung 1,12 zufolge der Austausch von Nachrichten394, nicht zuletzt, da der Autor in Haft sitzt und mit deren tödlichem Ausgang zumindest zeitweise rechnet. Er thematisiert seine An- und Abwesenheit395, äußert Sehnsucht nach den Adressatinnen 396 und führt so die Verbundenheit und ihr Ideal, ein Beisammensein in Philippi 397 , vor Augen, aber auch die gegenwärtige „Herzensgemeinschaft" 398 . Zwar ist damit keine Egalität zwischen Freunden abgebildet, sondern es besteht, wie unten genauer dargestellt, eine Asymmetrie im gegenseitigen Verhältnis399. Dennoch bestimmen nach Darstellung des Verfassers 393 Epistolare Topoi der Philophronesis sind neben den unten genannten die Danksagung 1 , 3 - 1 1 (vgl. § 2.2.1.3), die Bitte um Nachrichten von den Adressatinnen in 1,27 (vgl. §2.2.2.3), die Zusicherung des Gedenkens 1,3 (vgl. 4,10, s. §2.2.2.5) sowie 4,10 als Ausdruck der Freude über den Erhalt der Gabe und 2,28f als Aufforderung zur Freude über den offenbar mit dem Brief nach Philippi gesandte Epaphroditus (vgl. § 2.2.1.2). - Dass der Phil als Freundschaftsbrief zu lesen ist, wird oft vorgeschlagen; vgl. zur Diskussion Reumann 1996, der allerdings zurecht darauf hinweist, dass der Brief formal nicht dem Typ des Freundschaftsbriefes entspricht. Dass der Brief die Relation im Sinne einer Freundschaft zeichnet, entfalten u.a. A. Mitchell 1997, 233ft (Lit!) und Metzner 2002 in Bezug auf das Verhältnis zu Epaphroditus (2,25-30); a.a.O., 113 Anm.5 weitere Lit. 394 Vgl. dazu Alexanders Analyse aufgrund formaler Parallelen zu hellenistischen Briefen (1989). Sie charakterisiert den Phil als "a 'Verbindungsbrief', adapted and expanded by Paul and employed with the primary purpose of strengthening the 'family' links between the apostle and the Christian congregation in Philippi" (95, unter Aufnahme eines Begriffs von Koskenniemi). Dem untergeordnete Anliegen sind die Empfehlung des Timotheus (2,19-23) und des Epaphroditus (2,25-30) sowie der Dank für die Geldgabe (4,10ff). 395 1,27; 2,12 (vgl. §2.2.2.2). Vgl. auch die Reisepläne bzw. den Wunsch nach Wiedersehen 1,26; 2,24 (vgl. § 2.2.2.7). 396 Der Sehnsuchtstopos (s. § 2.2.2.4) begegnet in 1,8, vgl. 4,1. 397 Die durch den Brief hergestellte und im Brief ersehnte Gemeinschaft ist, trotz der Nennung von Timotheus als Mitadressanten (1,1), die von Paulus und den Adressatinnen. Paulus tritt ab 1,3 als alleiniger Autor auf, und die Sendung des Epaphroditus und Timotheus macht das Kommen des Paulus nicht überflüssig (2,24ff). 398 Vgl. 1,7: δια τό έχειν με έν τη καρδία ύμας. Wenn man die Wortstellung nicht als Indikator nimmt, ist die Zuordnung von Subjektsakkusativ und Akkusativobjekt offen, der Satz also zweifach und besonders herzlich verstehbar: „weil ich euch im Herzen habe", und „weil ihr mich im Herzen habt" (vgl. so Bieringer 1994c, 239). 399 Die "rhetoric of obedience" insbesondere in 2,8.12 (s.u.) hält Kittredge 1998, 96-98 der Charakterisierung als Freundschaftsbrief entgegen. Auf die Grenzen der Übertragbarkeit des φιλία-Ideals weist auch Bormann 1995, 164ft. Er kritisiert die Beschreibung der Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi als „Freundschaft", da diese als Beziehung zweier gleicher Männer gedacht sei, nicht als Verbindung eines Mannes und einer inhomogenen, veränderlichen Gruppe. Die Lösung Bormanns, es handele sich um eine Patronatsbeziehung, erklärt jedoch nichts (vgl. dazu §1.2.2.2).

Die Metaphern im Philipperbrief

241

Aspekte des Freundschaftsideals die Beziehung zwischen den Briefpartnern : Er zeichnet zwischen beiden eine Gemeinschaft im Leiden400 und ruft auf zu einer Gemeinschaft in der Freude 401 . In Freude und Leiden werden keine hierarchischen Unterschiede markiert. Überdies wird eine besondere Reziprozität und Ausgeglichenheit konstatiert: Die Gemeinde in Philippi ist nach Aussage des Paulus die einzige, von der er wiederholt Geld annahm, mit der er „eine Aufrechnung von Geben und Nehmen" (4,15) teilt. Paulus interpretiert diese Unterstützung, die als Ausdruck seiner Abhängigkeit zu verstehen wäre, als wechselseitigen Austausch (ebd.). Sein Interesse sei nicht persönlich, sondern gelte der Frucht, die die Gabe bringt (4,17b)402. Kein Autoritätsproblem und keine Anfrage oder Not der Gemeinde scheint das Schreiben veranlasst zu haben. „Oh Wunder - möchte man geradezu sagen; eine Gemeinde sorgt sich einmal um Paulus (und nicht umgekehrt)!" 403 „Beziehungspflege", die gegenseitige Vergewisserung durch den Brief angesichts der aktuellen Lage und durch die im Brief angeregte und angestrebte weitergehende Kommunikation 404 , ist also ein Hauptanliegen des Schreibens. Damit ist nicht bestritten, dass der Brief auch

400 Vgl. bes. 1,27-30 und dazu Wolter 1990, bes. 544t zum Teilen des Leids als Zeichen der Freundschaft; zum Text 556. Zum Thema des Leidens der Philipper im Brief und der exegetischen Diskussion vgl. Oakes 2001, 77ft; zur Parallelisierung des Leidens Christi, Pauli und der Philipperinnen a.a.O., i03ff. Nach Oakes geht es dem Brief zentral darum, Paulus als Modell für die Philipperinnen in deren Leidenssituation zu entwerfen (vgl. a.a.O., 105). 401 Vgl. 2,i7f.28. Eine Freudesgemeinschaft stellt auch der Brief selbst her, indem er von der eigenen Freude berichtet (1,4.18; 4,10) und zur Freude aufruft (3,1; 4,4). 402 Den Gemeinschaftsaspekt der Geldgabe heben Phil 1,5; 4,i4f mit dem Wort κοινωνία κτλ. hervor. Die Gabe lässt sich nicht einfach als Teil eines Freundschaftskonzepts verrechnen, in dem eine entsprechende Reaktion nötig wäre (mit Bormann 1995, i66ff). Dass die Annahme von Geld gleichwohl als Zeichen der Verbundenheit gewertet wurde, zeigt via negativa 2 K o r 1 1 , 7 - 1 1 (vgl. §5.1.5.4); 12,14t (vgl. §5.1.10.3). Zu den gesellschaftlichen Konnotationen von Gaben und den sich damit ergebenden Erwartungen vgl. Peterman 1997, 5iff. (Nach Peterman korrigiert Paulus im Phil allerdings diese Konventionen und entwirft ein spezifisch christliches Verständnis von Geben und Nehmen.) Deutlich betont der Autor seine Unabhängigkeit von der Gabe (4,11-13), die er nicht „gesucht" habe (4,17). Die Opfermetapher 4,18 stellt Gott, nicht Paulus als Adressaten der Gabe dar und weist ihr so statt einer sozialen oder ökonomischen Funktion eine religiöse Dimension zu. 403 Walter Phil, 2of, Zitat 20. Das erklärt auch, wieso Paulus auffallend wenig über die Vergangenheit der Beziehung sagt (das beobachtet Bieringer 1994c, 237). Auch dass Paulus von der Gemeinde eine Gabe annimmt, ist nicht Zeichen besonderer Liebe, sondern der Abwesenheit von Spannungen (mit Bieringer a.a.O., 238). 404 Vgl. 2,19-30.

242

D i e M e t a p h e r n zur Beschreibung d e r A u f g a b e des P a u l u s

theologisch bedeutsam ist. So ist ja auch das gegenseitige Verhältnis keine „Zweierbeziehung", sondern eine Verbindung, die immer schon bezogen ist auf Christus Jesus und Gott sowie das Evangelium 405 . Dieses freundschaftliche Band spiegelt sich jedoch nicht in besonderen Metaphern wider. Der Phil bietet nur wenige elaborierte Metaphern, und diese sprechen kaum von der gegenseitigen Beziehung406. Vor allem fällt auf, dass aus der in § 5.1 aufgeführten Vielfalt von Bildspendern nur drei, Kult, Sport und Krieg 407 , zur Bildung aussagekräftiger Metaphern aufgegriffen werden. Diese Bildspender können überdies sowohl für Paulus als auch für die Adressatinnen Verwendung finden. Die Eltern-Kind-Beziehung, mittels derer in den anderen Briefen an von Paulus gegründete Gemeinden eine exklusive Beziehung abgebildet wird, wird nur auf die Relation des Paulus zu Timotheus in einem Vergleich übertragen408. Die Adressatinnen werden familiär angesprochen, jedoch nur als Geschwister409.

405 D a r u m stellt die Diskussion, ob d a s Briefanliegen in der B e z i e h u n g s p f l e g e o d e r in w e i t e r g e h e n d e n theologischen Interessen zu sehen sei (vgl. B a l z T R E 26, 509), eine falsche Alternative. Wie die B e z i e h u n g als solche theologisch signiert ist, w i r d die G e f a n g e n s c h a f t als E v a n g e l i u m s v e r k ü n d i g u n g interpretiert ( i , i 2 f f ) , d a s Geschick des P a u l u s als C h r i s t u s g e m e i n s c h a f t ( 3 , i o f ) . 406 D i e Übersicht f ü h r t M e t a p h e r n d e r B i l d s p e n d e r a u f , die auch f ü r die G e m e i n d e b e z i e h u n g virulent w e r d e n . A l s ( E x - ) M e t a p h e r n k ö n n e n neben d e n in d e n b e i d e n nächsten A n m . a u f g e f ü h r t e n auch δ ο ύ λ ο ι Χ ρ ί σ τ ο υ ( 1 , 1 ; s. § 4 . 3 ) , κ ο π ι α ν (2,16, v g l . § 5 . 1 . 1 ) , κ α ρ π ό ς ( 1 , 1 1 . 2 2 ; 4,17) u n d ά ν α θ ά λ λ ε ι ν (4,10; vgl. § 5 . 1 . 7 ) , φ ω σ τ ή ρ ε ς έ ν κ ό σ μ ω (2,15), σ π λ ά γ χ ν α Χ ρ ί σ τ ο υ (ι,8) s o w i e π ο λ ί τ ε υ μ α (3,20) a u f g e f a s s t w e r d e n . 407 1 , 2 7 - 3 0 ist a u f g r u n d d e r v o r a u s g e s e t z t e n F e i n d s c h a f t als M i l i t ä r m e t a p h e r zu lesen, obschon die V e r b e n auch sportlichen K a m p f bezeichnen k ö n n e n ( v g l . oben § 5 . 1 . 5 u n d 6). K r e n t z 1993 w i l l a u s g e h e n d v o n 1 , 2 7 - 3 0 den g a n z e n Phil im Sinne eines militärischen Szenarios lesen: D e r Brief w e n d e sich an die Christinnen d e r römischen Veteranenkolonie w i e die R e d e eines Generals, d e r v o r der Schlacht seine T r u p p e n ermuntert. K r e n t z belegt d a s jedoch n u r a n einzelnen Termini, die z w a r auch in politischen b z w . militärischen Kontexten gebraucht w u r d e n , aber nicht einschlägig sind (neben den hier a u f g e f ü h r t e n nennt er π ο λ ι / υ ε ύ ε σ θ α ι 1,27, ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν [ p a s s i m ] , έ ν τ ι μ ο ς 2,29, π ί σ τ ι ς 1,27, π ά σ χ ε ι ν 1,29). Die These gibt keine tieferen Einblicke in die P r a g m a t i k des Briefes. Ü b e r z e u g e n d ist jedoch K r e n t z ' D e u t u n g v o n i , 2 7 f f als A u f f o r d e r u n g , g e m e i n s a m die K a m p f l i n i e z u halten. D e r G e d a n k e an die Frontlinie gibt der A u f f o r d e r u n g , z u s a m m e n zu stehen, einen b e g r ü n d e n d e n I m p e tus. 408 2,22, vgl. §5.1.10.1. V g l . h i n g e g e n die Bezeichnung der A d r e s s a t i n n e n als τ έ κ ν α θ ε ο ϋ in 2,15, ü b e r n o m m e n a u s Dtn 32,5, s o w i e die Prädikation Gottes als π α τ ή ρ ( ι , 2 ; 4,20). 409 Vgl. die α δ ε λ φ ο ί - A d r e s s e in 1 , 1 2 ; 3,1.13.17; 4,1.8 s o w i e d a s f a m i l i ä r konnotierte ( v g l . §6.4.2 bei A n m . i 4 3 f z u i T h e s s 2,8) α γ α π η τ ο ί in 2 , 1 2 ; 4,1 (bis). D i e A n r e d e 4,1 ist b e s o n d e r s herzlich.

Die Metaphern im Philipperbrief

Bildspender ( s -§ 5· 1 ) Kampf (s. 1.5) 1,27-30 (siehe Anm.407)

Fokus

abgebildete Relation: Pragmatik

στήκετε, συναθλοϋντες, άντικείμενον 410 , απώλεια, σωτηρία 4 " αύτός ά γ ώ ν

Adressatinnen - Feind: Aufforderung zum gemeinsamen Kampf in geschlossener Linie Paulus - Adressatlrmen: derselbe Kampf Epaphroditus - Paulus: Empfehlung des Epaphr. Euodia und Tyche sowie Paulus: Würdigung

2,25

συστρατιώτης

4,2? (Sport?)

συναθλεϊν

Kult (s. 1.3) 2,14-17(3.1.3.1)

σπένδομαι, έπί τη θυσία και λειτουργία

2,25.30(7)

λειτουργός, λειτουργία 4 "

3/3

περιτομή, λατρεύοντες

4,18

όσμή εύωδίας, θυσία δεκτή, εύάρεστος τω θεω

Sport (s. 1.6) 2,16 3,12-16

4Ί 4,2 (Krieg?)

243

ούκ εις κενόν εδραμον διώκω (bis), τοις δε έμπροσθεν έπεκτεινόμενος, βραβεΐον στέφανος συναθλεϊν

Paulus' Todesgeschick, zugleich seine Relation zu den Adressatinnen: Deutung des potentiellen Todes als Opferung dessen, der den Glauben der Adressatinnen Gott darbringt. Absurder, doch Gott wohlgefälliger Tod. Dienst des Epaphroditus bzw. der Adressatinnen an Paulus Gottesdienst des kollektiven „Wir" : Die wahre Beschneidung Gabe der Adressatinnen an Paulus: Bewertung als Gabe für Gott Missionserfolg des Paulus an der Gemeinde die Ausrichtung des Paulus auf das zu erreichende Ziel, den eschatologischen Sieg Gemeinde als Siegeszeichen des Paulus Euodia und Tyche sowie Paulus: Würdigung

Die Bildspender tragen keine besondere Hierarchie in das Verhältnis zwischen Paulus und Adressatinnen ein. Die ungewöhnliche Darstellung des Paulus als opferndes Opfer in 2,17 schreibt ihm zwar eine 410 άντικεϊσθαί hat keine speziell militärische Konnotation (vgl. Krentz 1993, 125), gehört aber zum Fokus, da es die Situation spezifiziert als Kampf gegen ein feindliches Gegenüber. 411 Zur militärischen Konnotation von σωτηρία und απώλεια vgl. Krentz 1993,125. 412 λειτουργία κτλ. ist allgemein Dienst und nicht notwendig kultisch signiert. Eine kultische Konnotation legt aber 2,17 nahe.

244

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

einzigartige Rolle zu. Doch auch die Gabe der Adressatinnen wird als „Gott wohlgefälliges Opfer" gewürdigt. In der Kampfmetapher wird die Situation der Adressatinnen derjenigen des Paulus gleichgestellt (1,30fin). Die Sportmetapher 3,12-16 beschreibt die Ausdauer und eschatologische Zielstrebigkeit des Paulus. Dieser „Sportsgeist" ist aber nicht spezifisch für den Diener Christi413, sondern für alle vorbildlich (vgl. 3,15.17 )4M. Die Gemeinde selbst wird als Siegpreis des Paulus prädiziert (4,1). Auf dem Hintergrund anderer Instantiierungen dieser Metapher lässt diese Formulierung durchscheinen, dass der Missionar in seiner Bewertung bei Gott abhängig ist vom Glaubensstand der von ihm missionierten Gemeinde 415 . Der Vergleich mit den Rollen- und Beziehungsmetaphern in anderen Briefen (§5.1) gibt uns den Eindruck, dass der Phil nicht mittels Metaphern um die besondere Bedeutung des Paulus für die angeschriebene Gemeinde ringt. Dann spiegelt der auffällige Mangel an Metaphern gerade das gute Verhältnis wider: Die Menge der Beziehungsmetaphern und die der Beziehungsprobleme sind umgekehrt proportional zueinander. Die Bilder gereichen dazu, die eschatologische Aufgabe und die Leidenssituation zu qualifizieren, skizzieren jedoch keine exklusive und unhintergehbare Funktion des Paulus. Dass es dem Brief nicht um eine Autoritätsabsicherung und Rolleneinschreibung geht, bestätigt auch eine kurze Analyse dessen, wie der Brief abgesehen von Metaphern das Verhältnis zwischen Paulus und den Adressatinnen entwirft. Auffällig ist bereits, dass die superscriptio 1,1 auf den Apostel-Titel verzichtet und Paulus und Timotheus wie sich als δοϋλοι Χρίστου prädiziert. 2,22 trägt in das Verhältnis zu Timotheus eine Hierarchie ein, doch der Verzicht auf eine exklusive Statusbezeichnung des Paulus ist signifikant. Die Intitulation klingt in der Gefangenschaftssituation wie eine Bestreitung jeglicher Untertanenschaft des Paulus gegenüber politischen Größen (vgl. §4.3 z.St.). Funktionsbezeichnungen stehen - singulär in paulinischen Präskripten - nur auf Seiten der

413 Die spezifische Leistung des Paulus wird in 2,16 sportlich beschrieben, doch mit einer abgeblassten und von der Kultmetapher dominierten Formulierung. 414 Eine Reziprozität entfaltet auch die Rekurrenz der verblassten Metapher καρπός sowohl im Blick auf den Erfolg des Paulus (1,22) wie der Adressatinnen (1,11; 4,17). 415 2,16b. Vgl. zur στέφανος-Metapher iThess 2,19t (s. dazu genauer §6.5.1; Poplutz 2004, 313-318). Den Zusammenhang zwischen Missionserfolg und Ruhm des Paulus sprechen Phil 1,26 allgemein und 2,16 in forensisch klingender eschatologischer Perspektive an.

Die Metaphern im Philipperbrief

2

45

Adressatinnen 416 . Als απόστολος wird nur Epaphroditus gewürdigt, freilich nicht als Abgesandter Christi, sondern der Gemeinde (2,25). Der Autor beschreibt sich, seine Rolle und Handlungen vor allem mit Verben und Präpositionalwendungen 417 . Er ist als Subjekt und Autor des Schreibens aber allgegenwärtig 418 . Der Brief setzt eine Überordnung über die Adressatinnen voraus, sowohl im Sprechakt als auch in der Darstellung seiner Rolle. Der Verzicht auf eine explizite Benennung der Rolle und die Legitimation dieser Überordnung naturalisiert diese subtil419. Im Akt des Briefes schreibt der Autor seinen Vorsprung an Wissen und Erkenntnis und damit eine Machtposition ein. Die Fürbitte 1 , 9 - 1 1 platziert den Autor zwischen Adressatinnen und Gott und nennt Aspekte, Liebe und Erkenntnis, in denen die angeschriebenen Christinnen sich noch steigern können. Und wenn der Autor als Sinn seines Weiterlebens angibt, dass er den Fortschritt der Adressatinnen sichern wolle durch seine Anwesenheit (i,25f), behauptet er seine Überlegenheit und Bedeutung für die Gemeinde. Auch in Leidenserfahrungen ist der Autor nach seiner Aussage den Adressatinnen voraus (1,30). Einen ethischen und noetischen Vorsprung implizieren schließlich die Mahnungen und die paradigmatische Selbstdarstellung. Insbesondere die expliziten Aufforderungen zur Nachahmung bekräftigen die Differenz zwischen Adressant und Adressatinnen 420 . Die Ausführungen in 3,4 ff erhalten paradigmatische Funktion durch den Nachahmungsappell 3,17 421 . So fordert auch 4,9: „Was ihr gelernt, erfahren, gehört und gesehen habt an mir, das tut". Die Syndese von vier Verben mit gleicher Endung sticht ins Auge, die Aufzählung weist auf das Umfassende; so werden

416 Zu den Bezeichnungen und Funktionen von επίσκοποι und διάκονοι (ι,ι) vgl. Pilhofer 1995,140 ff. 417 Adjektive und Nomina referieren auf den Autor nur in 2,28; 3,5-6.10; 4,11. 418 Abgesehen von 2 , 1 - 1 1 (vgl. aber 2,2) fällt kaum ein Vers ohne 1. Pers. Sg. in Pronomina und / oder konjugierten Verben. Auffallend ist z.B., wie der Autor sich in den Bericht über das Ergehen des Epaphroditus als „Betroffener" einschreibt (2,27^ und wie er die Empfehlung des Timotheus mit seiner Person verknüpft (2,19-23). 419 Diese Wirkung ist ausführlicher im Blick auf 1 Thess analysiert, vgl. § 6.6 und § 6.7.1; zur Analyseperspektive s. § 1.2.1.4. 420 Zum Vorbilddiskurs s. den Exkurs in §7.4.4; zum Phil vgl. ausführlich Dodd 1999, i7iff, der die Selbstentfaltung des "paradigmatic I " (so der Titel des Buches) im Phil aber zu stark von einer Gegnerhypothese aus rekonstruiert. 421 συμμιμητης ist hapax legomenon im NT. Zu fragen ist, ob das Präfix die Adressatinnen mit dem Autor oder nur untereinander verbindet. Die erste Möglichkeit hätte eine christologische Implikation, würde sie doch fordern, gemeinsam Christus nachzuahmen (so z.B. Walter Phil, 84). Dass Paulus sich im Brief als Nachahmer Christi für die Gemeinde entwerfe, sagt der Text nicht. Die dafür angeführte Parallelität von der Intitulation des Paulus als δούλος Χρίστου (ι,ι) und der Aussage des Hymnus über Christus, μορφήν δούλου λαβών (2,7), besteht nur auf der Wortebene; vgl. zur Differenz § 4.3 zu Phil 1,1. Der Imperativ lässt sich besser im Anschluss an die paradigmatische Selbstdarstellung des Paulus in 3,3ff als Aufforderung zur Paulus-Nachahmung verstehen; darauf deutet auch V.i7b (so auch B A A s.v. Sp.1554; Müller Phil, 173 u.a.; vgl. zur Diskussion und abweisenden Gründen genauer Dodd 1999, i87f).

246

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

die allgemeinen ethischen Qualitäten des Tugendkatalogs 4,8 an das Vorbild des Paulus zurückgebunden 422 . Als Autorität bringt der Autor sich besonders ein in dem Imperativ 2,12 t, der das Motiv des Christusgehorsams (2,8) paradigmatisch aufgreift. Zwar steht kein Objekt bei ύπηκούσατε (2,12b), doch mit der Ergänzung „nicht nur bei meiner Gegenwart, sondern vielmehr jetzt in meiner Abwesenheit" (2,12c) legt der Verfasser nahe, dass seine Anwesenheit oder Beobachtung den Gehorsam der Adressatinnen motivierte und weiterhin motiviert. Gehorsam zu Gott und zu Paulus scheinen äquivalent423. D a s Schreiben inszeniert also extra metaphoras eine Autorität u n d Überlegenheit des A u t o r s gegenüber d e n A d r e s s a t i n n e n u n d f ü h r t dessen B e d e u t u n g v o r A u g e n . Doch die A d r e s s a t i n n e n erscheinen nicht als einseitig abhängig v o m V e r m i t t l u n g s w i r k e n u n d v o n der leibhaftig e n G e g e n w a r t ihres Missionars. Einen solchen Eindruck vermeiden z.B. die Nachahmungsaufforderungen, etwa im Unterschied zu 1 Kor 4,16 t: Phil 3,17 weitet den Blick für andere, die so wandeln wie „ w i r " als τύπος 424 . 4,9 weist mit verba recipiendi im Aorist auf die bereits vorhandenen Erfahrungen statt auf gegenwärtige oder zukünftige Begegnungen. Aktualisiert werden soll das Wissen über das an Paulus und durch ihn Erkannte. In einzigartiger Weise wird Christus selbst als Vorbild an Demut besungen (2,5-12 )425. Mehrfach wird die Vollendung der angeschriebenen Gemeinde Gott anheim gestellt bzw. von Gott zugesagt 426 und das Gebet zu Gott als Lösung der Sorge empfohlen (4,6). Im Kampf gegen das Feindliche und Bedrohliche kann die Gemeinde sich selbst helfen: Wehrhaft ist die „geschlossene Frontlinie", die Einmütigkeit im Glauben (i,27f). Der Gemeinde selbst wird auch eine fruchtbringende Wirkung für das Evangelium 427 , Leuchten in der Welt (2,15) zugeschrieben. Diese Blicke auf die Metaphorik u n d die eingeschriebene Relation v o n V e r f a s s e r u n d A d r e s s a t i n n e n ergeben also ein differenziertes B i l d : Der Brief setzt die B e d e u t u n g des A u t o r s f ü r die A d r e s s a t i n n e n auch in Z u k u n f t v o r a u s . Der A u t o r w ä h l t v o n der Alternative, mit Christus z u 422 Zur Entsprechung des Katalogs 4,8 zu hellenischen Tugendkatalogen vgl. U.B. Müller Phil, 196-199. 423 Vgl. genauer Kittredge 1998, 84f zu 2,12. Sie zeigt, wie der Vers durch die Rekurrenz anregt, aus dem ursprünglich nicht ethisch gemeinten Christuslied eine Vorbildfunktion des Sklavengehorsams Christi zu inferieren (a.a.O., 77ff). 424 Das Objekt ή μας ist wegen des auffallenden Numeruswechsels pluralisch zu verstehen, als Referenz auf eine nicht definierte Menge von Christinnen, zu denen der Autor gehört. Vgl. so bereits 3,15a. (zur Referenz der 1. Pers. PI. vgl. Exkurs nach § 2.) 425 Vgl. zur paradigmatischen Funktion des sog. Christus-Hymnus in Rahmen des Phil nur U.B. Müller Phil, 113; Brucker 1997, 304ff. 426 Vgl. 1,6; 1 , 9 - 1 1 ; 2,13 und besonders 3,15. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigt der Vergleich mit 1 Thess 1, vgl. § 6.3. 427 Vgl. in Bezug auf die Gabe 1,5; 4,17.

D i e M e t a p h e r n im Philipperbrief

247

sein oder weiterzuleben, wider größeres Sehnen sucht das Weiterleben, um mit den Fortschritten der Gemeinde auch seinen Ruhm zu mehren (1,23-26). Diese Wahl offenbart den Adressatinnen ihre Wertschätzung, aber auch ihren Bedarf an weiterer Begleitung durch Paulus. Doch die Gebete des Autors für die Gemeinde und seine Mahnungen an die Adressatinnen verweisen auf Problemlösungen unabhängig von seiner leibhaftigen und lebendigen Anwesenheit: auf Gott, auf Christus, auf die gegenseitige Gemeinschaft sowie auf das bereits vorhandene Wissen über Pauli Lehre und Denken. Der Brief weist der Gemeinschaft also einen Weg in eine Selbständigkeit und schreibt ihr, anders als etwa iThess und i K o r , eine größere christliche Reife zu. Besonders der Vergleich mit dem 1 Thess (s. § 6) macht die Eigenart des Phil deutlich, da beiden Briefen gemeinsam ist, dass sie nicht auf explizite Infragestellungen des Missionars bzw. seiner Botschaft reagieren. Der Unterschied zwischen diesen beiden Briefen nach Mazedonien liegt nicht nur in der Reife der Gemeinde in Philippi und der Rollensicherheit des Adressanten begründet, sondern auch in dessen biographischer Situation428. Der Autor geht anders als im 1 Thess429 nicht davon aus, dass er die Gemeinde wird begleiten können bis ins Eschaton. Er äußert zwar die Zuversicht, dass er die Gemeinde Wiedersehen wird - das ist ja nach 1,24 der Sinn seines Weiterlebens. Doch er lebt nicht in der Erwartung der irdischen Gemeinschaft bis zum wiederholt ins Auge gefassten „Tag Jesu Christi" 430 . Der Brief spricht vom erhofften Wiedersehen, aber er bereitet gleichzeitig mit verschiedenen Aussagekreisen die Adressatinnen auf ein Leben ohne den Verfasser vor: Der Autor neutralisert mehrfach den Unterschied zwischen seiner An- und Abwesenheit 431 . Er bittet um Gottes Wirken in der Gemeinde, weist auf Christus als Vorbild an Demut (2,5ff). Mittel zur Verteidigung sei die Gemeinschaft der Gemeinde (1,27). Und Paulus bietet den Adressatinnen eine Interpretation seines drohenden gewaltsamen Todes, mit der diese weiterleben können: Zu streben ist für Paulus wünschenswert, führt es doch in die Gemeinschaft mit Christus, gerade durch den vordergründig sinnlosen, gewaltsame Tod

428 D a m i t ist keine A u s s a g e über eine „ W a n d l u n g " in der Eschatologie des P a u l u s gemacht ( v g l . z u r D i s k u s s i o n exemplarisch die These Schnelles 2003, βγζίί [ L i t ! ] u n d d a g e g e n H a h n 2002, 3 1 3 ^ , sondern n u r über die V e r ä n d e r u n g der i n d i v i d u e l l e n Z u k u n f t s p e r s p e k t i v e des impliziten A u t o r s . 429 V g l . v g l . 4,17, v g l . a u c h 2 K o r 11,2, s. § 5.1.11.1. 430 V g l . 1,5.6.10; 2,16. 431

V g l . 1 , 2 7 ; 2,12 in B e z u g auf die G e m e i n d e s o w i e 1,20 in B e z u g auf seine Wirksamkeit.

248

Die Metaphern zur Beschreibung der Aufgabe des Paulus

(1,21.23; 3/io)• „Gleichgestaltet" mit dem Tod Christi sieht Paulus auch seiner Totenauferweckung entgegen (3,iof). Der Tod ist würdige Gabe an Gott, ein „Opfertod" beim Opferdarbringen, und deshalb Grund zur Freude auf beiden Seiten (2,17t). So ist der Brief nicht mit der Verteidigung des Adressanten und der gegenseitigen Beziehung beschäftigt. Er soll vielmehr das Band nicht nur über die räumliche Distanz, sondern auch über den drohenden Tod des Paulus hinweg knüpfen. Die „Freude" wird zum Medium der Gemeinschaft über die Trennung und den Tod des Paulus hinweg. Die Rede von der Gemeinde als „ R u h m " (1,26; 2,16) und ihre metaphorische Apostrophierung als „Siegeskranz" des Paulus (4,1) entwerfen eine asymmetrische, aber enge Bindung beider vor Gott und im Blick auf den Tag Christi. Die wenigen Aussagen, die Adressatinnen und Adressanten in einem kollektiven „Wir" vereinigen 432 , blicken auf eine Gemeinschaft, die nicht auf ein Beisammensein und das gemeinsame Leben angewiesen ist. Die Darstellung des eschatologischen Zieles in räumlicher Metaphorik, besonders in 3,20 f, bietet eine Anschauung, welche die zeitlich gesehen unterschiedliche Nähe der Toten und Lebenden zu Christus vernachlässigt 433 . Der Brief des Paulus an die Heiligen in Philippi richtet sich also an freundschaftlich verbundene Geschwister und kann auf eine signifikante Beziehungsmetaphorik verzichten. Ihm geht es vielmehr darum, die Verbindung mit Paulus und dessen besondere Bedeutung für die angeschriebene Gemeinde zu bekräftigen und zugleich die Gemeinde auf ein Leben ohne die παρουσία des Paulus vorzubereiten434. 432 Eine 1. Pers. PI., die die Adressatinnen einschließt, begegnet nur in 1,2; 3,3; 3,20t; 4,20. 3,3f zielt auf die polemische Abgrenzung von den „Hunden". In 3,15t ist die Extension offen. Im brieflichen Rahmen nennen 1,2 und 4,20 in Gebetssprache Gott den πατήρ ήμών. 433 Räumlich ist die Metapher vom πολίτευμα έν ούρανοΓς. Die Erwartung des Retters von dort (έξ ου) steht oppositionell zu τα έπίγεια (3,19 - 3,20). Die individuelleschatologische Verwandlungsvorstellung (3,2of) rückt die zeitlich bestimmte kollektive Auferstehungserwartung aus dem Blick. Auch die lokale Metapher vom βίβλον ζωής als Ort, in dem die Mitkämpferinnen verzeichnet sind (4,3), hebt die Differenz zwischen Lebenden und Toten auf. Eine räumliche Sicht auf das Ende entfaltet ebenso die Laufmetapher (3,14-16, vgl. άνω κλήσις 3,14)· Auch das Lob Christi 2,6-11 zeigt dessen Weg in der räumlichen Vorstellung von Niedrigkeit und Erhöhung. Unbenommen dessen begegnen viele zeitliche Beschreibungen der Enderwartung. 434 In diesem Sinne steht der Phil - unabhängig von der umstrittenen chronologischen Einordnung (vgl. Balz TRE 26, 508; Schnelle 1999,146ft) - am Ende der uns erhaltenen paulinischen Korrespondenz und am Übergang zu den pseudo-paulinischen Briefen.

Teil III

Paulus und seine Kinder. Textanalysen von Familienbildern und Beziehungsbildung in den paulinischen Briefen Die folgenden drei Paragraphen widmen sich zwei Vergleichen (iThess 2,7-12) und zwei Metaphern ( i K o r 4,14 f und Gal 4,19) aus dem Familienleben. Der implizite Autor Paulus beschreibt sein Verhältnis zu der jeweils angeschriebenen Gemeinde in Kategorien der Eltern-Kind-Relation. Die Überlegungen zur Auslegung von Metaphern bzw. gerichteten Vergleichen (§3) zeigten, dass nicht nur der Bildspender oder ein traditionelles Bildfeld das Verstehen eines bildlichen Ausdrucks leitet. Auch der Aussagekontext bestimmt, welcher Aspekt des Bildempfängers bedeutsam wird. Der Zielbereich der hier besprochenen Texte, die jeweilige Beziehung zwischen Autor und Adressatinnen, ist uns jedoch nur durch den brieflichen Kontext zugänglich. Die Auslegungen werden deshalb jeweils den gesamten Brief bzw. im Falle des i K o r das zusammenhängende Briefsegment i K o r 1 - 4 für die Interpretation berücksichtigen: Welche Beziehung zwischen Autor und Adressatinnen, zwischen Missionar und Gemeinde, wird explizit oder implizit im Brief erarbeitet? Diese Frage wird auf unterschiedlichen Wegen beantwortet. Die Analyse des 1 Thess legt ein Augenmerk auf die Beziehungsgestaltung durch den Sprechakt. Die Pragmatik von 1 Kor 4,i4ff wird erschlossen durch eine Deutung der vorausgehenden Beziehungsmetaphern in Kap.3f. Hier wie in Bezug auf den Gal ist zu klären, wie sich Beziehungsebene und Sachthema zueinander verhalten. Die Auslegung des Gal erschließt das Briefganze und dieses Verhältnis zwischen Sachanliegen und gegenseitiger Beziehung anhand der textverknüpfenden Sinnlinien und der eingeschriebenen Wirklichkeitskonstruktion. Die Lektüre der Briefe unter dieser Fragestellung lässt die Bedeutung der gegenseitigen Beziehung, die Mittel ihrer Gestaltung und

250

Paulus und seine Kinder

damit auch die Pragmatik der Metaphern und Vergleiche aus dem Familienleben hervortreten. Sie zeigt die Individualität und Originalität dieser Familienbilder, die zu oft nur als Ausdruck der „geistlichen Vaterschaft" des Paulus gelesen werden. Ihnen gemeinsam ist bei allen Unterschieden ihre Bedeutung als sprachliches Mittel für die Kommunikation. Die Aussagen schöpfen die pragmatischen Möglichkeiten von Sprachbildern aus. Wo Terminologie und soziale Rollen noch flexibel sind, inszeniert der Briefautor mit Metaphern und Vergleichen eine gemeinsame Beziehung, um diese im Brief selbst zu verwirklichen und mittels Bildern von der gemeinsamen Vergangenheit die Erinnerung zu prägen für die Gegenwart und Zukunft.

§6

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie (1 Thess 2,7-12.17-20). Die Bedeutung der Missionare für die Gemeinde von Thessalonich in der Konstruktion des Briefes Der Erste Thessalonicherbrief ist nach den besten Rekonstruktionen nicht nur das älteste uns erhaltene Werk christlicher Literatur 1 . Er dokumentiert auch erstmals, wie Paulus als Missionar und Briefschreiber die Beziehung zu einer von ihm gegründeten christlichen Gemeinde zu gestalten suchte. Bereits die ausufernde Danksagung (Kap.1-3) zeigt, dass die Vergegenwärtigung der Beziehung zwischen Verfassern2 und Adressatinnen 3 und Adressaten ein vordringliches Anliegen 1

Für die Frühdatierung des ι Thess spricht, dass die Kollektensammlung anders als in Gal, 1 und 2 K o r sowie Rom nicht erwähnt wird und dass Silvanus noch im „Missionsteam" ist (mit Börschel 2001, 34 Anm.11), weiter die Theozentrik der Soteriologie, die große Naherwartung, das Fehlen von Gegnerinnen, die in Thessalonich bereits aufgetreten wären (vgl. Söding 1997). Dies spricht auch dagegen, den Gal vor den 1 Thess zu datieren (auf Basis der südgalatischen Hypothese und der zusätzlichen Annahme, dass der Gal bald nach dem Besuch abgefasst wurde; vgl. Breytenbach 1996, i72f). Köster 1980 nennt den 1 Thess sogar ein "experiment in christian writing", den Versuch, einen christlichen Brief zu schreiben. Dies bleibt freilich spekulativ, weil es nicht erhaltene ältere Briefe gegeben haben kann. Behauptungen der Authentizität und Priorität des zweiten kanonischen Briefes nach Thessalonich, die für die Beziehungsbeschreibung von Relevanz wären, halte ich für unbeweisbar (vgl. die ausführliche Diskussion bei Jewett 1986, 24-30; Börschel 2001, 3Öff). Für die Pseudonymität des 2 Thess gibt auch die Beobachtung der Beziehungsgestaltung ein Indiz: Im 2 Thess spielt vor allem die der Gemeinde anvertraute Paradosis, der Brief und die Erinnerung an das persönliche, nun präzis auf den Unterhaltsverzicht gedeutete Vorbild des Paulus eine Rolle, während die Beziehung selbst nicht vertieft wird, Formulierungen des Besuchswunsches und die Beziehungsmetaphorik fehlen (vgl. die Analyse des Apostel Verständnisses im 2 Thess durch P. Müller, 1988, i93ff.225-227, der allerdings u.E. unsachgemäß den 2 Thess mit einem aus allen als paulinisch geltenden Briefen erhobenen „Apostelverständnis" vergleicht).

2

Vgl. zur Frage, wer als Autor des Briefes zu verstehen ist, unten 2.1.

3

Fatum 1997 hat in illusionslosem Ton vertreten, dass der 1 Thess keine Frauen als Adressatinnen im Blick habe. "Paul deliberately ... employs a man-to-man-language

252

Paulus als Vater u n d Mutter einer neuen Familie

des Briefes ist, obschon die Relation nie begrifflich definiert wird 4 . In diese Lücke sprechen zwei Vergleiche und eine Metapher aus dem Familienleben (2,7-9.10-12; 2,17) sowie ein metaphorisches Lob der Adressatinnen (2,i9f). Der Brief ist auch sonst mit Familiensprache durchwoben 5 . Er entwirft, wie wir sehen werden, auf diese Weise das Modell einer neuen, eschatologischen Familiengemeinschaft als Lebensort in einer feindlichen Umwelt. Wir werden genauer fragen, wie der Brief mittels dieser Familienfiktion die Beziehung zwischen Missionaren und christlicher Gemeinde in Thessalonich für die Gegenwart und Zukunft gestalten will. Die Vergleiche von Mutter und Vater und die Metaphern sind nur ein - allerdings hervorragendes - Mittel dieser „Beziehungsarbeit" des Briefes. A u c h die Rekapitulation des Missionsaufenthaltes in Thessalonich und der Zeit nach der plötzlichen Abreise (1,2-2,13; 3>1~10) sowie die Paraklese (Kap.4t) schreiben explizit und implizit durch die Erzählmittel und unterstellte Autorität eine bestimmte Rolle der Missionare fest. Paulus sowie Silvanus und Timotheus, die gleichfalls in Thessalonich wirkten und als Mitadressanten genannt sind (1,1), werden als tadellose Missionare in Erinnerung gerufen (2,1-12) und bezeugen ihre auch emotionale Bindung an die Gemeinde (2,7ft; 2,17-3,10). Ihr on a man-to-man stage setting" (186). Vor allem die Paränese lasse dies erkennen, spricht sie doch nicht nur mit der Sexualethik (bes. 4,4) nach allem, w a s wir verstehen können, sondern auch mit d e m Geschäfts- u n d Arbeitsethos 4,6.iif vor allem die männliche Lebenswelt an, " t h e head of the h o u s e h o l d " (191). So sei anzunehmen, dass Christinnen in Thessalonich nicht als Individuen, sondern höchstens in ihren patriarchalen Familienzusammenhängen w a h r g e n o m m e n w u r d e n . A u c h A. Smith weist auf die Patriarchalität der Symbolwelt u n d die Androzentrik des Trostangebotes hin (1995, i 0 3 f f ) . W ä h r e n d Fatum durch die exklusive B e n e n n u n g der K o m m u n i k a t i o n unter M ä n n e r n genau das verdoppelnd praktiziert, dass "male m e a n s general or universal ...female means special or gender specific" (193, Hervorh e b u n g ü b e r n o m m e n ) , spreche ich auch von Adressatinnen. Diese sind nicht nur zumindest mittelbar adressiert ( w i e Fatum selbst nicht bestreitet). A u c h Frauen, die ihren Lebensunterhalt verdienen - wie die A m m e in 2,7, die Fatum ignoriert - oder die einem H a u s vorstehen, können zu den implizierten Adressatinnen zählen. B e m e r k e n s w e r t ist insbesondere, dass die Adressanten sich nur mittelbar als απόστολοι der G e m e i n d e bezeichnen (2,7) u n d damit keine generelle Autoritätsrolle beanspruchen (vgl. u n t e n 4 . 2 zu 2,7 und § 4.1). Vgl. die R e d e von Gott als Vater 1,1.3; 3 ' 1 1 · 1 3 ; Jesus als Sohn sc. Gottes 1,10; die im Vergleich mit anderen Paulusbriefen auffallend häufigen A n r e d e n der Adressierten als Geschwister ( α δ ε λ φ ο ί 1,4; 2,1.9.14.17; 3,7; 4,1.10.13; 5,1.4.12.14.25). Vgl. weiter den Entwurf einer an Geschwisterliebe ( φ ι λ α δ ε λ φ ί α 4,9) orientierten Ethik gegenüber αδελφοί (4,6.IO) u n d die Kennzeichnung von M e n s c h e n als Christinnen mit α δ ε λ φ ό ς (5,26f; Timotheus 3,2). Eine Analyse des ganzen " f a m i l y album of metap h o r s " im 1 Thess vor d e m Hintergrund antiker Familienrelationen bietet B u r k e 2003 (Zitat 252).

Familienmetaphern im ι Thessalonicherbrief

253

Schreiben inszeniert eine autoritative Position nicht nur in der Darstellung der Vergangenheit, sondern auch durch den Brief, vor allem durch den Vorsprung an Wissen über Hoffnung und Ethik (Kap.4f). Sie stehen zwischen Gott und Gemeinde in einer nicht systematisch geklärten Vermittlerrolle. Diese Untersuchung zeigt damit exemplarisch, wie ein Brief auch abgesehen von Sprachbildern und philophronetischen Topoi mit illokutionären Mitteln eine bestimmte Beziehung zu verwirklichen sucht. Wir beabsichtigen dabei nicht eine historische Rekonstruktion der Mission, sondern verfolgen, wie der Brief die Beziehung unter Rückgriff auf den Gründungsbesuch für die Gegenwart entwirft. Eingangs ist zu klären, ob der iThess durch seine literarische Gestaltung eine bestimmte Kommunikationsbeziehung und Pragmatik vermittelt (1). Die vom Brief verausgesetzte Situation, das Problem und dessen Zusammenhang mit der Beziehung der Briefpartner sind sodann zu umreißen (2). Ein unumgänglich großzügiger Durchgang durch die Textabschnitte untersucht deren Pragmatik für die Beziehungsgestaltung (3, 5 und 6). In seinem Mittelpunkt stehen ausführliche Analysen der erwähnten Vergleiche und Metaphern (4 und 5.1). In einer Summe werden diese Ergebnisse gebündelt für die Relation zwischen Verfassern und Adressatinnen in ihren Rollen als Missionare und Konvertitinnen (7.1). Damit ist abschließend zu erheben, welche Bedeutung der Familienfiktion und der missionarischen Beziehung für das Leben der jungen christlichen Gemeinde in Thessalonich zukommt (7.2).

1

Zur Gattung und Disposition

Im Schwung des rhetorical criticism sind etliche Klassifizierungen und Dispositionen des 1 Thess6 innerhalb der klassischen Redegenera, aber auch Deutungen gemäß der antiken Epistolographie vorgeschlagen worden 7 . Die Diskussion um Gliederung und Gattung des iThess -

6

Nichts ist unmöglich - doch die Annahme, dass der Brief so, wie er uns vorliegt, ursprünglich auch abgefasst wurde, ist die einzig fundierte Prämisse der Auslegung des Briefes, der keine Spannungen enthält; vgl. zur Diskussion jüngst Börschel 2001, 29ff; vgl. auch Klauck 1998, 282ff; Jewett 1986, 33-46; R.F. Collins 1984b, 9Öff.

7

Vgl. z.B. die Diskussion der Entwürfe von Kennedy 1984, Wanamaker iThess, Hughes 1990, Jewett 1986 u.a. durch Hoppe 1997 und das ausführliche Forschungsreferat von Wanamaker 2000, 259ff.

2

54

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

hier der Übersichtlichkeit wegen nacheinander behandelt - wird prinzipiell 8 wie inhaltlich lebhaft geführt. Ich beschränke mich in ihrer Darstellung auf die Frage: Gibt es literarische Konventionen, die den impliziten Adressatinnen eine bestimmte Rezeption des Briefes und mithin des impliziten Autors empfehlen ?

l.i

Zur Gliederung

Die epistolographische Erwartung an einen paulinischen Brief wird vom iThess enttäuscht. Er bietet zwischen der Danksagung, die von der Beziehung der Kommunikanten als solcher handelt, und der Paränese keinen der Informationsvermittlung gewidmeten Hauptteil9. Trotz der recht großen Ubereinstimmung über Zäsuren im Text10 divergieren deshalb die zahlreichen vom klassischen Rede- oder Briefaufbau ausgehenden Gliederungsentwürfe darin, wie die einzelnen Teile funktional und in ihrem Zusammenhang zu bestimmen sind 11 . Ein heuristischer Wert dieser an Rede- oder Briefkonventionen orientierten Gliederungen für die Auslegung ist nicht erkennbar 12 . Die Textsignale 8

Vgl. die Beiträge in K. Donfried - J. Beutler (Hrsg.), The Thessalonian Debate. Methodological Discord or Methodological Synthesis, Grand Rapids/Michigan 2000, insbesondere die Beschreibung des Diskussionsstandes durch Donfried 2000a, 15ft; zu prinzipiellen Fragen vgl. § 2.1.1.

9

Diese „Nöte" benennt Bickmann 1998, 103 sehr treffend mit Beispielen. Zur Aporie der formkritischen Bestimmungen des Briefkorpus wegen der Vernachlässigung der pragmatischen Dimension vgl. auch Johanson 1987, 6if.

10

Vgl. nur die Zusammenstellung von Gliederungen durch Vanhoye 1990, 74ff, der auch 76t die Gliederungssignale nennt.

11

Vgl. insbesondere die Diskussion und synoptische Ubersicht über die rhetorischen Gliederungen bei Jewett 1986, 68-71.216-224 oder die Übersichten bei Klauck 1998, 286ff. Fraglich ist vor allem das Ende des Proömiums resp. der Danksagung (1,5,1,10 oder 3,13?) und die Bestimmung von 2,iff als Teil der argumentatio oder narratio und deren jeweiliger Umfang.

12

Dies kann nur an wenigen Beispielen belegt werden. Dass Hughes 1990, der z.B. von Donfried 2000b, 4iff rezipiert wird, auf die Regeln der dispositio mehr hört als auf den Text, zeigen seine funktionalen Bestimmungen, wie sie auch sonst in den rhetorischen Analysen des iThess begegnen. So wird 4,iff zur „probatio" (104; vgl. die Kritik von Vanhoye 1990, 79 Anm.15 an der entsprechenden Definition bei Jewett 1986, 75) und der uns besonders interessierende Abschnitt 2,1-3,10 wird als narratio, vor allem als Selbstlob des Paulus gedeutet, "that showed that there had been good reason for the Thessalonians to have 'full assurance' (1,5) when their apostle founded their church" (loif, Zitat 102). Gerade die Bestimmung der auf die gemeinsame Geschichte zurückblickenden Passagen als narratio (ähnlich z.B. Jewett 1986, 73ft ad 1,6-3,13: "Narratio of grounds for thanksgiving") verkürzt deren Pragmatik zu einer Informationslieferung. Die narratio hat ihren eigentlichen „Sitz" in der Gerichtsrede

Z u r Disposition des ι Thessalonicherbriefes

255

zeigen hingegen klar, dass der Brief im Rahmen von Präskript und Briefschluss zweigeteilt ist (1,2-3,13; 4,1-5,24) 13 . Z u unterscheiden sind „Danksagung" und „Paränese" bzw. expressiver und appellativer Teil14, d.h. der von der Gegenwart primär rückblickende und der vorausschauende Abschnitt 15 . Der erste Hauptteil 16 behandelt die gemeinsame Beziehung im Gestus des Berichts vom Dankgebet: Er beschreibt rückblickend das Christwerden der Adressatinnen durch die Missionare (1,2-10), deren Auftreten (2,1-12) und die Leidenssituation der Adressatinnen (2,13-16). Mit 2,17 wechselt der Blick auf die Zeit seit der Abreise der Missionare. Zunächst wird die Trennung interpretiert (2,17-20). Der Brief bespricht darauf die Ereignisse seit der Abreise (3,1-10) und schließt mit Gebetswünschen (3,11-13). Trotz dieses Inhalts und des z.T. narrativen Charakters ist Kap.1-3 nicht als Chronologie der Ereignisse zu lesen, sondern als dem Beziehungsaspekt gewidmete Re-Konstruktion der «relations ... trilaterales» zwischen Missionaren, Missionierten und Gott 17 .

a l s p a r t e i i s c h e D a r s t e l l u n g d e s K a s u s ( L a u s b e r g 1960, § 289; A n d e r s o n 1 9 9 9 , 1 3 1 ; v g l . K l a u c k 1998, 288; H o p p e 1997, 235 u n t e r B e z u g a u f A r i s t o t e l e s , R h e t 3 1414a 3 7 t ) . S o ist v e r s t ä n d l i c h , d a s s W a n a m a k e r ( i T h e s s , 4 9 f ) s e i n e B e s t i m m u n g v o n 2 , 1 - 3 , 1 0 als n a r r a t i o s e l b s t n i v e l l i e r t , i n d e m er i n d i e s e r z w e i B e w e i s t y p e n ( E t h o s u n d P a t h o s ) i d e n t i f i z i e r t , d i e m a n e i g e n t l i c h in d e r p r o b a t i o e r w a r t e n w ü r d e , u n d d e r a n g e b lichen narratio die philophronetische Funktion der D i s t a n z ü b e r w i n d u n g zuschreibt. - H o p p e ist z u z u s t i m m e n , d e r i m A n s c h l u s s a n d i e p r i n z i p i e l l e n Ü b e r l e g u n g e n v o n C.J. C l a s s e n (1991, v g l . b e i H o p p e 1997, 233t) d e n S i n n s o l c h e r a n d e r D i s p o s i t i o n s lehre der antiken Rhetorik orientierten D e u t u n g e n b e z w e i f e l t u n d mit C l a s s e n fordert, v o m k o n k r e t e n l i t e r a r i s c h e n W e r k a u s z u g e h e n u n d n i c h t v o n

rhetorischen

M u s t e r n ; S k e p s i s ä u ß e r t a u c h H a u f e 1 T h e s s , 8f. 13

Eine ausführliche textorientierte B e g r ü n d u n g

dieser G l i e d e r u n g bietet

Johanson

1987, 5 9 f t ; v g l . a n a l o g B i c k m a n n 1998, i 0 3 f f . E i n e Z w e i t e i l u n g d e s B r i e f k o r p u s w i e hier schlagen mit unterschiedlicher B e z e i c h n u n g der Teile viele Exegeten v o r ; vgl. n u r D o b s c h ü t z i T h e s s , 2 7 t ; H o l t z i T h e s s , 2 9 f t ; V a n h o y e 1990; L y o n s 1985, i 8 o f (autobiographisch, paränetisch); Malherbe i T h e s s , 78t (autobiography -

exhorta-

t i o n ) ; J e w e t t 1986, 6 8 - 7 6 ( 1 , 6 - 3 , 1 3 n a r r a t i o ; 4 , 1 - 5 , 2 2 p r o b a t i o ) ; L a m b r e c h t 1994a, 320; H a u f e i T h e s s , 7f. Ä l t e r e L i t e r a t u r n e n n t L y o n s 1985, i 8 o f A n m . 1 4 . N a c h e p i s t o l a r orientierten U n t e r s u c h u n g e n könnte die D a n k s a g u n g z u m Briefrahmen gerechnet w e r d e n ( v g l . S c h n i d e r / S t e n g e r 1987, 4 2 f t ; v g l . o b e n z u m B r i e f § 2.2.1.3), d o c h d a g e gen spricht die u n g e w ö h n l i c h e dreifache Rekurrenz des D a n k s a g u n g s m o t i v s . 14

So die sprachpragmatische Terminologie v o n Johanson ( p r e d o m i n a n t

expressive

r e s p . p r e d o m i n a n t c o n a t i v e f u n c t i o n , v g l . 1987, 6 7 i i . 7 2 . f i ) . 15 16

V g l . J o h a n s o n 1987, 75 ff. Für die Z u g e h ö r i g k e i t v o n 1,2-10 z u m ersten Hauptteil vgl. die B e g r ü n d u n g Bickm a n n s 1 9 9 8 , 1 0 8 f f . D i e R e k u r r e n z d e r D a n k s a g u n g s a u s s a g e in 2,13ft u n d 3 , g f f ist e i n zentraler Kohärenzfaktor.

17

V a n h o y e s k a u m rezipierter A u f s a t z weist diese meist übersehene Pragmatik Textes anhand der V e r w e n d u n g

der Personalpronomina

auf sprachlicher

des

Ebene

256

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

1.2

Zur Gattung 18

Untersuchungen mittels rhetorical criticism schlagen sowohl das epideiktische19 wie das deliberative20 Genus als Produktion wie Rezeption bestimmend vor. Schon das Schwanken in der Zuweisung als beratende oder qualifizierende Rede verrät, dass der Brief deren Konventionen nicht einfach entspricht21. Eine Klassifizierung gemäß den

nach (1990, 82ft, Zitat 83); dominant sei die Kontaktfunktion (86). Er grenzt sich damit vor allem gegen die Bezeichnung des Teiles als "predominant expressive" durch Johanson (vgl. Anm.14) ab, der damit freilich eine andere Kategorisierung meinte. 18

Vgl. zur Diskussion auch die Forschungsreferate von Bickmann 1998, 90ff; Hoppe 1997 und Walton 1995.

19

Für dieses Genus votieren vor allem mit Bezug auf Lob und Tadel als seinen Gegenständen Jewett 1986, 7 i f ; Hughes 1990, 97ff; Donfried 1993, 4; 2000b, 39t; Schoon-Janßen 1991, 47ft; Wanamaker iThess, 47 (auch die Paränese habe vor allem affirmativen Charakter); Walton 1995; Klauck 1998, 289ff. Dass die Paränese hier keinen Ort hat, verschleiert er; „Der iThess kann uns als beherzigenswertes Beispiel dafür dienen, daß man auch mit epideiktischen Mitteln Ermahnungen an den Mann und an die Frau bringen kann, effektiver sogar als durch ständiges Zureden" (a.a.O., 290). Auch sonst hat diese Gattungszuweisung keine Bedeutung für das Verstehen der Briefpragmatik, weil nicht gefragt wird, inwiefern das Erkennen des Genus die Lektüre leiten sollte. Lyons z.B. bestimmt den Text als paränetischen Brief und fragt dann nach dem Redegenus. Paränese könne deliberativ oder epideiktisch sein, hier sei sie letzteres, weil die Beziehung bereits gut ist. Auch bei Hughes 1990 ergibt die Einordnung des 1 Thess unter das genus epideicticum - im wesentlichen durch Ausschluss der anderen genera begründet - für die Frage der Briefintention nur den Allgemeinplatz, "to strengthen a relatively good relationship that already existed", weil der Apostolat des Paulus noch nicht angefochten sei (1990, io6f, Zitat 106). - Erwähnenswert ist schließlich Wuellners ambitionierte Deutung des Briefes als Rede im Sinne der epideiktischen Untergattung „paradoxon enkomion" (1990): 1,2-10 sei das Exordium mit dem zentralen Oxymoron von der Fülle und Freude im Leiden (1,6), das die rhetorische Problemstellung aufgebe: Freude und Leiden und scheinbare Gegenwart sowie zukünftige Realität so zu dissoziieren, dass eine neue kohärente Sicht der Wirklichkeit argumentativ erreicht werde. M.E. sind die Spannungen, die Wuellner zwischen vorfindlicher Wirklichkeit und behaupteter göttlicher bzw. zukünftiger Realität ausmachen will, im Brief gar nicht problematisiert. Jedenfalls sind sie nicht „paradox". Das Motiv der Freude im Leiden ist keineswegs innovativ (vgl. nur Michael Wolter, Art. Leiden III. Neues Testament, in: TRE 20 [1990] 677688: 680). Falsch ist auch Wuellners Nivellierung der Beziehung zwischen Verfasser und Empfängern. Er begründet sie damit, dass der Brief eigentlich als Zirkularschreiben, "a letter to the Macedonians" (119) sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass die intendierten Leserinnen die Christinnen in Thessalonich sind. Vgl. auch die Kritik Bickmanns 1998, 93f; Wanamakers 2000, 275ff.

20

So Kennedy 1984, 142; Malherbe passim; Johanson 1987, 165-168.174 (wegen der Zukunftsorientierung und der Funktion der narratio in deliberativer Rhetorik).

21

Olbricht (1990, bes. 224ft) hat daher vorgeschlagen, iThess zu einem viertes Genus zu zählen, das Aristoteles noch nicht habe kennen können, "church rhetoric", und zwar genauer zur Untergattung "reconfirmational" (im Gegensatz zur "confronta-

Z u r G a t t u n g d e s ι Thessalonicherbriefes

257

Genera der v o r öffentlichem P u b l i k u m gehaltenen Rede vernachlässigt die Beziehungsarbeit, die der Brief in Überbriickung der räumlichen Trennung an der bereits bestehenden V e r b i n d u n g a u f g r u n d einer gemeinsamen Geschichte leistet. Wie bereits die prinzipiellen Überlegungen z u m Charakter der paulinischen Briefe ergaben, ist d a r u m eine epistolographische Deutung des 1 Thess vorzuziehen 2 2 . A u c h für diese gibt es mehrere Vorschläge, die jeweils eine Zuschreibung des Briefes z u einem der Redegenera im Blick auf einen spezifischen Brieftypus präzisieren. Unter V e r w e i s auf die philophronetischen Topoi w i r d der Brief als Freundschaftsbrief klassifiziert 23 . Diese Zuschreibung ist allerdings i m Blick auf die Pragmatik des Briefes z u allgemein 2 4 . A u c h als Definition der B e z i e h u n g selbst trifft das K o n z e p t der Freundschaft nur grob. D e n n das Ideal der Freundschaft zweier freier, ebenbürtiger Männer miteinander 25 w i r d hier nicht abgerufen, geht es doch u m eine G r u p p e gegenüber ihrem spiritus rector, nicht u m Egalität u n d Reziprozität 2 6 . Der

tional c h u r c h r h e t o r i c " des Gal, 226t); die B e s o n d e r h e i t sei in d e m christlichen G o t t e s v e r s t ä n d n i s b e g r ü n d e t . D i e B e s t i m m u n g eines G e n u s d u r c h Inhalte o h n e A u f w e i s f o r m a l e r Kriterien u n d k o n v e n t i o n e l l e r Intentionen trägt j e d o c h nichts aus. 22

V g l . V a n h o y e s F o r d e r u n g , Briefe nicht z u z w i n g e n in «la lit d e Procruste q u e la rhetorique classique a d e f i n i p o u r le discours et n o n p o u r la lettre» (1990, y8i). D o n fried 2000b, 34ff g e h t freilich g e r a d e d e n u m g e k e h r t e n W e g : N i c h t e p i s t o l o g r a p h i sche G l i e d e r u n g e n d e s 1 Thess, s o n d e r n der rhetorical criticism f ü h r e weiter. Er beg r ü n d e t das damit, d a s s die Z u w e i s u n g z u m e p i d e i k t i s c h e n G e n u s , u n d d a b e i gen a u e r z u B e e r d i g u n g s - o d e r T r o s t a n s p r a c h e n z u t r e f f e (41). - V g l . z u r Kritik an der E x e g e s e d e s 1 Thess, die v o n f o r m a l e n V o r g a b e n ausgeht, a u c h Johanson, d e r d e r e n m a n g e l n d e A u s s a g e k r a f t an d e n sehr d i v e r g i e r e n d e n B e s t i m m u n g e n d e s Briefaufb a u s u n d -ziels n a c h w e i s t (1987, 3ft). Er hält d a h e r a u c h die e p i s t o l o g r a p h i s c h e D e u t u n g f ü r i n a d ä q u a t u n d verficht einen "text-centered a p p r o a c h " .

23

S. b e s o n d e r s Schoon-Janßen 1991, 39ff u n d ders. 2000, 184ft z u d i e s e m „ S i t z i m L e b e n " , u.a. mit B e z u g auf die F r e u n d s c h a f t s t o p o i Parusia, G e g e n w a r t i m Geist, S e h n s u c h t u n d T r o s t ; i h m folgt H a u f e 1 Thess, 35t. Ä h n l i c h M a l h e r b e 1 Thess, i8of, z u 2,17-3,10 unter A u f w e i s der Parallelen z u Phil 2,12-20. V g l . a u c h L y o n s , s.u.

24

So k o m m t e t w a Schoon-Janßen n u r z u der S c h l u s s f o l g e r u n g , dass es sich w e d e r u m einen Lehr- n o c h einen Geschäftsbrief h a n d e l e (1991, 52).

25

V g l . B o r m a n n 1995, iÖ4ff.

26

So z u Recht A . Smith 1995, 62f; er sieht positiv vertreten die t y p i s c h e n O b l i g a t i o n e n w i e V e r t r a u e n s w ü r d i g k e i t , Trost, g e g e n s e i t i g e s G e d e n k e n , H a s s auf die F e i n d e d e s a n d e r e n etc. L y o n s h i n g e g e n sieht in 1 T h e s s die F r e u n d s c h a f t a u c h d u r c h G l e i c h h e i t v e r w i r k l i c h t (1985,180 z u d e n Kriterien; 198 ad 2,7b: " m u t u a l i t y a n d e q u a l i t y of his relationship w i t h the T h e s s a l o n i a n s " ; 199: A u s F r e u n d s c h a f t teile P a u l u s ) . Gleichheit sei so sehr g e g e b e n , dass a u c h die Thessalonicher für P a u l u s V o r b i l d seien. B e s o n d e r s w e i t ü b e r d e n Text greift er in B e z u g auf 3 , 7 - 9 : " T h e reciprocity of imitation is s u c h that P a u l imitates t h e m (1:6), e v e n if h e d o e s not say so explicitly. T h e y are so f u l l y his imitators, his true friends, that t h e y are his alter ego" (a.a.O., 218).

258

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Brief setzt kein Einvernehmen über die gegenseitige Beziehung voraus. Er entwirft dieses erst, durch Erinnerung an gemeinsame E r f a h r u n g e n u n d mittels Metaphern. Ein Gefalle v o n Adressant zu Adressierten setzt die Bestimmung als paränetischer Brief voraus, die vor allem Malherbe verficht 2 7 . Er beruft sich auf die explizite Pragmatik der zweiten Briefhälfte (4,1 ff). Doch auch die Selbstbeschreibung der Adressanten, insbesondere 2 , 1 12, diene dem Entwurf eines vorbildlichen Ethos (vgl. unten 4.4). Die Leistung dieser These ist, dass sie d e m Brief eine einheitliche Pragmatik abgewinnt. Doch sind die Topoi 2 8 mitnichten spezifisch paränetisch, u n d nicht alle Textpassagen lassen sich so erfassen 2 9 . G e r a d e die Selbstaussagen der Verfasser sind m.E. in ihrer Bedeutung nicht begriffen. Malherbe charakterisiert die Bedeutung der Person des Paulus f ü r die Paränese als " w h a t w e w o u l d call pastoral care" 3 0 . Doch dies ist nicht A s p e k t der postulierten paränetischen Gattung, sondern ein persönliches Spezifikum des Paulus, w i e Malherbe selbst konzediert 3 1 . Die Lektüre des Briefes als Trostbrief erfasst hingegen Deutungen mehrere pragmatische Aspekte u n d reflektiert die Bedeutung der Beziehung zwischen Briefschreiber und Adressierten. Sie w i r d deshalb hier genauer diskutiert. Mit sehr unterschiedlichen Analysen haben Bickmann und A. Smith eine Deutung als Trostbrief bzw. letter of consolation begründet32. Smith argumen-

27

Vgl. seine diversen Veröffentlichungen zum iThess, bes. 1987, 68ff; neuerdings den Kommentar iThess, 78ff. Zu paränetischen Briefen vgl. Stowers 1986, 94-106, der (a.a.O., 96) ebenso wie Malherbe und Aune 1987, 206 den 1 Thess unter diese zählt.

28

Vgl. 1 Thess, 82ff. Malherbe nennt den mit οϊδατε κτλ. indizierten Rekurs auf bereits Gewusstes, wie die popularphilosophische Paränese nicht in erster Linie darauf ziele, Neues zu vermitteln, sondern die Praxis des Gewussten zu motivieren durch den Verweis auf Vorbilder, Exempla, Antithesen.

29

Vgl. A. Smith 1995, 46t zur fehlenden Spezifik der Topoi. Auch fallen, wie Wanamaker 1 Thess, 47 zu Recht einwendet, die vielen lobenden Aussagen über die Adressatinnen und Adressaten aus dem Rahmen. Die Kritik von Bickmann hingegen, Malherbe setze voraus, dass es nur darum gehe, „bei der einmal gewählten Gruppe und Lebensform zu bleiben", obgleich der Text auch „eine Verständigung über ein ins Wanken geratenes Wirklichkeitsverständnis" entfaltet (1998, 93), verkürzt die These Malherbes.

30

1 Thess, 85; vgl. 1987, 68-78.

31

So schreibt Malherbe iThess, 85: "Most important is that Paul could not separate himself from faith in the gospel, and that determined his relationship with his converts and made him different from his contemporaries."

32

A. Smith 1995 und Bickmann 1998, vgl. schon Donfried 1989, 259 f und zustimmend z.B. Klauck 1998, 291; ältere Literatur auch bei Bickmann 1998, 94ff.

Z u r Gattung des ι Thessalonicherbriefes

259

tiert mit dem Vorkommen von Topoi der griechisch-römischen Konsolationsliteratur im 1 Thess 33 : Betonung der gegenseitigen Beziehung, Würdigung des Unglücks, Mitleid und Argumente für das Ertragen des Unglücks 34 . Sie würden den Lesenden signalisieren, dass es um Trost unter Freunden 35 gehe. Die Umdeutung des Leidens im 1 Thess folge allerdings nicht der paganen Trosttopik, sondern der apokalyptischen Hermeneutik36. Bickmann hebt eben diese Unterschiede in der Bestimmung des Trostangebotes hervor: Im paganen Kontext gehe es um die Änderung der Einstellung gegenüber dem Unglück, während im atl.-jüdischen Kontext die Veränderung von Gott erwartet werde. Der 1 Thess reiche wie weisheitlich-apokalyptische Literatur Trost durch ein spezielles Offenbarungswissen 37 . Für Bickmann geht es nicht um den Nachweis einer Gattung, sondern - im Horizont einer sprechakttheoretischen Analyse - um die Handlungsstruktur des Briefes. Die zeichne sich insbesondere dadurch aus, dass die briefliche Kommunikation selbst als tröstender Sprechakt relevant wird. Die Trauer stelle den gemeinsamen Sinnhorizont und damit die Gemeinschaft in Frage. Deshalb sei es wichtig, die Beziehung zunächst zu konsolidieren, um auf dieser Basis Trost zu spenden 38 . Dazu dienen nach der Analyse Bickmanns die ersten drei Kapitel des Briefes. Der Beziehung zwischen implizitem Adressanten und Adressierten kommt also nach Bickmann, anders als für Smith39, eine besondere Bedeutung zu: Die Leidenserfahrung des Sterbens von Angehörigen und die Leidenserfahrung der Trennung der Briefpartner würden analogisiert, so dass mit der Uberwindung der letzteren durch den Brief als Parusie des Apostels der Weg

33

Smith grenzt sich dabei von verkürzten Vorstellungen über antike Kommunikationskonventionen ab (vgl. 1995, 4 3 f f ) : Es gehe nicht u m Produktionsvorschriften, sondern um von Absender und Adressatinnen geteilte Erwartungen, bei unterschiedlichen Briefen speziell nicht u m „ T y p e n " , sondern u m verschiedene U m stände (vgl. 1 2 1 Anm.14).

34

Smith 1995, 52ff. Der Trost sei wegen der Trennung v o m Apostel notwendig, während die Diskussion der Todesfälle nur exemplarische Funktion hat; Bickmann hingegen hält umgekehrt diese Todesfälle f ü r die eigentliche Ursache des Leids. Vgl. auch die Auflistung von paganen Trosttopoi in 1 Thess durch Chapa 1994, 156ft, insbesondere zu 3,3 t als typischem Argument zur Erleichterung des Schmerzes durch den Hinweis auf die Universalität des Leidens (158).

35

Für den Freundschaftsbegriff vgl. Smith a.a.O., 62ff.

36

Vgl. Smith 1995, i58ff.

37

Vgl. Bickmann 1998, 27off zum paganen Kontext, 292ft zum atl.-jüdischen; das weisheitlich-apokalyptische Verständnis des Trostes entfaltet sie an 4 Esra, den Qumrantexten (303ff) und vor allem am Brief des Baruch, syrBar 78-86, als nächsten Verwandten des 1 Thess ( 3 i i f f ) .

38

Vgl. a.a.O., 284ff zu dieser Präzisierung der Handlungsstruktur im Vergleich mit paganen Konsolationsbriefen.

39

Smith würdigt die Beziehung als „philia" im Sinne eines weiteren Freundschaftsbegriffs, nicht jedoch die Bedeutung, die Paulus b z w . die Missionare f ü r sich beanspruchen. Dementsprechend ist 2 , 1 - 1 2 unterbestimmt als " a disgressionary panegyric about the missionaries" und der Ammenvergleich als A u s d r u c k der " p e d a g o g i cal gentleness" (1995, 79).

2Ö0

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

zur Überwindung der ersteren gewiesen sei. Der implizite Autor entwerfe sich dazu als „charismatischer Offenbarungsträger und Lehrer" 40 . „Der Brief entwickelt ... ein Rollenangebot, das den bisherigen Weg mit dem Lehrer Paulus rekapituliert, die Beziehung zu ihm exklusiv vergegenwärtigt, um so die nachfolgende Belehrung und Aufforderung zum Trost akzeptabel zu machen. ... Er sucht also eine exklusive Beziehung zwischen Paulus als von Gott berufenem Wissensträger und den Christusgläubigen in Thessalonich als seinen Schülern und Schülerinnen zu stiften." 41 Auch Bickmann meint als mit der Beschreibung als „Trostbrief" nicht eine die Brieflektüre steuernde Gattung, sondern das Handeln des Briefes als eines Prozesses. Dementsprechend kann die These erst im Durchgang durch den Brief bewertet werden. Sie beruht - das ist hier bereits anzumerken - auf einer Reduktion der Leidenserfahrung der Christusgläubigen auf die Trennung vom Apostel und die Todesfälle 42 . Das Problem, dass das Leiden der Christusgläubigen erst mit der Beziehung zu den Briefabsendern entstand (vgl. 2.2), wird so verkannt. Die Z u w e i s u n g z u m p a g a n e n b z w . z u m weisheitlich-apokalyptischen Trostangebot bezieht sich also nicht auf f o r m a l e A s p e k t e noch auf semantische Signale 4 3 , sondern auf den Gestus des Briefes (Smith) b z w . die inhaltliche B e g r ü n d u n g u n d die Funktionalisierung des Briefes als eines M e d i u m s z u r Verarbeitung der L e i d e n s e r f a h r u n g ( B i c k m a n n ) . D a s s der i T h e s s d u r c h eine f o r m a l e Gestaltung als „ T r o s t b r i e f " eine bestimmte L e s e e r w a r t u n g w a c h r u f e n wollte, ist nicht erkennbar. D a g e g e n spricht, dass eine E r w ä h n u n g des L e i d e n s oder des s c h m e r z h a f t e n Ereignisses z u B e g i n n des Briefes fehlt 44 . G a n z im Gegenteil w i r d das L e i d e n der G e m e i n d e bei seiner ersten E r w ä h n u n g (1,6) relativiert angesichts der Freude.

40

Vgl. bes. Bickmann 1998, 284ff.3i8ff, Zitat 318.

41

A.a.O., 319.

42

Dazu führt sie etwa die Uberbewertung der Trennungssituation (zur These und Kritik vgl. 5.1 zu 2,17-20).

43

Vgl. die Kritik von Chapa 1994, s. die folgende Anm.

44

Ich folge hier Chapa a.a.O., 159, der insgesamt plausibel begründet, dass der Brief, obwohl Trosttopoi vorkommen, nicht insgesamt als Trostbrief zu lesen ist. Es fehlt "an overall linking scheme" (ebd.), und der im iThess wichtige Hoffnungstopos kann nicht aus dem Trostbrief abgeleitet werden. (Sein Gegenargument, es sei zu unterscheiden zwischen der Rolle der trostspenden Briefschreiber oder Moralphilosophen einerseits, der Rolle des Paulus andererseits, der eher einem atl. Propheten ähnele, trifft allerdings Bickmanns Deutung nicht, da sie den Brief in die spezifisch jüdisch-apokalyptische Trosttradition einordnet.) Auch die Divergenz in der Bestimmung des ursächlichen Leids sowie die Vernachlässigung von Textpassagen wie der Paraklese 4,1-12; 5,12ft durch Bickmann bzw. der Erinnerung der gemeinsamen Geschichte in 1,2ff durch Smith zeigen, dass der Brief so nicht gänzlich zu erfassen ist.

Zur Gattung des ι Thessalonicherbriefes

261

Die Charakterisierung als Trostbrief erfasst also eine wichtige pragmatische Dimension des Schreibens, ohne Aspekte von Mahn- und Freundschaftsbriefen auszuschließen45. Die folgende Lektüre fragt darum nach der Beziehungsinszenierung durch den Brief, der als privater Brief unterweist, bekräftigt, tröstet, mahnt und dazu die Freundschaft, gemeinsame Geschichte und persönliche Bindung lebendig werden lässt auf eine Weise, die im folgenden detailliert erhoben werden soll.

2 Der Ausgangspunkt der Kommunikation 2.1

Wer spricht? Zur Bestimmung der impliziten Autoren

Vor einer Auslegung der rhetorischen Uberzeugungsarbeit des Briefes ist zu klären, wer der implizite Autor des Briefes ist46. Denn der 1 Thess nennt Silvanus und Timotheus nach Paulus als Adressanten (1,1) und spricht fast durchgängig in der 1. Pers. PI.47. Diese Frage ist nicht nur für die Textlektüre wichtig, sondern gerade für die Deutung der brieflichen Inszenierung des Paulus. Wie im Exkurs nach 2 gezeigt, ist die Referenz der 1. Pers. PL im Einzelfall zu entscheiden. Für den 1 Thess ergibt sich ein differenziertes Bild. Einerseits legt zumindest 2,18 nahe, dass die 1. Pers. Pl. auch auf Paulus allein referiert und ihn damit als alleinigen oder ersten Autor zeigt48. Im Zusammenhang der Reiseversuche stellt der Text Paulus als Missionar - und als Autor - in den Vordergrund.

45

Briefe folgen nicht notwendig ganz einem Typos bzw. einer pragmatischen Funktion (vgl. §2.1.4).

46

Vgl. die ausführliche Diskussion durch Börschel 2001, 125-137. Vgl. aber bereits Rigaux 1 Thess, 77-80; Dobschütz 1 Thess, 67t; Best 1 Thess, 26-29, Malherbe 1 Thess, 86-89.

47

Die 1. Pers. Sg. steht nur in 2,18; 3,5a; 5,27. Der 1 Thess bietet neben dem 2 Thess unter den Paulinen den höchsten Anteil an Wortformen der 1. Pers. PI. Für die Prozentzahlen vgl. etwa R.F. Collins 1984c, 177 Anm.20.

48

Vgl. 2,18a ήθελήσαμεν έλθεϊν, das dann durch έγώ μέν ΓΊαϋλος präzisiert wird, aber in V.i8b wieder in der 1. Pers. PI. (ήμας) weitergeführt wird. Während ήθελήσ α μ ε ν auch die Mitabsender einschließen kann, ist es doch naheliegend, ήμας (das Objekt der satanischen Sabotage) koextensiv mit έγώ zu lesen (mit Johanson 1987, loif Anm.492), denn Timotheus war in der Zwischenzeit bis zur Briefabfassung offensichtlich reisefähig. Man kann allerdings auch wie R.F. Collins 1984c, 178 nur die Parenthese auf Paulus beziehen und deuten: "Paul's personal desire to return to Thessalonica was still being frustrated, whereas Timothy's desire was about to be realized".

202

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Die Erzählung von der Sendung des Timotheus durch Paulus wählt die Perspektive des bzw. der „allein" in Athen Zurückbleibenden, nicht des Timotheus (3,1 ff). Von diesem wird, anders als von Paulus in 2,18, nur in der 3. Pers. gesprochen. Wenn 3,5 επεμψα das έπέμψαμεν von 3,2 inkludierend wieder aufnimmt, sollen die Lesenden offensichtlich ohne weiteres Signal Paulus als Subjekt einsetzen. Timotheus erscheint als Paulus untergeordnet, aber auch Silvanus als ihm nicht ebenbürtig. Auch die Unterstellung, dass der Besuch des Timotheus in der Gemeinde den persönlichen Besuch des Paulus nicht ersetzt (3,iof), zeigt, dass die Priorität des Paulus vorausgesetzt wird. Schließlich entwerfen auch die unten genauer ausgelegten Vergleiche von der Mutter und dem Vater (2,7.11 f) Bilder für eine einzelne Person, nicht für ein Kollektiv 49 . Dass dieser einzelne für uns nicht deutlicher benannt wird, spricht nicht gegen die Prominenz des Paulus. Denn der Brief kann zum Entwurf des impliziten Autors auch auf enzyklopädisches Wissen vom Gründungsaufenthalt zurückgreifen, auf das er sich ja mehrfach beruft 50 .

Andererseits ist an der ausdrücklichen Nennung von Paulus zu erkennen, dass der Brief von den Lesenden nicht erwartet, dass sie das „Wir" automatisch nur auf Paulus beziehen. Die inklusive Selbstbezeichnung erweckt den Eindruck, „daß Paulus im iThess gerade nicht seine individuelle Autorität ausspielt" 51 , die der in 3,iff geschilderte Umgang mit den Mitarbeitenden erkennen lässt. Der Brief legt also im Zusammenhang mit den für uns erkennbaren Verhältnissen während des Gründungsbesuchs insgesamt nahe, dass Paulus der Leiter der Missionarsgruppe war und dass er unter den impliziten Autoren der Gemeinde als erste Bezugsperson gegenübertritt. Doch es wäre eine Verkürzung, nur Paulus als Sprechenden zu hören - völlig unbenommen von der Frage, ob er allein der reale Autor des Briefes ist. Denn der Brief legt kaum Wert darauf, Paulus selbst als Autor bzw. Missionar in den Vordergrund zu rücken. Bei der Rekon-

49

Vgl. so z.B. Dobschütz iThess, 68; Rigaux iThess, 78; Bickmann 1998, I49f.2i2; für sie ist die Vorordnung des Paulus auch dem Entwurf als „Lehrer" in 2,9-12 zu entnehmen. - Die hierzu geführte Diskussion, auf wen sich der άπόστολος-Titel in 2,7 bezieht, da Timotheus als Konvertit des Paulus dem Kriterium, Auferstehungszeuge zu sein, nicht entspricht, erübrigt sich mit unserer Deutung von 2,7 (s. 4.2).

50

Vgl. nur 2,1.2.5.9.11; 4,2. Der Singular in 5,27 in Bezug auf die Aufforderung, den Brief zu verlesen, erklärt sich am leichtesten als Aussage des implizit wichtigsten Autors, also Paulus'. Holtz iThess, 14; ähnlich bereits Dobschütz iThess, 68: Man solle zunächst an Paulus selbst denken, dann aber auch an die anderen Missionare oder Christen, „mit (denen) er sich solidarisch fühlt". Auch Rigaux hält den Sinn des „Wir" für subtiler. Paulus betone die Gemeinschaft, er gehe in der Gruppe auf (1 Thess, 79t). Die These, dass die Verwendung der 1. Pers. PI. Bescheidenheit zeige (so Dibelius iThess, 68; Best iThess, 27), beruht auf der nicht beweisbaren Annahme, dass Paulus mehr Autorität besitze, als so zum Ausdruck kommt.

51

Z u r Referenz der 1. Pers. PI. im ι Thessalonicherbrief

263

struktion des Beziehungsentwurfs durch den Brief erinnere ich an diese differenzierte Autorenfiktion, indem ich gelegentlich statt wie üblich von „Paulus" als Autor und Missionar der Gemeinde von mehreren Adressanten und Missionaren rede52. 2.2 Die Beziehung und der Anlass des Briefes: Die argumentative Ausgangssituation Im folgenden ist kurz zu umreißen, auf welche Beziehung der Brief als extratextuelles Wissen rekurriert und inwiefen die Situation und der Briefanlass die Beziehung der Kommunikantinnen tangiert53. Die Situation, die der Brief voraussetzt, ist mit wenigen Strichen nachzuzeichnen und in der Forschung unstrittig, wenn man sich auf die im Brief genannten eindeutigen Daten beschränkt54. Aus Philippi 52

Ähnlich folgert Haufe, „ d a s s Paulus z. Zt. des iThess ... stärker .kollektiv' lebt und denkt als später. Missionsarbeit ist Team-Arbeit!" ( i T h e s s , 3). Zahlreiche andere Lösungen können hier nur skizziert werden (vgl. auch die vorigen A n m . ) : Börschel verweist auf ein „ M i s s i o n s t e a m " , erkennt aber ein besonderes Verhältnis Pauli zu seinen Gemeinden, der der „signifikante Andere schlechthin" sei (2001, 1 3 7 ; z u m Ansatz s. § 1.2.1.2), bezieht dann aber inkonsequenterweise z.B. 2,7ft speziell auf Paulus. Holtz i T h e s s , 14.116 f argumentiert ähnlich w i e hier, spricht aber auch nur von Paulus als Autor. Malherbe 1 Thess, 86-89 weist darauf hin, dass die l.Pers.Pl. " i s balanced by the pronoun hymeis" (88). Sie sei charakteristisch f ü r Paränese und gebe dem Brief " a w a r m tone" (89); die Nennung der Mitabsender erinnere an ihre Rolle, schließe aber die einzigartige Beziehung des Paulus zur Gemeinde nicht aus (ebd.). Originell, aber unbeweisbar ist die These Binders 1990: Die Mitabsender kämen auch zu Wort, in 2 , 1 - 1 2 verteidige sich z.B. Silvanus, denn dass die Anschuldigungen gegen Paulus gerichtet seien, sei undenkbar. - Üblicherweise w i r d aber in der Ausleg u n g Paulus zum alleinigen Autor des Briefes, so etwa bei L y o n s 1 9 8 5 , 1 7 9 t mit A n m . 7 (Lit!); Wanamaker 1 Thess, 67t (die A n f ü h r u n g der anderen im Präskript diene der Mehrung der Autorität und der Autorisierung des Briefüberbringers). - Andere votieren dafür, dass jeder Plural als solcher zu lesen sei. So behandelt R.F. Collins (1984c, 1 7 8 - 1 8 0 ; mit ihm Johanson 1987, 51) z w a r Paulus als den Autor, der die Formulierungen wählt, aber schließt einen Unterschied "between Paul and his companions in the w o r k of evangelization" aus (182). Dennoch spricht Collins in seiner Interpretation der Selbstsicht des Paulus nur noch von diesem. Nach Byrskog (1996, 2 3 6 - 2 3 8 ) präsentiere der "collective letter" durch den "real p l u r a l " die drei Sender " a s on the same l e v e l " (238). Gegen diese einfache Erklärung sprechen aber die oben zusammengetragenen Beobachtungen zur Vorordnung des Paulus. - Es überwiegt im übrigen die unreflektierte Lektüre des Briefes als von „ P a u l u s " .

53

Diese Frage nach der „rhetorischen Situation" (vgl. §2.1.1 A n m . 3 zu diesem Konzept) ist unvermeidlich zirkulär und deshalb hier auf das Nötigste beschränkt. Z u m Folgenden vgl. auch Donfried 1993, 25t (die Verfolgung und die Abreise stelle das Evangelium in F r a g e ) ; 1989, 244ff.

54

Das bedeutet vor allem, die Briefsituation, insbesondere die Bedrängnisse, w e g e n der Differenzen zwischen den Darstellungen nicht von A p g 1 7 , 1 - 5 her auszulegen; vgl. Lührmann 1990, 2 3 7 - 2 4 1 ; Hughes 1990, 96ft; v o m Brocke 2 0 0 1 , 1 5 3 - 1 5 5 ·

264

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

kommend (2,2) haben Paulus, Timotheus und Silvanus bei einem Aufenthalt in Thessalonich vornehmlich Heidinnen 55 zum christlichen Glauben bekehrt, sind aber schneller als erwünscht abgereist (2,17), bevor das Gemeindegründungswerk vollendet schien (3,10). Die Trennung wird im Brief als schmerzhaft dargestellt (vgl. 5.1 ad 2,1/f), als Gefährdung des Glaubens (vgl. 5.2 ad 3,1-13). Versuche des Paulus, die Gemeinde bald darauf wieder zu besuchen, scheitern (2,i7f). Paulus sendet aus Zweifeln an der Glaubensgewissheit Timotheus aus Athen wieder in die mazedonische Stadt (3,if). Beunruhigend waren nicht näher bezeichnete Nöte der Gemeinde (θλϊψις i,6; 3,4; vgl. 2,14). Nach der Rückkehr des Timotheus schreiben die drei Missionare den Brief (1,1; 3,6), der freilich den ersehnten Besuch des Paulus nicht ersetzt (3,iof, vgl. 2,i7f) 56 . Der Brief scheint bald nach dem Gründungsbesuch abgefasst 57 . Auch wenn der Brief keinen „referentiellen", „dogmatischen" Teil hat, kommt den Adressanten eine hervorragende Bedeutung für die Wissensvermittlung an die Adressatinnen zu. Die Kommunikationsbeziehung besteht nicht nur um ihrer selbst willen, sondern zur Weitergabe des Evangeliums und seiner Vergewisserung. Dass der Brief zwischen diesen beiden Aspekten, der Beziehung und dem Evangelium, nicht trennt, ist elementares Mittel seiner persuasiven Strategie. Als Opfer der Strategie nehmen wir diese Verknüpfung in der Regel nicht wahr, sondern halten sie für natürlich gegeben. Darum sei sie in zwei Hinsichten offengelegt. 1 ) Die Absender waren und sind nach Darstellung des Briefes als Missionare der Adressatinnen die primären Vermittler des Evange-

55

Dass die Gemeinde hauptsächlich aus Heidinnen besteht, ergibt sich aus Holtz 1 Thess, 10.

; vgl.

56

Sie schreiben eventuell noch aus Athen oder, wenn man die Angaben des Briefes mit denen der Apg zur zweiten Missionsreise kollationiert, aus Korinth, dann um das Jahr 50 n.Chr. Vgl. Börschel 2001, 32-34; Jewett 1986, 4gff; Holtz 1 Thess, 15.19 und 20-23 zu anderen Datierungen. Weitere Vertreter dieser Datierung bei Schnelle 1999, 59 Anm.89. Eine frühere Ansetzung des Briefes (z.B. um 10 Jahre früher durch Lüdemann 1980, 183-195.263^ vor 47/48 durch Gnilka 1996, 64-71.313; um 43 durch Donfried 1993, 7ff bzw. 1990, 4 - 8 ) ist für unsere Interpretationsfrage ohne Belang; wichtig ist die relative Chronologie.

57

Die Nähe zum Gründungsbesuch ergibt sich aus der betonten Kürze der Zeit zwischen Abreise und Besuchswunsch 2,17 und der engen Rückbezogenheit auf diesen Gründungsbesuch; vgl. weiter Holtz 1 Thess, 11.

Zum Anlass des ι Thessalonicherbriefes

265

liums58. Mit den auffallend häufig verwendeten Metabegriffen εύαγγέλιον, Λόγος und πίστης wird diese Wissensweitergabe bezeichnet. Im Mittelpunkt der Botschaft stehen die Erwählung und der Grund der Hoffnung, Theologie und Eschatologie existentiell und politisch als Infragestellung von Herrschaftsideologien 59 ausgelegt. Der Brief verknüpft das Evangelium subtil mit der Beziehung zu den Adressatinnen, ohne jedoch einen sachlichen Zusammenhang zwischen dem Evangelium und seinen Botschaftern zu explizieren, geschweige denn zu begründen. Das Evangelium wird durchgängig als Äußerung des Paulus und seiner Mitarbeiter präsentiert (vgl. genauer 3.1). Die Benennung der Botschaft als εΰαγγέλιον ήμών (1,5) fasst bestens zusammen, was der Brief damit übermittelt (vgl. auch 2,13). Auch die Begründung des Besuchswunsches: „euch zu sehen von Angesicht und die Lücken eures Glaubens aufzufüllen" (3,10) zeigt dieselbe Prämisse: Diese Missionare, am besten persönlich anwesend, nicht andere Menschen oder Texte, haben das Wissen vermittelt und sind in dieser Funktion immer noch vonnöten. Die Christusgläubigen in Thessalonich sind nach der Darstellung des Briefes angewiesen auf Evangelium und Missionare als eine notwendigen Einheit. Auch da, wo das Evangelium zweifelhaft geworden sein mochte, angesichts der Todesfälle, wird zwischen den Missionaren und ihrer Botschaft nicht unterschieden. Das Problem liegt nach Darstellung des Briefes im Mangel an Wissen, nicht am Evangelium und seiner Vermittlung 60 . Dass die Kompetenz des Verfassers zur Problem-

58

Während dieser Zusammenhang hier als Suggestion und rhetorische Strategie des Briefes erhoben wird, hat Börschel (2001) ihn in einer Analyse der Thessalonicherbriefe als Niederschlag eines allgemein gültigen Sozialphänomens aus wissenssoziologischer Perspektive dargestellt. So kann sie die Rolle der Missionare für die Übernahme der Botschaft durch die Konvertiten, d.h. für die Identitätskonstruktion des einzelnen und der Gemeinschaft, prinzipiell begründen (vgl. § 1.2.1.2).

59

Die Annahme, dass das Evangelium von der Erwählung Gottes die herrschende politische Sinnkonstruktion in Frage stellt, wird nahegelegt durch die Adaption politisch konnotierter Termini für die Symbolwelt (vgl. χάρις, ειρήνη, εκκλησία, βασιλεία θεοϋ, παρουσία Ίησοϋ, εύαγγέλιον). Insbesondere die Kritik an der Parole von „Frieden und Sicherheit" (5,3) deutet darauf hin. Vgl. zu „pax et securitas" als augusteischer Parole vom Brocke 2001,167ft, zur politischen Dimension insgesamt Harrison 2002 und bereits Donfried 1996; nach ihm sind auch 1,10; 2,12; 4,7; 5,24 Konkurrenzaussagen zur römischen religiösen Herrschaftsideologie (1996,394).

60

Was das kognitive Problem der Adressatinnen war, kann dahingestellt bleiben. Das überbrachte Evangelium bot ihnen jedenfalls für den Tod von christlichen Geschwistern - und auch für ihren eigenen - keine Deutung, und die eschatologische Heilsbotschaft drohte, ihre Zukunftsverheißung zu verlieren. Mit der Einleitung ϊνα μή λυπήσθε καθώς οί λοιποί οί μή εχοντες ελπίδα (4,13b) wird das Problem vom Ver-

266

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

lösung anerkannt ist, wird ohne Weiteres vorausgesetzt. Das Fehlen jeglicher Explikationen und Legitimation „naturalisiert" die Einheit von Botschaft und Botschaftern machtvoll61. 2) Der Brief lässt deutlich das Anliegen erkennen, auf Bedrängnisse, θλίψεις der Gemeinde zu reagieren, die sie als Folge ihres Christwerdens erleiden (1,6; 2,14-16; 3,1-6). Aus der Sicht des Briefschreibers können diese Nöte den Glauben gefährden (vgl. bes. 3,1-10) und betreffen damit die Beziehung zwischen den Kommunikantinnen. Die Wiederaufnahme des Kontakts ist daher ein Gegenmittel gegen die Gefahr: Ein Besuch bzw. die Entsendung des Timotheus sollen bestärken, und auch der Brief selbst soll das. Allerdings legt das Schreiben nur die eine Seite des Zusammenhangs zwischen Beziehung und Bedrängnissen offen, die Verarbeitung des Leidens aufgrund der Verbundenheit und der gemeinsamen Hoffnung. Es verschweigt, dass das Leiden erst mit der Beziehung und dem gemeinsam geteilten Glauben entstand62. Möglich wäre ja, den neuen Glauben und die Beziehung zu den Missionaren aufzugeben, um so dem Leiden zu entgehen. Nur indirekt lässt der Brief diesen Zusammenhang durchscheinen, wenn er rückblickend von der inzwischen ausgeräumten Befürchtung erzählt, die Gemeinde hätte den Glauben aufgegeben (3,5). Bevor dies als Problemlösung in den Blick kommen kann, wird es sogleich „verteufelt" (ebd.). Die argumentative Strategie des Briefes wird an diesem Punkt durchschaubar: Er verdeckt den Kausalzusammenhang zwischen Leiden und gegenseitiger Beziehung und stellt diese nicht als Ursache, sondern als Ort der Verarbeitung des Leidens dar.

fasser indirekt als Mangel an christlichem Glaube gewertet (mit Johanson 1987, 120, der es für die in 3,10 erwähnten υστερήματα hält). Ist also der Glaube der Adressatinnen angefochten, so könnte auch die Glaubwürdigkeit der Botschafter des Evangeliums in Frage stehen. Doch die Art der Beantwortung begründet nicht die Glaubwürdigkeit der Antwortenden, sondern setzt sie voraus, obgleich die wesentliche Basis für die Gültigkeit des Argumentes ist, dass die Auskunft έν λ ό γ ω κυρίου zuverlässig ist. Zweifel an der Autorität werden den Lesenden offensichtlich nicht unterstellt. 61

Vgl. zu dieser Strategie Castelli 1991; Hack Polaski 1999; vgl. § 1.2.1.4.

62

Darauf weist Smith 1995, 62 hin: Das Freundschaftsnetzwerk, das sonst Basis des Trostes sein soll, ist hier zunächst deren Ursache.

χ Thess ι,χ-io

267

3 Die dankende Erinnerung als Lob der Adressatinnen und Vergegenwärtigung des Wirkens der Absender (1,1-10) Im brieflichen Eingang 1,1 werden die „Hauptpersonen" der Kommunikation eingeführt. Das Fehlen von Funktionsbezeichnungen der Adressanten in der superscriptio ist unter den Präskripten der Paulusbriefe singulär 63 . Die Kürze der superscriptio ist der erste Beleg für unsere übergreifende These, dass die Verfasser, die Gemeindegründer, ihre Autorität nicht mittels bekannter, konventionalisierter oder gar institutionalisierter Rollen definieren, sondern erst im Vollzug des Briefes unter Rückgriff auf ihr Wirken während des Aufenthaltes in Thessalonich installieren. Mit der Spezifizierung der Anrede der εκκλησία Θεσσαλονικέων als έν θεω πατρι και κυρίω'Ιησοϋ Χριστώ wird nicht nur der religiöse Grund der Gemeinschaft angesprochen64. Die funktionalen Bezeichnungen „Vater" und „Kyrios" stellen Gottes universale Bedeutung heraus und legen den impliziten Leserinnen nahe, auch diesen Brief in diesem Horizont zu lesen65. Auch der Wunsch von χάρις und ειρήνη verweist auf diesen religiösen Horizont, ist aber zugleich Ausdruck des Anspruches der Absender 66 . 1,2-2,16 dient der „Re-Konstruktion der idealen Kommunikationsgemeinschaft" 67 . Diese Intention wird deutlich erkennbar, wenn man die eingangs der Danksagung 1,2-10 entworfene „Vierecksbeziehung" zwischen Gott und Christus, den Verfassern, den Angeredeten und

63

Die Auslegungen gehen meist davon aus, dass ώς Χρίστου απόστολοι in 2,7 dieses Manko füllt (vgl. etwa Bickmann 1998, 175; Börschel 2001, l i i f f ; Holtz iThess, 37). Doch dort geht es nicht um einen apostolischen Autoritätsanspruch, sondern das Unterhaltsrecht, vgl. 4.2 z.St.

64

Zu dieser für die Paulusbriefe ungewöhnlichen adscriptio vgl. Holtz iThess, 38; Donfried 1996, 39off. Er macht wahrscheinlich, dass die Bezeichnung εκκλησία noch kein christlicher terminus ist, sondern in Analogie zu anderen öffentlichen Versammlungen "an actual assembly gathered in Thessalonica" anspricht und dieses von paganen römischen abgrenzt (a.a.O., 393). Die später im Brief zu beobachtende Abgrenzungsrhetorik (vgl. unten 6.) beginnt dann bereits im Präskript mit der Absetzung gegen politische Herrschaftsansprüche (vgl. Anm.59).

65

Mit Bickmann 1998,150.

66

Wer segnet, vertritt letztlich Gott, von dem der Segen ausgeht; mit Schnider/Stenger 1987, 35; Bickmann 1998,151.

67

Bickmann 1998, 204ft, Zitat 204. Darin entspricht meine Lektüre der Bickmanns. Ich folge ihr aber nicht in der Deutung des Paulus als weisheitlichen Lehrers (vgl. 7.1.1).

268

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

den „ G l ä u b i g e n in M a z e d o n i e n u n d A c h a i a " u n d M e n s c h e n „allero r t s " ( i , y f ) verfolgt, w a s hier nur g e r a f f t dargestellt w e r d e n kann. 1 ) Die bereits im Präskript benannte Beziehung der Gemeinde zu Gott und Jesus Christus wird vergegenwärtigt, jedoch nur, soweit sie durch die Briefschreiber als Missionare gestiftet wurde. Ebenso führt der Text die Wirkung der Evangeliumspredigt als macht- und geistvolle Erfahrung auf diese Missionare zurück (V.5). Das unterstreicht V.9: Der „Eingang" (είσοδος) der Missionare unter ihnen hatte besondere Qualität (όποια). 2,iff erinnert dann ausführlich an dieses Auftreten. 2) Die Darstellung des Glaubensbeginns der Gemeinde als „Bekehrung" (έπιστρέφειν) bietet nicht nur implizit einen Beleg für die Richtigkeit dieser Entscheidung, indem sie den wahren, lebendigen Gott und seinen rettenden Sohn statt der Götzen als Ziel nennt (1,9). Sie erinnert auch, dass die heil volle Gottesbeziehung vorher nicht bestand68. 3) Wenn die Wirksamkeit der Evangeliumsverkündigung in der Gemeinde doppelt gewürdigt wird (1,6-10), bleibt die Rückbindung an die Evangelisten präsent: Erstens deutet 1,6 die Annahme des Wortes trotz Widrigkeiten als Nachahmung der Missionare, denen die Mimesis des „Herrn" nachgeordnet ist. Zweitens wird es als Konsequenz dieser Vorbildfunktion der Missionare dargestellt (ώστε V.9), dass die Gemeinde selbst zum Vorbild für weitere Gläubige wird (1,7-9) u n d damit die Missionsaufgabe übernimmt (i,8fin) 69 . Entsprechend wird als Inhalt des λόγος nicht nur der Gottesglaube der Adressierten und ihre Bekehrung angegeben (V.8.9f), sondern auch der „Eingang" der Missionare bei ihnen (περί ήμών ά π α γ γ έ Λ λ ο υ σ ι ν οποίαν εί'σοδον εσχομεν πρός ύμας, V.ga.b). 4) Hatten die Verfasser so die Gemeinde auf Gott ausgerichtet, machen sie auch jetzt nach eigenem Bekunden Gott in ihrem permanenten Gebet auf Glauben, Mühe, Liebe, Geduld der Gemeinde aufmerksam (i,2f) 70 . 5) Der Kausalzusammenhang zwischen den Bedrängnissen und der Aufnahme der Missionare und ihrer Botschaft (vgl. 2.2) wird nicht thematisiert. Das Problem des Leidens wird V.6f dreifach bearbeitet: Das von der jungen Gemeinde erfahrene Leiden wird in den Zusammenhang mit der Annahme des Wortes gestellt, so dass es den Charakter der unumgänglichen Begleiterscheinung erhält 71 ; als Nachahmung „unserer und des Herrn" (V.6) und als vorbildlich für andere (V.7) wird es überdies positiv gewürdigt. Das

68

Für eine jüdische Gemeinde christlichen Glaubens wäre dies so nicht darstellbar.

69

Diese Ausbreitung des λόγος durch die Gemeinde von Thessalonich wird herausgearbeitet durch die syntaktische Inklusion der correctio, welche die Aufhebung der Ortseinschränkung betont (vgl. Bickmann 1998,159t; dort weitere Literatur).

70

Es ist umstritten, ob der Textteil als Dankgebet oder als Bericht vom Dankgebet aufzufassen ist (vgl. zur Diskussion Johanson 1987, 6γί). Liest man den Text als Gebet zu Gott, ist er sogar eine aktuelle Beziehungsknüpfung zwischen Gemeinde und Gott. Dies wird in 3,3 t expliziert.

71

ι Thess ι,χ-io

269

Leiden erhält so eine beziehungsstiftende Qualität 7 2 . Durch das Oxymoron έν θλίψει πολλή μετά χαρας 7 3 wird es schließlich relativiert: Es ist der eschatologischen Freude 7 4 unterlegen. 6 ) Das doppelte Gedenkmotiv ( V . 2 f ) dient nicht nur der Philophronesis 7 5 , sondern verbalisiert, was der Gebetsbericht indirekt erreicht durch die Vergegenwärtigung des Wirkens der Missionare: Die räumliche Trennung wird überwunden. Als „Erzähler"

der Anfangsgeschichte76 u n d deren Echo tragen

die

A b s e n d e r a l s o i h r e V e r s i o n v o r a l s T a t s a c h e n b e r i c h t m i t s i c h s e l b s t in einer Hauptrolle. Obgleich die G e m e i n d e eine unmittelbare

Gottes-

b e z i e h u n g einging77 u n d o b s c h o n die Missionare abgereist sind, schreib e n diese sich n o c h einmal u n ü b e r s e h b a r u n d u n ü b e r g e h b a r in die G e s c h i c h t e e i n . S o p r ä s e n t i e r e n s i e s i c h n i c h t n u r als d i e j e n i g e n , d e n e n die A d r e s s a t i n n e n in Thessalonich ihre B e k e h r u n g v e r d a n k e n , sondern suggerieren ihre bleibende Bedeutung.

72

Vgl. zu einer entsprechenden Einbindung der Leidensaussagen im Phil Wolter 1990. In 1 Thess 1 wird allerdings nicht wie im Phil eine Freundschaftsbeziehung (κοινωνία), sondern durch die μίμησις-Relation eine hierarchische Beziehung aus dem geteilten Leid abgeleitet.

73

Vgl. zum Oxymoron Wuellner 1990,118 ff, zur Beschreibung der Sinnlinie durch den ganzen Brief als Bearbeitung der Leiderfahrung Bickmann 1998, i9off.233ff. Zum Konzept der Freude im Leiden und ihrer eschatologischen Wirklichkeit vgl. Klaus Berger, Art. χαρά, in: EWNT 3 (^992) 1087-1090:1089t.

74 75 76

77

Vgl. § 2.2.2.5. Die Perspektive auf den impliziten Briefautor als Erzähler (vgl. N. Petersen 1985, s. §1.2.1.4) lässt erkennen, wie sehr der Autor seine „Geschichtsmächtigkeit" einsetzt, z.B. bei der Verteilung von Rollen und Herstellung von Zusammenhängen. Dass die Gottesbeziehung unmittelbar ist und von Gott erschlossen wurde, ist deutlich mit ήγαπημένοι ύπό θεοϋ, έκλογή ύμών (1,4) angesprochen. Unbenommen dessen gelten die hier notierten Beobachtungen über die Bedeutung der Missionare für das Zustandekommen der Beziehung. Ein Ausgleich der Aussagen in dem Sinne, dass auch das Wirken der Missionare auf Gott zurückzuführen sei (so etwa Malherbe 1995,118 f), ist im Text gerade nicht angelegt.

270

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

4 Wie Mutter und Vater. Die Erinnerung an den Einsatz der Missionare in Thessalonich (2,1-12) Die im folgenden ausführlich analysierte Passage ist für uns von besonderem Interesse aufgrund der rückblickenden Vergleiche der Absender mit einer Amme und Mutter (2,7-9 )y8 sowie einem Vater (2,10-12). Die Auslegungen diskutieren vor allem, ob der Verfasser sich mit populärphilosophischen Traditionen auseinandersetzt und ob er apologetisch argumentiert oder paränetisch, ob er also an einer aktuellen Front kämpft oder mit der Präsentation seines Ethos ein Vorbild entwirft. Wir werden aufgrund der Interpretation der Vergleiche (4.2 und 4.3) die Familienfiktion und die beziehungsstiftende Bedeutung des Abschnittes herausarbeiten (4.4).

4.1

Das Auftreten der Missionare im Unterschied zu dem anderer Prediger (2,1-6)

In 2,1-12 wird der Absender zum Erzähler dessen, was er zunächst in einer praeteritio übergangen hatte (i,8fin), freilich bereits unter Hinweis auf dessen Bedeutung ( O L O L ...1,5; όποια είσοδος V . 9 ) . Die Missionare selbst werden zum Gegenstand, und der Autor erzählt nicht nur aus seiner Perspektive, sondern weiß sogar um Gottes Einschätzung. Diese „aktoriale Fokalisierung" sucht bei den Lesenden Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Nur wenn in 2,7t.10 ff Motive des Handelns genannt werden, wird die Fokalisierung „intern" und gezielt subjektiv, um die

78

Für die hier entfaltete Auslegung ist die sachliche, durch das γ ά ρ angezeigte Zusammengehörigkeit von V.9 zu V.-ji von größter Wichtigkeit. Viele Auslegerinnen machen eine Zäsur zwischen V.8 und V.9; so z.B. Kennedy 1984,142t ( V . 1 - 8 refutatio - V . 9 - 1 2 narratio); Jewett 1986, 73 (V.3-8 "apostolic ethos" - V . 9 - 1 2 "apostolic behavior"); Bickmann 1998; Klauck 1998, 273; Johanson 1987, 87; Hughes 1990, liof und mit ihm Donfried 2000b, 48ff (V.3-8 "Concerning Paul's Activity at Thessalonica" - V . 9 - 1 2 "Concerning Paul's Behavior at Thessalonica"); Bruce iThess, 33. Neben der angeblichen inhaltlichen Differenz wird die erneute Anrede mit αδελφοί in V.9 als Textsignal für den Einschnitt angeführt. Die Anrede ist jedoch kein eindeutiges Signal, denn sie fällt auch in 1,4; 2,14; 3,7; 4,10 innerhalb eines Zusammenhanges. Hingegen markiert der asyndetisch angefügte Nominalsatz V.ioa, der semantisch an den Beginn des Abschnitts 2,1 erinnert, eine kleine Zäsur zwischen V. 9 und V.10. Der Vatervergleich steht nicht in innerem Zusammenhang mit der Unterhaltsfrage, es sei denn, man inferiert die Assoziation von Vater und Gelderwerb, von der im Text nichts steht (so aber z.B. Aasgaard 2004, 288). Mein Hauptargument für den Zusammenhang von V.7f und V.9 ist die inhaltliche Kohärenz (vgl. 4.2).

ι Thess 2,1-6

271

innere Haltung der Absender zu den Adressierten besonders herauszustellen^. Erzählte Zeit und Erzählzeit des Briefes werden eng miteinander verknüpft durch Rekurse auf das Wissen bzw. Appelle an die Erinnerung der Adressatinnen (2,1.2.5.9). Dies betont die Identität der Briefpartner mit den Aktanten der Erzählung. Auch die allgemeine Aussage V.3f 8 ° überspannt erzählte Zeit und Zeit der Erzählung. Der Text unterstellt, dass der Informationswert der Verse für die Adressierten gering ist, und heischt Zustimmung. Dies und die 2,1-6 beherrschenden Abgrenzungen gegen ein als schlecht bewertetes Verhalten lassen den Text apologetisch erscheinen, allerdings nicht gegenüber den Adressierten. Argumente sprechen für die Richtigkeit der Aussage V.if, obwohl diese durch den betonten Anfang αύτοί γ α ρ οί'δατε, αδελφοί eigentlich schon gesichert schien. Der Eingang der Missionare war nicht „substanzlos, Inhalt vortäuschend" 81 , sondern sie haben das Evangelium Gottes trotz Widerständen und Anfeindungen offen und mutig 82 verkündet (V.2). Der Hinweis auf die Leiden in Philippi setzt

79

Ich nehme hier von Genette angeregt eine Differenzierung der Erzählmodi in Bezug auf die Fokalisierung auf: Zu unterscheiden sind aktoriale oder Nullfokalisierung (der Erzähler weiß mehr als die handelnden Figuren), interne Fokalisierung (der Erzähler weiß etwa soviel wie eine Erzählfigur) und externe Fokalisierung (der Erzähler weiß weniger als eine Erzählfigur); vgl. Martinez/Scheffel 2000, 64t.

80

Während V.3 als Nominalsatz die Zeit offen lässt, ist V.4 eindeutig präsentisch.

81

So ist κενός am besten zu deuten wie in 1 Kor 15,14; Eph 5,6; Kol 2,8; vgl. Dobschütz 1 Thess, 83 (inanis, nicht vanus); Malherbe 1 Thess, 135 f. Das negierte Adjektiv ist vieldeutig, wie die Zahl an Deutungen zeigt. Eine Qualifikation des Missionserfolges, wie die verbreitete Wiedergabe mit „vergeblich" annimmt entsprechend dem sonstigen paulinischen Gebrauch, gerade in der Laufmetaphorik (P.-G. Müller 1 Thess, 124; Bickmann 1998, 186; Reinmuth 1991, 103), ist allerdings durch die vorliegende Opposition zu παρρησιάζεσθαι trotz Widrigkeiten (V.2) ausgeschlossen. Auch die folgenden Verse handeln, anders als Kap.i und 2,13, nicht vom Erfolg der Missionare, sondern von ihrem Verhalten, ihrer Glaubwürdigkeit, Integrität, sie können also eine Aussage über die Wirkung der Evangelisation gar nicht belegen. Qualifiziert wird vielmehr die Botschaft, für die είσοδος metonymisch steht. Manche Ausleger wollen in κενός bereits einen Hinweis auf die Göttlichkeit der Botschaft sehen; vgl. so Lyons 1985, I92f: 1,5 aufgreifend und 2,13 antizipierend besage es: "Our visit to you was not without the power of God", im Gegensatz zur früheren Idolatrie der Konvertiten (192t, Zitat 193); ähnlich Holtz 1 Thess, 66. - Andere sehen eine Qualifizierung des Motivs der Missionare (so Weima 1997, 94 mit Anm.58, dort weitere Literatur); vgl. Stegemann 1985, 40if: ού κενός sei von der Opposition zum Leiden her zu verstehen und bedeute Authentizität, dass die Predigt und das Leben übereinstimmten; vgl. ähnlich auch Donfried 2000b, 47. Noch anders liest Haufe 1 Thess, 34: „Die Missionare trugen das Evangelium ,nicht verzagt', ,nicht kraftlos' vor."

82

παρρησιάζεσθαι kann unterschiedliches, aber stets positiv konnotiertes offensives Verhalten bezeichnen. Zur Bedeutung vgl. Heinrich Schlier, Art. παρρησία κτλ., in:

272

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

nicht nur die Sinnlinie „Arbeit/Kampf, Leiden" 83 fort, sondern verdeutlicht als „Argument mit dem Opfer" den Einsatz84. Im Tenor der semantischen Opposition κενός - παρρησιάζεσθαι belegen Gegensätze die These von V.i: Täuschung, Unreinheit, List, Schmeichelei, Streben nach Ehre von Menschen - und das heißt eigentlich: nach deren Geld - sind die Negativfolie zum Bild vom Handeln und Verhalten der Missionare. In Offenheit, ganz gemäß dem Auftrag Gottes, verkünden sie dessen Evangelium. Gott selbst prüft die Lauterkeit der Absichten, auch derer, welche die Menschen nicht durchschauen (V.4). Dies ist die einzige Aussage des Briefes über die Beauftragung der Missionare von Gott. Sie fällt auch sprachlich aus dem Rahmen, durch den Genus-, Tempus- und Perspektivwechsel und die amtlich klingende Formulierung δεδοκιμάσμεθα ... πιστευθήναιτό εύαγγέλιον 8 5 . So entstehen zwei alternative Beziehungsmuster. Die negative Variante stellt eine egoistische Zweierbeziehung zwischen Prediger und Adressatinnen dar: Die Predigt ist den Menschen vordergründig angenehm, verweist aber nicht auf etwas anderes und ist insofern „leer", sachlich und ethisch falsch. Sie kommt nur dem Prediger zu Gute, dem die Achtung der Menschen und ihr Geld zufließen sollen. Mit Widerständen muss solche Botschaft nicht rechnen, ganz im Unterschied zu der positiven Dreiecksrelation. Die Missionare sind bar ThWNT 5 (1954) 869-884: Es bezeichnet die Tugend, unter Freunden schonungslos ehrlich zu sein, statt zu schmeicheln (a.a.O., 871,33ft), die politische Redefreiheit (87o£), in popularphilosophischer Verwendung die moralische Unabhängigkeit (872/uif). Nach P.-G. Müller iThess, 125 ist wie in der LXX-Verwendung implizit gesagt, dass Gott die παρρησία gibt: „Wir gewannen freien Mut durch unseren G o t t " ; ähnlich Dobschütz iThess, 84. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Merk 2000, 103: "It (sc. π α ρ ρ η σ ι ά ζ ε σ θ α ι ) expresses an openness to God and humankind that reflects for the preacher of the message the eschatological dimension of the gospel that allows one to make a free decision for faith." Nach Fredrickson 1996, bes. I7iff ist es allerdings in der philosophischen Tradition zu lesen, d.h. im Kontext freundschaftlicher Rede, und έν τω θεω ή μ ώ ν gibt Gott als den Ursprung der Rede an. 83

Mit Bickmann 1998, 190 u.ö. Was έν π ο λ λ ω ά γ ώ ν ι (2,2fin) bedeutet, ist und bleibt offen; zu Möglichkeiten (Wettkampfmetaphorik, Hinweis auf Auseinandersetzungen, Ängste etc.) vgl. die Diskussion bei Wanamaker 1 Thess, 93; Poplutz 2004, 2 3 0 234.

84

Vgl. Perelman 1980, 83f; Siegert 1985,59 zu diesem argumentativen Topos.

85

Z u r technischen und juridischen Verwendung von δ ο κ ι μ ά ζ ε ι ν im Sinne der offiziellen Uberprüfung eines Menschen für eine bestimmte Funktion vgl. R.F. Collins 1984c, 187t (es erinnere an den "trusted secretary", 188); vgl. Denis 1957, 287ff. Börschel überschätzt 2,4 als wensentliche Legitimationaussage, eventuell aufgrund ihrer Fehlübersetzung von δεδοκιμάσμεθα ... π ι σ τ ε υ θ ή ν α ι mit „Gott hat uns für wert erachtet, das Evangelium anzuvertrauen" (2001,117).

ι Thess 2,1-6

273

jeglicher persönlicher Motive, von Gott beauftragt, die Menschen auf Gott auszurichten. Diese Vermittlerrolle hat Gott initiiert, und er überprüft ihre Redlichkeit. Dass die Gemeindegründer ihre Arbeit trotz Angriffen fortführen, unterstreicht ihre Wahrhaftigkeit. Die Charakteristik des negativen Verhaltens und des positiven παρρησιάζεσθαι bedienen sich, wie in der Sekundärliteratur vielfach belegt, der Diskussion über richtige und falsche Wanderprediger 86 bzw. reisende Redner und Sophisten87. Man kann sie auch im jüdischen Paradigma als Widerspruch gegen den Vorwurf der falschen Prophetie lesen. Dies setzt allerdings jüdische Polemik gegen die Missionare voraus 88 . Beide Möglichkeiten müssen sich nicht ausschließen: Der falsche Prophet und der schlechte Philosoph, der Scharlatan, können auch zusammen als Negativbeispiel dienen89. Für unsere Fragestellung ist bedeutsam, ob der Text die Funktion und Beziehung der Missionare gegenüber der Gemeinde entlang einer bekannten Rolle oder auch in Abgrenzung zu einer solchen entwirft. Dies ist zum Schluss der Auslegung abzuwägen. Seit Malherbe wird vertreten, dass sich auch das folgende Bild von der Amme der popularphilosophischen Topik verdankt. Deren Analyse wird ein differenzierteres Urteil erlauben.

86

Vgl. den Nachweis über die einschlägige Verwendung von παρρησία, δόλος, ύβρίζειν, πλάνη, κολακεία sowie des Geldthemas bei Malherbe 1 Thess, i34ff; vgl. R.F. Collins 1984c, 185t; Schmeller 2001, 139-145. Textbelege bietet der Neue Wettstein 2/1, 771-774.

87

Diese präzisere Bestimmung der Vergleichsgröße nimmt Winter 1993 vor. Auch Redner, die in die Stadt kommen, suchen Ruhm, können schmeicheln (insbesondere durch Enkomien) und wollen Geld verdienen.

88

So vor allem Sandnes 1991, 199M, der sich im Anschluss an Horbury 1982 vor allem auf V.3 stützt (zu älteren Vertretern ähnlicher Thesen vgl. Sandnes a.a.O., 199). Signalworte für den Topos richtiger und falscher Prophetie können π λ α ν ή und ακαθαρσία sein. Sandnes versucht eingehend zu belegen, dass es eine jüdische Front gegen Paulus in der Stadt gab. Die positive Seite dieser These hat insbesondere Denis 1957 aufgrund der Semantik einzelner Terme in 2,1-6 entfaltet: Paulus stilisiere sich hier mit Worten der Gottesknechtslieder in der Tradition der Propheten, aber nun als «prophete des gentils» (so der Titel), der der Trösterfunktion (Jes 40,1) nachkomme. Die aktuelle Mission sei freilich auch in den Heiden verständlichen Worten formuliert. Zur Kritik vgl. 7.1.1; vgl. auch die Kritik Hennekens 1969, g8f Anm.72, der seinerseits ein prophetisches Selbstbewusstsein annimmt.

89

Sandnes 1991, 2i4f nennt Beispiele, wo sophismus- und prophetenkritische Topoi zusammengehen; vgl. ähnlich bereits R.F. Collins 1984c, 185-191.

274

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

4.2 Mutter Paulus und ihre Kinder (1 Thess 2,7-9) Der Ammenvergleich 90 bietet den Exegetlnnen einige Probleme 91 . Fast einhellig jedoch lesen sie ihn als Aussage über die Liebe des Apostels zur Gemeinde 92 . Ich liste Probleme der Auslegung auf:

90

Es handelt sich u m einen „gerichteten Vergleich", da nicht eine Größe auf eine andere projiziert w i r d wie in einer Metapher, sondern z w e i Beziehungen miteinander verglichen werden mit dem Ziel, die eine zu verdeutlichen (s. § 3 . 4 ; Kuschnerus 2002, 46f). Bildspender und -empfänger sind allerdings syntaktisch eng verknüpft, weil der έάν-Satz nicht mit einer A u s s a g e über den Bildspender, sondern über den Bildempfänger weitergeführt wird. Da das „tertium comparationis" nicht offen liegt, wie die Auslegungsvarianten zeigen, gleicht der Auslegungsprozess der Deutung einer Metapher, wie die A u s s a g e auch in der Literatur meist als Metapher aufgefasst wird.

91

Vgl. den Tadel Holtz'. Er formuliert die in der Exegese verbreitete Kritik an den paulinischen Bildern so, dass Paulus gleich entschuldigt ist: „ M a n muß eine Ungeschicklichkeit in der Ausdrucksweise annehmen ... Der Bildgebrauch des Paulus zeichnet sich auch sonst durch Ungeschicklichkeit aus; es w i r d ihm das aus der Anschauung stammende Verständnis [sc. f ü r die Mutter resp. A m m e ] gefehlt h a b e n " (1 Thess, 82f).

92

In der Regel sehen die Auslegerinnen den Vergleich mit b z w . die Metapher von A m m e oder Mutter in V.7b realisiert, mit Nachhall in V.8. Wenn V . 6 ~ 7 a hinzugezogen wird, w i r d es aufgefasst als die negative Möglichkeit, deren Gegensatz der Vergleich ausdrücken soll, nämlich gravitätische Würde. V.9 habe mit dem Unterhaltsverzicht ein neues Thema (explizit Dobschütz 1 Thess, 96; Marshall 1 Thess, 70; auch sonst in der A u s l e g u n g vollzogen. Holtz 1 Thess, 85 sieht z w a r den Z u s a m m e n h a n g zwischen V.9 und V.8, aber keinen zum Ammenvergleich; nach Malherbe gehört V.9 eigentlich z u m Vatervergleich). Skopos des Vergleichs ist die Milde - w e n n in 2,7 ή π ι ο ι gelesen w i r d - , der Gegensatz zu dem έν β ά ρ ε ι ε ί ν α ι (Dobschütz 1 Thess, 93), oder mit V.8 Liebe und Zuneigung mit der Bereitschaft zur Selbstlosigkeit (Dobschütz 1 Thess, 95, vgl. von Allmen 1981, 192: V.8 w e r d e als A n w e n d u n g des Vergleichs gelesen, der die Selbsthingabe aus Liebe ohne Berechnung verbildliche). Nach Gutierrez geht es u m die „mütterlichen" Gefühle Gottes, die Liebe Gottes, die Paulus hier weitergibt (vgl. 1968, ggfi). Für K r u g ( 2 0 0 1 , 1 3 7 f f ) ergibt sich ein Gegenüber von mütterlicher und väterlicher Rolle: Während die Mutter f ü r den Verzicht auf Autorität stehe, verkörpere der Vater diese. Sonst w i r d pauschal auf die "motherly affection for their dear children" (so Frame 1 Thess, 1 0 1 ) verwiesen. Gelegentlich gilt da, w o τροφός mit „ M u t t e r " übertragen wird, als Vergleichspunkt auch, dass sich Paulus verhält wie eine Mutter, die, zum Glück f ü r ihre Kinder, selbst für diese sorge, statt sie anderen anzuvertrauen (Marshall 1 Thess, 70; Gillman 1990, 64: "the intimacy of the personal relationship"). Für Marxsen ( i T h e s s , 45) geht es u m die Hingabe des Paulus an die Thessalonicher. Diese mache die Würde des Amtes aus, nicht die Person, womit Paulus Christus, den sich Hingebenden, repräsentiere. Nach H o p p e stellt Paulus sich hier als den „bergenden G r u n d " ohne hierarchisches Verhältnis dar, aber so, dass er deutlich mache, dass seine Präsenz dem Gedeihen der Gemeinde diene (1998, 2 7 6 t Zitat 276, dort hervorgehoben). - Es dürfte deutlich g e w o r d e n sein, dass der Vergleich anhand von unreflektierten Vorstellungen und Wertungen darüber ausgelegt wird, w a s eine Mutter b z w . A m m e , w a s „mütterliche" Eigenschaft und A f f e k t ist. Aufschlussreich ist besonders die

ι Thess 2,7-9

275

1 ) τροφός und τα έαυτης τέκνα scheinen ein Selbstwiderspruch zu sein. Unklar ist auch, welche Handlung θάλπεiv bezeichnet; das oft übersetzte „stillen" ist kein Denotat des Verbs. Meist übersetzen die Ausleger, im Gefolge des Possessivums τροφός mit „Mutter", wie es von einigen wenigen Verwendungen legitimiert scheint93. Das passe besser zum Vatervergleich und zur Innigkeit der Beziehung, die man sich nicht als die sekundäre einer Amme zu ihren von anderen Müttern anvertrauten Säuglingen vorstellen möchte. „ A m m e " ist als Denotat von τροφός lexikographisch wesentlich besser belegt. Übersetzt man so94, kann man wie Malherbe (s.u.) den Verdacht der sekundären, weniger exklusiven und emotionalen Beziehung ausräumen durch Hinweis auf die positive Bewertung der Ammen. Oder man kann wie Holtz die Differenz zwischen Amme und Mutter verwischen und sagen, dass sich die Vorstellung der ernährenden Mutter in diesem Kontext geradezu aufdränge 95 ; der possessive Gehalt des Pronomens wird dann am besten als rhetorisch nivelliert96.

häufige Annahme, dass eine Amme resp. Mutter den Gegensatz zum gewichtigen Auftreten verbildliche. - Auszunehmen von dieser Kritik sind die Auslegungen Malherbes (1989a) und Gaventas (1990a), die sich ausführlich um Metapherntradition bzw. sozialgeschichtliche Aspekte bemühen, allerdings ebenfalls keine prägnante Aussage finden, und die Stegemanns (vgl. unten). 93

Die Belege, angeführt bei B A A und LSJ s.v. sowie Rigaux 1 Thess, 420, können die Beweislast nicht tragen: Dass τροφός auf eine leibliche Mutter referiert, ist nur in der damals bereits ca. 500 Jahre alten poetischen Verwendung bei Sophokles, Ajax 849 deutlich. Das gut 300 Jahre ältere und ebenfalls poetisch formulierte Zwiegespräch von Theokrit (Idyll 27,66) nennt den Status einer Frau als Mutter und Ernährerin ihrer Kinder im Gegensatz zum Mädchen bzw. zur Jungfrau (παρθένος 27,65) άλλα γ υ ν ή μήτηρ τεκέων τροφός, ούκέτι κώρα. Die vom Geographen Dionysios Byz., Per Bosporum navigatio 2,4 überlieferte Metapher von dem Hafen Maiotis, ήν μητέρα και τροφόν τοϋ Πόντου κατεφήμισε λόγος, belegt mitnichten die Bedeutung „Mutter" für τροφός, sondern stellt zwei Begriffe nebeneinander. In den Scholien zu Plato Ale. 112 Ε (Phaidra als Stiefmutter Hippolyts) ist offensichtlich nicht von der leiblichen Mutter die Rede. Z.T. mit Bezug auf diesen angeblichen Sprachgebrauch (kritisch dazu Holtz 1 Thess, 82 Anm.340) deuten „Mutter" Dobschütz 1 Thess, 96; Marshall iThess, 71; Gillman 1990, 64; von Allmen 1981, 189t mit Anm.93; Haufe 1 Thess, 37; P.-G. Müller iThess, 131; Marxsen iThess, 45; Reinmuth iThess, 126 (Mutter, aber Ernährerin); Lightfoot iThess, 25. Best iThess, 101, Bruce iThess, 31 und Burke 2003,151t sprechen von "nursing mother".

94

Vgl. etwa Bickmann 1998, 181 Anm.106 (Belege); Gaventa 1990a, 20if; Hoppe 1998, 276 f.

95

„Solche Vorstellung (sc. die der sich darreichenden Ernährerin) verbindet sich wie selbstverständlich mit dem Gedanken an die Mutter" (Holtz 1 Thess, 83).

96

So Malherbe 1 Thess, 146 („pathos").

276

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

2) A m ausführlichsten diskutiert wird das textkritische Problem in V.7 97 . Die Lesart νήπιοι wird seit NA 2 6 als ursprünglichere wegen der besseren äußeren Bezeugung favorisiert 98 . Sie ist jedoch, was den Sinn angeht, lectio multo difficilior. Deshalb lesen seit alters viele ήπιοι und erklären νήπιοι als sekundäre Dittographie bzw. Angleichung an den neutestamentlichen Wortschatz 99 . Gedeutet wird dann als Adversation z u V.ja·. Paulus war „milde", obgleich er mit Autorität, gewichtig (έν βάρει) hätte auftreten können. Wie die besser bezeugte Lesart νήπιοι entstand, bleibt aber ein Rätsel. Wird deshalb an νήπιοι festgehalten, so wird dies meist als vom Ammenvergleich unabhängige Metapher erklärt (vgl. unten). 3) Ein weiteres Problem gibt ώς απόστολοι Χρίστου (V.6a) auf: Der Apostelbegriff fällt im 1 Thess nur hier. Klärungsbedürftig scheint, ob Paulus damit von sich allein spricht in der 1. Pers. PI. oder von sich und den Mitabsendern Timotheus und Silas, was schwierig ist, da Timotheus kein Zeuge der Auferstehung war und damit ein Kriterien des Apostels nicht erfüllt100. 4) όμειρόμενοι (V.8a) ist ntl. hapax legomenon und in seiner Etymologie und Bedeutung unsicher 101 . Üblicherweise deutet man wie 97

Die Bewertung der Bezeugung ist klar, die Argumente sind ausgetauscht. Ich wiederhole sie daher hier nicht. Vgl. die genaue Darstellung durch die Überlieferungs- und Auslegungsgeschichte hindurch durch Crawford ("nineteen centuries of puzzlement" 1973, 71); Rigaux 1 Thess, 418; Gaventa 1990a, i94ff; Aland 1989, 287t; ausführlich nun Sailors 2000, 82-88. Die Bewertung der äußeren Bezeugung zugunsten von νήπιοι ist klar (so urteilt Aland ebd., dass die Entwicklung der Überliefung von νήπιοι zu ήπιοι geht; vgl. Metzger 1975, 629f zu bleibenden Divergenzen). Die Argumente innerer Kritik zugunsten von ήπιοι destruiert Weima 2000b, 549ff.

98

So Frame 1 Thess, 100; Crawford 1973; Gaventa 1990a; Morris 1 Thess, 68 f; Gribomont 1979; Bickmann 1998, 178t; Sailors 2000; Weima 2000b; P.-G. Müller iThess, 131; Cherian 2001, 40 und Anm.4; vgl. im einzelnen unten. Die ältesten Rezeptionen des Textes setzen νήπιοι voraus, vgl. dazu ausführlich Gribomont a.a.O.

99

ήποι favorisieren, in der Regel aus inhaltlichen Gründen, u.a. Georg Bertram, Art. νήπιος κτλ., in: ThWNT 4 (1942) 913-925: 920,29ft; Best iThess, 101; Bruce iThess, 29; Dobschütz iThess, 93; Dibelius iThess, 9; Haufe iThess, y j i ) Holtz iThess, 82 mit Anm.334; Hoppe 1998, 274t; Lyons 1985, 198 Anm.83; Malherbe 1989a passim (ohne Diskussion) und iThess, 145; Marshall iThess, 70; Marxsen iThess, 45; Morris iThess, 68f; Neil iThess, 40; Rigaux iThess, 418; Schoon-Janßen 1991, 59; Delobel 1995; Reinmuth 1 Thess, 126; Stegemann 1985, 405 f; Wanamaker 1 Thess, 100; Burke 2000, 75.

100 Einen Zusammenhang von Auferstehungsvision und Aposteltitel stellen i K o r 9,1; 15,8 her; vgl. weiter A p g 1,22. Zur Diskussion insgesamt vgl. Börschel 2001, i25f. Es gibt verschiedene Lösungsvorschläge, z.B. Paulus rede von sich und Silvanus, ignoriere aber Timotheus (Marshall iThess, 69t), oder er rede von sich, schließe aber seine Mitarbeiter mit ein (Holtz 1 Thess, 78). 101 Vgl. BDR § ioi 5 9 : „ist noch nicht geklärt"; Baumert 1987, 552.

ι Thess 2,7-9

277

Ps 62,2Symm und Hi 3,2iLXX im Sinne von „ersehnen, erwarten", übersetzt aber, weil das zum Vergleich nicht zu passen scheint, in 2,7 „liebevolle Zuneigung hegen", vom erwarteten Sinn her102. Diese Paraphrase ist jedoch von der sonstigen Verwendung nicht gedeckt. 5) V.8 scheint eine „merkwürdige Klimax" der Apologie 2 , 1 - 1 2 zu enthalten 103 : Die Glieder τό εύαγγέλιον τοϋ θεοϋ und τάς έαυτών ψυχάς sind in einem Zeugma als Objekte zu μεταδοϋναι so koordiniert, dass die Mitteilung „des eigenen Lebens" über die Mitteilung „des Evangeliums Gottes" hinauszugehen scheint. Das erregt Anstoß104. Ich werde im folgenden eine andere Deutung entfalten, die nicht von der textkritischen Entscheidung, sondern vom wörtlichen Verständnis des Vergleichsfokus und seiner Interaktion mit dem Rahmen ausgeht. Sie beantwortet die dritte und fünfte Frage und löst das erste Problem auf. Denn die Phrase ώς έάν τροφός θάλπη τά έαυτής τέκνα ist wörtlich bestens zu übersetzen: „wie eine Amme ihre leiblichen Kinder hegt". Der Absender vergleicht sich mit einer Amme, die sich als Mutter um ihre leiblichen Kinder kümmert ohne dafür Geld zunehmen. Die argumentative Valenz des Vergleichs liegt darin, den Unterhaltsverzicht der Missionare bei ihrem Aufenthalt in Thessalonich durchsichtig zu machen auf die sich in ihm ausdrückende „mütterliche" Hingabe an die Gemeinde. Dieses Verständnis setzt eine andere Interpunktion als NA 2 7 voraus. Sie entspricht der Verszählung und erstellt einen anderen Sinnzusammenhang als die übliche Deutung. V.7a.b.c werden als ein Satzgefüge gelesen und der Aussagezusammenhang von V.7 bis V.9 gefasst, wie auch das γ ά ρ in V.9 eine kausale Fortsetzung indiziert 105 . 102 Holtz 1 Thess, 83; vgl. B A A Sp.1146 s.v.: „liebevolle Gesinnung hegen". 103 So Gillman 1990, 62, mit deutschem Zitat ohne Herkunftsangabe. 104 Vgl. etwa die Korrekturbemühungen von Holtz 1 Thess, 84. Für ihn ist klar, dass das Evangelium die eigentliche Gabe ist und die Trennung der Person vom Evangelium künstlich: Paulus „hebt damit die persönliche Hingabe an das Evangelium überscharf hervor". Das Problem, dass dies im Bilde - nach Holtz von der Amme - nicht ausgedrückt ist, löst er mit der Behauptung, dass „die Sache" das Bild übertreffe: Der Vergleichspunkt sei die Zuwendung, die sich selbst darreicht. Der Apostel übertreffe aber die Amme in der Zuwendung, denn er gehe gänzlich im Evangelium auf und biete nicht nur die Botschaft, sondern mit ihr sich selbst. 105 Andere Erklärungen des γ ά ρ bieten Rigaux 1 Thess, 423 («en effect», nicht kausal); Best 1 Thess, 103 ( " a n d " ) ; Frame 1 Thess, 102 ( γ ά ρ nehme άλλά von V.7 auf und illustriere V. 6. Nach Malherbe 1 Thess, 148 führt γ ά ρ einen Beweis für die Liebe ein. - Ähnlich wie hier interpungiert Stegemann 1985, 406, setzt allerdings nach V.7b einen Punkt.

278 7a yb 7C Sa 8b 8c 8c ga φ 9C

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Δυνάμενοι έν βάρει είναι ώς Χρίστου απόστολοι, άλλά έγενήθημεν, νήπιοι 106 , έν μέσω ύμών ώς εάν τροφός θάλπη τά εαυτής τέκναοϋτως όμειρόμενοιύμών εύδοκοϋμεν μεταδοϋναι ύμιν ού μόνον τό εύαγγέλιον τοϋ θεοΰ άλλά και τάς εαυτών ψυχάς, διότι άγαπητοϊ ήμϊν έγενήθητε. Μνημονεύετε γάρ, αδελφοί, τόν κόπον ήμών καϊ τόν μόχθον· νυκτός και ημέρας έργαζόμενοι πρός τό μή έπιβαρήσαί τινα ύμών έκηρύξαμεν εις ύμας τό εύαγγέλιον τοϋ θεοΰ.

Zur Abgrenzung und Struktur: Ich gehe davon aus, dass έν βάρει und έπιβαρήσαί inkludierend auf dasselbe referieren (vgl. unten). Das Hauptverb zum Partizip δυνάμενοι ist έγενήθημεν; allerdings wird die Verbindung durch das άλλά gestört. V.7a-7b ist dann ein Anakoluth, bei dem das Partizip nicht ganz folgerichtig durch ein verbum finitum fortgesetzt wird107, da der Satz unterbrochen wird durch das άλλά, das mithin besonders betont ist108. Näher läge syntaktisch der Anschluss an den Satz V.$f als part. conj. zu έγενήθημεν - wie auch NA interpungiert. Dagegen sprechen jedoch sachliche Gründe, abgesehen davon, dass δυνάμενοι κτλ. die Reihe von οϋτε-Phrasen nicht mehr fortsetzt. Denn das eindeutig konzessiv109 zu verstehende Partizip gibt keine Konzession zum vorher Gesagten, sondern zum Folgenden: V.6 benennt ein Verhalten, das niemals richtig sein kann - Ruhm sucht man nur bei Gott, vgl. 2,20 während das in V.7a Genannte, unabhängig davon, wie man έν βάρει versteht, ein legitimes Verhalten der Apostel Christi sein soll110.

106 Z u m Verständnis von ν ή π ι ο ι als Vokativ vgl. unten. 107 Vgl. BDR § 468,3, dort ohne Verweis auf unseren Text; vgl. Kol 1,26; Joh 5,44; 15,5. 108 Möglich w ä r e auch, V.7a als nominativus absolutus zu lesen, der freilich im N T nicht belegt ist (vgl. K ü h n e r / G e r t h Bd.2, io8f). 109 Vgl. BDR § 418,3 mit Anm.3. 110

Diese semantische Parallelität von ζητεΓν δ ό ξ α ν ά φ ' ύ μ ώ ν und έν β ά ρ ε ι ε ί ν α ι w i r d jedoch in der Literatur oft unreflektiert unterstellt. Vgl. etwa Holtz, der zur Ruhmsucht schreibt: „Eine solche Motivierung seines Dienstes w ü r d e , w i e schon bei den vorangehenden Zurückweisungen, der Einebnung seiner Person und ihres Dienstes in den Betrieb popularphilosophischer Wanderlehrer entsprechen" ( i T h e s s , 77), V. 7a aber in Verlängerung von V.6 versteht. Ahnlich scheitert z.B. Weimas (2000b, 563) Deutung. Explizit behandelt das semantische Verhältnis von V.6 und V.ya nur Krug, dem es um den Nachweis geht, dass Paulus qua A m t durchaus K r a f t beanspruche. Er unterstellt zweierlei Bedeutung von δ ό ξ α : „ A l s Maßstab scheidet Doxa aus, nicht aber als Qualität seines A m t e s . " V.7a solle verdeutlichen, dass Aposteldienst und Ansehen grundsätzlich vereinbar seien und dem A m t des Paulus „sehr wohl ein βάρος z u k o m m t " ( 2 0 0 1 , 1 3 7 ; Hervorhebung übernommen). „Verzicht auf Realisierung (sc. des , G e w i c h t e s ' ) bedeutet für Paulus also gerade nicht einen grundsätzlichen Verzicht auf Autorität" (i38f). Doch diese Differenzierung deutet der Text nicht an, und K r u g verwischt die semantische Differenz zwischen Anerkennung durch Menschen und der f ü r βάρος behaupteteten Bedeutung „ W ü r d e " als dem, w a s der Person eignet, unabhängig davon, w a s Menschen anerkennen. Woran bei dieser Würde, die gleichwohl nicht beansprucht wurde, zu denken wäre, erklärt K r u g nicht.

iThess 2,7-9

279

Diese Feststellung ist wichtig, weil von der Deutung abhängt, ob im Text von legitimer Autorität und Verzicht darauf die Rede ist.

Zunächst zum Rahmen des Vergleichs: Das Thema Unterhaltsverzicht wird nicht erst in V.9 angesprochen, sondern ist auch in V.7a im Blick. Der finanzielle Aspekt der Mission beherrscht die Darstellung bereits seit V.5. πρόφασις πλεονεξίας spricht in aller Kürze von dem Versuch, geldwerten Vorteil aus irgendwelchen Versprechungen zu ziehen 111 . Das legt die finanzielle Konnotation auch für V.6 nahe, das abgelehnte Verhalten, von Menschen δόξα zu suchen. Denn Ruhm bei Menschen zahlt sich im Unterschied zu dem bei Gott oft in barer Münze aus 112 . Dass έν βάρει είναι (V.7a) am besten zu verstehen ist als „finanziell belasten", ist ausführlicher zu begründen. Üblicherweise wird interpretiert, dass Paulus in „apostolischer Würde" hätte auftreten können, darauf aber als Ausdruck seiner Milde verzichtet. Diese Deutung kann sich auf keinerlei terminologische" 3 noch sachliche 114 Parallelen berufen und muss ignorieren, dass sich Paulus bzw. die Adressanten im 1 Thess durchaus als Autorität entwerfen, jedoch ansonsten gerade nicht Würde als απόστολοι beanspruchen.

in

Diese Bedeutung der Wendung ist trotz der etwas kryptischen Kürze unumstritten, vgl. nur Dobschütz 1 Thess, 90 t und Winter 1993, 66 zur Angemessenheit des Ausdrucks "cloak of covetousness" in Bezug auf das Vorgehen von Rednern.

112

Vgl. Holtz 1 Thess, 77; Winter 1993, 6of; vgl. Dio Chrysostomos, Or 32,10: εί δ' ώς φιλόσοφοι ταϋτα πράττουσι κέρδους ενεκεν και δόξης της εαυτών, ού της ύμετέρας ωφελείας, τοϋτο δ' ήδη δεινόν; ebenso 32,11 die Zusammenstellung von δόξα und άργύριον. Sogar umgekehrt wurde der Zusammenhang zur Legitimation, Geld zu verlangen. Nach Philostrat (Vit Soph 1, 494) war Protagoras von Abdera der erste, der Geld verdiente auf diese Weise, und er wusste es zu begründen: ä γ ά ρ σύν δ α π ά ν η σπουδάζομεν, μάλλον άσπαζόμεθα των προίκα. Dies ist der Behauptung Dobschütz'(iThess, 92) entgegenzuhalten, dass das Finanzthema in V.6 nicht im Blick sei.

113

Die Denotation „Gewicht, Würde" ist für das meist negativ konnotierte Wort selten (Belege bei Gottlob Schrenk, Art. βάρος κτλ., in: ThWNT 1 [1933] 551-559: 552,27ft = B A A s.v.) und für das NT sonst nicht belegt; eine Redewendung wie die hiesige ist nicht bekannt, βάρος ist auch bei Paulus eine belastende Bürde in Gal 6,2 (βάρη parallel zu φορτίον V.5; vgl. auch Offb 2,14; Apg 15,28). Etwas anders ist es nur in 2 K o r 4,17: Auch hier geht es um Gewicht (Opposition ist ελαφρός). Doch dass es metaphorisch etwas Gutes bezeichnet (αίώνιον βάρος δόξης), zeigt erst die Opposition, und βάρος bezeichnet auch hier nicht eine Eigenschaft von Menschen. Das Adjektiv βαρύς und das Verb βαρεΐν sind im NT immer negativ belegt (vgl. B A A Sp.268f s.v.).

114

Die Behauptung Malherbes (1 Thess, 145), Paulus argumentiere in 1 Kor 9,1-6 inhaltlich so wie hier, trifft nur zu, wenn beide Texte, wie hier interpretiert, vom Verzicht auf apostolischen Unterhalt sprechen. Das tut 1 Thess 2 nach Malherbe jedoch gerade nicht.

28ο

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Dagegen sprechen für das vorgestellte Verständnis mehrere Gründe. Erstens ist βάρος κτλ. als finanzielle Last im Kontext des Unterhaltsverzichts belegt" 5 . Zweitens rekurriert die Wurzel mit nämlicher Bedeutung in V.9 (έπιβαρησαι), so dass sich eine etymologische Inklusion ergibt. Drittens war die Bezeichnung απόστολος im Urchristentum und gerade für Paulus verknüpft mit dem Recht auf Unterhalt (vgl. §4.1.3). Viertens wird genau dieser Rechtsverzicht auch in der relecture des 2Thess (3,9) angesprochen. Schließlich wird fünftens der Unterhaltsverzicht auch in 1 Kor 9,1 ff als Rechtsverzicht dargestellt116 und in 2 Kor 12,14 m i t der Analogie zur Eltern-Kind-Beziehung begründet 117 . Dass Eltern ihren jungen Kindern den Unterhalt stellen, ist so selbstverständlich, wie dass im Alter die Eltern Unterstützung von ihren Kindern verlangen können118. Die finanzielle Deutung wird auch seit den Kirchenvätern bis heute vertreten" 9 , jedoch

115

βάρος, βαρύς, βαρεϊν kann von Belastungen finanzieller Natur gebraucht werden (vgl. LSJ s.v.; Strelan 1975 mit vielen Belegen, auch aus LXX und Papyri; er behauptet diese Bedeutung nicht nur für iThess 2,7 [268], sondern sogar für Gal 6,2; vgl. Schrenk ThWNT 1, 552,23ft; Stegemann 1985, 407f). βαρεΓν referiert auch in l T i m 5,16 auf die finanzielle Belastung der Gemeinde; weitere Belege bei B A A Sp.268 s.v. Auch andere Komposita der Wurzel βαρ- bezeichnen im corpus Paulinum die Belastung von Gemeinden durch Apostel: άβαρής 2 K o r 11,9; έπιβαρησαι hier und 2Thess 3,8; καταβαρεϊν 2 Kor 12,16. Die vorliegende Formulierung mit έν erklärt sich als Analogie zu den vorausgehenden Formulierungen. - Gelegentlich wird die finanzielle Konnotation von έν βάρει είναι benannt (Lightfoot iThess, 24; Dobschütz iThess, 92 [„als Unterteil einbegriffen"]; Morris iThess, 66f; Fowl 1990, 471 ["demands for room and b o a r d " ] ; Bruce iThess, 3of; Donfried 2000b, 51t; Holmberg 1978, 88; Petersen 1985, 189t), aber ohne Konsequenzen für die Deutung des Vergleichs.

116

S. dazu die Einleitung zu § 4 und dort 1.3 5) zu 1 Kor 9,iff. Vgl. auch Phlm 8f, wo der Verzicht auf die Möglichkeit, in Christus zu befehlen, mit der Liebe begründet wird (mit Stegemann 1985, 407f).

117

Vgl. §5.10.3.

118

Vgl. für diese vor allem in der ökonomischen Literatur geforderte Reziprozität von Geben und Nehmen zwischen Eltern und Kindern z.B. Ps.-Aristoteles, Oec. i,3,i343b2off: Και ή των τέκνων κτησις ού λειτουργίας ένεκεν τη φύσει μόνον ούσα τυγχάνει, άλλά και ωφελείας, α γ ά ρ άν δυνάμενοι εις αδυνάτους πονήσωσι, πάλιν κομίζονται παρά δυναμένων αδυνατούντες έν τω γ ή ρ α ; Xenophon, Memorabilien 2,2,3ft; vgl. Sandnes 1994, 57f; Balla 2003, 64ft (hellenistisch). 94f (jüdisch).

119

Vgl. z.B. Theodoret, Comm in I. Thess 2,6f (PG 82,633-636): οϋτε προφάσει πλεονεξίας. Τούτω γ ά ρ άρμόττει, δυνάμενοι έν βάρει είναι, ώς Χριστού απόστολοι. Προσετάχθημεν, φησίν, έκ τοϋ Εύαγγελίου ζην, άλλ' ούκ έχρησάμεθα τη έξουσία. Τό δέ, έν βάρει, πρός τούς ού μεθ' ηδονής παρέχοντας εϊρηκεν. Neuere Deutungen im finanziellen Sinne bei Dodd 1999, 217t.

ι Thess 2,7-9

281

stellte bislang nur Stegemann 120 einen Zusammenhang des Themas mit dem Ammenvergleich her. Die Feststellung, dass der Text hier auf das Unterhaltsrecht der Missionare als απόστολοι Χρίστου zu sprechen kommt, löst also Problem 3): Das Wort απόστολος, zurzeit des Paulus semantisch noch offen, ist hier nicht als Legitimationsbegriff zu verstehen wie in den späteren Auseinandersetzungen des Paulus mit Konkurrentinnen (Gal i f ; 2 Kor 10-13), noch als Autoritätsbegriff gegenüber den Gemeinden. Anerkannt ist, dass ein απόστολος das laut Paulus auf den Herren zurückgehende Recht hat, sich unterwegs von den Geworbenen unterhalten zu lassen 121 . Das für Paulus nur noch in 2 Kor 11,13 belegte Syntagma απόστολος Χρίστου weist offenbar auf eben diese Aussendung durch Christus mit den entsprechenden Rechten an den Missionierten hin 122 . Wir stellen also fest, dass der Autoritäts- und Beziehungsentwurf im 1 Thess sich nicht auf den Begriff απόστολος stützt. Die folgenden Vergleiche werden desto wichtiger. Der vorliegende Brief begründet den Unterhaltsverzicht gegenüber der thessalonischen Gemeinde nicht theologisch123, und er verteidigt ihn nicht. Er ruft ihn in Erinnerung und schreibt in V.9 wortreich von 120 Vgl. Stegemann 1985. Diese These Stegemanns wurde fast nie rezipiert (nur bei Krug 2001, 1 3 9 f t allerdings nicht für V.ya im finanziellen Sinne, und Donfried 2000b, 51t, allerdings ohne jede Folgerung für das Textverständnis). Dass die These Stegemanns selbst dann überlesen wurde, wenn der Artikel sonst zur Kenntnis genommen wurde (so z.B. von Gaventa 1990a, 201 Anm.18 und Weima und Porter in ihrer Annoted Bibliography 1998, 159 ad Nr. 759), zeigt, dass das Unerwartete schlechte Chancen hat. Die Pointe der Aussage ist jedoch nach Stegemann eine andere als hier entfaltet. Für ihn geht es nicht um die Bekräftigung der Beziehung durch die Erinnerung an das Verhalten der Missionare, sondern um die Selbstdarstellung des Apostels, der auf den Unterhaltsverzicht hinweist als Beleg der Anstrengung, die er für die Evangeliumsverkündigung auf sich nimmt. Damit liege die Aussage auf der Linie von V.if, Paulus habe in Philippi bereits für das Evangelium gelitten (vgl. bes. 410). Im Kontext der Danksagung ziele die Erwähnung dieses Aspektes der apostolischen Existenz darauf, die „traumatische Gemeindeerfahrung" der Thessalonicherlrmen aufzuarbeiten durch Würdigung dieser als Mimesis der Verfolgung durch Heiden (415). Nach meiner Analyse ist damit V.8 zu wenig berücksichtigt. 121

Zur Bedeutung von απόστολος vgl. § 4.1. Auch Börschel sieht, dass der Begriff hier unspezifisch ist, stützt sich allerdings auf veraltete Thesen und berücksichtigt den Kontext des Unterhaltsverzichts nicht (2001, 1 1 3 - 1 1 7 ; vgl. 116: es gibt „keine ,EuroNorm' für Apostel"). Einen unspezifischeren Apostolatsbegriff unterstellen auch Best 1 Thess, 100 und R.F. Collins 1984c, 177ft (Apostel sei hier Funktions-, nicht Amtsbezeichnung), der gleichwohl von der "apostolic authority" spricht (195 u.ö.).

122 2 Kor 11,13 referiert offensichtlich darauf, dass sich die Konkurrentinnen als απόστολοι. Χρίστου bezeichnen, und im Kontext ist klar, dass sie ein Unterhaltsrecht beansprucht haben (vgl. § 4.1.3 unter 6). 123 So aber Holtz 1 Thess, 86; ähnlich Best 1 Thess, 103; Bruce 1 Thess, 35.

282

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

seinen Konsequenzen, der Anstrengung der eigenen Arbeit während der Verkündigung 124 . Als Begründung für den Verzicht auf Unterhalt wird nicht die Unabhängigkeit des Paulus angegeben, auch nicht die Unterscheidbarkeit von Wanderphilosophen und Ähnlichen, die materiellen Gewinn aus ihrer Botschaft ziehen wollen 125 , sondern πρός τό μή έπιβαρήσαί τίνα ύ μ ώ ν (V.8), also die Rücksicht auf Gemeindeglieder. Auch der Ammenvergleich wertet das Faktum des Verzichts für die gegenseitige Beziehung aus; der Fokus beleuchtet den Rahmen auf bestimmte Weise, um ihn argumentativ auszubeuten 126 . Wie dies genau geschieht, ist zu vertiefen anhand des Blicks auf den Bildspender des Vergleichs. Sozialgeschichtliche Rückblicke zeigen, dass die Anstellung von Ammen in der Antike verbreitet war. Ihnen oblag das Nähren von Säuglingen, aber auch die sonstige Betreuung der kleinen Kinder. In der allgemeinen Wahrnehmung war ihre Wertung geteilt. Wir beschränken uns hier auf Notizen, die zum Textverständnis notwendig sind127, τροφός, ntl. hapax legomenon, bezeichnet gelegentlich eine Stillamme, denotiert aber meist - was oft übersehen wird - allgemeiner eine Frau, die sich

124 Zur Emphase vgl. Malherbe iThess, 148. Nachahmungen des Wortspiel im Deutschen („Fleiß und Schweiß") bei Holtz 1 Thess, 85 mit Anm.362. 125 So etwa vom Brocke 2001, 151, mit H.D. Betz 1961, 114; P.-G. Müller iThess, 133. Das gilt unbenommen der Möglichkeit, dass es tatsächlich derartige Motive für den Unterhaltsverzicht gab. 126 Holtz iThess, 79t widerspricht dem finanziellen Tenor ausführlich. Er identifiziert die Aussage V.ya - für ihn nur eine Parenthese - inhaltlich mit V.6. Paulus habe darauf verzichtet, menschliche Anerkennung zu suchen und gewichtig aufzutreten. Da aber aus Phil 4,16 hervorgeht, dass Paulus in Thessalonich aus Philippi Geld erhielt, hätte Paulus sich hier in einen peinlichen Widerspruch verstrickt, hätte er in V.y den Unterhaltsverzicht angesprochen. Holtz übersieht, dass V.9 diesen angeblich peinlichen Widerspruch in jedem Fall auslösen würde. Die Aussage im Phil und im iThess lassen sich harmonisieren: Paulus und seine Mitarbeiter haben Geld angenommen, und sie haben für ihren Unterhalt gearbeitet. - Zur notwendigen Differenz zwischen V.6 und V.ya vgl. bereits oben Anm.110. 127 Zu Ammen in der Antike vgl. Gertrud Herzog-Hauser, Art. Nutrix, in: PRE 34 (1937) 1491-1500; Th. Hopfner/Th. Klauser, Art. Amme, in: R A C 1 (1950) 381-385, und die geschichtlichen Uberblicke von Fildes 1986 und 1988; besonders instruktiv ist immer noch Braams 1913. Zur römischen Antike vgl. Bradley 1986 und ders. 1991, i3ff. In der Regel werden überall ungefähr dieselben Daten zusammengestellt, wie auch hier, vgl. aber auch Mayer-Schärtel 1995, i07f und Ilan 1995,119 t zur jüdischen Antike.

ι Thess 2,7-9

283

als Lohnarbeiterin o d e r S k l a v i n u m kleine K i n d e r k ü m m e r t 1 2 8 . A m m e n w a r e n in d e r griechischen u n d kaiserzeitlichen r ö m i s c h e n A n t i k e w e i t verbreitet 1 2 9 . In E r m a n g e l u n g v o n Substituten w a r e n S t i l l a m m e n f ü r K i n d e r , d e r e n M ü t t e r nicht stillen konnten, überlebenswichtig. D a s s i m r ö m i s c h e n S c h r i f t t u m d e r Z e i t z u w e i l e n d a s Selbststillen der Mutter p r o p a g i e r t w u r d e (s.u.), spricht nicht g e g e n die V e r b r e i t u n g v o n A m m e n , s o n d e r n d a f ü r 1 3 0 . W e r hatte, konnte d a z u eine laktierende S k l a v i n heranziehen, o d e r aber auf d e m Lohnarbeiterinn e n m a r k t eine A m m e engagieren 1 3 1 . D a s s A m m e n leibliche K i n d e r hatten, ist selbstverständlich, ist es doch p h y s i o l o g i s c h e V o r a u s s e t z u n g des Stillens 1 3 2 . D i e s p r i c h w ö r t l i c h e n A m m e n m ä r c h e n 1 3 3 m a c h e n deutlich, d a s s A m m e n nicht n u r d a s N ä h r e n des K i n d e s oblag, s o n d e r n a u c h d e s s e n V e r s o r g u n g u n d erste E r z i e h u n g . O f t blieb die S t i l l a m m e ü b e r die Stillzeit, d a m a l s e t w a z w e i Jahre, h i n a u s K i n d e r f r a u , u n d so w a r die A m m e nicht nur, w e n n sie d a s K i n d mit z u sich n a h m u n d n u r r e g e l m ä ß i g d e n Eltern v o r f ü h r t e , sehr e i n f l u s s r e i c h f ü r die E n t w i c k l u n g des Kindes 1 3 4 . D a r u m w u r d e n auch „ b e r u f l i c h e Q u a l i f i k a t i o n e n " in d e r m e d i z i n i s c h e n Literatur formuliert, A n f o r d e r u n g e n a n k ö r p e r liche V e r f a s s u n g u n d L e b e n s w a n d e l 1 3 5 .

128 Vgl. Herzog-Hauser PRE 34, 1491; Hopfner/Klauser R A C 1, 381. τίτθη ist gegenüber τροφός eindeutiger als Nähramme belegt, eine Abgrenzung in dem Sinne, dass letzteres nur ein „Kindermädchen", besser eine Kinderfrau (im Deutschen fehlt eine adäquate Terminologie), nicht aber die Stillamme bezeichne, ist aber nicht möglich. Vom Bedeutungsumfang entspricht τροφός dem englischen „nurse" (bzw. der veralteten Denotation von „ A m m e " ) , weshalb die englischen Lexika und Übersetzungen uneindeutig sind. Im Griechischen wie im Englischen ist nur eventuellen Präzisierungen ("wet-nurse") oder ggf. dem Kontext zu entnehmen, ob es sich um eine Stillamme handelt. Vgl. etwa den Sprachgebrauch bei Josephus (Mayer-Schärtel 1995, i07f). Ps.-Plutarch (vgl. das Zitat Anm.140) stellt beide Bezeichnungen nebeneinander, ohne dass ein Unterschied erkennbar wäre. (Zu ungenau Josef Wieselhöfer, Art. Amme, in: Neuer Pauly 1 [1996] 595t: 595·) 129 Vgl. Bradley 1991,13 ff. 130 Vgl. die Ausführungen von Bradley 1986, 20iff, der auch die Ammenpraxis in Roms niederen Schichten nachweist und verschiedene Ursachen (Tod der Mutter im Kindbett, mangelnde emotionale Bindungswilligkeit der Mütter, sofortiger Wiedereinsatz entbundener Sklavinnen, Ablehnen des Stillens durch Aristokratinnen als niedere Tätigkeit) erwägt. 131

Zur sozialen Herkunft der Ammen vgl. die exemplarische Untersuchung von italischen Epigrammen durch Bradley 1991,14 ff.

132 So überrascht die Feststellung Gaventas, "the way in which nurses are described in the literature makes it difficult to think of a nurse with children that were, in fact, her own biological children" (1990a, 205). 133 Plato, Rep 350 e u.ö., Ps.-Plutarch, De educ 5(= Mor 3E-F), und andere; die Märchen hatten keinen ungeteilt guten Ruf (vgl. Herzog-Hauser PRE 34, I494,i8ff.24f mit Belegen: „ Z u m Teil waren es ausgesprochene Spuk- und Gespenstergeschichten"; Belege auch bei Hopfner/Klauser R A C 1, 383; Bradley 1991, 32 Anm.43 [Lit!]). 134 Darum propagiert auch Plutarch, keine Barbarinnen als Ammen zu nehmen, da sie den Spracherwerb des Kindes beeinträchtigen könnten. 135

Sie sollten nicht jünger als 20 und nicht älter als 40 Jahre alt sein, zwei- bis dreimal geboren haben und einen wohlgebauten Körper besitzen; freilich sollte die Amme

284

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

D i e E i n s c h ä t z u n g v o n A m m e n w a r in d e r römisch-griechischen A n t i k e a m b i valent. W i e i m m e r w i e d e r in der exegetischen Literatur z u g u n s t e n v o n P a u l u s , auf d e n die A m m e referiert, a n g e f ü h r t wird 1 3 6 , w a r e n A m m e n f ü r ihre liebev o l l e F ü r s o r g e bekannt. Es entstand o f t eine e n g e B i n d u n g z w i s c h e n A m m e u n d K i n d . D a f ü r s p r e c h e n e p i g r a p h i s c h e Z e u g n i s s e , Grabsteine, die f r ü h e r e n A m m e n v o n ihren Z ö g l i n g e n gesetzt w u r d e n , o d e r die R o l l e d e r A m m e in Theaterstücken als Vertraute w e i b l i c h e r Personen 1 3 7 . D o c h d i e s e Z e u g n i s s e sind nicht ü b e r z u b e w e r t e n : V o n d e n schlechten, lieblosen A m m e n ist u n s natürlich kein G e d e n k s t e i n ü b e r k o m m e n 1 3 8 . A u c h die F e s t s e t z u n g d e r L e i s t u n g v o n A m m e n in V e r t r ä g e n bei Vertragsstrafe 1 3 9 u n d die Kritik a n der m e d i z i n i s c h nicht gebotenen H e r a n z i e h u n g v o n S t i l l a m m e n aus d e m 1. J h . n . C h r . z e u g e n d a v o n , d a s s die S o r g f a l t u n d d e r E i n f l u s s v o n A m m e n auf die K i n d e r nicht ü b e r Z w e i f e l erhaben w a r e n . D i e s belegt Ps.-Plutarch b e i s p i e l h a f t . E r b e g r ü n d e t seinen Rat, M ü t t e r selbst stillen z u lassen, damit, d a s s sie liebevoller u n d s o r g f ä l t i g e r seien als A m m e n , die n u r ihren L o h n liebten 1 4 0 . Z u m i n d e s t sollten A m m e n gut a u s g e w ä h l t w e r d e n , w a s offensichtlich e b e n f a l l s nicht selbstverständlich w a r .

möglichst kein anderes Kind mehr stillen, vgl. Herzog-Hauser PRE 34,1494.1496; vgl. auch Braams 1913,12 ff zu den Anforderungen an die Lebensweise der Amme gemäß antiker medizinischer Literatur: Die Amme soll in der Blüte der Jahre stehen, sich mäßigen, nicht der Trunksucht verfallen sein, hingegen lockere Brüste haben, aber keinen Geschlechtsverkehr bzw. eine Konzeption verhüten, sich auf bestimmte Weise ernähren etc. 136 Wanamaker iThess, 101 z.B. rezipiert Malherbe. Die Exegeten, die „Mutter" deuten, sparen sich die Belege, weil sie für erwiesen halten, dass Mütter als liebevoll galten. Erst zu belegen wäre jedoch die Feststellung Wanamakers ebd.: "what is important to note is that Paul uses feminine language to describe his activity because women, and in particular the maternal dimension of womanhood, were viewed in an extremely positive light in Antiquity." 137 Viele Belege bei Herzog-Hauser PRE 34, i494ff: 1497,44ff zu Epigrammen; 1498,gff zu Belegen aus der Literatur, Tragödie und Komödie; 1499,4ft zu bildlichen Darstellungen; Braams 1913, 27 zu Darstellungen in der Kunst; vgl. Belege bei Hopfner/Klauser R A C 1, 383; Bradley 1986, 221. 138 So auch Bradley 1986, 221. 139 Vgl. Hopfner/Klauser R A C 1, 381t zu Ammenverträgen (mit Forderungen wie, nicht zu viel zu stillen, nicht zu wenig und nicht verdorbene Milch zu geben, das Kind nicht zu baden, wenn es durstig ist). 140 Er vergleicht das Engagement von Mutter und Amme : δ ε ι . . . αύτάς τάς μητέρας τα τέκνα τρέφειν και τούτοις τούς μαστούς ύπέχειν. συμπαθέστερόν τε γ ά ρ θρέψουσι και öux πλείονος επιμελείας, ώς α ν εν&οθεν και τό &ή λεγόμενον έξ ονύχων ά γ α π ώ σ α ι τά τέκνα, αϊ τίτθαι και αί τροφοί την εύνοιαν ύποβολιμαίαν και παρέ γ γ ρ α π τ ο ν έχουσίν, ατε μισθού φιλοϋσαι (De educ. 5 [= Mor 3C]). Vgl. auch Plutarch selbst, Consolatio ad uxorem (= Mor 609E); Cato maior 20,3; vgl. weiter den Rat des Favorinus an eine vornehme gerade Entbundene, selbst zu stillen, und Kritik an denen, die das nicht tun, bei Gellius, Noctes 12,1; das Lob der selbst stillenden Germaninnen bei Tacitus, Germania 20. Vgl. Braams 1913, 8 - 1 1 über die Zulässigkeit der Ammenernährung; Bradley 1991, 23ff. Die Ablehnung wurde z.B. damit begründet, dass mit der Milch der Charakter weitergegeben werde, vgl. Bradley 1986, 2i4f.

ι Thess 2,7-9

285

Der Äußerungskontext präzisiert, wie die Amme den Lesenden vor Augen kommen soll. Zunächst ist relevant, dass der Text nicht von einer Amme als solcher spricht, sondern von einer Mutter, die Amme ist und sich um ihre Kinder kümmert, θάλπειν V.yc beschreibt das Handeln. Es bedeutet „hegen", „wärmen", physisch wie emotional 141 . An „Stillen", „Nähren" lässt höchstens die Etymologie des Wortes τροφός denken. Man mag bei dem Bildspender die stillende Mutter sehen, doch der Text spricht nicht von ihr. Das Stillen der Mutter oder Amme kann daher nicht, wie immer wieder unterstellt142, der zentrale Vergleichspunkt sein. Weiter wird das Tun der Amme-Mutter qualifiziert in V.8 durch Worte, die große emotionale Nähe beschreiben, ά γ α π ά ν κτλ. wird gern verwendet zur Äußerung der liebenden Gefühle für Familienmitglieder 143 , und gerade αγαπητός κτλ. führen Eltern im Munde als Epitheton ihrer Kinder 144 . So ist die Begründung V.8c als „Liebeserklärung" 145 einer Mutter zu ihren Kindern zu hören.

141

So wärmt die Vogelmutter ihre Jungen oder Eier (Dtn 22,6LXX), so soll der Ehemann nach Eph 5,29 seine Frau behandeln, so Abisag den David wärmen ( l K ö n [ j K ö n L X X ] 1,2.4; v g l · insgesamt Spicq 1978a, 365t.

142 Erstaunlich ist etwa die Begründung Kuhns (1992, 344) ad 2,7: „weil Paulus ,ihre eigenen Kinder' formuliert, übersetzt man am besten mit ,Stillende'". Auch Holtz 1 Thess, 83 meint, dass es in der Metapher zentral um „die Hingabe der sich selbst dem Säugling darreichenden Ernährerin" geht, und deutet daher θ ά λ π ε ι ν auf das Tun, „das die Amme vorzüglich auszeichnet, das Stillen des Kindes". Von Allmen 1981, i9if will das Thema der Nahrung aus der angeblichen Nähe zu 1 Kor 3,1 einlesen; ähnlich P.-G. Müller 1 Thess, y i f . Besonders betont den Ernährungsaspekt Gutierrez 1968, 94ff. Das gelegentliche Nebeneinander von τρέφειν und Derivaten und θ ά λ π ε ι ν (Belege bei Spicq 1978a, 365t) bedeutet nicht, dass letzteres auch den Aspekt des Nährens impliziert, sondern gerade das Gegenteil, dass es neben dem Nähren als Zuwendung extra genannt wird. Die verbreitete Deutung auf das Stillen entspringt wohl dem Bedürfnis, dem unverstandenen Vergleich einen Sinn zu geben. 143 Vgl. Söding 1992, 296 mit Anm.85; 305 mit Anm.135; 316 mit Anm.i92f zu den verschiedenen Schriftenkorpora. Im NT ist dies besonders greifbar in der Rede von den άδελφοί α γ α π η τ ο ί ι Kor 15,58; Phlm 1.16; Phil 4,1 u.ö., vgl. dazu Wischmeyer 1986, 476f. Paulus' Gebrauch sei zwar präziser aus der atl.-jüdischen Rede von „den Juden als den Geliebten und Erwählten Gottes" (477) herzuleiten, aber spezifisch, insofern er auch den „Bund brüderlicher und freundschaftlicher Liebe" (479) konnotiere. 144 Vgl. Gen 22,2.12.i6LXX sowie Mk i , n p a r r ; Mt 17,5 u.ö. vom Verhältnis Gottes zu seinem Sohn. Gemeindeglieder als Kinder des Paulus werden so prädiziert in 1 Kor 4,14.17; 2 Tim 1,2; Kinder Gottes in Eph 5,1; iPetr 1,17. Vgl. auch die Rede von den Gottgeliebten im Zusammenhang der Vater-Gott-Metaphorik in 1 Thess 1,3f u. Rom 1,7. Außerbiblische Belege bei B A A Sp.10 s.v.; Belege für die Rede vom einzig geliebten Sohn (vgl. Mk 12,6parr) auch bei Wischmeyer 1986, 477 mit Anm.6f. Vgl. auch entsprechende Überlegungen zur Semantik des Adjektivs bei Rusam 1993,127t. 145 Ahnlich formuliert Dobschütz 1 Thess, 96.

286

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

U n k l a r bleibt allerdings ό μ ε ι ρ ό μ ε ν ο ι (s. F r a g e 4). Es w i r d eine liebevolle B e z i e h u n g a u s d r ü c k e n . D i e einzig n a c h w e i s b a r e B e d e u t u n g „ e r s e h n e n " könnte trotz der Bestreitung in der A u s l e g u n g 1 4 6 s i n n v o l l sein, w e n n m a n sich die E v a n g e l i s i e r u n g als P r o z e s s vorstellt 1 4 7 : D e r M i s s i o n a r hat, unter d e n M e n schen in T h e s s a l o n i c h v e r k ü n d i g e n d , deren B e k e h r u n g ersehnt, u n d sich d a n n entschlossen, m e h r z u g e b e n als das E v a n g e l i u m . W e n n d a s z u s p e k u l a t i v erscheint, bleibt n u r die Feststellung, d a s s es eine emotionale N ä h e ausdrückt 1 4 8 . Das Zeugma

„nicht nur das Evangelium weiterzugeben149,

sondern

a u c h d i e e i g e n e n ψ υ χ α ί " ( V . 8 b ; s. F r a g e 5 ) s p a n n t d i e W e i t e r g a b e d e s Evangeliums u n d die der ψ υ χ ή unter dasselbe Verb. Z u m

Verständnis

ist d i e g a n z e A u s s a g e h e r a n z u z i e h e n . D a s Z e u g m a ist i n s o f e r n irritierend, als d a s E v a n g e l i u m schließlich d e n E m p f ä n g e r n bleibt, die ψ υ χ ή j e d o c h nicht. D a s P o s s e s s i v u m

έαυτών

betont,

dass

die ψ υ χ α ί

sprünglich Eigentum der Adressanten sind, ψ υ χ α ί k a n n nur

ur-

hyper-

bolisch oder metonymisch150 ein weitergebbares Objekt bezeichnen.

146 Vgl. etwa Baumert 1987, 561; Malherbe 1 Thess, 146. 147 Eine gewisse Entwicklung lässt auch V.8c erkennen, vgl. dazu unten. 148 Ahnlich Holtz 1 Thess, 83. - Die ambitionierteste Lösung hat Baumert 1987 vertreten. Er entwickelt aufgrund einer anderen Etymologie (von μείρεσθαιπύΐ prothetischem o, so dass es hier bedeutet „von jemandem schicksalhaft getrennt werden", 554) eine andere Deutung des Textes (wie auch der LXX-Belegstellen): Paulus rede hier von der Gegenwart der Briefabfassung, in der er ja seine erzwungene Abwesenheit von der Gemeinde bedauert (vgl. 2,17t). Er wechsele, wie auch sonst in diesem Kapitel, mit V.8 die Perspektive von der Vergangenheit zur Gegenwart: „So sind wir, während wir von euch ferngehalten werden, entschlossen, euch nicht nur das Evangelium Gottes, sondern auch unser eigenes Leben mitzuteilen" (561). Der Muttervergleich wird über den Blick aus der Gegenwart in die Zukunft hinein weitergetragen: Paulus wolle der Gemeinde „,seine eigene Seele' mitteilen ... auch jetzt noch wie eine stillende Mutter ihrem Säugling" (562). - Auf dem Feld der Etymologie und Wortbelege möchte man mit Baumert nicht streiten, aber für den vorliegenden Kontext ist entgegenzuhalten, dass ein Wechsel in die Gegenwart in V.3f nicht dem von ihm für V.8 postulierten analog ist, denn im ersten Fall wird eine allgemeingültige Aussage über die Kommunikationsbeziehung hinaus gemacht. Offen bleibt auch, wieso die Mitteilung des „Lebens" - was auch immer das ist - erst für die Zukunft ins Auge gefasst werden sollte. 149 μεταδίδοντα steht mit Akk., „wenn das Ganze mittgeteilt wird", vgl. BDR § i694 und LSJ Sp.1111 s.v. Darum kann es hier nicht heißen „Leben hingeben" wie ψυχήν διδόναι resp. τιθέναι etc. So aber ältere Ausleger (bei Dobschütz 1 Thess, 95) und noch z.B. Köster 1980, 290t; Alexander Sand, Art. ψυχή, in: EWNT 3 ( 2 i992) 1197-1204: 1199; Malherbe 1 Thess, 160, der das sogar mit Jesu Lebenshingabe parallelisiert unter Berufung auf die Parallelität von ψυχή und εύαγγέλιον in V.8. Paulus' Arbeit sei eine Art Selbsthingabe, weil Handarbeit so gering geachtet war (160ff). 150 So Gillman 1990, 66; ansonsten wird der „uneigentliche" Charakter des Ausdrucks übersehen.

ι Thess 2,7-9

287

So kann man es im Sinne unseres „sein Herz schenken" als Topos der damaligen Freundschaftskommunikation verstehen 151 . Viele Interpretationen bevorzugen die Übertragung von ψ υ χ α ί als „ s e l b s t " : Paulus reiche sich selbst dar wie die A m m e bzw. Mutter. Der Zusammenhang von Mutter oder Stillender und Selbstgabe ist freilich kein historisch nachweisbares Konzept, sondern verdankt sich freier Assoziation 152 . Z u berücksichtigen ist auch, dass der Text μ ε τ α δ ο ΰ ν α ι τας εαυτών ψ υ χ ά ς nicht mit der Verkündigung des Evangeliums identifiziert. Die Gabe ist als freiwillige (εύδοκοϋμεν 1 5 3 ) gekennzeichnet, die eigens mit der entstandenen Liebe zu den Adressierten begründet wird (V.8fin). Erläuterungen wie die, dass das Leben des Paulus mit dem Evangelium unablösbar verbunden sei 154 , gehen am Gehalt der Aussage vorbei, mögen sie auch sachlich richtig sein. Die Pragmatik des Satzes w i r d im Z u s a m m e n h a n g

des

Unterhalts-

t h e m a s p r ä g n a n t . B e z i e h t m a n d e n E n t s c h l u s s ύ μ ϊ ν ... τ α ς

εαυτών

ψ υ χ ά ς μ ε τ α δ ο ΰ ν α ι auf d e n - freiwilligen - Verzicht der Missionare, s i c h N a h r u n g u n d U n t e r k u n f t erstatten z u l a s s e n 1 5 5 , s o w i r d d e r zicht

n e u i n t e r p r e t i e r t als Gabe.

D e r Verzicht auf

Ver-

„Lebensunterhalt"

w i r d q u a l i f z i e r t als G e s c h e n k v o n „ L e b e n " , als p o s i t i v e W e i t e r g a b e d e r „ g a n z e n P e r s o n " , der „Lebenskraft"156 an die Bekehrten. Die

Amme

151 So Malherbe 1 Thess, 147; wenn er dafür auf den Topos der Selbstaufopferung für die Freunde hinweist, geht das jedoch fehl, weil dies im Verb nicht impliziert ist (ebd.; vgl. dagegen Anm.149). 152 S. Holtz 1 Thess, 84: „Der Vergleichspunkt ist die Zuwendung, die sich selbst darreicht. " E r unterstellt zugunsten der Bedeutung des Paulus, „ die Sache überbietet ... das Bild", Paulus übertreffe die Amme. Vgl. auch Reinmuth 1 Thess, 126 (das Stichwort des Anteilgebens stamme aus dem Bild); Rigaux 1 Thess, 422; Malherbe 1 Thess, 147 ("more than oral communication; it was a giving of himself ..., which is the emphatic point of comparison with the nurse"); P.-G. Müller 1 Thess, 132 („Wie die Amme/Mutter ganz für das Kind da ist, so Paulus ganz für die Gemeinde"). Unbedacht werden zeitgenössische Ideologeme als natürliche Gegebenheiten unterstellt. 153 Vgl. dazu etwa Rom 15,26t; 2 Kor 5,8 u.ö. (mit Malherbe 1 Thess, 147; ähnlich Gutierrez 1968, 92). - Zum unaugmentierten Imperfekt vgl. BDR § 67 ic mit Anm.2. 154 So etwa Holtz 1 Thess, 84. Vom Text her überhaupt nicht gedeckt ist auch die Interpretation: „Paulus läßt in unserem Satz zwei Dinge auseinandertreten, die eigentlich untrennbar sind; er hebt damit die persönliche Hingabe an das Evangelium überscharf hervor" (ebd.); ähnlich Marxsen 1 Thess, 46. Nach Börschel 2001, 113 drückt V.8 gar die Identität von Bote und Botschaft, von Sinnwelt und ihrem Vermittler aus; vgl. ähnlich Reinmuth 1 Thess, 126; Gillmani990, 66f. 155 Damit ergibt sich eine chiastische Struktur: V.8a und 9c sprechen vom εύαγγέλιον τοϋ θεοϋ, darin eingeschlossen V.8c und 9a.b vom Arbeitseinsatz der Missionare zugunsten der Gemeinde. 156 Vgl. die Paraphrase von Eduard Schweizer, in: Georg Bertram et. al., Art. ψυχή κτλ., in: ThWNT 9 (1973) 604-667: 648,2ft ζ.St.: „was das Leben ausmacht, also von Zeit und Gesundheit" (648,6; er denkt allerdings unzutreffend an „Hingabe"). Dies ist keine ,,modernisierend[e]" Abschwächung (so Holtz iThess, 84 Anm.351), sondern

288

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

setzt ihre e i g e n e L e b e n s k r a f t , das, w a s sie z u m L e b e n verdient, f ü r ihre leiblichen K i n d e r ein. D i e M i s s i o n a r e g e b e n ihre A r b e i t s k r a f t ,

κόπος

κ α ι μ ό χ θ ο ς nachts u n d tags (V.9), den für den G l a u b e n G e w o n n e n e n . N u n m u s s m a n diese A u s s a g e nicht wegretouchieren, u m d e n G e d a n ken der Klimax v o n Evangeliumsgabe zu Lebenseinsatz zu vermeiden. D e n n es geht nicht u m d e n Einsatz der P e r s o n als qualitative rung

der Verkündigung,

sondern u m

das „ d o n u m

hyperbolisch hervorgehoben, das mit der nicht n o t w e n d i g

verbunden

Steige-

superadditum",

Evangeliumsverkündigung

ist157. D i e B e g r ü n d u n g

V . 8 f i n ist

dann

a u c h zeitlich v o r g e o r d n e t z u verstehen: A l s die M i s s i o n a r e die Thessalonicherlnnen bekehrt hatten u n d eine innige Beziehung

zu

g e k n ü p f t hatten, entschlossen sie sich, sich v o n d e n n e u

Bekehrten

diesen

ihren Unterhalt nicht erstatten z u lassen158. F ü r P r o b l e m 2), die textkritische crux interpretum ( ν ) ή π ι ο ι V . j b , sehe ich keine letztgültige L ö s u n g , ή π ι ο ι , „ f r e u n d l i c h , m i l d e " , w ü r d e die Stilisierung der A d r e s s a n t e n als liebender, selbstloser Mutter, d.h. die hier gebotene A u s l e g u n g bestens unterstreichen 1 5 9 . Liest m a n j e d o c h mit d e n b e s s e r e n Z e u g e n ν ή π ι ο ι u n d bezieht dies auf P a u l u s b z w . die M i s s i o n a r e , so p a s s t dies schlecht z u m D u k t u s des Kontextes u n d ist auch ohne Parallele 1 6 0 . In d e r j ü n g e r e n Literatur

eine Interpretation als Metonymie, ähnlich der im NT mehrfach belegten Verwendung von βίος für den Lebensunterhalt (Mk 12,44; Lk 15,30 u.ö.). Die von Schweizer angeführten Parallelen 2 Kor 12,15 u n d Köm 16,4 tragen allerdings nur bedingt, insofern dort die ψυχή jeweils die Empfängerin des Einsatzes ist; näher stehen Apg 15,26 (Einsatz der ψυχή); έκ ψυχής ποιεϊν Kol 3/ 2 3^ Eph 6,6 (mit Rigaux iThess, 422; Holtz 1 Thess, 83). Auch die enigmatische Formulierung 2 Kor 8,5 über die Kollektengabe der Mazedonierinnen, έαυτούς έδωκαν πρώτον τω κυρίω και ήμΐν, könnte eine Parallele sein, insofern sie den finanziellen Einsatz mit der Selbstgabe zusammenrückt. 157 Diese Deutung ist bislang nicht vorgeschlagen worden. Die Auslegungsliteratur geht m.E. über die komplexe Formulierung zu schnell hinweg. 158 Gegen Reinmuth 1 Thess, 127; zu Beginn der Missionsarbeit war an Unterhalt durch Christinnen vor Ort sowieso nicht zu denken; ein Verzicht wurde erst wirksam, als ein Anspruchsrecht bei inzwischen Bekehrten entstanden war. 159 Hört man in ήπιος die Konnotation der Herrschertugend, der Autorität, die auf ihre Ansprüche verzichtet, wie bei έπιείκεια oder dementia, kann man auch den Kurzschluss von der Mutter auf mangelnde Autorität vermeiden (Stegemann 1985, 48; Gutierrez 1968, 93, der aber überrascht scheint: «II semble meme convenir ä 1'amour maternel»). 160 Dagegen spricht nicht der fünffache Gebrauch in 1 Kor 13,11, da Paulus hier paradigmatisch und vergleichend auf sein Kindesalter zurückblickt (Opposition ist άνήρ), das er wie jede/r Erwachsene durchlebte. - Unproblematisch findet allerdings Frame 1 Thess, 100 den Rekurs auf die Kinder: Es sei die passende Opposition zu απόστολοι und "also in keeping with the spirit of brotherly equality that characterises Paul's attitude to his readers" in beiden Briefen an die Thess. - Die vorliegende Analyse ergibt das Gegenteil.

ι Thess 2,7-9

289

werden dazu verschiedene Vorschläge gemacht. Nicht überzeugend ist die These, der Text besage, die Apostel hätten "as simply as possible, as simply as babies" zu den Thessalonichern geredet 161 , da νήτηοι eigentlich die kleinsten Kinder sind, die noch nicht sprechen können. Gleiches gilt für die Annahme, Paulus karikiere sich hier gemäß gegnerischen Verzerrungen 162 . Die Spannung kann abgemildert werden, wenn man als Denotat zu νήτιιος nicht das für Paulus übliche „Kleinkind" mit der negativen Konnotation der Unreife annimmt, sondern die für Pss und weisheitliche Texte damit implizierte Unschuld 163 . So argumentiert Gaventa: νήπιο ς bedeute hier "innocent characters, lacking the guile and deciet of a charlatan" 164 . Mit Bezug auf dieselben weisheitlichen Texte will Bickmann in dem Adjektiv eine noch positivere Qualifizierung erkennen gemäß dem Gebrauch vom „JHWH-Treuen, der im Widerspruch zur Welt und ihrer Weisheit steht". Paulus zeige sich hier in der Kinderrolle gegenüber Gott entsprechend anderen Aussagen im 1 Thess, in denen er die Rückbindung seiner Offenbarerrolle an Gott beschreibe165. Die Auslegerinnen tendieren zur Substitution der Metapher. Einen semantischen Gewinn können alle diese Deutungen für die übliche Auslegung nicht erzielen. Eine Opposition von Verzicht auf gewichtiges Auftreten als Apostel und Unschuld bzw. gelehriger Kindschaft gegenüber Gott wäre für sich nicht prägnant, sondern müsste erst von den vorausgehenden Sätzen aufgefüllt werden166. Für die hier vorgeschlagene Interpretation passt diese Deutung erst recht nicht. Eine finanzielle Konnotation von νήπιος im Sinne von „wir kamen mittellos wie Kinder in eure Mitte" wäre sinnvoll; doch dafür gibt es m.W.

161

So Morris 1 Thess, 69 mit Rekurs auf Origenes, der bezeichnenderweise mit πααδίον paraphrasiert.

162 So Merk 1 Thess, 107; die Ammenmetapher sei dann die Antwort auf diese Verzeichnung. 163 Vgl. zu dieser atl. Verwendung Georg Bertram, Art. νήπιος κτλ., in: ThWNT 4 (1942) 913-925: 917,38ft, bes. 918,8ff zum Psalter. Zur positiven Konnotation vgl. auch Grundmann 1958/59, 2oiff zum Jesuswort Mt ii,25par. 164 Gaventa 1990a, 205, mit Verweis auf die Verwendung des Wortes in Ps 18,7; 118,130 (LXX); Mt 11,25; 2 1 ' χ 6 u.a. (a.a.O., 196). Ähnlich auch Cherian 2001, 40; P.-G. Müller 1 Thess, 131 („geistliche Bescheidenheit"), Burke 2003, I56f. Ähnlich wie Gaventa votieren auch Sailors (2000, 88ff) mit weiteren Belegen und methodischem Aufwand und Weima 2000b. Für ihn ist es eine starke Metapher, die gerade das Gegenteil des abgewiesenen Verhaltens V.5f (Schmeichelei, Gewinnsucht, Suchen der Ehrung von Menschen) ausdrückt, insofern Kinder unschuldig seien. Seine These basiert auf einer Strukturanalyse, nach der V.7a parallel zu den Parenthesen καθώς οί'δατε und θεός μάρτυς sei (559ft). Diese metasprachlichen Einwürfe sind jedoch weder syntaktisch noch semantisch mit V.7a vergleichbar. 165 1998,172ft, Zitat 173. 166 So räumt etwa Sailors V,ηΆ als Parenthese beiseite (2000, 94ff).

290

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

keine Belege 167 . Auch die gelegentlich in diesem Zusammenhang gegebene Erklärung, dass Paulus die Metapher invertiere168, stellt letztlich nicht zufrieden. νήττιος läuft der konsequent autoritativen und superioren Selbstdarstellung im gesamten Brief, wie sie die vorgelegte Analyse aufzeigt, zuwider. Bestens zur Metaphorik würde hingegen die Referenz auf die Adressierten passen. Auf sie kann νήτιιοι nur bezogen werden, wenn man es als Vokativ und nicht, wie üblich, als Prädikatsnomen zu έγενήθημεν liest. Auf den Vergleich hinführend werden die Adressatinnen als „kleine Kinder" angeredet. Dies ist so überraschend, dass sich die Variantenbildung gut erklären lässt. Doch die Anrede ist nicht ohne Parallelen in den Briefen des Paulus bzw. der Paulus-Tradition 169 . Auch in ihrer syntaktischen Einbindung ist die Anrede nicht einmalig 170 . Der Satz ist auch ohne νήπιοι sinnvoll 171 . Die metaphorische Anrede geht dann dem Vergleich voran wie in 1 Kor 3,1. Die Deutung als Vokativ wurde bereits vertreten, aber kaum der Kritik gewürdigt 172 . Doch auch sie hat eine Schwäche, denn als Anrede gilt sie nicht nur der „erzählten Zeit" des Gründungsbesuches, sondern gerade der Zeit der

167 A u c h Fowl 1990, der die finanzielle Konnotation von V.ja erkennt, jedoch den Z u s a m m e n h a n g mit dem Ammenbild nicht, meint, dass Paulus und seine Kollegen sich mit der Kindermetapher als "innocent", ambitionsfrei, freundlich darstellen im Gegensatz zu fordernden Aposteln. Den fehlenden inneren Z u s a m m e n h a n g legitimiert er mit der begrenzten Reichweite von Metaphern. Doch muss er zugeben, dass die Metapher "in distress" ist, insofern sie entgegen der Aussageintention auch den fordernden Charakter von Kindern, deren Abhängigkeit bedeuten w ü r d e . Das solle dann die Ammenmetapher korrigieren (a.a.O., 472). 168

So etwa Gaventa, die auf Shakespeare verweist, dem man Entsprechendes nachsehe mit der Begründung "his thoughts f l o w faster than his speech" (1990a, 203t, Zitat 203). Vgl. auch Lightfoot i T h e s s , 24; Gillman 1990, 63 mit A n m . 4 : Paulus stelle sich selbst als Kind vor, w a s "readily suggests the image of a nursing mother which follows".

169 Vgl. insbesondere ν ή π ι ο ι in 1 Kor 3,if (s. § 7.2). Adressatinnengemeinden w e r d e n als „ K i n d e r " angesprochen, so τ έ κ ν α μου Gal 4,19 im Z u s a m m e n h a n g einer Geburtsmetapher und ώς τ έ κ ν α μου α γ α π η τ ά ι Kor 4 , ΐ 4 - 1 6 innerhalb einer Vatermetapher. Vgl. die Anreden π α ι δ ί α in Joh 21,5; 1 Joh 2,14.18, τ ε κ ν ί α in Joh 13,33 u n d 1 J ° h passim sowie τ έ κ ν ο ν in 1 Tim 1,18; 2 Tim 2,1. 170 Die Position des Vokativs am Satzanfang nach wenigen Worten ist typisch, vgl. 2,1.9.14.17; 4,1; 5,12 (vgl. BDR § 474, 6a); freilich oft am A n f a n g eines neuen Abschnittes, w a s ich f ü r 2,7 ablehne (so ebenfalls nicht in 1,4; 3,7; 5,4). Eine entsprechende Syntax, d.h. Vokativ ohne Impr. (so etwa 2,9) im Zusammenhang einer A u s s a g e in der 1. Pers., der die 2. Pers. folgt, liegt vor in 1,4; 2,17; 3,7; 4,1; 5,1. 171

έ γ ε ν ή θ η μ ε ν έν μ έ σ ω ύ μ ώ ν ώς έ ά ν ... heißt: „ w i r kamen in eure Mitte, w i e wenn . . . " . Z u γ ί γ ν ε σ θ α ι εν TIVL zur Bezeichnung des Ortes, an dem man ist oder an den man gelangt, vgl. B A A Sp.321, z.B. 2 Tim 1,17: γ ε ν ό μ ε ν ο ς έ ν ' Ρ ώ μ η . Z u έν μ έ σ ω als Ortsangabe vgl. a.a.O., Sp.1028, z.B. M t i 8 , 2 : έν μ έ σ ω α ύ τ ώ ν (sc. der Umstehenden).

172 Vgl. C r a w f o r d 1973, der seinerseits in Daniel Whitby, Α Paraphrase and Commentary on the N.T., 1727, einen Vorläufer nennt. 1 Thess fast zeitgenössisch sei ein entsprechender Vokativ in Prov 1,22 ('ns) in der Ubersetzung von Aquila. N u r Delobel 1995, 130t äußert - unberechtigte - Gegenargumente; meine folgende A n f r a g e ist nicht diskutiert.

ι Thess 2,7-9

291

Korrespondenz. Sie setzt also voraus, dass der Absender es immer noch für angemessen hält, die Adressatinnen seine „kleinen Kinder" zu nennen neben der sonst „gleichberechtigteren" Bezeichnung als αδελφοί. Auch wenn νήπιοι nicht pejorativ sein muss, so ist es doch in der Regel, gerade auch in den sonstigen paulinischen Verwendungen, vom Mangel, der Differenz zum Erwachsenen bzw. Wissenden her bestimmt 173 . Insofern passt die Anrede durchaus auf die Thessalonicherlnnen zu Beginn der Evangelisation, ist aber als Anrede der bereits im Glauben Stehenden provokativ.

Abschließend ist die Pragmatik des Vergleichs, seine Funktion in der vorliegenden Argumentation, zu umreißen. Sie besteht nicht allein darin, eine mütterlich warme Beziehung zu den Kindern zu transferieren, denn dann bedürfte es nicht der Präzisierung, dass die Mutter eine Amme ist. Doch eben diese macht den Vergleich so spitzfindig. Er markiert den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Relationen der Amme und setzt diese in ein Verhältnis: Neben der Beziehung zu den leiblichen Kindern hat die Amme als solche auch andere Beziehungen zu anvertrauten Kindern, die geschäftlich geregelt und vertraglich niedergelegt sind. Damit verdient sie ihren Lebensunterhalt. Von ihren leiblichen Kindern lässt sie sich hingegen für ihre Zuwendung nicht bezahlen, da diese Beziehung ganz anders begründet ist: „weil ihr unsere Geliebten geworden seid" (V.8fin). Im größeren Duktus unterstreichen die Sätze die Beteuerung, die Missionare hätten nichts von der Gemeinde erlangen wollen. Der Vergleich qualifiziert den Unterhalts verzieht'74 eindringlich, indem er, anders als 2 Kor 12,14, aufscheinen lässt, dass es legitime andere als dieses selbstlose Verhältnis geben kann. Dies ist nicht nur in der Rede von der Amme und ihren leiblichen Kindern impliziert, sondern in V.ja auch expliziert. Der Text spricht nicht von „Ammenverträgen" mit anderen Gemeinden, von denen Paulus sich den Unterhalt während der Evangelisation erstatten ließ. Es reicht die Andeutung, dass έν βάρει είναι möglich gewesen wäre und der Verzicht darauf, wie das εύδοκοΰμεν impliziert, freiwillig war. Denn es geht nicht um die Abwertung anderer Beziehungen, sondern um die positive Implika173 Vgl. Rom 2,20 parallel zu άφρων; i K o r 13,11 in Opposition zu άνήρ; Gal 4,1.3 im Gegensatz zum Mündigen; zu 1 Kor 3,1 vgl. § 7.2. Zu dieser Deutung von νήπιος bei Paulus vgl. P. Müller 1992, 297ft der allerdings 1 Thess 2,7 ausnimmt, weil er die Variante ήπιοι vorzieht (297 Anm.4). Zum Bildfeld insgesamt vgl. Grundmann 1958/59, 20iff. Negativ ist νήπιος auch konnotiert in derselben Metaphorik in Hebr 5,13 f; Eph5,i3ff. 174 Dass hier die sonst stehende Bezugnahme auf das Wissen der Angeredeten fehlt, unterstützt die Annahme, dass der Brief durch den Vergleich das den Adressaten Bekannte neu qualifizieren und pointieren will.

292

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

tion, dass die Zuwendung der Missionare zur Gemeinde selbstlos war und selbstloser, als sie hätte sein müssen, dass sie ein Geschenk war. So nennt auch V. 8 als Zweck der eigenen Arbeit während der Mission, die Adressierten nicht zu belasten. Damit werden die Missionare aber auch zum Vorbild der Gemeindeglieder, von denen Liebe zueinander und zu allen „wie wir zu euch" in indirekter Paränese verlangt wird (3,iif und dann auch 4,9 f)' 75 . Wenn der Fleiß zur Arbeit mit den eigenen Händen explizit gefordert wird (4,11), wer sollte da nicht an die Missionare denken 176 ? Der Verfasser des 2 Thess tat dies jedenfalls, denn er begründet in 2 Thess 3,7-10 die Forderung, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, mit dem Vorbild der Missionare. Diese Lektüre deutet den Vergleich also vor allem von der Sozialgeschichte des Bildspenders her. Ein traditionelles Bildfeld ist nicht erkennbar, nur in 2 Kor 12,14 begegnet ein entsprechendes Analogieargument (§5.10.3). Die Deutungen lesen sonst meist - methodisch unreflektiert - den Vergleich von anderen Projektionen des Bildspenders auf andere Bildempfänger her. Sie vernachlässigen den Äußerungskontext und ergeben auch keinen erkennbaren Gewinn für das Textverständnis. Einflussreich als zeitweilige interpretatio recepta ist v o r allem die These Malherbes geworden 1 7 7 . Er weitet die seit d e m Vorschlag v o n Dobschütz weithin anerkannte These, dass Paulus sich in 2 , i f f i m popularphilosophischen Diskurs v o n anderen Wanderpredigern abgrenze, auch auf V . 7 a u s : Paulus positioniere sich genauer innerhalb des kynischen S p e k t r u m s : Ist Härte u n d u n v e r b l ü m t e Offenheit angebracht oder Milde, u m den M e n s c h e n die eigene M e i n u n g n a h e z u b r i n g e n ? Paulus ähnelt nach Malherbe in dieser Diskussion d e m K y n i k e r D i o C h r y s o s t o m o s : Beide w e i s e n v o n sich, zu schmeicheln, auf G e w i n n aus zu sein, ziehen „ M i l d e 1 7 8 einer A m m e " der Schroffheit vor, d.h. der R e d e in π α ρ ρ η σ ί α (V.2) 1 7 9 . Wie Dio nicht auf spezielle V o r w ü r f e reagiere, sei auch 1 Thess 2 topisch exhortativ, nicht apologetisch. - Die These Malherbes kann nicht bestehen u n d w i r d inzwischen in der jüngeren Sekundärliteratur

175 Vgl. die Betonung dieses Aspektes bei Lyons 1985,199^ der aber Paulus auf ein Vorbild der "brotherly love" reduziert (200); Malherbe 1 Thess, 161 (er hält 2 Thess für authentisch, was diese Sichtweise erleichtert). 176 Allerdings betont 2,8 nicht die Handarbeit wie 4,11; dies verwischt Malherbe 1 Thess, 160 ff, der V.8 als Aussage über Statusverzicht liest, da Handarbeit schlecht angesehen war. 177 Vgl. den erstmals 1970 veröffentlichen Aufsatz "Gentle as a Nurse" (= 1989a) und ebenso nun ders. 1 Thess, i44ff. 178 Malherbe liest ήπιοι, zur Begründung vgl. 1 Thess, i45f. 179 Vgl. ausführlich 1 Thess, 144.160.

ι Thess 2,7-9

293

kritisiert 180 . Erstens sind die A m m e n v e r g l e i c h e , die Malherbe aus der philosophischen Literatur beibringt, ambivalent: Ist eine A m m e vorbildlich in ihrer Fähigkeit, den R i n d e r n etwas schlecht Schmeckendes unterzujubeln, oder verderben ihre sprichwörtlichen Märchen die Kinder? 1 8 1 Z w e i t e n s ist die inzwischen in der exegetischen Literatur fast sprichwörtliche W e n d u n g "gentle as a n u r s e " w e d e r bei Dio noch bei Paulus belegt, sondern nur im Titel des A u f s a t z e s Malherbes. Der Vergleich mit der A m m e hätte auch d e m A n l i e g e n des Paulus, sein E v a n g e l i u m zu profilieren, nicht g e h o l f e n ; R e d e n in Offenheit u n d die A r t der A m m e w e r d e n bei Paulus gar nicht einander entgegengestellt. Mit Stegemann ist schließlich einzuwenden, dass der Kontext g a n z unterschiedlich ist: Selbstvorstellung des Philosophen v o r einem P u b l i k u m , d a s ihn nicht kennt, oder Weiterführung einer Beziehung mit bereits z u m Glauben Geworbenen 1 ® 2 . Was d a s Recht auf Unterhalt angeht, bezieht sich der Text nicht auf Gewohnheitsrechte v o n Wanderpredigern, sondern auf binnenchristliche Gepflogenheiten. Donfried w i l l unter anderem die A m m e n a n s p i e l u n g v o n der d a m a l i g e n mythologischen Symbolik her mit Inhalt füllen, kann allerdings nur auf indirekte B e z ü g e verweisen 1 ® 3 . Doch es ist g a n z unwahrscheinlich, d a s s die d a m a l i g e n Leserinnen die weiten U m w e g e D o n f r i e d s ohne leitende Textsignale gingen. Verschiedentlich w i r d auf jüdische V e r w e n d u n g e n der A m m e b z w . Mutter u n d des Vaters f ü r Führungsgestalten rekurriert. Erstens nennt m a n N u m 1 1 , 1 1 f f 8 4 : M o s e w i e s gegenüber Gott die beschwerliche A u f g a b e v o n sich, das V o l k in d a s L a n d zu führen, mit der B e g r ü n d u n g , er sei eben nicht Mutter oder A m m e , w o r a u f h i n Gott nachgab. Ein intertextueller Rekurs auf diesen Text

180 Zunächst wurde die These fast überall akzeptiert (Belege bei Schoon-Janßen 1991, 54t), inzwischen mehren sich kritische Stimmen, die wie hier die Textbasis der behaupteten Parallele bestreiten. Vgl. neben den Anfragen hier die Gaventas 1990a, i98ff (Amme ist Beispiel, nicht Metapher; τροφός fällt bei Dio nicht). 181 Die Ambivalenz belegt Malherbe selbst (1989a, 43ft): Nach Maximus von Tyros ist es besser, die Menge mit Ammenmärchen vorsichtig zu traktieren, als sie mit παρρησία und oppressiv (βαρέως) zu behandeln. Dio jedoch vergleicht Ammen, die die unangenehme Nahrung mit Honig versüßen, kritisch mit Schmeichlern. Auch bei Epiktet findet sich die Amme im negativen Kontext. Nach Plutarch sind Ammen ein Vorbild, insofern sie Kinder, die hingefallen sind, erst aufrichten und trösten, bevor sie sie bestrafen. 182 Vgl. Stegemann 1985, 399f. 183 Donfried 1985. Der Kult des Dionysos sei in Thessalonich beheimatet, und zu dessen Mythos würden die Nymphen von Nyssa gehören als "nurses". Diese würden "archetypal femininity" repräsentieren von Wärme, Liebe, engster Bindung (1985, 338 unter Rezeption von Walter Otto, Dionysos: Myth and Cult, 1965). Das erinnere an όμειρόμενος (2,8; ebd., vgl. auch ders. 1993, 13t). Weiter denkt Donfried an den Kult auf der nahe gelegenen Insel Samothrake, auf der eine Okeanos-Statue gefunden wurde. Okeanus sei mit seiner Gemahlin Thetis als Quelle des Lebens verehrt worden, letztere habe Plutarch als freundliche Amme tituliert (339f). 184 Vgl. Gutierrez 1968, s.u.; Gaventa 1990a, 202f; 1996a, 37t, die allerdings konzediert, dass es keinen engeren Zusammenhang gibt; Cherian 2001, 41. In Num 11,12LXX steht τιθηνός, das auch maskulin sein kann.

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

294

würde den Missionaren einen schlechten Dienst erweisen 1 ® 5 . Zweitens wird mehrfach eine bemerkenswerte Nähe zu lQH VII,20-22 behauptet 186 . Dort stehen nebeneinander Vater und säugende Amme (?, plN ist mask.), jeweils zur Bezeichnung der Beziehung zwischen Gemeinschaft und ihrem Führer, vermutlich dem Lehrer der Gerechtigkeit. Die Nähe zur Metaphorik in ι Thess 2,7.iif ist auch in diesem Fall nicht eng, da sich Paulus ja als Mutter geriert und vom Säugen der Kinder keine Rede ist. Man mag dies als Parallele sehen, aber eine Relevanz für die Interpretation des Vergleichs ist nicht erkennbar 187 . Relevanz hätte allerdings die Ableitung Gutierrez'. Es scheint, dass er den Vergleich mit einer menschlichen Mutter unpassend empfindet. Denn er wertet das Mutterbild zur Gottesmetapher auf, indem er neben den eben genannten Texten auch atl. Worte anführt, in denen sich Gott in mütterlicher Metaphorik präsentiert (Hos 11,3f; Jes 66,13 u.s.f.). Paulus identifiziere sich - wie der Lehrer der Gerechtigkeit - mit göttlichen Gefühlen, ja gebe die Liebe Gottes weiter 188 . Eine terminologische Berührung fehlt, und der Text divinisiert die Gefühle keinesfalls. So liegt es doch näher, an vorfindliche Mütter zu denken.

4.3

Wie ein unterweisender u n d m a h n e n d e r Vater ( 1 Thess 2 , 1 0 - 1 2 . 1 3 )

2 , 1 0 - 1 2 f ü h r t die Erinnerung an das Verhalten des Missionars bei d e n A d r e s s a t i n n e n fort 1 8 9 . D a s Fehlen eines neuerlichen regierenden V e r b s nach έ γ ε ν ή θ η μ ε ν V . i o f i n u n d die Parallelität der Dreierreihungen

185 Auch die möglicherweise auf Num 11 zurückgehende positive Nährer-Metapher bei Philo in Bezug auf Mose, den τροφεύς γ ά ρ και τίθηνός ... αστείων έργων, λ ό γ ω ν (Migr 24), bietet keinen Hintergrund für 1 Thess 2,7, insofern die Metapher nicht weiter ausgeführt ist und die Rolle zudem maskulin besetzt ist. 186 Vgl. vor allem die Textpräsentation von Kuhn (1992, 343t, dort 344 ältere Literatur); zum Text auch O. Betz 1956/57, 320ff; G. Jeremias 1963,189-192. Er unterstreicht die Auffälligkeit der Parallele, insofern die Metaphorik singular sei und für jüdisches Denken ein auffälliges Selbstbewusstsein darstelle. Eine Nähe konstatiert etwa Braun 1966, 234 („Diese Analogie ist dankenswert und trifft z u " ) ; Gaventa 1996a, 37f; Johanson 1987,185, und erwägt von Allmen 1981,190. 187 Bickmann will freilich mit diesem Text, den sie in Zusammenhang mit der Rede von Gott als Vater iQH IX,35-36 stellt, ihre Deutung von νήπιοι (vgl. oben bei Anm.165) stützen, weil einerseits der Lehrer der Gerechtigkeit gegenüber JHWH die Rolle des Säuglings einnehme und andererseits die Gemeinde gegenüber dem Lehrer der Gerechtigkeit (jeweils Vrw; vgl. 1998, 173). Diese Übereinstimmung ist m.E. nicht signifikant. 188 1968, 97ff. 189 Nach Frame 1 Thess, 103 reagiert V.10 auf den Vorwurf der πλεονεξία von V.5, V.iif auf den Vorwurf der κολακεία, wie V.7-9 auf den Vorwurf des δόξαν ζητεϊν antwortete. Ähnlich Neil 1 Thess, 42. Vom Text her ist diese Assoziation nicht weiter gestützt.

ι Thess 2,10-12

295

V.io.i2a rücken die Aussagen aneinander190. Ich gehe zunächst auf die Wortwahl und Formulierungen ein. V.10 kennzeichnet das Verhalten der Absender während ihrer Anwesenheit bei den Adressatinnen durch die syndetische Aufzählung dreier Adverbien, die je paarweise geläufig sind 191 . Zu dritt, als Homoioteleuta und mit gleicher Anzahl von Silben, deuten sie plerophor 192 darauf, dass die Integrität des Verhaltens alles umfasst: Gott angemessen (όσίως), vor den Menschen rechtschaffen (δικαίως), untadelig, zunächst vor Gott (άμέμπτως) 1 9 3 . Der semantischen Ausrichtung auf Gott und, dazwischen inkludiert, auf die Menschen entsprechen die Zeugenanrufungen an die Adressatinnen, hier besonders betont194, und Gott. Sie sollen die Rechtschaffenheit der Missionare bestätigen. Dieser selbstbewusste Gestus mar190 Die Verse können als ein Satzgefüge mit έγενήθημεν als regierendem Verb aufgefasst werden (so Malherbe 1 Thess, 151). Oder V.iif ist Anakoluth (so Holtz 1 Thess, 89; Lightfoot 1 Thess, 28f [als Ellipse]; Rigaux 1 Thess, 429; Best 1 Thess, 106; Dobschütz 1 Thess, 100; Haufe 1 Thess, 40; P.-G. Müller 1 Thess, 135). Wanamaker 1 Thess, 105 moniert, dass έγενήθημεν nicht ένα έκαστον ύμών als Objekt haben könne. Dann wäre der Satz elliptisch. 191

Für die Geläufigkeit des Paares δσιος και δίκαιος vgl. Anm.193, für Zusammenstellungen eines dieser mit αμεμπτος vgl. Holtz 1 Thess, 88 Anm.385, der mit Recht einen „formelhaften Klang" der Adverbienreihe wahrnimmt (a.a.O., 87).

192 Vgl. zu weiteren Pleonasmen von zwei oder drei Wörtern im 1 Thess Gutierrez 1968, 102 Anm.4. 193 οσίος κτλ. ist paulinisches hapax legomenon; es bezeichnet entsprechend dem allgemeinen griechischen Gebrauch den „frommen" Menschen, der die Gottheit und ihre Gesetze respektiert, und ist insofern im „Sinngehalt selbstgerechter" als die sonstige frühchristliche Terminologie (Friedrich Hauck, Art. οσιος κτλ., in: ThWNT 5 [1954] 488-492: 489t, Zitat 490,38t). δίκαιος ist bei Paulus im profanen Sinne selten, thematisiert hier nicht die Gottesbeziehung (wie die Terminologie der Rechtfertigungslehre überhaupt im 1 Thess fehlt; mit Holtz 1 Thess, 88), sondern in dem formelhaften Miteinander όσιος και δίκαιος das Verhältnis zu den Mitmenschen. Nebeneinander stehen die Worte im NT in Tit 1,8; Offb 16,5; Lk 1,75; Eph 4,24; vgl. Hauck a.a.O., 489,8f: „der Doppelausdruck besagt dann das, was göttlicher u[nd] menschlicher Rechtsforderung entspricht (fas et ius)", weitere Belege a.a.O., 489 Anm.11 und bei Gottfried Quell/Gottlob Schrenk, Art. δίκη κτλ., in: ThWNT 2 (1935) 176-229: i84,23ff. (Diese behaupten allerdings 193,25t einen Bezug auch von δίκαιος in 1 Thess 2,10 zum göttlichen Recht; in diesem Sinne auch Morris 1 Thess, 75.) Auch αμεμπτος ist gut griechisch; der Brief wird es später von Gott für die Adressatinnen erbitten im Zusammenhang der für die Parusie vorausgesetzten Heiligkeit (3,13; 5,23). Es impliziert dort also eine Reinheit vor Gott (vgl. auch Phil 2,15 parallel zu ακέραιος, HiLXX 4,17; 11,4 u.ö. parallel zu καθαρός), und wird, wiewohl im Griechischen auch eine zwischenmenschliche Eigenschaft (Walter Grundmann, Art. μέμφομαι κτλ., in: ThWNT 4 [1942] 576-578: 57Ö,i9ff), eher als semantische Klammer um δικαίως mit όσίως zusammen von der Ausrichtung auf Gott sprechen. (Anders Gutierrez 1968,106, der die Tadellosigkeit vor Gott und Menschen angesprochen sieht, wie auch Lightfoot 1 Thess, 28; Wanamaker 1 Thess, 105). 194 Mit Malherbe 1 Thess, 149.

296

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

kiert eine qualitative Vorordnung der Missionare vor ihre Konvertitinnen195, denen die Missionare erst gottgemäßes Ethos einprägen mussten. Eben dies spricht der Vatervergleich V.iif aus, da er pauschal unterstellt, dass die einzelnen Missionierten der Erziehung wie Kinder bedurften. Der Vatervergleich ruft die inhaltliche Zuwendung zu den Thessalonicherlnnen in Erinnerung. V.11 stellt plerophor und mittels der Alliteration von aspirierten Vokalen in V.iib zunächst die Menschen heraus, denen die Aufmerksamkeit der Missionare galt. Die vier Pronomina der 2. Pers. PI. betonen deren Identität mit den Adressatinnen und verbinden so wiederum Erzählzeit und erzählte Zeit. Der Rekurs auf den Vater ist nach der hier vorgeschlagenen Kategorisierung ein gerichteter Vergleich, insofern das „tertium comparationis" deutlich ist196. Er ist nicht „kühn", da die Beschreibung des Paulus (und seiner Mitarbeiter), als „Vater" weder zur Gattung „Mensch" noch dem Geschlecht in Spannung steht197. Die Form des Vergleichs mildert die Aussage und die Konkurrenz zur Gott-VaterMetapher (1,1.3). Die zur Beschreibung herangezogenen Partizipien können zum Bereich des Bildempfängers wie Bildspenders gehören; im engeren Sinne fokal fungieren nur πατήρ τέκνα έαυτοϋ. Allerdings

195 Die Funktion des Dativs ύμϊν τοις πιστεύουσιν ist umstritten. Am besten versteht man ihn als dat. comm. Er gibt die Nutznießer dieses Verhaltens an, so dass im attributiven Partizip ein impliziertes Argument mit der causa efficiens zu erkennen ist: „euren Glauben zu wirken traten wir so unter euch a u f " - das spricht noch einmal für das Ethos der Missionare. Als dat. comm. deuten auch Best iThess, 105; ähnlich Bruce iThess, 36. Etwas anders interpretiert Rigaux (iThess, 428: «parmi vous», was auch impliziere, vor euren Augen und zu euren Gunsten); ihm folgen Marshall iThess, 73; Wanamaker iThess, 105. Dobschütz iThess, 99 liest es als einfachen Dativ der Relation. Als solcher reicht er aber nicht hin, weil nach den Adverbien ja nicht nur die Angeredeten, sondern auch Gott die Beziehungsgröße sind. Wieder anders deutet Malherbe 1 Thess, 149 es als "dative of opinion or credit"; dagegen hat schon Lightfoot iThess, 28 darauf hingewiesen, dass damit die Anrede „ihr seid Zeugen" sinnlos verdoppelt würde. Die Erwägung, dass die Apposition τοΓς πιστεύουσιν die Adressaten des Verhaltens präzisiere und somit dessen Geltung einschränke auf eine bestimmte Gruppe, als sei der Missionar anderen gegenüber nicht tadellos aufgetreten, ist sinnlos, denn auch Gott ist ja als Adressat des Verhaltens im ersten und dritten Adverb inkludiert. - Dobschütz ebd. will eine Gegenüberstellung zwischen jetzigem Gläubigsein und früherem Ungläubigsein sehen, aber dagegen ist einzuwenden, dass das beschriebene Verhalten dem Gläubigwerden erst zuträglich war. 196 Vgl. §3.4. 197 Zur Spezifizierung von Metaphern als „kühn" vgl. Weinrich 1976, 295ff.

ι Thess 2,10-12

ist der sprachliche Aufwand nicht gering, so dass der Vergleich dennoch nicht beiläufig fällt198. V o r a l l e m die R e i h u n g d e r Partizipien heischt B e a c h t u n g . S i n d d a s erste u n d z w e i t e H o m o i o a r k t a , d a s z w e i t e u n d dritte H o m o i o t e l e u t a , mit ähnlicher Silbenzahl u n d g e r i n g e r semantischer D i f f e r e n z , so deutet bereits die S p r a c h gestalt auf die sorgfältige, alle u m f a s s e n d e B e t r e u u n g hin. π α ρ α κ α λ ο ϋ ν τ ε ς rekurriert i m Brief m e h r f a c h , s c h w i n g e n d z w i s c h e n E r m a h n e n u n d Trösten 1 9 9 . S o o d e r so bezeichnet es eine H a n d l u n g a n a n d e r e n v o n ü b e r g e o r d n e t e r Position aus. H i e r ist a n die m a h n e n d e U n t e r w e i s u n g z u d e n k e n , w i e auch 2,3 die V e r k ü n d i g u n g in Thessalonich als π α ρ ά κ λ η σ ι ς z u s a m m e n f a s s t e 2 0 0 . I n s o f e r n ist es p a s s e n d , das erste Partizip z u lesen als d e n „ s a c h l i c h ... ü b e r g e o r d n e t e [ n ] Begriff ..., der d u r c h die b e i d e n a n d e r e n entfaltet w i r d " 2 0 1 . D a s V e r b π α ρ α μ υ θ ε Γ σ θ α ί hat ebenfalls einen w e i t e n B e d e u t u n g s u m f a n g , d e r d u r c h d e n A u s s a g e k o n t e x t k a u m geschmälert w i r d , ja es ist keine e i g e n e B e d e u t u n g s n u a n c e g e g e n ü b e r d e m ersten Partizip erkennbar 2 0 2 . Deutlich ist

198 Der metasprachliche Einwurf καθώς οϊ&ατε appelliert noch einmal, wie schon in V.2.5, an die Erinnerung und Bestätigung der Lesenden oder Hörenden. Die τέκνα sind von Subjekt und Possessivum wie von ihrem Vater umarmt; die Zuwendung zum/zur Einzelnen ist betont (zu dem psychagogischen Ideal der Zuwendung zum einzelnen vgl. Malherbe 1 Thess, 151). 199 παρακαλεϊν denotiert eindeutig „trösten" in 3,7; 4,18, „ermahnen" in 4,1. 200 Ahnlich Otto Schmitz/Gustav Stählin, Art. παρακαλέω κτλ., in: ThWNT 5 (1954) 771-798: 794,12ft z.St., die ebd. 2if darauf hinweisen, dass die Wechselbegriffe für das Verb zeigen, dass in der Mahnung „nichts Scharfes, Polemisches, Kritisches liegt"; vgl. auch Holtz 1 Thess, 90. Anders etwa Gutierrez, nach dem "exhortation" und "encouragement" und damit der Aspekt der Tröstung untrennbar zusammengehören, so wie im Evangelium Mahnung und Trost vereint seien (1968, lioff, Zitat 110; ähnlich Best 1 Thess, 107). Gerade das Trösten sei eine der klarsten "manifestations" der göttlichen väterlichen Liebe, die der Apostel als Apostel mit „attitude divine" (113) gegenüber den Glaubenden reproduziere. Gegen diese Überfüllung der Bedeutung ist einzuwenden, dass das Verb auf eine Handlung referiert, die noch vor Beginn der Bedrängnisse und Ängste, denen der Trost gilt, stattfand. 201 Rigaux 1 Thess, 430; mit ihm Holtz 1 Thess, 90; ähnlich Frame 1 Thess, 104; Malherbe 1 Thess, 151. Anders Best 1 Thess, 105 mit unplausibler Begründung. 202 Vgl. Gustav Stählin, Art. παραμυθέομαι κτλ., in: ThWNT 5 (1954) 815-822: 815ft zu den „Hauptbedeutungen" „mahnen", „beruhigen", „trösten"; 819 zur semantischen Nähe zu παρακαλεϊν, mit dem es bei Paulus fast immer kombiniert ist (vgl. i K o r 14,3; Phil 2,1; der von Stählin behauptete Zusammenhang in 1 Thess 5,14 ist allerdings nicht gegeben, weil beide Verben unterschiedliche logische Subjekte haben). Die Übersetzung „ermuntern" Stählins (819,15) bzw. „encourager" Spicqs (1978b, 661 s.v.) ist nur treffend, wenn an die ethische Unterweisung gedacht ist. Anders z.B. Malherbe 1990, 386t und Wanamaker 1 Thess, 106f, die die Bedeutung „trösten" vorziehen, letzterer, um die Bedeutungsgleichheit mit dem ersten Partizip zu vermeiden. Das Bedürfnis nach Trost für den Gründungsbesuch zu unterstellen, ist anachronistisch (vgl. Anm.200).

298

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

das „Freundlich-Zugewandtsein" 203 und schließlich mit dem dritten Partizip die Eindringlichkeit 204 .

Die drei Partizipien sprechen also nicht von drei Akten der erzieherischen Zuwendung. Vielmehr gibt uns das Hendiatrion „die volle Beschreibung des apostolischen Mahnens" 205 , verdeutlicht uns vor allem den Nachdruck und die Intensität der damaligen Zuwendung zu den Adressierten. Inhaltlich ist die Anfangsunterweisung, auf die der Text hier rekurriert, nach dieser Zusammenfassung vor allem ethisch ausgerichtet. Das machen nicht nur die drei Partizipien, sondern auch die Fortsetzung V.i2b deutlich206. Die Finalbestimmung 207 , „damit ihr Gott würdig wandelt, der euch beruft in seine Herrschaft und Herrlichkeit" (V.nb), gibt erstmals an, wohin die Beziehung zwischen Verkündigern und Umworbenen, Briefschreiber und Leserinnen führt, jenseits der Errettung vor dem Zorn (1,1ο) 208 . Die Zielangabe ist metaphorisch, visualisiert sie doch das Ziel lokal und den Weg dorthin als Bewegung aufgrund eines Rufes 209 , wie dann der überleitende Satz 2,i3 210 noch weiterführt. Zwar sind die Metaphern so geprägt, dass sie kaum als solche empfunden werden, doch sind sie bemerkenswert (aber von den Auslegungen unbemerkt) kohärent in sich und mit dem Vatervergleich. Gerade die Verwendung

203 Stählin a.a.O., 815,18. 204 Vgl. Hermann Strathmann, Art. μαρτύρομαι κτλ., in: ThWNT 4 (1942) 517-519: 517,36 ft z.St. 205 Holtz 1 Thess, 90, der allerdings verwässernd hinzufügt: „In der Mahnung sind Zuwendung und Gewißheit vereint, haben die Tat der Liebe und der Inhalt des Glaubens eine ihrer entscheidenden Funktionen". 206 Wie auch Lührmann 1990, 245ff.249 im Blick auf 4,1-12 betont, trifft die vom Aufbau dieses Briefes nur vordergründig gestützte Vorstellung, der Imperativ folgte dem Indikativ, für den 1 Thess nicht zu. 207 Mit Malherbe 1 Thess, 152. Anders Dobschütz 1 Thess, 101: Nicht der Zweck, sondern der Inhalt wird angegeben, wie bei εις τό die Finalbestimmung ganz abgeschliffen sei. Vgl. dagegen BDR § 402,2 mit z.St. 208 So die treffende Beobachtung Bickmanns (1998,182). 209 Zum atl.-jüdischen Hintergrund der Wort-Schöpfungs- bzw. Erwählungs-Metaphorik Holtz 1 Thess, 91 f. 210 In der Regel gilt 2,12 als Ende des Abschnitts, anders nur Dobschütz 1 Thess, 83t. Das Recht des Verständnisses von 2,13 als Beginn eines neuen Abschnitts liegt in der Rekurrenz des εύχαριστοϋμεν von 1,2. 2,13 liest sich aber auch gut als überleitende Summe von 2,1-12. Der Satz lenkt mit και δια τοϋτο vom Verhalten der Missionare in Thessalonich auf zu dem der Adressatinnen zurück. Zu dieser "connective function" des Verses vgl. Lambrecht 2001b.

ι Thess 2,10-12

299

des für Paulus ungewöhnlichen βασιλεία sc. θεοϋ 2 1 1 ist sinnvoll, zeigt es doch Gott in atl. Sprache als König. Diesem ist auch der „Vater Paulus" Untertan. A n Stelle der Gott-Vatermetaphorik steht hier das Bild eines hierarchischen Imperiums, in dem Gemeinde, Missionare und Gott einen je eigenen Platz haben - jedoch kein römischer Potentat 212 . Diese räumliche Metaphorik wirkt anders als die temporal-lineare, mit der der Brief die Erwartung der Parusie des Kyrios ausmalt (3,13; 4,13ft; 5,23, vgl. 1,10). Sie vernachlässigt die Vorstellung des Zukünftigen, um die Gegenwärtigkeit und Permanenz der Herrschaft Gottes 213 und seiner Herrlichkeit 214 zu beschreiben, des Heilsraumes, in den die Adressierten bereits dauerhaft 215 von Gott berufen sind. Der Vatervergleich bereitet der Auslegung keine virulenten Probleme und wird allgemein als Verbildlichung der „apostolischen Mahn u n g " verstanden. Eine methodisch bedachte Auslegung kann jedoch seine Bedeutung klarer pointieren. Es reicht nicht hin, die Konzeptmetapher oder den Bildspender allein zu betrachten. Vergleiche und Metaphern mit „Vater" als Bildspender für Götter oder Menschen sind in der griechisch-römischen und jüdischen Literatur der Zeit von keinerlei Originalität. Jedoch vermag sie ganz unterschiedliche Aspekte

211

Vgl. zum Vorkommen im corpus Paulinum Holtz 1 Thess, 92. Mit ihm ist angesichts von i K o r β,^ί; 15,50; Gal 5,21 auch anzunehmen, dass der Ausdruck in den paulinischen Briefen eine besondere Funktion in der Mahnrede hat. Dass er aus einer Tauftradition aufgenommen wurde (Haufe 1985; Donfried 1993, 38 u.a.), ist weder nachweisbar noch bedeutsam für das Textverständnis.

212 Zu dieser politischen Implikation der Formulierung in 2,12 vgl. Yeo 2002, 531 f. 213 Der futurische Aspekt tritt auch zurück in 1 Kor 4,20; Rom 14,17; mit Bruce 1 Thess, 37t, gegen Holtz 1 Thess, 92, der den futurischen Aspekt aufgrund der sonstigen Verwendung bei Paulus zu stark macht. 214 Vgl. Harald Hegermann, Art. δόξα, in: EWNT 1 ( 2 1992) 832-841: 837: Paulus teile den allgemein urchristlichen Sprachgebrauch. „So sagt 6[όξα] auch für P[au]l[u]s grundlegend das Wesen Gottes aus, wie es in seiner Offenbarung erscheint ..., glaubend erhofft wird in ihrem definitiven Erstrahlen im Endgeschehen". Dobschütz 1 Thess, 102 erinnert an den mrr 133, den „Gott umgebende[n], unter Umständen für Menschen in sichtbare Erscheinung tretenden Lichtglanz". Nach anderen ist die Teilnahme der Glaubenden an der Herrlichkeit Gottes gemeint wie in Phil 3,21, die jetzt schon Hoffnungsgut jedes Christen ist (so Haufe 1 Thess, 42; P.-G. Müller 1 Thess, 138). Wenn Holtz 1 Thess, 92 an die anthropologisch-eschatologische Verwendung von δόξα in Rom 6,4; Phil 3,21 und die inkludierende Funktion von δόξα (2,6.12) erinnert, verschleiert dies die theozentrische Füllung des Wortes hier. Auf die δόξα des Adressanten 2,6 kommt erst 2,20 wieder zurück. 215 Vgl. zum Präsens ό καλών 5,24; Gal 5,8. Dass es Gott als den, der immer der Berufende ist, bezeichnet (so Dobschütz 1 Thess, 102), ist in diesem Zusammenhang sinnlos, weil die 2. Pers. PI. als Objekt hinzutritt. Mit Reinmuth 1 Thess, 127 ist daran zu denken, dass auch der Brief Ausdruck des gegenwärtigen Rufes Gottes sein kann.

300

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

der Beziehung darzustellen. Der Aussagekontext erst präzisiert Semantik und Pragmatik 216 . Die Aussage ist nicht von anderen Vatermetaphern her aufzuschlüsseln. Weder Texte, in denen sich Paulus mit einem Vater der Gemeinde vergleicht, weil er sie gegründet hat ( i K o r 4,14ff) 217 , noch ein grundlegendes Konzept der „geistlichen Vaterschaft" 218 noch die rabbinisch belegte Auffassung vom Lehrer als durch die Tora zeugenden Vater 219 klären die Bedeutung. Auch die Rückführung auf in moralphilosophischer Literatur begegnende Metaphern vertieft das Verständnis nicht220. Im folgenden soll untersucht werden, was Bildempfänger und -spender gemeinsam visualisieren und welches kulturelle Konzept sie abrufen; wir blicken dazu abwechselnd auf Rahmen und Fokus. Der Vergleich, dies die These, stellt uns den Missionar als jüdischen Vater vor Augen, der seiner Aufgabe tadellos nachkommt, sein Kind in das Gottes Willen entsprechende ethische Leben einzuführen.

216 Dass die Semantik der Vatermetaphern aus dem jeweiligen Kontext zu füllen ist, belegen die Studien Böcklers zur alttestamentlichen und Strotmanns zur frühjüdischen Vatermetaphorik. Böckler fasst ihre Studie zusammen: „Die Vaterrolle an sich umfasste dabei allgemein alle ... Aspekte der Zeugung und Erhaltung von Leben, der Autorität, der Verantwortung, der Erziehung der Söhne, der Rechtsvertretung und des Schutzes. Wenn JHWH als Vater bezeichnet wird, muss daher jeweils im Einzelnen geklärt werden, ob das Bild universal gemeint ist oder ob es auf einen einzelnen Aspekt der Vaterschaft Bezug nimmt" (2000, 391). Vgl. entsprechend Strotmann: Die „Konnotationen, mit denen die Vaterschaft Gottes in den untersuchten frühjüdischen Schriften verbunden ist, sind - ohne daß die Reihenfolge die Priorität angibt - folgende: Erziehung, Erbarmen, Vergebung, Treue, Verläßlichkeit, Fürsorge, Verantwortung, Liebe, Güte, Freude, Zuwendung, Nähe, Schutz, Hilfe, Rettung, machtvolles Eingreifen zugunsten der Menschen, absolute Schöpfermacht, Anteilgabe an Gottes Macht, Herrlichkeit und Erkenntnis" (1991, 360). Dies ist gegen eine indifferente Deutung aller Gott-Vatermetaphern wie z.B. durch J.L. White 1992 festzuhalten. 217 Daran erinnern Hoppe 1998, 277t; Malherbe iThess, 163 (er sieht Parallelen darin, dass jeweils eine autobiographische Passage beendet werde, bevor Anweisungen kommen, doch das trifft für 1 Thess 2,10-12 nicht zu) und P.-G. Müller 1 Thess, 135. 218 Zutreffend Holtz iThess, 89. Ein solches Konzept behauptet vor allem Gutierrez 1968. 219 Vgl. dazu Gottlob Schrenk/Gottfried Quell, Art. πατήρ κτλ., in: ThWNT 5 (1954) 946-1024:1007,12ft; vgl. Bill 3, 34of ad 1 Kor 4,15; vgl. § 7.4.3. 220 So Malherbe 1989b, 54-56; 1 Thess, 150; diesen Hintergrund sieht auch Haufe 1 Thess, 40.

301

ι Thess 2,10-12

D e r Bildempfänger präzisiert d e n A s p e k t d e s f o k a l e n K o n z e p t e s „ V a t e r s c h a f t " , n ä m l i c h die Erziehungsfunktion 2 2 1 , g e n a u e r die religiös-sittliche U n t e r w e i s u n g , π ε ρ ι π α τ ε ϊ ν hat e n t s p r e c h e n d d e m bibelgriechis c h e n K l a n g bei P a u l u s ethische Bedeutung 2 2 2 , es b e z e i c h n e t

den

„ L e b e n s v o l l z u g " , der sich in g a n z b e s t i m m t e m T u n niederschlägt, also ist an „ k o n k r e t e W e i s u n g e n " 2 2 3 als Inhalt der M a h n u n g e n z u d e n k e n . D i e sind nicht hier, s o n d e r n beispielhaft in K a p . 4 ausgeführt 2 2 4 . M a c h e n w i r u n s d e n Fokus im hier spezifizierten R a h m e n z u eigen, d e n Vater, der seine K i n d e r z u v o n Gott e r w a r t e t e m ethischen V e r h a l ten erzieht. U n t e r d e n τ έ κ ν α , die v o m V a t e r u n t e r w i e s e n w e r d e n , k a n n m a n sich K i n d e r j ü n g e r e n A l t e r s vorstellen, j e d o c h älter als die, die die M u t t e r i m Bild v o n 2,7 hegt. D a s K o n z e p t eines K i n d e s ist i m antiken W e l t e n t w u r f d u r c h körperliche u n d intellektuelle D e f i z i e n z i m Verg l e i c h m i t E r w a c h s e n e n bestimmt 2 2 5 . Für Stoiker k o n n t e n K i n d e r dar u m z u r M e t a p h e r d e s Irrationalen werden 2 2 6 , u n d ein A s p e k t dieser m a n g e l n d e n V e r n u n f t " w a s that they w e r e n o respectors of social conventions. T h e y w o u l d m a k e r u d e noises at p a s s e r s - b y ; they w o u l d chase p e c u l i a r adults, like H o r a c e s ' s poet, a l o n g the streets, they w o u l d p l u c k the b e a r d of a venerable p h i l o s o p h e r " 2 2 7 . K u r z gesagt, K i n d e r b e d ü r f e n , w i e bis h e u t e nicht n u r Eltern plausibel, der E r z i e h u n g z u sozial v e r a n t w o r t l i c h e n E r w a c h s e n e n . O b w o h l a u c h in der hellenistischen u n d r ö m i s c h e n K u l t u r d e m Vater V e r a n t w o r t u n g f ü r die Erzieh u n g oblag 2 2 8 , r u f t der F o k u s d e s V e r g l e i c h s k o n k r e t die

atl.-jüdische

221 So auch Best 1 Thess, ιο$ί. - Burke legt zwar die "Pauline paternity" (2000,) wie hier gefordert nicht von der metaphorischen Tradition her aus, sondern von dem sozial vermittelten Konzept von Vaterschaft. Doch dies entwickelt er ohne Berücksichtigung des Aussagekontextes allgemein als ein Konzept in "dialectic" (2000, 58) von Autorität und Affektion; dass auch die Liebe in diesem Konzept dargestellt werde, sei das Besondere. Dafür schlägt er allerdings die im Rahmen des Vergleichs mit einer Mutter fallenden Aussagen dem mit dem Vater zu (a.a.O., 75.78 und ausführlicher ders. 2003,130-162). 222 Vgl. 4,1.12; vgl. Heinrich Seesemann/Georg Bertram, Art. πατίω κτλ., in: ThWNT 5 (I954) 940-946: 94 2 /5 2ff ; 944-14ff· 223 Mit Holtz 1 Thess, 9of, gegen eine entethisierende Deutung wie die Marxsens (1 Thess, 46) als „eschatologisches Existieren". 224 „Die Qualifikation [sc. άξίως] ist ... eine formale Qualifikation, sie bekommt ihren Inhalt von dem Gegenstand ihres Bezugs", das ist Gott; so treffend Holtz 1 Thess, 91. 225 Vgl. Wiedemann 1989,17ft zur „infirmitas puerorum"; P. Müller 1992, 931162. 226 Mit Wiedemann 1989, 24, vgl. z.B. Seneca, Ep Mor 33,7; 118,14: „ille [sc. infans] irrationalis est, hic [pubes] rationalis". 227 Wiedemann a.a.O., 24.45 Anm.45. 228 Vgl. zur Erziehung der Kinder in der hellenistischen und römischen Welt die zusammenfassende Darstellung bei Müller 1992, 8gff; vgl. Eyben 1992,138ff.

302

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Erziehungstradition ab. Denn in der jüdischen Kultur gelten „Curriculum" und Lernziel, auf das der Text anspielt und das der Brief zum Teil in 4,1 ff nennt, die religiöse Erziehung, als zentrale Aufgabe der Eltern. Im paganen Umfeld der Oberschichten prägen hingegen professionell vermittelte Vernunftausbildung und Kenntnisse der artes liberales, musischer und körperlicher Tüchtigkeit den Bildungsdiskurs 229 . Seit den im Pentateuch überlieferten Aufforderungen an den Vater, seine Söhne bzw. Kinder die Gebote Gottes zu lehren (Dtn 4,9; 6,7.20-25; 11,19), * st die Toraunterweisung der Kinder Aufgabe des idealen Vaters - unbenommen dessen, dass auch der Mutter Aufgaben in der religiösen Erziehung der Kinder zukamen 230 . Besonders weisheitliche Tradition spiegelt das Konzept von der väterlichen Lehre wider 231 . Beispielhaft ist auch die korrigierende Erweiterung von 2Makk 7 in 4 Makk 18,10ff: Die Mutter der sieben martyriumsbereiten Söhne, nach 2 Makk 7 „allein erziehend", erinnert die Söhne nun, wie ihr Vater sie Tora und Bibelkunde lehrte232. Sprechend sind weiter die Erzählungen von Unterweisungen der Kinder bzw. Söhne durch den Vater vor dessen Tod 233 . Überliefert ist das Konzept auch in der Forderung der Haustafel Eph 6,4 und vom idealen Vater Gott in Joh 8,28234.

Ein Blickwechsel zum Rahmen des Vergleichs in 1 Thess 2,nf zeigt, dass er auch in der Abfolge von Berufung (ό θεός ό καλών ύμας, 2,12) und Forderungen an den Lebenswandel der atl.-jüdischen Tradition entspricht: Der Wandel ist nicht Voraussetzung der Berufung, sondern umgekehrt folgt der geschehenen Berufung 235 bzw. Erwählung 236 durch

229 Vgl. neben Müller ebd. ausführlich Marrou 1977 und beispielhaft Ps.-Plutarch, den einzigen sich ganz der Erziehung widmenden Traktat de liberis educandis (= Plutarch, Mor iff). 230 Was historisch zu vermuten ist, wird auch gelegentlich erwähnt, vgl. z.B. Prov 1,8; 6,2off; 31,iff (gegenüber dem Sohn); Tob 1,7t; Philo, SpecLeg 2,228ff. Vgl. weiter Osiek/Balch 1997, i67ff über "Women Teachers of Women"; Balla 2003, 84. 231 Vgl. abgesehen von den vielen Einleitungen weisheitlicher Mahnungen mit „mein Sohn" bes. Prov 3,iif; 4,1-4; Sir 7,23; 30,1-13; Tob 4; vgl. insgesamt Gutierrez 1968, 28-38 zur Vatermetaphorik in weisheitlicher Literatur. 232 Vgl. weiter Jos 4,2off; Ri 6,13; Ps 34,12; 78,5-7; Susanna 3; Philo, Hypothetica 7,14. Josephus, Ap 2,204 stellt die Aufforderung zur Kindererziehung als spezifisches Charakteristikum des jüdischen Gesetzes heraus. 233 Vgl. nur Gen 49,1; 1 Kön 2,1; Tob 14,1 und die TestXII. 234 Vgl. auch die dieses Konzept voraussetzende Metaphorik in Hebr 12,4-11. 235 Vgl. die Präsentia 2,12; 5,24, neben dem Präteritum 4,7; entsprechende Präsentia sind ζών 1,9; διδούς 4,8; mit Malherbe 1 Thess, 153: "it describes a God who is active". 236 Vgl. έκλογή ύ μ ώ ν 1,4.

ι Thess 2,10-12

303

Gott, dem zentrale Theologumenon des Briefes 237 , das Gottes Willen angemessene Leben238. Gottes Erwählung fordert die Heiligung der Erwählten 239 . Mit der Verbindung von Berufung und Unterweisung greift der Text nicht spezifisch auf die weisheitliche Mahntradition zurück, wie Gutierrez meint240. Vielmehr ist an die oben genannten loci classici des Dtn zu denken, nach denen die Väter die Kinder in der Gesetzeseinhaltung unterweisen sollen als Erfüllung der Bundesverpflichtung 241 . Der Bildspender greift damit also ein Konzept der jüdischen Kultur auf. Der Vatervergleich setzt den Bildempfänger, die missonarische Arbeit an den zum Christusglauben bekehrten Thessalonicherlnnen, in ein bestimmtes Licht. Dies wird deutlich, wenn wir noch einmal auf den Fokus schauen und fragen, welche soziale Funktion die väterliche Einweisung der Kinder in die Pflichten der Gottesbeziehung für die 237 Dass der 1 Thess eine Erwählungstheologie vertritt, wird weithin anerkannt. Vgl. nur die Darstellung J. Beckers 1989, i38ff; Donfried 1996, 395f; 1993, bes. 28-30; Yeo 2002; Haufe 1 Thess, 41, der in der Sache mit Becker konform geht: „Für Paulus allein [ist] wichtig, daß das streng eschatologisch verstandene Heil sich schon jetzt auch an Nichtjuden in Gestalt der Berufung vorausgreifend ereignet." Dass die Erwählung anders denn als Hineinnahme der Heidinnen in das jüdische Volk Gottes verstanden wird, ist nicht erkennbar (gegen Becker a.a.O., 146-148). - Man reduziert die Sinnvielfalt des Briefes allerdings, wenn man die Beteiligung der Missionare am Erwählungshandeln Gottes vernachlässigt (zu blass bleibt diese Rolle etwa bei Becker a.a.O.). 238 Diesen Zusammenhang expliziert besonders 4,7. 239 Die Zusammengehörigkeit dieser beiden Koordinaten bekräftigt der summierende Briefkorpusabschluss 5,23t (vgl. auch 4,7), wie M. Müller 1997, i2off herausstellt (dort weitere Literatur). - Ein Gott würdiges Leben kann von den Adressierten selbst eingefordert (vgl. neben 2,12 besonders 4,2) oder von Gott erbeten werden 240 Diesen Hintergrund hebt Gutierrez (1968, 28-38) hervor. Er hält die Rede von der väterlichen Erziehung im jüdisch-weisheitlichen Schrifttum für eine bildliche Aussage der mit der Lehre verbundenen «transmission de vie». Pointe dieser Metaphorik sei, dass der weisheitliche Lehrer wie der Vater Leben weitergibt. Gutierrez will dies belegen mit dem Zusammenhang von Lernen, Leben und Glück in Prov 3,1 und ähnlichen Texten. Diese Vorstellung der Lebensweitergabe, die die «paternite spirituelle» des Paulus überhaupt präge (vgl. §1.2.3.1), sei auch in 1 Thess 2,11 f impliziert (io6f). Doch die Metaphorik vom Leben als Heilsgut bzw. vom Tod als dessen Verlust spielt im 1 Thess, der mit dem physischen Leben bis zur Parusie rechnet, keine Rolle. Auch wird nicht speziell weisheitliche Tradition abgerufen; zur traditionellen Verknüpfung von Erwählung und Heiligung vgl. M. Müller 1997,120. 241 Vgl. P. Müller 1992, 130 f. Die Frage, welche Väter dieses Ideal praktizierten, kann dahingestellt bleiben, weil der Text den Vater hier entlang dem Ideal entwirft. Vgl. Yarbrough 1993, 48f der gleichwohl mit Recht sagt, das Uberleben des Judentums in der griechisch-römischen Umwelt "is evidence enough that many Jewish parents took their obligations seriously" (49).

304

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Lebenspraxis im Judentum hatte, zumal im Diasporajudentum der Zeit. Die Vermittlung der jüdischen Gebote, Riten und Traditionen innerhalb der Familie war nicht der Ausweg aus einer Misere der öffentlichen Bildung, sondern hat ihren sozialen Grund darin, dass "the Jewish religious tradition was deeply woven into the fabric of Jewish family life" 242 . Auch in der römischen und griechischen Umwelt ist das Haus der Ort familiärer Kulte, wird das Familienleben durch Übergangsriten geprägt 243 . Doch wesentlich größer ist die religiöse Bedeutung der Familie im Diasporajudentum, das keinen in der Öffentlichkeit etablierten Kult hatte. Die Praxis der πάτρια έθη machte die Identität der Jüdinnen und Juden in der Diasporawelt aus. Darum wurde die Familie, die diese Gesetze, Riten, Gebräuche vermittelte, in der Diaspora "a crucial bulwark against social and cultural assimilation" 244 . Für die Christinnen der ersten Generation, d.h. vor der Zeit geschlossen christlicher οίκοι, die die Haustafeln voraussetzen, war die Herkunftsfamilie keine genuine religiöse Heimat, sondern bedeutete die Bekehrung oft genug den Bruch mit der Verwandtschaft 245 . An die Stelle der Eltern, die Kinder in den rechten Lebenswandel der von Gott Erwählten unterweisen konnten, treten die Missionare. Sie weisen die Heidinnen und Heiden in das Leben als Glieder der Gottesfamilie ein, zu der sie durch die Erwählung Gottes bereits gehören, wie sonst ein Vater seine Kinder, die qua Geburt zum Volk Gottes gehören246. Die Nähe der beiden verglichenen Größen, des Vater und des Missionars, ist also größtmöglich, ja der letztere kann den ersteren ersetzen. Der Text unterstreicht diese Nähe, indem er die Tätigkeit in V.iif mit Worten beschreibt, die sowohl zum Bildspender wie zum Bildempfänger passen. Richten wir unser Augenmerk schließlich auf die Abbildung der Adressatinnen im Vergleich. Die Präsentation der Konvertiten in Thessalonich als jüdische Kinder, die der Unterweisung bedürfen, erinnert an ein Bildfeld, eine metaphorische Tradition: Die Konversion zum Judentum kann als Wechsel der Familie, als Verlust der alten Bin-

242 Barclay 1997, 68. 243 Vgl. die Hinweise Barclays 1997, 67t; s. auch Osiek/Balch 1997, 82ft und Harmon 1978. 244 Barclay 1997, 68f und ausführlicher ders. 1996, 402-413. 245 Vgl. Barclay 1997, 72ft; Sandnes 1994, bes. 2iff. 246 Die Metapher benennt also die resozialisierende Funktion des Missionars; ähnlich Wanamaker 1 Thess, 106; 1995, 51, ohne aber den jüdischen Vorstellungshintergrund zu erkennen.

ι Thess 2,10-12

305

düngen und Bedürftigkeit nach neuen Bindungen aufgefasst werden. Der Vergleich für sich deutet dies nur unscharf an, denn der hier im Vordergrund agierende Vater spielt in jenem Bildfeld keine Rolle. Die Familienfiktion jedoch, die der Brief insgesamt inszeniert, bekommt vor diesem Hintergrund größere Prägnanz (vgl. weiter 4.4.1 und vor allem 7.2). Was ist also die Pragmatik des Vatervergleichs für die Kommunikationsbeziehung? Der Vergleich entwirft eine einseitig exklusive Beziehung (ein Vater, viele Kinder) und wertet das Verhalten der Missionare als das einem guten Vater entsprechende. Der kommt seinem Erziehungsauftrag sorgfältig nach, indem er unter Einsatz seiner Autorität, durch integres und damit vorbildliches Verhalten 247 und eindringliche Unterweisungen jedes einzelne seiner Kinder zu einem gottgemäßen Leben führt. Der Vergleich entwirft damit die Adressatinnen rückblickend als unreife, der Erziehung bedürftige Kinder, die sich ihres Mangels nicht selbst entheben können. Diese Situation muss aber nicht bedrohlich sein, solange sich die „Kinder" an „ihren Vater" halten. Von emotionaler Nähe, Liebe, ist nicht die Rede248. Ohne Zweifel setzt dieses Vater-Kinder-Verhältnis ein Autoritätsgefälle voraus, wie auch in der Antike ein typischer Vater kaum ohne Autorität vorstellbar war 249 , und einen „Entwicklungsvorsprung", hier betont als Vorsprung in der ethischen Vollkommenheit. So wird indirekt auch argumentiert für die Kompetenz des „Vaters". Ebenso wird angedeutet, dass die Erziehung weiterhin für die von den Missionaren begründete

247 Ähnlich Bruce 1 Thess, 39. Abgesehen davon, dass ein guter Vater in der Antike als Vorbild fungieren sollte (vgl. § 7.4.4 ad 1 Kor 4,14ft), ist Paulus hier vorbildlich, insofern er laut den Adverbien bereits das Gott würdige Verhalten lebt. Ein Nachahmungsverhältnis wird jedoch vom Text her nicht eigens hervorgehoben. 248 So aber Holtz 1 Thess, 89; Köster 1980, 291, und vor allem Burke 2000, 65 ft, der dies aus einem allgemeinen Konzept von Vaterschaft und dem weiteren Kontext von 2,iif ableiten will. 249 Mit Holtz 1 Thess, 89. Bestritten wird die Autoritätsimplikation von Köster 1980, 291t (weil 2,17 das umgekehrte Verhältnis zeige) und von Malherbe 1 Thess, 159f.163; ihre Relevanz bestreitet auch Hoppe 1998, 278. Vgl. zur gemeinantiken, d.h. in paganen wie jüdischen Texten nachvollziehbaren Vorstellung von der Autorität der Eltern, denen Ehre sowie Gehorsam zusteht, nur Yarbrough 1993, 4gff (jüdisch). 53ff (pagan); Burke 2000, 62ff; Eyben 1992, i i 4 f f ; vgl. auch Quell/Schrenk ThWNT 5, 948-95i-97of zur väterlichen Autorität in den verschiedenen Kulturen.

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

3O6

Gottesbeziehung wichtig ist230. Gleichwohl hat der „Vater" nicht nur Autorität, sondern auch Verantwortung 251 . Durch die Ausdeutung der Vaterrolle als Erziehung zum würdigen Wandel vor Gott kann der Vergleich die trilaterale Beziehung von Missionaren, Missionierten und Gott darstellen, ohne doch die Beziehung zwischen Missionaren und Gemeinde einerseits, Gott und Gemeinde andererseits in ein präzises Verhältnis zu setzen252. 2,13 führt hier weiter, aus der Perspektive der Missionierten formuliert: Die Annahme des Wortes der Missionare als Wort von Gott ist die Bedingung für das Gelingen des Missionsprozesses. Dass die Adressatinnen die Predigt der Missionare so hören, ist von Gott bzw. seinem Wort selbst gewirkt (2,13 fin). Dies impliziert auch der Dank an Gott, in den die Rückblicke eingebettet sind. Der hermeneutische Zirkel 253 wird von Gott selbst erschlossen.

4.4 4.4.1

Zwischenauswertung

Mutter- und Vatervergleich im Kontext von 2 , 1 - 1 2

Oft bereits ist bemerkt worden, dass der Brief in den Vergleichen mit einer Mutter und einem Vater zwei korrelierende Bilder bietet. Sie lassen an eine Einzelperson als Gegenüber zur Gemeinde denken, also Paulus, dessen Bedeutung für die Gemeinde mit Hilfe des Rückblicks für die Briefgegenwart und die Zukunft entworfen wird. Wir hatten zum Verständnis der Bildersprache die soziale Erfahrungswelt herangezogen. Auch das Miteinander von Mutter und Vater, in dieser Reihenfolge, und die Verteilung der Aufgaben sind aus der 250 Vgl. Bickmann 1998, 212: Die Kompetenz des charismatischen Lehrers werde in V . 9 12 doppelt abgesichert. „Sie geht nicht auf Kosten des Lesers, da der Lehrer selbstlos und treu handelt, und sie eröffnet und erhält dem Leser eine direkte Gottesbeziehung, die er allein nicht herstellen könnte". Bickmann fasst hier allerdings V.9 als Aussage über die Selbstlosigkeit zu V.10-12. 251 So zu Recht Sandnes 1994, 57 mit Belegen; er geht allerdings nicht auf unseren Text ein. 252 Dass der Adressant als „Ort der Erfahrbarkeit der Elternschaft Gottes gekennzeichnet" würde (so Bickmann 1998,171 wegen der zwiefältigen Verwendung der Vatermetaphorik), ist mit der Rede von der βασιλεία Gottes gerade nicht indiziert. 253 Vgl. die Beschreibung durch Börschel (zu deren Theoriehintergrund s. §1.2.1.2): Paulus sei nach seiner Darstellung selbst Teil der vermittelten „Sinnwelt" (2001, 111, allerdings mit untauglichem Verweis auf 2,8). „Die Sinnwelt, die er [sc. Paulus] vermittelt, beinhaltet zugleich die Legitimation seiner Rolle" (113, zu 2,13).

Metaphern und Pragmatik von ι Thess 2 , 1 - 1 2

Lebenswelt verstehen. Es entspricht dem schon damals gültigen Modell: Die Mutter ist die erste Bezugsperson, sie hegt die Kinder, sie steht für die selbstlose Weitergabe ihrer Lebenskraft, und dies aufgrund ihrer Emotionen254. Der Vater wird als integres Vorbild, als Wissender für die älteren Kinder bedeutsam, er vermittelt zu leben, wie es dem Gotteswillen entspricht255. Mit dieser idealen Szene einer „heiligen Familie" färbt der Briefabschnitt die Erinnerung an die Beziehung der Missionare zu den an Angeschriebenen in Thessalonich ein. Die Familienfiktion führt eine noch engere und anders begründete Bindung vor Augen als eine Freundschaft 256 . Die Familienbilder vergewissern die Konvertiten, dass sie Mutter und Vater haben, auch wenn sie ihre ursprüngliche Familie verloren. Die durch die Familienmetaphorik des Briefes vermittelte Vorstellung, dass die Christinnen und Christen in Thessalonich nun Glieder einer neuen, solidarischen und verlässlichen „Familie" sind, wird belebt von diesen Elternbildern (vgl. unten 7.2). Sie laden ein, die Beziehung zu den Missionaren, allen voran zu Paulus, so eng wie die Bande zwischen Eltern und Kindern zu sehen und sich als Geschwister. Die Beziehung zu den Eltern wird auch nicht in Frage gestellt durch räumliche Trennungen. Die Vergleiche können also die Zusammengehörigkeit positiv, nicht durch Abgrenzung von anderen abbilden. Sie haben neben diesem emotionalen weitere Aspekte. Die Bilder vermitteln zunächst ein bestimmtes Verständnis der Beziehung zwischen Missionar und Gemeinde. Die Eltern-Kind-Relation ist asymmetrisch. Die Eltern sind vor den Kindern, die Kinder nur durch die Eltern, von diesen abhängig. Die Mutter kümmert sich selbstlos aus Liebe um 254 Gelegentlich wird für die moderne Diskussion um die Geschlechterrollen positiv hervorgehoben, dass Paulus sich mit einer Amme oder Mutter vergleiche; so durch Gaventa in ihren diversen Veröffentlichungen zum Text. Für Cherian 2001, 3 5 f ist dieser Text neben Gal 4,19 sogar Beleg dafür, dass Paulus sich Frauen in öffentlichen Amtern wünschte. Der nüchterne Blick sieht jedoch, dass 1 Thess 2,ηί und 2,10-12 traditionelle Geschlechterrollen keineswegs aufgesprengt. 255 Vgl. etwa Reinmuth 1 Thess, 127: Vater- und Muttermetapher seien Pendants, aufgrund der sozialen Rollen je unterschiedlich gefüllt. Bruce 1 Thess, 36 weist auf ähnliche Deutungen Chrysostomos' (In I. Thess hom 2,2; PG 62, 408) und Pelagius' hin: Die Mutter sei für das Herz, der Vater für die Unterweisung zuständig (vgl. ähnliche Notizen bei Lightfoot 1 Thess, 29). Nach Best iThess, 105t ist die Mutter eher für die ersten Lebensmonate, das heiße hier, für die Gründung zuständig. Die Vatermetapher beschreibe hingegen besser die "continued pastoral situation" (105). Krug geht in seinem Interesse am Nachweis der Autorität des Apostels (2001, i37ff) über die Gehalte der Vergleiche hinaus, wenn er behauptet, dass der Vater das Gewicht des Apostels verdeutliche, die Mutter den Verzicht darauf. 256 Vgl. zu Freundschaftstopoi oben 1.2.

308

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

die Kinder, dem Vater eignet die Autorität und Wissen 257 . Im Äußerungskontext des Vatervergleichs wird eben diese Überordnung des Vaters deutlich. Der Brief entwirft also in hervorgehobener Weise die Missionare bzw. Paulus als Autorität gegenüber den Adressierten. Dies wird oft bestritten unter Bezug auf die hier abgelehnte Deutung, 2,7a sei eine Absage an Autoritätsansprüche 258 . Die Darstellung beansprucht nicht nur Autorität, sie ist selbst autoritär. Denn indem sie unterstellt, dass die Adressierten die Aussagen nur bestätigen können, nimmt sie sich subtil die Definitionsmacht: Die Beziehung ist eine feste, hierarchische, gelungene etc. Die Vergleiche argumentieren implizit für die Richtigkeit dieses Beziehungsgefälles. Kausal wird die Beziehung durch Integrität, Selbstlosigkeit, den Vorsprung an Wissen und Ethos legitimiert, final mit dem Ergebnis, der guten Wirkung dieser Zuwendung. Die Bilder liefern so Beweise für die Integrität der Missionare bei ihrem Aufenthalt in Thessalonich. Im Zusammenhang von 2,1-12 kann man sie chiastisch gegen die negativen Verhaltensweisen lesen: Die Mutter nimmt kein Geld von ihren Kindern (V.7f in Rekurs auf V.6), der Vater vermittelt die Gottesbeziehung, entgegen leerem selbstbezogenem Geschwätz, List oder und Schmeichelei (V.10-12 im Rekurs auf 2,iff). Wichtiger noch ist aber der damit gegebene Nachweis, dass das Verhalten nicht nur vor Gott tadellos war, sondern den Konvertiten in Thessalonich doppelt zugute kam: Der Unterhaitsverzicht schenkt Lebenskraft, die Unterweisung ermöglicht das endzeitliche Leben bei Gott. Schließlich sind die Beziehungsbilder für die Pragmatik des ganzen Briefes bedeutsam. So wird auch für die Lektüre des Briefes eine Haltung „gehorsamer Kinder" eingeworben. Sie halten die Beziehung trotz inzwischen erfolgter Trennung für beständig und lassen sich die Paraklese (4,iff) bereitwillig sagen.

257 In diese Richtung gehen die Überlegungen Bickmanns über den Entwurf des „Lehrers" Paulus durch 2,1-8.9-12 (1998, 2iof). 258 Fehl geht daher das Urteil Holtz' (2000, 74 zu 2,1-12), dass Paulus z w a r die rhetorische Tradition verwende, aber "[i]n distinction from the rhetorician, Paul did not represent himself or his o w n view - even if it w a s an inspired one - but only the gospel of God entrüstet to him and to which he w a s intimately b o u n d " . A u c h Marxsen 1 Thess, 46 fällt der Rhetorik z u m Opfer, wenn er meint, Paulus wolle in der Gemeinde nichts gelten, sondern aufgrund seiner Christologie nur durch sein Wirken etwas sein, so wie „eine Mutter, deren ,Ruhm' ja auch nicht darin besteht, Mutter zu ,sein', sondern ihre Kinder z u hegen".

Metaphern und Pragmatik von ι Thess 2,1-12

309

4.4.2 Die Funktion von 2,1-12 im Duktus des Briefes Auf Basis dieser Auslegung kann nun auch ein Votum abgegeben werden in der Diskussion über die Funktion von 1 Thess 2,i-i2 2 5 9 . Die lange anerkannte apologetische Interpretation200 galt durch Malherbes Aufsatz "Gentle as a Nurse" von 1970 als widerlegt, wird aber inzwischen repristiniert. Alternativ wird vor allem eine paränetische Deutung vorgeschlagen oder die Funktion der Beziehungsbildung bzw. Selbstempfehlung 261 . Hier sind nur die Argumente zu raffen und abzuwägen. Ohne den polyvalenten Text auf eine pragmatische Dimension zu reduzieren, soll die Hauptfunktion für die briefliche Kommunikation bestimmt werden 262 . Die jüngeren Thesen über eine apologetische Abzweckung des Textes, die v o m Text ausgehen argumentieren, sofern sie nicht Christinnen 2 6 3 oder die aus A p g 1 7 b z w . 1 Thess 2 , 1 4 - 1 6 eingeführten luden 2 0 4 als Gegnerinnen unterstellen, v o r allem mit der antithetischen Struktur in 2 , 1 - 6 u n d den N e g a t i v a s o w i e den A p p e l l e n an das Wissen der Adressierten 2 6 5 . Paulus sei v o r g e w o r f e n w o r d e n ,

259 Einen guten Überblick über die Entwicklung der Diskussion bietet Weima 1997, y^ff. Merk 2000, giff referiert eine andere Auswahl von Diskussionsbeiträgen; vgl. auch Dodd 1999, 215 ft; und die kontroversen Beiträge in dem von K. Donfried und J. Beutler herausgegebenen Sammelband The Thessalonians Debate. Methodological Discord or Methodological Synthesis (Grand Rapids/Michigan 2000), sowie darin Donfried 2000a, 4ff. 260 So z.B. Dobschütz 1 Thess, io6ff, der die Apologie allerdings nicht durch objektive Angriffe, sondern psychische Befindlichkeiten des Paulus veranlasst sieht; Holtz iThess, 92ft; Marshall iThess, 6of; vom Brocke 2001, i43ff mit Marxsen iThess, 43t; ältere Literatur auch bei Schoon-Janßen 1991, 53. Vgl. weiter die unten genannte Literatur. Zur Diskussion über mögliche Gegner vgl. die Ubersicht bei Walton 1995, 240 ff. 261 Zu weiteren Deutungen, die mit dem Text wenig zu tun haben und hier nicht diskutiert werden können, vgl. Holtz 1 Thess, 93. 262 Die Thesen stellen unterschiedliche Textsegmente in den Vordergrund, die Deutung als Paränese V.9-12, die Beschreibung als Apologie V.1-6. 263 Vorgeschlagen sind Libertinisten oder Judaisten, Gnostiker oder Millenaristen (so die These Jewetts 1986), vgl. das Referat bei Schoon-Janßen 1991, 53.56 und Weima 1997- 73· 264 So etwa Frame 1 Thess, 9^90; Lightfoot 1 Thess, 32; Morris 1 Thess, 7t; vermutet auch von Holtz iThess, 94; Rigaux iThess, 57ft, aber zurückhaltend. Einen Konflikt mit Juden vor Ort vertritt neuerdings dezidiert Still 1999, vgl. zu 2,1-12 vor allem I37ff. Er sieht allerdings Paulus vor einer doppelten Front von Juden und Heiden vor Ort. 265 Weiter gelten als Indizien die doppelte Berufung auf Gott als Zeugen (V.5.10) und der sprachlich für Paulus untypische Hinweis auf die Prüfung durch Gott (V.4, Weima 1997, 83t). Die Argumente pro apologia haben Weima a.a.O., 80ff zusammengestellt, der auch auf den s.E. ebenfalls apologetischen Kontext Kap.i und 2,17ft eingeht, und Holtz 2000, 7iff.

3io

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

er sei nicht besser als Scharlatane 2 6 6 , b z w . i m j ü d i s c h e n P a r a d i g m a , er sei ein f a l s c h e r Prophet 2 6 7 . O d e r die P a s s a g e w i r d als nicht aktuell veranlasste 2 6 8 b z w . p r o p h y l a k t i s c h e V e r t e i d i g u n g verstanden 2 0 9 . G e g n e r des apologetischen V e r s t ä n d n i s s e s w e n d e n v o r allem 2 7 0 ein, d a s s die A b g r e n z u n g v o n a n d e r e n V e r h a l t e n s w e i s e n sich A l l g e m e i n p l ä t z e n bedient, die a u c h sonst o h n e konkrete G e g n e r s c h a f t in p o p u l a r p h i l o s o p h i s c h e r D i s k u s s i o n z u m Besten g e g e b e n w e r d e n 2 7 1 . G e m e s s e n a n e i n e m strikten B e g r i f f ist d e r Text a u c h f o r m a l nicht apologetisch 2 7 2 . Z w a r o f f e n b a r t die Tatsache, d a s s der implizite A u t o r f ü r die Gottgemäßheit der M i s s i o n a r e u n d ihre Selbstlosigkeit argumentiert, d a s s dies aus seiner Sicht strittig ist. E r b e n e n n t keine expliziten V o r w ü r f e u n d richtet sich aber nicht n a c h außen, an G e g n e r , s o n d e r n , w e n n m a n so w i l l , a n die Z e u g e n der V e r t e i d i g u n g . D i e P a s s a g e eignet sich höchstens d a z u , V e r u n s i c h e r u n g e n der A d r e s s i e r t e n , ob v e r m u t e t o d e r bestätigt, z u

266 So die These Holtz': Paulus grenze sich gegen verantwortungslose Wanderprediger ab, „hohle Phrasendrescher" (iThess, 94), weil die Gemeinde von der heidnischen Umgebung diese Verleumdung des Paulus erfuhr. Dahinter wisse oder vermute Paulus „die Juden" (92ft, Zitat 94, aus 2,14-16 geschlossen; vgl. auch 11 und insgesamt ders. 2000); Paulus müsse sich selbst dagegen verteidigen, um die Autorität des Evangeliums zu retten. 267 So votiert Horbury 1982, der mit dem Stich wort πλάνη (2,3) den Zusammenhang zum AT gegeben sieht; vgl. auch Denis 1957 und oben 4.1 zur Deutung des Textes als Auseinandersetzung um prophetische Kompetenzen; weiter Vos 2000, 85f. Wird eine konkrete Gegnerschaft vor Ort vorgestellt, kommen sonst die in 2,14 erwähnten συμφυλέται in Frage, unter der Voraussetzung, dass sie nicht nur die thessalonischen Christinnen angriffen, sondern auch die Missionare; so Weima 1997, 9of. Mit heidnischen Angriffen rechnet auch Holtz 1 Thess, 94. 268 So Dobschütz 1 Thess, lof. 269 Vgl. Johanson 1987, 164t zur "anticipative apologetic function". Der Sprecher "should try to dispel any disagreeable suspicion, whether openly expressed or not" (164); ähnlich Reinmuth 1 Thess, 122; Winter 1993; vgl. auch Merks Charakteristik als "potential apology" (2000, 96). 270 Vgl. auch den prinzipiellen Einwand gegen das "mirror reading" (Lyons 1985, i83f), aber auch dessen Verteidigung durch Weima 1997, 9iff. Vgl. auch die Argumente gegen eine apologetische Deutung von Walton 1995, 245-248, u.a. die offensichtlich gute Beziehung zur Gemeinde. 271 Knapp skizziert hatten diesen Hintergrund bereits Dobschütz iThess, 82ft und Dibelius 1 Thess, 7 - 1 1 . Weiter entwickelt wurde diese These durch Malherbe 1989a, der genauer einen kynischen Hintergrund ausmachen will und mehr Berührungen im Text zu dieser Literatur aufweist (vgl. insgesamt Malherbe iThess, 134ft zur Terminologie und 134 zur Funktion des Textes). Malherbe wird rezipiert u.a. von Schoon-Janßen 1991, 58ft; Lyons (s. Anm.277). Gegen eine apologetische Auffassung votieren auch R.F. Collins 1984c, 184t; Hoppe 1997, 235; Donfried 2000b, 31-60. 272 Spezifischer und m.E. heuristisch ertragreicher wird der Begriff der „Apologie" verstanden in dem Sinne, dass es um die Selbstdarstellung und -rechtfertigung angesichts von gegnerischen Vorwürfen geht. Vgl. die Definition K. Bergers 1984, 1287, rezipiert etwa bei Schoon-Janßen 1991, 9. Zum Sinn eines präzisen Apologie-Begriffs vgl. auch Gerber 1997, 78ff.

Metaphern und Pragmatik von ι Thess 2,1-12

311

w i d e r s p r e c h e n 2 7 3 . D e r T e x t g i b t d a f ü r j e d o c h k e i n e i n d e u t i g e s Indiz. Eine Selbstpräsentation der A b s e n d e r k a n n argumentativ einem w e i t e r g e h e n d e n Z w e c k dienen 2 7 4 . D i e D e m o n s t r a t i o n d e s ή θ ο ς ist als B e w e i s in v e r s c h i e d e n e n G e n e r a einsetzbar 2 7 5 . D i e paränetische Deutung liest i n d e r P a s s a g e d e n E n t w u r f e i n e s v o r b i l d l i c h e n Ethos 2 7 6 . D a s k a n n k o n k r e t g e m e i n t s e i n : V o r a l l e m d e r A r b e i t s f l e i ß d e r M i s s i o n a r e (2,9) sei vorbildlich 2 7 7 . N a c h d e r hier entfalteten D e u t u n g ist d a s aller-

273 Denkbar ist, dass die impliziten Autoren ihre Glaubwürdigkeit durch die in V.2 erwähnte Verfolgung in Frage gestellt sehen. Der Text entfaltet dann eine andere Bewertung der Angriffe, indem er sie als Folge der Offenheit, Wahrhaftigkeit der Verkündigung einordnet im Gegensatz zur „leeren" Rede, die nicht provokant wäre. Denkbar ist auch, dass das Evangelium der Missionare zweifelhaft wurde wegen der Todesfälle und der Text die Glaubwürdigkeit der Missionare verteidigt, vor allem anhand ihrer Gottgemäßheit. Vgl. in diesem Sinne das "mirror reading" der Vorwürfe durch Weima 1997, 93ff. 274 Dies sei gesagt gegen einen Kurzschluss wie den Weimas. Von der Beobachtung, dass die Danksagung im 1 Thess in signifikantem Unterschied zu den anderen Danksagungen auf Paulus konzentriert sei, statt auf die Leser, schließt er, dass Paulus "is very much concerned about defending his character" (1997, 8of, Zitat 81). 275 Auf die Prävalenz des ήθος vor πάθος und λ ό γ ο ς im 1 Thess weist zu Recht Olbricht 1990, 228ff hin; zum Einsatz des Ethos auch DiCicco 1995, 36ff. 276 Der Hauptexponent der paränetischen Deutung, Malherbe, sieht die Funktion der Passage im Dienste der übergreifenden paränetischen Aufgabe des Briefes: Er schreibt in Bezug auf 2,1-12: "Paul writes in some detail about himself, not in defense, but to provide in his own person an example of the sort of life he will encourage his readers to live later in the letter. In the process of doing so, he affectively strengthens the bond between himself and his converts, thus laying the foundation on which he will base his exhortation" (1 Thess, 134; zu 1 Thess als paränetischem Brief in der zeitgenössischen Briefliteratur vgl. besonders dens. 1987, 52ff). Schoon-Janßen 1991, 56ff will allgemeine wie konkrete Vorbildlichkeit erkennen: V . 1 - 8 verwende die topische Terminologie der kynischen Philosophen, um sich gegen die mögliche Vermutung von Gemeindegliedern zu verwahren, das Evangelium sei kraftlos gewesen. V.9-12 wiederhole die Themen von V.1-8, um sie auf die Gemeindesituation hin zuzuspitzen (Arbeitseifer, Untadeligkeit). - Paränetisch deuten den Abschnitt neben den hier Genannten bereits Kamiah 1964, 198 (an Paulus exemplifizierte Grundparänese); Schade 1981,120-122 (es gehe um die „vorbildliche Nachahmung Christi durch die Missionare", 122); auch Jewett 1986, 73 ("clarification of apostolic example"), vgl. i49ff; Smith 1995, y8f ( " [ a ] disgressionary panegyric about the missionaries"); Donfried 2000b, der aufgrund der rhetorischen Bestimmung der Verse als Teil der narratio einer epideiktischen Rede die philophronetische und vorbildliche Präsentation des Apostels herausliest (bes. 45); weitere Literatur bei Weima 1997, 79 Anm.22. 277 Vgl. in diesem Sinne Schoon-Janßen 1991, 63t; Jewett 1986, 73 und Dodd 1999, 2i7ff. Eine weitergehende paränetische Intention vertritt Lyons 1985, 182ff. Die „autobiographische Passage" diene (wie Gal i f ) dazu, Paulus' Ethos als exemplarisch zu entwerfen; er stelle sich dar als "example of brotherly love, hard work, morally acceptable behavior, and mutual encouragement" (201, vgl. insgesamt 190 zur paränetischen Deutung von 2,1-12). Die paränetische Funktion wirke durch die implizite Präsentation seiner selbst als Vorbild ("Paul's Exemplary Ethos" i9iff). Belegen sollen dies Entsprechungen zwischen der Beschreibung der Missionare und den For-

312

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

dings eine Reduktion der Pragmatik v o n 2 , 7 - 9 . Prinzipieller w i r d z.B. der U m g a n g mit der L e i d e r f a h r u n g als Vorausdarstellung dessen, w a s den Thessalonicherlnnen noch bevorstehe, gesehen 2 7 8 . D a s Problem dieser D e u t u n g e n ist, dass sie die expliziten A u s s a g e n ignorieren zugunsten einer angeblich impliziten N a c h a h m u n g s f o r d e r u n g . Eine solche fehlt im Brief, der nur - singular f ü r die paulinischen Schriften - die N a c h a h m u n g konstatiert (1,6; 2,14 ) 279 . Für die paränetische w i e apologetische D e u t u n g sind die A u s s a g e n über das h i n g e b u n g s v o l l e Verhalten der Missionare der G e m e i n d e gegenüber ( V . 7 - 1 2 ) überschüssig. Die positive Selbstdarstellung kann z w a r innerhalb einer A p o l o gie eine erfolgreiche Gegenstrategie darstellen - als die beste Verteidigung. Im Blick auf die implizierten Adressatinnen greift sie jedoch viel weiter, w e i l sie d a s gegenseitige Verhältnis definiert. U n d das Wirken der Missionare w a r nach Darstellung des Textes mehr als vorbildlich, ihre Rolle ist ja exzeptionell. Der Text geht also auch in dieser paränetischen Funktion nicht auf. Unter Berücksichtigung des ganzen Briefes w i r d die B e d e u t u n g der P a s s a g e f ü r die Kommunikationssituation g e w ü r d i g t als „briefliche Selbstempfehlung"28°. A b e r auch diese Beschreibung macht noch zu w e n i g deutlich, dass die Missionare sich hier in ihrer Z u w e n d u n g zur G e m e i n d e präsentieren 2 8 1 . Diesem A s p e k t nähert sich die Lektüre als Vergewisserung der Freundschaft gemäß d e m

derungen von Kap.4 (bes. 194). Im Ammenvergleich erinnere Paulus an sich als "model of self-giving love", was er in 3,12 wiederhole und in 4,9t bei den Adressierten lobe; der Vater sei vorbildlich für die gegenseitige Erbauung. Lyons verkürzt nach der hier vorgelegten Exegese die Pragmatik der Vergleiche, und die Entsprechungen zwischen Selbstdarstellung und späterer Paränese verbiegen z.T. den Text. (Dass ακαθαρσία in 2,3 und 4,7 auf Verschiedenes referiert, verwischt Lyons a.a.O., 195 t; die Verse 2,3 t verkürzt er zur Aussage über die Abgrenzung vom Heidentum unter pauschalem Hinweis auf weisheitlichen Hintergrund statt popularphilosophischer Diskussion, 196). 278 Stegemann 1985, besonders 415. Etwas anders ist die indirekte Paränese in der Sicht Haufes (1 Thess, 33): Die Hinweise auf die Lauterkeit der Missionare im Unterschied zu Wanderpredigern sollten die Thessalonicherlnnen in ihrem Christsein ermutigen; ähnlich auch Donfried 2000b, 48. 279 Vgl. die entsprechende Kritik bei Weima 1997, 88. - Zum Nachahmungsmotiv bei Paulus vgl. den Exkurs in § 7.4.4. 280 Vgl. dazu §2.2.2.1. So Schnider/Stenger 1987, 50ft; Klauck 1998, 273: Es sei das „Bestreben(s) des Briefautors ..., für sein eigentliches Anliegen den Boden so gut wie irgendmöglich zu bestellen". Ihm folgt Haufe 1 Thess, 32 (Selbstdarstellung der drei Missionare). Für Berger 1984, ii32ff (vgl.1290) ähnelt 1 Thess 2,1-12 als Selbstempfehlung insbesondere dem Ersten Brief des Sokrates, der ebenfalls finanzielle Interessen bei der Erziehungstätigkeit von sich weist. Vos vermag die apologetischen Aussagen dem zuzuordnen: " [ A ] self-recommendation may contain apologetic elements". Der Text sei aber keine Apologie, da er nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft gerichtet sei (2000, 83. Dass dies in der Sache 2 Kor 2,14-17 entspreche [84], ist allerdings falsch, weil dort eine innerchristliche Konkurrenzsituation vorliegt, von der hier keine Rede ist.) Auch P.-G. Müller 1 Thess, 122 hält den Text für eine Selbstempfehlung in Abgrenzung gegen andere Missionare. 281 Das gilt besonders, wenn der Text auf die Aussage reduziert wird, dass die Missionare auf Gott verweisen; so z.B. Vos 2000, 87: Unterthese und Antithese dienen der

Metaphern und Pragmatik von ι Thess 2,1-12

313

Topos der „Einheit in Freundschaft" 282 . Im Briefduktus kommt der Passage die Funktion zu, die briefliche Beziehung zu re-konstruieren und zu fundamentieren283. Die Adressatinnen werden eingeladen, weiterhin in der Beziehung zu den Missionaren und zu Gott zu bleiben.284

Die zuletzt angesprochene beziehungsbildende Pragmatik ist m.E. die dominante. Es geht nicht nur um den Entwurf des Ethos des Redners, sondern um dessen Bedeutung für die gegenseitige Beziehung. Diese Intention umgreift auch die anderen Funktionen, apologetische, besser vergewissernde, oder paränetische. Dass es um die gegenseitige Beziehung geht, macht die vorgestellte Auslegung der Vergleiche deutlich. Die Vergleiche haben argumenative und definierende Qualität, um das Neue der Beziehung zu beschreiben, wo Worte bislang fehlen; als Faden der Sinnlinie von Familienmetaphern bieten sie einen positiv konnotierten Gegenentwurf zum konfliktreichen Sozialgefüge. Dieser Funktion ordnen sich auch die abgrenzenden, apologetisch wirkenden Aussagen in V . 1 - 6 unter. Die negativen Topoi rechtfertigen die Positivliste, die andernfalls den Ruch des Eigenlobs hätte; der Schluss vom Text auf eine lebendig geführte Auseinandersetzung unterschätzt den rhetorischen Einsatz. Via negativa zeigt V . 1 - 6 die Fähigkeit der Botschafter, die Gottesbeziehung zu vermitteln. V . 7 - 1 2 beschreiben daraufhin rückblickend den speziellen Einsatz für die Adressatinnen in Thessalonich, der eine einzigartige Bindung entstehen ließ. Appelle an das Wissen holen die erzählte Zeit in die Gegenwart der brieflichen Gemeinschaft ein. Es geht nicht nur darum, Vertrauen wieder herzustellen285, sondern auch eine innige Verbundenheit performativ über die Distanz hinweg lebendig zu machen.

Hauptthese, "namely, that the Thessalonians rightly accepted the apostle as genuine messenger of God." - In diese Richtung geht auch die sehr einseitige These Denis' 1957, dass Paulus sich hier als messianischer Prophet entwerfe. 282 Vgl. Schoon-Janßen 1991, 45f, Zitat 45 (unter Aufnahme von Thraedes Formulierung), wonach Schmeichelei der Freundschaft fern ist, παρρησία hingegen angebracht sei; die Freundschaftstopik betont besonders Lyons 1985, 180. Auch Malherbe erwähnt die Bedeutung der Bindung (vgl. das Zitat in Anm.276), aber sieht in ihrer Betonung nur ein Mittel zum Zweck der Paränese. 283 So Bickmann 1998, die differenziert zwischen der Funktion von 2,1-8, „die Rolle des Lehrers [zu] entwerfen" (2iof), und von 2,9-12, „das Handeln des Lehrers [zu] erinnern". Um das angefochtene Selbstverständnis der impliziten Leserinnen als Christusgläubige zu sichern, gelte es zunächst, das Vertrauen als „Berater und Tröster" zu gewinnen (212). 284 Mit Bickmann 1998, 2ioff. 285 So etwa Weima 1997, 87 im Blick auf die Funktion des Abschnitts im Briefganzen.

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

314

5

Die Zeit nach dem Missionsaufenthalt (2,17-3,13)

5.1 Verwaist von der Gemeinde, ihrem Ruhmeskranz. Die Abreise der Missionare und die Trennung von der Gemeinde (2,17-20 )286 Auch diese Verse werden ausführlicher ausgelegt, verwenden sie doch mehrere Metaphern zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Paulus und der Gemeinde. Metaphorisch interpretieren sie zunächst die Trennung des Missionars oder der Missionare von der Gemeinde (V.i7f), dann beschreiben sie die Bedeutung der Gemeinde für die Missionare (V.Kjf). Die Metaphern sind kaum elaboriert und insofern z.T. von geringer argumentativer Valenz, doch von rhetorischer Relevanz für die Gestaltung der Beziehung. Metaphorisch unabgenutzt und rhetorisch bedeutsam ist das durch Stellung und Alliteration hervorgehobene ήμεϋς δέ, αδελφοί, άπορφανισθέντες άφ' ύμών (V.iya). Es führt das neue Thema der Abreise und Trennung ein. Die Familiensprache von 2,7-12 wird wieder aufgenommen, nicht nur in der Anrede, sondern auch in dem fokalen Partizip287. Stellen die Absender sich als „verwaist" dar, scheint dies auf 286 Auf 2,13-16 kann hier nicht genauer eingegangen werden. Unbenommen der theologischen Problematik von 2,14-16 ist es literarisch geboten, die Sätze als Teil des Briefes zu lesen. Eine Ausscheidung als Interpolation, heute wieder seltener vertreten, stellt eine schlechte, weil im letzten nur apologetisch begründete Lösung dar. Zu Argumenten für die Ursprünglichkeit vgl. jetzt Still 1999, 24-45; v gl· auch Trilling 1987,339if. - Zwischen 2,13 und 2,17 schlägt 2,14-16 eine Brücke von den Adressatinnen (emphatisches ύμεΐς γ ά ρ 2,14) zu den Adressanten (emphatisches ήμεΐς δέ 2,17). Sachlich stellt sich die Aussage als Beleg für die Wirksamkeit des Wortes Gottes dar (2,13d), aber sie bereitet bereits das Thema der Kontaktprobleme zwischen Missionaren und Missionierten in 2,17 vor. Denn was V.16 über die feindselige Behinderung (κωλύειν) der Heidenmission sagt, spricht analog V.18 an als Unterbindung des Wiedersehens (έγκόπτει,ν). Mittels traditioneller atl.-jüdischer bzw. frühchristlicher Deutemuster von der Verfolgung Unschuldiger, der Tötung Jesu durch Juden und dem Strafhandeln Gottes (vgl. Holtz 1 Thess, 103ff für Belege dieser Traditionen; vgl. Bickmann 1998, 196ff) werden heilsgeschichtlich perspektivierte Konzepte (vgl. dazu Bickmann 1998, 200) zur Verarbeitung der gegenwärtigen Verfolgung angeboten. (Vgl. zu dieser Funktion des frühchristlichen Leidensdiskurses nur Michael Wolter, Art. Leiden III. Neues Testament, in: TRE 20 [1990] 677-688: 680.) Es entsteht - auf Kosten „der Juden" das Pathos weckende (vgl. dazu Johanson 1987, 98) Bild einer ökumenischen Leidenssolidarität, in der auch Missionare und Christinnen in Thessalonich miteinander verbunden sind. 287 Die Weiterführung der Eltern-Kinder-Metaphorik wird etwa von Dobschütz 1 Thess, ligf behauptet. Weiter noch geht Gutierrez 1968, io8f, der das Vater-Kinder-Konzept auch noch in der Rede vom Ehrenkranz 2,19 t erkennen will: Es erinnere an das weisheitliche Konzept, wonach die Kinder der Ruhm der Eltern seien (vgl. Sir 3,2; Prov 10,1 u.ö.).

iThess 2,17-20

315

den ersten Blick das Eltern-Kinder-Verhältnis umzudrehen288. Doch eine Umkehrung der Verhältnisse, eine Darstellung der Missionare als Kinder der Thessalonicher, indiziert der Rahmen der Metapher, d.h. die Beschreibung der Abreise, nicht. Und ορφανός kann - eventuell bereits metaphorisch - auch Eltern bezeichnen, die ein Kind verloren haben2®9. Es ist deshalb wohl an die Missionare als verwaiste Eltern in Verlängerung der Eltern-Kinder-Vergleiche von 2,7ft zu denken290. Wie Paulus den Weggang bewertet und begründet, wird deutlich, wenn man die Metapher mit anderen möglichen Darstellungen des

288 Dass Paulus sich hier in Umkehrung der sonstigen Verhältnisse als Waise der Gemeinde darstelle, wird immer wieder vertreten. Vgl. bereits Chrysostomos, Epist. ad Olymp. 2,12 (PG 52,570 = 8,12b ed. Malingrey): Καίτοι γ ε έν τάξει πατέρος ήν α π α σ ι ν αύτός, άλλά παιδιών ορφανών έν τη άώρω ηλικία; vgl. Theodoret, Comm in I. Thess (PG 82,637): ν ϋ ν μειρακίω παραπλησίως αωρον όρφανίαν ό&υρομένω, και τούς γεγεννηκότας έπιζητοϋντι, ποθεϊν αύτούς έφη, καίτοι πρός ολίγον αυτών χωρισθείς; Frame ι Thess, 118; Marxsen 1 Thess, 53; Laub 1 Thess, 23 (als Ausdruck der Abhängigkeit von der Gemeinde). Nach Malherbe ι Thess, i86f ist diese Selbstbeschreibung der Adressanten jedoch besonders ausdrucksstark: Die Metapher solle Paulus als bedürftig darstellen und zugleich, da sie typisch sei als Beschreibung von Konvertiten, als empathisch mit den Adressierten. "The way he stands the metaphor on its head, that he is the orphan, shows the extent to which he goes to express his need to reestablish contact" (i87f). Dies zeige, dass er nicht autoritativ, fordernd auftrete. Lightfoot 1 Thess, 36; vgl. auch Burke 2003, 157t und vor allem Weima 2000b, 557t lesen die Metapher als Verlängerung des νήπιοι von 2,7. Damit würden die Eltern-Kinder-Vergleiche 2,7t; 2,nf gerahmt von der umgekehrten Relation in 2,7a und 2,17. Die Missionare ständen zu Beginn und nach Ende des Besuches wie „Kinder" vor der Gemeinde. Doch der Rahmen legitimert diese Deutung nicht. Vielmehr entwerfen die Metaphern von 2,19 t wiederum den Missionar als den, auf den hin die Gemeinde gerichtet ist. 289 Vgl. Heinrich Seesemann, Art. ορφανός, in: ThWNT 5 (1954) 486-488: 487t, ohne auf diese Stelle einzugehen. Altere Belege für diesen Gebrauch sind Euripides, Hekuba 149; Sophokles, Antig 425 (von Vogeleltern, die ihre Jungen verloren); Plato, Leg 5,730 c-d; Rep 495 C2; Pindar, Olympia 9,6; vgl. aber auch Dionysius Hai, 1,81,6; Plutarch, Consolatio ad Apollonium (= Mor 106 A9; als Zitat von Euripides), όρφανία κτλ. denotiert hier wie bei Josephus, Bell 4,464 Kinderlosigkeit. Es ist möglich, dass dieser Gebrauch metaphorisch aus dem sicher dominanten für elternlose Kinder hervorgegangen ist. Deshalb wird die Interpretation, dass sich die Missionare hier als ihrer Kinder beraubte Eltern darstellen, nicht widerlegt durch die Tatsache, dass das Verb άπορφανίζειν nie in diesem Sinne verwendet wird (gegen Weima 2000b, 558 mit Anm.42, der sich auf eine Studie J.B. Faulkenberry Millers bezieht). Anders als im Deutschen hätte es allerdings im Griechischen mit άτεκνοϋν ein Wort gegeben zur Bezeichnung von Eltern, die ein Kind verlieren (vgl. z.B. Gen 43,i4LXX; Hos 9,12LXX). 290 Mit Dobschütz iThess, 119t; Rigaux iThess, 457f; Friedrich iThess, 230; Bruce 1 Thess, 54; Marshall 1 Thess, 85; Holtz 1 Thess, 115; Haufe 1 Thess, 52; Bruce 1 Thess, 54; P.-G. Müller 1 Thess, 148; Burke 2000, 78 mit Anm.55.

3

i6

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

prädizierten Ereignisses wie „Abreise" oder „Flucht" vergleicht 291 . „Verwaist" beschreibt den Weggang als wider Willen erzwungen und schmerzhaft 292 . Das Ereignis wird sogleich in Beziehung zu den in Thessalonich Anwesenden gesetzt, die (durch die 2. Pers. PL) wiederum mit den Angeschriebenen identifiziert werden, und zwar als Abbruch der gemeinsamen Zeit. Es wird als Beraubung der nächsten Bezugspersonen dargestellt293, so dass der Verlust, Teil der brieflichen Sinnlinie des „Leidens", sichtbar wird. Eine Waise erleidet einen dauerhaften, unwiederbringlichen Verlust. Doch der Rahmen der Metapher verwahrt sich entschieden gegen derartige Inferenzen294. Nur für einen kurzen Augenblick 295 und nur, was den „Augenkontakt" angeht296, ist man getrennt. Dem passiven 291 Vgl. ähnlich Joh Chrysostomos, Epist. ad Olymp. 2,12 (PG 52,570 = 8,12b ed. Malingrey): Ούδέ γ α ρ είπε- ,,χωρι,σθέντες ύ μ ώ ν " , ούδέ , , δ ι α σ π α σ θ έ ν τ ε ς ύ μ ώ ν " , ούδέ , , δ ι α σ τ ά ν τ ε ς " , ούδέ , , ά π ο λ ε ι ψ θ έ ν τ ε ς " , ά λ λ ' , , ά π ο ρ φ α ν ι σ θ έ ν τ ε ς ύ μ ώ ν " . Nach Chrysostomos soll die Metapher aber die A n g s t des Paulus durch die Perspektive des verwaisten Kindes ausdrücken. 292 Dies impliziert neben dem Passiv auch die negative Konnotation des Bildspenders: Verlust des Kindes/ der Eltern ist unfreiwillig. Vgl. so schon Dobschütz ι Thess, 120: ά π ο ρ φ α ν ι σ θ έ ν τ ε ς „ w i l l das gewaltsame, z w a n g s w e i s e andeuten" (sie). 293 Hierin liegt die Entsprechung zu anderen Waisen-Metaphern: Vgl. neben Joh 14,18 die Rede von der Proselytin Aseneth als Waise, die nun ohne Eltern ist (JosAs 1 2 , 1 1 ; 13,1), entsprechende Prädizierungen der Proselyten bei Philo (SpecLeg 4,177; Som 2,273) u n d die Klage der Freunde des Sokrates, dass dessen Tod sie w i e Waisen ihres Vaters beraube (Plato, Phaidon 116a). Eine Ableitung von diesen Metaphern (so Malherbe 1995, I 2 i f ; ähnlich auch Pax 1971, 244) anstatt aus der gemeinsamen Kenntnis des sozialen Phänomens, des Todes von Eltern oder Kind, verwischt die Differenzen. 1 Thess 2,17 spricht nicht von den Konvertiten (das verdreht Pax ebd.), sondern von den Missionaren, wertet nicht die Konversion, sondern die Abreise und stellt nicht die in den o.g. V e r w e n d u n g e n des Bildspenders implizierten Abhängigkeiten dar. 294 Mit Dobschütz 1 Thess, i 2 o f ; Holtz 1 Thess, 115 u.a. Daran scheitert die A u s l e g u n g Bickmanns, die diesen Aussagekontext nicht als Teil der Metapher w a h r n i m m t : Die Waisenmetapher 2,17 deute die Trennung als Todeserfahrung, u m die Trennung zum Verarbeitungsmedium der Todesfälle zu machen. A u s den Metaphern von Tod und Leben ά π ο ρ φ α ν ι σ θ έ ν τ ε ς (2,17) und ν ϋ ν ζ ώ μ ε ν (3,8) schließt sie, dass „ i n 1 Thess 2,17-3,10 der Tod als umfassende Metapher f ü r Begrenztheit u n d Kontingenz im Rahmen einer apokalyptisch-weisheitlichen Konzeption als das Kennzeichen dieses Ä o n s schlechthin verstanden [wird], als W a f f e des Satans" (1998, 277, Hervorhebung übernommen, vgl. auch 235 u.ö.). Der Text lässt den Satan nur als Versucher auftreten, der die Gottesbeziehung zerstören will, und er begrenzt die Reichweite der Metapher in 2,17. Die Sterbe-Metaphorik ist auch nicht kohärent, denn nach 2,17 ist die Gemeinde „gestorben", nach 3,8 der Autor selbst. 295 So ist ohne Z w e i f e l der plerophore Ausdruck πρός κ α ι ρ ό ν ώ ρ α ς zu verstehen, vgl. Holtz 1 Thess, 115 mit Anm.544. 296 Die Sinnlinie „ S e h e n " ist hervorgehoben durch das zweimalige π ρ ό σ ω π ο ν und das Verb ϊδεϊν, die auch in dem Bittgebet u m Wiedersehen 3,10 rekurrieren. Z u m topischen Gebrauch dieser Opposition vgl. Malherbe 1 Thess, 182 (Lit!).

ι Thess 2,17-20

317

Partizip wird in V.iyb.i8a das περισσοτέρως 2 9 7 έ σ π ο υ δ ά σ α μ ε ν und ή θ ε λ ή σ α μ ε ν έλθεΓν entgegengesetzt. Die Metapher wird relativiert, fast konterkariert durch die wortreiche Beschreibung des heftigen Verlangens nach einem Wiedersehen 298 . Schlägt so der Fokus der Metapher die emotionale Saite zwischen den Kommunikantinnen an, so widerspricht die Metapher in ihrem Kontext zugleich anderen Deutungen der Abreise als „Fahnenflucht" oder als Abbruch der gegenseitigen Beziehung. Insofern kann sie implizit apologetisch argumentieren 2 ". Zunächst entschuldigend ist auch V.i8b: „ S a t a n " , hier keine Metapher 300 , hat Paulus bei seinen wiederholten 301 Versuchen der Rückreise nach Thessalonich „ d e n Weg verstellt". Er wird zum direkten Opponenten des Paulus durch dessen namentliche Nennung 3 0 2 . Die Formulierung weckt die Neugier der Exegeten, w a s denn Paulus hinderte zu kommen 303 . Doch dem Text ist unerheblich, welche konkreten Hindernisse die Reise unmöglich machten und was man in Thessalonich davon wusste. Ihm liegt daran, die Verhinderung zu bewerten als Teil des eschatologischen Kampfes 3 0 4 . Auch damit wird Verantwortung der Missionare bestritten, in diesem Fall für ihr Ausbleiben.

297 Die in den Kommentaren geführte Diskussion, ob es sich um einen Komparativ oder Elativ handelt, erbringt nichts, da eine Komparation nicht expliziert ist, vgl. nur Dobschütz 1 Thess, 121. 298 Wie bedacht der Text formuliert, sieht man hier: Ersehnt wird nur der Kontakt von Angesicht zu Angesicht (τό πρόσωπον ίδεΓν), denn der innere ist ja gar nicht abgebrochen. - Έ ν πολλή έπιθυμία wertet hier den sonst so negativ besetzten Begriff der Leidenschaft positiv, „der Ausdruck greift hoch" (Holtz 1 Thess, 116). 299 Vgl. Dobschütz 1 Thess, ii8f zur Deutung als excusatio; Hoppe 2001, 106.114 (der Text betone, dass Paulus versucht habe zu kommen). Vgl. auch Frame 1 Thess, n6f, allerdings mit der Unterstellung, dass Paulus wegen der Juden Thessalonich verlassen habe. Der konventionelle Charakter der Sprache schließt eine exkulpierende Funktion nicht aus (gegen Malherbe 1 Thess, 187). 300 Vgl. zu seinem vielfältigen Wirken 1 Kor 7,5; 2 Kor 2,11; 11,13-15; 12,7. 301 Der Ausdruck α π α ξ και δίς ist wohl Bibelgriechisch und keine exakte Zahlenangabe, vgl. Morris 1956. 302 Zur emphatischen Nennung έγώ μέν Παΰλος vgl. auch Bickmann 1998, 217. 303 Vgl. nur die Literaturhinweise bei Holtz 1 Thess, 117 mit Anm.557-561 zu dieser ,,hoffnungslose[n] Raterei", und beispielhaft Donfried 1989, 253 mit Anm.43, der einen römischen Regierungsvertreter als Agenten hinter dem Satan erkennt. 304 Vgl. auch A. Smith 1995, 59f, treffend: "In Paul's interpretation of events ... there is no peace and security (5:3) - no time, when anyone can say: 'Don't worry! Be h a p p y ! ' " (60). Auf den eschatologischen Horizont weisen auch Pobee 1985, 99; Donfried 1989, 246; Bickmann 1998, hin.

3i8

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Der eschatologische Horizont ist aufgerissen und wird auch in V. igf im Positiven dargestellt. Es ist nicht nur eine captatio benevolentiae oder der brieflich übliche Sehnsuchtstopos305, auch nicht nur das Surrogat einer brieflichen Vertrauensäußerung 306 . Die Bedeutung der Gemeinde von Thessalonich für den Missionar ist, wie das γ ά ρ V.19 indizieren kann, der Grund für die Sabotage der Reiseversuche durch den Satan307. Von diesem weiß man, dass er gegen die Gemeinden und deren endzeitliche Beziehung zu Gott kämpft 308 . So versucht er nach Deutung des Textes, die Beziehung zwischen Paulus und den Christinnen in Thessalonich zu unterbinden, beide zu trennen, um, wie 3,5 sagen wird, die Adressatlnnnen zu versuchen. Doch in der Formulierung der Begründung wird zugleich der Triumph über den Satan vorweggenommen in zwei rhetorischen Fragen3"9. Sie beziehen die Adressierten ein und demonstrieren die Gewissheit des Autors über die Antwort. Eine der beliebten Triaden metaphorisiert die Adressatinnen als έλπίς, χαρά, στέφανος

305 So z.B. Lyons 1985, 210 im Anschluss an Koskenniemis Beschreibung der brieflichen Thematisierung der räumlichen Trennung (1956, 38-42.169-172); vgl. § 2.2.2.4. 306 So J.L. White 1972, 89t zu 2,19t; zur Vertrauensäußerung vgl. §2.2.1.2. Damit trifft White einen wichtigen Aspekt der Pragmatik. 307 Dieser kausale Zusammenhang ist m.W. in der Literatur nie gesehen worden, ist aber indiziert durch den syntaktisch direkten Anschluss und die gemeinsame eschatologische Semantik sowie die Analogie zur Opposition in 2,16, dass sich „die Juden" gegen die Rettung der Heidinnen richteten. - Andere Rekonstruktionen des durch γ ά ρ angezeigten Begründungszusammenhangs vertreten etwa Holtz (Begründung des „überaus starke[n] persönliche!η] Engagements]", iThess, 117; Holtz handelt sich damit die in Anm.329 diskutierten Probleme ein: Wenn Paulus sein Engagement damit begründet, dass er endzeitliche Heilsgaben erwartet, wirkt das tatsächlich werkgerecht); Reinmuth iThess, 131 (Begründung des Besuchswunsches); Haufe iThess, 53; Bruce iThess, 56; Wanamaker iThess, 123; Lyons 1985, 210 (Begründung der Sehnsucht); Dobschütz iThess, 124 (Begründung von Sehnsucht und Besuchswunsch, eine Entscheidung ist nicht möglich). Doch den Besuchswunsch hatte bereits das in V.i7a verbildlichte innige Verhältnis begründet (διότι V.i8a). 308 Vgl. nur Rom 16,20; 2 Kor 2,11; iPetr 5,8f; Offb 2,10. Bei aller Vielgestaltigkeit des Konzepts Satan, Beliar, διάβολος, Versucher etc. ist dies doch deutlich, vgl. die ntl. Belege bei Karl Foerster/Knut Schäferdiek, Art. σατανάς, in: ThWNT 7 (1964) 1 5 1 164: i6i,i6ff; Otto Böcher, Art. σατανάς, in: EWNT 3 (^992) 558t; Cilliers Breytenbach, Art. Satan 4, in: DDD (1995) i378f: 1379; G.J. Riley, Art. Devil, a.a.O., 464-473: 469ft. Vgl. auch Bickmann 1998, 237: „Die Trennung der Briefpartner und das Bemühen zur Uberwindung der Trennung sind Elemente des endzeitlichen Kampfes zwischen den göttlichen und den widergöttlichen Mächten." 309 Als Einleitung der Frage erklärt sich das ή am besten und macht die Diskussion über andere Akzentuierungen (ή im Sinne von άρα, so Malherbe iThess, 185 und Wanamaker iThess, 124 mit Bruce iThess, 53) überflüssig. Vgl. BDR §476,1 mit Anm.i: „wer anders als" (376).

ι Thess 2,17-20

319

καυχήσεως der Absender vor „unserem Herrn Jesus bei der Parusie". Die Bekräftigung der Antwort (V.20), mit emphatischer Betonung der 2. Pers. PI.310, nennt die Adressierten dann schon für die Gegenwart δόξα ήμών und, wiederholend, χαρά. Die Bezeichnungen schlagen einen Kreis, das doppelte χαρά und στέφανος καυχήσεως mit seinem semantischen Korrespondenten δόξα, chiastisch wiederholt, inkludieren ein zweifaches ύμεΐς, das seinerseits die eschatologische Zeitbestimmung einschließt. Die drei Größen, „wir", „ihr" und „unser Herr Jesus", werden so auf das engste miteinander verflochten. Das και vor ύμεΐς (V.19) impliziert allerdings, dass auch andere als die Adressatinnen solche Bedeutung haben 3 ". Die Metaphern werden nicht weiter ausgeführt, die Abstrakta setzen in aller Kürze mit positiv konnotierten Worten die frohe Gewissheit der zukünftigen Anerkennung 312 gegen die Leidenswirklichkeit313. Das Konzept ist uns allerdings mit einzelnen der hier verwendeten Metaphern aus anderen Briefen bekannt: Die Missionare werden am Ende der Zeiten für die Gewinnung von Christinnen und deren „gute Führung" ausgezeichnet. Andere Briefe äußern die Erwartung eines Gerichts, in dem das eschatologische Geschick der Apostel und Mitarbeiter am Gemeindebau von der Entwicklung der der jeweiligen Gemeinde abhängig sein wird 3 ' 4 . In 1 Thess 2 werden die Angeschriebenen zunächst έλπίς genannt, d.h. Hoffnung auf die endzeitliche Rettung. Diese sollte jeden Christenmenschen als solchen auszeichnen (4,13), und während die Adressierten ihrer ermangeln315, sind die Mis310 Zu bekräftigendem γ ά ρ vgl. BDR § 452,3. 311

So Dobschütz 1 Thess, 126; Dibelius 1 Thess, 13; Frame 1 Thess, 122; anders allerdings Malherbe 1 Thess, 185: Das και sei emphatisch "as providing further stress"; Wanamaker (vgl. Anm.309) sieht mit der Lektüre der Eingangspartikel als ή die Erwähnung der anderen ausgemerzt.

312 Haufe 1 Thess, 54 ist Recht zu geben, wenn er die verbreitete Deutung, es handele sich um „eschatologische Heilsgüter" (Dobschütz 1 Thess, 125; Holtz 1 Thess, 117) zurückweist. Es geht allein um den Ausdruck der hohen Wertschätzung. 313 Mit Bickmann 1998, 241. 314 Die Missionsarbeit ist besonders deutlich auf das Gericht nach Werken bezogen in i K o r 3,i2ff; s. auch i K o r 4,if gegen Kritik aus Korinth an der Person des Paulus (vgl. §7.3.3 und 3.5). Vgl. auch Phil 2,16 (καύχημα in der Verbindung der Kampfmetaphorik, vgl. §5.1.6) und ähnlich i K o r 9,24-27 (στέφανος άφθαρτος als eschatologisches Heilsgut in Wettkampfmetaphorik, vgl. §5.1.6.1); i K o r 15,31 (καύχημα bei „Christus Jesus unserem Herren"); 2 K o r 1,14 (gegenseitig werden sich Gemeinde und Paulus καύχημα sein „am Tage des [unseres] Herrn Jesus"); Phil 4,1 (χαρά και στέφανος μου in der Anrede an die Gemeinde). 315 Vgl. ähnlich Donfried 1993, 57. Nicht zufällig berichtet Timotheus aus Thessalonich nach 3,6 nur von Glauben und Liebe, nicht vor der zur Trias christlicher Tugenden

320

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

sionare ihrer Rettung gewiss. Die Freude, die auch die jetzige Vorfreude (V.2ofin) einschließt, ist Ausdruck der Gewissheit dieses Heils 316 und hat darum, wie die Opposition der Sinnlinien Leid /Freude im Brief zeigen, die Kraft, das Leid zu überwinden. Die Wiederholung von χαρά am Schluss der lobenden Ausführungen zeigt die Gewissheit der Absender, dass die Freude über das Leiden bereits jetzt obsiegt 317 . Der Missionar zieht diese Freude wie die Hoffnung aus der Bekehrung und Glaubenstreue seiner Konvertiten. Mehr noch als Leiden stiftet die endzeitliche Freude Gemeinschaft zwischen den Gesprächspartnern. στέφανος καυχήσεως ist ein im corpus Paulinum singuläres, aber in atl. Tradition geläufiges Syntagma 318 , στέφανος ist polysem, denn Kränze wurden vielfältig verwendet, im Zusammenhang von Kult, Tod und Hochzeit, Krieg und Sport, in der Umwelt des NT und dann auch im Judentum 319 . Das Genetivattribut καυχήσεως präzisiert320. An den Siegeskranz für den Gewinner eines Wettkampfes, wie in der Literatur oft wegen der entsprechenden Metaphorik bei Paulus vorgeschlagen 321 , ist nicht zu denken, denn von Konkurrenten oder Sieg ist keine (1,3; 5,8) gehörenden Hoffnung (anders Best iThess, 140; Lyons 1985, 216 mit dem Verweis auf die Konstatierung der Hoffnung in 1,3). Die Hoffnung ist in atl. Tradition nicht nur eine feste Erwartungshaltung, sondern beruht auch auf Vertrauen auf Gott (so Rudolf Bultmann, vgl. ders. - Karl H. Rengstorf, Art. έλπίς κτλ., in: ThWNT 2 [1935] 515-531: 527); dieser Zusammenhang, den auch 5,9t im Anschluss an 5,8 herstellt, ist hier jedoch nicht expliziert. 316 Vgl. Klaus Berger, Art. χαρά, in: EWNT 3 (hggz) 1087-1090, hier 1087: „In der Mehrzahl der ntl. Texte ist Freude ein primärer Modus der Aneignung des endzeitlichen Heilsgeschehens durch Menschen". (Berger selbst deutet jedoch χαρά in 1 Thess 2,19 als „Heilsgut", vgl. a.a.O., 1090.) χαρά führt die Sinnlinie der Freude in Opposition zu dem in 2,i7f wieder angesprochenen Leidensthema weiter; beide wurden bereits in 1,6 pointiert miteinander konfrontiert. 317 So wird in 3,9 noch einmal wiederholt, unterstrichen durch eine etymologische Figur, dass die Gemeinde, nun coram Deo (έμπροσθεν του θεοϋ), Grund zur großen Freude ist. 318 Vgl. die Belege bei Holtz 1 Thess, 118 Anm.566. 319 Vgl. nur den materialreichen Überblick von Walter Grundmann, Art. στέφανος κτλ., in: ThWNT 7 (1964) 615-635. 320 Vgl. dazu Josef Zmijewski, Art. καυχάομαι κτλ., in: EWNT 2 (hggz) 680-690, der den Text treffend zu 2 Kor 1,12; 10,13 und anderen Stellen ordnet und das Rühmen für konsistent zur differenzierenden Auffassung des Paulus erachtet, insofern es erst bei der Parusie erfolgt (689). 321 So z.B. H. Kraft, Art. στέφανος κτλ., in: EWNT 3 (^1992) 654-656: 655; Frame iThess, 122f; Bickmann 1998, 242; Bruce iThess, 56; Wanamaker iThess, 124; Malherbe iThess, 185.188; dessen Hinweis auf andere Paulus-Texte, in denen Wettkampfmetaphorik und Aussagen über den Satan nahe bei einander stehen, führt in die Irre, denn die Aussagen entbehren eines inneren Zusammenhangs. Erwogen wird eine agonistische Assoziation auch in der einschlägigen Untersuchung Poplutz'

ι Thess 2,17-20

321

Rede. Das atl. Syntagma bezeichnet vielmehr die „Zierde", den Schmuck, der das Ansehen des Menschen erhöht oder repräsentiert322. So ist unter den vielfältigen metaphorischen Verwendungen von στέφανος 323 das hier vorliegende Bildfeld spezifiziert: Ein Mensch ist für einen anderen Menschen Zierde, Zeichen seiner Ehre324. Es geht also nicht, wie manche interpretieren325, um die von Gott endzeitlich verliehene Auszeichnung, wie auch auf eine Gerichtssituation und ein Urteil nicht deutlich angespielt wird 326 . Der Missionar selbst schmückt sich mit diesem Kranz als Symbol seiner Leistung vor „unserem Herrn Jesus bei seinem Erscheinen" 327 , δόξα in V.20 greift den Aspekt des Ruhms noch einmal auf. Gemeint ist natürlich der Ruhm bei Gott resp. dem Herrn, wie die Autoren ja schon in 2,6 von sich wiesen, solche bei Menschen zu suchen328. Die Metaphern bieten gerade aufgrund ihrer Kürze vielfältige Implikationen, die abschließend nebeneinander gestellt seien. Sie setzen die agonistische Gesellschaft, hier in vertikaler Ausrichtung, voraus und implizieren die Gewissheit, dass nicht nur die Absender, sondern auch ihre Konvertitinnen bis zur Parusie auf dem rechten Weg (2004, 234-241), die jedoch selbst die Gegenargumente, d.h. den atl. Hintergrund der Formulierung, darstellt. 322 Vgl. dasselbe Syntagma in der LXX in Ez 16,12; 23,42 vom Frauen schmückenden Kranz, Prov 16,31 von den grauen Haaren als Zierde. Dass gerade der Kopf das Zeichen der Ehre trägt, entspricht den damaligen Vorstellungen des "honor-discourse"; vgl. nur 1 Kor 11,3 und Malina 1993, 50. 323 Vgl. die Beispiele bei Grundmann ThWNT 7, 624,38ft; 626,4ft und 628 (zum corpus Paulinum). 324 Vgl. Prov 12,4; 17,6LXX (στέφανος) und ähnlich 1 Kor 11,7 (δόξα statt στέφανος). 325 So Holtz iThess, 118; Grundmann ThWNT 7, 628,32ft; Dobschütz iThess, 125: „eine Auszeichnung des Apostels ..., dem die Trefflichkeit der Gemeinde als Verdienst angerechnet wird." 326 Im Kontext des 1 Thess ist mit der Parusie Jesu nicht das Richter-, sondern nur das Retterhandeln verbunden (1,10, vgl. 5,9-11). Eine Gerichtsanspielung wird auch bestritten von Bickmann 1998, 242 mit Anm.102; reserviert auch Holtz iThess, 119; dezidiert für das Gericht jedoch sprechen Dobschütz 1 Thess, 123; Bruce 1 Thess, 56. 327 Diese Deutung, dass es nicht um eine eschatologische Belohnung geht, findet sich selten; vgl. die Andeutung Lightfoots 1 Thess, 38, vor allem aber Haufe 1 Thess, 54. Er weist darauf hin, dass die Trias von der Hoffnung über die vorwegnehmende Freude hin zum Ehrenzeichen eine Klimax ist. Er stellt allerdings eine falsche Alternative auf, wenn er meint: „Der Text will nicht tiefgründig theologisch hinterfragt, sondern in seiner rhetorischen Qualität ernst genommen werden" (ebd.). 328 Schief ist hingegen die Deutung von δόξα in Verlängerung von 2,12 (so Bickmann 1998, 242). Es ist „Ehre" (Harald Hegermann, Art. δόξα, in: EWNT 1 [ 2 i992] 832841: 835) bzw. das, worauf man stolz sein kann, wie i K o r 11,7 und evtl. 2 Kor 8,23 (mit Bruce 1 Thess, 57).

322

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

bleiben - trotz aller Anfechtungen Satans, den dieser missionarische Erfolg provozierte. Die Metaphern lassen weiter die Überzeugung erkennen, dass Gott bzw. der Herr die Christinnen in Thessalonich als rühmlichen Erfolg der Adressanten sieht329. Sie präsentieren weiter die unlösliche Verbundenheit der Briefpartner, schon syntaktisch, bildlich mit dem „Ruhmeskranz" auf dem Haupte des Paulus, und durch den zeitlichen Bogen, den sie von der gegenwärtigen Trennung zur Parusie-Gemeinschaft schlagen. Schon heute (so das Präsens έστε V.2o) sind die Adressatinnen so, wie sie sich dereinst zeigen werden. Diese euphorischen Aussagen 330 in sprachlich markiertem „Fettdruck" sind der Höhepunkt der Beschreibung einer gelungenen Beziehung, sprechen sie doch in Wechselseitigkeit von der Hingabe der Adressanten an die angeschriebene Gemeinde und deren endzeitlicher Bedeutung für die Absender als ihre Missionare. Die Erzählung 3,1 ff wird die Abhängigkeit des Paulus von dem Ergehen der Gemeinde verdeutlichen, und zwar schon für die Gegenwart (vgl. 5.2). Bevor die Ängste um den Glauben der jungen Christusanhängerinnen in Thessa329 Dieser selbstbewusste Anspruch macht den Auslegern zuweilen zu schaffen. So kritisiert Holtz i T h e s s , 1 2 1 V . i g a : Eine sachliche Spannung sei, „ d a ß die Begriffe , H o f f n u n g ' , ,Freude' und ,Ruhmenskranz' als eschatologische Heilsbezeichnungen im strengen Sinne, die nicht nur ,Lohn' ( i K o r 3,8.14) oder , L o b ' ( i K o r 4,5) f ü r das gelungene Werk des Baus der Gemeinde bedeuten, nur auf Christus, nicht auf die Gemeinde gegründet sein können. Paulus drückt sich denn auch in 2 Kor 1,14; Phil 2,16 ganz anders a u s " . Die eschatologischen Heilsgaben, die V . i g a nenne, w ü r d e n ja „auf dem Rechtfertigungshandeln Gottes in Christus g r ü n d e n . " Deshalb relativiere es Paulus durch die H i n z u f ü g u n g der Näherbestimmung, „ d i e sie gleichsam noch einmal dem Urteil Christi bei seiner Parusie unterstellt", und rücke dann auch mit V.20 die A u s s a g e zurecht. Abgesehen davon, dass Holtz die 2,19 ganz analoge Formulierung Phil 4,1 übersieht, ist aus 1 Kor 3,i3ff zu entnehmen, dass der Apostel unbenommen der Rechtfertigung ein Gericht nach den Werken über das Wirken der Apostel erwartet. Selbst w e n n es dort nur um „ L o h n " ginge, hier aber die eschatologische Heilsgabe selbst als gewiss behauptet w ü r d e (so Holtz ebd.), ist die Unterscheidung g e z w u n g e n : Was w i r d denn sonst als μ ι σ θ ό ς ( ι Kor 3,14, auch dies ja eine Metapher) zu verteilen sein? - Reinmuth i T h e s s , 132 relativiert den Anspruch, indem er auf die in 2,4 angesprochene Betrauung mit dem Evangelium verweist. Damit sei ausgeschlossen, dass „ d i e Gemeindewirklichkeit nach Art eines persönlichen Erfolgs zu bewerten" ist; ähnlich Morris i T h e s s , 90 ohne Rekurs auf einen bestimmten Text; R.F. Collins 1984c, 206: " P a u l cannot boast his h u m a n achievement, but he can boast of the gifts of G o d to h i m " . Das m a g in der Sache richtig sein, w i r d aber nicht gesagt. Das Recht des Holtzschen Monetums liegt gleichwohl darin, dass zwischen den Aussagen über die missionarische Leistung und den Erfolg einerseits, das göttliche Erwählungshandeln andererseits eine Spannung besteht (s.u. 7.1). 330 Z u m Pathos der Passage vgl. Wanamaker i T h e s s , 123 und Johanson 1987, 1 0 1 - 1 0 9 . Theodoret, C o m m in I. Thess 2,lqi ( P G 82,640) vergleicht die A u s s a g e sogar mit einer Ammenliebkosung. Die Kategorie des Pathos erfasst jedoch nicht deutlich, dass es u m die Bekräftigung der Beziehung, nicht nur Affekterregung geht.

ι Thess 2 , 1 7 - 2 0

lonich eingestanden werden, wird bereits in den rhetorischen Fragen jeder Zweifel an der Glaubenstreue negiert und ein anderer als glücklicher Ausgang des eschatologischen Kampfes mit d e m Satan rundweg bestritten. Zugleich klingt der Stolz über die gelungene Mission in Thessalonich durch. Indirekt loben die Absender auch die Adressatinnen und ermuntern sie auf diese Weise, in der engen Verbundenheit mit ihnen zu bleiben 3 3 1 . Im Rahmen der Briefkonventionen lässt sich die Passage als Topos von „der Quasi-Anwesenheit" verstehen 332 . Jedoch stellt der Text nicht den Brief als Ort der Anwesenheit des Autors heraus, sondern relativiert mit der Wendung προσώπω ού καρδία die Trennung jenseits jeden Briefkontakts bereits als rein äußerliche. Ebensowenig bezieht sich die in V.iqf metaphorisch angesprochene Verbindung auf den Briefkontakt. Der Abschnitt bis 3,10 bedient sich der Freundschaftstopik 333 . Die performative Funktion des Briefes, die Trennung zu überwinden, wird in dieser Passage metaphorisch unterstützt. Doch die Passage geht nicht darin auf, die Konvertiten an Paulus zu binden334, noch identifiziert sie die Leidenssituation

331

DeSilva 1996 zeigt, wie der "honor discourse" die deviante Gemeinschaft, der die Außenwelt die Ehrenhaftigkeit abspricht, stützen kann durch Aufweis der Ehre, die die Gemeinschaft bei den Missionaren und anderen Gemeinden genießt (vgl. bes. a.a.O., 7off). An das Konzept erinnert gerade auch die Sprache in 2,19t, auf die DeSilva allerdings nicht eingeht. - Bickmann weist, freilich überzogen, auf den in V . i 9 f implizierten Appell hin: „Der Leser steht als Möglichkeit der Heilserfahrung für den Autor in der Verantwortung für diesen. Er wird auf diese Weise exklusiv auf seine Beziehung zum Wissensträger festgelegt und auf der Ebene der Briefbeziehung darauf vorbereitet, daß er im endzeitlichen Kampf eine aktive Rolle wahrnehmen m u ß " (1998, 248). Doch die Adressierten stehen bereits im Kampf (vgl. nur 1,6) und sind auch, wie erwähnt, nicht die einzigen „Hoffnungsträger" für den Adressanten.

332 Vgl. dazu § 2.2.2.2, zu 1 Thess 2,17 speziell Thraede 1970, 95-97, vgl. auch Stowers 1986, 59t; Schoon-Janßen 1991, 43. Im Anschluss an diese Relativierung der Abwesenheit kommt der Autor auf die Besuchswünsche (vgl. §2.2.2.7) z u sprechen. Es handelt sich nicht um den paulinischen Topos der „apostolischen Parusie", wie im Anschluss an die These Funks 1967 behauptet wird (vgl. dagegen § 2.2.2.1; vgl. auch die Kritik Haufes 1 Thess, 51). In dessen Gefolge meint etwa Weima 1997, 8if, die Passage habe die Funktion, die Gegenwart des Apostels autoritativ abzusichern. Das sei anders als sonst bei den Parusia-Passagen - apologetisch, weil es gelte, die Gemeinde der Liebe zu versichern. Nach Schnider/Stenger 1987, 50ft handelt es sich hingegen um eine zweite Selbstempfehlung nach 2 , 1 - 1 2 (vgl. dazu oben 4.4). Doch ist weder der Topos der Selbstempfehlung deutlich zu greifen (vgl. § 2.2.2.1) noch die nach Schnider und Stenger für diesen charakteristische Topik in 2,17ft signifikant. Vgl. auch Lambrechts Referat und Kritik an diesem "genre hunting" (1994c, 3 3 i f f , Zitat 335)· 333 Vgl. im einzelnen Schoon-Janßen 1991, 43t; Stowers 1986,59; Malherbe 1 Thess, i8of. 334 So aber Malherbe ebd.

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie d e r T h e s s a l o n i c h e r l n n e n mit der T r e n n u n g so, d a s s d e r Brief z u g l e i c h die V e r arbeitung des L e i d e s böte 3 3 5 . U m die B e z i e h u n g i m Sinne der A b s e n d e r z u gestalten, deutet die Pass a g e die e r f a h r e n e T r e n n u n g als schmerzhaft, als e r z w u n g e n v o m e n d zeitlichen G e g e n s p i e l e r u n d d o c h als ü b e r w i n d b a r , ja a u c h jetzt n u r relativ. D i e U b e r w i n d u n g der T r e n n u n g liegt nicht i m Brief, s o n d e r n i m W i e d e r s e h e n u n d letztlich in d e r endzeitlichen G e m e i n s c h a f t , die metaphorisch in die G e g e n w a r t gezogen wird336.

5.2

T r e n n u n g s ä n g s t e u n d ihre U b e r w i n d u n g

(3,1-10.11-13)

Wir betrachten den Schlussabschnitt des ersten Hauptteils hier nur im Blick auf die Charakterisierung der B e z i e h u n g e n durch die lung. Die Relation v o n Missionaren u n d Gemeinde, v o n und

Adressierten,

ist T h e m a

des Textes337 u n d

Darstel-

Adressanten

mit ihr die

beiden

Themen, die die argumentative Situation des Briefes bestimmen, Trenn u n g u n d L e i d e n (vgl. oben 2.2). U n t e r d e n drei A d r e s s a n t e n w i r d die bereits in 2,18 a n k l i n g e n d e A u s d i f f e r e n z i e r u n g deutlicher 3 3 8 , die P a u l u s als impliziten A u t o r w i r k e n lässt: D i e Bezieh u n g besteht v o r a l l e m z w i s c h e n P a u l u s u n d d e r G e m e i n d e . P a u l u s sendet T i m o t h e u s , d e r z w a r als B r u d e r u n d Mitarbeiter i m E v a n g e l i u m Gottes v o r Gott d i e s e m gleichsteht, aber a b h ä n g i g v o n P a u l u s z u sein scheint 3 3 9 . H ä l t er d u r c h seine R e i s e n a c h Thessalonich u n d R ü c k k e h r n a c h A t h e n die V e r b i n 335 So Bickmanns Deutung, 2,17-20 habe die pragmatische Funktion, „die Trennung als Todeserfahrung in der Dimension des endzeitlichen Kampfes auf[zu]zeigen" (so die Uberschrift 1998, 247; vgl. zur Kritik an ihrer Metapherndeutung bereits Anm.294). Apokalyptische Sprache (Leiden) und semantische Briefkonvention würden verbunden, indem einerseits die „erzählte Leidsituation genau die gegenwärtige Briefbeziehung beschreibt" und Widerstand fordere und andererseits die Briefsituation bereits die Verarbeitung der Trennung darstelle (so 1998, 248 u.ö). Bickmann greift dabei den auch sonst begegnenden Gedanken auf, dass der Brief die παρουσία Jesu und Pauli parallelisiere (vgl. so Wuellner 1990, 131: "Apostolic parusia closely parallels Christ's parousia"). Diese Assoziation ist vom Text her nicht gestützt. 336 Anders Bickmann: „Horizont der brieflichen Sehnsucht nach dem erneuten Zusammentreffen der Freunde ist die Freude, die die Briefpartner bei der parousia des Freundes empfinden. Diese Freude ist für beide Kommunikationspartner schon in der Briefgegenwart erfahrbar" (1998, 243 vgl. 232). Die Funktion des Timotheus erhalte auf der Ebene der Kommunikation der Brief (249t ad 3,1-5). 337 Die Perspektive verdeutlichen die vielen Pronomina, gerade durch die Zusammenstellung der 1. und 2. Pers. PI., vgl. nur V.6fin.7.iifin. 338 Vgl. das betonte μόνοι 3,ifin. 339 Signifikant ist die Konstruktion 3,1ft, mit Paulus als Handelndem, und der gen.abs. 3,6, der das Handeln des Timotheus verblassen lässt (mit Bickmann 1998, 215.218).

ι Thess 3,1-13 dung, so relativiert er zeitweise auch die Trennung von Paulus. Doch der hat weiterhin den starken Wunsch, die Gemeinde zu besuchen (2,17t; 3,10t). Die Verse 3 , 1 - 1 0 erzählen weiter 340 , chronologisch von der Zeit zwischen Abreise und Briefabfassung bis zu einem, wenn auch nur vorläufigen, „ happy end" 3 4 1 . 2,17-20 hatte die Abreise der Missionare bereits entschuldigt und die Trennung metaphorisch überbrückt. Im Schutz dieser affektiven Aussagen wird ausgesprochen, wie bedrohlich die Trennung und die Bedrängnisse waren. Die interne Fokalisierung der Erzählung vergegenwärtigt die räumliche Trennung sogar. Sie erzählt dezidiert aus der Perspektive des Paulus und hält einen Spannungsbogen. Denn sie beschreibt die Sorgen, obwohl deren Grundlosigkeit inzwischen bekannt ist. Nachdem der Brief die Bedrängnisse als schon ertragen gezeichnet hat (i,6ff; 2,14-16), nimmt er nun die Gefahr, die von ihnen ausgeht, in den Blick. Der Versucher, ό πειράζων 3 4 2 , ist im Unterschied zur Gemeinde (vgl. unten) aktiv und wird als Gegenspieler der Missionare, als Angreifer aufgebaut. Er bedroht nicht ihren Glauben, sondern ihren Erfolg in der Gemeinde 343 . Das Leiden wird wie bisher nur selektiv behandelt: Wer w a s erlitten hat, ist irrelevant, die richtige Einordnung der Bedrängnisse ist wichtig. Die Aussagen, dass das Leiden bestimmt, vorausgesagt und geschehen ist als Versuchung gegen den Glauben und die Missionsarbeit, deuten das Leiden als Teil der Endzeit344. Abwegig wäre, das Leiden den Missionaren anzulasten. Im Gegenteil, es trägt andeutungsweise zur Bestätigung der Missionare bei, dass eintrat, w a s sie prophetisch angekündigt hatten345. Impliziert ist aber auch die positive Verstärkung, dass man dem Leiden nicht unterliegen muss. Durch Festhalten am Glauben und an der Gemeinschaft haben die Angeschriebenen der mit den Bedrängnissen gegebenen Glaubensanfechtung widerstanden 346 .

Die beiden beziehungsrelevanten Themen, Trennung und Leiden, werden so miteinander verbunden. Auch Paulus litt der Erzählung zufolge um der Christinnen in Thessalonich willen. Es bedrückte ihn nicht nur die Drangsal der Gemeinde, sondern auch die erzwungene Abwesenheit347. Die Sendung des Timotheus, das heißt die stellvertretende 340 Unterbrochen wird die Erzählung allerdings durch die allgemeine Reflexion 3,30.4. 3,8 f kehrt zur Gegenwart zurück. 341 So treffend Hughes 1990, 99. 342 Steht der πειράζων in einer Sinnlinie mit dem σατανας 2,i8, so hebt die Wortwahl, verstärkt durch die figura etymologica, dessen glaubensbedrohenden Charakter hervor. 343 3'5· Dieses Ziel des Satan war nach unserer Auslegung bereits in 2,17t angedeutet, vgl. 3.1 z.St. 344 Vgl. Bickmann 1998, 249 u.ö. 345 Zum prophetischen Aspekt der Aussage V.4 vgl. Johanson 1987,105. 346 3,6. Anders Bickmann 1998, 251t, die meint, dass der Verfasser sich als Vorbild im Widerstand gegen die Todeserfahrung darstelle. 347 Dies lässt das 3,1-5 inkludierende μήκετι στέγειν erkennen und spricht dann V.7 aus.

326

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Anwesenheit der Missionare, soll die Gemeinde gegen die Angriffe wappnen (3,2b). Wenn der Bericht des Timotheus in der knappen Wiedergabe ausdrücklich erwähnt, dass „ihr allezeit gute Erinnerung an uns habt und ersehnt, uns zu sehen, wie auch wir euch" (V.6), so wird die Bindung der Gemeinde an die Missionare nicht nur positiv sanktioniert. Sie wird sogar als Teil des bedrohten Gutes bzw. der guten Nachricht (εύαγγελίζεσθαι 348 ) neben den Glauben und die Liebe gestellt. Das solidarische Leiden, ist es auch unterschiedlich, stellt wie die gegenseitige Sehnsucht eine Verbindung zwischen Missionar und Gemeinde über die Trennung hinweg dar349. Die Gemeinde selbst kommt allerdings in der Darstellung nur als Objekt der Sorge, als bedrohte, der Stärkung (V.3f), vor allem der weiteren Vollendung des Glaubens bedürftige (V.10)350 in den Blick. Sie bleibt also angewiesen auf die Bekräftigung durch die Missionare. Trotz ihrer Standhaftigkeit im Glauben (V.6.8) wird ihr keine aktive Rolle, sondern Abhängigkeit zugeschrieben. Selbst das Beharren im Glauben gegen die Versuchung wird nicht der Gemeinde direkt, sondern im Dank an Gott diesem zugerechnet (V.9). Die Erzählung macht auch, wie 2,i7ff, die enge Bindung des Paulus an die Gemeinde sichtbar in den Gedanken und Gefühlen351. Stärkster Ausdruck dessen ist die Analogisierung der Sorge des Paulus mit den Bedrängnissen (πάση ανάγκη και ΘΛϊψίς ήμών V.yb) und in Folge dessen die hyperbolische, an die Waisenmetapher erinnernde Aussage, οτι νΰν ζώμεν, έάν ύμεϊς στήκετε έν κυρίω (V.8). 348 Dass man bei diesem Verb an den Zusammenhang von Missionsbeziehung und -inhalt denkt, legt der Text, in dem ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν ein Signalwort ist, unbedingt nahe (zur Diskussion vgl. Hoppe 2001,121). 349 Dafür, dass die 1. Pers. PI. in V.3f (κείμεθα, μέλλομεν θλίβεσθαί) trotz des Referenzwechsels inklusiv zu verstehen ist, vgl. die Begründung Bickmanns 1998, 219 mit Anm.14. Den verbindenden Charakter des Leidens betont Köster 1980, 287f gegen Güttgemanns' These, dass dem Leiden des Apostels und nur diesem Epiphaniecharakter zukomme. 350 Was man sich unter den ύστερη ματα vorstellen soll, bleibt offen. Dass es sich hierbei um den Mangel an Hoffnung handele (so Donfried 1993, 57), ist jedoch eine vom Text nicht begründete Vermutung. Diesen Mangel soll doch der Brief selbst bereits beheben. Möglich sind Wissenslücken, fehlende ethische Unterweisung oder die Geltung des Gewussten (Bickmann 1998, 245). Dass der Brief das nicht ausführt, rückt den Mangel und mithin die Abhängigkeit mehr in den Mittelpunkt, als es ein ausgeführter „Lehrplan" täte. 351

Passend zur Erzählperspektive fällt in dieser Passage die Anrede αδελφοί erst nach dem Bericht von den beruhigenden Nachrichten aus Thessalonich (3,7). Vor diesen Nachrichten wusste Paulus nicht, ob die Missionierten in Thessalonich noch „Brüder und Schwestern" sind.

ι Thess 3,1-13

Die Beziehung zwischen Gemeinde und Missionaren wird als gegenseitige, aber asymmetrische Abhängigkeit voneinander entworfen. Als solche wird sie angeboten als Ort gegenseitiger Tröstung 352 und endzeitliche Freude (2,20; 3,9 )353, und, nur für die Adressatinnen, als notwendige Unterstützung zur Vollendung des heilvollen Glaubens (3,10) und als Vorbild der Liebe (3,12 )354, und zwar nicht nur brieflich, sondern möglichst in Anwesenheit 355 . Die Fürbitte 3 , n - i 3 3 5 6 , die die Danksagung 1,2-3,13 abschließt, rekurriert doppelt, in sich inkludierend und den Kreis zu 1,1 schließend, auf Gott als „unseren Vater" und Jesus Christus als „unseren Herrn". Diese beherrschen also eigentlich die Szene und die Zeiten, sie sind der gemeinsame Bezugspunkt der Kommunikation 357 . Dass der Autor nur für die Adressatlnnen gottgemäßes Ethos erbittet, nicht für sich selbst, hält beide auch coram Deo noch einmal auseinander. Das Gebet positioniert die Adressanten zwischen Gott und Gemeinde, als Fürbittende und um Mängel der Gemeinde Wissende. Das Gebet schaut jedoch auf die Aufhebung der Trennungen: Aufgehoben sei die Trennung zwischen Gemeinde und Gott und dem Herrn wie, impliziert, die Scheidung der Gemeinde von ihrem Missionar358 wie auch von „allen seinen Heiligen" (3,i3fin), wer auch immer das sein mag359. Die Erziehung in Glauben und Ethos, die jetzt den

352 Aufgabe des Timotheus und Wirkung der guten Nachricht aus Thessalonich werden jeweils παρακαλεΐν genannt, V.2.7. 353 Vgl. Bickmann 1998, 240 zur Sinnlinie der Freude. 354 Mit knappen Worten wird die Liebe der Absender zu den Adressierten als Vorbild für deren zu vollendende Liebe „zueinander u n d zu allen" entworfen. 355 H o p p e erkennt die Relevanz der Beziehungsthematik in diesem Abschnitt, versteht sie jedoch als „Überzeugungsarbeit" (2001,116), deren eigentliches Thema die Wirksamkeit des Evangeliums sei, das durch das Fernbleiben des Paulus in Frage gestellt sei (so ligf). Damit trennt er die Größen, die im Text unlöslich verwoben sind, u n d unterschätzt die Eigenbedeutung der Beziehung. Sie ist nicht Mittel z u m Zweck! 356 Die Zäsur markiert der Wechsel in den Wunschmodus; vgl. zum "intercessory prayer" R.F. Collins 1984c, i99ff. 357 Dies betonen die inklusiven Pronomina der 1. Pers. PI. in 3,11.13. 358 Mit Bickmann 1998, 259. 359 Vgl- zur Deutung Bickmann 1998, 258, die auf eine Bestimmung verzichtet; Holtz 1 Thess, 146f. Bereits ά γ ά π η ... εις π ά ν τ α ς 3,12 hatte die erzählte Welt bereichert u m eine ökumenische Perspektive, nun tut dies auch 3,13 in eschatologischer Hinsicht.

328

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Missionaren 300 bzw. in Pauli Auftrag dem Timotheus 361 obliegt, wird in V.13 Gott und dem Herrn anheimgestellt.

6 Die rhetorische Gestaltung der Beziehung in der Paraklese 4,1-5,24 und dem Briefschluss 5,25-28 Um das Bild abzurunden, betrachten wir auch die Paraklese und den Briefschluss im Blick daraufhin, welche Beziehung zwischen Briefschreibern und Adressatinnen sie implizit voraussetzen oder indirekt einfordern. Das Relationsgefüge kongruiert, wie die folgende Analyse zeigt, dem durch die Sprechhandlung in 1,2-3,13 gelegten Muster 302 : Zwischen den Adressanten und den Adressatinnen besteht ein Wissensgefälle, die Absender erscheinen als Vermittler des heilsnotwendigen Wissens und der Gottesbeziehung, dem Brief wird dementsprechend Gewicht verliehen (5,27). Diese Rolle der Adressanten wird nicht weiter begründet, und sie wirkt damit autoritärer als jede legitimierte Autorität363. Die übergeordneten Eingangssätze der Paraklese 4 , 1 / fordern die Lesehaltung für die Ausführungen, sind aber auch beispielhaft für die intendierte Beziehungskonstellation: Der Adressant selbst tritt als Subjekt der Paraklese auf 304 ,

360 Vgl. 2,12 361 Vgl. die Rekurrenz von στηρίξαι ύμας resp. ύμών τας καρδίας 3/ 2 · Ι 3 m i t unterschiedlichem Subjekt, Timotheus bzw. dem Herrn. 362 Vgl. Bickmann 1998, 264 mit Recht: „Das direktive Sprechaktgefüge 4,1-5,24, in das die Argumentation bzw. die Mitteilung von Wissen 4,13-5,11 eingefügt ist, setzt das expressive Gefüge 1,2-3,13 voraus." Das bedeutet jedoch nicht, dass der Hauptzweck des ersten Hauptteils die Vorbereitung von 4,iff sei. Dies meint etwa Bjerkelund aufgrund formgeschichtlicher Schlüsse: 4,if.iob-i2 sei die „Pointe des ganzen Briefes", das Corpus des Briefes beginne in 4,1 (1967, 134t, Zitat 134); ähnlich Johanson 1987, i 5 7 ff. 363 Dies ist zu betonen gegen Aussagen wie die Holtz' (iThess, 151t): „Er setzt, indem er das Wort παρακαλώ benutzt, gerade nicht die apostolische Vollmacht ein, die er hat, sondern er spricht, durch die Liebe bestimmt, lieber eindringlich zu." Besonderes Autoritätsbewusstsein zeigt die Aussage 4,8, dass Gott selbst verworfen wird von dem, der die Weisungen verwirft (was aber nicht, wie so Best iThess, 169 u.a. meinen, vom Apostolat abgeleitet ist). 364 Subjekt ist der Adressant durch den Sprechakt als solchen auch dann, wenn er wie in 4,3 den Willen Gottes referiert, und explizit durch die Einführungen der 1. Pers. PI. in den Kommunikationsakt an den Anfängen neuer Abschnitte, vgl. abgesehen von 4,if bes. 4,9.13; 5,1.12 und innerhalb von Abschnitten 4,10b.15; 5,14.

Die Rolle der Adressanten in ι Thess 4t als Bittender und Mahnender, nicht als Befehlender 365 , kaum als Drohender 366 . Er legitimiert jedoch indirekt seine Mahnungen durch den Herrn 367 . Weder der Maßstab der Weisungen noch der Inhalt der Hoffnung noch die angedrohten Sanktionen stammen vom Verfasser. Und doch tritt er vor die Lesenden als derjenige, der Wissen, Hoffnung, Maßstäbe vermittelt. Der Inhalt der Bitten richtet sich nach Gott, dem es zu gefallen gilt368. Der Zusatz, dass die Gemeinde bereits so wandele und es nur um ihre Vervollkommnung gehe, wirkt als positive Verstärkung der Bitte369. Die Absender treten also selbstbewusst als Wissende auf, die den ethischen Maßstab kennen und weitergeben. Sie maßen sich sich sogar ein Urteil über die Adressatinnen an. Dennoch behandeln sie diese nicht einfach als Befehlsempfängerinnen, sondern motivieren sie, sei es mit Begründungen 370 , sei es mit positiven Verstärkungen. Die Beziehung zu den Missionaren, die in der großen Danksagung bekräftigt wurde, wird weder Inhalt der Forderungen noch selbst Motivation für richtiges Handeln. Höchstens indirekt erscheinen die Missionare als Vorbild 371 .

365 παρακαλοϋμεν, έρωτώμεν; 4,ι.ιο; 5,12.14. Anders wirken jedoch die Imperative 4,11; 5A3ff; vgl. auch die autoritative Konnotation von παραγγελίαι 4,2 (Holtz 1 Thess, 153t). Vgl. zur Bedeutung von παρακαλώ ähnlich Bjerkelund: Die Adressanten treten mit dieser Einleitung der Paraklese weder servil auf, gehen nicht gegen Zweifel an ihrer Autorität an, aber befehlen auch nicht (1967,188; zu 1 Thess 4,1125ft, vor allem 130ft). - Anders liegt der Fall in 4,9, das die Adressierten in Sachen Geschwisterliebe als θεοδίδακτοι bezeichnet. Ist in diesem Fall die Vermittlung des richtigen Ethos gottunmittelbar, so „mischt" sich doch der Verfasser mit der praeteritio V. 9a in diese Gottesbeziehung ein. 366 So jedoch έκ&ικος κύριος 4,6, vgl. Holtz 1 Thess, 164 zu der von atl. Tradition getragenen Bedeutung, und 4,8. 367 Έν κυρίω'Ιησοϋ 4,1, διά τοϋ κυρίουΊησοϋ 4,2fin. 368 4/1; vgl· weiter 4,3 (θέλημα τοϋ θεοϋ). 369 So neben 4,1 καθώς και περιπατείτε auch 4/9^ 5'11/ ähnlich fungieren auch die „Heils-Indikative" 5,5·9ί.24. 370 Es handelt sich in der Regel nicht um ausgeführte Argumente, sondern Hinweise auf Gott als Autorität, die betonen, dass der richtige Wandel die Voraussetzung für die endzeitliche Rettung ist. Vgl. die eschatologische Motivierung der Ethik in 2,12; 3,12 t und abschließend 5,23. Begründungen der ethischen Weisungen mit dem Willen Gottes finden sich in 4,1.3.6.7.8; 5,9 f.18; vgl. daneben 4,8. 4,14 argumentiert von der Auferstehung Jesu her, 5,10 mit dem Sterben Jesu Christi „für uns". Abgesehen von 4,14t, wo ein Argument und eine Quelle des besonderen Wissens (έν λόγω κυρίου) angegeben werden, setzt der Text also voraus, dass Gottes Wille als Letztbegründung hinreicht. Anders begründet sind hingegen die Forderungen 4,11t: Man soll den Außenstehenden anständig erscheinen und unabhängig sein; Arbeitsfleiß und Handarbeit sind nicht als Anliegen Gottes, sondern der Adressanten. 371 So kann 4,6 (Abweis von πλεονεκτεΓν) an 2,5 erinnern, die Forderung nach Arbeitsfleiß 4,iif an 2,8, die Aufforderung der Auferbauung des Einzelnen in 5,11 an 2,11 (vgl. 4.4 über die paränetische Deutung von 2,1-12).

330

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Die Mahnungen intendieren vor allem die Stärkung der Binnengemeinschaft der angeschriebenen Gemeinde 372 . Dies geschieht nicht nur durch Paraklesen über den Umgang untereinander. Die Verbundenheit der Konvertiten wird auch in Abgrenzungen bekräftigt: Distanzierung von neu in die Kommunikation eingeführten Außenstehenden 373 , Distanzierung der Heiligkeit von Unreinheit (4,3.7), die zugleich Abkehr von der eigenen Vergangenheit ist. Dies Abgrenzungen, die eine Sinnlinie des ersten Hauptteils fortsetzen 374 , implizieren zugleich die Gemeinschaft auch mit den Absendern. Diese umfassende Gemeinschaft wird, ohne dass der Gestus der Superiorität im Wissen aufgegeben würde, bezeichnenderweise sichtbar gerade sub specie mortis et finis. In der Erzählung von der Zukunft 4A3ff wahrt der Autor zwar als allwissender Erzähler, als mit prophetischem Sonderwissen Begabter 375 die Überlegenheit. Doch er schließt sich ein unter die bei der Parasie noch Lebenden, in Unterscheidung von den Entschlafenen, schließlich unter die, die „mit dem Herrn" sein werden (4,17). Auch in der Forderung zu wachen, sich zuzurüsten auf das Eschaton, in der Hoffnung auf das gemeinsame Leben mit dem Herrn spricht er in kollektivem „ w i r " , das die Unterscheidung der Rollen nivelliert 376 . So wird die endzeitliche Gemeinschaft aller Erwählten beim Herrn ausgemalt, in der auch die Trennung zwischen Lebenden und Toten 377 aufgehoben ist. Die Vermittlungsleistung der Missionare ist dann nicht mehr nötig. Gerade diese Nächsterwartung der endzeitlichen Gemeinschaft, in welche die Missionare die Glaubenden in Thessalonich nach 2,12 hineinführen, erklärt uns, wieso jegliche Reflexion auf eine Gemeindeordnung, Institutionalisierung, Verselbständigung der Gemeinde gegenüber den Missionaren fehlt 378 :

372 Vgl. bes. 4,9t; die φιλαδελφία soll allerdings über die Gemeinde von Thessalonich hinaus auch allen in Mazedonien gelten. Auch die Mahnungen in sexualibus 4,3 ff und zum Arbeitsfleiß 4,11 f betreffen das Gemeinschaftsleben. Vgl. insgesamt über die Paränese an die Gemeinde als Ort der gegenseitigen Erbauung Malherbe 1987, 88ff; zu den ethischen Implikationen des φιλαδελφία-Konzepts sowohl für das Innenleben der Gemeinde auch auch ihre Abgrenzung vgl. Burke 2003,176 ff. 373 „Schlafende, Trunkene" (5,7), vgl. 4,4.13; 5,6. 374 So fungierten bereits 1,9; 2,14-16. 375 Dies gilt umso mehr, wenn in 4,15 nicht ein Herrenwort oder Agraphon des Irdischen zitiert wird, sondern die Aussage, wie die Formulierung έν λόγω indizieren könnte, als prophetisches Wort aufgefasst wird. Vgl. zur Diskussion und zur Vermutung, dass Paulus hier als Prophet spreche, Merklein 1992, 4i2ff. 376 Der Kohortativ lässt gleichwohl noch ein Subjekt der Forderungen erkennen. 377 Diese Sinnlinie hebt Bickmann hervor im Zusammenhang ihrer Lektüre des Briefes als Trostbriefes gegen die Trauer um Verstorbene und die Angst vor der trennenden Macht des Todes (vgl. nur 1998, 262). 378 Diejenigen, die in der Gemeinde besondere Aufgaben übernehmen (5,12t), werden in keinerlei Relation, etwa durch Aufgabendelegation oder Legitimation, zu den Missionaren gesetzt. Eine von soziologischen Fragen nach den Anfängen der Institutionalisierung erwartete Reflexion darauf, wie sich die Rolle der Missionare zu dem gemeindlichen Miteinander verhalte, ist jenseits der Vorstellungen. Wenn die Adressatinnen zur gegenseitigen Ermahnung (wiederum παρακαλεϊν, 4,18; 5,11, vgl. νουθετεϊν 5,12.14) und zum Beten (5,17) aufgefordert werden, sollen sie handeln, wie

Die Rolle der Adressanten in ι Thess 4t

331

Der Brief vermittelt, dass der Verfasser in der Vergangenheit, in der brieflichen Gegenwart und mit einem zukünftigen Besuch (3,10) die Angeschriebenen in diese Gemeinschaft führt. Auch der Briefkorpusabschluss 5,23/ zeigt als Zuspruch der Bewahrung Gottes wiederum den Anspruch des Autors, zwischen Gott und Adressatinnen in Thessalonich zu vermitteln379. Die letzten Verse des Briefes 5,25-28 bringen durch Inklusion 380 und konventionelle Signale3®1 die briefliche Kommunikation zum Abschluss, doch dies gerade, indem sie auf das Weitergehen der Kommunikation einwirken 382 . Auch hier wie zuvor vergegenwärtigt der Brief explizit wie implizit als dritten im Bunde Gott resp. Christus383. Das reziproke Gebet für die Adressanten (V.25), die Weitergabe von Grüßen sollen die Beziehung fortsetzen, und vor allem: „der Text inszeniert ... seine eigene Relecture" 3 ® 4 . Die Forderung, den Brief „allen Brüdern und Schwestern" vorzulesen (V.27), verleiht ihm und seiner Kommunikation eine besondere Bedeutung und nimmt die Gemeinde mit Schwur für deren Wahrnehmung in die Pflicht385.

es in der Kommunikation der Adressant tut. Zu Recht weist aber Laub (1976, 35ft) darauf hin, dass sie aufgefordert werden, sich gegenseitig zu stützen. Doch weder mit der einen noch anderen Handlung wird eine Verselbständigung, ein Unabhängigwerden der Gemeinde gegenüber den Missionaren angesprochen. 37g Ich folge hier M. Müllers formkritischer und sprechakttheoretischer Bestimmung von 5,23f als „konduktiver Gotteszuspruch" (1997, ii8ff.i24ff) statt als Segens- oder Bittgebet (so etwa R.F. Collins 1984c, 20if): Der an dieser Stelle übliche Wunsch um Wohlergehen (formula valitudinis finalis) ist ersetzt durch den performativen Zuspruch, dass Gott die Gemeinde heiligen und bewahren werde bis zur Parusie. 380 Vgl. den χάρις-Wunsch 1,1; 5,28. 381 Vgl. Schnider/Stenger 1987, io8f.i2off zum Grußauftrag (V.26) und 131 zum christianisierten Eschatokoll (V.28). 382 Vgl. Bickmann 1998,152ff. 383 Dies geschieht etwa mit der Attribuierung des konventionellen Kusses durch das unkonventionelle άγιος, das die Gottzugehörigkeit hervorhebt (Bickmann 1998,154). 384 Bickmann 1998,153. 385 Vgl. Holtz 1 Thess, 274, der darin den ersten Schritt zur Kanonisierung sieht.

332

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

7 Konzept und Bedeutung der missionarischen Beziehung und der Familienfiktion. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

7.1

7.1.1

Autor, Adressatinnen und ihre Beziehung im Entwurf des Briefes Der Entwurf des Autors und Missionars durch den Brief

1) Der implizite Autor des Briefes ist nicht Paulus allein, doch ist es berechtigt anzunehmen, dass die Lesenden bei der Lektüre des Briefes die Stimme des Paulus bevorzugt vernehmen sollen. Lässt der Brief seine Autorität innerhalb der Missionarsgruppe erkennen, so hebt er ihn doch über weite Strecken des Briefes nicht unter den drei Absendern hervor. 2) Das Schreiben setzt eine Autorität gegenüber den Empfängerinnen voraus und schreibt sie erneut ein. Sie wird nicht gegenüber konkreten Zweifeln aus der Gemeinde verteidigt. Nur in 2,4 wird die Evangeliumspredigt legitimiert mit dem Hinweis auf die besondere Beauftragung und Überprüfung durch Gott. Mehrere Aussagen lassen auch ein prophetisches Wissen erkennen. Indem die Autorität der Missionare in der Gemeinde nicht eigens begründet wird, wird sie indirekt „naturalisiert". 3) Die Adressanten äußern in 2,7 entgegen der üblichen Auslegung keinen Verzicht auf Autorität, sondern bewerten ihren Verzicht auf die Inanspruchnahme des apostolischen Unterhaltsrechtes. Die Aussage setzt voraus, dass Paulus oder alle Adressanten απόστολοι Χρίστου sind, expliziert mit diesem Status aber keine inhaltliche Autorität gegenüber den Adressatinnen. Es fehlen auch sonst alle funktionalen, traditionellen Beschreibungen. Der implizite Autor begründet seine zentrale Bedeutung für die Gemeinde nicht genuin theologisch, sondern nur pragmatisch. Damit widerspreche ich Deutungen der Rolle des Paulus als Prophet oder Lehrer. Thesen über eine prophetische Selbststilisierung des Paulus stützen sich auf 2,1-12 (vgl. 4.1) und können sich auch auf die Aussagen 4,15ff und 3,4

Die Beziehung zwischen Autor und Adressatinnen im ι Thess

333

beziehen 3 8 6 . D o c h angesichts des Fehlens v o n einschlägiger T e r m i n o l o g i e u n d deutlichen A n s p i e l u n g e n hat dieses E r k l ä r u n g s m u s t e r a m Text z u w e n i g A n h a l t . D a s p r o p h e t i s c h e M o d e l l bietet ein V e r s t ä n d n i s f ü r die L e g i t i m a t i o n d u r c h Gott u n d d e n C h a r a k t e r der Botschaft als W o r t Gottes. D o c h es stellt k e i n P a r a d i g m a f ü r die M i s s i o n u n d d a s persönliche B a n d z w i s c h e n M i s s i o n a ren u n d K o n v e r t i t e n dar 3 ® 7 . N a c h B i c k m a n n e n t w i r f t 2 , 1 - 1 2 eine bestimmte, v o r g e g e b e n e Rolle f ü r d e n A d r e s s a n t e n - f ü r sie hier P a u l u s - , die g r u n d l e g e n d sei f ü r die P r a g m a t i k des Trostbriefes ( v g l . d a z u o b e n 2.2). Er trete auf als charismatischer weisheitlicher L e h r e r in atl.-apokalyptischer Tradition, d e r O f f e n b a r u n g s w i s s e n w e i t e r g i b t u n d die G o t t e s b e z i e h u n g vermittelt. „ S e i n e Schüler u n d S c h ü l e r i n n e n s i n d u n d bleiben auf sein H a n d e l n a n g e w i e s e n - der L e h r e r als k o m p e t e n t e r W i s s e n d e r ist nicht ersetzbar. D i e B r i e f b e z i e h u n g hat d a m i t als E r m ö g l i c h u n g d e r A n w e s e n h e i t des L e h r e r s u n d als K o m m u n i k a t i o n rettenden W i s s e n s soteriologische R e l e v a n z . " 3 8 8 D e r Brief als Sprechakt reiche selbst d e n Trost, d e n die G e m e i n d e b r a u c h e , i n d e m er „ e i n e w e i t g e h e n d e A n a l o g i e [herstellt] z w i s c h e n d e r E r f a h r u n g d e r T r e n n u n g v o n d e n gestorbenen C h r i s t u s g l ä u b i g e n u n d d e r E r f a h r u n g d e r T r e n n u n g der K o m m u n i k a t i o n s p a r t n e r " 3 8 9 . D i e s e T h e s e scheitert d a r a n , d a s s kein solches A n a l o g i e a r g u m e n t v o r g e b r a c h t w i r d , s o n d e r n d e r Brief die A n w e s e n h e i t nicht ersetzt, die A b w e s e n h e i t nicht akzeptiert, d a s Lei386 So Denis 1957 und Sandnes 1991 als Teil einer Gesamtthese über des Paulus prophetisches Selbstverständnis; Holtz 1966 (vgl. §1.2.2.5). Sandnes zieht den 1 Thess heran, um dieses Selbstbewusstsein bereits für die Frühzeit der Mission nachzuweisen (1991, 2i6ff; die Argumente finden sich ähnlich bereits bei Denis a.a.O.). Der 1 Thess liefere folgende Indizien: Via negativa deute der Vorwurf der falschen Prophetie auf ein solches Selbstverständnis (vgl. dazu 4.1). Positiv klinge in οϋ κενή γ έ γ ο ν ε ν (2,ι) Jes 49,4 an (vgl. dagegen oben Anm.81), wie überhaupt die Stichworte ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν und παράκλησις an Deuterojesajas Trostbotschaft erinnerten (allerdings dürfte παράκλησις hier zu eng als „Trost" verstanden sein). 2,4 rekurriere auf Jer II,2OLXX. (Dies verweist dort allerdings nicht spezifisch auf die Prüfung des Propheten). 2,13 sei Ausweis dessen, dass Paulus seine Predigt als "message with revelatory character" verstehe (221). Prämisse dieser Auslegung ist, dass die 1. Pers. PI. nur auf Paulus allein referiert. 387 Vgl. §1.2.2.5. ~~ Auch die These Donfrieds (1996, 396f), Paulus trete als κήρυξ, Gottes auf, für die er 4,15 und 5,27 anführt, überzeugt nicht. Das Fehlen einer derartigen Terminologie wird nach Donfried durch die Elemente des Konzepts ersetzt (der Keryx habe die Aufgabe, am Anfang der Versammlung zu beten, eine höhere glaubwürdige Macht zu vertreten und von ihr zu künden), wie sie Gerhard Friedrich zur Charakteristik des Herolds als einer ,,sakrale[n] Person" aufgeführt hat (Art. κήρυξ κτλ., in: ThWNT 3 [1938] 682-717: 683-695, Zitat 690,11!). Nun ist aber angesichts dessen, dass der Herold „wegen seiner lauten, wohlklingenden gut vernehmbaren Stimme auserkoren sei" (690,5t), dass er für das Sprechen - festformulierter! Gebete zuständig und an Opferhandlungen beteiligt war (689), sehr fraglich, dass Paulus sich in dieser Funktion sah. Mit der Rolle als Gemeindegründer hat sie jedenfalls nichts zu tun; und selbst wo der Term κήρυξ in späterer Tradition für Paulus begegnet (lTim 2,7; 2Tim 1,11), spiegelt er das Konzept nicht wider (vgl. schon Roloff 1965, 24if). 388 Bickmann 1998, 212. 389 Bickmann 1998, 290; vgl. oben Anm.294.

334

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

den der Thessalonicher aber als erträglich darstellt (vgl. 5.1 zu 2,17-20). Das Problem Todesfälle wird hingegen durch eine veränderte kognitive Perspektive gelöst, für die die Beziehung zu den Absendern nicht zentral ist, sondern nur ihr Wissen (vgl. 6.). Bickmanns Substitution der Eltern-Kinder-Vergleiche als Lehrer-Schüler-Verhältnis zur Weitergabe von Offenbarungswissen betont m.E. zu sehr die kognitive Ebene390.

4) Die Vergleiche mit der Mutter, einer Amme, die sich für ihre leiblichen Kinder aus Liebe einsetzt ohne Erwartungen an eine Kompensation (2,7-9), u n d dem vorbildlich fehllosen Vater, der seinem Erziehungsauftrag für ein gottwürdiges Leben nachkommt (2,10-12), füllen diese Leerstelle. Sie sind darum zentrale Beschreibungen der Beziehung zwischen Missionaren, vor allem Paulus, und den Konvertiten391. Die duale Beziehung zwischen Elternteil und Kindern wird in den Bildern vom Zielbereich her erweitert um eine dritte Größe: Das Evangelium wird weitergegeben (2,8), der Vater führt in die Gottesbeziehung (2,iif). In der Rede vom Vater, der die Kinder zu Gott führt, kreuzen sich Bildempfänger und Bildspender des Vergleichs, Familienwelt und Missionsstrategie: Der Missionar ersetzt den fehlenden jüdischen Hausvater.

7.1.2

Der Entwurf der Adressatinnen im Brief

Der Brief entwirft das Bild seiner impliziten Leser und Leserinnen in verschiedenen Hinsichten, von denen hier nur einige angesprochen sein: Die Adressatinnen werden werden kollektiv392, assertorisch ange-

390 Darin bestehen m.E. bezeichnende Unterschiede zu dem von ihr als Beleg für die frühjüdische Trostbriefgattung angeführte syrBar 78-86: Es geht im 1 Thess um neue Konvertiten, es geht nicht nur um Offenbarung des Kommenden, sondern um Alltagsgestaltung. Die Gemeinschaft ist nicht allein kognitiv oder medial auf den Missionar angewiesen, sondern die Bindung und Beziehung als solche wird als heilvoll dargestellt. 391 Beliebt zur Füllung der Leerstelle ist in der englischsprachigen Literatur die Metapher des "pastoral care" als Beschreibung der Beziehungsarbeit des Paulus. Diese textfremde Metapher ist wegen moderner Assoziationen nicht hilfreich. Vgl. so aber z.B. Malherbe 1987 passim; I989d; 1990; 1995,117 u.ö.; 1 Thess, 150 zur Vatermetapher 2,10-12; R.F. Collins 1984c, 194 zu 2,10; Burke 2000, 69. Nach Best beschreibt die Vatermetapher die "continued pastoral situation" (1 Thess, 105t, Zitat 105); s. auch Chapa 1994; Cherian 2001, 41; vgl. jetzt auch in der deutschsprachigen Exegese entsprechende Aussagen von P.-G. Müller 1 Thess, 136t, zu 2,nf. 392 Von der Gemeinde in Thessalonich werden nur zweimal Teilgruppen angeredet: in 4,4 vermutlich Männer, in 5,12t die Mehrheit der Glieder, die sich unterordnen soll.

Die Beziehung zwischen Autor und Adressatinnen im ι Thess

335

sprochen als Erwählte Gottes393, indirekt als Kinder Gottes. Die Tradition des Vokabulars kennzeichnet sie als Jüdinnen und Juden, die sich freilich auf Jesus als zukünftigen Retter beziehen. Die Angeredeten werden dargestellt als geschlossene, von der Umwelt in ihrem Ethos und ihrem Glauben scharf geschiedene Gruppe 394 , die bereits untereinander Geschwisterliebe praktiziert. Ihr Durchhalten im Leiden zeichnet sie aus und macht sie zum Vorbild anderer. Dass sie die Autorität der Absender anerkennen, wird ihnen unterstellt, so wie sie im Rückblick die Rolle als deren Kinder erhalten395. Ihr Glaube ist noch nicht vollkommen (3,10). Der Briefschreiber verschweigt nicht, dass er Zweifel hegte an der Festigkeit des Glaubens, bevor Timotheus das Gegenteil berichtete. Zusage und Zumutung halten sich so die Waage.

7.1.3

Die Beziehungen zwischen Missionaren, Adressatinnen und Gott in der Darstellung des Briefes

1 ) Der Brief entwirft ein Relationsdreieck aus Adressanten, Adressatinnen und Gott resp. Christus. Alle Größen sind jeweils direkt miteinander verbunden, aber die Beziehung zwischen Adressatinnen und Gott wurde erst durch die Mission der Absender geknüpft. Die Beziehungen der Neubekehrten zu Gott einerseits, zu den Missionaren andererseits sind nicht systematisch zugeordnet. Gott ist Subjekt des retrospektiv bzw. präsentisch formulierten Heilshandelns, er erwählte bzw. beruft 396 . Nach 2,12 ist die Berufung Voraussetzung der Unterweisung durch die Missionare. Doch in 1,5 werden die Missionare in den Vorgang der Erwählung eingeschrieben: Die Erwählungsaussage wird mit der Wirkung des Evangeliums der Missionare (εύαγγέλιον ήμών) über den reinen Wortcharakter hinaus expliziert (οτι). Wie Gott und Missionare zusammenwirken, wird nicht entfaltet. Die „hermeneutische" Aporie des Ineinanders von Menschen- und Gottes wort wird statt dessen prägnant in 2,13 beschrieben, ihre Überwindung abermals auf das Wirken Gottes zurückgeführt.

393 Vgl. die Sinnlinie 1,4; 2,12; 4,7; 5,24 und oben Anm. 236-237. 394 Vgl. insbesondere die Anrede als εκκλησία ι,ι. Das Ethos der Gruppe ist distinkt, zwar nicht gegenüber dem Judentum, aber gegenüber der paganen Umwelt. Dass sich mit der christlichen Identität kein spezifisches Alltagsethos verband (vgl. Wolter 1997, 435t), gilt also für die Gruppe von Christinnen in Thessalonich nicht. 395 Dies gilt auch präsentisch, sofern man νήπιοι in 2,7 als Vokativ liest. 396 Vgl. 1,4; 2,12; 4,7 und 5,24.

336

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

2) Die Dreiecksbeziehung bekommt Konturen auch durch die Abgrenzung von Feinden. Satan wie Menschen greifen die Gemeinschaft an. Das ist nach der Wertung des Briefes Teil des endzeitlichen Kampfes. Den guten Ausgang des Kampfes nimmt 2,19 t vorweg, erbittet 3,12 f; 5,23 von Gott. 3) Dem Brief liegt jedoch nicht an der Darlegung der theozentrischen Botschaft, sondern an der Wiederbelebung der jäh abgebrochenen Beziehung zwischen Missionaren und Missionierten, Adressanten und Adressierten, und an parakletischen Ausführungen. Die gegenseitige Beziehung von Missionaren und Missionierten vor Gott ist ein eigenständiges Thema des Briefes. Durch die bis in die Gegenwart reichende Nacherzählung soll die Distanz so gut wie möglich überwunden werden. Auch das eschatologische Hoffnungsbild gilt der Gemeinschaft, nun mit Gott und dem Herrn. Die Beziehung zu den Missionaren wird dargestellt als Weg in die Gottesbeziehung, als Einweisung in das rechte Leben vor Gott sowie in die Hoffnung, die beide noch unvollkommen sind. Die Vermittlerrolle zwischen Gott und Gemeinde wird wiederbelebt durch die Paraklese des Briefes sowie die Fürbittengebete und den Dank an Gott. 4) Der Brief argumentiert für die Bindung an die Missionare mit der Erinnerung an ihr Verhalten, insbesondere in den Vergleichen 2,712. Sie sind integer, selbstlos, mithin verlässlich, gottesfürchtig und stiften das Gottesverhältnis. Der Kommunikation und deren Fortführung wird große Bedeutung zugeschrieben. So wird die Möglichkeit, die Abreise der Missionare als Beziehungsabbruch zu verstehen, ausgeräumt. Dass die Beziehung bestehen bleiben muss, wird axiomatisch behauptet. 5) Somit wird die im Verhältnis zu Gott als „Vater" und Jesus Christus als Herrn (κύριος), geschwisterliche Beziehung 397 deutlich hierarchisiert398. Ein besonderes Signal für die Positionierung der 397 Die Geschwisterbeziehung ist nicht, wie oft behauptet, per se egalitär; Gott-VaterMetapher und Geschwisteranrede sind in den Paulusbriefen zwei kaum verknüpfte selbständige Konzepte. Vgl. dazu den Exkurs im Anschluss an diesen Paragraphen. Die Metaphern von den Christinnen als Geschwistern und Gott als Vater sind allerdings verknüpft durch die Anrede αδελφοί ήγαπημένοι ύπό θεοϋ (1,4)/ insofern im Partizip der Gebrauch von αγαπητός für Kinder mitschwingt (vgl. 4.2 zu 2,8), hier also an die Geschwister als von Gott geliebte Kinder zu denken ist. 398 Anders Bickmann 1998, 170; Köster 1980, 292, die meinen, die Liebe des Paulus schließe Autorität aus. So urteilt auch Schäfer 1989, 332t vor allem in Bezug auf 2,173,13 (gegen die Implikation der Parusia-These Funks, dass apostolische Autorität geübt werde), dass es um „Bruderschaft" gehe, nicht um Autorität. Dass sich Liebe und Autorität ausschlössen, widerlegen neben der Erfahrung auch antike Konzepte

Die Beziehung zwischen Autor und Adressatinnen im ι Thess

337

Angesprochenen ist, dass die Vater-Kinder-Relation sowohl metaphorisch das Gottesverhältnis wie vergleichend das Wirken der Missionare abbildet399. Eine Hierarchie wird aber nicht nur durch die Darstellung der Beziehungen und den Rahmen als Referat eines Dankgebetes sowie das explizite Fürbittgebet V.iif eingeschrieben. Die Erzählung selbst inszeniert das Gefalle durch die vorwiegend auktoriale Perspektive, die sich nur in der Bitte an Gott bescheidet. Die Paraklese exekutiert den Vorsprung an eschatologischem und ethischem Wissen. Eine gewisse Erhöhung erfährt die Gemeinde gleichwohl, insofern sie gelobt und hervorgehoben wird als Vorbild und Missionarin anderer und als Gegenstand der Liebe der Missionare. Auch die affektiven Aussagen und philophronetischen Topoi mildern den unterordnenden Gestus des Briefes. Zwischen beiden Seiten besteht eine wechselseitige, aber ungleiche Abhängigkeit: Während die neu Bekehrten auf das Wissen der Missionare und ihre Begleitung in das gottgemäße Leben weiterhin angewiesen sind, sind die Missionare affektiv und in ihrer endzeitlichen Anerkennung abhängig vom Missionserfolg. 6) Diese Aspekte sind verdichtet in den Vergleichen mit Mutter und Vater der Adressierten (2,7-9.10-12). Die Bilder haben eine je eigene Pragmatik, aber füllen zusammen die funktionale Leerstelle des Briefes mittels der aus der Lebenswelt vertrauten Beziehungsmuster. Im Blick auf den Unterhaltsverzicht und die integre Einweisung der Neubekehrten in das Ethos verhalten sie sich wie eine leibliche Mutter, wie ein Vater. Im Unterschied zur Gott-Vater-Metapher haben die Eltern-Kinder-Vergleiche eine ungewöhnliche, da über traditionelle Verwendungen des Bildfeldes hinausgehende Bedeutung zur affektiven, argumentativen und wertenden Darstellung des Verhältnisses zwischen Missionaren, allen voran wohl Paulus, und der Gemeinde. Die abschließende Würdigung der Familienfiktion wird dies zeigen.

von Vaterschaft (vgl. bes. Burke 2000 und 2003, 135ft dazu, dass der Vatervergleich 2 , 1 0 - 1 2 des Paulus Hierarchie und Affekte vermittele). 399 Vgl· 2 , 1 0 - 1 2 mit der Gott-Vatermetaphorik in 1,1.3 / 3'11-13! s ' e wird durch die Anrede als αδελφοί und die Bezeicnung Jesu als Sohnes Gottes (1,10) weitergeführt.

33

8

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

7.2 Eine neue Familie für die Konvertiten. Die Bedeutung der missionarischen Beziehung und der Familienfiktion für die Christinnen in Thessalonich Mittels dieser Vergleiche und der weiteren Familienmetaphern 400 entwirft der Brief die Gemeinschaft als Familie401. Die soziale Wirklichkeit, die hinter dem Vatervergleich 2,10-12 aufscheint, bestärkte die Deutung, dass der Brief ein engeres Verhältnis als ein nur freundschaftliches inszeniert. Er bietet an, ja fordert, nicht nur die Symbol weit, sondern auch die eigenen Beziehungen neu zu sehen und zu leben. Neben den lebendigen Bildern von Vater und Mutter vermittelt dies die wiederholte Anrede als „Brüder und Schwestern". Auch die Ethik zielt darauf, ein geschwisterliches Verhältnis der Gemeindeglieder untereinander zu bestärken. Die Familienbilder geben auf semantischer Ebene kein konsistentes Modell. Es gibt zwei Väter, die Missionare fungieren in der Doppelrolle als Vater und Mutter. Doch die Bilder verbinden sich zu einer im pragmatischen Sinne kohärenten Botschaft. Dies soll abschließend in zwei Hinsichten herausgestellt werden. 1 ) Die Familie hat im kulturellen Kontext des Briefes basale Bedeutung. Familienzugehörigkeit bestimmt zuallererst die Identität. Werden die Adressatinnen in Thessalonich über ihre familiären Rollen als Geschwister, Kinder Gottes, Kinder der Missionare definiert, so wird ihnen bildlich vermittelt, dass sie in diesen Beziehungen sowohl individuell als auch als Gruppe ihre primäre Identität finden. Auf diese Bedeutung der Familienfiktion im 1 Thess hat jüngst Esler anhand der social identity theory Henry Tajfels hingewiesen 402 . Die Familienbeziehungen, wie die Gruppenzugehörigkeit überhaupt, hätten für die Identitätsbildung

400 Vgl. zu den Textstellen Anm.5. 401 Dies wird auch in den Auslegungen immer wieder benannt. Vgl. Meeks 1993, i8iff zu 1 Thess 182t; er stellt als Hintergrund dieser Beschreibung der Zusammengehörigkeit in ritologischer Theorie die communitas heraus; Donfried 1996, 402, der vor allem die Gotteskindschaft betont; Malherbe 1995, 120ff, der die Einzigartigkeit " a s an eschatological f a m i l y " hervorhebt, aber auch auf die Inkonsistenz der Familienmetaphorik bezogen auf Paulus und die Gemeindeglieder hinweist ( i 2 i f ) . Nach Aasgaard 2004, i 2 i f . i 5 i f f sind die Geschwisterethik sowie die Beschreibung des wechselseitigen Verhältnisses zentrales Anliegen des 1 Thess; vgl. auch Rötzel 1998, 99 f, der die Familiensprache als Explikation der Erwählungsmetapher versteht und die Bedeutung der Inklusion der Nichtjuden und -Jüdinnen in die Familie Gottes betont. 402 Vgl. dazu insgesamt Esler 2000; vgl. auch die kritischen Rückfragen in van Hentens response (2000), die vor einer indifferenten Vorstellung „der Familie" warnen.

Die Bedeutung der Familenfiktion im ι Thess

339

in der mediterranen Kultur, mithin der Welt des N T besondere Bedeutung 4 0 3 : Soziales setting u n d Gruppenzugehörigkeit seien dialektisch aufeinander bezogen, so dass eine soziale Situation w i e V e r f o l g u n g die Mitglieder z w i n g e , im Rahmen ihrer Gruppenidentität z u agieren. Diese w e r d e insbesondere über gemeinsame Werte, N o r m e n und die A b g r e n z u n g v o n der " o u t g r o u p " hergestellt 404 . Der ι Thess entwirft nach der A n a l y s e Eslers eine Differenz z w i schen " i n - " u n d " o u t g r o u p " für die Vergangenheit (1,9; 2,14), die Z u k u n f t (1,10) u n d die Gegenwart. Für letztere sei die Verwandtschaftssprache bedeutsam 405 , vor allem die Geschwisteranrede, der das in 4,1 ff entwickelte Ethos der Philadelphia ( " k e e p i n g it in the f a m i l y " ) u n d die A b g r e n z u n g v o n außen 406 in der Sache entspreche. Esler vernachlässigt allerdings die Eltern-Kinder-Fiktion in der Beziehung zwischen Missionaren und Missionierten 407 .

2) Die Bedeutung der Familienfiktion verdeutlichen Reflexionen von Konversionserfahrungen und deren soziologische und sozialgeschichtliche Erklärung 408 : Die Familiensprache des Briefes erhält eine tiefere Bedeutung, wenn wir sie verstehen als Ausdruck eines Kompensationskonzeptes, das sowohl soziologisch als auch literarischmetaphorisch nachvollziehbar ist: Die individuelle Konversion eines Menschen führt oft zum Verlust der Identitätssicherung, der Bindungen, des Schutzes der Familie. Die neue Gemeinschaft, in die der Konvertit bzw. die Konvertitin eintritt, übernimmt im idealen Fall kompensatorisch diese Funktionen.

403 Esler macht dies besonders am Streit um Ehre fest, bei dem die Familie eine gemeinsame Größe in Abgrenzung und Wettbewerb mit anderen darstellt (a.a.O., 151ft). Ich vertiefe diesen Aspekt nicht, weil er im Text keinen Anhalt hat (vgl. aber § 7.4.2 zu 1 Kor 4,14). 404 Esler a.a.O., i59ff. 405 Esler a.a.O., 162ft. 406 Vgl. a.a.O., 169ft: "Lying close to the heart of the identity Paul is recommending to the Thessalonians is the model of harmonious relations among a respectable family in the surrounding culture" (172). 407 Esler deutet es nur als "to liken his adressees to related siblings being cared for by an individual, either father or nurse" (a.a.O., 169). Damit ist die Pragmatik der Vergleiche nur unzureichend bestimmt. 408 Die tiefere Bedeutung der Familiensprache für Konvertiten hat grundlegend Sandnes 1994 aufgewiesen (s. §1.2.3.2); er geht allerdings auf den 1 Thess nur am Rande ein. Vgl. weiter Wanamaker 1995; Burke 2000, γιί. Auch Malherbe 1987, 36 ft, besonders 48-52 (vgl. ders. 1995) hebt die Bedeutung des Beziehungsentwurfes für die durch die Konversion der bisherigen sozialen Beziehungen verlustig gegangenen Thessalonicherlnnen hervor. Er wertet die Familienmetaphern jedoch vor allem auf dem Hintergrund der Paulus zeitgenössischen ethischen Philosophie aus. Vgl. auch die jedoch sehr allgemeinen Belege bei Pax 1971, 242ff. Dass der Mutter- und VaterVergleich in Bezug auf die Missionare (1 Thess 2,7-12) in dieser metaphorischen Tradition noch nicht vorgegeben sind (vgl. dazu unten), wird in der Literatur übersehen.

340

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Die hier gelegentlich eingespeiste wissenssoziologische Metapher von der „Resozialisierung" der Thessalonicherlnnen, ihrerseits diesem Bildfeld indirekt entstammend, erklärt diesen Zusammenhang theoretisch als inhärent409: Die Konversion als die Übernahme eines neuen Weltbildes verlangt nach einer Wiederholung der Primär- und Sekundärsozialisation, die seinerzeit das familiäre Umfeld leistete, des Erlernens einer neuen Sprache, neuer Verhaltensmuster. Der Wechsel in eine neue Sinriwelt bedarf wiederum der Beziehung zu „signifikanten Anderen" 410 , die den Konvertiten der Richtigkeit des Wechsels vergewissern 411 . Was in diesem Paradigma deduziert wird aus dem Zusammenhang von geistigen Überzeugungen und sozialen Bindungen, lässt sich geschichtlich auch insofern erklären, als in der antiken Kultur die Zugehörigkeit zu einer Familie bedeutete, deren Weltbild, Kult und Ethos zu teilen412. Die Konversion eines Heiden, mehr noch einer Heidin zum Judentum bzw. zum Christentum führte, sofern nicht der ganze Haushalt überwechselte, also in Konflikte mit der Herkunftsfamilie 413 . Besonders Philo reflektiert das Problem mit der Herkunftsfamilie und schlägt zur Lösung die Einbettung in eine neue Familie vor. Ahnliches entfaltet der Roman über die Proselytin Aseneth nar-

409 Berger/Luckmann 1994, bes. ιβγί zur Theorie-Herkunft des Begriffs und seiner Bedeutung; vgl. Wanamaker 1995, 47ff; zur Adaption der Theorie für das Verständnis der Missionierung in Thessalonich vgl. auch Börschel 2001; sie übersieht freilich die Relevanz der Familienfiktion für die Identitätsstiftung der Christinnen in Thessalonich als Gemeinschaft und gegenüber ihren Gründern (vgl. nur Börschel a.a.O., 199). 410 Berger/Luckmann 1994, bes. 141-143.168 f. In dieser Funktion beschreibt neben Wanamaker (a.a.O., 5of) vor allem Börschel 2001,110ff die Rolle des Paulus und der anderen Missionare in Thessalonich. 411

Für die folgenden Überlegungen über die sozialen Implikationen sind vor allem Wanamaker 1995; Sandnes 1994, 13 ff von Interesse. Im strengen Sinne ist die Rede von Konversion nur angemessen für den Wechsel von nichtjüdischen Menschen in ein jüdisches resp. christliches Welt- und Selbstverständnis, wie es etwa iThess i,9f dezidiert als έπιστρέφειν zum wahren Gott etc. benennt. Gleichwohl zeigen die Texte, etwa das Beispiel des Paulus, dass auch die Annahme des Jesusglaubens bei Jüdinnen und Juden das soziale Beziehungsnetz tangierte. (Zum Vergleich der jüdisch-christlichen und heidnisch-christlichen Konversion vgl. Sandnes a.a.O., i7f.)

412 Vgl. nur Sandnes 1994, 2iff. 413 Dies bezeugt auch Tacitus, Historien 5,5 in seiner judenfeindlichen Sicht: „Transgressi [sc. Judaei] in morem eorum idem usurpant, nec quidquam prius imbuuntur quam contemnere deos, exuere patriam, parentes liberos fratres vilia habere."

Die Bedeutung der Familenfiktion im ι Thess

341

rativ414. Konflikte mit oder innerhalb der Herkunftsfamilie lassen auch frühchristliche Texte erkennen415. Philo befasst sich mehrfach mit der Bedeutung und Relativierung von Familienbeziehungen im religiösen Kontext416. Es sei von Gott geboten, sich der Proselyten anzunehmen, ihnen das Netzwerk, Heimat, Freunde, Verwandte anzubieten als Ersatz des früheren (SpecLeg 1,51t, wohl unter Rekurs auf Lev 24,22) und ihnen den besonderen Rechtsschutz zu gewähren. Gott selbst spreche für Proselytlnnen wie für Witwen und Waisen Recht, weil sie sich mit ihrer Herkunftsfamilie verfeindet haben, da sie deren Götter nicht mehr verehren (SpecLeg 4,177t; Virt 102-104). Die Übereinstimmung in der Gottesverehrung macht auch die wahre Verwandtschaft aus (Virt 179). Abraham ist das Paradigma des Proselyten, denn er wandert nach seiner Berufung aus und verlässt seine Verwandtschaft, um so den Irrglauben hinter sich zu lassen (Virt 211-219, bes. 219). Die Proselytin Aseneth 417 erlebt sich bei ihrer Umkehr zum Gott des Joseph als Waise (JosAs 11,3.13.16; 12,13t; 13,1), von allen gehasst und verstoßen, gerade von ihren Eltern, die sie nicht mehr als Tochter anerkennen, weil sie ihre Götter „verdarb" 4 1 8 . Sie lebt sieben Tage völlig isoliert, abgeschieden auch von ihren Freundinnen (10,1-8). Die Konversion wird als Neuschöpfung geschildert (8,9), Zuflucht zu Gott (11,11). Gott, der Vater der Waisen (11,13), wird ihr zum Vater (12,8.13-15), sie wird „Tochter des Höchsten" (21,4), Joseph, der Sohn Gottes (6,3; 13,13; 18,11 u.ö.), wird ihr Ehemann (21,4); er vermittelt ihr durch Küsse die Juden und Jüdinnen auszeichnende Weisheit und Wahrheit419. Frühchristliche Texte spiegeln die Konflikte, die eine Konversion zum Christentum auslöste: Prophetisch kündigt sie der synoptische Jesus nach Mt 10,34-39; Lk 12,49-53 an; bereits Mk 3,31-35 redefiniert die wahre Familie420. Wer ernst macht mit dem Programm von Gal 3,28, wird, so nicht selbst Herr oder Herrin im Hause, dort Spannungen provozieren. Der 1 Kor spiegelt solche

414 Vgl. zum Folgenden Sandnes 1994, 41ft; Malherbe 1987, 43ft. A.a.O., 36ft weist er auf analoge Isolationserfahrungen von philosophischen Konvertiten hin (nach Darstellung von Epiktet und Plutarch). Die Kompensation von Verlusten durch ein familiäres Netzwerk lässt sich auch im epikureischen Kreis beobachten (a.a.O., 40ff). 415 Vgl. auch die Belege aus der nachneutestamentlichen Literatur bei Sandnes 1994, 9. 416 Vgl. Barton 1997, 82 ff. 417 Ich zitiere JosAs nach der von Burchard 1996 edierten Langform. Vgl. zum Folgenden Sandnes 1994, 45t; Rusam 1993, 39ft. - Den Gewinn eines neuen Volkes und einer neuen Familie erlebt auch Rut, allerdings ohne dass die Konversion und der Verlust alter Bindungen thematisiert würden, vgl. Rut 1,15-18. 418 ii,3ff und K a p . 1 1 - 1 3 passim. Diese Selbstdarstellung der Aseneth fällt besonders auf, weil eine solche Verstoßung seitens der Eltern, die Aseneth selbst mit Joseph verheiraten wollen, gar nicht geschildert wird. 419 JosAs 19,11, vgl. dazu Burchard 1983, 606.608. 420 Vgl. weiter Mk 10,29t und zur Deutung des Textes als Aussage über den Verlust der Familie bei Konversion Fürst 1977.

342

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Konflikte von Frauen, die ehefrei leben wollen 421 . Der Phlm zeigt die Irritationen, die die Konversion des Onesimus im οίκος des Philemon auslösen, in Bezug auf dessen Status. Er ist Sklave, aber nun auch Sohn des Paulus (V.io) und Bruder für Paulus und damit auch für Philemon (V.16).

Auf dem Hintergrund solcher Konflikte gelesen, erhält die im NT lebendige Familiensprache eine spezifische Pragmatik 422 . Die Zugehörigkeit zur Familie Gottes kompensiert den Verlust der familiären Heimat. Paulus selbst, obgleich nur vom jüdischen Christenverfolger zum jüdischen Christen bekehrt, ist ein Beispiel für Menschen, die nicht in ihrer ursprünglichen Familie leben. Bleibt Gott sein Vater, so ist er mit seinen αδελφοί ... συγγενείς κατά σάρκα (Rom 9/3) zerstritten, lebt ehelos ( i K o r 7,7; 9,5), er nennt jedoch eine Mitchristin seine Mutter (Rom 16,13), Mitchristinnen seine Geschwister (passim), und seine Konvertitinnen und Mitarbeiter seine Kinder 423 . Auch kann, um nur wenige Beispiele zu nennen, Eph 2,19 Bau- und Familienmetaphorik kreuzen, um die Aufnahme der Heidenchristinnen in die Familie Gottes als οικείοι τοϋ θεοϋ zu beschreiben. Der 1 Joh verwendet die Familienmetaphorik - Gott als Vater, Menschen als Kinder Gottes, Geschwisterliebe pointiert, indem er die genealogische Abstammung von Gott hervorhebt 424 . Wie der johanneische Jesus bei seinem Tod den „Lieblingsjünger" und seine Mutter auffordert, sich Mutter und Sohn zu werden (Joh 19,26t), so dient „das Familienmodell ... der Integration der sozial entwurzelten Christen. Sie werden in eine neue Gemeinschaft inkorporiert, in eine neue Familie" 425 . Die „Druckerfahrung" von Seiten der Gegnerschaft dürfte diese Ausprägung der johanneischen Ekklesiologie motiviert haben426.

Eine Besonderheit dieser Metaphorik ist also, dass sie die bildliche Sprache aus einem Bereich schöpft, der seiner angestammten Bedeutung verlustig geht, geradezu umgekehrt katachrestisch, nicht auf semantischer, sondern auf sozialer Ebene; wir hatten diese Struktur

421 Vgl. dazu Clark Wire 1990, besonders yz((; Merz 2001. Das Problem der Mischehen reflektiert z.B. i K o r 7 , 1 2 - 1 6 ; i P e t r 3 , 1 - 2 . Dass viele das Evangelium so verstanden, dass es sich nicht mit einer traditionellen Frauenbiographie vertrug, spiegeln auch die nachneutestamentlichen Apostelakten, die um die Provokation der enkratisch lebenden Christinnen kreisen, insbesondere die sicher alte Tradition von der Apostelin Thekla; vgl. Jensen 1995, bes. 45ff.iooff. 422 Vgl. im einzelnen Sandnes 1994, 65 ff. 423 Vgl. 1 Thess 2 , 7 - 1 2 ; 1 Kor 4,i4f und Gal 4,19 sowie Phlm 1 0 ; Phil 2,22; 1 K o r 4,17. 424 Z u m Bildfeld im 1 Joh vgl. insgesamt Rusam 1993,105 ff, zur realistischen Zuspitzung durch γ ε ν ν α σ θ α ι έκ θ ε ο ϋ u.a. a.a.O., l i o f f . 425 R u s a m a.a.O., 162. 426 So die These R u s a m s (a.a.O., i 7 o f f , Zitat 185), der das Familienmodell geschichtlich und soziologisch-ekklesiologisch begründet sieht.

sozial-

Die Bedeutung der Familenfiktion im ι Thess

343

bereits für die Präsentation des Missionars als jüdischen Vaters, der seine Kinder unterweist, bemerkt (vgl. 4.3). Wir können auch die Familiensprache des 1 Thess von Gott als Vater und den Mitchristinnen als Brüdern und Schwestern als Realisierung dieser Konzeptmetapher verstehen, die Konvertitinnen kompensatorisch eine neue Familie anbietet. Zwar spricht der Brief nicht von Familienkonflikten. Die θλίψεις sind, soweit wir es erkennen können, Probleme mit dem kommunalen Umfeld. Aber diesen Verlust sozialer Heimat soll das Familienmodell ausgleichen. Das Angebot, sich als Glied der Familie Gottes zu verstehen, erwähltes Kind, in einer Geschwisterschar mit gegenseitiger Unterstützung, ist durch die Prädizierung Gottes als Vaters und der Mitchristinnen als Geschwister in 1 Thess realisiert. Das φ ιΛαδελφ üx-Konzept beschreibt die gegenseitige Verpflichtung der Glieder der neuen Gemeinschaft im Sinne der Geschwisterethik (4,9 )427. Im Vergleich mit den aufgeführten Texten, welche die innere Korrelation von Familienmetaphorik und Konversionserfahrung spiegeln, erkennen wir jedoch auch die Besonderheit des 1 Thess deutlicher. Denn über dieses Konzept von Geschwisterschaft und Gotteskindschaft hinaus ist im 1 Thess die Rolle der Missionare als Eltern der Konvertiten-Kinder eingezeichnet. Die Vergleiche mit Mutter und Vater gehen über das bekannte Konzept hinaus. Die Angeschriebenen sollen sich nicht nur coram Deo, sondern auch in der immanent erfahrbaren Beziehung zu den Missionaren als Kinder verstehen. Dies impliziert nicht nur die unbedingte Anerkennung der „elterlichen" Autorität, sondern die Zusage einer Geborgenheit bei den Eltern. Die Missionare geben ihre Lebenskraft für ihre Kinder kompensationslos wie eine Mutter, die ohne Entgelt ihre Kinder nährt und pflegt, freiwillig, aus Liebe, unter Verzicht auf Rechte. Die Christinnen können sich auf den Missionar verlassen wie auf einen Vater, der integer und vorbildlich das Wissen um Gottes Willen vermittelt und das richtige Handeln anmahnt. So sollen sie die Missionare auch bei der Lektüre des Briefes vor sich sehen, trotz der erzwungenen Trennung, der räumlichen Distanz, die das Band zwischen Eltern und Kindern nie in Frage stellen könnte.

427 Vgl. dazu nur Sandnes 1994,113 f.

344

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Exkurs: Unter Schwestern und Brüdern. Zur Bedeutung der Geschwistermetaphern in den Paulusbriefen In der exegetischen Literatur wird die in den Paulinen weit verbreitete Anrede bzw. Bezeichnung von Mitchristen und Mitchristinnen als αδελφός resp. αδελφή resp. αδελφοί oft verstanden als Indiz für eine egalitäre Gemeinschaft 1 . Die Annahme, dass sich mit dieser auch sonst verbreiteten frühchristlichen Metapher eine hierarchiekritische Redeweise lexikalisiert hat, kann sich auf die narrativ-anekdotische Ätiologie in Mk 3,3i-35parr berufen 2 . Zu dem Bild, das diese Untersuchung aus der selbstbezüglichen Metaphorik und dem rhetorischen Gestus des Autors Paulus gewinnt, passt eine solche Bedeutung der Rede von „Bruder" oder „Schwester" jedoch nur bedingt. Es stellt sich also die Frage, wie sich die Geschwistermetaphern verhalten zu jenen, in denen sich Paulus als Vater, Mutter, Gebärerin zeichnet oder die Konvertitinnen als Kinder anspricht. Im folgenden soll anhand der Belege im NT, der Traditionsgeschichte der Metapher und der sozialen und kulturellen Implikationen des Erfahrungshintergrundes überprüft werden, welche Semantik und Pragmatik der Lexikalisierung zum Trotz mit der Geschwistermetapher vermittelt wird.

ι

Vorkommen 3

Der metaphorische Gebrauch der Geschwisterbezeichnung findet sich im ganzen NT, vor allem in den Homologumena des Paulus, am wenigsten gattungsbedingt in den Evangelien. Die Bezeichnung eines Mitchristen als Bruders bzw. einer Mitchristin als Schwester war offensichtlich bereits früh

ι

Diese These vertreten besonders Schäfer 1989 und Bartchy 1999 (§1.2.3.2). Vgl. aber auch Petersen 1985, 23t; Bickmann 1998,170 Anm.67 (die Anrede weise „einen nicht zu unterschätzenden symmetrischen Akzent auf"). Vgl. zur Forschungsgeschichte genauer Aasgaard 2004, loff. Die monographische Abhandlung des Themas durch Aasgaard kommt insgesamt zu ähnlichen Ergebnissen wie hier.

2

Vgl. zu Mk 3,31-35 auch ThEv 99; weiter Mk 10,28-31 und Mt 23,8. (In dieser Gemeinschaft gibt es freilich nicht nur Brüder und Schwestern, sondern auch eine Mutter.) Zur Auslegung als Patriarchatskritik s. Schüssler Fiorenza 1988,196ff, aber auch den Einspruch Sandnes' 1994, 70. Zur Metaphorik insgesamt Roh 1999, der in der Rede von Gott als Vater resp. Mutter und der Geschwisterschaft in Q und den Synoptikern ein Bildfeld von der familia Dei ausmacht, das in den Textkorpora je unterschiedlich konsistent realisiert ist.

3

Zum Vorkommen vgl. auch die Tabelle von Allmens 1981, xxvii (planche 5); Schäfer 1989, 21-26 (der am spezifischen Sprachgebrauch entsprechende Beobachtungen wie hier macht, aber das Konzept „Bruderschaft" nicht nur auf das Vorkommen der αδελφός κτλ.-Terminologie beschränkt, so dass die Ergebnisse verschwimmen); Aasgaard 2004, 3t; Johannes Beutler, Art. αδελφός κτλ., in: E W N T 1 (^1992) 67-71.

Exkurs: Geschwistermetaphorik

345

eine stehende M e t a p h e r 4 in A u f n a h m e einer a l l g e m e i n verbreiteten K o n z e p t m e t a p h e r ( v g l . unten). i K o r 5 , 1 1 lässt erkennen, d a s s sich die C h r i s t i n n e n selbst so bezeichneten. D i e V i r u l e n z d e r M e t a p h e r e r g a b sich g e w i s s a u s ihrer B e d e u t u n g als Katachrese, als Ersatz f ü r ein f e h l e n d e s W o r t b z w . als Bezeichn u n g f ü r ein n e u e s P h ä n o m e n 5 . Eine b e s o n d e r e K o n n o t a t i o n lassen bei P a u l u s n u r n o c h die w e n i g s t e n V e r w e n d u n g e n erkennen. I m Gegenteil, w o eine b e s o n d e r e N ä h e suggeriert w e r d e n soll, füllt er die A n r e d e α δ ε λ φ ο ί m i t L e b e n d u r c h ein μ ο υ 6 o d e r α γ α π η τ ο ί 7 . A r g u m e n t a t i v e I m p l i k a t i o n e n d e r M e t a p h o r i k m ö g e n v o r l i e g e n in d e n ethischen A u s f ü h r u n g e n ü b e r die V e r a n t w o r t u n g g e g e n ü b e r d e m B r u d e r resp. der S c h w e s t e r in d e m Sinne, d a s s die g e s c h w i s t e r liche V e r b u n d e n h e i t b e s o n d e r e R ü c k s i c h t n a h m e begründet 8 . D a s s d e r M e t a p h e r eine S t a t u s b e s t i m m u n g inhäriert, lässt sich n u r g a n z selten erkennen. In P h l m 16 f o r d e r t die B e z e i c h n u n g des O n e s i m u s als „ B r u d e r " , nicht m e h r „ S k l a v e " ( δ ο ϋ λ ο ς ) , die auf d e s s e n K o n v e r s i o n anspielt, seine ebenbürtige A n e r k e n n u n g ein. D i e Kinder-Gottes- u n d die G e s c h w i s t e r m e t a p h e r s i n d in d e r p a u l i n i s c h e n Literatur f a s t nie miteinander v e r k n ü p f t , s o n d e r n s e l b s t ä n d i g e K o n z e p t m e t a phern 9 . Ein Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n der ά δ ε λ φ ό ς - B e z e i c h n u n g u n d d e r

4

Vgl. die Identifizierung einzelner namentlich Genannter als Christ bzw. Christin durch άδελφή κτλ. in Rom 16,1; i K o r 1,1; 16,12; 2 K o r 1,1; 2,13; Phil 2,25; iThess 3,2; Phlm 1. Signifikant sind auch die Verwendungen in 1 Kor 6,6 und 7,12.14 (in Opposition zu άπιστος); 9,5 (als Spezifizierung der γ υ ν ή ) ; i K o r 15,6; 16,11; Gal 1,11; iThess 5-27-

5

Diese katachrestische Funktion lässt sich am besten an der A p g erkennen. Sie kennt die Bezeichnung der Christinnen als Χριστιανοί (11,26) und das Synonym μαθητής in einem weiten Gebrauch (ebd.; 6,if.7; 9,10.19 etc.) sowie die Anrede von Juden/Jüdinnen als αδελφοί (3,17; vgl. άνδρες αδελφοί 2,29.37; 7>2 etc.), aber sie bezeugt die Ausweitung des Gebrauchs von αδελφοί zur Bezeichnung der christlichen Heidinnen (vgl. besonders 15,1.23).

6

Vgl. Rom 7,4; 15,14; 1 Kor 1,11; 11,33 > v gl· ή μ ώ ν

7

1 Kor 15,58; Phil 4,1. - Zur Pragmatik dieser Anrede, die mehr als die Hälfte der 122 Belege von αδελφός κτλ. ausmacht, vgl. Aasgaard 2004, 26iff.

8

Vgl. Rom i4,ioff; i K o r 6,5t; 8,12t; iThess 4,6; vgl. φιλαδελφία iThess 4,9; Rom 12,10. Zum Einsatz der Geschwistermetaphorik im Ethos-Entwurf in Paränesen vgl. Aasgaard 2004, 178ft, zum Konzept der φιλαδελφία i5iff. Vgl. weiter Burke 2003, 176ft zur Paraklese von iThess 4t. Er zeigt, wie das φιλαδελφία-Konzept die Abgrenzung von Außenstehenden und die inneren Beziehungen vorgibt.

9

Zu diesem Ergebnis gelangt auch Aasgaard 2004, ii8ff, bes. 131ft aufgrund einer „Kartographie" der Familienmetaphern, ohne allerdings auf die argumentative Valenz der Metaphern zu achten. Er unterstreicht, dass auch andere Familienbeziehungen wie Jesus als Sohn und die Christinnen als Kinder Gottes bzw. Abrahams nicht verbunden werden (was m.E. aber in Gal doch geschieht). Er begründet diese fehlende Konsistenz: "They [sc. the family metaphors] are not meant to form a single system, but to elucidate by way of family a variety of relations between those involved" (a.a.O., 133). Zu indifferent ist daher in Bezug auf Paulus die Rede von einer „familia Dei" und gelegentlich von „Wurzel-Metaphern" bei von Allmen 1981; Petersen 1985, 206ff; J.L. White 1992, bes. 277t. Hergestellt wird der Zusammenhang aber z.B. in Hebr 2,iiff.

2

Kor 8,23.

346

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie

Vaterschaft Gottes ist in ι Thess 1,4 angedeutet 10 . Eine in dieser Hinsicht prägnante Verwendung liegt nur in Rom 8,29 vor. Doch auch hier drückt die Geschwistermetapher nicht Egalität aus, wird doch Jesus zum „großen Bruder" der Christinnen und damit zum „Vor-Bild" (είκών) 11 . Eine Implikation der paulinischen Verwendungen in dem Sinne, dass Geschwister-Sein Egalität bedeute, ist nicht erkennbar. Im locus classicus für das Egalitätsideal, Gal 3,28, wird die Aufhebung der sozialen Differenzen positiv nicht mit der Geschwistermetapher, sondern mit der Christus-Identitätsmetapher εις έν Χριστώ dargestellt 12 . Dass die Menschen Kinder Gottes sind, beschreibt zunächst nicht ihre gegenseitige Relation, sondern ihre Relation zu Gott und ihren Status coram Deo 13 . Dass sie αδελφοί sind, besagt etwas über ihre Relation, ihre gegenseitige Verpflichtung, aber nichts über einen egalitären Status vor Gott oder in der Gemeinde. In den Ermahnungen zum Umgang mit den „Schwachen" in der Gemeinde ist sogar im Gegenteil die Geschwistermetapher Movens für die Akzeptanz dieser Unterlegenen 14 . Die Bezeichnung impliziert ihre Negation, sie zieht eine Grenze zwischen In- und Out-group 15 . Die diskriminierende Bezeichnung eines Christen als ψευδάδελφος (2 Kor 11,26; Gal 2,4) bzw. αδελφός ονομαζόμενος (ι Kor 5,11) lässt die die Zugehörigkeit markierende Intention des Begriffs noch deutlich erkennen.

2

Geschwister in der Lebenswelt 16

Die kulturanthropologischen Beobachtungen bestätigen, dass Geschwister-Sein in der Lebenswelt gerade diese Bedeutung der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Verpflichtung trug. Aufgrund der geringen Lebenserwartung und hohen Kindersterblichkeit war eine durchschnittliche Geschwisterschar nicht groß, die Geschwisterbeziehung jedoch die am längsten haltende Beziehung 17 innerhalb des οίκος, der sozial, ökonomisch und emotional das mit 10

Vgl. dazu § 6 Anm.397. Ein Zusammenhang von gemeinsamer Abstammung und Geschwisterschaft ist auch in Gal 4,31 erkennbar.

11

Vgl. in diesem Zusammenhang Aasgaard 2004, 137ft. Er weist nach, dass der Text nicht, wie gemeinhin angenommen, eine christologische Begründung der christlichen Geschwisterschaft liefert, wie insbesondere Schäfer 1989, 4iff-77 meint.

12

Vgl. zu dieser Sinnlinie § 8.4.6.2. Vgl. auch entsprechend 1 Kor 11,13, i n dem ^v (πνεύμα bzw. σώμα) die Identität bezeichnet. Daher leiten die auf solche Gleichheit zielenden, an sich zutreffenden Ausführungen über Gal 3,28 im Zusammenhang der nach Schäfer „bruderschaftlichen" Ekklesiologie des Paulus fehl (1989, 8off); auch Sandnes 1994, 78 t subsumiert Gal 3,28 unter die Familienmetaphorik, insofern es die Familienrollen benenne.

13

Vgl. die Argumentation Gal 4,1-6 (s. dazu § 8.3.3).

14

Vgl. 1 Kor 8, besonders 8,11-13, und Rom 14,13ff; vgl. Aasgaard 2004, i78ff.

15

Vgl. Esler 2000, i57ff.

16

Vgl. zum Folgenden detailliert Aasgaard 2004, 34-116 und auch Burke 2003, 97-127.

17

Vgl. Aasgaard 2004, 34ff.

Exkurs: Geschwistermetaphorik

347

Abstand wichtigste Bezugssystem der Menschen in der paulinischen Zeit war 18 . Die Geschwisterbeziehung war durchgängig mit positiven Vorstellungen und eben solchen Emotionen besetzt19. Doch es war keine egalitäre Beziehung. Abhängig vom Alter, vom Geschlecht, vom gesellschaftlichen Status waren Geschwister ungleich in ihren Entscheidungsmöglichkeiten, einander überund untergeordnet und auch vor den Eltern nicht ebenbürtig. Der Erstgeborene hatte meist, aber nicht prinzipiell eine Vorrangstellung. Blieb das Geschlechtergefälle zwischen Bruder und Schwester, so waren die Hierarchien doch flexibel, konnten sich etwa durch Hochzeit oder Tod eines der Geschwister ändern20. Obgleich kaum rechtlich definiert, waren die Geschwister einander moralisch auch als Erwachsene verpflichtet. So sorgte sich der Bruder nach dem Tod des Vaters um die Schwester, ihre Verheiratung, waren der avunculus und der patruus auch für Nichten und Neffen zentrale Verwandte. Die literarischen Darstellungen von idealen Geschwisterpaaren und solchen, die sich entzweien, insbesondere zwischen Brüdern, dokumentieren die Fragilität der familiären Harmonie, aber auch dieses Ideal 21 . Die φιλαδελφύχ ist ein stehender Topos für die Gefühle, die Geschwister zu einander hegen bzw. hegen sollten22. Sie galt mehr als Freundschaft 23 . Diese Geschwisterliebe wurde nicht mit Statusidentität begründet, sondern mit der gemeinsamen Herkunft, biologisch wie genealogisch24.

18

Vgl. nur die Hinweise von Esler 2000,149 ff.

19

Vgl. Aasgaard 2004, 62ff.

20

Vgl. Aasgaard 2004, 75ft. Plutarch, De fraterno amore i2ff (= Mor 484Bff) reflektiert daher ausführlich den Umgang mit Ungleichheit unter Brüdern.

21

Man denke nur an die berühmten Brüderpaare Kain und Abel, Esau und Jakob, Castor und Pollyx, an Josef und seine Brüder, an die sieben Märtyrer-Brüder oder die Schwester Antigone, die ihr Leben einsetzt, um ihren Bruder zu beerdigen; vgl. auch Maria und Martha nach Lk 10,38 ff.

22

Vgl. nur den Traktat Plutarchs De fraterno amore (= Mor 478ft); vgl. dazu Aasgaard 2004, 93ft und zum Konzept der φιλαδελφία allgemein a.a.O., 71ft.

23

Vgl. Aristoteles, EN 8,14,1161b; Xenophon, Mem 2,2-6; Plutarch, De fraterno amore 6ff (= Mor 48oFff); vgl. Aasgaard 2004, 95-97. Eine Steigerung der Intimität von φίλοι zu αδελφοί lässt auch Joh erkennen: Aus den Freunden werden nach Jesu Tod αδελφοί, vgl. 20,17; 2 1 < 2 3 m i t 15'13~15ί m i t Rusam 1993,126t.

24

Die etymologische Rückführung von αδελφός auf δελφύς (Mutterleib) hebt auf darauf ab, dass Geschwister aus demselben Mutterleib stammen. Vgl. Aristoteles, Hist.An. 5iobi3f: Καλείται δέ τούτων τό μεν ύστερα και δελφύς δθεν και αδελφούς προσαγορεύουσι enthält. So begründet etwa 4 Makk 13,19-22 die Bruderliebe mit dem Bewohnen desselben Mutterleibs für dieselbe Dauer, Trinken an derselben Brust etc. (vgl. Aasgaard 2004, 74t).

34

8

Paulus als Vater und Mutter einer neuen Familie 3

D i e V e r w e n d u n g v o n G e s c h w i s t e r m e t a p h e r n in d e r U m w e l t paulinischer G e m e i n d e n

V o n B e d e u t u n g w ä r e es, w e n n die G e s c h w i s t e r a n r e d e a u s d e r B r i e f k o n v e n t i o n stammte. Es lässt sich j e d o c h keine solche konventionelle A n r e d e n a c h w e i s e n . S i g n i f i k a n t ist n u r d e r - seltene - jüdische Gebrauch 2 5 . D i e M e t a p h o r i s i e r u n g der G e s c h w i s t e r b e z i e h u n g , i n s b e s o n d e r e d e r z w i schen B r ü d e r n , ist in v i e l e n sozialen F e l d e r n d e r griechisch-römischen K u l t u r einschließlich d e r j ü d i s c h e n g r e i f b a r 2 6 ; b e z e i c h n e n d ist ihre V e r w e n d u n g als " i n - g r o u p t e r m " 2 7 in religiösen G r u p p e n 2 8 . D i e I m p l i k a t i o n d e r Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t spiegelt sich auch in d e r stoischen Idee, d a s s alle M e n s c h e n Ges c h w i s t e r sind 2 9 . D a s s die ntl. G e s c h w i s t e r m e t a p h o r i k sich in i h r e m G e h a l t einer dieser nicht-jüdischen V e r w e n d u n g e n v e r d a n k t , ist nicht erkennbar 3 0 . V i e l m e h r erklären sich die vielen M e t a p h o r i s i e r u n g e n als u n a b h ä n g i g e Parallelerscheinungen, beliebt w e g e n ihres b a s a l e n E r f a h r u n g s b e z u g s u n d ihrer interkulturellen Verständlichkeit.

25

Vgl. die Bruderanrede in den Briefen 2Makk 1,1 und SyrBar 78,27; bezeichnend ist die adscriptio Σπαρτιάταις τοις άδελφοΓς in einem Brief der Juden nach Sparta ( i M a k k 12,6): Sie zeigt, dass es bei der Metapher um die Verwandtschaft geht, die nach der Tradition bestand (s. 12,7). Die Metapher fällt aber auch in einem nichtjüdischen Brief in 2Makk 11,22. Zur brieflichen Adresse Koskeniemmi 1956,105; Schäfer 1989, 3 i 7 f f ; dieser Hintergrund des paulinischen Sprachgebrauchs ist bei Aasgaard zu wenig erwogen (nur 2004, 265-267). Es fehlen allerdings auch Untersuchungen, die das Material liefern. Schwierigkeiten bereitet insbesondere die Unklarheit, ob es sich bei den so Angeredeten um leibliche Geschwister handelt. Der Hinweis auf die Briefe des Cicero an seinen Bruder (bei Schäfer ebd. und Aasgaard ebd.) trägt deshalb nichts aus.

26

Vgl. zum Folgenden insgesamt die Ausführungen und Belege bei Karl H. Schelkle, Art. Bruderschaft, in: R A C 2 (1954) 631-640: 631ft; Aasgaard 2004,107-116.

27

Aasgaard a.a.O., 116.

28

Vgl. Schelkle R A C 2, 632-634. Fassbar ist die Bezeichnung für Mitglieder besonders im Mithraskult (Schelkle a.a.O., 633) und in Qumran-Schriften (vgl. Aasgaard 2004, ii3f). Die in der Literatur verbreiteten Hinweise auf die Bruderanrede in Vereinen als Indiz für die Nähe christlicher Gemeinden zu dieser Organisationsform, neuerdings wiederholt von Ascough 2003, 76t ist nicht stichhaltig. Eindeutig metaphorische Verwendungen in Inschriften sind zahlenmäßig zu gering, als dass sie diesen Sprachgebrauch für die Vereinssprache allgemein belegen könnten (Ebel 2004, 203ff, dort auch 203f mit Anm. die Fundorte entsprechender Thesen). Ebel urteilt daher: „Das Befremden eines Menschen mit Vereinserfahrung, der neu zu der christlichen Gemeinde kommt, über die Anrede als,Bruder' oder ,Schwester' ist folglich gewiss" (a.a.O., 212).

29

Vgl. für diesen Gedanken vor allem Epiktet, Diss 1,13,4; s. Aasgaard 2004, io8f; vgl. auch Philo, Virt 82 für eine entsprechende Entgrenzung der Extension.

30

Ähnlich Schelkle R A C 2, 635.

Exkurs: Geschwistermetaphorik

349

Wie der Gebrauch der Apg andeutet31, mag die atl.-jüdischen Verwendung 32 das Aufkommen der Metapher im frühen Christentum motiviert haben, auch wenn das heidnische Ohr eher die lebensweltliche Bedeutung vernahm. Jedenfalls kennt das NT die Rede vom „Bruder" bzw. der „Schwester" zur Bezeichnung des Mitjuden bzw. der Mitjüdin33.

4

Schlussfolgerungen

Die Durchsicht der Metaphernverwendungen zeigt, dass die Geschwistermetapher für die paulinischen Briefe eine selbständige Metapher ist, bereits lexikalisiert und selten vitalisiert. Sie beschreibt die Zusammengehörigkeit als ingroup term mit einem sozial und emotional positiv konnotierten sowie interkulturell verständlichen Begriff. Eben diese Denotation und Konnotation lassen auch die Verwendungen der Metapher in der Umwelt der paulinischen Gemeinden erkennen, und sie entspricht dem Konzept von Geschwister-Sein in der damaligen Zeit. Mit der Gott-Vater-Metapher wird sie weder syntaktisch noch semantisch verbunden, und sie bezeichnet keine Gleichwürdigkeit vor Gott und auch keine Egalität untereinander. Diese Ergebnisse erklären nun auch das Miteinander von Geschwistermetaphern, Eltern-Kind-Metaphern in Bezug auf die Beziehung von Paulus und seinen Adressatinnen und den Gott-Vater-Metaphern. Es sind drei selbständige, nicht miteinander korrelierte Submetaphern der allgemeinen Familienmetapher. Die Überordnung, die in der Paulus-Vater/Mutter-Metapher impliziert und, wie die Auslegungen zeigen, in den Kontexten expliziert oder durchgesetzt wird, wird von der Geschwisteranrede nicht in Frage gestellt und erst recht nicht relativiert34. Ebenso will die Rede von Paulus als Mutter oder Vater nicht zur Gott-Vater-Metapher passen bzw. mit ihr konkurrieren. Für die Auslegung bestätigt dies den Ansatz, die Metaphern von ihren jeweiligen Kontexten statt von einem allgemeinen Bildfeld her zu deuten35. 31

Vgl. oben Anm.5.

32

Eine Ableitung aus dem atl. Gebrauch wird weithin vertreten, vgl. nur Hans von Soden, Art. αδελφός κτλ., in: ThWNT 1 (1933) 144-146:145; Perlitt 1980, 27ft; Meeks 1993,185t; Beutler, E W N T 1 , 68ff.

33

Vgl. Apg 2,29 parallel zu 2,14; 3,17 parallel zu 3,12; 7,2 (allerdings Anrede άνδρες αδελφοί και πατέρες an den Hohen Rat) u.ö.; Mt 5,22-24.47; 7,3ff; Rom 9,3. Nach Perlitt 1980, bes. 52 ist bereits der Dtn-Gebrauch im ethischen Zusammenhang dem Gedanken der Entschränkung von sozialen und ethnischen Grenzen verpflichtet. Zu diesem Ergebnis kommt auch Aasgaard 2004, 287ff. Er stellt die hierarchische Implikation der Elternmetapher in Bezug auf Paulus heraus; vgl. auch Burke 2000, 72t. Beide weisen darauf hin, dass Paulus die Geschwisteranrede nicht für sich selbst gebraucht; freilich ist in dem relationalen Wort sein Bruder-Sein impliziert. Dies ist Schäfer entgegenzuhalten, der in seiner anders angelegten Untersuchung umgekehrt die Aspekte der Überordnung subsumiert unter die für ihn in der Bruderanrede implizierte Gleichrangigkeit als Ausdruck der ,,brüderliche[n] Väterlichkeit" (1989, 314ft, Zitat 368); vgl. ähnlich Schmeller 1995, 85; Bartchy 1999, 69.

34

35

Vgl. ähnlich Aasgaard 2004,134^

§7

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild, ι Kor 4,14-21 im Kontext von 1 Kor 1 - 4 Den Briefabschnitt i K o r 1,10-4,21' beschließt eine Familienmetapher mit besonderem appellativen Gewicht (4,14-21). Der Briefverfasser Paulus stellt die Adressatinnen als seine Kinder in exklusive Beziehung zu sich selbst als ihrem „Erzeuger" und grenzt sich ab von anderen „Betreuern" als ihr „Vorbild" (4,16). Damit setzt er einen pointierten Schlusspunkt nach mehreren Rollenmetaphern. In 3,1-4 hatte er seine erste Verkündigung „Milch" für die „Säuglinge" in Korinth genannt, um die Adressatinnen zu schelten, dass sie auch jetzt noch nicht mehr „verdauen" als das. Anschließend hatte er in 3,5-9 seine und des Apollos gärtnerische Arbeit im „Acker Gottes" dargestellt, schließlich seine Wirksamkeit beschrieben als „Fundamentlegen" für die Gemeinde, „Gottes Bauwerk", auf das andere aufbauen mögen. Wer weiterbaut, solle gewahr sein, dass sein Werk einst geprüft werde (3,9-15). Mehrere Bildspender zeichnen also die Arbeit des Paulus an der Gemeinde im Vergleich mit der anderer Missionare. Dies ist offenbar ein wichtiges Anliegen des Textes. Die Ausführungen sind zu lesen als Reaktion auf die Konkurrenz verschiedener christlicher Gruppierungen in Korinth, die eingangs des Brief teils angeprangert wurde (i,ioff). Dies signalisiert auch die inkludierende Wiederholung des παρακαλώ ... ύμας (ι,ιο; 4,i6): Die Familienmetapher vom vorbildlichen Vater, von seinen Kindern in Korinth und seinem Sohn Timotheus hat als Schlussbild eine maßgebliche Funktion in dem Briefabschnitt 2 .

1

Zu literarkritischen Scheidungshypothesen vgl. ausführlich Sellin 1987, 2964ft; Pöttner 1995, 3 - 1 2 1 . Die Frage der literarischen Integrität des i K o r kann für unser Kapitel, das sich auf eine Interpretation von i K o r 1 - 4 beschränkt, vernachlässigt werden.

2

Diese Funktion betonen auch B. Sanders 1981, 354f; Merklein i K o r Bd.i, 112; R.F. Collins 1 Kor, 195.

352

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Die gegenseitige Beziehung ist also zumindest rückwirkend als zentrales Thema des Briefteils markiert. Bei unserer Auslegung müssen wir uns darauf beschränken, i K o r 3 t in seinem Duktus und als Antwort auf die Spaltungen in Korinth (1,10-17) zu lesen. Diese Kapitel werden sonst zugunsten der Christologie und des Weisheitsdiskurses in Kap.1-2 3 eher vernachlässigt, geben aber gleichfalls Fragen auf: Wie verhalten sich die Ausführungen des impliziten Autors Paulus über seine eigene Rolle zu seiner Kritik an Spaltungen in der Gemeinde von Korinth (1,10-17; 3/i-4-18-23)? Welcher Art ist die Rolle, die Paulus für die Christinnen in Korinth spielen will? Inwiefern ist er Vorbild (4,16)? Sind die Aussagen über die Schwäche des Paulus in Korinth (2,1-5), die Unterordnung der Missionare unter die Gemeinde (3,2123) und die Apostel als „spectaculum mundi" (4,9-13) stimmig zum Autoritätsanspruch, der in 4,14ff zum Ausdruck kommt? Kurz: Wie passen Kritik am Personenkult und Vatermetapher zusammen? Ich werde die These entfalten, dass Paulus unterscheidet zwischen seiner gottgewollten sozialen Niedrigkeit und religiöser Autorität. Letztere ist rückgebunden an Gott und Christus. Paulus erkennt religiöse Autorität und Kompetenz neben sich an, doch in der Gemeinde von Korinth beansprucht er für sich eine exklusive Autorität. Ihre einhellige Anerkennung schlägt er als Lösung für die Streitigkeiten vor: Die gemeinsame Orientierung an Paulus führt zur Einigkeit. Diese singuläre Rolle begründet der Autor nicht mit einer besseren Theologie oder Predigt, sondern mit seiner Wirksamkeit in der Gemeinde als ihr erster Evangelist, der Gründer, Erzeuger „in Christus Jesus durch das Evangelium" (4,15). Das der Metaphernexegese vorausliegende Verständnis des Gesamtabschnitts und der Kap.if wird eingangs thetisch entwickelt (1). Anschließend werden die Metaphern und die Argumentation von 3 , 1 4,13 in der gebotenen Kürze ausgelegt (2 und 3), um auf Basis dessen Bedeutung und Pragmatik von 4,14-21 im Kontext dieser Metaphern und des Briefabschnittes zu analysieren (4) und schließlich zu klären, welche Bedeutung der Autor sich in diesem Briefteil vor allem, aber nicht nur metaphorisch erschreibt (5).

3

Vgl. zu dieser Diskussion nur die neuen Arbeiten von Voss 2002, der die Frage des Verstehens angesichts des Wortes vom Kreuz im Blick auf den 1 Kor thematisiert, und Kammler 2003, der im Blick auf 1 Kor 1,10-3,4 die Identität von Kreuzeslogos und Weisheitsrede zu zeigen sucht. Das Recht der Lektüre des Textes unter anderen Fragestellungen wird durch die hier gewählte Perspektive nicht bestritten.

Aufbau und Anliegen von ι Kor 1 - 4

1

353

Die Metaphern im Kontext von ι Kor 1 - 4 1.1

Zum brieflichen und rhetorischen Charakter 4

Der Autor spart in 1 Kor 1,10-4,21 an Formeln und Topoi, die den Briefkontakt zu den Adressatinnen in den Vordergrund rücken5. Allerdings reflektiert gerade der mit einer Familienmetapher arbeitende Schlussabschnitt 4,14-21 die briefliche Situation mehrfach 6 . Liest man die Aufforderung zur Einheit in 1,10 als übergeordnetes Anliegen des Abschnitts (s. 1.2), so lässt sich 1 Kor 1 - 4 am ehesten als Mahnbrief verstehen7. Dies entspricht nicht nur der metasprachlichen Qualifizierung 4

Vgl. insgesamt Schräge ι Kor Bd.i, γιίί. Zur Forschungsdiskussion um den rhetorischen Charakter von ι Kor 1 - 4 s. die Darstellung von Anderson 1999, 245ft, vgl. auch Watson 1995, 228ff. Die Debatte ist nicht nur wegen der schwierig zu durchschauenden Ordnung der Kapitel kontrovers, sondern auch, weil 2,4 (vgl. 1,17; 2,13) als Abrogation des Einsatzes rhetorischer Mittel verstanden werden kann und damit die Frage aufwirft, wie Paulus sich prinzipiell zur Rhetorik verhält. Diese wird kontrovers beantwortet (vgl. Anderson 1999, 265ft zur Frage [Lit.!]). Litfini994 etwa versteht unter der kritisierten menschlichen σοφία das Ideal der zeitgenössischen Rhetorik und liest 1 Kor 1 - 4 als deren theologisch begründete Zurückweisung. Die Verkündigung habe den Geist zu vermitteln, nicht selbst zu überzeugen. Nach Smit 2003 (s. Anm.11) erweist Paulus im Gegenteil in den vier Kapiteln seine rhetorischen Fähigkeiten durch die Konzeption einer komplexen epideiktischen Rede.

5

Vgl. Sellin 1987, 2943; Belleville 1987, 24t. Brieftopoi und -formein (vgl. §2.2) sind nach dem Präskript und der Danksagung nur die Einleitung mit παρακαλώ ι,ιο (vgl. Anm.8) und die Besuchsankündigung 4,19 (vgl. auch R.F. Collins iKor, 5 zu ούν in 4,16 als brieflicher Übergangsformel). So charakterisiert Collins 1996, 58t trotz der brieflichen Elemente den Brief als "speech in the form of a letter".

6

Vgl. γράφω 4,14 und die Besprechung der Sendung des Timotheus sowie des Kommens des Paulus selbst in 4,17ft; mit Pöttner 1995,144. Als Mahnbrief lässt sich χ Kor 1 - 4 nicht aufgrund formaler Indizien spezifizieren, sondern aufgrund der in Metabemerkungen explizierten Pragmatik (s. nächste Anm.). Vgl. zum Mahnbrief die Definition des νουθετητικόν γένος bei Ps.-Demetrius: ος και διά της ονομασίας όποιος έστι δηλοϊ- τό γαρ νουθετεϊν έστι νοΰν έντιθέναι τω νουθετουμένω και διδάσκειν τί πρακτέον και μή (Form. Ep. 7/ 1 _ 3ί zur Einordnung dieses Briefstellers vgl. oben § 2.1.2; Bsp. für Mahnbriefe bei Stowers 1986, 125-132). So votiert besonders R.F. Collins 1996, 47t ("letter of admonition"), der auch die Eltern-Kind-Metaphorik als Zeichen des mahnenden Charakters auswertet (vgl. ders. iKor, 192 und unten zu 4,14). Vgl. auch Fitzgerald 1988, 117-128, der sich vor allem auf den pädagogischen Tenor der Metaqualifizierungen 4,6 und 4,14 bezieht; Pöttner 1995, 145. Auch Merklein spricht von einem in Bezug auf seine Performation mahnenden Text, aber auch von deliberativer Rede (iKor Bd.i, 108.112). Schräge hält eine Beschreibung des ganzen Briefes als „primär paränetischsymbuleutisch[er]" unter Aufnahme der Terminologie Ps.-Libanius' (die freilich jünger ist als der 1 Kor; vgl. § 2.1.2) für angemessener (1 Kor Bd.i, 87f, Zitat 87); vgl. auch Furnish 1999,15. - Die Charakteristik als Mahnbrief schließt nicht aus, dass der Brief auch Elemente anderer Brieftypen realisiert (so Schräge a.a.O., 86ff; Klauck

7

354

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

des Sprachmodus in 4,14 als νουθετεΐν, sondern auch der Inklusion von 1,10-4,14 unter παρακαλώ ύμας 8 . Einer solchen Pragmatik entspricht auch die grundsätzliche Asymmetrie zwischen Verfasser und Adressierten 9 . Unter den Redegenera kann man diesen Sprechakt dem symbuleutischen Genus zuordnen 10 . Die Analyse des Briefes als einer deliberativen Rede, wie sie vor einer politischen Öffentlichkeit gehalten wird, 1998, 232). Kaum nachvollziehbar ist jedoch Lührmanns Beschreibung als „Freundschaftsbrief trotz Spannungen" (so der Titel dess. 1986), da es dafür keinerlei formale Indizien gibt. Unverbunden steht dann auch daneben seine Feststellung, dass παρακαλώ ι,ιο die Paränese einleite (a.a.O., 300ff.304). 8

Vgl. zu den epistolaren Formeln § 2.2.1.2. Die Einleitung des Briefkorpus in 1,10 mit παρακαλώ ύμας κτλ. wird zur Abgrenzung von Kundgabe-Formeln subsumiert unter "petition formulae" (Mullins 1962) oder "request formulae" (J.L. White 1972, 39 u.ö.; ders. 1984,1744; Belleville 1987, die den Brief deshalb als "request letter" versteht) oder „Ersuchensformeln" (Schnider/Stenger 1987, i72f). Dies ist insofern treffend, als die metasprachliche Einleitung formelhaften Charakter hat und auch sonst in Briefen begegnet (Beige bei Mullins 1962; Bjerkelund 1967, 34ff). Die Bezeichnung ist jedoch zu allgemein. Παρακαλεϊν kann sowohl „bitten" wie „auffordern" oder „mahnen" denotieren. Die Differenz ist für diese Auslegung nicht unerheblich, weil die Denotate eine unterschiedliche Beziehung zwischen Adressant und Adressat implizieren. Die genaue Bedeutung von παρακαλώ in 1 Kor 1,10 ergibt sich aus dem Kontext und nicht daraus, in welcher Bedeutung und an welchem Ort das Wort sonst in der Briefliteratur vorkommt. Dies war die These Bjerkelunds 1967, der aus Phlm 10 die generelle Bedeutung „brüderlichen Bittens" statt Befehlens ableitete und aus der Verwendung in offiziellen diplomatischen Briefen schloss, dass παρακαλώ akzeptierte Autorität voraussetzt, die nicht geäußert werden muss. (Bjerkelunds Untersuchung wird allerdings gegensätzlich rezipiert, vgl. R.F. Collins 1996, 56, der auf die Bedeutung "appeal" für i K o r 1,10 schließt, und das Referat der Rezeption von Thiselton i K o r , l i i f , der selbst im Anschluss an Bjerkelund " a s k " übersetzt, sowie die Kritik an Bjerkelunds These durch Schräge i K o r Bd.i, 134). Dass die Leserinnen den Autor nicht „bitten", sondern „mahnen" hören, d.h. sich kritisiert und aufgefordert sehen, ein bestimmtes Verhalten einzunehmen, bewirkt der anschließend geäußerte Inhalt des παρακαλώ und auch das durch den Brief seit 1,1 inszenierte Autoritätsverhältnis sowie 4,14 rückwirkend (vgl. auch Schräge a.a.O., y ö f ) . Aus Phlm 8 - 1 0 sind keine Rückschlüsse möglich, da der Autor dort den Sprechakt kommentiert und παρακαλώ nicht mit ινα-Satz konstruiert ist, sondern mit περί c.gen.

9

Vgl. dazu unten 1.3; mit Pöttner 1995, 145 g e g e n M. Mitchell 1991. - Auf der Ebene der Argumentationskultur lassen sich Parallelen zu philosophischen Briefen erkennen (vgl. K. Berger 1984, 1134-1138; Merklein i K o r Bd.i, 43t; R.F. Collins i K o r , 6ff unter Aufnahme von Bünker 1983, 41ft, der auf Berührungen mit den philosophischen Briefen, namentlich Senecas hinweist). Es sind Einsatz von Autoritäten (Schriftzitate), Präsentation von sich selbst als Modell, um das Ethos herauszustellen, aber auch um ein demütiges Vorbild zu zeigen, sowie Bilder. Aus diesen Parallelen ergibt sich aber keine bestimmte Leseanleitung.

10

Vgl. K. Berger 1984a, 2i6f. Ohne den mahnenden Charakter zu negieren, subsumieren i K o r 1 - 4 unter ein deliberatives Genus Schräge i K o r Bd.i, 80; Merklein i K o r Bd.i, 45; R.F. Collins 1996, 57ft; vgl. ders. i K o r , 19; Schüssler Fiorenza 1999, i i 4 f ;

Aufbau und Anliegen von ι Kor 1 - 4

355

um zugunsten einer bestimmten Entscheidung für das Nützliche zu werben 11 , verstellt aber den Blick dafür, dass der Autor seine eigene

Wanamaker 2003. In der Brieftypik des Ps.-Demetrius ist der symbuleutische Brief allerdings vom mahnenden unterschieden. 11

Diese Feststellung trifft vor allem die Untersuchung M. Mitchells 1991, die dafür plädiert, den ganzen Brief als deliberative Rede zu lesen unter i,iof als These: Der 1 Kor argumentiere mit politischer Sprache und Topik für die Einheitlichkeit der Gemeinde. Die Argumentation mit dem Nutzen betont Mitchell besonders, da der terminus technicus συμφέρον auch in i K o r mehrfach fällt - freilich nicht in Kap.1-4. Insbesondere der vielfältige Einsatz des Paradigmas als Beweismittels charakterisiere den Brief als deliberativ. Im Unterschied zur Paränese, mit der die symbuleutische Rede vieles gemeinsam habe, sei jene unstrukturiert und generell, diese aber wie der 1 Kor von strukturierter Argumentation und auf eine bestimmte Situation bezogen (vgl. a.a.O., 5off). Plausibel ist der Ansatz Mitchells, nicht von den faktischen Ereignissen in Korinth auszugehen, sondern nur die Interpretation des Paulus zu interpretieren. Die Gesamt-These ist jedoch zu einseitig, denn das deliberative Genus schaut, wie auch Mitchell betont (a.a.O., 23ft), in die Zukunft, der i K o r jedoch auch durchaus tadelnd in die Gegenwart (3,1-4); es geht ja um die Korrektur eines falschen Verhaltens. Darum erweitert Mitchell ihre Kategorisierung um „epideictic elements" (a.a.O., 213ft); diese findet sie vor allem in den Kap.3f. Dabei orientiert sie sich nur an einzelnen rhetorischen termini ohne Beachtung des Aussagezusammenhangs. Dies führt zu so merkwürdigen Zuordnungen wie 3,2 als Aspekt der τροφή oder 3,9-12 als έργον der Korintherinnen (a.a.O., 218). Anderson 1999, 254ft, bes. 257ft, greift die Arbeit von der Seite des rhetorical criticism an: Mitchell missinterpretiere die Bedeutung der argumentatio im Verhältnis zur propositio, wenn sie die gesamten Ausführungen des Briefes als „Beweise" der Forderung nach Einheit verstehe; diese Ausführungen Kap.5ff seien jedoch situationsbezogene Anweisungen, nicht deliberative Argumente. - Anknüpfend an Mitchell hat Birge 2002 eine rhetorische Analyse der Verwandtschafts- und Familiensprache für die deliberative Argumentation in 1 Kor 1 - 6 ; 1 2 - 1 4 vorgelegt, die mir erst bei Drucklegung bekannt wurde und daher hier nur noch kurz skizziert werden kann. Birges These ist, dass Paulus die Spaltungen in Korinth insbesondere mittels Verwandtschaftssprache zu bekämpfen sucht, um mittels ihrer die gegenseitige Zusammengehörigkeit aufzuweisen. Paulus stehe damit sachlich in der Tradition des hellenistischen Judentums, rhetorisch im deliberativen Paradigma. Birge fasst die "Language of Belonging" (so der Titel der Arbeit) so weit, dass auch Herr-Sklave-Bilder dazugehören, und zu denen zählt sie neben 4,if auch 3,5-9. 3,9-15 werden ebenfalls subsumiert als "image of a household under construction" (a.a.O., 16). Auch 3,1-4 sieht sie anders als hier als Muttermetapher (a.a.O., 9f; vgl. dagegen unten 2). 4,14t versteht Birge vor allem als Aussage über gegenseitige Zusammengehörigkeit von Vater und Kindern sowie den Geschwister (a.a.O., 33-35). Diese Interpretation des Briefes ist m.E. nicht überzeugend, gelingt sei doch nur auf Kosten der Pointen der einzelnen Metaphern. Wenig plausibel ist auch die These Smits 2003, der ganze Abschnitt sei epideiktisch. Für Smit geht es dabei nicht um eine inhaltliche Pragmatik. Paulus kleide die Verteidigung gegen Kritik in Figuren gemäß georgianischem Stil und in vier Enkomien unterschiedlichen Typs (paradox, ehrenhaft, ambivalent, unehrenhaft), um seine rhetorischen Fähigkeiten zu demonstrieren. Form und Inhalt fallen in dieser Deutung auseinander.

356

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Autorität erarbeitet u n d diese, nicht n u r die gemeindliche Einheit, v o n d e n Schismata b e t r o f f e n sieht 12 . Obschon Paulus rhetorische Figuren des Ausdrucks und der Bedeutung verwendet 13 , wird eine Analyse des Briefabschnitts als Rede dem Textcharakter nicht gerecht. Der Textabschnitt lässt zwar die fast jeder Kommunikationsform inhärente Dreigliedrigkeit erkennen, indem Anfang (1,10ff) und Ende (4,14ff) deutlich markiert sind. Doch die Versuche, gemäß der rhetorischen Taxis genauer narratio, argumentatio, probatio oder refutatio abzugrenzen, können den angenommenen Redeteilen keine deutliche Pragmatik zuweisen und divergieren auch erheblich in der Abgrenzung 14 . Dies liegt offenbar daran, dass, wie Anderson feststellt, der 1 Kor nicht an rhetorischen Dispositionsregeln orientiert ist und "bears little resemblance to a rhetorical speech" 15 . Ich fasse als thematisch zusammengehörend auf: 1,10-17 als Einführung in die Problemstellung, 1,18-3,4 als Analyse des Fehlers der Parteienbildung, 3,5-4,13 als Ausführungen über die Rolle der Gemeindemissionare und 4,14-21 als abschließenden Appell 16 .

1.2

D a s übergeordnete A n l i e g e n u n d der thematische Z u s a m m e n h a n g von 1 Kor 1 - 4

N a c h d e m B r i e f e i n g a n g ( 1 , 1 - 3 . 4 - 9 ) bilden die ersten vier Kapitel des ersten erhaltenen Briefes an die G e m e i n d e v o n Korinth anerkannterm a ß e n eine Einheit. Weniger einsichtig ist die G l i e d e r u n g des A b schnitts 1 7 u n d die sachliche Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t der Themenkreise, 12

Vgl. dazu unten. Dass Mitchell verkennt, dass die Relation der Missionare untereinander und der Gemeinde zu Paulus ein Aspekt des Problems sind, schlägt sich etwa darin wieder, dass sie 1,13t zur narratio zählt und die Baumetaphorik 3,g£f nur als Metapher für die Einheit der Gemeinde liest.

13

Zu sprachlichen Mitteln, „Formen", vgl. Sellin 1987, 2942ft. Der Brief arbeitet mit auffallend vielen rhetorischen Fragen (1,13.20; 2,11; 3,3.16; 4,7, vgl. 4,21).

14

Vgl. etwa die divergierenden Analysen von Bünker 1983, 52 ft; von Lips 1990, 325 t; Merklein 1 Kor Bd.i, 108ff; Vos 1996.

15

Vgl. Anderson 1999, 245 f t Zitat 264.

16

4,14ft erhält nicht nur durch die Inklusion des παρακαλώ ύμας den Charakter einer peroratio, sondern auch durch Aufnahme der Alternative von λόγος und δύναμις aus 2,1-5 in 4,19t- Es schlägt so die Brücke vom Gründungs- (vgl. 4,15) zum angedrohten nächsten Besuch, geht sachlich gleichwohl über das bisher Gesagte hinaus.

17

Vgl. zu Gliederungsvorschlägen in der Literatur von Lips 1990, 319t; M. Becker 1999, 20iff; Smit 2002, 231t. Umstritten ist nicht die Abgrenzung kleinerer Einheiten (1,1017.18-25.26-31; 2,1-5.6-16; 3,1-4.5-17.18-23; 4,1-5.6-13.14-21), sondern deren Organisation zu einer umfassenden Argumentation. Da das Textgewebe auf der Oberfläche viele Verschränkungen aufweist (s.u.), ergeben die Textsignale keine „objektive" Gliederung. Die Zuordnung der thematischen Einheiten und die Nachzeichnung der Pragmatik bleiben Konstruktionen der Auslegerin und des Auslegers.

Aufbau und Anliegen von ι Kor 1 - 4

357

der Spaltungen innerhalb der Gemeinde von Korinth und des Diskurses über den Kreuzeslogos und die Weisheit Gottes sowie deren Zusammenhang zu den Aussagen über die Apostel18. Die Struktur des Textes ist nur eingangs, nicht jedoch durchgängig als lineare Argumentation zu begreifen. Zahlreiche Rekurrenzen und Inklusionen halten jedoch das Gewebe zusammen 19 . Zentral unter diesen ist die bereits erwähnte Verknüpfung der rahmenden Abschnitte 1,10-17 und 4,14-21 durch die Wiederholung von παρακαλώ ύμας (ι,ιο; 4,16) sowie das in K a p . 1 - 4 nur hier fallende Stichwort ε ύ α γ γ ε λ ί ζ ε σ θ α ι κτλ. jeweils mit Referenz auf Paulus (1,17; 4,15)20. Mehrere Stellen haben die transitorische Funktion, Abschnitte miteinander zu verzahnen 21 .1,17b führt vom Thema der paulinischen Missionsarbeit weiter zu den theologischen Grundsatzüberlegungen über die Bedeutung des Kreuzeslogos 22 . Den ganzen Briefteil synthetisiert von der Mitte aus 3,i-4 2 3 : Die allgemeinen Aussagen über die pneumatische Auffassung von der Weisheit Gottes (2,6-16) werden auf die Adressatinnen angewendet und kontrastiert mit ihren Schismen (i,ioff); durch die metaphorische Beschreibung des Verhältnisses von Paulus und Gemeinde wird zugleich die weitere Argumentation eingeleitet. 4,if relativiert die Hierarchisierung 3,22t mit nochmals metaphorischen Aussagen über die Missionare und führt weiter zur Frage der Beurteilung des Paulus, womit das Gerichtsmotiv aus 3,12 ft auf die Person des Paulus im Gegenüber zur Gemeinde appliziert wird. Auch 4,14t verzahnt schließlich die vorausgehenden Ausführungen mit dem abschließenden Appell. Dies geschieht durch eine Metaqualifizierung, wie sie ebenfalls in 4,6 vorliegt. 4,6 und

18

Vgl. zur Diskussion Kuck 1992, 151-156. Der sachliche Zusammenhang und die Entwicklung der Fragstellung ist m.E. in der textsemantischen Analyse Merkleins (1 Kor Bd.i, io8ff) gut dargestellt und am Text belegt. Vgl. auch von Lips 1990,347t der die sachliche Einheit der Themen Spaltungen, Gemeinde und Apostolat im Wesentlichen analog bestimmt. Treffend reformuliert m.E. Konradt 2003a, 20iff die Problemstellung und die Argumentation des Paulus. Diese Rekonstruktionen vernachlässigen allerdings die Selbstthematisierung des Autors in 4,14ft, deren pragmatische Deutung hier wesentliche Aufgabe ist.

19

Vgl. im einzelnen bes. M. Becker 1999, 204ft; Smit 2002, 235ft.

20

Zu ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν als auf die Geschichte des Evangeliums zusammenfassend verweisende "rhetorical shorthand" vgl. Μ. Mitchell 1994. Die Metapher in 4,15 beinhaltet "the tale of the gospel's arrival at Corinth" (a.a.O., 74). Der Aspekt der Verkündigung wird sonst mit anderen verba dicendi (κηρύσσειν κτλ. oder λαλεϊν, καταγγέλλεLV, λ έ γ ε ι ν κτλ.) angesprochen.

21

Einen Ubergang zum Folgenden mag auch 4,17t darstellen, w o bereits das Thema der Präsenz des Paulus in Korinth (vgl. 5,3) anklingt. Lässt man jedoch deshalb den zweiten Briefteil statt mit 5,1 bereits mit 4,17 beginnen, wie Bailey 1983 will, zerschlägt man den familienmetaphorisch verbundenen Schlussappell 4,14-21. Auch Dodd 1999, 64ft, der mit Berufung auf Bailey 4,14ft zu K a p ^ f f ziehen will, beachtet die Inklusiom zu wenig. - Zu transitorischen Versen vgl. ähnlich wie hier auch Pöttner 1995, 20 Anm.28.

22

So etwa auch M. Becker 1999, 210.

23

Vgl. auch Kuck 1992,159-161 zu einer entsprechenden Deutung von 3,1-4.

358

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

4,14 benennen die Aussageintention des Autors für einen jeweils im Umfang nicht genau bestimmten Textabschnitt24.

Zeigt der Text keine lineare Struktur, so fordern doch diese Kohäsionsfaktoren, 1,10-4,21 auch thematisch als einheitlich zu lesen und den Argumentationsbogen bis 4,21 zu verfolgen 25 . Dann wird deutlich, dass Paulus in diesem Briefabschnitt nicht auf einen theologischen Dissens reagiert, sondern einen Konflikt um Autorität und Status26. Dies ist in aller Kürze am Text aufzuzeigen. Das zumindest die Kap.1-4 beherrschende Anliegen ist die Einheit der Gemeinde, wie 1,10f einleitend gemahnt, „dass ihr alle dasselbe sagt und unter euch nicht Spaltungen sind, ihr vielmehr vollendet seid

24

Besondere Beachtung gibt Pöttner 1995,122 t den metakommunikativen Formulierungen 4,6 und 4,14. Der Tempuswechsel (4,6 Aorist, 4,14 Präsenz) indiziere, dass 4,6 die Ausführungen 1,10-4,5 qualifiziere, 4,14 hingegen 1,4-4,21. Doch der Bezug von 4,6 auf den großen Textabschnitt seit 1,10 ist vom Text nicht signalisiert und erleichtert auch nicht das Verständnis.

25

Dies ergibt z.B. auch die Argumentationsparaphrase durch Wanamaker 2003. Der Text verändert sein Gesicht, wenn man die Analyse beschließt mit 3,4 wie Theis 1991; Vos 1996; Voss 2002 und Kammler 2003.

26

Dass es nicht um eine theologische Auseinandersetzung geht, sondern um Fragen des Ethos, hebt vor allem Konradt 2003b gegen die vielfältigen Rekonstruktionen einer korinthischen Weisheitstheologie hervor; vgl. ähnlich Wolff i K o r , 10. - Während die Annahme, in Korinth sei eine „Gnosis" im Schwange, heute kaum noch vertreten wird, ist die These beliebt, Paulus reagiere auf eine spezifische „korinthische Theologie" (vgl. den Überblick bei Sellin 1987, 30i6ff), eine spekulative Weisheitstheologie. In dem „hypertrophen Weisheitsstreben" sieht etwa Schräge ( i K o r Bd.i, 128, vgl. 55) die Spaltungen und „die Krise der apostolischen Autorität" begründet. Die eigentliche „Kampfansage" (a.a.O., 129) gelte dem Weisheitsstreben. Erwogen wird, dass Apollos selbst die Weisheit ins Spiel brachte (so vor allem Sellin 1982, 76 und 1987, 3014t; vgl. auch Merklein 1 Kor Bd.i, 134-139; Theis 1991, 480t; zur Diskussion vgl. Sellin 1987, 3021 [Lit!]). Doch der Text selbst bietet zu wenige Indizien, da er das, was er kritisiert, nicht mit einer Position oder Partei der Adressatinnen identifiziert. Er tritt nicht in direkte Konfrontation mit Apollos (vgl. dagegen bes. 16,12) oder dessen Anhängerinnen. Nirgends wird gesagt, dass die Angeredeten tatsächlich nach Weisheit streben oder sich ihrer rühmen, sondern davor wird nur gewarnt. Damit ist nicht bestritten, dass der Autor mit der Rede von σοφία ein ihm vorgegebenes Stichwort aufgreift, das im Streit virulent ist. Darauf deutet besonders die Verbindung der Themen Weisheitsstreben und Parteienstreit in 3,10-20.21-23 (vgl. Merklein i K o r Bd.i, 102). Doch die paulinischen Aussagen über Weisheit betreffen nicht deren Inhalte, sondern die Statusrelevanz. So zeigt von Lips 1990, 344ff (vgl. auch 32off zur Mehrsinnigkeit des paulinischen Weisheitsbegriffs), wie die Aussagen über die Weisheit dem Problem des Parteienstreits untergeordnet sind. In weisheitlicher Tradition zielen sie darauf, Ruhm der eigenen Weisheit und von Menschen zu kritisieren, nicht spezifische Inhalte, sondern Einstellungen, die sich im Parteienstreit niederschlagen (vgl. bes. 1,29-31; 3,18-23; 4,6f). Vgl. auch Konradt 2003b, i8iff zur sozialen Implikation des Weisheitsthemas (vgl. unten Anm.38).

Aufbau und Anliegen von ι Kor 1 - 4

359

in demselben Sinn und in der selben Überzeugung" 27 . Die folgenden Ausführungen unter diesem Appell zu lesen, der im Namen Jesu Christi ausgesprochen wird, legt die Stellung28 sowie die prononcierte Formulierung 29 nahe. Schon das Präskript hatte positiv vorweggeschickt, dass „unser Herr Jesus Christus" (1,2.7.9) der gemeinsame Bezugspunkt ist, unter dem die Gemeinde zur Gemeinschaft berufen ist (1,9)3°. Wir gehen nicht von Hypothesen über die faktische Situation in Korinth aus 31 , sondern richten unser Augenmerk auf deren in der Darstellung des Paulus implizierte Deutung: Er sieht das Problem nicht in Gruppenbildungen innerhalb der Gemeinde an sich, sondern in Spaltungen und Streit32. Unterschiedliche Fraktionen berufen sich jeweils auf prominente Missionare oder auf Christus 33 . Obschon der Wunsch nach Übereinstimmung in νους und γ ν ώ μ η (ι,ιο) darauf hindeutet, dass es inhaltliche Auseinandersetzungen gab, diskutiert Paulus nicht differente theologische Ansichten, sondern kritisiert das Verhalten und Selbstverständnis. Die beiden rhetorischen Fragen 1,13 deuten die abgrenzende Selbstidentifikation durch Bezug auf Paulus, Apollos und Kephas als absurde Vertauschung der Missionare mit Christus, hier am Beispiel des Paulus (vgl. unten). Impliziert ist in diesen Aussagen, dass der ungeteilte Christus als der Gekreuzigte, auf dessen Namen getauft wird, der einzige und einigende Bezugspunkt der Gemeinde sein sollte. Die erste Replik auf die Spaltungen in 1,13-17 weist jedoch nicht nur auf das christologische Defizit und nennt nicht nur die weiteren 27

Als „propositio" bezeichnen 1,10 Vos 1996, 87; M. Becker 1999, 2o6f. Nach R.F. Collins 1996, 58 gibt V.10 die "thesis of Paul's entire letter"; vgl. ders. i K o r , 14. M. Mitchell 1991,1 und passim nennt den Vers die πρόθεσις, Witherington 1995, 94 die propositio.

28

Zur Nennung des wichtigsten Briefanliegens zu Beginn des Briefkorpus vgl. J.L. White 1972, 39.

29

Dass die Aussage zentral ist, signalisiert das metasprachliche παρακαλώ, die Beschwörung „durch den Namen unseres Herren Jesus Christus", die Anrede, die Stellung am Anfang des Briefkorpus und die plerophore, da sowohl protreptische wie apotreptische Benennung des Erbetenen.

30

Mit Belleville 1987, i7f.

31

Vgl. nur zur Diskussion Sellin 1987, 30iiff; Schräge i K o r Bd.i, 39ff.i42ff bzw. den Sammelbericht zur Forschung von Konradt 2003a, 202 f.

32

Vgl. σχίσματα (ι,ιο), ερις (ι,ιι; 3,3) und ζήλος (3,3).

33

Ob es in Korinth eine „Christus-Partei" gab oder der Autor diese für seine Argumentationszwecke fingiert, kann hier offen bleiben. - Mit Recht weist Sellin 1987, 3015 darauf hin, dass die Genitivwendungen nicht Parteiprogramme oder -parolen sind, sondern zunächst Abhängigkeiten, Zugehörigkeiten beschreiben (ob soteriologisch, wie Sellin ebd. meint, bleibt m.E. offen).

360

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Themenstichworte, σταυρός τοϋ Χρίστου und σοφία Λόγου (ι,vj), die dem Text einen proömialen Charakter geben34. Sie deutet auch schon an, dass Paulus sich und seine Beziehung zur Gemeinde in besonderer Weise tangiert sieht von den Streitigkeiten. Lesen wir die in 1,18 ff folgenden Ausführungen als Argumentation gegen die Spaltungen und für eine Sinnesgemeinschaft, so ist doch ihr Bezug zu diesem Anliegen nur implizit. Das positive Ziel, gemeindliche Einheit, wird nicht begründet, weil die Hochschätzung der Einigkeit als unumstritten gelten konnte35. Dass die Ausführungen sich auf den Kasus beziehen, wird erkennbar, wenn man sie als Kritik an den Einstellungen liest, die der Autor als Ursache der Spaltungen ausmacht, vielleicht aufgrund konkreter Kenntnisse über Angeberei und gegenseitige Abwertungen in Korinth. Paulus diagnostiziert die Spaltungen als Symptom eines grundsätzlichen Missverständnisses davon, wer welchen Status in der Gemeinde hat, und das heißt auch, was überhaupt Maßstab ist und wer das Recht zum Urteil hat36. Die Ausführungen über das Wort vom Kreuz und die Weisheit Gottes arbeiten, unbenommen dessen, dass sie auch für sich theologisch auszuwerten sind, einer Antwort auf diese Frage zu, indem sie den diametralen Unterschied zwischen weltlichen Maßstäben und dem, was für Gott gilt, aufweisen 37 . Grundsätzlich ist zu unterscheiden 34

So Merklein 1 Kor Bd. 1,10g.

35

Zur Einigkeit (ομόνοια bzw. concordia) als absolutem Wert in der Antike s. M. Mitchell 1991, 6of (Lit!); Klaus Thraede, Art. Homonoia (Eintracht), in: R A C 16 (1994) 176-289. Ihre Wertschätzung schlägt sich nicht zuletzt in der kultischen Verehrung der ομόνοια resp. concordia nieder (vgl. Johannes Zwicker, Art. Homonoia 1), in: PRE 8 [1913] 2265-2268). Nach Thraede (a.a.O., 24of) meidet Paulus in i K o r i,iof und Phil 1,27; 2,2 allerdings die politisch konnotierte Eintrachts-Terminologie (z.B. ομόνοια) und wählt die freundschaftliche. - Indem Castelli 1991 das in i K o r 1 - 4 verfochtene Ideal der Einheit als Negierung des Differenten kritisiert, zeigt sie, dass es keine Letztbegründung ist, sondern bestimmten Interessen dient (zum Ansatz Castellis vgl. den Exkurs in 4.4).

36

Dass sich nach Meinung des Autors in den Spaltungen ein grundsätzliches Unverständnis äußert, zeigt 3,1-4 (vgl. unten 2.). Dass die Schismata in der Sicht des Paulus mit Selbstüberhebung einhergehen, zeigen die Kritik am Ruhm 1,29.31, die Warnung davor, sich selbst für weise zu halten (3,i8ff), und die metasprachliche Aussage über die Intention der Ausführungen über Apollos und Paulus 4,6. - Ahnlich wie wir deutet Konradt, dass Paulus die „Wurzel" der Parteienstreitigkeiten als „Oberflächenphänomen(s)" offenlegt, nämlich als Orientierung an der menschlichen Werteskala und ihrem Geltungsdrang. Die Kritik am korinthischen Weisheitsstreben bezieht sich nicht auf eine verfehlte Theologie, sondern auf das Bedürfnis sozialer Geltung (2003a, 209ff, Zitate 209; vgl. auch ders. 2003b). Vgl. ähnlich Merklein 1 Kor Bd.i, loif zum Zusammenhang.

37

Zu dieser Dualität in der weiteren Korrespondenz vgl. auch Litfin 1994,175f.

Aufbau und Anliegen von ι Kor 1 - 4

361

zwischen den Foren Welt und Gott und damit zwischen den herkömmlichen sozialen und religiösen „Statuskriterien" 38 . Ist anhand des Λόγος τοΰ σταυροϋ grundlegend (1,18-25) und an der Erwählung der Gemeinde (1,26-31) und paradigmatisch an dem Auftreten des Paulus (2,1-5) nachgewiesen, dass Gott die Werte dieser Welt „durchkreuzt" 39 hat, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen: Wer ist „weise" im Sinne Gottes? Wer kann wen beurteilen? Wessen kann man sich rühmen? Dass Gottes Erwählungshandeln das menschliche Wertesystem invertiert, ist nicht nur zentrales Christologumenon, sondern ihm verdanken überhaupt die Christinnen und Christen in Korinth ihre Berufung. Der rivalisierende Personenkult, der in den Slogans zum Ausdruck kommt, zeigt, dass die daran Beteiligten dies nicht begriffen haben40. Doch mit dieser Analyse ist die Ausgangsfrage, wieso der Autor in 1,10-17 u n d Kap.3f das Problem auf sich selbst bezieht und sich als Lösung empfiehlt, nicht geklärt, sondern verschärft. Inwiefern kann Paulus sich persönlich als Vorbild empfehlen, wenn doch „aus dem Kreuz ein spezifisches christliches , Ethos der Niedrigkeit' bzw. ein

38

Konradt 2003b, i8iff weist zu Recht darauf hin, dass die Frage der „Weisheit" nicht nur eine theologische, sondern eine soziale Qualifizierung impliziert. Insofern hat die Frage, was Weisheit ist und wer weise ist, auch unbenommen ihrer theologischen Bedeutung Relevanz für die Statusfrage. Die Frage des α ν α κ ρ ί ν α ν (3,15; 4,3 u.ö.) führt aber über die Statusfrage hinaus den forensischen Aspekt ein (mit Vos 1996, 113).

39

Die Rede vom Kreuz zielt nicht generell auf den Tod Christi als Heilsereignis, sondern speziell auf die Konnotation der Tötungsart als „mors turpissima" (vgl. Hengel 1976; C. Strecker 1999, 266f zur Konnotation der Kreuzigungsstrafe; Konradt 2003a, 2o8f zur Funktion der Rede in 1 Kor i f ) . Als Teil der den Text durchziehenden Sinnlinie von „Ruhm versus Schande" (1,27-31; 2,7t; 3,21; 4,7-13; 4,14) beinhaltet der wiederholte Hinweis auf den Gekreuzigten als Verkündigungsinhalt (1,17^23; 2,2) zugleich die Inversion der herkömmlichen Zuordnung dieser Wertbegriffe (vgl. Strecker a.a.O., 269^.

40

Konradt 2003b, 211 sieht die Argumentation insofern auf das Thema der Einheit bezogen, als sie die Gemeinde verweist auf den gemeinsam „geteilten Grundbestand, in dem die alle Gemeindeglieder verbindende Glaubensidentität (vgl. 1,13) zur Geltung kommt, und dies impliziert eine radikale Depotenzierung aller übrigen theologischen Erkenntnisse, mit denen die Lehrer und Verkündiger in der Gemeinde sich zu Wort melden konnten." Doch der Text tut dies höchstens implizit, wenn man seine Argumente weiter denkt. Explizit verweist er die Gemeinde auf Paulus als jenen, der diesen Grundbestand lehrt (1,17; 4,17 und durch den Brief als solchen).

362

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

,Ethos des Statusverzichts'" folgt 41 ? So überrascht nicht, dass die Selbstthematisierung des Paulus oft überlesen wird 42 .

1.3

Der Selbstentwurf des Autors und der Beziehung zur Gemeinde in Korinth diesseits der Metaphern 1.3.1

Paradigmatische oder apologetische Intention ? Zur Forschungsdiskussion

Die Selbstthematisierung des Autors in 1 Kor 1 - 4 wird in der Sekundärliteratur entweder als apologetisch oder als paradigmatisch gedeutet«. Die apologetische Lektüre erklärt die wiederholte Selbstthematisierung des Autors damit, dass er sich verteidigt44. Paulus sei aus der Gemeinde angegriffen worden45. Namentlich sei ihm Mangel an rhetorischer Brillanz oder pneu-

41

Konradt 2003a, 209.

42

Zu wenig Bedeutung gibt z.B. von Lips 1990, 318ff Kap.3f, der darin nur „die Darstellung der Funktion der Apostel" (348) erkennt. M. Becker folgt von Lips in der Sache (1999, 227) und sieht bezeichnenderweise in 3,5-17 und 4,6-13 nur Exkurse, die letztlich allgemein vom Aposteldienst handeln (a.a.O., 223ft), in 4,i4ff nur einen Abschluss „in persönlicher Form", der mit Nachdruck „auf das Einverständnis der Korinther zielt" (a.a.O., 226). Vgl. auch Konradt 2003b, bes. i89ff. Er sieht als Intention von 1,18-2,5 «die Abrogation der gesellschaftlichen Werteskala" (189), der auch die Ausführungen zu Kreuz und Weisheit subsumiert sind, um die in den Streitigkeiten zu Tage tretende Menschenverehrung zu kritisieren. Das stimmt mit unserem Verständnis überein; offen bleibt jedoch, was 3,5ft zu diesem Diskurs beitragen.

43

Zur Alternative und Diskussion vgl. ausführlich Vos 1996.

44

Forschungsgeschichtlich wichtig ist hierfür der Aufsatz Dahls 1967 (der allerdings in einem Wiederabdruck [Dahl 1977, 61 Anm.50] seine These als zu einseitig relativierte). Der Text behandele einen Autoritätskonflikt. Paulus reetabliere in i K o r 1 - 4 zunächst seine Autorität für die ganze Gemeinde, bevor er ab Kap.5 auf konkrete Probleme eingehen könne. Dahl bestreitet nicht, dass der Briefabschnitt theologische Anliegen behandelt. Er will jedoch durch mirror reading konkrete Kritikpunkte rekonstruieren, gegen die sich Paulus dann verteidigt. So sei der Briefabschnitt schließlich "an apology for Paul's apostolic ministry", weil sich der Streit in Korinth an Paulus selbst entzündet habe (a.a.O., 329).

45

Vgl. insbesondere Dahl 1967; ältere Vertreter nennt Vos 1996, 88 Anm.2. Nach Vos sind die Einlassungen des Paulus zu seiner Person sowohl apologetisch als auch paradigmatisch motiviert. Bünker 1983, 54ft unterscheidet ähnlich 1,18-3,23 als ersten deliberativen Argumentationsgang, der bereits mit einer peroratio schließe, von 4,113 als refutatio, die ihrerseits wieder mit einer peroratio in 4,14-21 ende. Damit lässt er die Anliegen des Textes auseinanderfallen.

Aufbau und Anliegen von ι Kor 1 - 4

363

matischer Performanz vorgeworfen worden 46 . Dass der Autor sich dagegen verwahrt, lässt der Text jedoch nicht erkennen. Er ist nicht apologetisch im strengen Sinne, insofern er nirgends Vorwürfe zitiert oder zumindest explizit widerlegt, sieht man ab von dem Vorwurf, er, Paulus, würde nicht nach Korinth kommen (4,i8) 47 . Eine Variante der apologetischen Lektüre ist die These, dass die Kritik des Paulus eigentlich auf die Anhängerinnen des Apollos zielt: Nach der Gemeindegründung durch Paulus habe dieser in Korinth größeren Eindruck hinterlassen und das Ansehen des Paulus geschmälert48. Doch da der Text eine allgemeinere Problematik beschreibt und den Autor nicht von Apollos oder seinen Anhängerinnen abgrenzt, bleibt diese Deutung der rhetorischen Situation spekulativ 49 . Fehlen also Indizien dafür, dass der Autor sich gegen bestimmte Angriffe verwahrt, so scheint er doch sich bzw. seine Autorität in Frage gestellt zu wissen, da er das Urteil der Korintherinnen in 4,3-5 prinzipiell für irrelevant erklärt. Auch die scharfe Polemik in 3,1-4 und die Ironie in 4,8 lassen erkennen, dass das gegenseitige Verhältnis aus der Sicht des Autors nicht ungetrübt ist50. Zu einer paradigmatischen Lektüre der Selbstthematisierung führt hingegen die Aufforderung „Werdet meine Nachahmerinnen!" (4,16; vgl. 11,1). Dass Paulus auf sich als Paradigma zu sprechen kommt, wie es ins symbuleutische Genus passt, vertritt vor allem M. Mitchell. Sie begründet das auch mit den vie-

46

Vgl. dazu Vos 1996, 91ft (weitere Literatur dort): Man habe in Korinth moniert, dass der Redegewandtheit (σοφία λόγου) des Paulus die Brillanz abging, die ihn nach korinthischer Auffassung als göttlich legitimiert hätte.

47

Dass der Autor Kritik an seinem rhetorisch schwachen Auftreten replizieren wolle, scheint mir unwahrscheinlich und eine Eintragung aus 2 Kor 10-13. Denn in 2,1-5 operiert er gerade mit seiner „Defizienz" als positivem exemplum. Hätte er diese Seite seines Auftretens so präsentiert, wenn sie Grund seiner Ablehung wäre ? Auch in 4,9 ff stellt er das erniedrigte Leben der Apostel ausführlich dar und dem Leben der Korinterlnnen gegenüber, um den Unsinn der Selbstüberheblichkeit zu demonstrieren. Er spricht nicht nur für sich, sondern für ,,οί απόστολοι" (4,9). Ebenfalls macht die Aussage des Paulus in 4,3-5, dass er nichts auf die Urteile der Adressatinnen gebe, den Text nicht zu einer Verteidigung. Potentielle Kritik wird nur als ignorabel abgetan. Der Text lässt nicht mehr erkennen als, dass der Autor mit der Möglichkeit eines negativen Urteils über sich rechnete.

48

Die These einer Auseinandersetzung mit den Anhängern des Apollos vertreten etwa Schwarz 1989; Ker 2000 und neuerdings Smit 2002, der neben den expliziten Bezugnahmen in den Wörtern άπολλύμενοί und άπολώ (i,i8f) eine Anspielung auf Apollos erkennt. Nach Sellin 1982 zielt die Argumentation apologetisch auf Apollos selbst.

49

Vgl. dazu bereits Anm.26.

50

Eine Autoritätskrise in Korinth sehen etwa Dahl 1967 (s.o.), Bünker 1983, 53; Schräge 1986,103; Marshall 1987, 217; Fee i K o r , 48t; Litfin 1994,171.183-185; Furnish 1999,15; Schüssler Fiorenza 1999, ii8f. Nach ihrer Ansicht muss Paulus seine Autorität überhaupt erst etablieren. Dodd 1999, 4off widerspricht der Sicht, dass Paulus seine Autorität angefochten sieht, verkennt aber die subtile Strategie des Textes (vgl. unten 3.3 mit Anm.168).

364

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

len weiteren Verweise des Paulus auf seine eigene Person 51 . Nach Clarke nimmt Paulus in 1 Kor 1 - 6 Stellung dazu, wie Führung christlich angemessenen gestaltet wird, und entwirft sich selbst als Paradigma für "Christian Leadership" 5 2 . Nach Dodd wechselt hingegen zwischen 4,13 und 4,14 die Funktion der paradigmatischen Selbsteinführung. Bis 4,13 präsentiere sich Paulus als niedrig, um das Hoheitsbewusstsein in Korinth zu kritisieren, ab 4,14 als konkretes ethisches Beispiel 53 .

Die paradigmatische Deutung der selbstbezogenen Aussagen ist also zumindest durch die explizite Aufforderung zur Nachahmung in 4,16 gerechtfertigt, während für eine über eine Autoritätsabsicherung hinausgehende im engeren Sinne apologetische Intention Textindizien fehlen. Doch ist fraglich, ob die Alternative von apologetischer oder paradigmatischer Selbstthematisierung die Möglichkeiten der Textpragmatik erschöpft 54 . Die folgenden Beobachtungen zum Selbstentwurf des Autors in Kap.if (vgl. 1.3.2) und zur Klimax von Beziehungsmetaphern in Kap.3f (vgl. 2, 3 und 4) führen zur These, dass der Autor sich selbst nicht nur als ein Beispiel oder Vorbild neben anderen einführt, sondern als exklusive Orientierungsperson entwirft. In der zunächst subtilen, dann expliziten Weise, in der er die streitenden Parteien in Korinth auf seine eigene Person bezieht, lässt der Autor erkennen, dass er von sich nicht nur spricht, weil er die Schismata als Infragestellung seiner Autorität begreift, sondern um die ungeteilte

51

52

53 54

Paulus führt sich paradigmatisch auch in 2,1-5; 7/7^» Kap.9; 11,1 an, vgl. M. Mitchell 1991, 39ff. Nach ihrer Ansicht hat allerdings auch der polemische Abschnitt 4,1-5 eine paradigmatische Funktion. Zur Kritik an einzelnen Deutungen Mitchells vgl. Vos 1996, 89. Vgl. Clarke 1993, bes. 124ft. Im Zusammenhang von christlichem "leadership" im Vergleich zu säkularem ständen auch die Fragen des Rühmens, der Zugehörigkeit und die ethischen Fragen in Kap.5f. Die Metaphern in Kap.3 sowie der Peristasenkatalog 4,9 ft entwürfen dann eine christliche Führungsrolle als dienende, unehrenhafte nach weltlichen Maßstäben. Clarke ignoriert zugunsten dieser These die Vatermetapher 4,i4f. - Eine nicht-apologetische Situation, in der Paulus auf sich bzw. die Apostel als Paradigma rekurriert, betonen auch Fiore 1986, 168ff; Fitzgerald 1988, ii7ff.128; Wolff 1 Kor, 9 (in Bezug auf 4,9-13); Dodd 1999, 48 ff. 1

999' 48ff.61ff.64ff, Vos 1996 plädiert dafür, das apologetische und deliberative Genus nicht gegeneinander auszuspielen: Der Text sei apologetisch, aber diene darin dem Zweck, die Gemeinde zum rechten Verhalten, der Einheit, anzuweisen. Ist diese Aufhebung der Alternative prinzipiell hilfreich, so stimme ich doch Vos' These im einzelnen nicht zu. Er sieht hinter dem Text konkrete Vorwürfe gegen Paulus wegen mangelnder Redegewandtheit (a.a.O., 9iff), übersieht aber, weil er nur 1,10-3,4 behandelt, die besondere Rolle, die Paulus für sich reklamiert und als Lösung des Problems in Korinth anbietet.

Aufbau und Anliegen von ι Kor 1 - 4

365

Anerkennung seiner persönlichen Autorität als Lösung der innergemeindlichen Probleme zu empfehlen 55 .

1.3.2

Der Selbstentwurf des Autors in Kap.if

Vorbereitend zur Auslegung von Kap.3f ist zu klären, welche Kompetenzen und Autorität der Autor sich und anderen in Kap.if zuschreibt. Die Superscriptio 1,1 leitet mit dezidierter Selbstvorstellung als „berufener Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes" den Brief ein. Damit ist nicht eine Funktion für die Gemeinde, sondern eine Legitimation zur Evangeliumsverkündigung auch mittels dieses Briefes (vgl. άπέστειΛεν 1,17) beansprucht56. Die Verstärkung der eindringlichen Bitte παρακαλώ durch διά τοϋ ονόματος τοϋ κυρίου ήμών Ίησοϋ Χρίστου in 1,10 erinnert an diese Sendung des Autors. So macht er deutlich, dass er nicht seine eigenen Interessen gegenüber der Gemeinde pflegt, sondern für die gemeinsam anerkannte höchste Autorität (κύριος ήμών) spricht57. Auch Danksagung, Lob und Zuspruch (1,4-9) sind nicht nur Mittel der brieflichen captatio benevolentiae, sondern auch Ausdruck des Anspruchs, vor Gott für die religiöse Beziehung der Adressatinnen kompetent zu sein58. Eine entsprechende Überordnung des Autors über die Adressatinnen ist auch in der oben begründeten Lektüre der Kap.1-4 als Mahnschreiben (vgl. 1.1) impliziert. Bereits in der ersten Reaktion auf die Spaltungen zeigt der Autor eine differenzierte Behandlung des Problems. Er deutet an, dass er seine Rolle in der Gemeinde von deren Streit betroffen sieht, erhebt Widerspruch jedoch nicht, weil seine Autorität in Frage gestellt ist, sondern die christologische Grundüberzeugung. So nennt er sich als ersten

55

Als Machtdiskurs lesen besonders Castelli und Wanamaker den Text. Castelli analysiert ihn mit einem an Foucault geschärften Blick für den autoritären Anspruch (1991, bes. 97ff). Die Mimesis-Aufforderung 4,16 (vgl. dazu 4.4 und den Exkurs) fasse die Einheitsaufforderung in i,iof und die paradigmatischen Selbstaussagen zwischen 1,10 und 4,16 zusammen und etabliere durch Bekämpfung des Differenten eine Machtstruktur, die an Paulus als einzigem Modell orientiert sei. Wanamaker 2003 erhebt mit einer Ideologietheorie den Machtanspruch des Paulus als Gemeindegründer. Doch soll nicht übersehen werden, dass der Autor eine nur relative Machtposition will und für diese ursächliche und finale Begründungen nennt.

56

Vgl. dazu oben § 4.1.

57

Vgl. zur Pragmatik der Wendung Schräge 1 Kor Bd.i, 137.

58

Vgl. auch die Überlegungen zur Danksagung in 1 Thess in § 6.3.

366

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

der Verehrten und zeigt auch am Beispiel seiner Person, dass die abgrenzende Identifizierung durch einen Missionar aus christologischen Gründen absurd ist (1,13-14)· Dies ist ein geschickter Zug. Denn die Kritik an der Verehrung anderer könnte ihm als persönliche Eitelkeit ausgelegt werden und das argumentative Anliegen unterhöhlen. 1,13 impliziert, dass allein die Berufung auf Christus als den, der gekreuzigt wurde und auf dessen Namen getauft wird, sinnvoll ist. Ein ,,έγώ Χρίστου" kann nicht zur Profilierung gegenüber anderen Christinnen verwendet werden - so wahr Christus „ungeteilt ist". Dementsprechend ordnet Paulus seine Tätigkeit in 1,1.17 seiner Sendung durch Christus zu und damit sich selbst Christus unter. Das Ergebnis der folgenden Ausführungen vorwegnehmend sagt 1,17b, dass nur in der Unterordnung unter die Botschaft die Aufgabe der Evangelisierung erfüllt wird. 2,1-5 verdeutlicht diesen Gedanken am missionarischen Auftreten des Paulus. Sein Wirken an der Gemeinde sei eigene Verkündigung, die aber Gottes Geist und Macht darbiete (2,4f). Das Eingeständnis von Schwäche, „Furcht und Zittern" (2,3) schmälert also die Autorität des Paulus nicht. Betrifft diese Schwäche sein Auftreten, Redegewandheit, mithin menschliche Statuskriterien, zeigt der Mangel gerade hermeneutisch positiv die göttliche Quelle seiner Wirkung 59 . Auffällig ist, dass der Autor auch schon in Kap.if wiederholt auf seine gemeindegründende Tätigkeit zu sprechen kommt (1,17; 2,1-5 )6°. Das Argument für die Vaterschaft (vgl. 4.3) wird hier bereits vorbereitet. Wirksam für die Rollenerarbeitung des Autors ist weiter der Wechsel zwischen „ w i r " und „ich" in diesem Briefabschnitt 61 . Im Unterschied zu anderen Briefen lässt 1 Kor 1 - 4 eine konsistente Verwendung der Numeri der 1. Pers. erkennen 62 : Der implizite Autor spricht in vier-

59

60

Vgl. Krug 2001, 157ft der allerdings mit der Behauptung, Paulus ahme mit der Schwäche den gekreuzigten Christus nach, über den Text hinausgeht (so a.a.O., 158 mit anderen); vgl. auch § 5.2.2 zu 2 Kor 10-13. Vgl. Wanamaker 2003,124ft.

61

Die 1. Pers. Sg. wird gegenüber einer 2. Pers. PI. in 1,10-17; 2,1-5; 3> 1_ 4·5· ϊ 7; Φ3 _ 5; 4,14-21 positioniert. Die hier genau ausgelegten metaphorischen Aussagen referieren also auf den Autor als singulares „Ich". 1. Pers. PI. und 2. Pers. PI. stehen sich gegenüber in 1,26-31; 4,6-13. Ohne korrespondierende 2. Pers. steht die 1. Pers. PI. in 1,1825 u n d 2,1-16 für ein christliches „Wir", dessen Extension unbestimmt bleibt, in 4,1t für eine Undefinierte Gruppe von Missionarinnen. - Vgl. dazu auch Verhoef 1996, 418-421; Byrskog 1996, 240-244 mit ähnlichen Beobachtungen.

62

Vgl. zur Frage den Exkurs nach § 2.

Aufbau und Anliegen von ι Kor 1 - 4

367

facher Rolle, als Christ, als Missionar u n d A p o s t e l unter anderen, als alleiniger G r ü n d e r der G e m e i n d e in Korinth u n d als A u t o r . Das „Ich" des Paulus steht erstens dort, wo der Autor sich als solchen thematisiert (4,6.14) und metasprachlich seine Aussage qualifiziert (εύχαριστώ 1,4; παρακαλώ ι,ιο; 4,16; Λέγω δέ ι,ΐ2; ούκ έντρέπων ύμας γράφω ταϋτα ά λ λ ' ... νουθετώ[ν] 4 Ή ) oder sich selbst als Subjekt mentaler Vorgänge in den Vordergrund rückt (ευχαριστώ 1,14; έμοί δέ ... 4,3; δοκώ γ ά ρ ... 4/9) v gl· auch έδηλώθη ... μοί ι,ιι). Zweitens referiert die 1. Pers. Sg. auf die Beziehung zwischen Adressatinnen und Autor, in der Vergangenheit (1,14-16; 2,1-5 > 3/2f.6.10; 4,15) und Gegenwart bzw. Zukunft (4,3.16-21). Neben diesem „Ich" steht ein „Wir", das eine klar umrissene Mehrzahl bezeichnet, Apollos und Paulus, in ihrem Gegenüber zu der angeschriebenen Gemeinde (3,9; 4,6). Die Plurale in 4,if.8-i3 referieren auf ein „Wir Verkündiger" bzw. „Apostel", dessen Extension nicht definiert ist, das aber die Adressatinnen ausschließt. Dies ist anders in jenen „Wir"-Passagen 1,18-25 u n d 2,616, die sich von ihrem Kontext nicht nur durch den abrupten Numerus-Wechsel, sondern auch durch das Allgemeingültigkeit behauptende Präsens und die fehlende Hinwendung zu den Adressatinnen absetzen63. Die Numerusvariation signalisiert Referenzwechsel, ohne jedoch die Extension des „Wir" zu präzisieren. Dies kann durchaus intendiert sein: Wer unter jene „Wir" zu subsumieren ist, die den Gekreuzigten verkündigen (1,23) und die Weisheit Gottes predigen, als Pneumatiker die Geheimnisse Gottes schauen (2,6-16), müssen die Lesenden selbst überlegen. D e r A u t o r stellt einerseits seine individuelle Rolle h e r a u s als V e r f a s s e r des Briefes u n d als M a h n e n d e r in diesem Sprechakt s o w i e als A p o s t e l Christi u n d V e r k ü n d i g e r in der G e m e i n d e . Andererseits nennt er die geistliche Autorität eines u m f a s s e n d e r e n „ W i r " , derer, die in der Verk ü n d i g u n g tätig sind ( 1 , 1 8 ; 4 , i f ) , b z w . der A p o s t e l ( 4 , 9 - 1 3 ) , u n d allgemeiner solcher, die mit d e m Geist Gottes begabt sind (2,12.16). P a u l u s betont also seine Beziehung z u r G e m e i n d e in der V e r g a n g e n heit u n d in der G e g e n w a r t des Briefes, ohne doch Inhalte der V e r k ü n d i g u n g u n d geistliche B e g a b u n g allein f ü r sich z u reklamieren. W i r erkennen hier eine doppelte Autoritätsstruktur, die f ü r unser Interesse an der B e z i e h u n g des P a u l u s z u r G e m e i n d e in Korinth v o n besonderer R e l e v a n z ist.

63

Dass sich hier Sosthenes als „Co-Autor" bemerkbar macht (so Murphy-O'Connor 1993, 569), ist hingegen vom Text nirgends indiziert. Der Brief signalisiert in 1,4 deutlich, dass nur Paulus als impliziter Autor verstanden werden soll. Nach der Nennung zweier Absender wird ohne weitere Erklärung erwartet, die 1. Pers. Sg. allein auf Paulus zu beziehen. (Zur Kritik an Murphy-O'Connor vgl. auch Verhoef 1996, 419f.) Auch dass die 1. Pers. PI. auf Paulus und Apollos referiere (so Smit 2002), ist vom Text nicht indiziert.

368

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Diese Gemeinde kann sich nicht zu diesen Autoritäten zählen. Ihr wird die geistliche Mündigkeit nicht nur explizit bestritten (3,1-4, vgl. unten). Auch der Brief selbst stellt die Gemeinde unter die Autorität des Verfassers. Er tritt der Gemeinde als Wissender gegenüber, behandelt sie als der Belehrung, ja der nachdrücklichen Mahnung bedürftig64. Diskursiv erarbeitet der Text so eine Machtposition. Insofern der Briefabschnitt aber argumentiert und mahnt, nicht befiehlt, schreibt er den Adressatinnen Eigenverantwortlichkeit und den Willen zu rationalem Diskurs zu und entschärft so jene Polemik. Zu beachten ist weiter, dass der Autor die Gemeinde nur als ganze anspricht65, obgleich er weiß, dass sich ein Teil der Adressatinnen einer besonderen Beziehung zu ihm rühmt. Er vermeidet, sich auf das Niveau dieses Streites zu begeben, indem er jegliche Anknüpfung an persönliche Anhängerinnen unterlässt. Dem entspricht auch, dass er die parteiische Beanspruchung seines Namens durch Gemeindeglieder nie aufnimmt in der 1. Pers. PL, sondern stets distanziert zitiert („Ich gehöre Paulus") und so auch repliziert (1,12t; 3,4f.22).

Dieser Auftakt mischt also Egozentrik und Bescheidenheit in einer Weise, welche, wie wir sehen werden, die ganzen folgenden Ausführungen charakterisiert. Ich-bezogen ist die Kommunikation, sind die Formulierungen, die Beispiele, welche die Gemeinde und die gemeinsame Vergangenheit betreffen (1,14ft; 2,1-5). Auch das Wissen um die eigenen Grenzen und die Verweisfunktion wird individuell formuliert, wie es auch der Gemeinde an seiner Person demonstriert wird (1,2631). Die Wirksamkeit des Paulus trägt aber das Signum des göttlichen Geistes und der Macht, und die Verkündigung der zentralen theologischen Uberzeugungen wird einem unbestimmten „Wir" zugeschrieben. Paulus reklamiert also nicht exklusiv für sich „Weisheit Gottes" oder pneumatische Begabung (1,18-25; 2,6-16). Geschickt allerdings lässt dieses „Wir" offen, wer außer Paulus dieses pneumatische Wissen hat.

2 Die Babys vertragen nur Milch (1 Kor 3,1-4) Mit dieser ersten lebendigen Metapher im 1 Kor schont der Autor die Adressatinnen nicht: Er spricht sie an als „Säuglinge in Christus",

64

Zu Mitteln dieser Strategie und ihrer Wirkung vgl. exemplarisch § 6.6 zu 1 Thess 4t.

65

Vgl. bereits die singularische Anrede als εκκλησία in der adscriptio 1,2 (mit M. Mitchell 1991, i92f). Auch in 4,18t adressiert er einzelne nur indirekt und lässt offen, um wen es sich handelt.

ι Kor

369

3,1-4

denen er nur Milch geben konnte statt fester Speise und die auch jetzt nicht mehr vertragen. Die Verse nehmen die Ausführungen 1,10ff auf und leiten über zu den von Metaphern geradezu dominierten Ausführungen 3,5ff 66 : Die Opposition von πνευματικοί und σαρκικοί knüpft an 2,6-16 an, 3,1 f wirft einen zweiten Blick auf das in 2,1-5 Geschilderte, 3,4 rekapituliert das Problem von ι,ιι 6 7 . Die Sequenz verknüpft nicht nur Kap.if und Kap.3t, sondern qualifiziert die gegenwärtige Kompetenz der Adressatinnen. Der Text setzt in 3,1 ein mit pointiertem κάγώ, mit dem das individuelle „Ich" des Paulus nach dem kollektiv und allgemein formulierten Abschnitt 2,6-16 wieder in den Vordergrund tritt, und der unmittelbar angefügten Anrede αδελφοί 68 . Beides erinnert wie das Vergangenheitstempus an 2,1, lässt also an die dort beschriebene Zeit der Anfangsverkündigung denken69. Die Opposition von pneumatischen und psychischen Menschen aus 2,13 t wird variiert aufgegriffen 70 und auf die Angeredeten appliziert. Mit ihnen war nicht wie mit πνευματικοί zu reden, sondern wie mit σάρκινοι 71 . Die Metapher νήπιοι έν Χριστώ paraphrasiert diese abwertende Qualifizierung, νήπιος ist eine in frühchristlichem Sprachgebrauch auch sonst begegnende Bezeich-

66

Z u r überleitenden Funktion vgl. auch Fee

67

Vgl. Vos 1996, i i 3 f f , der 3,1-4 als Pointe von i,ioff versteht, allerdings auf 3,5ff nicht mehr eingeht.

68

Dass die Anrede in Spannung stehe zur νήπιοι-Prädizierung (so R.F. Collins i K o r , 141), trifft nicht zu. Denn erstens bezieht sich in 3,1 die Anrede auf die Gegenwart, ν ή π ι ο ι auf die Vergangenheit, zweitens können auch Säuglinge Geschwister sein. Die άδελφοί-Metaphorik beschreibt keine Egalität (vgl. den Exkurs nach § 6).

69

Mit R.F. Collins i K o r , 142. Anders meint Lindemann ( i K o r , 76f), Paulus rede generell von der Beziehung zu seinen Adressaten, denn sonst bedeutete dies, „er habe in Korinth unzulänglich informierte Christen zurücklassen müssen", womit sich Paulus selbst die Verantwortung an diesem Zustand zuschriebe. Doch der durch die Temporalpartikeln hervorgehobene Tempuswechsel von V.i.2a.b zu V.2C zeigt zwei deutlich verschiedene Kommunikationszeiten. Die Metaphorik ist gerade so gewählt, dass die leicht verständliche Verkündigung implizit gerechtfertigt ist, weil sie den Rezeptionsfähigkeiten entspricht.

70

Während 2,i3f eine Opposition zwischen christlichen und nichtchristlichen Menschen aufstellt, geht es hier um eine innerchristliche Alternative (mit Voss 2 0 0 2 , 2 0 0 f f u.a.).

71

Z u Recht weist Weiß ( i K o r , 71; vgl. ähnlich Merklein i K o r Bd.i, 248f) darauf hin, dass die Formulierung mit ώς nicht den Pneuma-Besitz negiert, sondern nur die Ansprechbarkeit als πνευματικοί. Paulus sagt nicht, „die Korinther seien damals noch keine Pneumatiker gewesen" (so z.B. Voss 2 0 0 2 , 2 0 2 ) . - Genau genommen liegt ein Unterschied zwischen σάρκινοι („in der Art des Fleisches") und σαρκικοί (3,3, „ d e m Fleisch zugehörig"); es ist allerdings fraglich, ob der Text hier einen Unterschied machen will; vgl. Schräge 1 Kor Bd.i, 2 8 i f .

1

Kor,

i2if.

370

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

nung der Neubekehrten 72 , die eine aus weisheitlicher Tradition bekannte Metapher aufgreift 73 . Zwischen den Polen der Sinnlinie von σοφοί versus μωροί liegen die νήττιχη fast bei „Törichten" 74 . Als positives Gegenstück sind aus 2,6 die τέλειοι genannten Adressatinnen der Weisheit Gottes mitzuhören75. Die Opposition von 2,14 ist freilich damit verschoben, denn waren dort Christinnen und Nichtchristlnnen einander gegenübergestellt, so sind es hier νήπιοι έν Χριστώ, Christinnen76. Mit der Metapher wird die harte Aussage ώς σάρκινοι abgemildert. Denn die Metapher impliziert einen graduellen und überwindbaren Gegensatz. Auch deutet sie die Unreife im Anfangsstadium als legitim: Wie jeder Mensch als νήπιος anfing, so kann ein Beginn als νήπιος έν Χριστώ kein Fehler sein77.

72

Vgl. G r u n d m a n n 1958/59, der freilich den Z u s a m m e n h a n g des Bildfeldes verkennt; P. Müller 1992, 239ff.2g6ff; zur Bedeutung von ν ή π ι ο ς vgl. auch § 6.4.2 zu 1 Thess 2,7. Francis 1980 versteht ν ή π ι ο ι έν Χ ρ ι σ τ ώ als „immature, Christianly s p e a k i n g " (a.a.O., 50). Paulus spreche zunächst von der Erstmission, als die Korintherinnen noch keine Christinnen waren. Anliegen des Textes sei es also nicht, fehlende Fortschritte zu monieren, sondern einen Rückfall in die vorchristliche Zeit, ein "in fact being childish, a condition contrary to being spiritual" (43), insofern sie nicht begriffen hätten, dass ihr christliches Wissen das Leben bestimmen müsste. Diese Deutung ist schwerlich am Text festzumachen.

73

Vgl. v o n Lips 1 9 9 0 , 1 2 2 A n m . 1 2 und 343; P. Müller 1992, 240 t.

74

ν ή π ι ο ι kann in Psalmensprache auch im guten Sinne die Frommen bezeichnen (vgl. § 6.4.2 zu 1 Thess 2,7; Georg Bertram, Art. ν ή π ι ο ς κτλ., in: T h W N T 4 [1942] 9 1 3 - 9 2 5 : 918), und es gibt in weisheitlicher Sprache schärfere Bezeichnungen der Unwissenheit ( ά φ ρ ω ν etc., vgl. von Lips 1990, 27of; P. Müller 1992, 240).

75

Vgl. die Opposition von ν ή π ι ο ι und τέλειοι in i K o r 14,20; Hebr 5,12; Eph 4,13t; Philo, A g r 9; L e g A l l 1,94; Artemid 1,16; s. B A A s.v. Mit Schräge i K o r B d . i , 280, der die Bedeutung von τέλειος allerdings ungebührlich ethisch engführt.

76

Mit Schräge 1 Kor Bd.i, 279 u.a.

77

So verwendet 1 Petr 2,2 eine verwandte Metapher unkritisch; mit Schräge 1 K o r B d . i , 280; Konradt 2003a, 216; Voss 2002, 202. Anders Fee i K o r , 124, der meint, w e g e n der pejorativen Bedeutung v o n ν ή π ι ο ς bei Paulus sei auch diese in die Vergangenheit blickende Feststellung negativ. Er übersieht, dass der Text den Blickwechsel in die Gegenwart herausstellt (s.u.) und das Bildfeld das Verstehen leitet. A u c h Kammler 2003, 239t hält die Beschreibung bereits im Blick auf die Vergangenheit f ü r tadelnd. Seine A u s l e g u n g geht jedoch einen gänzlich anderen Weg, deutet sie doch ν ή π ι ο ς έν Χ ρ ι σ τ ώ durch die Opposition zu τέλειοι, worunter laut Kammler f ü r Paulus alle Christen zu fassen sind: „Bedenkt man nun, daß Paulus in 2,6 unter den V o l l k o m menen' nicht eine bestimmte G r u p p e innerhalb der christlichen Gemeinde, sondern alle Christen versteht, dann w i r d die Schärfe des Ausdrucks ν ή π ι ο ι έ ν Χ ρ ι σ τ ώ deutlich. Sind alle Glaubenden aufgrund ihrer Christuserkenntnis eo ipso V o l l k o m mene', dann kann es prinzipiell keine ,unmündigen Christen' geben. Kennzeichnet der Apostel die Korinther als ν ή π ι ο ι έν Χριστώ, so bedeutet es also in der Sache nichts anderes, als w e n n er sagen w ü r d e , daß sie überhaupt keine Christen s i n d "

ι Kor 3,1-4

371

3,2a.fr führt den metaphorischen Fokus weiter und zeigt, in welcher Hinsicht er zu verstehen ist: Paulus gab, dem Unvermögen der Korintherinnen entsprechend, nur Milch, nicht feste Speise78. Mit 3,2c lenkt der Text betont den Blick in die Gegenwart (νΰν) 79 , und nun kommt die „kalte Dusche" 80 . Was damals „noch nicht" (ούπω), aber entschuldbar war, ist „aber auch jetzt nicht", damit Zeichen einer Entwicklungsstörung 81 . „Immer noch" (έτι) sc. νήπιοί wird rückübersetzt in das kritischere σαριακοί (3,3α). Damit wird den Angeschriebenen bedeutet, dass sie praktisch noch auf der Stufe von Nichtchristlnnen stehen82. 3,3fr.4 geben die Begründung für dieses harte Urteil. Mit rhetorischen Fragen demonstriert der Autor nicht nur Souveränität 83 , sondern zwingt geradezu, dieses Urteil zu bejahen. Die Entwicklungsstörung zeigt sich an der „Eifersucht", dem „Streit", wie es in verstärkender Aufnahme von 1,10 heißt. Dies ist „nach Menschenmaßstäben wandeln". Die Formulierung κατά άνθρωπον περίπατειν trifft

(240, Hervorhebung übernommen). Da den Korintherinnen ihre Erwählung nicht abgesprochen werde, sei die Aussage schließlich als „hyperbolisch-polemische Rede" zu lesen, die den Adressatinnen zeigen wolle, „daß sie sich in einem elementaren Widerspruch zu ihrem ,Sein in Christus' befinden" (a.a.O., 243). Kammler opfert die Textwahrnehmung seiner Rekonstruktion der Argumentation von 2,6-16 und der Uberzeugung, dass Weisheits- und Kreuzesrede identisch seien. Er berücksichtigt weder die betonte Zeitdifferenz noch die didaktische Tradition der Metaphorik (die er einfach als irrelevant behauptet, a.a.O., 241), wie auch die weiteren Ausführungen 3,5 ff, die gleichfalls zeigen, dass die Korintherinnen der Einweisung ins Christentum durchaus bedürfen. Particula veri dieser Auslegung ist jedoch, dass Paulus „nicht eine Aussage über sich selbst als Verkündiger, sondern ausschließlich eine solche über die Korinther als seine Hörer intendiert" (ebd., z.T. mit Hervorhebungen), wenn auch nicht in dieser Ausschließlichkeit. Denn Paulus verdeutlicht mit dieser Metapher auch seine Rolle als Didakt der Gemeinde, die er später in eine „Vaterschaft" übersetzt. 78

Der Unterschied zwischen den Tempora von δύναμαι (Aor. 3,1; Impf. 3,2b; Präs. 3,2c) tritt wegen der Wortwiederholung besonders zu Tage. Das damalige Unvermögen der Korintherinnen wird also bereits durch das Impf, als andauernd gebrandmarkt.

79

Vgl. zu ά λ λ ' ού&έ BDR § 448,6.

80

Schräge 1 Kor Bd.i, 278.

81

Anders K. Berger 1984a, 198, der behauptet, hier würde mit ,,feste[m] Topos" auf den Rückfall ins Anfängerstadium hingewiesen.

82

Mit Schräge 1 Kor Bd.i, 278.

83

Vgl. Lausberg i960, 379t (§ 767) zur interrogatio.

372

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

präzis 8 4 . Unreif ist das Verhalten der Korintherinnen w e g e n ihrer Orientierung an Menschen, w i e eine R e m i n i s z e n z an 1 , 1 2 zeigt: „ I c h gehöre P a u l u s " , „ I c h gehöre A p o l l o s " . Diese Selbstidentifizierung geht f ü r d e n A u t o r g e n a u darin fehl, dass sie M e n s c h e n statt Gott oder das P n e u m a z u m Maßstab wählt. A u c h v o n Gott gesandte Missionare, die hier z u m Idol w e r d e n , sind n u r Menschen 8 5 . Die Relativität des Wirkens der Missionare zeichnen die f o l g e n d e n M e t a p h e r n g e n a u e r im Vergleich mit d e m w a h r h a f t w i r k e n d e n Gott 86 . Die Auslegungen gehen in verschiedene Richtungen. Mancher Exeget stößt sich an den Versen, weil sie anzuzeigen scheinen, dass Paulus eine zweistufige Lehre biete, zwei Stufen von Christinnen unterscheide, oder gar, dass die Ausführungen des 1 Kor nur „Milch", nicht die volle Botschaft seien87. Thüsing löst diese Spannung, indem er einen materialen Unterschied der Botschaft in Form von „Milch" und „fester Speise" negiert: Inhaltlich sei beides Christus, der Gekreuzigte. Der Text impliziere die Aufforderung, dass die Milch den Glaubenden zur festen Speise werde 88 . Auch Fee meint, "that the gospel of the crucified is both, 'milk' and 'solid food.' As milk it is the good news of salvation; as solid food it is understanding that the entire Christian life is predicated on the same reality"; es gehe nicht um die Notwendigkeit eines "change in diet", sondern eines Perspektivwechsels der Adressatinnen 89 . Nach Thiselton will der Text daher weniger zur Reife rufen, als vielmehr warnen vor der "self-centered competitive naivite which characterizes young children who have not yet learned to respect the interests of the Other ..." 9 °. Für Merklein

84

Vom Kontext und sonstigen Sprachgebrauch her wäre κατά σάρκα περιπατεϊν zu erwarten, doch die Formulierung κατά ά ν θ ρ ω π ο ν weist genau auf das Problem hin, ist also anders, als die die Kommentatoren meist behaupten, nicht mit κατά σάρκα austauschbar (vgl. so nur Schräge 1 Kor Bd.x, 283). Ungerechtfertigt sind auch Unterstellungen, Paulus polemisiere hier gegen das Selbstbewusstsein der Korintherinnen, nicht mehr (irdische) Menschen zu sein (mit Schräge i K o r Bd.i, 284; Konradt 2003, 216 Anm.90; so u.a. Brandenburger 1968, 136; Sellin 1982, 90-92; Voss 2002, 207; erwogen auch von Merklein 1 Kor Bd.i, 251).

85

άνθρωποι ist hier pejorativ zu verstehen, wie es bereits in den vorausgehenden Ausführungen durch Entgegensetzung zu θεός resp. πνεϋμα abgewertet wurde, vgl. 1,25; 2,5.9.11.13 (vgl. Merklein 1 Kor Bd.i, 247).

86

Vgl. insbesondere die Gegenüberstellung von Gott einerseits, Paulus und Apollos andererseits in 3,6-9.

87

Das Problem der Ausleger beschreibt Kammler 2003, 238ft; zu dessen Lösungsvorschlag vgl. Anm.77. Vgl. auch Schräge i K o r Bd.i, 282; er selbst hebt darauf ab, dass die „feste Speise" keinen neuen Inhalt bringe, sondern nur „vertiefende Explikation der Weisheit der Kreuzespredigt".

88

Thüsing 1967, 235-238.

89

Fee i K o r , 125; auch im Anschluss an Hooker 1966. Ahnlich Francis 1990 (vgl. Anm.72).

90

Thiselton 1 Kor, 291 (im Original mit Hervorhebungen) mit einem Hang zur Allegorese.

ι Kor 3,1-4

373

wiederum gibt Paulus jetzt feste Speise, nämlich die Paradoxie, dass gerade der Gekreuzigte der Inbegriff der Weisheit Gottes ist. Das hatte er den Korintherinnen bei seiner ersten Verkündigung noch erspart. Er wolle so den Widerspruch zwischen ihrem Anspruch und der Realität verdeutlichen 91 . Ein anderer Lösungsweg ist, das dem Paulusbild Widerstrebende den korinthischen „Enthusiasten" zuzuschreiben. So meint Voss, dass diese das Stichwort „Milch" eingebracht hätten, um die paulinische Kreuzesbotschaft abzuwerten, da sie selbst eine höhere pneumatische Stufe des Glaubens, der Weisheit beanspruchten. Paulus entwende diese Terminologie dann polemisch: Die Kreuzesbotschaft sei „Milch", die jene Enthusiasten noch nicht einmal verstünden. Unmündig ist für Paulus, „wer das Wort vom Kreuz für eine insuffiziente Basisverkündigung hält, und ... wahrhaft mündig, wer in ihm die letzte Wahrheit über Gott und die Welt begründet sieht" 92 . Konradt weist mit Recht darauf hin, dass es nicht um eine erkenntnistheoretische Frage geht, sondern Paulus hier „den in Korinth marginalisierten, ja geradezu abgeblendeten ethischen Aspekt der Pneumatologie ins Spiel" bringt: Er kritisiere, dass die Korinther nicht dem Geist bzw. der Kreuzesbotschaft entsprechend leben, was „Rivalitäts- und Statusgebaren" ausschlösse93. Halten w i r zunächst der A u s s a g e zugute, dass sie polemisch ist u n d insofern auch überzogen. Beachten w i r aber v o r allem, d e n Ü b e r l e g u n g e n z u r a n g e m e s s e n A u s l e g u n g v o n M e t a p h e r n ( § 3 ) entsprechend, den A u s s a g e k o n t e x t . Der F o k u s der M e t a p h e r ist äußerst k n a p p gehalten. Schon ein z u m Objekt β ρ ώ μ α p a s s e n d e s V e r b ist eingespart 9 4 , ebenso ist έ / δ ύ ν α σ θ ε elliptisch. Doch auch mit w e n i g e n Worten malt die M e t a p h e r ein Szenario u n d wertet kräftig. Sie r u f t A l l t a g s w i s s e n a b : Ein S ä u g l i n g verträgt bekanntlich n u r Milch, der e r w a c h s e n e M e n s c h braucht h i n g e g e n mehr als Milch. Für die A n t i k e w a r der ν ή π ι ο ς ohne Verstand, u n d der m a n g e l n d e Intellekt konnte sogar auf die Unfähigkeit, anderes als Milch zu sich z u nehmen, z u r ü c k g e f ü h r t werden 9 5 .

91

Merklein ι Kor Bd.i, 249t.

92

Vgl. Voss 2002, 204-206, Zitat 206. Er trennt dazu zwischen der Metapher und dem Rekurs auf die Parteienstreitigkeiten. Begründend verweist Voss darauf, dass νήπιος bei Paulus sonst nicht im Sinne eines kontinuierlichen Wachstums gebraucht werde (a.a.O., 206). Darum geht es jedoch nicht, sondern darum, dass mit dem Wort die Defizienz und Entwicklungsnotwendigkeit gesetzt sind.

93

Konradt 2003a, 216.

94

Zum Zeugma vgl. BDR § 479,2.

95

Vgl. Wiedemann 1989, 24t mit Anm.41.

374

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Das Sujet - Babynahrung - wird gemeinhin mit Mütterlichem assoziiert. Paulus wird daher gelegentlich als Mutter gesehen96, die Metapher oft zur Familienmetaphorik geschlagen97. Doch hier schweigen Fokus und Rahmen: Die Rolle des Paulus ist nicht definiert, sondern nur durch die damalige Handlung metaphorisch beschrieben. Wer da nährte, Mutter, Amme, Erzieher, ist unwichtig 98 . Der Autor stellt sich selbst nur dar als denjenigen, der die dem Vermögen adäquate Nahrung verabreichte. Auch von „Liebe" ist nicht die Rede99. Es geht vor allem um die Adressatinnen als „Säuglinge", um deren Vermögen, etwas „zu verdauen", νήπιο ι impliziert als Bezeichnung eines Entwicklungsstadiums die zukünftige Reifung, durch ούπω unterstrichen. Der Aussagekontext entwirft eine Zeitdifferenz von Einst und Jetzt100. Die erwartete Entwicklung ist ausgeblieben. Dass der Autor auch jetzt nur „Milch" gäbe, steht jedoch nicht im Text. Der Blick verharrt auf den infantilisierenden Adressatinnen. Die Metapher kann auf eine lebendige Ausgestaltung verzichten, weil sie an einem geprägten Bildfeld partizipiert, das den Kontext Erziehung evoziert.

96

So Furnish 1998, 235; R.F. Collins 1 Kor, 140; Bieringer 1994c, 244; Wolff 1 Kor, 64 mit Anm.230; Gaventa 1996, 199 (vgl. auch Francis 1980, der von "nurse" spricht). Gaventa korrigiert damit eine ungerechtfertigte Aufnahme Bradleys durch Yarbrough 1995, I32f. Dieser behauptet unter Bezug auf Bradley 1991, 37-75, Paulus stelle sich hier als nutritor dar. Der nutritor hat nach Bradley allerdings nur in Ausnahmefällen mit Milchnahrung zu tun (vgl. Gaventa a.a.O., io6f). - Mit Kindermilch die stillende Mutter bzw. Amme zu assoziieren, ist insofern berechtigt, als in der Antike Tiermilch aufgrund der kurzen Haltbarkeit vor allem in verarbeiteter Form genossen wurde (vgl. L.A. Moritz, Art. Milch, in: K1P 3 [1979] 1293t), während die Säuglinge bis ins dritte Jahr gestillt wurden und die Substitution der Muttermilch und die Verabreichung von anderer Nahrung nicht so leicht waren wie heute (vgl. § 6.4.2 zu 1 Thess 2,7).

97

Vgl. R.F. Collins 1 Kor, i4of (Bild von der Mutter); Wolff 1 Kor, 64 mit Anm.230.

98

Dies ist Gaventa entgegen zu halten, die - im Prinzip zurecht - darauf hinweist, dass sich i K o r 3,1-4 vom Bildfeld (vgl. dazu unten) insofern abhebt, als der Autor hier sich selbst in die Metaphorik einzeichnet. Dennoch entwirft der Text weder im Fokus noch ihm Rahmen der Metapher ein "self-designation as the nursing mother of the Corinthians" (1996, 109; rezipiert von Lindemann i K o r , 78, der deshalb die polemische Abzweckung in Frage stellt). Damit ist auch Gaventas Annahme hinfällig, dass die damaligen Leserinnen eine Spannung zwischen dem männlichen Apostel und der weiblichen Metapher ausgemacht hätten. Nach Gaventa (a.a.O., I09ff) präsentiert sich Paulus hier bereits wie in 4,9-13 in explizit niedriger Rolle (vgl. auch zu ihrer These § 1.2.3.1).

99

So etwa Furnish 1998, 235 ("strong bonds of affection").

100 Diese ist hervorgehoben durch den Tempuswechsel und die Temporalpartikeln.

ι Kor 3,1-4

375

Die Korrespondenz von Säugling und Speise und deren Ausdeutung auf ein intellektuelles Entwicklungsstadium ist nicht nur in Hebr 5,1z101, sondern auch mehrfach bei Philo und Epiktet greifbar 102 . Es handelt sich um ein Bildfeld, weil jeweils ein Bildspender - Nahrung für Säuglinge, speziell Milch, und schwerer verdauliche Kost - und ein Bildempfänger - das unterschiedliche Lernvermögen - verbunden sind. Der Kontext ist deutlich didaktisch: Bebildert wird der dem Begriffsvermögen angemessene Unterricht. Milch bzw. Säuglingsstadium stehen dabei für den Anfangsunterricht, der zwar Voraussetzung ist für den höheren Unterricht, die Speise für Erwachsene, aber dann auch ersetzt werden sollte103. Ungewöhnlich ist allerdings, dass Paulus sich selbst in dieses Bildfeld einschreibt. L e s e n w i r die paulinische M e t a p h e r v o r d i e s e m Bildfeld, so ist sie traditionell in der Visualisierung des u n r e i f e n S t a d i u m s u n d der entsprechenden intellektuellen Kost. Darin, d.h. in 3,i.2a.b, ist keinerlei Kritik z u hören. D o c h mit der W e n d u n g z u r G e g e n w a r t in 3,2c verlässt der Text das Bildfeld. Die Metapher stimmt zunächst ein in d e n traditionellen Gebrauch, u m d a n n gezielt z u treffen mit d e m entblößend e n S c h w e n k in die Gegenwartssituation. Uber die Qualität der gegenw ä r t i g e n Kost sagt der Text jedoch nichts. Die erwähnten Versuche der Ausleger, der Deutung auszuweichen, Paulus qualifiziere den 1 Kor als „Milchspeise", sind also eigentlich unnötig. Will man die Metapher dennoch auf die gegenwärtige briefliche Kommunikation beziehen, so lässt sich in zwei Richtungen weiterdenken: 1) Paulus verabreicht dennoch „βρώμα", seine jetzigen Ausführungen sind also „unverdaulich" für 101

Vgl. dazu ausführlich Thompson 1982, i7ff. Wie in 1 Kor 3,iff ist die Metaphorik im Hebr kritisch gebraucht, stellt Milch (γάλα) für Säuglinge (νήπιοι) der festen Speise (στερεά τροφή) für τέλειοι gegenüber, um die bleibende Abhängigkeit von der Lehre zu kritisieren.

102 Vgl. Philo, Agr 9; Congr 19; Prob 160; Migr 29; Som 2,10; Epiktet, Diss 2,16,39t; 3,24,9. Die Stellen sind z.T. im Neuen Wettstein (2/1, 251t), vor allem aber bei Gaventa 1996,104t aufgeführt. Vgl. später auch IgnTrall 5,1; Actjoh 45. Zum Bildfeld im Kontext philosophischer Diskussion um den erzieherischen Fortschritt vgl. auch Thompson 1991. 103 Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen: Philo, Agr 9 stellt die artes liberales als „Propädeutikum", als Milchnahrung für das Kindesalter den Tugenden gegenüber, die eine entsprechende Praxis aus sich heraussetzen, und daher Lernstoff für die erwachsenen Männer sind: έπεϊ δέ νηπίοις μέν έστι γ ά λ α τροφή, τελείοις δέ τά έκ πυρών πέμματα, και ψυχής γαλακτώδεις μέν α ν ειεν τροφαϊ κατά την παιδικήν ήλικίαν τά της εγκυκλίου μουσικής προπαιδεύματα, τέλειαί δέ και άνδράσιν έμπρεπεις αί διά φρονήσεως και σωφροσύνης και άπάσης αρετής ύφηγήσειςταϋτα γ ά ρ σπαρέντα και φυτευθέντα έν διανοία καρπούς ώφελιμωτάτους οϊσει, καλάς και έπαινετάς πράξεις. Epiktet, Diss 3,24 schlägt vor, sich selbst der Milch zu entwöhnen und der Philosophie zuzuwenden (ούκ άπογαλακτίσομεν ήδη ποθ' έαυτούς και μεμνησόμεθα ών ήκούσαμεν παρά των φιλοσόφων), statt wie die Kinder sitzen zu bleiben und zu weinen, wenn der Vertraute weggeht, bis er wiederkommt.

376

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

die Korintherinnen. 2) Paulus serviert auch jetzt nur leicht verdauliche Kost, seine Ausführungen sind didaktisches Propädeutikum. Das passt auf die folgenden metaphorischen Ausführungen gut. 3,1-4 leitet dann ein, was 4,6 abschließend als μετασχηματίζειν zusammenfasst (vgl. 3.6). Auch sind die exemplarischen Rekurse (1,26-31; 2,1-5) nicht auf abstraktem Niveau. Die Orientierung an Paulus als dem Vater und Vorbild (4,14-16) dürfte unnötig sein im Stadium der Reife - wenn die Korintherinnen „ohne uns herrschen", oder man gemeinsam „herrscht" (4,8, vgl. 3.7). Auch die Ausführungen von 1,18-25 und 2,6-16 über die Kreuzespredigt und die Weisheit Gottes lassen sich als „Milchspeisung" begreifen, insofern sie nicht die Gegenstände selbst - den Inhalt des Λόγος τοϋ σταυροί) (i,i8), die Bedeutung des Kreuzes (1,17) bzw. des gekreuzigten Christus (1,23), der θεοϋ σοφία έν μυστηρίω άποκεκρυμμένη (2,7) - darlegen, sondern auf der Metaebene über Kommunikation und Rezeption der Inhalte sprechen104. So gelesen, exkulpiert sich der Autor gegenüber jenen, die - um im Bilde zu bleiben - eine Veranstaltung für Graduierte erwartet hätten: Die Voraussetzungen dafür fehlen auf Seiten der Adressatinnen 10 '. Die Pointe der M e t a p h e r liegt in der polemischen B e w e r t u n g des g e g e n w ä r t i g e n A u f f a s s u n g s v e r m ö g e n s der Adressatinnen. D a s macht die F o r m u l i e r u n g u n d Innovation des Bildfeldes deutlich 1 0 6 . Kritisiert w i r d laut 3,4 aber nicht die christliche Theorie als solche, sondern die m a n g e l h a f t e Praxis, die exklusive B e r u f u n g auf die M e n s c h e n P a u l u s u n d A p o l l o s . Die f o l g e n d e n M e t a p h e r n erklären, w a r u m dies verfehlt ist. Die M e t a p h e r 3 , 1 - 4 hat mit ihrer didaktischen Tradition u n d der Beschreibung der Rolle des P a u l u s bereits das A u g e n m e r k auf die notw e n d i g e „ B e t r e u u n g " der A d r e s s a t i n n e n gelegt.

104 Vgl. ähnlich Kammler 2003, ic)if. 105 Diesen Aspekt der Selbstrechtfertigung betont Strobel 1 Kor, 75 ff einseitig. 106 Liest man den Text auf der Folie einer Hypothese über die Selbstsicht der korinthischen Christinnen, wie es die meisten Kommentatoren tun (vgl. z.B. Wolff i K o r , 63, der eine Korrektur des Geistverständnisses der Korinther annimmt), bekommt diese Polemik eine noch schärfere Spitze.

ι Kor 3,5

377

3 Die Rolle des Paulus, Apollos und anderer Mitarbeiter in der Gemeinde. Die metaphorischen Argumente im Kontext von ι Kor 3,5-4,13 3.1

Die Glaubensmittler (3,5)

3,5 knüpft direkt an die Frage 3,4 an: „Was ist Apollos? Was ist Paulus?" Die Frage kann als Uberschrift für die nächsten Abschnitte gelten 107 . Sie zielt auf die Bedeutung, nicht auf das Wesen der betreffenden Personen108. Wiederum in distanzierter Darstellung der 3. Pers. spielt der Autor auf die Parteiparolen an und gibt eine Bestimmung der Rolle des Apollos und des Paulus. Die Antwort fasst beide unterschiedslos zusammen unter der Funktionsbeschreibung διάκονοι ÖL' ών έπιστεύσατε, wie später unter andere Metaphern 3,9, vgl. 4,if. Beider Aufgabe wird also beschrieben im Blick auf ihre Relevanz für die Gemeinde. Unter der allgemeinen Funktionsbezeichnung διάκονοι lassen sich sowohl die gemeindegründende Arbeit wie auch die weitere Betreuung einer Gemeinde subsumieren 109 . Der Relativsatz präzisiert die Aufgabe als Glaubensvermittlung; der ingressive Aorist lässt auch in Bezug auf Apollos an Bekehrungserfolge denken 110 . Die Bezeichnung διάκονοι relativiert die Bedeutung, weil sie die Abhängigkeit vom Auftraggeber impliziert 111 . Eben diese quantifiziert auch der abschließende Nebensatz και έκάστω ώς ό κύριος εδωκεν 112 .

107 Eine gewisse Klammer u m 3,5-23 ergibt sich auch durch die Wiederholung der Namen in 3,22. xo8 Bei der Frage τί έστιν ... ist weniger an die sokratische Frageform zur Einleitung von Definitionsfragen (so Thiselton i K o r , 299 u.a.) als an Ps 8,5 z u denken, da es u m die Bedeutung von Menschen geht, nicht um Definitionen. Das Fragepronomen τί statt τις weist bereits darauf hin, dass es um die Rolle, nicht u m das Wesen von Paulus und Apollos geht (mit Clarke 1993,119). 109 Vgl. ausführlich § 4.2. 110 Mit Weiß 1 Kor, 76 und Merklein 1 Kor Bd.i, 259. - O b Apollos im Sinne des Paulus Apostel ist, ist ganz zweifelhaft: Gilt das oben Gesagte über die Bedeutung von α π ό σ τ ο λ ο ς als Erstmissionar vor Ort, dann w a r Apollos nach dem Bild in 3,6ff zumindest für die korinthischen Christinnen kein α π ό σ τ ο λ ο ς . So versteht auch 1 Klem 47,3f diese Sätze des 1 Kor. 111

διάκονος ist nicht Bezeichnung eines niedrigen Dienstes, wie gemeinhin behauptet; vgl. zur Diskussion § 4.2, zur Annahme der pejorativen Bedeutung in 1 Kor 3,5 etwa die Paraphrase „nichts weiter als ,Diener'" bei Weiß i K o r , 76; angedeutet auch v o n Lindemann 1 Kor, 80.

112

Vgl. z u m καί epexegeticum BDR § 4428.

378

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Nicht nur die Rolle, sondern auch die Ausdifferenzierung der Aufgaben wird auf unterschiedliche „Begabung" durch den Kyrios zurückgeführt 113 . Zusammengefasst wird so bereits die folgende Metapher, welche sowohl die prinzipiell gleiche Bedeutung der beiden Missionare in der Gemeinde als auch ihre unterschiedlichen Aufgaben abbildet114.

3.2 Die Landarbeiter (3,6-9) Die Metapher verdeutlicht die in 3,5 gegebene Antwort. Jetzt identifiziert der Autor sich durch emphatisches έγώ unter den Missionaren. „Ich habe gepflanzt, Apollos bewässert" 5 , Gott aber ließ und lässt wachsen". Das Bildfeld, aus dem die folgende Metapher geschöpft ist, ist traditionell, und zwar vor allem jüdisch 116 . Paulus verwendet die Vegetationsmetaphorik in der linearen Ausformung, d.h. den Prozess des Entstehens von Pflanzen darstellend 117 . Die Metapher, die immer wieder in atl. und nachatl. Texten begegnet, spricht von Israel als Gottes Pflanzung, um so das vorgängige Handeln Gottes zu verdeutlichen" 8 und gelegentlich die angemessene Reaktion einzuklagen" 9 .

113

Der Bezug von κύριος nicht auf Jesus Christus, wie meist angenommen, sondern auf Gott (so auch Heinrici i K o r , 119; Ollrog 1979, 68) liegt m.E. näher, weil die Bezeichnung διάκονος vor allem in Bezug auf Gott verwendet wird (vgl. §4.2) und weil auch die beiden folgenden Metaphern Gott als Subjekt der Missionsarbeit darstellen. Die Bezeichnug κύριος für Gott statt des im folgenden verwendeten θεός ist sinnvoll, weil sie die hierarchische Uberordnung impliziert. (Auf Christus deuten u.a. Weiß 1 Kor, 76; Wolff 1 Kor, 66f; Lindemann 1 Kor, 80).

114

Vgl. ähnlich Merklein 1 Kor Bd.i, 256t.

115

Zu dieser Ubersetzung vgl. Lindemarm 1 Kor, 80.

116

Vegetation ist als Bildspender weit verbreitet, vgl. §5.1.7; zum Text insbesondere von Gemünden 1993, 272ft; C.G. Müller 1995, 70-74.

117

Daneben dient die Zusammengehörigkeit von Baum und Frucht als Bildspender, vgl. von Gemünden 1993.

118

Vgl. bes. Jes 60,21; A m 9,15; PsSal 14,3-5; das Selbstverständnis der Qumran-Gemeinde als Pflanzung Gottes (1QS 8,5; 11,8; lQH 6,15; 7,i8f; CD 1,7); vgl. auch äthHen 93,15.10. Die Anwendung der Bezeichnung auf eine einzelne Gruppe ist also bereits in der Qumran-Gemeinschaft geläufig (mit Merklein i K o r Bd.i, 260). Die Metapher begegnet auch sonst in der intertestamentarischen Literatur zur polemischen Abgrenzung gegenüber anderen, nicht lebenden „Pflanzen", vgl. insgesamt Fujita 1976. Diese abgrenzende Implikation ist in 1 Kor 3 nicht gegeben.

119

Vgl. zu dieser prophetischen Tradition bes. Jes 5 , 1 - 7 ; Jer 2,21. - Ein intertextueller Bezug von 1 Kor 3 auf Jes 5, wie Hübner 1993,129 vermutet, ist vom Text nicht indiziert und gibt dem Text keine tiefere Bedeutung.

ι Kor 3,6-9

379

D a s Bildfeld beschreibt also traditionell v o r allem die Relation Gottes z u M e n s c h e n a l s s e i n e m E i g e n t u m . D a s s G o t t d a s W a c h s e n g i b t , ist ebenfalls eine biblische Überzeugung120. Der G e d a n k e , dass Gott L a n d a r b e i t e r b r a u c h t , d i e d i e s e n P r o z e s s i n i t i i e r e n , ist h i n g e g e n u n g e w ö h n lich121. D i e s e V a r i a t i o n i m B i l d f e l d in 1 K o r 3 , 6 - 9 lenkt d a s A u g e n m e r k auf die Position der „ L a n d a r b e i t e r " i m G e s c h e h e n z w i s c h e n Gott u n d seiner „ P f l a n z u n g " . Darauf deutet auch der Aussagekontext, der unsere L e k t ü r e leiten soll. D e n n d e r Text m a c h t d u r c h s p r a c h l i c h e Gestaltung u n d semantische Schlüssel deutlich, w o r i n die Pointe dieser Veget a t i o n s m e t a p h e r liegt. Dreimal w e r d e n Paulus, A p o l l o s u n d Gott in der selben Reihenfolge in ein Verhältnis gesetzt 1 2 2 . N a c h d e m Paulus sich eingangs identifiziert ( έ γ ώ έ φ ύ τ ε υ σ α ) , kehrt er w i e d e r zurück zur unpersönlichen Formulierung, die bereits in 1 , 1 2 t ; 3,4 den Rekurs auf die Parteiungen kennzeichnete. Die sprachliche Gestaltung stellt die Missionare u n d Gott einander gegenüber, besonders in V . 7 s o w o h l in der Formulierung als auch in der Semantik: W ä h r e n d P a u l u s u n d A p o l l o s auf ihre H a n d l u n g reduziert w e r d e n , w i r d θ ε ό ς in betonter Schlussstellung wiederholt, dabei adversativ v o n den anderen Partizipien abgesetzt. So w i r d sprachlich abgebildet, w a s inhaltlich als A n t w o r t auf die Frage 3,5a.b gesagt w i r d : W e d e r der, der pflanzt, noch der, der gießt, bedeuten etwas 1 2 3 , sondern nur Gott, der hier in jener atl. Tradition prädiziert w i r d als

120 Vgl. Gen 4i,52LXX; Lev 2 6 , g l . X X ; Hi 42,10LXX; 2 Kor 9,10. Zu αυξάνω mit Gott als Subjekt treten auch andere Objekte als Pflanzen. - Das Verb hat eine besondere Bedeutung durch seine Verwendung im Vermehrungsauftrag Gen 1,28 und in der Rezeption der Abrahamsverheißung (Ex 1,7; Apg 7,17t u.ö.). Zwar ist nicht explizit Gott als der genannt, der das Wachsen gibt, aber implizit in der Schöpfungs- und Verheißungstheologie vorausgesetzt. Vgl. weiter C.G. Müller 1995, 71 mit Anm. [Lit!]. 121

Die Innovation des Bildfeldes konstatieren auch von Gemünden (1993, 273) und C.G. Müller, der allerdings anders als von Gemünden (vgl. a.a.O., 275) daraus keine Folgen für die Bedeutung der Metapher zieht, sondern sie gelegentlich ekklesiologisch verwischt (die Gemeinde solle sich begreifen als Gottes Eigentum, als im Werden begriffen [a.a.O., 74]). 122 Vgl. V.6 - V.7 - V.8f, wobei im letzten Fall V.8b erläuternd zu V.8a tritt und so die drei Genannten auseinanderrückt. 123 Zu (ού) ειμί τι im Sinne von „etwas bedeuten" vgl. BAA Sp.453 s.v. εϊμι II.6b, vgl. bereits so 3,5 und ähnlich etwa Gal 2,6; 6,3. Zu scharf ist deshalb die Paraphrase Schräges, „daß sie [sc. die διάκονοι] tatsächlich ούδέν sind, ein Nichts aus dem nur Gottes Schöpfertat etwas zu machen vermag" (iKor Bd.i, 292, Hervorhebungen übernommen). Auch seine Deutung von V.9 schmälert die Bedeutung der Missionare mehr als der Text: „Der ganze Akzent aber ruht, wie schon die Voranstellung von θεοϋ zeigt, darauf, daß die Apostel nichts als ,Gehilfen und Handlanger Gottes' sind" (a.a.O., 294 unter Aufnahme einer Paraphrase von 3,9b durch Georg Bertram, Art. συνεργός κτλ., in: ThWNT 7 [1964] 869-875: 872,16). Der Text negiert die Bedeutung der Arbeit der einzelnen Missionare, nicht ihre Arbeit und Funktion und erst recht nicht sie selbst. - Weitere sprachliche Mittel, um zwischen den Missiona-

380

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

der, d e r w a c h s e n lässt. Diese s c h ö p f u n g s t h e o l o g i s c h e Ü b e r z e u g u n g lässt ein A r g u m e n t p e r a n a l o g i a m inferieren: Gott gibt w i e in d e r N a t u r a u c h hier d a s W a c h s e n . D e r B i l d s p e n d e r d e r M e t a p h e r bietet nicht n u r Relationen, H a n d l u n gen, s o n d e r n a u c h Implikationen v o n d e r e n B e d e u t u n g . Treten P a u l u s u n d A p o l l o s als „ E i n h e i t " ( ε ν ε ί σ ι ν , 3,8 1 2 4 ) in i h r e m W i r k e n auf, so w e r d e n d o c h U n t e r s c h i e d e nicht geleugnet. Bereits V . 5 a hatte i n d i v i d u elle A u f g a b e n angedeutet. B e i d e M i s s i o n a r e w e r d e n d a n n mit v e r s c h i e d e n e n H a n d l u n g e n v e r b u n d e n , betont d u r c h die R e k u r r e n z e n . Explizit d i f f e r e n z i e r t V. 8b, d e r eine K o r r e s p o n d e n z z w i s c h e n z u k ü n f t i g e m L o h n u n d A r b e i t s e i n s a t z unterstreicht, i n s b e s o n d e r e d u r c h d a s w i e d e r h o l t e , d i s t r i b u i e r e n d e ί'διον, ohne j e d o c h eine inhaltliche A u s s a g e ü b e r d e n U n t e r s c h i e d u n d d e s s e n B e w e r t u n g z u machen 1 2 5 , λ ή μ ψ ε τ α ι stellt die B e w e r t u n g d e m z u k ü n f t i g e n Urteil Gottes anheim.

ren und Gott zu differenzieren, sind der Tempuswechsel zwischen den punktuellen Aoristen έφύτευσα, έπότισα und dem durativen Imperfekt η ΰ ξ α ν ε ν , die Rekurrenz der Adversation άλλά V.6f; die drei asyndetischen, mit anaphorischem θεοϋ beginnenden Sätze V.9. 124 Zur Bedeutung B A A Sp.453 s.v. ειμί II.7. Ob dabei stärker an eine Gleichheit oder an Zusammengehörigkeit zu denken ist, lässt der Text offen (zur Alternative Thiselton i K o r , 303). 125 Vgl. auch Kuck 1992, i66f über 3,8 als Aussage über individuelle Entlohnung im endzeitlichen Gericht, μισθός und κόπος gehören dem Bildspendebereich zu, sind aber bereits stehende Metaphern für die endzeitliche Entlohnung und die missionarische Arbeit (gegen von Gemünden 1993, 274 Anm.44, die meint, mit V.8b sei die Metapher bereits verlassen). Vgl. zu κοπιαν von der landwirtschaftlichen Arbeit z.B. Jos 24,i3LXX; 2 Tim 2,6. Zu κόπος resp. κοπιαν vom missionarischen Einsatz vgl. §5.1.1 (s. i K o r 4,12; 15,10; 16,16; iThess 2 , 9 ^ , 5 u.ö.; vgl. bereits Jes 49,4LXX). Zu μισθός als Bezeichnung der eschatologischen Entlohnung vgl. M t 5 , i i f p a r ; 2joh 8. Als Bezeichnung des Lohnes der Landarbeiter steht es z.B. Mt 20,8. Vgl. Herbert Preisker, Art. μισθός κτλ. Α : Der Gebrauch der Wortgruppe μισθός κτλ., in: ThWNT 4 (1942) 699-707: 699,21ft (allgemein); 700,54ft (LXX); 701,12ft (Lohn, den Gott gibt), vgl. aber vor allem Konradt 2003a, 222ft zu 1 Kor 3,8a mit dem Exkurs 234ft zu Lohnvorstellungen im Frühjudentum und außerpaulinischen Frühchristentum. Mit ausführlicher Begründung zeigt Konradt, dass die hier metaphorisch eingefärbte Rede vom „Lohn" keinen unreformatorischen Verdienstgedanken implementiert. Darüber hinaus behauptet er, dass in 1 Kor 3,8b nicht die Rede sei von einer differenzierten Lohnzuweisung an Paulus einerseits, Apollos andererseits, sondern nur davon, dass „beide eine positive Beurteilung erfahren werden ..., und dabei wird Gott nicht auf ihre Weisheit, sondern auf ihren κόπος sehen" (a.a.O., 256). Indes scheint die Mühe, diesen Aspekt aus dem Text zu entfernen, vergeblich. Denn das wiederholte ί'διον legt eben diese Bedeutung der Differenzierung des Lohnes entsprechend dem Arbeitseinsatz nahe. Κατά ist am besten zu verstehen als Ausdruck der Entsprechung (von Konradt als abgeblasstes „ w e g e n " erklärt, a.a.O., 238), auch wenn der „Lohn" sicher, wie Konradt herausstellt (a.a.O., 252), nur positiv konnotiert ist, nicht Strafen beinhaltet wie in 3,15. Konradts entscheidendes Gegenargument, das könne nicht Intention des Textes sein, der ja der differenzierten Profilierung der Gruppenhäupter den Boden entziehen wolle (ebd.), verkennt die subtile Unterscheidung des Textes zwischen dem, was für Menschen gilt, und dem, was vor Gott gilt; vgl. dazu unten.

ι Kor 3,6-9

381

In V.g wird jedoch der Unterschied sprachlich nivelliert durch das inklusive συνεργοί έσμεν. Erstmals wird - bereits in der Überleitung zur folgenden Baumetapher und wie zuletzt in 3,5 - die Gemeinde in den metaphorischen Fokus einbezogen, die entgegen der Bildfeldtradition bislang ausgeblendet war. Ob wir uns unter γεώργιον eine Obstpflanzung, einen Acker oder einen Weinberg vorstellen sollen, bleibt offen 126 . Die Frage: τι ο ύ ν έ σ τ ι ν Ά π ο λ Λ ώ ς ; τί δε έ σ τ ι ν Π α ΰ λ ο ς ; (3,5) w i r d also in 3/6ff dreifach beantwortet, jeweils unter Rekurrenz des Verbs: Weder der Pflanzende noch der Gießende hat eine Bedeutung (οϋτε ... ούτε έστί χι, 3,7)/ beide sind eine Einheit ( ε ν είσι, 3,8), beide sind Gottes Mitarbeiter ( θ ε ο ϋ ... σ υ ν ε ρ γ ο ί έ σ μ ε ν , 3,9). Der Text oszilliert zwischen der Unterscheidung v o n Paulus u n d A p o l l o s u n d der Nivellierung der Differenz, gibt dabei jedoch ein schlüssiges Bild: Die H a n d lungen der Missionare sind unterscheidbar, insbesondere v o n Gott, aber die Wirkung beider ist unterschiedslos abhängig v o m Wirken Gottes. Im Vergleich mit diesem bedeutet ihre Arbeit nichts. Ist coram Deo ihre Individualität relevant (V.8b), so nicht coram hominibus. Hat die Arbeit des Paulus Priorität gegenüber der des Apollos, oder ist sie ihr gleichgeordnet? Die fokalen Verben deuten eine zeitliche Reihenfolge an: erst pflanzen, dann gießen 1 2 7 . V.8b spricht aus, dass Gott unterschiedlichen Arbeitseinsatz unterschiedlich w ü r d i g e n wird. Doch aus der Sicht der Gemeinde ist dieser Unterschied bedeutungslos. Im Blick auf das übergreifende Thema, die A u f s p a l t u n g der Gemeinde in Gruppen, die sich auf unterschiedliche Missionare beziehen, ist die A u s s a g e klar: Es zählen nicht die Mitarbeiter Gottes, sondern Gott selbst, der allein das Wachsen ermöglicht. Die Darstellung der Metapher beantwortet also die übergreifende Frage v o n 1 K o r 126 Vgl. zu den Möglichkeiten von Gemünden 1993, 274t: Vom Vokabular her ist eher an einen Weinberg oder Fruchtgarten zu denken, aber die Alternative ist nicht überzubewerten, weil auch in Obstgärten zwischen den Bäumen gesät wurde. Die Assoziation eines Weinbergs oder Obstgartens liegt aber auch deshalb näher, weil dessen Pflanzung nicht jährlich, sondern im besten Falle nur einmal im Leben nötig ist wie der Bau eines Hauses (vgl. Bach 1961, i9f). 127 Anders von Gemünden 1993, 274t, die darauf verweist, dass in Palästina und Syrien auch vor dem Pflanzen gegossen wurde, beide Akte also nicht zu scharf zu trennen seien. Ein rein zeitliches Nacheinander ohne Rangfolge sehen Vielhauer 1939, 79; Hainz 1972, 49.257 u.a. Doch die Metapher in 3,6ff zeigt in der stereotypen Folge der Verben eine Priorität des Pflanzens, wie sie 3,9ft; 4,14t dann herausstellen. Zu erinnern ist auch, dass nach antiken Wertvorstellungen das Altere als per se Besseres galt (vgl. Pilhofer 1990, 17ft). Dass Paulus mehr als ein rein zeitliches Nacheinander meint, sehen auch Roloff 1965, 1 1 1 ; Hübner 1993, 129 („Zwischen den Zeilen ist es deutlich zu lesen: Pflanzen ist doch mehr als Begießen"); C.G. Müller 1995, 75; Pöttner 1995, 287. - Dass man bei έπότισεν an Tauftätigkeit des Apollos denken solle (so neuerdings wieder Pöttner a.a.O., 295t), ist vom Text nicht weiter indiziert.

382

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

1,10ff, wer was für wen bedeutet. Sie gibt keine Antwort auf die Frage, welchen ontologischen Status die συνεργοί in der „Pflanzung Gottes" haben, etwa, ob Gott „wachsen" lassen könnte, ohne dass Paulus „gepflanzt" hat128. In den Schatten der deutlichen Aufforderung, sich als „Pflanzung Gottes" zu verstehen ( Υ . φ ) , statt in den Genitivrelationen, die nach 1,12 propagiert wurden 129 , sind zwei Details gezeichnet, die erst im Licht der folgenden Metaphern klarer erkennbar werden: Die Arbeit des Paulus bewirkte, unterscheidbar von der Arbeit anderer, den Beginn der Gemeinde, und Gott wird dies Arbeiten individuell bewerten. Im Medium der Metapher zeichnet der Text in aller Kürze also ein komplexes Beziehungssgefüge, dessen einzelne Komponenten nur zum Teil betont werden. Die Beziehung zwischen Gott und der Gemeinde ist durch die Tradition des Bildfeldes präsent, auch werun. sie erst am Schluss (3,9) expliziert wird. Neu ist die Erweiterung des Bildfeldes um die Missionare. Doch bereits die Metapherntradition legt die Wertung nahe, die der Text dann erarbeitet: Für die Menschen - nicht für Gott - sind die Missionare und ihre Individualität bedeutungslos im Vergleich mit dem Wirken Gottes.

3.3 Bauleiter Paulus, die Bauleute und der Tempel Gottes ( 3 , 9 - 1 5 . ^ ) Mit 3,9 leitet der Text von der Vegetations- zur Baumetapher über eine Bildmischung, die keinerlei Originalität beanspruchen kann 130 . Die Selbstprädikation θεοΰ συνεργοί ist geschickt gewählt, kann sie doch 128 Die Frage, ob θεοΰ συνεργοί Mitarbeiter Gottes oder gemeinsam für Gott Arbeitende bezeichnet, welche Relation also das Präfix bezeichnet (vgl. §5.1.1; zur Diskussion in Bezug auf 1 Kor 3,9 vgl. Ker 2000, 86f), ist wohl vom Text her nicht zu beantworten. Für die Mitarbeit mit Gott sprechen die parallelen Genitivverbindungen in 3,9, aber auch der sonstige Sprachgebrauch (vgl. dazu Ollrog 1979, 63-72). Die Funktion der Aussage ist dann, zu begründen (γάρ), wieso es Lohn gibt. (So lesen Schräge i K o r Bd.i, 293^ Wolff i K o r , 68; Ker ebd. u.a.). Eine strikte Subordination der so verstandenen συνεργοί unter Gott ist dennoch vom Kontext her unzweifelhaft. Versteht man unter συνεργοί Kollegen, unterstreicht das den Widerspruch gegen die Unterscheidungslust der Korintherinnen wie εν είσιν V.8a. (So lesen Furnish 1961; Ollrog a.a.O., 68; M. Mitchell 1991, 135; Thiselton i K o r , 306t; Lindemann 1 Kor, 82; R.F. Collins 1 Kor, I46f u.a.). 129 Vgl. so bes. Wolff 1 Kor, 67. 130 Der Wechsel zwischen Pflanzungs- und Baumetapher ist nicht neu. Das Paar B a u e n Pflanzen kommt bei Jer häufig mit Gott als Subjekt und Israel als Objekt vor, hier mehrfach ergänzt um die Destruktiva Ein- und Ausreißen (vgl. Bach 1961, 7 f f ) ; vgl. aber auch 1 Q S 8,5-10 oder Plato, Leg 643b; Philo, All i,47f.

ι Kor 3,9-17

383

sowohl in der einen wie in der anderen Metapher fokal fungieren, έργον wird im Folgenden mehrfach rekurrieren zur Bezeichnung des am Bau Gearbeiteten 131 . Der Abschnitt 3,9-17 ist deutlich inkludiert durch die Anrede der Gemeinde als θεοϋ οικοδομή 132 und ναός θεού 133 . Die so zusammengefassten Verse fokussieren jedoch unterschiedliche Elemente des Bildspenders nacheinander - den Bauherrn, die Bauarbeiter, einen Tempel - und haben eine gewisse Fliehkraft 134 . Unsere Analyse der Verse muss sich beschränken auf die Frage, wie das Bildmaterial verarbeitet wird und welche Pointe in Bezug auf das Verhältnis des Paulus und anderer zur Gemeinde und zu Gott metaphorisch vermittelt wird 135 . Die V e r w e n d u n g der Welt des Bauens als Bildspender f ü r Relationen oder konstruktive Prozesse ist w e i t verbreitet, w i e bereits oben ( § 5 . 1 . 2 ) skizziert w u r d e . Für das Verstehen v o n 1 K o r 3 relevant ist die V e r w e n d u n g des Bildspenders in B e z u g auf Kollektive. Fragen w i r i m engeren Sinne nach d e m Bildfeld, d.h. nach der Konzeptmetapher „ G e m e i n d e als B a u " , so finden w i r biblische Vorbilder in A u s s a g e n w i e der, d a s s Gott Israel „ b a u t " b z w . Israel oder eine bestimmte Gemeinschaft H a u s oder Tempel Gottes sind 1 3 6 . Für das Verstehen v o n 1 K o r

131

έργον legt im Unterschied zu κόπος (3,8) das Augenmerk auf das Ergebnis der Arbeit. Zur Verwendung von έργον im Zusammenhang mit Bauarbeiten vgl. die von Shanor 1988, 461t zitierte Inschrift aus Tegea in Arkadien (4. Jh. v.Chr.). Vielleicht ist έργον hier im Sinne von „Bau" verwendet (so E. Petersen 1941), doch nicht so zu verstehen, als baue jeder sein eigenes Haus (mit Schräge 1 Kor Bd.i, 301).

132 οικοδομή kann das Bauen und den fertigen Bau bezeichnen; vgl. Otto Michel, Art. οίκος κτλ., in: ThWNT 5 (1954) i22-i6i:i47f. Eine Festlegung (so Kitzberger 1986, 302) ist unnötig. 133 Die Inklusion und der einheitliche Bildspendebereich binden 3,9-17 zusammen (gegen C.G. Müller 1995, 8off, der die Analyse aufteilt). Damit ist nicht gesagt, dass vor 3,16 der Tempelbau zu assoziieren sei (so etwa Roloff 1993, 110f; Shanor 1988, 464; besonders aufwändig begründet Lacey 1991, dass Paulus von Anfang an an den Jerusalemer Tempel denkt; doch es geht nicht darum, sondern darum, was der Text signalisiert). 134 Darum kritisiert z.B. Lietzmann iKor, 17 „die ganze Allegorie vom Bau und der Feuerprobe [als] nicht glücklich", wohingegen Deissmann 1925, 246 gerade darin ein solches „Meisterstück des apostolischen αρχιτέκτων" erkannte, „daß die Bauleute und Freimaurer St. Paulus ruhig als ihren Patron erwählen könnten". 135 Vgl. zu den exegetischen Details und Diskussionen etwa Konradt 2003a, 258ff. 136 Für Einzelheiten vgl. oben §5.1.2. Zu ,,metaphorische[n] Präzedenzen" des Textes vgl. auch C.G. Müller 1995, 84ff.ioiff. Eine genaue Analyse der Kombination metaphorischer Motive, die in 1 Kor 3,ioff verwendet sind, fehlt jedoch und kann hier nur skizziert werden. Nur weil sie die spezfische Verwendung des Bildmaterials ignoriert, kann M. Mitchell 1991, 99 ff behaupten, die paulinische Baumetaphorik entspreche jener, mit der in politischen Reden um Einheit geworben werde (wie etwa Aristides, Or 23.31), und das Bild von der ungeteilten Kirche sei die dominante Metapher des Briefes (a.a.O., 100.104).

3«4

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

3,10-17 sind diese Feststellungen allerdings zu pauschal. Hier sind mehrere, sonst separat begegnende „Bau-Teile" kombiniert, die gemeinsam eine kreative Aneignung der Metapher darstellen: 1 ) Die Idee von der Gemeinde als Haus oder Tempel Gottes umschließt den Abschnitt (3,9.i6f) 137 . 2) Die statische Metapher von Christus als dem zentralen Element im Bau Gottes (3,11) begegnet nachpaulinisch als christologische Rezeption zweier atl. Sentenzen, Jes 28,16 und Ps 118,22, bei Paulus jedoch nur hier. 3) Die dynamische Verwendung des Bildspenders zur Bezeichnung des Bauprozesses, des Wachsens (3,10.12) erinnert an die paulinischen οίκοδομεϊνMetaphern von der „erbaulichen" Haltung zugunsten der Gemeinschaft bzw. einzelner ihrer Mitglieder 138 . Dynamisch ist auch die Metapher in Eph 2,19-22, da der Bau zum Tempel wächst, jedoch ist dort logisches Subjekt des Wachsens wohl Gott. Vom bauenden Gott redet in atl. Tradition insbesondere Jer 139 . 4) Zwar beschreibt die Metapher in 1 Kor 3,10 ff diese Dynamik, sieht aber die Bautätigkeit und Grundlegung nicht bei Gott140, sondern bei einzelnen Menschen 141 . Für die Intention des Textes ist dieser Aspekt, wie wir sehen werden, zentral. Er begegnet auch in Rom 15,20, wo wie in i K o r 3,10 ff das Fundamentieren als Aufgabe des Paulus im Unterschied zum Weiterbau gezeichnet wird 142 . Vom Bauauftrag des Paulus (εξουσία εις οίκοδομήν) sprechen auch 2 Kor 10,8; 13,10, vgl. 12,19 (s. §5.1.2.1). Anders als in diesen

137 Vgl. bereits oben § 5.1.2. Bei Paulus begegnet die Metapher außer in 1 Kor 3,io.i6f in individueller Engführung in i K o r 6,19; kollektiv auch in der im Blick auf die Authentizität umstrittenen Passage 2 Kor 6,14-7,1 in V.16. Eine Abhängigkeit des Paulus von der in den Qumrantexten greifbaren Vorstellung (vgl. Wolter 1978,113ff) ist dennoch unwahrscheinlich (so aber Braun i960,190; Klinzing 1971,167t.210); vgl. Schüssler Fiorenza 1976; Wolter a.a.O., 120; zu den Differenzen vgl. Roloff 1993, ii2f. Die Metapher ist unabhängig von Traditionen verständlich, wie die individuell bezogenen Metaphern vom Tempel bzw. Wohnort Gottes in paganen Texten zeigen (vgl. z.B. Ovid, Pont 2,1,31-35 und die weiteren Texte zum Wohnen Gottes im Neuen Wettstein 2/1, 252ff; vgl. Konradt 2003a, 280 Anm.407); vgl. auch Anm.162. 138 Vgl. oben §5.1.2. Mit anderem Objekt, aber ebenso dynamisch, begegnet das Verb übertragen auch in Gal 2,18. Wegen der terminologischen Überschneidung von θεμέλιος und οίκοδομεϊν wird gern auf die bei Epiktet, Diss II, 15,8-9 und oft bei Philo, z.B. Cher 101, greifbare Vorstellung von der geistigen Reifung als Bau auf einem Fundament verwiesen. Vielhauer (1939, 86) meint gar, Paulus habe diese Vorstellung vom Bauen und Fundament aufgegriffen und mit jüdischer Tradition verbunden. Doch dieser Vergleich erklärt den vorliegenden Text nicht, und die ekklesiologische Verwendung der Metaphorik bei Paulus scheint originärer. 139 S. z.B. Jer 18,9; 24,6; 31,4. 140 So aber unscharf Kitzberger 1986, 69 u.a. dort Genannte. 141

Ein Mensch wird gelegentlich als Bauender beschrieben (Jer 1,10), und der Vergleich eines αρχιτέκτων mit einem umsichtigen Politiker begegnet bei Plutarch, Praecepta gerendae (Mor 807 C3). 4QpPs 37,3-i5f nennt den Lehrer als „Erbauer der Gemeinde". Das allein ergibt jedoch kein prägendes Bildfeld.

142 Keine Parallelen sind jene ntl. Metaphern, die wichtige Funktionäre als Teile des Baus nennen (Mt 18,19; Gal 2,9; Eph 2,20), da diese nicht selbst bauen.

ι Kor 3,9-17

385

Paralleltexten w i r d in i K o r 3,ioff freilich betont, dass das jeweilige Werk geprüft wird. 5 ) D a z u w i r d aus einer anderen Tradition 1 4 3 u n d einem anderen Bildspender die Vorstellung einer „ F e u e r p r o b e " der Materialien eingeführt. Sie evoziert den G e d a n k e n an das Gericht. Ein B a u w e r k mittels Feuer zu prüfen, w ä r e eine sinnlos destruktive Methode. Gleichwohl k n ü p f t das M o t i v eng an das Element „ B a u m a t e r i a l " des Bildspenders an.

1 Kor 3,9 ff kann also als innovative Synthese verschiedener metaphorischer Traditionen gelesen werden. Doch nicht diese vielfältige Tradition soll das Verständnis der Metapher leiten. Wie in der Pflanzungsmetapher stellt das Bildfeld zwar den Bildhintergrund, die Relation von Gott und Gemeinde, bevor diese Relation in 3,16 f thematisiert wird. In den Vordergrund jedoch drängt sich, wie wir es für 3,6ff feststellten, zunächst die fokale Erweiterung der Metapher um Positionen, die in der Bildfeldtradition unbesetzt waren bzw. Gott zukamen: die Arbeiter am Bau. Die innovative Präzisierung des Bildes geht noch weiter als bei der Pflanzungsmetapher. Die Ausdifferenzierung der Arbeiten an der Gemeinde und die Ankündigung von deren Prüfung ist ihre wesentliche Intention144. Neben der Tradition wird aber auch Alltagswissen über den Bildspender abgerufen. Dieser Bildspender „Bauarbeiten" dürfte ein den A d r e s s a t i n n e n geläufiges Alltagsgeschehen abrufen, nicht nur, weil in Korinth z u jener Zeit viel gebaut wurde 1 4 5 . Der Bildspender bietet verschiedene Positionen, Relationen, H a n d l u n g e n : Der B a u selbst, diejenigen, die bauen, das W e r d e n des Baus, die Elemente des Baus, Baumaterial, die B a u p r ü f u n g , die Entlohnung der Bauarbeiter u n d die G e f ä h r d u n g des Baus können fokale Elemente darstellen, u m e t w a s neu zu beleuchten. Paulus nimmt in 1 K o r 3 , 9 - 1 7 alle genannten A s p e k t e auf. V. 10 beginnt analog z u 3,6, insofern hier die 1. Pers. Sg. u n d eine 3. Pers. metaphorisch korrelieren. Was in 3,6 z w a r nacheinander gestellt, aber parallelisiert w u r d e , w i r d jetzt s o w o h l temporal w i e fokal unterschiedlich qualifiziert.

143 So betont bereits Vielhauer 1939, 83, dass die Intention diese „heterogenen Bilder" zusammenhält. Zu den traditionellen Hintergründen der Feuerprobe vgl. insgesamt Hollander 1994; vgl. unten Anm.154. 144 So mit Recht Konradt 2003a, 258: „Verschiedene Arten des έποικοδομεϊν lassen sich anschaulich ausformulieren; das Bild des Bewässerns stößt hier an seine Grenzen ..." und weiter ebd. Anm.292: „έκαστος βλέπετω ώς ποτίζει machte keinen guten Sinn." 145 Vgl. zum „Baumboom" im römischen Korinth Furnish 1988, i6f; Lanci 1997, 25ff.32f. - Dass sich der Text von der Realität der Baupraxis her aufschließt, meint Shanor 1988:1 Kor 3 spiegele die Praxis, bei einem Bau Subunternehmer mit gewisser Eigenständigkeit anzustellen, die z.T. selbst das Material besorgten und erst nach erfolgreicher Arbeit entlohnt wurden (vgl. a.a.O., 462f.4Ö7).

386

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Der A u t o r äußert in V . i o a d a s Selbstbewusstsein, d a s F u n d a m e n t 1 4 6 gelegt z u h a b e n als „ s a c h v e r s t ä n d i g e r B a u m e i s t e r " 1 4 7 . Legitimiert w i r d dieses Selbstb e w u s s t s e i n d u r c h d e n an d e n A n f a n g gestellten H i n w e i s auf die B e g n a d u n g d u r c h Gott ( V . i o a ) . A u f dieses bereits gelegte Fundament 1 4 8 k a n n ein anderer n u r aufbauen 1 4 9 . A u f w e n ά λ λ ο ς referiert - auf j e m a n d Bestimmten o d e r i r g e n d j e m a n d e n - lässt der Text offen. Es geht i h m u m Prinzipielles, nicht u m bestimmte Menschen. Er reduziert d e n anderen M e n s c h e n auf die Qualität seiner Arbeit 1 5 0 . Z u d e n k e n ist freilich w e g e n des Präsens u n d der Weiter146 θεμέλιος ist das Fundament, genauer das Geviert der Grundmauern, nicht der Felsengrund (vgl. Fridrichsen 1994, im NT etwa Lk 6,48f; Apg 16,26). Es begegnet öfter als Bildspender; vgl. nur Jes 28,16; Eph 2,20; Rom 15,20; Hebr 6,1; 1 Q H 3,13; 6,26; 7,9, 1 Q S IX 3 (tt>lN resp. no); Philo, All 3,113; Her 102; SpecLeg 2,110 u.ö.; zu Epiktet vgl. oben. 147 σοφός αρχιτέκτων ist eine geläufige und sinnvolle Attribuierung, die z.B. in Jes 3,3 LXX; Philo, Som 2,8 begegnet. Die Selbstbezeichnung unterstreicht mit beiden Wörtern die Qualitäten. Bereits die Vorsilbe άρχι- zeigt die übergeordnete Funktion (BDR §ii8 2 ), σοφός stellt die Kompetenz heraus (vgl. Harald Hegermann, Art. σοφός, in: EWNT 3 [^1992] 624-626: 624t). Der αρχιτέκτων legt, anders als der moderne „Architekt", das Fundament, hat den Plan im Blick und damit eine größere Verantwortung als die Bauarbeiter. Vgl. zu seiner hervorgehobenen Rolle Plato, Polit 259 e8f: Και γάρ αρχιτέκτων γε πας ούκ αύτός εργατικός άλλ' έργατών άρχων; Aristoteles, Metaph 1, 98ia3o-bif: διό και τους αρχιτέκτονας περί έκαστον τιμιωτέρους και μάλλον εί&έναι νομίζομεν των χειροτεχνών και σοφωτέρους, οτι τάς αιτίας των ποιουμένων ϊσασιν; s. ΕΝ 7,11 ii52b2; 2Makk 2,29. Vgl. auch Spicq 1978a, 149-151; Shanor 1988, 465; Lanci 1997, 59. Dass Paulus mittels einer Anspielung auf Jes 3 sagen wolle, Israel habe in ihm einen neuen weisen Architekten, nachdem Gott strafend Israel alle genommen hatte, wie Hübner 1993, 131 für wahrscheinlich hält, ist vom Text nicht indiziert. Gleichwohl lässt es sich nach dem Weisheitsdiskurs als besonderer Anspruch hören (gegen Schräge i K o r Bd.i, 295 Anm.111, der eine polemische Spitze bestreitet; mit Wolff 1 Kor, 71 u.a.). 148 Signifikant ist der Tempuswechsel vom Aorist εθεκα V.ioa, dem das in der Sache resultative κείμενον V.ii entspricht, zum Präsens V.iob.c.11.12. 149 Das viermal wiederholte Präfix έπι- verdeutlicht, wie V.i2a expliziert, dass der Aufbau ein „Epiphänomen" ist, das jene Fundamentsetzung voraussetzt. Zu Recht sagt Schräge 1 Kor Bd.i, 297, dass nicht die Aufbauarbeit an sich, sondern ihr Wie zur Debatte steht. Wolff (iKor, 71) entnimmt der Metapher die positive Wertung des έποικοδομεϊν: „Damit keine Bauruine entsteht, ist kontinuierliche Weiterarbeit erforderlich". Dass die Metapher darauf zielt, zeigt der Text jedoch nicht an. 150 Zur abwertenden Funktion des „alienating" vgl. §8.2.2 ad Gal. Mit Schräge i K o r Bd.i, 295 ist an jede/n andere/n zu denken, der/ die in der Gemeinde wirkt. Vom Text nicht gestützt sind Thesen, dass Paulus gegen Petrus polemisiere (so sieht bes. Vielhauer 1975,348 ff eine Kritik am Primatsanspruch Petri, Lüdemann 1983,120-122 vermutet eine antipaulinische Petrus-Partei in Korinth; zu ähnlichen Thesen vgl. Konradt 2003a, 258f Anm.293 [Lit!]), oder dass Paulus eigentlich Apollos meine, ja dass άλλος auf Ά π ο λ λ ώ ς anspiele (vgl. zur These oben bei Anm.48); in diesem Sinne votieren Sellin 1982, 76; Kitzberger 1986, 70; Merklein i K o r Bd.i, 137.264; Pöttner 1995, 288f, der das aus der Rekurrenz des έκαστος aus 3,5 schlussfolgern will; Ker 2000, 88f; weitere Vertreter dieser Deutung bei C.G. Müller 1995, 91). Das präsentische Tempus im Unterschied zum Aorist 3,6 spricht gegen den Bezug auf Apollos, der nach 16,12 gerade nicht in Korinth ist.

ι Kor 3,9-17

387

f ü h r u n g mit έ κ α σ τ ο ς n u n an alle, die in der G e m e i n d e A u f b a u a r b e i t betreiben, nicht n u r a u s w ä r t i g e M i s s i o n a r e w i e A p o l l o s 1 5 1 . Im F o l g e n d e n w i r d die eigene A r b e i t des P a u l u s n u r n o c h e i n m a l indirekt thematisiert (V.11), u m ihren g r a n d l e g e n d e n C h a r a k t e r f ü r jeden, d e r später baut, m e t a p h o r i s c h z u behaupten 1 5 2 . D e r Text b e f a s s t sich sonst n u r mit d e r Qualität der A u f b a u a r b e i t d u r c h andere. V . 1 1 b e g r ü n d e t v o r allem die A u f f o r d e r u n g έ κ α σ τ ο ς δέ β λ ε π έ τ ω π ώ ς έ π ο ι κ ο δ ο μ ε ϊ (3,10c), mit der d e r α ρ χ ι τ έ κ τ ω ν P a u l u s eine V e r a n t w o r t u n g f ü r diesen Weiterbau v o n sich weist. D a z u w i r d d a s f o k a l e A r s e n a l in V.i2jf erweitert u m z w e i G r u p p e n v o n B a u s t o f f e n ( V . i 2 b ) 1 5 3 , d e n Begriff έ ρ γ ο ν f ü r d a s P r o d u k t u n d d a s E l e m e n t F e u e r als M e d i u m d e r M a t e r i a l p r ü f u n g 1 5 4 s o w i e die v o m E r g e b n i s d e r P r ü f u n g abhäng i g e E n t l o h u n g der Bauarbeiter 1 5 5 . D a s s so m e t a p h o r i s c h v o m Gericht g e s p r o c h e n w i r d , m a c h t der Text selbst klar d u r c h d a s F u t u r u n d die traditionell konnotierten S i g n a l w ö r t e r η μ έ ρ α 1 5 6 u n d ά π ο κ α λ ύ π τ ε σ θ α ι s o w i e

151

Mit R.F. Collins i K o r , 150; Konradt 2003a, 259^ Damit sind jedoch längst nicht alle Gemeindeglieder angeredet, wie Kitzberger 1986, 70 mit anderen meint, denn die 2. Pers. PI. und die 3. Pers. Sg. markieren unterschiedliche Referenten.

152 Mit Wolff 1 Kor, 71; vgl. ähnlich bereits Fridrichsen [ 1946 ] 1994, 230: Paulus gehe mit V.11 auf die mögliche Anfrage ein, warum sich die Warnung V.10 nicht an ihn richte: Er habe bereits das einzig mögliche, tragfähige Fundament gelegt. 133

Hervorgehoben ist die Aufzählung durch die Asyndetik. Deutlich ist, dass es hier nicht um sechs alternative Hausbauweisen geht, sondern nur um zwei Sorten von Material: beständiges, kostbares Material (Gold, Silber, Edelsteine [zur Diskussion um die Bedeutung von λίθοι τίμιοι vgl. Lindemann i K o r , 85]) oder vergängliches, billiges, brennbares (Holz, Heu, Stroh). Zwar konnten die Materialien auch (dekorativ) am Bau Verwendung finden, doch ist die Liste brennbarer und feuerbeständiger Materialien schon vom Gedanken an die Feuerprobe diktiert (mit Schräge 1 Kor Bd.i, 299t). Dennoch reizt die Aufzählung zu Allegorisierungen: Es sei an die Baustoffe der Sukka zu denken (so Ford 1975). Auch Anspielungen auf den Tempel (so z.B. Wolff 1 Kor, 72) oder den Bau der Stiftshütte (Ex 31,1-5, so etwa R.F. Collins i K o r , 151) werden erwogen (vgl. zu anderen möglichen Ableitungen C.G. Müller 1995, 87 mit Anm.i97f; Konradt 2003a, 263 mit Anm.317). Doch diese Assoziationen geben dem Text keinen tieferen Sinn.

154 Die Feuerprobe begegnet in Ps 66,10; Spr 17,3; 27,21; Sap 3,6; Sir 2,5; Sach 13,9; iPetr 1,7; Offb 3,18. Sprichwörtlich ist, dass Feuer Gold und Silber nichts anhaben kann. Es geht hier jedoch nicht wie in manchen der Texte (vgl. so z.B. schon Num 31,22t) um Läuterung. Möglicherweise ist das Feuer in V.13 zunächst eingeführt als Lichtspender, der das Dunkel offen legt (so Konradt 2003a, 265), doch dann wäre auch eine weniger agressive Lichtquelle denkbar. - Die Nähe zu dem schwer datierbaren Text TestAbr A 12 f macht wahrscheinlich, dass Paulus hier eine Tradition in seinem Interesse aufgriff, um anhand der zukünftigen Beurteilung im Gericht die Bedeutung des gegenwärtigen Handelns zu begründen (so Konradt 2003a, 273-278). 155 3,14b wiederholt hier 3,8b. Wie μισθόν Λαμβάνειν kann auch der negative Ausgang der Prüfung, ζημιοϋσθαι, der Welt des Bildspenders entstammen: Es bedeutet dann „finanziellen Verlust erleiden" (vgl. Konradt 2003a, 267!). 156 Vgl. bereits 1,8 (ή ήμέρα τοϋ κυρίου ήμών) und zu absolutem ήμέρα wie hier 1 Thess 5,4; Rom 2,16.

388

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

das Motiv Feuer, das zwar zum metaphorischen Fokus passt, aber auch in das Gerichtsrepertoire gehört (V.13) 157 . Viermal wiederholt der Text, durch anaphorisches εί hervorgehoben, die Struktur eines Bedingungssatzgefüges mit Futur im bedingten Satz 1 ' 8 und bindet so den Text trotz nochmaliger Motivverschiebung (ναός θεοϋ) zusammen unter das Thema von jetzigem Tun und zukünftigem Ergehen. V . 1 2 - 1 3 kündigt die Offenlegung und Prüfung (δοκίμαζε lv) an. Bereits mit der Aufzählung der Baumaterialien werden die beiden Möglichkeiten angedeutet, wie die Feuerprobe ausgehen kann. Diese Alternative wird in V.14 und V.15 durch strikte Parallelität herausgestellt 159 . V. 16f wechselt noch einmal die Perspektive und präzisiert die Metaphorik in einer Weise, die der anfänglichen Beschreibung der Gemeinde, θεοϋ οικοδομή έστε (V-9), korreliert, diese jedoch genauerhin qualifiziert 160 . Als „Tempel Gottes" wird die Gemeinde apostrophiert, und auch das Reden vom „Wohnen Gottes" und der Heiligkeit des Tempels rufen traditionelle Vorstellungen vom Heiligtum ab l6 \ Die ούκ-οί'δατε-Einleitung appelliert an das Wissen der Adressatinnen, also wohl an ein vorhandenes Selbstverständnis, „Tempel Gottes" zu sein162. Die Adressatinnen sind Bau der Einwohnung des Geistes, heiliger Raum, der vom Alltag abgetrennt ist. Doch geht es kaum um die Stärkung des

157 Vgl. Jes 26,11; 29,6; 31,9; 66,15; Ez 30,14; Joel 2 , 1 - 3 ; Mal 3,2.19 u.ö.; vgl. Hermann Lichtenberger, Art. πυρ, in: EWNT 3 (Hggz) 477-484: 48if; Konradt 2003a, 265 Anm.331. 158 Auch V.12 ist eher als Konditionalsatz zu verstehen denn als indirekter Fragesatz (mit Schräge 1 Kor Bd.i, 300). 159 Zu den Chancen desjenigen, dessen Werk verbrennt, also zur Deutung von ζημιωθήσεται, αυτός δέ σωθήσεται, οϋτως δέ ώς διά πυρός (V.i5b) vgl. Schräge i K o r Bd.i, 303f; Konradt 2003a, 269ft. 160 Vgl. Böttrich 1999, 416. 161

Vgl. ausführlich C.G. Müller 1995, loif zur Vorstellung von der Einwohnung Gottes im AT und Judentum.

162 Mit Böttrich 1999, 415. Möglich ist, dass dieses Selbstverständnis in der Urgemeinde formuliert wurde (so Schräge i K o r Bd.i, 288), aber für die Aussage von i K o r 3 ist dies ohne Belang: Die Korintherlnnen mögen an die Tempel ihrer Stadt gedacht haben wie an die o.g. paganen Metaphorisierungen. Wie Böttrich (1999) zeigt, ist der „Tempel" nicht nur jene Anlage in Jerusalem, sondern ein allgemeines Konzept; vgl. auch Land 1997, 89ft zum Symbolgehalt des Tempel-Bildes als "centering image" in der nichtjüdischen Kultur. Daher ist keine implizite Kritik am Jerusalemer Tempel erkennbar (so etwa noch Schräge a.a.O., 305; Merklein i K o r Bd.i, 27if), erst recht soll nicht der Jerusalemer Kultort substituiert werden (so besonders Wenschkewitz 1932; angedeutet aber auch von Roloff 1993, 113t: Der Anspruch sei, „daß das, was das Alte Testament vom Tempel sagt, nämlich daß er der Ort des Wohnens Gottes unter seinem Volk sei, in der Kirche zu seiner abschließenden Erfüllung gelangt ist"; zu entsprechenden Deutungen und ihrer Kritik vgl. auch Lanci 1997, 7ff und oben § 5·ΐ·3 )·

ι Kor 3,9-17

389

H e i l i g k e i t s b e w u s s t e i n s 1 6 3 , s o n d e r n u m d e n v o n e i n e m C h i a s m u s (3,i6b.c.i7c.d) inkludierten, seinerseits pointiert chiastischen K o n d i t i o n a l s a t z eines ius talionis: εϊ τις τ ο ν ν α ό ν τ ο ϋ θ ε ο ϋ φ θ ε ί ρ ε ι , φ θ ε ρ ε Γ τ ο ϋ τ ο ν ό θ ε ό ς ( V . i y a . b ) 1 6 4 . D i e s e implizite D r o h u n g f i n d e t ja ihre B e g r ü n d u n g ( v g l . γ ά ρ V . i y b ) in der T e m p e l - M e t a p h e r : D i e G e m e i n d e gehört Gott, sein Geist w o h n t dort, u n d d a r u m w i r d Gott A n g r i f f e auf ihre Integrität rächen 1 6 5 . D i e implizierte D r o h u n g ist a n d e r s als die W a r n u n g e n in V . 14.15 auf die G e g e n w a r t gerichtet u n d vers c h ä r f t : W e r jetzt d e n T e m p e l schändet 1 6 6 , w i r d selbst v o n Gott vernichtet w e r d e n . D e r F r e v e l ist größer, geht es d o c h nicht n u r u m u n z u l ä n g l i c h e s B a u m a t e r i a l , s o n d e r n u m aktive S c h ä d i g u n g , u n d eine R e t t u n g „ w i e d u r c h s F e u e r " ist d e m e n t s p r e c h e n d nicht in Sicht. U n v e r m i t t e l t hat sich mit der E i n f ü h r u n g d e s T e m p e l b i l d e s eine n e u e G e g e n w a r t s p e r s p e k t i v e eingestellt: D i e G e m e i n d e ist n u n nicht m e h r „ i m B a u " , s o n d e r n fertig, heilig 1 6 7 . D e r Blick kehrt a u s der Z u k u n f t d e r B a u p r ü f u n g e n ( V . 1 3 - 1 5 ) in die G e g e n w a r t zurück, in der die A u f b a u a r b e i t e n g e s c h e h e n ( v g l . έ π ο ι κ ο δ ο μ ε ΐ V . i o b . c . i 2 a ) , die G e m e i n d e aber bereits „ T e m p e l G o t t e s " ist.

Die Funktion des Paulus wird in der Metapher als Grund legend, von einzigartiger Autorität und unhintergehbarer Bedeutung beschrieben168, zugleich als abhängig und zugeordnet: Paulus baut kein Eigenheim, sondern das Haus Gottes (V.9b), und er legte als Fundament Jesus Christus 109 . Im Mittelpunkt des Textes steht jedoch eine Ankündi-

163 Nach Lanci 1997,128ff ist es der wesentliche Beitrag des Tempelbildes zum Baubild, die Gemeinde als Ganze als Wohnort des Geistes zu definieren in Opposition zu 3,1, wo Paulus den einzelnen das πνευματικός-Sein absprach. Damit werde zugleich die Grenze zwischen Gemeinde und Außenwelt markiert, ein wichtiges Anliegen auch des übrigen Briefes, und die Gemeinde als Anziehungspunkt der Außenwelt dargestellt wie ein Tempel "placed in the midst of the triving port city of Corinth" (133). 164 Es handelt sich nicht um einen Satz „heiligen Rechts" mit bestimmtem Sitz im Leben (so Käsemann 1968, 69t), sondern um eine Drohung, die mit einem verbreiteten Stilmittel die Angemessenheit der Strafe verdeutlicht (mit Konradt 2003a, 278ft). 165 Die Tempelmetapher inferiert die Unantastbarkeit des Heiligtums; vgl. treffend Strack 1994, 231t. 166 Vgl. zu dieser Ubersetzung Böttrich 1999, 416 mit Anm.24. 167 Vgl. Böttrich 1999,415-417 zum Text. 168 Mit Schräge i K o r Bd.i, 297 mit Anm.122 (Lit!); gegen Dodd 1999, 55t, der keine Vorzugsstellung des Paulus erkennen will und so seine Annahme stützen kann, dass Paulus in 1,10-4,13 in unangefochtener Autorität schreibt. - Man mag in 3,iof eine Entfaltung des "ethos-appeal" sehen (so R.F. Collins i K o r , 149), doch die Selbstdarstellung zielt hier auf die Gegenüberstellung zu anderen. 169 In der Auslegung fehlt es nicht an Versuchen, die Metapher aufzulösen. Vgl. schon Vielhauer 1939, 85, der Verkündigung und Lehre als Fundament und Weiterbauen identifiziert. Konradt 2003a, 261f.266f.283 will aus dem Kontext erschließen, dass hier eine Kontroverse zwischen kreuzestheologischer und weisheitlich profilierter Verkündigungsarbeit dargestellt werde (ähnlich Schräge 1 Kor Bd.i, 297). Solche Umsetzungen verkürzen das Potenzial der Metapher, die viel mehr beschreiben kann als eine bestimmte inhaltliche Verkündigung.

390

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

gung des Gerichts über das Wirken anderer in der Gemeinde. Die Gründungsarbeit des Paulus wird nur als Basis der Darstellung erwähnt, scheint nicht der Feuerprobe zu unterliegen. Aus dem Kontext ist klar, dass Paulus sein Wirken nicht vom Gericht ausgenommen sieht (vgl. 3,8b; 4,4t). Doch in der Darstellung, die er hier gibt, geht es nicht um die Probe seiner Arbeit, sondern die derer, die darauf aufbauen. Die Gemeindegründung scheint, liest man von V.i6f her, sakrosankt, weil ihr Ergebnis der bereits stehende Tempel Gottes ist. Die Gemeinde wird zunächst nicht adressiert, sondern indirekt jene, die sich am Weiterbau beteiligen. Die Tempelmetapher, welche die Gemeinde wieder anspricht, drängt den potenziellen Schädiger rhetorisch an den Rand, bildet ihn außerhalb der Gemeinde ab170. Hatte die Vegetationsmetapher der Arbeit des Paulus nur einen zeitlichen Vorsprung eingeräumt, so macht die Baumetapher eine qualitative Differenz zwischen dem fundamentierenden Wirken des Paulus, zu dem ihn Gott begnadet hat und das christologisch korrekt ist, und allem anderen, was danach kommt. Der Gestus des nahezu allwissenden Erzählers 171 , der Hinweis auf die verliehene χάρις, der Imperativ V.ioc sowie die impliziten Drohungen und die Darstellung der Feuerprobe, die das eigene Werk ausnehmen, unterstreichen diesen nicht graduellen, sondern kategorialen Unterschied zwischen Baumeister Paulus und nicht genannten Epigonen. Wie ist die Metapher im Blick auf das zuvor von Paulus Gesagte zu verstehen? Sie richtet sich nur mittelbar an die in 3,1-4.6-9 angesprochenen Adressatinnen 172 . Nicht die Selbstspaltung der Gemeinde wird problematisiert, die Gemeinde wird ja sogar als heilige adressiert, sondern das Wirken anderer an der Gemeinde. Drohung und Appell richten sich an diejenigen, die am von Paulus fundamentierten Bau

170 Gegen Konradt 2003a, 278, der die Drohung gegen Gemeindeglieder gerichtet sieht. Lanci liest hier einen Appell, der das Thema der Gemeindespaltungen (vgl. 3,18-23) in den Blick nimmt und versteht unter φθείρειν "damaging of the community by dissension" (1997, 68). Die Metapher selbst lässt das offen. 171

Der Erzähler weiß um die Kriterien Gottes, enthält sich jedoch eines Urteils darüber, wessen Werk bestehen bleibt.

172 So aber z.B. Merklein i K o r Bd.i, 266^276, der meint, Paulus appelliere an die Gemeinde, das Verkündigungswerk nicht zu werten. Auch C.G. Müller sieht aufgrund seiner ekklesiologischen Perspektive die ganze Gemeinde im Blick, nicht nur die „Mitarbeiter". „Jeder hat noch seinen Beitrag zu leisten" (1995, 94t Zitat 95); Paulus rufe die Gemeinde auf, ihre Heiligkeit zu wahren (110).

ι Kor 3,9-17

Gottes w e i t e r b a u e n b z w . ihn angreifen, w e r auch i m m e r d a s sei 1 7 3 . haben sich an die G r ü n d u n g s a r b e i t des P a u l u s z u halten, die deutlich abgesetzt w i r d v o n d e m , w a s danach k a m oder kommt. w i r d das Werk an der G e m e i n d e im Gericht p r ü f e n . W e r d e n schädigt, d e m droht Gottes Vergeltung.

3.4

391 Alle jetzt Gott Bau

Die religiöse Position der G e m e i n d e ( 3 , 1 8 - 2 3 )

Die letzten Verse des dritten Kapitels binden die vorausgehenden Ausführungen zusammen in einer erneuten Applikation auf die Gemeinde und setzen mit einer rhetorisch wirkungsvollen Klimax einen die Parteiparolen umkehrenden Schlusspunkt 174 . V. 18.21 führt mit dem Impr. der 3. Pers. die indirekten Warnungen weiter, welche die Baumetapher an jene richtete, die in der Gemeinde wirksam sind. Das Motiv der Inversion der Werte aus 1,18-25 wird in 3,i8b-2ia aufgegriffen und appliziert auf die Weisheit der Menschen vor Gott; hier wird der forensische Horizont wieder aufgerissen 175 . Damit ist nicht nur Eigenlob ausgeschlossen, sondern auch, sich der Beziehung zu einem anderen Menschen zu rühmen 176 . Angespielt ist auf die eingangs zitierten abgrenzenden Selbstidentifikationen (1,12; 3,4). Die in V.2ib-23 gegebene Begründung (γάρ V.2ib) wendet den Einspruch zu einer positiven Zusage, indem sie die Genitiv-Parolen, als Subordinationsrelationen gedeutet, invertiert: Alles, Missionare wie Welt, Leben, Tod, Gegenwärtiges und Zukünftiges gehören den Angeschriebenen 177 . Die Missionare stehen also unter der Gemeinde. Diese Formulierung trägt ein Absurditätsargument in sich: Es wäre sinnlos, sich eines Untergebenen zu rühmen. Die zutreffende und nichtexklusive, da pluralische Identifizierung wäre ήμεΐς Χρίστου, und damit letztlich ήμεΓς θεοϋ (V.23fin). Die nachgeordnete Rolle der Missionare könnte aufgefasst werden als Dienst an der Gemeinde wie in den Metaphern 1 Kor 9,19; 2 Kor 4,5''8 - doch hier führt 4,1 f präzisierend weiter.

173 Auch was inhaltlich als verfehltes Aufbauen zu begreifen ist, lässt der Text in der Schwebe. Der Appell, sich selbst kritisch zu begleiten, und die Drohung treten damit in den Vordergrund. 174 Die Beschreibung als peroratio (Bünker 1983, 57; Merklein i K o r Bd.i, 280; Schräge i K o r Bd.i, 311 u.a.) ist jedoch wegen der unmittelbaren Weiterführung in 4,iff nicht angemessen (mit Lindemann 1 Kor, 91). 175 Vgl. Merklein 1 Kor Bd.i, 281 in Bezug auf παρά Θεώ. iy6 Zu έν bei καυχασθαι als Bezeichnung des Objekts s. Schräge 1 Kor Bd.i, 313. 177 Hier klingt ein (freilich christlich begrenztes) Freiheitsbewusstsein an, wie es vor allem Stoiker formulierten, aber auch die jüdische Auffassung der Weltherrschaft des Gottesvolkes (mit Merklein ι Kor Bd.i, 283; Schräge 1 Kor Bd.i, 314). 178 Vgl. dazu § 5.1.1.1 und § 5.1.12.1. - Im Umkehrschluss mag das bedeuten, dass sich ein Missionar gleichwohl der Gemeinde rühmen kann, der er als Gründer „gehört", das tut Paulus auch gelegentlich, s. iThess 2,19 (s. § 6.5.1); Phil 4,1; vgl. 2 Kor 3,1-3. Allerdings kann Paulus 2 Kor 5,12 auch die Gemeinde auffordern, sich seiner zu rühmen.

392

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

3.5 Diener Christi und Haushalter der Geheimnisse Gottes (4,1-5) Das die folgenden Sätze verbindende Thema ist die Frage der Beurteilung 179 . Erneut blendet Paulus eine Metapher ein, um die Rolle eines nicht klar umrissenen „Wir" zu beschreiben als „Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes". Der Anschluss und der Fokus lassen an die in 3,22 erwähnten Missionare denken. Sie werden aber nun nicht wie in den anderen Metaphern in Relation zur Gemeinde gesetzt, sondern nur zu Christus und Gott unter Aufnahme eines verbreiteten Bildfeldes 180 . Man kann die Pragmatik der metaphorischen Beschreibung sowohl als Abwertung der Missionare gegenüber Gott verstehen 181 als auch als Aufwertung gegenüber der Gemeinde. Die Metapher scheint gerade darin ihre Pointe zu haben, die Zwischenstellung der Missionare ins Bild zu setzen182. Sie sind in abhängiger Position zu Gott und Christus gezeichnet. Damit wird wie in 1,13; 3,5ff.2iff (vgl. ούτως 4,1a) der Überschätzung der Missionare widersprochen. Aber es wird auch eine Deutung der Aussage 3,2ib-23 abgewehrt (vgl. λογιζέσθω 4,1), dass die der Gemeinde Untergeordneten nicht eigentlich im Dienste Christi und Gottes stünden. Durch ihre Indienstnahme und die Übertragung der „Verwaltung" kommt ihnen eine wichtige Rolle zu. Ihre allgemeine religiöse Aufgabe und Würde wird so bekräftigt. In letzterem Sinne wird aus dem Fokus οικονόμος in V.2 ein spezifischer Aspekt übertragen 183 , die vom Verwalter erwartete Verlässlichkeit (vgl. πιστός) 184 . Nicht ausgesprochen, aber im Folgenden vorausgesetzt wird, dass der Verwalter nur gegenüber dem Besitzer des verwalteten Gutes verantwort-

179 Vgl. Merklein 1 Kor Bd.i, 288t. 180 Vgl. zum Bildfeld §5.1.1. ύπηρέτης ist der untergeordnete, loyale, aber freie Bedienstete, der selbst aber auch über eine gewisse Macht verfügt (vgl. B A A s.v.; Karl H. Rengstorf, Art. ύπηρέτης κτλ. in: ThWNT 8 [1969] 530-544: 531t; Schräge 1 Kor Bd.i, 320). Auch der οικονόμος kann, muss aber nicht ein Sklave sein (vgl. zur Diskussion oben §5.1.1.1 zu i K o r 9,17; Byron 2003, 245-249). Er hat eine eigenständige Aufgabe in einem Haushalt, ist zugleich dem Besitzer untergeordnet, anderem übergeordnet (zur Bedeutung vgl. Otto Michel, Art. οίκος κτλ., in: ThWNT 5 [1954] 1 2 2 - 1 6 1 : 1 5 1 155; Spicq 1978b, 606-613; D.B. Martin 1990, 15-17). Wie im Zusammenhang der Metapher δοϋλος Χρίστου festgestellt (vgl. §4.3), ist der Status der Bediensteten auch bestimmt durch den Status derer, denen sie dienen. Darum kann ύπηρέτης Χρίστου, das anders als δοϋλος Χρίστου keine durch atl. Verwendung geprägte Metapher ist, wie entsprechende Metaphern in paganer und jüdischer Literatur in Bezug auf Gott einen hohen Status bezeichnen (vgl. Belege bei Schräge ebd.; Rengstorf a.a.O., 531). Als Verwalter der μυστήρια Gottes kommt den Missionaren ein hoher Status zu. 181

Nur pejorativ versteht Schräge die Metapher („Dienstleute und Handlanger ihres Herrn, ... nicht Besitzer eigener Mysterien", 1 Kor Bd.i, 320).

182 Mit Lindemann 1 Kor, 95 („nicht mehr, aber auch nicht weniger"). 183 Zum syntaktischen Anschluss von V.2 vgl. Merklein 1 Kor Bd.i, 292. 184 Vgl. einen ähnlichen Aspekt in den Gleichnissen Lk 12,42; 16,10f. Als logisches Subjekt von ζητείται muss man nicht an Gott denken. Die Erwartung an die Verlässlichkeit eines Verwalters wird allgemein geteilt.

ι Kor 4,1-5

393

lieh ist. Das erinnert an das alle „Bauleute" warnende Gerichtsbild aus 3,13-15. In V . 3 - 5 jedoch bezieht der Autor es auf sich persönlich und auf seine Wahrnehmung in der Gemeinde 185 , um den Adressatinnen die Relevanz ihres Urteils über ihn abzusprechen. Selbst besten Gewissens erwartet er das Urteil des Herrn, wenn er kommt186.

3.6

D a s Lernziel der A u s f ü h r u n g e n a n h a n d v o n P a u l u s u n d A p o l l o s (4,6f)

Auch ohne das Rätsel des kryptischen Halbsatzes τό μή ύπέρ ά γεγοατιται zu lösen1®7, lässt sich der metatextliche Satz V.6 verstehen 188 . Der Autor erklärt, warum er für die Adressatinnen an seiner und des Apollos Person das allgemeine Prinzip erklärt hat 189 : An ihnen beiden könnten sie lernen, dass „ihr euch nicht einer in Bezug auf den einen aufblast gegen den anderen". Damit bezieht sich der Autor auf die in i,iof kritisierten Selbstidentifikationen, denen eine Abwertung eines anderen Missionars oder seiner Anhängerinnen innewohnt. V.7 begründet dies in rhetorischen Fragen: Überheblichkeit verkennt, dass alles Gabe ist. Erinnert wird, dass man sich seiner nicht rühmen soll (1,29.31). Da der Autor explizit nur in 3,5-9 von Apollos und sich gesprochen hatte, ist zu erwägen, ob auch die Ausführungen 3,9-17; 4,if vor allem von diesen beiden Gemeindeheroen handeln. Der Autor sagt aber gerade mit V. 6, dass es ihm nicht um sich und Apollos geht und das Problem nicht bei diesen beiden liegt, sondern bei den Rivalitäten unter den Anhängerinnen beider 190 . Wie er so seine Absicht, die Lesenden zu belehren, offen legt, zeigt er denselben pädagogischen Eros des Autors wie 3,1-4 und 4,i4ff.

185 Vgl. das betonte έμοί δέ 4,3a. 186 Es ist gut vorstellbar, dass der Autor sich nicht nur prophylaktisch dispensiert, sondern auf Urteile der Adressatinnen reagiert. Dies vermutet Schräge 1 Kor Bd.i, 319. Gleichwohl ist es keine refutatio (so Bünker 1983, 75; Schräge ebd. u.a.), sondern „eine Selbstverteidigung oder - genauer - die Behauptung, eine solche sei gar nicht nötig" (Lindemann 1 Kor, 95). 187 Zur Diskussion vgl. Thiselton i K o r , 351-355· Sinnvoll ist die Erklärung Hookers 1963/64, es sei auf die Schriftzitate von 3,19t angespielt, oder die Wagners 1998, gemeint sei das Zitat von Jer 9,22t in 1,31. Erinnert ist damit an die Kritik des Rühmens. 188 Hier ist wie in Bezug auf 4,14 umstritten, worauf ταϋτα referiert (zu Lösungsvorschlägen vgl. Schräge i K o r Bd.i, 334 Anm.105; Dodd 1999, 45f). A m nächstliegenden ist der Rückbezug auf 3,5ft da hier Apollos und Paulus zu Exponenten der Darlegung werden. 189 Ich folge in der Deutung des viel diskutierten Verbs μετασχηματίζειν Vos 1995, bes. 170 ft. Zur Forschungsdiskussion über den als rhetorischer terminus technicus belegten Begriff, der gleichwohl auch in der Rhetorik Verschiedenes bedeuten kann, vgl. Vos 1995; Thiselton 1 Kor, 349-351; Anderson 1999, 245 ff. 190 Mit Litfin 1994, 227.

394

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

3.7 Der Status der Apostel gegenüber der Gemeinde (4,8-13) 191 A n die drei A n f r a g e n 4,7 schließen sich kritische A u s f ü h r u n g e n ü b e r d a s Selbstverständnis d e r G e m e i n d e an. D i e s e U n t e r s u c h u n g k a n n d e n Peristasenkatalog u n d seinen R a h m e n 1 9 2 nicht u m f a s s e n d w ü r d i g e n 1 9 3 , s o n d e r n n u r seine B e d e u t u n g i m A u s s a g e z u s a m m e n h a n g u n d f ü r die D a r s t e l l u n g der gegenseitig e n B e z i e h u n g . D i e A n a l y s e d e r K a t a l o g e i m p a u l i n i s c h e n B r i e f k o r p u s zeigt, d a s s sie j e w e i l s unterschiedliche A r g u m e n t a t i o n s f u n k t i o n h a b e n u n d d i e s e sich a u c h in d e r D a r s t e l l u n g der Peristasen selbst widerspiegelt 1 9 4 . D e m g e m ä ß sind einige Textdetails h e r v o r z u h e b e n , w e l c h e G r u n d l i n i e n d e r P r a g m a t i k e r k e n n e n lassen. 1 ) P a u l u s handelt nicht v o n sich selbst, s o n d e r n v o n , , ή μ ε ΐ ς οΐ α π ό σ τ ο λ ο ι " (4,9). D i e d i f f e r e n z i e r t e V e r w e n d u n g der N u m e r i d e r 1 . Pers., v o r a l l e m d a s δ ο κ ώ ( V . 9 a ) , zeigen, d a s s der P l u r a l α π ό σ τ ο λ ο ι nicht auf P a u l u s allein referiert, s o n d e r n auf eine größere, i m U m f a n g nicht definierte G r u p p e v o n A b g e s a n d t e n Christi 1 9 5 . Z ä h l t der A u t o r sich offensichtlich d a z u , ist d o c h z w e i f e l h a f t , d a s s er a u c h A p o l l o s dazurechnet 1 9 6 . W e n n die in 4 , i i f beschriebe-

191

Dass V.8 zum Folgenden zu ziehen ist, ist sehr wichtig für die hier vorgeschlagene, mir aus der Literatur nicht geläufige Deutung der Aussageintention von 4,9-13. Viele Exegeten fassen V.8 zu V.7 bzw. V.6f (vgl. Fitzgerald 1988,129; Merklein 1 Kor Bd.i, 303; Lambrecht 1996, 317). Bei dieser Zuordnung bleibt V.8b sinnlos. Doch das γ ά ρ indiziert V.ga einen kausalen Zusammenhang zwischen V.8 und V.9.

192 Der Umfang des Peristasenkatalogs wird unterschiedlich bestimmt, kann aber hier offen bleiben. 193 Vgl. Fitzgerald 1988, 117ft; Ebner 1991, 2off; Schräge i K o r Forschungsgeschichte Thiselton 1 Kor, 365-368.

Bd.i z.St.; zur

194 Vgl. Hodgson 1983, 63ft; Schröter 1993, i44ff.i52. Die traditionsgeschichtliche Diskussion darüber, ob die Peristasenkataloge eher aus atl.-jüdischer Tradition (so Schräge 1974, 165t; Kleinknecht 1988) oder aus stoisch-kynischer Tradition (so Fitzgerald 1988; Ebner 1991; Schröter 1993, 144ft) stammen, stellt eine falsche Alternative (vgl. Hodgson 1983) und ist für das Verständnis unseres Textes nicht relevant (vgl. ähnlich Schiefer Ferrari 1991, 23ff.i47, der allerdings die paulinischen Texte als einheitliche Kataloge sui generis sieht). Eine einheitliche Pragmatik ist aufgrund der Verbreitung ähnlicher Kataloge in weltanschaulich unterschiedlichen Texten verschiedener Schriftgattungen (vgl. die Ubersicht bei K. Berger 1984, 1355-1359; Schiefer Ferrari a.a.O., 80ff) auch unwahrscheinlich. 195 Mit Lindemann 1 Kor, 100.106; gegen Ebner 1991, der aus 4,14-16 schließen will, dass Paulus hier im schriftstellerischen Plural spricht; Schröter 1993, 1 5 9 f t der das als Darstellung des Paulus liest und den Katalog damit den anderen Katalogen einpasst, welche den paulinischen „Apostolat theologisch profilieren sollen" (a.a.O., 153 Anm.i); Pöttner 1995, 330, nach dem απόστολοι exakt auf Paulus und Apollos referiert. Eher gerechtfertigt ist die Deutung Merkleins 1 Kor Bd.i, 312, der Plural zeige, dass es nicht um Paulus, sondern um „die apostolische Existenz" gehe. 196 Zur Intension und Extension des Begriffs in der paulinischen Verwendung vgl. § 4.1; zur Frage, ob Apollos für Paulus ein „Apostel" ist, vgl. oben 3.1 Anm.iio. Falls der Text voraussetzt, dass man weiß, dass Apollos nicht Apostel ist und nicht so entsagungsvoll lebt wie Paulus, dann trägt er wie die Bau- und Erzeugermetapher auch eine kritische Note gegen diesen Missionar und profiliert Paulus ihm gegenüber.

ι Kor 4,8-13

395

nen Lebensumstände nach i K o r 9,5 f nicht von allen Aposteln geteilt werden, enthält der Text eine subtile Polemik gegen andere Apostel 197 . 2) Der Katalog zielt auf das Gegenüber von Adressatinnen einerseits, diesen Aposteln andererseits198. Eine gegensätzliche Würde explizieren die Antithesen V.10 199 . Auch die Lebenssituationen sind gegensätzlich geschildert durch die ironische Charakteristik der Gemeinde V.8 einerseits, die Beschreibung der faktischen Lebensumstände der Apostel V.iif andererseits 200 . Auf Seiten der Adressatinnen referiert Paulus allerdings nicht auf deren reale Situation, sondern ihre als enteschatologisierter Größenwahn 201 persiflierte Selbstsicht. Die Opposition zwischen Adressatinnen und Aposteln wird hier gekreuzt mit der zeitlichen Differenz zwischen dem, was angeblich „schon" erreicht ist, und dem, was „bis jetzt" tatsächlich ist202. 3) Der Katalog beschreibt die Stellung der Apostel vor der Welt, nicht in der Gemeinde oder vor Gott. Dies stellt das inkludierende κόσμος heraus (V.9.13). Der Gegensatz zwischen beiden Diskursuniversen war bereits dargestellt worden (1,18-2,16). Doch die Verachtung der Abgesandten als todgeweihtes „theatrum mundi" 203 kann ihre religiöse Autorität nicht in Frage stellen. Sie sind dennoch απόστολοι, Erste unter den Mitarbeiterinnen Gottes204. Die nach stoisch-kynischen Texten traditionellen Themen des Katalogs,

197 Dass δοκώ 4,gAnf. kann als Hinweis verstanden werden, dass der Autor hier seine Meinung wiedergibt und andere das anders sehen (vgl. ähnlich Pöttner 1995, 330). 198 Vgl. Fitzgerald 1988,132t zum synkritischen Charakter von V.8-13. 199 φρόνιμοι έν Χριστώ ist freilich nach 3,1-4 nur ironisch zu verstehen, mit Merklein i K o r Bd.i, 314; Schräge i K o r Bd.i, 343; Schröter 1993,162 u.a. Die anderen Beschreibungen müssen nicht ironisch gehört werden (so aber Schräge ebd.), insofern sie die weltliche Wahrnehmung zutreffend wiedergeben. 200 Gegenüber stehen sich Sattsein, Reichtum, Königsein einerseits, andererseits Hungern und Dürsten, mühsamer Erwerb durch Handarbeit und die „Letzten-Sein", was sich in vielen Details wie Verfolgtsein, Verachtetsein etc. niederschlägt. Vgl. auch Schräge a.a.O., 339t. 201 Die Charakteristik mag auf das Selbstverständnis des Weisen anspielen, der sich metaphorisch als reich und satt darstellt (Fitzgerald 1988, 133ft; Ebner 1991, 55ft; Merklein i K o r Bd.i, 310 mit Belegen). Die Tempora, Temporalpartikeln und das Stichwort βασιΛεύειν (vgl. βασιΛεία τοΰ Θεοϋ 4,20) legen nahe, dass der Text überdies - beides muss sich nicht ausschließen - das präsentische Heilsverständnis der korinthischen Christinnen ironisiert (vgl. Barclay 1992, 64, der dies mit einem unpaulinisch unapokalyptischen Zeitverständnis der korinthischen Gemeinde erklärt; Kuck 1992, 214-218 zur Begründung einer ethischen Deutung von 4,7t; Konradt 2003a, 2i8ff; dies korrigiert die von Schräge i K o r Bd.i, 338t u.a. favorisierte Sicht, die Korintherinnen verträten eine "realized eschatology "). 202 Vgl. die Inklusion des αχρι της άρτι ώρας V.iiAnf. - έως άρτι V . y f i n . in Opposition zu dem zweifachen ήδη V.8, unterstrichen durch das resultative Perfekt V.8. 203 Zur Bedeutung von περικαθάρματα und περίψημα als Schändliches, Abschaum vgl. Merklein 1 Kor Bd.i, 316 (Lit!). 204 Vgl. dazu §4.1.3 ad 4). εύλογοϋμεν und παρακαλοϋμεν (4,i2b.i3a) zeigen, dass die Apostel ihrem religiösen Auftrag trotz der Widrigkeiten nachkommen.

396

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Essen, Trinken, W o h n e n , K l e i d u n g , Arbeit 2 0 5 (4,11.12a), e m p f a n g e n ihren Sinn nicht erst d u r c h diese Tradition. A n diesen ist ja abzulesen, w e l c h e s L e b e n die A p o s t e l als K o n s e q u e n z ihrer A u s s e n d u n g f ü h r e n m ü s s e n , die eine sesshafte, „ b ü r g e r l i c h e " L e b e n s w e i s e ausschließt 2 0 6 . M e h r als d i e s e L e b e n s w e i s e ( V . n . i 2 a ) ist d a s n i e d r i g e Sozialprestige der A p o s t e l v o r d e r Welt ( V . i o . i 2 b . i 3 ) betont, d a s nicht m e h r z u unterbieten ist, g a n z i m G e g e n s a t z z u r a n g e b l i c h e n E h r e n s t e l l u n g der Korintherinnen 2 0 7 . 4 ) D i e E i n b i n d u n g , v o r allem V . 8 , gibt d e m K a t a l o g u n d s e i n e m R a h m e n eine b e s t i m m t e F u n k t i o n i m G e d a n k e n g a n g v o n 1 K o r 1 - 4 . D i e T e x t p a s s a g e ist trotz ihrer rhetorischen G e s t a l t u n g nicht als sachlicher H ö h e p u n k t d e r Kapitel a u f z u f a s s e n 2 0 8 . D e r W u n s c h V.8 2 0 9 ist der Schlüssel z u r A u s s a g e i n t e n t i o n : „ I h r seid s c h o n K ö n i g e o h n e uns. A c h hättet ihr d o c h die H e r r s c h a f t angetreten, d a m i t a u c h w i r mit e u c h z u s a m m e n herrschen ( k ö n n t e n ) " 2 1 0 . D i e s e n W u n s c h b e g r ü n d e t die B e s c h r e i b u n g d e r faktischen Lebenssituation d e r A p o s t e l „ b i s j e t z t " in V . 9 f f : Statt w i e die Weltverachteten unter w i d r i g e n B e d i n g u n g e n z u leben, w ä r e es schön, m a n könnte mit d e r G e m e i n d e z u s a m m e n reich u n d satt herrschen. Impliziert ist, d a s s dies u n m ö g l i c h ist, s o l a n g e die M e n s c h e n , z u

205 Vgl. Fitzgerald 1988,133ft zu Vergleichstexten; Schröter 1993,160 Anm.4. 206 Mit Merklein i K o r Bd.i, 314. Diese Abzweckung zeigt auch der Vergleich mit den anderen Peristasenkatalogen, die mehr auf Verfolgungen abheben, während der Hinweis auf die handwerkliche Erwerbsarbeit nur hier begegnet. - Aus der Aufnahme traditioneller Topoi ist nicht zu schließen, dass auch die Pragmatik derjenigen traditioneller Kataloge entspricht, nämlich den kynischen oder stoischen Weisen als Ideal des wahren, bedürfnislosen Weisen darzustellen; gegen Schröter 1993, i6of; Fitzgerald 1988, 147. Auch Ebner 1991, 2off, bes. 31.37 nimmt an, dass die stoische Form eines Katalogs in der 1. Pers. Sg. aufgenommen ist, und folgert daraus, dass auch hier die Pragmatik in der individuellen Selbstdarstellung des Paulus gegen Anfeindungen seitens der Gemeinde liege. Paulus stelle seine ideale Bedürfnislosigkeit den angeblich Weisen in Korinth entgegen (a.a.O., 55ff). Doch dass Bedürfnislosigkeit ein Ideal ist, lässt die paulinische Aufzählung nicht erkennen. 207 Zum Rekurs der Synkrisis auf die Kategorien von Ehre und Scham in der damaligen Kultur vgl. Strecker 1999, 292ff. 208 Als sachlichen Höhepunkt sehen den Peristasenkatalog z.B. Sellin 1987, 2951; Pöttner 1995, 127. - Zur rhetorischen Gestaltung s. Fitzgerald 1988, 129ft; Schiefer Ferrari 1991,183ff; Pöttner a.a.O., 32iff. 209 Der eschatologische Seufzer ist nicht ironisch zu verstehen (so Merklein 1 Kor Bd.i, 311). 210 Ubersetzung nach Merklein i K o r Bd.i, 299; zur Syntax vgl. Thiselton i K o r , 358. Dass es hier um die Relation der Missionare und der Gemeinde in Korinth geht und nicht, wie meist angenommen, nur um deren falsches Vollendungsbewusstsein, das durch den Hinweis auf die reale Existenz der Apostel widerlegt wird (so beispielhaft Wolff i K o r , 87), zeigt das kollektive „Wir" in V.8c.d. - Noch anders deutet Guttenberger Ortwein 1999, 26off den Zusammenhang: V.8 ironisiere nicht das Vollendungsbewusstsein in Korinth. Paulus akzeptiere das Hoheitsbewusstsein, kritisiere aber die Begründung durch Berufung auf Lehrer, weil so die weltlichen Statusmaßstäbe weitergelten. Dem setze er daher seine niedrige Existenz entgegen. Doch gegen diese Deutung spricht der plurale Bezug des Peristasenkatalogs und die Widerlegung des Hoheitsbewusstseins im Kontext.

ι Kor 4,8-13

397

d e n e n die A p o s t e l g e s a n d t sind, konkret die A d r e s s a t i n n e n , die P a u l u s betreut, selbst n o c h nicht d i e s e „ H e r r s c h a f t " erreicht haben. D a s s die K o r i n t h e r i n n e n bereits „ o h n e u n s " die H e r r s c h a f t erlangt hätten ( V . 8 c ) , hält P a u l u s f ü r p u r e E i n b i l d u n g , w i e er bereits in 3 , 1 - 4 u n v e r b l ü m t sagte (s.o.). P a u l u s kritisiert a n d e r G e m e i n d e v o n K o r i n t h also nicht n u r ihre Eschatonvergessenheit, s o n d e r n die d a m i t e i n h e r g e h e n d e Selbstsicht, der B e t r e u u n g u n d „ E r z i e h u n g " d u r c h A p o s t e l u n d M i s s i o n a r e bereits e n t w a c h s e n z u sein 2 ". U n d g e n a u d i e s e Linie setzt d e r A p p e l l 4,i4ff fort 2 1 2 . 5 ) D a s n i e d r i g e L e b e n d e r A p o s t e l ist also kein S e l b s t z w e c k , s o n d e r n v o n Gott v e r h ä n g t u m d e r M e n s c h e n willen, z u d e n e n sie g e s a n d t sind. G e r n w i r d d i e s e L e b e n s f o r m als „ C h r i s t u s - " o d e r „ k r e u z f ö r m i g " beschrieben 2 1 3 . D a s m a g i n s o f e r n berechtigt sein, als die A p o s t e l in d e r W e l t w a h r n e h m u n g „töricht u m Christi w i l l e n " sind (4,10), w i e d e r g e k r e u z i g t e C h r i s t u s (1,23). A b e r d e r Text stellt keine direkte B e z i e h u n g z w i s c h e n A p o s t e l n u n d C h r i s t u s her. D i e B e s c h r e i b u n g d e s L e b e n s d e r A p o s t e l k a n n d a h e r nicht als E n t w u r f einer f ü r alle C h r i s t i n n e n vorbildlichen o d e r g a r e r s t r e b e n s w e r t e n Existenzf o r m g e d a c h t sein 2 1 4 . 4 , 9 - 1 3 ist nicht v o r a u s e i l e n d e I n h a l t s a n g a b e d e r N a c h a h m u n g s f o r d e r u n g 4,i6 2 1 5 . V o r b i l d l i c h m a g diese apostolische E x i s t e n z d a r i n 211

Zum pädagogischen Rahmen, in das der Brief die Beziehung zwischen Apostel und Gemeinde einschreibt, vgl. unten 4. ad 4,i4ff·

212 Dass sich so ein Zusammenhang zwischen Katalog und Appell erkennen lässt, stützt unsere Interpretation, dass die Peristasen die Notwendigkeit des missionarischen Einsatzes wegen der Unvollkommenheit der Gemeinde illustrieren. Die Frage nach dem Zusammenhang zum folgenden wird sonst kaum gestellt. Nur Ebner 1991, 25 erkennt eine Korrespondenz zwischen 4,8 und 4,14t, zieht jedoch keine Schlussfolgerungen daraus. 213 Dies entfaltet inbesondere Schräge i K o r Bd.i, 333: Der Katalog solle „die Entsprechung des apostolischen Lebens zu Tod und Auferstehung Jesu illustrieren", um gegen die „realized eschatology" der Korintherinnen zu polemisieren. Inhaltlich bindet Schräge das an επιθανάτιοι (a.a.O., 341). Doch die Deutung, es zeige seine „Schicksalsgemeinschaft mit dem Gekreuzigten" (ebd.; vgl. ders. 1974), ist von Gal 6,17; 2 Kor 4,10 geleitet. Dort spricht Paulus aber von sich persönlich, nicht von „Aposteln" (zur Kritik s. auch Schröter 1993,150ff). 214 So auch Lindemann 1 Kor, liof. Paulus stellt auch sonst eine Korrelation zwischen seinem „Leiden" und dem seiner Gemeinden (iThess 1,6; 3,3t; 2 K o r 1,7; Phil 1,29) sowie seinem und Christi Leiden (2 Kor 1,5; 4,10; 13,3 f; Gal 6,17; Phil 3,10) nur her bezüglich seiner Verfolgungen. Auch dann geht es nicht um ein zu erstrebendes Leid, sondern um das Ertragen des unumgänglichen Leidens „ u m Christi willen". Davon zu unterscheiden sind die anderen misslichen Seiten seines Lebens wie die in 4,11t beschriebenen Peristasen und seine sog. Schwäche (vgl. §5.2.2) und der Unterhaltsverzicht. (Zur Diskussion um die Bedeutung des Leidens des Apostels für die Gemeinden vgl. vor allem Wolter 1990; von Lips 2001, die allerdings anders votieren als hier.) 215 So meint besonders Schräge, dass sich V.16 auf den Katalog zurückbezieht, und formuliert, Paulus empfehle „sein eigenes vom Gekreuzigten geprägtes Leben zur μίμησις" ( i K o r Bd.i, 331.333 u.ö., Zitat 331). Vgl. in diesem Sinne u.a. Sellin 1987, 3024; Wolter 1990, 552; Merklein i K o r Bd.i, 306 (es sei eine Mahnung, „nach dem Paradigma der apostolischen Existenz zu leben") und 327t zu 4,16 (es gehe um die „existentielle Applikation des Gekreuzigten", a.a.O., 328). Auch nach Lambrecht

39

8

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

sein, d a s s sie die n a c h weltlichen M a ß s t ä b e n verachtete, s c h ä n d l i c h e L e b e n s w e i s e erträgt. D o c h d e r Text sagt d a s nicht explizit; 2 , 1 - 5 hatte d i e s b e z ü g l i c h d e n G e m e i n d e g r ü n d e r v i e l deutlicher p a r a d i g m a t i s c h gezeichnet. 4 , 8 - 1 3 w i l l nicht eine christliche Existenz f ü r alle skizzieren, s o n d e r n an d e r d e n A p o s t e l n n o c h i m m e r a u f g e z w u n g e n e n L e b e n s w e i s e a u f z e i g e n , d a s s die G e m e i n d e in K o r i n t h w e i t e r h i n auf d e r e n B e g l e i t u n g a n g e w i e s e n ist.

4 Pater certus. Der metaphorische Schlussappell an die Kinder, ihren einzigen Erzeuger nachzuahmen (4,14-21) In den die Kapitel 1,10-4,21 abschließenden Sätzen appelliert der Verfasser - hier wieder individuell in der 1. Pers. Sg. - an die Adressatinnen. Das Bild vom Vater und seinen Kindern dominiert die Verse216. Die Auslegung der Stelle verweist in der Regel auf die liebende Beziehung des Vaters zu seinen Kindern217, genauer auf die Fürsorge218 oder Erziehungsfunktion219, den Vorrang des Vaters220, seine Autorität221

1996, 333 f trägt der Peristasenkatalog eine exemplarische Funktion, allerdings der untergeordnet, ein Gegenbild zur arroganten Selbstsicht der Korintherinnen zu bieten. In diese Richtung gehen auch die Deutungen Ebners (s. Anm.206), Fitzgeralds (vgl. 1988, 122.147) u r , d Schröters (Paulus stelle in 4,11.12a das „.eigentlich weise', damit aber dem Kreuz Christi entsprechende Verhalten dar", 1993, i6iff, Zitat 162), welche die Pragmatik aus der stoischen Gattungstradition ableiten wollen (vgl. dazu Anm.194 und 205). Auch für Kleinknecht 1988, 2o8ff.233ff, der den Katalog vor der atl.-jüdischen Tradition interpretiert, präsentiert Paulus sich als Vorbild, hier aber als leidender Gerechter und damit als Vorbild dafür, wie Konsequenzen des Handelns Gottes im Kreuz anzunehmen sind. 216 Fokal sind τέκνα μου αγαπητά, πατέρες, γ ε ν ν α ν (V.i4f) und μου τέκνον ά γ α π η τόν (V.17). Doch wie die folgende Analyse zeigt, gehören auch νουθετεΓν (V.14), παιδαγωγοί (V.15), μιμηταί (V.i6), ράβδος zum Herkunftsbereich Eltern-KindBeziehung, nämlich zum erzieherischen Aspekt dieser. 217 Vgl. Lietzmann 1 Kor, 21 (die Stimmung schlage um „und der Ton herzlichster Liebe drängt sich hervor"; er paraphrasiert: „Seht, ich schreibe euch das aus Liebe ..., alle anderen Lehrer ... können euch nicht so lieb haben wie ich"); Weiß 1 Kor, 115; Merklein i K o r Bd.i, 321 („gefühlsbetonte Vater-Kind-Metapher"); Ollrog 1979, I79f (die liebevolle väterliche Fürsorge sei dominant in dem Bild, einer Vorstellung aus dem Gefühlsleben); B. Sanders 1981, 353 ("deep affection"); Bieringer 1994c, 224, was den Ausdruck von Autorität ausschließe. 218 Ollrog 1979,180; Wolff 1 Kor, 93; Lang 1 Kor, 66; vgl. auch Strobel 1 Kor, 93 („ Er will nur ihr Bestes, wie ein Vater für seine Kinder"). 219 So meint R.F. Collins i K o r , 193t die Entwicklung des Sohnes müsse sichergestellt werden. 220 Ollrog 1979,179-181. 221 So Joubert 1995.

χ Kor 4/14-21

399

oder seine einheitsstiftende Funktion222. Vorgeschlagen wird auch, dass Paulus sich als philosophischer Lehrer darstellt223. Doch ist methodisch kontrolliert zu prüfen, wie die „Erzeugerschaft" im Text genauer gezeichnet ist. Zu klären ist weiter die Verbindung zur Nachahmungsaufforderung (4,16), und worin diese Nachahmung bestehen sollte. Offen ist auch, wie die Alternative von 4,21 - „Stock" oder „Liebe" beim nächsten Besuch - zur Metapher 4,14t passt. Schließlich provoziert der Text die Frage, wie die einzigartige Funktion des „Erzeugers" und die Nachahmungsaufforderung das Briefanliegen rückwirkend prägen.

4.1

Die Struktur der Verse

V.i4f expliziert das Anliegen des Briefautors. Der indifferente Anschluss mit ταϋτα in V.14 lässt allerdings offen, ob er den letzten Sätzen, d.h. dem Peristasenkatalog 4,9-13, den Ausführungen ab 4,6 oder 1,10-4,21 gilt. Dies ist nach der Auslegung zu klären (4.6.2). Wichtig für das Verständnis der Verse ist ihr durch Partikeln angedeuteter argumentativer Zusammenhang: V.14 interpretiert das Schreiben als Ermahnung von Kindern. V.i5a begründet die Anrede der Gemeinde als „meine geliebten Kinder". V.i5b begründet seinerseits V.i5a. V.15 ist also nicht Explikation der Opposition von V.14, würden παιδαγωγοί 2 2 4 beschämen, Väter ermahnen. V.16 wird als Schlussfolgerung (ούν) aus V.i4f eingeführt. Die semantische Analyse wird zeigen, dass die Nachahmungsaufforderung aus der Vaterschaft" gefolgert wird.

222 So Burke 2003a: Paulus wähle gezielt eine Metapher des antiken Haushalts, um das Nebeneinander verschiedener Hausgemeinden zu beenden. 223 So Schmeller 2001, 130-138. Paulus nehme mit einer philosophischen Metapherntradition (vgl. dazu 4.3) auf die Streitenden in Korinth Bezug, welche ihre Missionare wie verehrte philosophische Lehrer gegeneinander ausspielten (a.a.O., i i 4 f f ; zum Kontext der These vgl. § 1.2.2.4). Ungewöhnlich ist die Deutung Schmellers insofern, als sie die Tausende παιδαγωγοί und den einen Vater nicht als exklusive Gruppen verstehen will. Paulus wolle sagen: „Die anderen sind nur Pädagogen, ich dagegen bin darüberhinaus auch euer Vater!" (a.a.O., 136, Hervorhebung übernommen). Damit will Schmeller die eingangs benannte Spannung zwischen Autoritätskritik und -anspruch lösen (vgl. bes. a.a.O., 132), übergeht jedoch den Textduktus seit 3,5 und die Exklusivitätsdarstellung in 4,14-21. 224 Um falsche Assoziationen auszuschließen, verwende ich das griechische Wort, bis die Aufgabe eines παιδαγωγός erklärt ist (unten 4.3).

400

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Die Sendung des Timotheus (V.i7) wird mit δια τοΰτο begründet 225 , das am besten kataphorisch auf die Erinnerungsaufgabe des Timotheus (V.17C) bezogen wird 226 . Die Ankündigung des Timotheus leitet zur Frage über, wann Paulus persönlich wieder nach Korinth kommt (V.18-21). Die Antwort schließt eine Polemik gegen Leute ein, die sich ob seines Ausbleibens überheben. V. 1 9 - 2 1 beschreiben drohend die Möglichkeiten des baldigen Besuchs. V.21 erinnert noch einmal an die Metapher aus V.i4f und bindet so den Abschnitt zusammen. Doch die Alternativfrage lässt dem Briefabschnitt ein offenes Ende und spielt den Ball zurück nach Korinth.

4.2 Kinder werden ermahnt: Es bleibt in der Familie (V.14) In V.14 erklärt der Autor die Absicht seiner Worte und skizziert dazu die gegenseitige Beziehung der Briefpartner metaphorisch - eine rückwirkende captatio benevolentiae. Dass das Geschriebene nicht als gezielte „Beschämung" der Angeredeten gedacht 227 sei, ist betont. Sowohl die Position der eigentlich zu γράφω gehörenden Negation vor έντρέπω 2 2 8 als auch die Anfangsstellung dieses Satzteils heben die metasprachliche Aussage hervor. Der Satz ist insgesamt chiastisch konstruiert, gespiegelt um die adversative Partikel άλΛά, so dass das Gegenüber zu έντρέπων, νουθετώ(ν), mit Achtergewicht am Ende steht. Beide Verben klammern die Wörter ein, die jeweils auf die Angeredeten referieren (ύμας bzw. ώς τέκνα μου). Die Ellipse des Objekts beim zweiten Verb - zu ergänzen ist wiederum ύμας - hebt die Näherbestimmung τέκνα μου α γ α π η τ ά nach der adversativen Partikel hervor229, ώς führt hier keinen Vergleich ein, sondern die Eigenschaft, auf die es Paulus ankommt230. 225 Anders R.F. Collins i K o r , i92ff (vgl. ders. 1996), der mit Blick auf antike Brieftheorien einen Ermahnungsbrief (V.14-16) und einen Empfehlungsbrief ( V . 1 7 - 2 1 ) unterscheiden möchte; diese letzten Verse seien eine Art brieflicher peroratio (innerhalb des Briefes; Collins bestreitet nicht die literarische Zugehörigkeit von Kap.5ft). 226 Eine kataphorische Beziehung des δ ώ τοϋτο auf den Relativsatz ist grammatisch möglich, doch aufgrund des sachlichen Zusammenhangs zu V.16 unwahrscheinlich (mit Conzelmann 1 Kor, 112 Anm.20). 227 Zur finalen Funktion des Partizips vgl. BDR § 4i85. 228 Vgl. BDR §433, und §4303 z.St. 229 Die syntaktische Deutung hängt an der textkritisch schwierigen Entscheidung, ob parallel zu γράφω νουθετώ zu lesen ist, so dass die Handlung schärfer hervorgehoben ist (Weiß 1 Kor, 115; Wolff 1 Kor, 93 Anm.392.), oder ob wie meist νουθετών gelesen wird, was die Opposition schärft und dem Partizip finale Bedeutung gibt (zur Differenz vgl. Lindemann 1 Kor, 113). Der grundlegende Sinn ist so oder so klar. 230 Vgl. B A A s.v. III (vgl. ähnlich wie hier Kuschnerus 2002, 48).

ι Kor 4,14

401

Die Prädizierung „als meine geliebten Kinder" stellt eine andere familiäre Beziehung in den Vordergrund als die zuvor sechsmal verwendete Adresse αδελφοί 231 , τέκνα sind Kinder im Sinne des Abstammungsverhältnisses, nicht jedoch notwendig kleine Kinder 232 . Das Possessivum legt den Ton auf die Verwandtschaft. Das Attribut αγαπητός zeigt, dass es nicht allein um Genealogie geht, sondern um warme Gefühle. Paulus verwendet es auch sonst als hervorhebendes Epitheton für Gemeindeglieder oder ganze Gemeinden. Hier ist aber vor allem an die Gepflogenheit zu denken, Familienmitglieder so zu bezeichnen233. Das Epitheton sollte jedoch, was den transportierten Affekt angeht, nicht überschätzt werden 234 . Die Metapher verdeutlicht die mit der Opposition έντρέπειν νουθετεΐν umrissene Intention des Autors 235 , νουθετεΐν κτλ., ermahnen, zurechtweisen 236 , ist biblisch recht geläufig 237 , und ein vergleichender Blick verschiedener Vorkommen zeigt den Gehalt des Wortes: Es steht oft parallel zu παιδεύειν κτλ. 238 , gehört also zum Feld der Erziehung. Meist setzt es ein Gefälle von der mahnenden Seite zur ermahnten voraus, und es wird, biblisch und außerbiblisch, vom Vater gebraucht239. Ermahnung ist eine Handlung innerhalb einer bestehen-

231 1,10.11.26; 2,1; 3,1; 4,6. 232 Vgl. P. Müller 1992, 191. Dass τέκνον nicht das geringe Alter impliziert, sondern oft von erwachsenen Kindern verwendet wird, belegt Delling 1970. Gleichwohl lässt der Kontext, Erziehung, an jüngere Kinder denken, wie die Prädikation τέκνα an die Beschreibung als νήπιοι έν Χριστώ 3,1 erinnert, die allerdings explizit nur auf die Anfangszeit der Gemeinde referierte, während sich 4,14 auf die Gegenwart der Kommunikation bezieht. 233 Belege bei B A A s.v. Sp.10; vgl. genauer § 6.4.2 ad 1 Thess 2,8. 234 Mit Wischmeyer 1986, 478. Dies wird etwa deutlich an der Subsumption der ά γ ά π η unter die christlichen Tugenden, z.B. Gal 5, aber auch an der Verbreitung der Anrede in den paulinischen Grußformeln. 235 In der Regel wird die Opposition von V.15 her gefüllt. Das entspricht jedoch nicht der Argumentationsstruktur, da V.15 begründend auf V.14 folgt. 236 Vgl. zur Bedeutung Johannes Behm / Ernst Würthwein, Art. νοέω κτλ., in: ThWNT 4 (1942) S.947-1016: l o y f ; Schenk-Ziegler 1997, 267t und auch insgesamt zum Konzept der „correctio fraterna", zu 1 Kor 4,14 a.a.O., 334-337. 237 Vgl. Schenk-Ziegler ebd. 238 Behm ThWNT 4,1013 mit Anm.3. 239 Vgl. z.B. Euripides, Fragm. 779.9; Plato, Rep 560 ai; Fragm.incert.poetarum 1257; Herodot, 3,36; Philo, SpecLeg 2,232; Josephus, Ant 3,311; 4,260; Bell 1,481; Prov 2,2; SapSal 11,10; PsSal 13,9; Eph 6,4; Clemens Alexandrinus, Prot. 9,82,3; s. Gutierrez 1968, i9off; Spicq 1978b, 586f mit Anm.3. Wenn es im NT (iThess 5,12.14; Rom 5,14; Tit 3,10; Kol 3,16; Apg 20,31 u.a.) und den Apostolischen Vätern (vgl. Behm ThWNT 4,

402

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

den Beziehung240. Sie geschieht, weil es zu Fehlverhalten gekommen ist. Paulus grenzt sie von „Beschämung" ab. Der Zusammenhang zwischen Nicht-Beschämen und Kindesverhältnis ist nicht auf den ersten Blick evident241, klärt sich aber eingedenk der kulturanthropologischen Einsichten in das antike Konzept von Beziehungen zwischen Konkurrenz um Ehre und Vermeidung von Schande242. Έντρέπειν 243 deutet auf die Dualität von Ehre, Ruhm und Schande, die im Briefteil bereits mehrfach anklang, zuletzt in 4,8-i3244. In diesem Konzept ist die Familie - d.h. die weitere Blutsverwandtschaft - ein Raum, in dem nicht um Ehre konkurriert wird, sondern in dem man sich gegenseitig Ehrenhaftigkeit unterstellt, während man den Nicht-Verwandten gerade im Gegenteil Ehre abspricht245. Der Unterschied zwischen έντρέπειν und νουθετεΐν liegt also nicht in der Form der Kritik, sondern in der jeweiligen Beziehung zwischen Kritiker und Kritisiertem. Zurechtweisung geschieht innerhalb der Beziehung, besonders von Eltern, dringt auf Besserung, die die Störung in 1016) für die innergemeindliche, gegenseitige Ermahnung verwendet wird, fehlt zwar die äußere Hierarchie, sachlich aber besteht ein Gefalle, wenn der/die Ermähnte sich etwas hat zuschulden kommen lassen. 240 Besonders deutlich ist das in Tit 3,10. 241 Einigen Exegeten leuchtet nicht ein, wieso der Verweis auf das Kindesverhältnis Beschämung ausschließt. So meint z.B. Weiß 1 Kor, 115, auch Kinder müssen gelegentlich beschämt werden (vgl. ähnlich Heinrici i K o r , 160). Nach Merklein beschämt auch ein Vater, wie Paulus es tut - und die Korinther könnten die Ausführungen kaum anders denn als beschämend verstanden haben (1 Kor Bd.i, 323t). Schräge hält den Gegensatz für misslungen. Er fragt: „Warum sollte nicht auch eine Zurechtweisung geliebter Kinder die Form der Beschämung haben können?" Daraus, dass Paulus in 6,5 und 15,34 durchaus „zur Beschämung" rede, sei zu erkennen, dass er seinen Worten in 4,14 die Schärfe nehmen wolle. Paulus bemühe sich „ u m größere Konzilianz und eine Klimaverbesserung der Kommunikation" ( i K o r Bd.i, 353t Zitate 353). - Die beiden Sätze εις έντροπήν λ έ γ ω in i K o r 6,5; 15,34 die Auslegung von 4,14 nicht leitend, da in 4,14 die Bedeutung durch die Opposition präzisiert wird. Sie zeigen allerdings, dass Paulus durchaus scharfe Kritik möglich ist und 4,14 keine prinzipielle, sondern eine situationsbezogene Aussage ist. 242 Vgl. zur Ehre-Scham-Kultur und die durch Malina 1993 [1981] angestoßene exegetische Diskussion nur C. Strecker 1999, ζγ^ίί; zum "honor discourse" in 1 und 2 Kor deSilva 1998. - Wenige Ausleger bemerken dieses semantische Potenzial von 4,14a (so R.F. Collins 1 Kor, 194; Dodd 1999, 68, ohne jedoch die pragmatische Relevanz zu erkennen). 243 Wechselworte sind αίδεϊσθαι κτλ. bei Plutarch, Apophthegmata Laconica (Mor 237 D2); Epiktet, Diss 1,5,9; αίσχύνειν Johannes Chrysostomos ad Thess, PG 62,427; Johannes Damascenus, Comm in Paulum PG 95,604. 244 Vgl. die Belege in Anm.39 und 3.7 zu 4,8-13. 245 Vgl. Malina 1993, 48, vgl. auch 56 über die kollektive Ehre, die eine Familie besitzt; Esler Gal, 218-222, ders. 2000,151-157; Aasgaard 2004, 51-53.

ι Kor 4,14

403

der Beziehung beseitigt. Beschämen setzt eine Distanz voraus und zielt auf Abgrenzung, nur indirekt durch Druck auf Besserung. Sähen sich die Korintherinnen beschämt, müssten sie sich ausgegrenzt fühlen. Als Familienmitglieder hingegen werden sie nicht bloßgestellt, zumal die Familie auch kollektiv eine Ehre zu verteidigen hat, also alle Familienmitglieder unter einer Beschämung leiden würden246. Zu paraphrasieren ist: „Nicht, um euch wie Fremde zu beschämen, zu brandmarken und so auszuschließen, schreibe ich dies, sondern um euch als meine geliebten Kinder zu ermahnen, um euch auf den rechten Weg zurückzuführen." Der Autor dreht mit der Andeutung, dass er auch hätte beschämen können, die Verteilung von Scham und Ehre nach 4,8-13 geschickt um. Waren in der weltlichen Wahrnehmung Apostel beschämt, so könnte der Autor die Adressatinnen vor der christlichen Gemeinschaft bloßstellen. Sind die Apostel nach 4,9-13 in der Sicht der Welt die „Letzten", so ist Paulus in der Gemeinde von Korinth der Erste. Vor dem Hintergrund der Sinnlinie von Ehre und Schande vor der Welt einerseits, Gott andererseits, stellt die Einleitung der Familienmetapher 4,14a eine Verbundenheit dar, auch ohne Eintracht unter Geschwistern zu fordern 247 . Der Autor entwirft die „Familie" als Binnenraum hierarchisch-kritischer, aber gleichwohl liebevoller, nicht verachtender Beziehung 248 in Opposition zum Außen, dem κόσμος 249 , der die Kreuzesbotschaft und die Apostel verachtet und in dessen Wertesystem auch die anderen Christinnen nicht bestehen können.

4.3 Unersetzlich: Nur ein Vater (V. 15) V.15 präzisiert die Familienmetapher und erweitert den Fokus mit der Alternative πατέρες - παιδαγωγοί und έγέννησα. V. ΐζα bringt eine zweite Oppostion, welche die Prädizierung als „meine geliebten Kinder" in V.14 begründen soll. Die Formulierung des Rahmens lenkt den Blick auf die quantitative Differenz zwischen παιδαγωγοί einerseits, Vätern andererseits. Der bedingende Satz lässt offen, ob es sich um 246 In diesem Sinne ist auch der Gebrauch des Verbs in 2Thess 3,14 (Ausschluss aus der Gemeinde) und Tit 2,8 (gegen den Widersacher) zu verstehen. 247 Vgl. zu diesem Ideal Aasgaard 2004, 53 ff. 248 Zu dieser Valenz der Familienmetaphorik Esler 2000. 249 Vgl. besonders 1,21; 2,12; 4,9.13 zu κόσμος als durch einen anderen Werte- und Erkenntnismaßstab vom Göttlichen abgegrenzte Ordnung.

404

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

einen Potentialis oder einen Irrealis handelt 250 . Ob es die „tausend Betreuer" tatsächlich gibt, ist unwichtig. Auch die hyperbolische Formulierung (μύριοι) und die π-Alliteration lenken die Aufmerksamkeit auf die Mengendifferenz zwischen π α ι δ α γ ω γ ο ί und πατέρες. Was der Text nicht ausspricht, ist leicht aus der allgemeinen Kenntnis des Konzepts „Vaterschaft" zu inferieren: Man hat nicht nur „nicht viele", man hat nur einen Vater. Wer dieser ist, war bereits mit V.14 implizit gesagt. Diese einzigartige Beziehung zwischen Autor und Adressatinnen expliziert V.i^b. Das emphatische έ γ ώ und die Wortstellung, durch die ύ μ α ς von Subjekt έ γ ώ und metaphorischem Prädikat έ γ έ ν ν η σ α umfangen ist, hebt diese Relation hervor. Bemerkenswert ist freilich, dass Paulus auch an dieser Stelle, die gern als die Zentralstelle für das Selbstverständnis des Paulus von seiner „geistlichen Vaterschaft" angeführt wird 2 5 1 , sich nicht selbst als „ V a t e r " der Gemeinde bezeichnet. Wir schließen die Metaphorik von V.i5b auf, um von da aus V.i5a zu interpretieren. Die Beziehung wird beschrieben als „ Z e u g e n in Christus Jesus durch das Evangelium". Der Fokus γενναν252 hebt innerhalb der Konzeptmetapher einen bestimmten Aspekt hervor, der durch die Bezeichnung als „ K i n d " bzw. „Vater/Mutter" nicht notwendig evoziert wird, nämlich den ursächlichen, initiativen Akt dieses Verhältnisses 253 . So ist an die Missionsarbeit des Autors in Korinth als Bildempfänger zu denken. Diese war bereits mehrfach mit ähnlichen punktuellen Aoristen beschrieben worden 254 , γ ε ν ν α ν ist im metaphorischen Zusammenhang auch sonst im A T und NT belegt, allerdings

250 Vgl. BDR § 373 n . 251 Vgl. besonders Conzelmann i K o r , liof, z.St.: „Die Formulierung zeigt, daß die Vaterschaft kein bloßes Bild ist; sie ist reale, ,geistliche' Vaterschaft." Ein Bild liege hingegen in iThess 2,11 vor (110 Anm.11). Vgl. weiter unten Anm.335. - Zum Überblick über die Texte vgl. § 5.1.10. 252 Das Verb γ ε ν ν α ν kann auch das Gebären bezeichnen; diese Denotation ist jedoch durch πατέρες ausgeschlossen. 253 Ein Vergleich mit den anderen Eltern-Kind-Metaphern zeigt, dass sie nicht per se auf diesen Ursprungszusammenhang zwischen Vater bzw. Mutter und Kindern zielen, sondern dies in Gal 4,19 (vgl. §8) und Phlm 10 explizit machen (vgl. §5.1.10.1). Die Rede vom Kind des Paulus impliziert nicht, dass der Betreffende auch von Paulus bekehrt ist; vgl. 4.4 zu V.17. - Der Sache nach verweist auch Friedrich Büchsei (vgl. ders. - Karl H. Rengstorf, Art. γ ε ν ν ά ω κτλ., in: ThWNT 1 [1933] 663-674: 664,5ff) auf diese Differenz, allerdings mit nicht aussagekräftigen Belegen aus den Rabbinica. 254 Vgl. besonders έπότισα 3,2; έφύτευσα 3,6; θεμέλιον εθηκα ^,ιο, vgl. weiter 2,1-5 und auch 1,13-17.

ι Kor 4,15

405

außerhalb des corpus Paulinum nicht mit Menschen als Subjekt. Der Bildspender kann leicht aus der Lebenserfahrung selbst verstanden werden, obschon gewisse Anklänge an entsprechende Metaphern des nämlichen Bildfeldes zu vernehmen sind. Die Auslegungen diskutieren zu diesem Vers verschiedene Vorbilder für die Metaphern, die jedoch keine Bedeutung für das Verständnis bekommen255. Die ältere Exegese tendierte zur Ableitung aus Mysterienreligionen256. Neuere Exegese will die paulinische Metapher hingegen aus biblischer und jüdischer Metaphorisierung der Vaterrolle ableiten. Dazu muss sie allerdings Fokus und Zielbereich der Metapher in 1 Kor 4,14 t ignorieren257. Lassen 2 ' 8 verweist auf die Bedeutung des Vaters in der römischen Kultur und der Vaterprädikation in imperialer Propaganda, insbesondere für Augustus, als Hintergrund der Metapher in i K o r 4,i4ff. Das zeigt die positive Konnotation der Vatermetapher, sagt jedoch nichts über die Pragmatik in i K o r 4. Eine These mit pragmatischen Implikationen bietet hingegen Schmeller259: Die Prädizierungen als Vater und als παιδαγωγοί seien aus einer philosophischen Adaption der Familiensprache für Schulhäupter abgeleitet. Paulus greife die in Korinth virulente Schulfiktion auf, um sie zu einer Familienfiktion zu verschieben und so bei Anerkennung der παιδαγωγοί als Autoritäten, zu denen er sich selbst ebenfalls zähle, einen Vorrang für sich zu reklamieren. Schmeller übergeht die hier herausgestellten pragmatischen Aspekte, den in den Metaphern implizierten Anspruch des Paulus auf eine einzigartige Position und die Funktion der Familiensprache als solcher zum Entwurf eines familiären Raums in 4,14. Zudem ist die philosophische Metaphorisierung von παιδαγωγός selten

255 Ausführlich referiert Schräge 1 Kor Bd.i, 354t die traditionsgeschichtliche Diskussion. Er kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass die Ableitung nicht die Deutung bestimmt. 256 Vgl. Apuleius, Metamorphosen 2,25,7, zitiert im Neuen Wettstein 2/1, 273 zu 1 Kor 4,15; Reitzenstein 1927, 40 t; Lietzmann 1 Kor, 21. 257 Gern wird verwiesen auf bSan 19, der auch in Bill 3,339 zur St. aufgeführt wird: „Rabbi Jonathan (um 220) habe gesagt: Wenn einer den Sohn eines andren Tora lehrt, so rechnet es ihm die Schrift so an, als ob er ihn erzeugt hätte" (unter Verweis auf die Aussage Num 3,if, dass Nachkommen Aarons auch als Nachkommen Moses gezählt werden). Der Vergleich bezieht sich auf das Unterrichten eines Juden in der Tora, das ein Vater-Sohn-Verhältnis herstellt, während es bei Paulus um den initiativen Akt, eine Bekehrung geht. Die Differenzen liegen also nicht nur in der Ausformulierung der Metapher, sondern auch im Zielbereich. (Der Verweis findet sich etwa bei W.P. de Boer 1962,145, der Paulus verdächtigt, eine jüdische Sprachfigur zu christianisieren; Roloff 1965,116 mit Anm.268; Wolff 1 Kor, 93. Missglückt bringt R.F. Collins 1 Kor, 193 die Stelle neben bQid 22a als Beleg für die Auffassung von Vaterschaft des "first-century Judaism".) Dem Zielbereich entspricht eher der Verweis von Bill 3,340 auf BerR 84 (53h), „jeder, der den Proselyten [zu Gott] herzubringt, ist, wie wenn er ihn geschaffen hätte" (so Merklein i K o r Bd.i, 325). Hier ist allerdings nicht von Erzeugung und Vater-Sohn-Verhältnis die Rede, sondern von Schöpfung, der Herkunftsbereich ist also ein anderer. 258 S. Lassen 1991. 259 Schmeller 2001,130-138, vgl. bereits § 1.2.2.4 z u r These.

4O6

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

belegt260. In der paulinischen Verwendung der Vatermetapher mag aber die Prädizierung des philosophischen Lehrers als Vaters nachklingen, die öfter belegt ist, sofern sie den „Archegeten" als „Vater" würdigt, als den, der eine neue Lehre brachte261. Das passt zum paulinischen „Vaterschaftsnachweis", durch das Evangelium „gezeugt" zu haben. Doch die Parallelität hat ihre Grenzen, erstens, da Paulus weniger auf die Lehre als die durch ihn initiierte Bindung und sein Vorbild verweist, und zweitens, da dem „PhilosophenVater" als „Schulgründer" eher Christus entspricht (vgl. § 1.2.2.4). So kann man den Text genauso aus dem Alltagswissen vom Konzept des Erzeugers verstehen und aus biblischen Verwendungen. Die nächste Parallele ist Phlm 10, wo Paulus vom γ ε ν ν α ν des Onesimus spricht, der nun sein τέκνον sei202. Parallelen im weiteren Bildfeld sind die ntl. Texte, die vom γ ε ν ν α ν - sei es im Sinne von Gebären, sei es im Sinne von Zeugen - der Menschen durch Gott reden263. Das Objekt von metaphorischem γ ε ν ν α ν können abstrakte Größen, Individuen und wie in 1 Kor 4,15 ein Kollektiv sein. Oft geht es dabei um einen Treueanspruch, der aus der Zeugung resp. dem Gebären abzuleiten wäre (vgl. Jes 1,2; Dtn 32,18). Im ntl. Zusammenhang bezeichnet das Verb metaphorisch das radikal Neue, das durch Gottes Handeln anbricht, sei es an seinem Sohn, sei es an den Menschen.

Wir erkennen hier denselben Umgang mit dem traditionellen Bildfeld wie bei der Pflanzungs- und Baumetapher: Zur Beschreibung der Relation zu einer Gemeinde widmet Paulus eine Metapher um, die sonst von der Relation Gottes zu seinem Volk bzw. einzelnen Menschen gebraucht wird. Ein aufgrund dieses Bildfeldes zu assoziierender Schöpfer-Anspruch des Paulus wird freilich durch die modalen Präpositionalwendungen sogleich relativiert. Die Zufügungen εν Χριστώ z6o Schmeller belegt die positive Verwendung von παιδαγωγός für philosophische Lehrer nur an wenigen, späten Texten (2001, i33f). 261 Die Vater-Lehrer-Metapher (dazu a.a.O., 135.137; vgl. Backhaus 2000, 51) begegnet öfter, vor allem in Bezug auf Epikur. So apostrophiert ihn Lukrez preisend als Vater: „tu, pater, es rerum inventor, tu patria nobis suppeditas praecepta" (De rerum nat 3,9-10). Ahnlich prädiziert Jamblich Pythagoras in seiner vita Pythagorica 1,2, einem jüngeren Text, der aber vielleicht eine ältere Tradition überliefert: μετά δέ θεούς ηγεμόνα εαυτών προστησόμεθα τόν άρχηγόν και πατέρα της θείας φιλοσοφίας. i K o r 4/15 vergleichbar illustriert Epiktet die Vaterschaft des idealen Kynikers mit dem sonst seltenen Motiv des Erzeugens (hier παιδοποιεΓσθαι): πάντας ανθρώπους πεπαίδοποίηται, τούς ανδρας υιούς εχει, τάς γυναίκας θυγατέρας· πασιν οϋτως προσέρχεται, οϋτως πάντων κήδεται. ή σύ δοκεϊς ύπό περιεργίας λοιδορεΓσθαι τοις ά π α ν τ ώ σ ι ν ; ώς πατήρ αύτό ποιεί, ώς αδελφός και τοϋ κοινού πατρός ύπηρέτης τοϋ Διός (Diss 3,22,81t). Doch hier geht es offenbar nicht um eine exklusive Schülerschar, sondern gottgleiches Schelten aller Menschen. 262 Vgl. § 5.1.10.1. In Phlm 10 bleibt aber offen, ob γ ε ν ν α ν zeugen oder gebären bedeutet (vgl. ebd.). 263 So Joh 3,3.5ft; iPetr 3,1 ( ά ν α γ ε ν ν α ν ) ; für das AT vgl. Dtn 32,18; Jes 1,2; Ps 2,7 (vgl. auch die ntl. Zitationen des Psalmverses); Prov 8,25. Vgl. für Philo Büchsei, ThWNT ι, 667.

ι Kor 4,15

407

( V . i 5 a , z u b e z i e h e n s i c h e r a u f b e i d e O b j e k t e ) u n d έν Χριστώ τοϋ

ευαγγελίου

Ίησοϋ

διά

auf

den

(V.i5b)264 brechen den Fokus u n d weisen

Z i e l b e r e i c h hin. I n s o f e r n k a n n m a n sie als „ L i m i t a t i o n s f o r m e l n " ,

als

A b g r e n z u n g zu einem natürlichen Verwandtschaftsverhältnis auffassen265. D o c h d a s d ü r f t e nicht h i n r e i c h e n : δ ι ά τ ο ϋ ε υ α γ γ ε λ ί ο υ erinnert an die Beschreibung der A u f g a b e des Apostels ού γ α ρ ά π έ σ τ ε ι Λ έ ν Χ ρ ι σ τ ό ς β ά π τ ι ζ ε l v ά λ λ α ε ύ α γ γ ε λ ί ζ ε σ θ α ι (i,iy)266.

με

Dies u n d die struk-

turellen A n a l o g i e n in d e n M e t a p h e r n v o n der L a n d - u n d B a u w i r t s c h a f t in Kap.3267 lassen auch hier einen m e t a p h e r n s p r e n g e n d e n V e r w e i s des Paulus

auf

die Bedingung

der Möglichkeit seines Wirkens

verneh-

men268. D e r V e r w e i s a u f d i e „ Z e u g u n g " V . i 5 b s o l l V.i^a

b e g r ü n d e n . In der

G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n Vater u n d π α ι δ α γ ω γ ο ί liegt also die Pointe der M e t a p h e r . W i r s a h e n bereits, dass der Text auf die quantitative D i f f e renz abhebt. D o c h besteht auch ein qualitativer Unterschied

zwischen

der Beziehung eines Kindes zu einem π α ι δ α γ ω γ ό ς u n d seinem Vater, w i e nicht zuletzt V . i 5 b zeigt. D e n G e g e n s a t z verdeutlicht ein Blick auf den

Bildspender.

D e r Unterschied z w i s c h e n Vater u n d π α ι δ α γ ω γ ο ί g e g e n ü b e r d e n K i n d e r n m a c h t sich in d e r A n t i k e auf v e r s c h i e d e n e n E b e n e n b e m e r k b a r . H i e r w i r d n u r d a s a u s g e f ü h r t , w a s f ü r d a s T e x t v e r s t ä n d n i s der A l t e r n a t i v e in 1 K o r 4,14 t relevant ist. K r i t e r i u m ist, w a s d e r R a h m e n , A u s s a g e k o n t e x t , v o m F o k u s v e r w e n d e t . A l l e s einzulesen in d e n Text k ä m e einer A l l e g o r i s i e r u n g der M e t a p h e r gleich. 264 Vgl. analog μου τέκνον ... έν κυρίω von Timotheus V.17. 265 So sagt erstmals Weiß, die Formel sei „ohne jeden emphatischen, religiösen Nebensinn als reine Limitationsformel" aufzufassen ( i K o r ii6f, Zitat 117). Die Beschränkung begründet er damit, dass die παιδαγωγοί, auf die sich die erste Wendung vermutlich auch beziehe, nicht recht christlich seien. Das liegt allerdings an der zu negativen Einschätzung der „Hofmeister" (a.a.O., 116); vgl. dazu unten. Zur Forschungsdiskussion über die Bedeutung von έν Χριστώ und den neueren Konsens, keine einheitliche Bedeutung zu unterstellen, vgl. C. Strecker 1999,189-192. 266 Der Wortstamm ε ύ α γ γ - fällt zum ersten Mal seit 1,17; vgl. bereits oben 1.2. Man kann das so verstehen, dass Paulus hier im Blick auf die Rolle der Täufer im Parteienstreit noch einmal präzisiert, sein „Zeugungsakt" bestehe nicht im Taufen von Gemeindegliedern. - Gutierrez 1968, 135 ff überfrachtet die Präpositionalwendung. Er sieht in ihr das biblische Motiv vom Wort Gottes als fruchtbaren „Samen" aufgenommen. So kann er den Vateranspruch des Paulus der Vaterschaft Gottes unterordnen. 267 Vgl. die Hinweise auf Gott in 3,5-9 und Christus in 3,10; vgl. so auch Ollrog 1979, i8of mit Anm.93. 268 Ähnlich Wolff i K o r , 93, der darüber hinaus in ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν einen Verweis auf die Neuschöpfung sehen will; ähnlich auch Schräge i K o r Bd.i, 355. Dessen Formulierung in seinem Aufsatz 1986,107, Paulus verweise hier auf den „Dritten im Bunde", ist jedoch unglücklich: In der Metapher wäre das die Mutter.

408

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Der παιδαγωγός269 war eine in der römischen wie griechischen Gesellschaft gleichermaßen bekannte Größe und begegnet auch im jüdisch-hellenistischen Schrifttum, παιδαγωγός ging sogar als Lehnwort in das Lateinische und Semitische ein270. Wir brauchen also weder mit relevanten geographischen noch zeitlichen Differenzen innerhalb der antiken Welt zu rechnen. Dass es sich um eine nur in den Oberschichten anzutreffende Institution handelt, stellt nicht ihre allgemeine Bekanntheit in Frage. Die Rede von „tausenden Hauserziehern" ist hyperbolisch. Üblich war ein παιδαγωγός für alle Söhne einer Familie. Signifikant sind die Unterschiede gegenüber unseren Vorstellungen von geeigneten „Pädagogen" 271 . Ein παιδαγωγός ist ein Sklave oder Angestellter, oft fremder Herkunft. Zwar war er auch für die Unterrichtung des Kindes, z.B. in der ersten Fremdsprache, zuständig, aber seine Hauptaufgabe bestand zunächst in der Betreuung und Bewachung des Kindes rund um die Uhr, als Nachfolger der Nähramme272. Die Aufgabe eines Betreuers war zeitlich beschränkt, galt Kindern von etwa sieben Jahren bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter. Die weitere Unterrichtung im damaligen Fächerkanon wurde von Lehrern übernommen und fand meist in der Schule statt. Der Betreuer geleitete den Zögling zur Schule und überwachte ihn, z.B. zum Schutz des Zöglings vor Avancen von Lehrern. Weiter war er für die moralische Erziehung des Kindes zu Anstand zuständig, und dies gelang nach damaliger Überzeugung am besten mit körperlicher Züchtigung. Obwohl mancher παιδαγωγός verspottet wurde, gab es emotionale Bindungen zwischen diesen und den Betreuten273, was sich z.B. daran ablesen lässt, dass sie ihren Betreuer im höheren Alter versorgten.

269 Ich stütze mich auf Young 1987, der - im Interesse an der Auslegung von Gal 3,24t die sozialen und kulturgeschichtlichen Hintergründe des παιδαγωγός-Konzepts in der Antike darstellt. Er folgt einer Tendenz der jüngeren Forschung, die die παιδαγ ω γ ο ί rehabilitiert entgegen der abfälligen Sicht der Altertumswissenschaft, wie sie E. Schuppe, Art. Paidagogos, in: PRE 18 (1942) 2375-2385 repräsentiert, aber auch die Metapher in Gal 3. Die ältere Sichtweise spiegelt sich wider bei Lietzmann 1 Kor, 21; Heinrici i K o r , i6of; Weiß i K o r , 115, Gutierrez 1968, i26f und auch noch bei Lang 1 Kor, 66. Aus Hang zur Allegorisierung der Metapher wird gelegentlich auch spekuliert über implizite Kritik an den anderen Missionaren neben Paulus. So hört z.B. Heinrici eine „tadelnde Nebenbeziehung auf die herrische und anmaßende Führung seitens derer, die nicht Väter sind" (iKor, 161 im Anschluss an ältere Ausleger). Conzelmann i K o r , 110 will das έντρέπειν, das Paulus von sich weist, den π α ι δ α γ ω γ ο ί zuschreiben. Für eine neutralere Sicht vgl. Ollrog 1979, i8of; Fee i K o r , 185; Wolff i K o r , 94; Schräge i K o r Bd.i, 356; Merklein i K o r Bd.i, 324. Er leugnet einen qualitativen Unterschied ganz: „Es genügt das Moment, daß der Erzieher eben nicht der Vater ist". Das scheint mir zu wenig. 270 Young 1987,150. 271 Vgl. zu den folgenden Daten Young 1987,151 ff. 272 Vgl. dazu oben § 6.4.2 ad 1 Thess 2,7. 273 Anachronistisch ist jedoch das Urteil Youngs: "The father's bond with the child was obviously deeper - geneticalley if in no other way - than a mere pedagogue's" (1987,170).

409

ι Kor 4,15

Ungezählte π α ι δ α γ ω γ ο ί werden dem Vater gegenübergestellt. Wir müssen hier nicht die Vielfalt der Aspekte auflisten, die das Konzept „Vaterschaft" beinhaltete, sondern nur, was im Kontext abgerufen wird 274 . Vorauszusetzen ist, dass der Vater Autoritätsperson ist275. Das wird im Text durch den mahnenden Gestus aktualisiert. Angesprochen ist weiter die Einzigartigkeit des Vaters: Auch nach antiker Biologie galt, dass ein Kind nur einen Vater hat und dieser ursächlich mit dem Entstehen von dessen Leben verbunden ist276. Die römische wie griechische Gesellschaft waren streng patrilinear 277 , die Kinder gehörten also primär zur Familie des Vaters. Weiter angesprochen wird mit α γ α π η τ ο ί die emotionale Bindung der Eltern zu ihren Kindern. Eine solche Bindung ist für die Auffassung von Elternschaft in der Antike nachweisbar 278 . Die Metapher ruft vor allem die erzieherische Funktion der Eltern ab. Bereits das νουθετεΐν, aber auch der Vergleich mit den π α ι δ α γ ω γ ο ί gibt der Metapher einen „pädagogischen" Horizont. Dass den Eltern in der Antike ein „Erziehungsauftrag", vor allem aber das Erziehungsrecht zukam, leidet keinen Zweifel 2 7 9 . Die Metapher präzisiert nicht weiter, zielt nicht auf Bildung oder spezifische Erziehungsinhalte, sondern auf die Autorität zur Zurechtweisung. Die Abgrenzung von έντρέπειν gibt diesem elterlichen Handeln ein schonendes, liebevolles Gesicht 280 . D i e B e d e u t u n g d e r M e t a p h e r w i r d nicht n u r v o n d e m F o k u s , e i n e m B i l d f e l d u n d d e m A u s s a g e k o n t e x t b e s t i m m t , s o n d e r n sie erhält ihre P r a g m a t i k a u c h d u r c h die Interaktion m i t d e m Bildempfänger.

Die Aus-

s a g e referiert auf d i e g e m e i n s a m e G e s c h i c h t e d e s P a u l u s u n d

der

G e m e i n d e u n d a l s o auf d a s W i s s e n d e r L e s e r i n n e n . Sie b e z i e h t sich o f f e n b a r w i e d i e P f l a n z u n g s - u n d B a u m e t a p h e r d a r a u f , d a s s P a u l u s als Erster i n K o r i n t h d a s E v a n g e l i u m v e r k ü n d i g t hat. D a u n s ü b e r d e n

274 Vgl. detaillierter Burke 2003a, 100-105, der die Aspekte Hierarchie, Autorität, Nachahmung, Gefühlsbindung und Erziehung differenziert. 275 Vgl. neben Burke ebd. Joubert 1995 und § 6.4.3 a d 1 Thess 2,10-12. 276 Zur umstrittenen Frage, ob die Mutter einen „Samen" zum Kind gibt oder nicht, vgl. § 8.4.6.2 ad Gal 4,19. M.E. lassen die paulinischen Formulierungen diesen als Vertreter der „Ein-Samen-Theorie" erkennen, die den Vater allein ursächlich für die Entstehung eines Kindes hält. 277 Vgl. für Rom Rawson 1992, 26; das galt freilich nur für legitime Kinder. 278 Dies galt gewiss auch für die römische Familie; die These, dass die römische Beziehung zwischen Eltern und Kindern weniger auf Affekten als auf der rechtlichen Machtbeziehung (patria potestas) beruhte, darf als widerlegt gelten (mit Salier 1992, I43ff). Gegenbelege bietet vor allem Eyben 1992,116ff: Elterliche Liebe galt den römischen Schriftstellern als Naturgesetz. Vgl. auch Dixon 1992 über das "sentimental ideal" der römischen Familie; Lassen 1991, 128f. Reinhartz 1993, 8iff zeigt beispielhaft an Philo, dass sich die Auffassung einer grundlegenden Gefühlsbindung zwischen Eltern und Kinder und einer autoritären Elternrolle nicht ausschließen. 279 Vgl. dazu § 6.4.3 ad 1 Thess 2,10-12 (Lit!). 280 Dies übersieht Castelli 1991, 100 f, die die Deutung der Paulus-Metapher als Ausdruck der Liebe kritisiert und einseitig die implizierte Autorität betont.

4io

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Ursprung der Gemeinde in Korinth fast nur die metaphorische Darstellung des Paulus informiert 281 , können wir die konstruktive und wertende Wirkung der Aussage kaum bemessen. Wir unterschätzen die Metapher jedoch in jedem Fall, wenn wir sie als objektive Beschreibung des „historischen Sachverhalts" verstehen, dass Paulus die Gemeinde „gegründet" hat: Die Metapher interpretiert und wertet die Ereignisse. Dass andere das Geschehen anders deuten, weiß der Autor, und wir können es seiner Darstellung des Parteienstreits (i,iof) entnehmen. Ein Teil der Streitenden identifiziert sich über andere Missionare als Paulus, hält also die Tatsache, dass Paulus als Erster das Evangelium nach Korinth gebracht hat, nicht für maßgeblich für das eigene Selbstverständnis. Und der Autor selbst spricht Apollos zu, dass dieser Glauben wirkte (3,5). Bereits der i K o r selbst zeigt uns also, dass die Ereignisse in Korinth sich nicht notwendig so präsentierten, wie es die Metapher tut. Sie schreibt dem Aufenthalt des Paulus und seiner Evangelisierung lebenstiftende Kraft zu, und das überdies für alle Adressatinnen. Damit ist die Pragmatik der Metapher für den näheren Kontext deutlich : Die Vater-Kinder-Metapher wird eingeführt, um ein Verhalten als Ausdruck elterlicher Erziehung zu qualifizieren, die irtnerfamiliär zurechtweist, nicht distanzierend beschämt. Die Gegenüberstellung von Vater und Betreuern stellt die in V.14 genannten τέκνα als junge Kinder vor, die noch erziehungsbedürftig sind, konfrontiert die Adressatinnen also wie 3,1-4 mit einer Einschätzung als Unmündige. Mit dem Mengenvergleich zwischen Vater und μύριοι παιδαγωγοί setzt sich der Autor von nicht identifizierten anderen ab. So beschreibt er seine Rolle zunächst als singulär. Das richtet sich kaum speziell gegen Apollos, sondern eher gegen „jedermann" wie 3,10b. Noch schärfer als dort werden andere in der Gemeinde durch Nichtnennung gestraft, werden sie doch hier gleich in Myriaden gezählt. Der Vergleich zwischen Vater und Kinderbeaufsichtigern zielt aber auf die qualitative Spitzenstellung des ersteren. Indem Paulus sich nicht als „Vater" prädiziert, sondern als „Erzeuger", behauptet er seine Erstmission als weiterhin entscheidende initiative Tätigkeit für die 281 Vgl. für die Rekonstruktion der Entstehung der Gemeinde in Korinth z.B. Schräge i K o r Bd.i, 29ft. Unsere Quelle ist neben den Paulusbriefen nach Korinth nur Apg 18,1-18. Nach Apg 18,2f waren Aquila und Priscilla schon vor Paulus in Korinth. Aus 1 Kor 1,14.16 und 16,5 ergibt sich, dass Stephanas der erste von Paulus bekehrte Christ in Korinth war (απαρχή της 'Αχαίας 16,15) und Paulus Gaius, Krispus und Stephanas' Haus selbst getauft hat (1,16). - Paulus reklamiert eine initiative Rolle für das Christentum in Korinth auch in 3,6.10 (s.o.) und 2 K o r 3,1-3 (vgl. §5.1.4.1) sowie in 11,2 (vgl. §5.1.11.1).

ι Kor 4,15

411

ganze angeschriebene Gemeinde. Ausgeblendet und negiert wird die Möglichkeit, dass Gemeindeglieder ihr christliches „Leben" auf die Wirksamkeit eines anderen Missionars zurückführen. Andere werden als παιδαγωγοί abqualifziert. Solche wirken nur, wo jemand anders geschaffen hat, sind Epigonen wie jene „Bauarbeiter" aus 3,10ff. Liest man den metaphorischen Vergleich von Vater und παιδαγωγοί auch im Vorgriff auf die Verse 4,17.18-21, in denen die Eltern-Kinder-Metaphorik noch präsent ist, so kann er zugleich die Abwesenheit des Autors relativieren: Der Vater bleibt Vater, egal ob vor Ort oder tot, Betreuer werden nach Aufgabe ihrer Aufgabe irrelevant. Der Vorzug von Menschen, die vor Ort in der Gemeinde wirken können, wird so bestritten. Wenn Paulus eine Metapher wählt, die das positive Ideal der auf väterlichen Gefühlen beruhenden Ermahnung der Gemeinde verbildlicht, so verbindet er dies mit einem deutlichen Autoritäts- und Exklusivitätsanspruch gegenüber der Gemeinde. Diesen kehren V.i6ff hervor.

4.4 Der Vater als Vorbild und der Bruder als sein Repräsentant (V.i6f) Der Aufforderung: „Ich mahne euch also, werdet meine Nachahmer!" kommt Gewicht zu 282 . Durch die Rekurrenz von παρακαλώ ύμας erinnert sie deutlich an das Brief anliegen 1,10 f und markiert qua Inklusion das Ende des mit 1,10 beginnenden Abschnitts. Das ούν 283 lässt die Aufforderung lesen als Schlussfolgerung aus V.15. Die Nachahmungsforderung bezieht dann ihr Recht aus der Bedeutung des Erzeugers Paulus für die Adressatinnen des Briefes als seine Kinder. Dass die Metapher argumentativ so „ausgebeutet" werden kann, liegt in dem antiken Konzept von „Vaterschaft". Gerade der eigene Vater sollte als

282 Der Satz fällt auch durch seine Formulierung auf: Seine „volkstümliche Koordination" erinnert noch an direkte Rede (so BDR § 471,1, Zitat S.400). Die 1. Pers. Sg. und die 2. Pers. PI. sind einander chiastisch zugeordnet. Im ersten Satz ist die 1. Pers. Sg. in der Personalendung des Verbs, die 2. Pers. PI. pronominal, im zweiten Satz ist es umgekehrt. Schließlich sticht der Imperativ in der 2. Pers. (so zuvor nur einmal βλέπετε 1,26, neben einigen Impr. der 3. Ps. Sg.) in μ-Alliteration heraus. 283 Vgl. zur konsekutiven Bedeutung des ούν, insbesondere in Befehlen, B A A s.v. 1. und l.b (Sp.1200). - Zur Bedeutung von παρακαλώ vgl. oben 1.1.

412

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Vorbild gelten284. Doch was genau die Aufforderung μιμηταί μου γίνεσθε fordert, ist zu diskutieren. D i e D e u t u n g e n g e h e n a u s e i n a n d e r : In V e r a l l g e m e i n e r u n g d e r F o r m u l i e r u n g ι K o r 11,1, i n d e r P a u l u s d i e N a c h a h m u n g seiner P e r s o n „ t r a n s i t i v " a n seine N a c h a h m u n g C h r i s t i b i n d e t , w i r d a u c h f ü r ι K o r 4,16 v i e l f a c h e i n e christolog i s c h e R ü c k b i n d u n g unterstellt, alternativ z u einer V o r b i l d e t h i k : P a u l u s f o r d e r e d i e N a c h a h m u n g seiner P e r s o n , i n s o f e r n er selbst C h r i s t u s n a c h a h m t 2 8 5 . Für die vorliegende A u s s a g e kann das nur mit d e m Kontext begründet werd e n : W i e d a s τ α ΰ τ α V . 1 4 v e r w e i s e d i e A u f f o r d e r u n g z u r I m i t a t i o auf 4 , 9 - 1 3 . D e r P e r i s t a s e n k a t a l o g stelle d i e „ k r e u z f ö r m i g e E x i s t e n z " d e s A p o s t e l s d a r , v e r w e i s e letzlich a l s o auf C h r i s t u s 2 8 6 . D i e s e r r ü c k w ä r t s g e w a n d t e n Interpretation steht e i n e s t ä r k e r a n d e n T e x t s i g n a l e n orientierte g e g e n ü b e r , d i e d e n Inhalt d e r N a c h a h m u n g s a u f f o r d e r u n g v o n V . 1 7 h e r erschließt. D a s δ ι ά τ ο ϋ τ ο stellt, a n a p h o r i s c h a u f g e f a s s t (s. o b e n 4.1), d i e S e n d u n g d e s T i m o t h e u s als E r m ö g l i c h u n g d e r N a c h a h m u n g dar 2 8 7 . D e r f i n a l e R e l a t i v s a t z V . 1 7 C 2 8 8 gibt a l s o d e n Z w e c k d e r S e n d u n g d e s

284 Die nächste Parallele zu unserer Stelle ist Eph 5,1, insofern hier ebenfalls die Aufforderung zur Nachahmung aus der Rolle als „geliebte Kinder" abgeleitet wird, allerdings die Nachahmung Gottes als Vaters. Von Nachahmung Gottes als dessen Kinder sprechen auch Mt 5,45.48; Lk 6,35. Vgl. aber vor allem außerbiblisch Euripides, Helena 940-942 (μίμου τρόπους πατρός δικαίου- παισί γ ά ρ κλέος τόδε κάλλ ι σ τ ο ν ) ; Ps.-Isokrates, Demonic 9 - 1 5 ( v g l · Malherbe 1986,125t); Cicero, De Officiis 1,78 (Anrede an seinen Sohn als Erben seines Ruhms und denjenigen, dem die Aufforderung zur Nachahmung gilt [factorum imitatio]); Philo, Conf 63t (και ό γ ε ν ν η θείς ... μιμούμενος τάς τοϋ πατρός όδούς πρός π α ρ α δ ε ί γ μ α τ α α ρ χ έ τ υ π α έκείνου β λ έ π ω ν ) ; Ps.-Plutarch, De educ 20 (= Mor 14A: das Wichtigste sei, dass die Väter ihren Kindern ein gutes Beispiel böten [δεΓ πράττεlv έναργές αύτούς (sc. πατέρας) π α ρ ά δ ε ι γ μ α τοις τέκνοις π α ρ έ χ ε ι ν ] ) ; Philo, Sacr 68,5; Josephus, Ant 8,24.196; Plinius d.J., Ep. 8,13 (Seligpreisung eines jungen Mannes mit vorbildlichem Vater, denn der ist „zugleich das beste und nächstliegende" Vorbild); Juvenal, Satiren 14 (Kritik am schlechten Vorbild des Vaters); vgl. auch den Zusammenhang von Vater und Vorbild in IgnTrall 3,1; IgnPhld 7,2. - Dieser Zusammenhang ist auch in der Exegese fast unbestritten; vgl. bes. W.P. de Boer 1962, 145^214; Gutierrez 1968, I78ff; Burke 2003a, 102f. Dabei werden jedoch zuweilen die metaphorischen Aussagen ontologisiert, als sei Paulus tatsächlich Vater. Im Text fungiert die Erzeugermetapher als Begründung, indem das Bildspendekonzept Vorbildlichkeit impliziert. 285 Vgl. z.B. Roloff 1 9 6 5 , 1 1 8 - 1 2 0 ; Schräge 1986, U l f ; Merk 1989,197t: „Daß ,ein Leben in der Konformität zum Gekreuzigten' allein apostolisches Dasein ausmacht und dieser Gesichtspunkt von 1,10 an besonders durch 1,17ft; 2,iff; 4,iff nahegelegt ist, darf heute als weithin anerkannter Konsens gelten", unter Zitierung von Schräge 1986,113 und Verweis auf Conzelmann 1 Kor und Lang 1 Kor z.St. 286 Vgl. oben 3.7 und neben den dort Genannten B. Sanders 1981, 357-360; Reinhartz 1987, 397· 287 Der Zusammenhang von V.16 und V.17 wird meist wie hier verstanden, bestritten allerdings von Merk 1989,198ff. So kann er die engere Rückbindung an die apostolische Existenz behaupten. Ahnlich sieht Schulz 1962, 309 zwischen V.16 und V.17 eine gedankliche Zäsur, διά τοϋτο verweise nach vorne. 288 Vgl. B D R § 3 7 8 1 .

ι Kor 4,i6f

413

Timotheus an. Deshalb steht der Inhalt der S e n d u n g ος ύ μ α ς ά ν α μ ν ή σ ε ι τ ά ς όδούς μ ο υ τ α ς έ ν Χ ρ ι σ τ ώ Ί η σ ο ϋ , κ α θ ώ ς π α ν τ α χ ο ύ έ ν π ά σ η έ κ κ λ η σ ί α δ ι δ ά σ κ ω auch in B e z u g zu dieser N a c h a h m u n g s a u f f o r d e r u n g . Darin stimmen z w a r die meisten A u s l e g e r i n n e n überein; das Problem ist aber, d a s s diese Formulierung ihrerseits nicht gerade klar ist, denn die M e t a p h e r v o n den όδοί des Paulus ist mehrdeutig u n d steht in S p a n n u n g z u m Inhalt des Vergleichssatzes, namentlich d e m δ ι δ ά σ κ ω . Diskutiert w i r d , ob es sich in erster Linie u m Paränese handele (das legt der Kontext u n d die Metapher όδοί v o n ihrer atljüd. V e r w e n d u n g als „ G e b o t e G o t t e s " nahe), u m K e r y g m a (dahin deutet δ ι δ ά σ κ ω u n d der ökumenische Horizont v o n V . i y f i n ) oder u m die Lebensf ü h r u n g des Paulus (darauf deutet die N a c h a h m u n g s a u f f o r d e r u n g u n d das μ ο υ nach όδοί) 2 8 9 . Bei der „ L e b e n s f ü h r u n g " möchte m a n w i e d e r an das in 4 , 9 13 A u f g e z ä h l t e denken, d.h. den Apostel als Leidenden 2 9 0 , b e i m K e r y g m a eher an den großen Z u s a m m e n h a n g i,io~4,i^291. Wir stehen also v o r derselben Alternative w i e bezüglich τ α ΰ τ α V . 1 4 : Geht es i m engeren Sinne u m die Peristasen des Apostels oder u m eine weitergehende V o r b i l d f u n k t i o n ?

Nach obiger Deutung von 4,8-13 ist ausgeschlossen, dass der Peristasenkatalog den Inhalt der Nachahmungsaufforderung bot. Der Katalog spricht nicht allein von Paulus, sondern von „uns Aposteln", und er stellt keine allgemeinchristliche Leidensexistenz vor. Aus dem syntaktischen und semantischen Zusammenhang lässt sich nur V. 17 als intendiert offene Explikation der Nachahmungsaufforderung verstehen. Die unscharfe Rede von αί όδοί μου αί έν Χριστώ [Ίησοϋ], καθώς πανταχού έν πάση εκκλησία διδάσκω lässt es nicht zu, die Aufforderung nur auf eine Sache zu beziehen, sei es einen ganz bestimmten Lebensbereich, eine aktuelle Paränese oder auch die christologische Predigt. Es geht um die Verkündigung des Paulus, die auch die Lebensführung betrifft und die sich gerade an seiner Person ein-

289 Die Debatte ist sehr ausführlich bei Schräge 1 Kor Bd.i, 359 t dargestellt. 290 So Schütz 1975, 209; Fee iKor, 186 (bezogen auf 4,11-13, als ein Teilargument gegen Angeberei und für die dienende Natur der Jüngerschaft); Lambrecht 1996, 330ff; Meyer 1 Kor, 125; vgl. weiter 3.7. Nach Schräge ist es in der Sache kein Unterschied, ob bei den όδοί an die Peristasen oder das gesamte Mahnen des Apostels gedacht wird, sie seien so oder so „Wegweisungen im Zeichen des Kreuzes" ( i K o r Bd.i, 360). Nicht auf die Peristasen speziell, sondern auf das Leiden allgemein beziehen es Conzelmann 1 Kor, 1 1 1 ; Wolter 1990, 552; Wolff 1 Kor, 94 mit Anm.401. 291 Vgl. Ollrog 1979, i8if Anm.98, der dies dann allerdings auf die theologia crucis und das Leben in Niedrigkeit verengt. H.D. Betz 1967, 154ft (s.u.) präzisiert gegen eine kreuzestheologische Engführung, dass es um die Mimesis Christi und nicht des irdischen Jesus gehe, in der Sache um das Kerygma und die paulinische Paränese, wie sie in i,ioff deutlich werde. In der Sache ähnlich votieren so auch jene, die einfach die gesamte Lebensführung des Paulus einbeschlossen sehen, so Weiß 1 Kor, 117.

4i4

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

bildet 2 9 2 . D a s s P a u l u s u m f a s s e n d als Vorbild fungiert, legt bereits d a s K o n z e p t elterlicher Erziehung u n d V o r b i l d f u n k t i o n nahe. Dieses K o n zept steht auch hinter V . 1 7 , w i r d doch Timotheus mit der metaphorischen P r ä d i z i e r u n g als „ m e i n geliebtes u n d v e r t r a u e n s w ü r d i g e s K i n d i m H e r r n " eingereiht in die „ K i n d e r s c h a r " des Paulus. Timotheus wird auffallend parallel zu V.14I5 attribuiert als μου τέκνον ά γ α π η τόν και πιστόν έν κυρίω (V.iyb). Die Eltern-Kind-Metapher wird also noch einmal belebt, nun allerdings mit verändertem Zielbereich, geht es doch jetzt um die Relation des Paulus zu seinem Mitarbeiter (zum Bildfeld vgl. §5.1.10.1). Dass V.i7b analog zu V . y b darauf anspiele, dass Paulus Timotheus bekehrt habe, ist zweifelhaft. Denn nach Apg 16,1 war Timotheus bei seiner ersten Begegnung mit Paulus bekehrter Christ. Es ist schwer vorstellbar, dass es, hätte Paulus Timotheus selbst zum Christen bekehrt, über diesen Sachverhalt keine alte Personaltradition gab; wenn es diese gab, ist es wiederum schwer vorstellbar, dass die Apg sie nicht erwähnte293. Im Unterschied zu 4,15 und Phlm 10 fehlt hier aber auch das fokale Verb γεννών. Daher ist die Kindesmetapher am besten als Qualizierung der Rolle zu verstehen, die Timotheus in der Mission des Paulus übernahm: Sie beschreibt die geistige und intentionale Verwandtschaft mit Paulus und zugleich die Subordination unter ihn. Dies entspricht der Funktion der Präsentation von Timotheus im vorliegenden Kontext und auch der Erklärung der nämlichen Metapher in Phil 2,22 (ώς πατρί τέκνον σύν έμοϊ έδούλευσεν εις τό εύαγγέλι.ον) 294 . „ A d d i e r t " zeigen die K i n d e r - M e t a p h e r n Timotheus als „ B r u d e r " der A d r e s s a t i n n e n in Korinth 2 9 5 . Der A u t o r empfiehlt ihn deshalb der G e m e i n d e : Timotheus ist v e r t r a u e n s w ü r d i g e r als diese u n d in der L a g e , sie an die W e g e u n d Lehre des P a u l u s z u erinnern. A l s dessen

292 Deutlich sagt das m.W. nur Weiß 1 Kor, uyf: „Dann würde der Akzent nicht sowohl darauf liegen, daß sie dies oder das an ihm nachahmen sollen, sondern daß sie ihm und nicht jenen , παιδαγωγοί' sich anschließen, daß sie die Geistesgemeinschaft mit ihm, die verloren zu gehen droht, wieder herstellen sollen. ... Das Betonen der eigenen Persönlichkeit liegt schon in dem drängenden παρακαλώ und vor allem in V.17." Ahnlich tendiert auch W.P. de Boer , 139ff, bes. 146 dahin, die Bedeutung der Nachahmungsaufforderung von V.17 her als allgemeinere Aufforderung der gelehrten Wege zu verstehen. 293 Gegen Heinrici i K o r , 162; Meyer i K o r , 126; Robertson/Plummer i K o r , 90; Ollrog 1979, 2of; Conzelmann 1 Kor, 111 Anm.19; Wolff i K o r , 94; R.F. Collins, i K o r 196.199; Lindemann 1 Kor, 115, die aus 1 Kor 4,17 schließen, dass Timotheus Konvertit des Paulus war. 294 Vgl. dazu § 5.1.10.1. Die Metapher ist aufgenommen in den Präskripten 1 Tim 1,2 und 2 Tim 1,2. - Auch bei entsprechenden Metaphern in den Johannesbriefen ist nicht zu unterstellen, dass die Angeredeten vom Briefschreiber persönlich bekehrt wurden. Noch anders Merklein i K o r Bd.i, 329, der vermutet, die Metapher sei in der Nachahmung des Apostels durch Timotheus begründet. 295 So auch Meyer i K o r , 126; Heinrici i K o r , 162; B. Sanders 1981, 363 ("elder brother"); Wolff 1 Kor, 94.

i K o r 4,16 f

415

„ v e r t r a u t e r S o h n " ist er o f f e n b a r b e s o n d e r s g e e i g n e t , d e n

Gemeinde-

g r ü n d e r z u v e r g e g e n w ä r t i g e n 2 9 6 . D i e intime B e z i e h u n g z u P a u l u s enthebt ihn - in der Sicht des P a u l u s - der M e n g e der π α ι δ α γ ω γ ο ί

und

sonstigen in der G e m e i n d e wirkenden „Bauarbeiter". Diese Beobachtungen zur kontextuellen Einbindung ergeben

für

die Semantik u n d Pragmatik der N a c h a h m u n g s a u f f o r d e r u n g , dass der Autor

eine u m f a s s e n d e Orientierung

an seiner Person fordert

damit zugleich andere Vorbilder ausschließt. Diese D e u t u n g

und

stützen

auch jüngere Untersuchungen z u m antiken Vorbilddiskurs, die

kurz

darzustellen sind.

Exkurs:

Die V o r b i l d a u f f o r d e r u n g e n des P a u l u s in der exegetischen Debatte

D i e D i s k u s s i o n ü b e r die „ i m i t a t i o P a u l i " hat sich l a n g e a n einer z u e n g e n Textbasis u n d f a l s c h e n A l t e r n a t i v e n abgearbeitet 2 9 7 . A l s klassische R e f e r e n z texte n e b e n 1 K o r 4,16 gelten 1 K o r 1 1 , 1 ; 1 T h e s s i , 6 f , v g l . 2 , 1 4 ; G a l 4 , 1 2 ; Phil 3 , 1 7 u n d 4,9, meist mit μ ι μ η τ ή ς b z w . τ ύ π ο ς formuliert 2 9 8 . A u f f ä l l i g ist, d a s s P a u l u s diese T e r m i n o l o g i e n u r v e r w e n d e t in B r i e f e n a n v o n i h m g e g r ü n d e t e G e m e i n d e n . G l e i c h f a l l s s i g n i f i k a n t ist, d a s s P a u l u s nie explizit fordert, μ ι μ η τ ή ς

296 Vgl. auch Phlm 17: Der in V.10 als „ K i n d " titulierte Onesimus solle aufgenommen werden wie Paulus selbst. - Timotheus erscheint selbst als Beispiel für die Gemeinde, weil er das tut, was diese zu tun aufgefordert wird; vgl. Ollrog 1979, 182, der Timotheus Vorbild der Gemeinde nennt, doch ohne daraus wie hier auf die Relevanz der Persönlichkeit des Apostels zu schließen. Vgl. weiter W.P. de Boer 1962, 146: Timotheus sei "a living representation of Paul in their midst". Merklein (1 Kor Bd.i, 328f) vergleicht die Funktion des Timotheus mit der Parusie-Wirkung des Briefes (vgl. dazu § 2.2.2), da beide den Apostel repräsentieren würden. 297 Die Diskussion kann hier nur exemplarisch verdeutlicht werden. Altere Literatur bei Wilhelm Michaelis, Art. μιμέομαι κτλ., in: ThWNT 4 (1942), 661-678: 66if Anm. Die Literatur ist mit Schwerpunkt auf der imitatio Christi bis etwa 1987 dargestellt von Merk 1989, 173-193, freilich sehr wertend im Blick auf die von Merk für richtig erachtete Subsumption der Nachahmungsaufforderungen unter den Indikativ des Heilsgeschehens - für ihn die eigentliche Sachfrage (vgl. nur a.a.O., 181). Vgl. zur Forschung weiter Dodd 1999,18-29. 298 Vgl. zur Bedeutung von μιμέομαι κτλ. Michaelis ThWNT 4, 661-663; Castelli 1991, 39ff. Im NT begegnet das Wortfeld μιμέομαι κτλ. fast nur im corpus Paulinum. Hier nicht berücksichtigt sind 2 Thess 3,7.9 und Eph 5,1, die in der älteren Literatur noch als paulinisch gelten und die Rekonstruktion verändern. In 2 Thess 3,6-13 geht es um die Nachahmung des Paulus im Arbeitsfleiß. In Eph 5,1 geht es um die μίμησις Gottes als Vaters durch die geliebten Kinder.

4i6

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

Christi zu werden 2 ", und nur in Bezug auf das Leiden in ι Thess 1,6 retrospektiv eine Nachahmungsrelation der Gemeinde zum Kyrios behauptet. Die Aussagen außerhalb des 1 Thess fordern eine Nachahmungsbeziehung der Gemeinde zu Paulus. Darüber hinaus überwiegen aber die Differenzen. Die Aussagen variieren sowohl in ihrer Formulierung wie ihrem Ort im jeweiligen Brief. Eine Affinität zur Eltern-Kinder-Metapher ist nur in χ Kor 4,16 zu erkennen300. In 1 Thess 1,6 f; 2,14 wird das Ertragen des Leidens aufgewertet durch die Mimesis-Beschreibung, die ihm beziehungsstiftende Qualität zuspricht (vgl. § 6.3). Auch in Gal 4,12 handelt es sich nicht um eine übliche Nachahmungsaufforderung. Die logisch schwierige Aussage bittet die Adressatinnen, es einer beziehungsknüpfenden Angleichung des Paulus an sie gleichzutun. Inhaltlich kann es nur um die Ermöglichung der Gemeinschaft auf Grund der Gesetzesfreiheit gehen (vgl. § 8.4.2). Lehre und Tun des Paulus stehen hingegen in Phil 3,17 und 4,9 wie in xKor 4,16 f im Mittelpunkt. Die gewichtigen Forderungen im Phil rüsten die Gemeinde für den Fall, dass Paulus in ihr keine aktive Rolle mehr einnehmen wird (vgl. §5.2.3). i K o r 11,1 rekurriert auf 4,16, nun aber erweitert um καθώς κ ά γ ώ Χρίστου. Der Satz schließt die Argumentation für die Rücksichtnahme der „Starken" auf die „Schwachen" in Kap. 8 - 1 0 durch eine summierende Aufforderung ab. Was nachzuahmen ist, sagt Paulus explizit. Es sind der freiwillige Verzicht auf Rechte und die Maxime, nicht das Seine zu suchen, sondern das der anderen (10,33, v gl· 1 0,24). Der knappe Verweis darauf, dass Paulus selbst Christus nachahmt, durch das mehrdeutige καθώς zwischen Vergleich und Begründung schwingend 301 , legitimiert nicht, Paulus aus der „transitiven" Formulierung herauszukürzen, als sei gefordert, Christus nachzuahmen. Was die Gemeinde angeht, bleibt Paulus Orientierungsperson (vgl. auch 1 Kor 9). Das μίμησίς-Konzept ist nicht atl. noch genuin jüdisch, sondern griechischhellenistisch302. Die protestantische Exegese wurde provoziert von dem Gedanken, dass Paulus sich selbst als inhaltliches Modell entwerfe, etwa im Sinne einer heteronomen Ethik. Die These Michaelis' von 1942, dass es sich eigentlich um eine formale Gehorsamsforderung handele303, überzeugte zumal nach dem

299 Auch Phil 3,17a ist von V.17I3 her nicht als Aufforderung zur Christusnachahmung zu verstehen, sondern als Forderung: „Alle zusammen werdet meine Nachahmer" (U.B. Müller Phil, 172). Auch im Kontext ist Paulus selbst ein Vorbild, vgl. 3,4-11; 4,9. 300 Vgl. zu entsprechenden Annahmen § 8.4.2 ad Gal 4,12. 301 Mit Schräge 1 Kor Bd. 2, 477; Wolff 1 Kor, 242. 302 Dies ergibt bereits die Zusammenstellung von Texten bei Michaelis ThWNT 4, 661668, und es ist auch allgemein anerkannt. 303 Michaelis (ThWNT 4, 668ff) leitet das Konzept nicht ab, sondern füllt es von Paulus (incl. Eph und 2Thess) her. μιμέομαι sei dreifach bei Paulus zu verstehen: Neben einfachen Vergleichen (1 Thess 2,14, evtl. auch 1,6) und Paulus als einem Vorbild, bei dem bereits die Anerkennung der Autorität eine Rolle spiele (2 Thess 3,7.9; Phil 3,17), sei am bedeutsamsten die Forderung des Gehorsams ( i K o r 4,14; 11,1; 1 Thess 1,6; Eph 5,1; a.a.O., 674^. Paulus wolle, dass die Gemeindeglieder ihm folgten, er fordere nicht ethische Inhalte ein (a.a.O., 676). Die christologische Rückbeziehung

Exkurs: Die Aufforderung zur Nachahmung des Paulus

417

Dritten R e i c h nicht mehr 3 0 4 . Viele erklären, i n s b e s o n d e r e v o n 1 K o r 1 1 , 1 a u s g e h e n d , die V o r b i l d f u n k t i o n des P a u l u s als generell christologisch b e s t i m m t u n d nicht konkret auf einen Inhalt b e z o g e n , s o n d e r n i m Sinne einer allgemeineren conformitas 3 0 5 . D a m i t geriet die F r a g e in die „ J e s u s - P a u l u s - D e b a t t e " , V o r b i l d P a u l u s in d e n Schlagschatten der christologischen F r a g e , ob u n d , w e n n ja, w i e C h r i s t u s selbst „ V o r b i l d " ist 3 " 6 . N a c h H . D . Betz e t w a meint d e r R ü c k b e z u g auf C h r i s t u s nicht d e n Irdischen, s o n d e r n so, w i e religiöse μ ί μ η σ ι ς i m U m f e l d sich auf M y t h e n beziehe, das - freilich e i n m a l i g e - C h r i s t u s k e r y g m a 3 0 7 . Katholische E x e g e t e n vertraten d e m g e g e n ü b e r u n b e f a n g e n e r , d a s s

wird niedrig gewichtet (vgl. etwa die Paraphrase von i K o r 11,1: „ich habe es euch befohlen, mir aber hat es Christus befohlen", a.a.O., 672). 304 Michaelis ist einhellig kritisiert worden (vgl. nur die spitzfindige Bemerkung Schliers [Eph, 231 Anm.i], Michaelis' Reduktion der μίμησις im Sinn der Annahme des Wortes „entspricht weniger den Texten als einer eigentümlichen protestantischen Abneigung gegen das ,Vorbild'"). Die wenigen außerntl. Belege, auf die er sich stützt, haben keine Beweiskraft (vgl. Fiore 1986, 166), und die für seine Argumentation so wichtige Interpretation von 1 Kor 4,16 ist zu weit konstruiert (vgl. Fiore a.a.O., 167ft). 305 So etwa pointiert Roloff 1965,116-120, der die Frage der μίμησις im Zusammenhang der „Vaterschaft" verhandelt. Er behauptet ohne Nachweis an den Texten, sondern unter Rekurs auf rabbinische Traditionen und seine Gesamtthese, dass es zentral um die autoritative Bewahrung der Christustradition gehe und Paulus selbst diese lebendig repräsentiere wegen des Auftrags des Auferstandenen an ihn, der sein ganzes Leben umgreife. Roloff kann daher die Texte verkürzen auf die Aussage ,,Μίμησις Παύλου ist μίμησις Χρίστου" (119)· Diese Tendenz hat auch Merk 1989, sie macht sich aber auch in Einzelauslegungen bemerkbar wie der U.B. Müllers zu Phil 3,17 (Phil, 173t), der im Anschluss an Betz deutet, für Paulus solle das ganze Leben den Charakter des μιμεϊσθαι. τόν Χριστόν bekommen. Zu 1 Kor 4,16 formulieren entsprechend Merklein: „ Es geht letztlich um die existentielle Applikation des Gekreuzigten" ( i K o r Bd.i 326ft, Zitat 328), und Schräge: „Paulus ruft also konkret dazu auf, ein Leben in der Konformität zum Gekreuzigten zu führen" (1 Kor Bd.i, 357ft, Zitat 359); vgl. mit entsprechender Tendenz Schäfer 1989, 359ft. Auch W.P. de Boer 1962 fasst die imitatio Pauli (unter Einbeziehung von 2Thess, Pastoralbriefen und Apg) als Darstellung der Mittlerfunktion des Paulus auf, allerdings hier stärker im Blick auf die Weitervermittlung eines jesuanischen Vorbildes an Demut. 306 Vgl. dazu Merk 1989, bes. 184ft. 307 Mimesis sei „die vergegenwärtigende Darstellung des mythischen Geschickes einer Gottheit durch den Gläubigen, wobei dieser nicht mit der Gottheit selbst identisch gedacht ist. In der Mystik kann der Gläubige durch ein frommes Leben, asketische Vorbereitung und Ekstase zu einer höheren Einheit mit der Gottheit gelangen" (H.D. Betz 1967, 3ft, Zitat 4). Von Paulus sei dieses Konzept allerdings verändert, indem es nun das geschichtlich Einmalige, den Christusmythos, nachahme. Vgl. aber auch von Lips 1998, 299fr Paulus sei nicht ethisches Vorbild, nicht Modell, sondern „Vorbild der Existenz". „Sich am Apostel orientieren heißt dann, als Glaubender das Heilsgeschehen in Christus für sich gelten zu lassen: aus dem geschenkten Heil und unter seinem Vorzeichen - und das ist das Kreuz - zu leben".

4i8

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

es um apostolische Autorität des Paulus und Christus als Vorbild ethisch geforderten Handelns gehe 3 " 8 . In den letzten Jahren hat diese Diskussion drei weiterführende Impulse erhalten, die für unser Verständnis von ι Kor 4,16 zentral sind 3 " 9 . 1 ) Orientiert man sich nicht an den Begriffen, sondern an der Pragmatik der Selbstaussagen des Paulus, so erkennt man, dass vor allem die Nachahmungsaufforderungen in 1 Kor und Phil mehrere paradigmatische Selbstanführungen bündeln. Paulus präsentiert sich auch sonst als „personal example" 3 1 0 . Das entzieht einer christologisch enggeführten Lektüre der Aussagen das Recht. 2) Diese Art der Selbstanführung partizipiert an der damaligen Erziehungskultur, in der Verweis auf Personen als Vorbilder selbstverständlich war. Paradigmatische Selbstanführungen finden sich in der den Paulusbriefen verwandten Literatur 311 . Sowohl in der rhetorischen Theorie als auch Praxis haben Beispiele eine wichtige Rolle als zugespitzte Darstellung dessen, was erstrebt oder vermieden werden soll; beispielhaft kann auch die Person des Lehrers oder Elternteils sein 312 . Das Konzept ist auch in die frühjüdische und in die frühchristliche Literatur nach Paulus eingegangen 313 . Verweise auf die eigene Person findet man gerade in der brieflichen Literatur - natürlich nur im positiven Sinne 314 . 3) Paradigmatische Selbstanführung und Gehorsamsforderung sind keine Alternative; Michaelis ist hier zumindest partiell zur rehabilitieren. Das antike Mimesis-Konzept ist konstituiert durch eine Hierarchie, "in which the model is

308 Vgl. Stanley 1 9 5 9 ; Schulz 1962. Er trennt zwar Nachfolge Jesu und Nachahmung Christi konzeptuell, schreibt aber letzterer gleichfalls einen ethischen Inhalt zu. Nach Wolbert 1 9 8 1 stellt sich Paulus als paränetische Autorität heraus, die selbst von den ethischen Forderungen betroffen ist. 309 Die Aspekte sind ausführlich in Aufnahme der Forschungsdiskussion vorgestellt bei Dodd 1 9 9 9 , 1 8 ff. 3 1 0 Paradigmatisch fungiert insbesondere χ Kor 2 , 1 - 5 ; 710'> 4,15 )345. Es mag sein, dass der Autor implizit gegen theologische Auffassungen des Apollos angeht, doch als Grund für die beanspruchte Rolle nennt er nicht eine bessere Theologie. Die Prämisse, dass dem Primat der Zeit ein Primat der Autorität entspricht, war in Korinth, wie die Schismen

345 Vgl. auch Wanamaker 2003 zur „ideologischen" Herausstellung der Gemeindegründung durch Paulus. In der Regel unterstellen die Auslegungen theologische Differenzen zwischen Paulus und anderen Missionaren. Die mag es gegeben haben, sie werden aber vom Text nicht als differentia specifica des Paulus unter den Missionaren genannt. Dass Paulus durch den Spannungsbogen von 1,10, bis 4,16 letztlich vor allem Autorität für sich allein beansprucht, wird selten bemerkt. Merklein benennt es ( „Es geht Paulus also nicht bloß um Einmütigkeit; er will Einmütigkeit unter seiner Autorität ...!", iKor Bd.i, ii2f), relativiert die Forderung aber als nicht rein formale, weil er „Autorität um der Sache willen", d.h. des Gekreuzigten willen erwartet (ebd.).

Die Autorität des Gemeindegründers nach ι Kor 1 - 4

433

zeigen, umstritten. Paulus begründet sie nicht diskursiv, sondern nur metaphorisch unter Rückgriff auf kulturelle Selbstverständlichkeiten346. Mag diese Kausalbegründung nach heutigen Werten nicht überzeugen, so liefert 4,14 ff darüber hinaus ein pragmatisches Argument, eine implizite Finalbegründung, die eine Lösung für das Problem der Schismen in sich trägt: Wenn die Vielfalt der Missionare zur Zwietracht führte, so die gemeinschaftliche Orientierung der Adressatinnen als seine Kinder an ihm als dem einen Vater zur Eintracht347. Jenseits dieses Führungsanspruchs als Gemeindegründer reklamiert Paulus, wie wir sahen, für sich keine einzigartige religiöse Autorität. Und es leidet keinen Zweifel, dass Paulus eine Führungsposition nur deshalb beansprucht, weil er von Gott begnadet (3,10, vgl. 3,5) und von Christus zum Evangelisieren gesandt ist (1,1.17). Durch die Annahme einer nach menschlichen Maßstäben niedrigen Lebensweise (2,1-5; 4/8-13) vermag er, Geist und δύναμις Gottes zu vermitteln (2,4t). Des Paulus religiöse Autorität ist wie die aller anderen nur relativ. So ist zu gewärtigen, dass Gott derjenige ist, der Wachstum gibt (3,3f), Christus, nicht Paulus das Fundament ist (3,10), Missionare Diener sind, die sich vor Gott zu verantworten haben (4,2ff, vgl. 3,13t), und die Gemeinde „in Christus durch das Evangelium" gezeugt wurde. So entspricht der Autor seiner eigenen Forderung, sich nicht zu rühmen denn im Herrn (1,31, vgl. 4,8), und so verhindert er den Eindruck, er wolle ein einhelliges έγώ ΠαύΛου der Gemeinde erschreiben. Paulus beansprucht also eine relative Autorität, aber diese unbedingt. Der vorbildliche Statusverzicht (2,1-5), das „Ethos der Niedrigkeit" (4,9-13) stellen nicht jegliche Autorität in Frage, sondern nur die nach weltlichen Kriterien. Wird konkurrierende Angeberei mit

346 Dazu zählt neben den Implikationen der Vaterrolle auch die Überzeugung, dass das Ältere das Bessere sei (vgl. Anm.127). 347 Auf diesen sachlichen Zusammenhang von Einheit und Vorbild weist Castelli 1991, 98t hin.

434

Der gemeinsame Vater als einigendes Vorbild

religiösen Autoritäten kritisiert (ι,ιι; 4,6), so doch nicht die Anerkennung einer religiösen Autorität an sich348. 10) Damit können wir abschließend sagen, wie der Briefteil die Beziehung zwischen den Adressatinnen in Korinth und ihrem so qualifizierten Apostel Paulus definiert. Aus dem eben umrissenen Führungsanspruch des Paulus ergibt sich eine asymmetrische und hierarchisch-exklusive „religionspädagogische" Beziehung. Sie ist nach Darstellung des Autors notwendig wegen der Unreife der Adressatinnen, die sich an den Streitereien in der Gemeinde ablesen lässt. Der Autor verschweigt seinen persönlichen und apostolischen Einsatz für die Gemeinde nicht (bes. 2,1-5; 4'9 - 1 3)· Von Seiten der Gemeinde fordert er die Anerkennung dieser singulären Autorität. Wie das Miteinander idealerweise aussieht, deutet nur die Erzeuger-Kinder-Metapher 4,14-21 an. Wir hatten sie vor allem verstanden als Forderung, die exklusive Autorität des Gemeindegründers und seines „Sohnes" Timotheus anzuerkennen. So würde die Abwesenheit des Autors irrelevant. Paulus verlangt nicht das Einstimmen in eine spezifische Theologie, sondern eine umfassende Orientierung an seiner Person. Die weiteren Kapitel des 1 Kor geben eine Vorstellung davon, was dies praktisch bedeutet: Akzeptiert die Gemeinde, dass sie der Führung weiterhin bedarf, so nimmt sie in den für sie virulenten Fragen der Alltagsethik (iKor des Lebens miteinander (Kap.7; Kap.8-10), der Gestaltung des Gottesdienstes (Kap.12-14) seine „Erziehung", seinen Rat und sein Urteil an, ob vor Ort oder brieflich, „wie wenn ich da wäre" (5,3). Man kann der Schlussmetapher neben diesem „Imperativ" auch einen „Indikativ" in 4,14 entnehmen. Der Autor deutet sein Schreiben und seinen beabsichtigten Besuch als väterliche Zurechtweisung der 348 Darum ist die Deutung Theißens zu radikal, Paulus „ordnet sich mit seiner apostolischen Autorität demonstrativ der Gemeinde unter" mit Bezug auf i K o r 3,21-23 (2000,118; vgl. ähnlich Guttenberger Ortwein 1999, 262ft). 3,21-23 beschreibt nicht ein Autoritätsgefälle, sondern ein Dienstverhältnis, und 4,14ft reklamiert eine Autorität. Uber innergemeindliche Autoritäten, für die Paulus nach Theißen „am eigenen Beispiel umso nachdrücklicher die Relativität innergemeindlicher Autorität" herausstelle (a.a.O., 120), äußert Paulus sich gar nicht. Seine Autorität ist kategorial unterschieden, begründet in seiner spezifischen Berufung zum Apostel und einmaligen Leistung als Gemeindegründer. - Die Schwäche des Paulus, die er in 2,1-5 zugesteht, ist nicht spezifisches Signum der apostolischen Autorität des Paulus, wie Krug 2001,167 meint. Die „Schwäche" besteht nur nach weltlichen Kriterien; ein demgemäß verachtetes Leben hat Gott selbst über die Apostel verhängt, es zeichnet also nicht nur Paulus aus, sondern „ u n s " Apostel, die dieser Maxime Gottes folgen (4,9-13). Gleichwohl qualifiziert es solche Apostel als religiöse Autoritäten, zeigt es doch, dass sie das von Gott vernichtete weltliche Werteuniversum verlassen haben.

Die Autorität des Gemeindegründers nach ι Kor 1 - 4

435

geliebten Kinder. Er bietet ihnen mit dieser familiären Beziehung einen - hierarchisch - geordneten und geschützten Raum, in dem man gemeinsam die Werte der Welt, die Gott durchkreuzt hat und die Paulus persönlich bereits hinter sich gelassen hat, vernichtend ignorieren kann und in dem mangels konkurrierenden Autoritäten keine Rivalitäten innerhalb der Gemeinde zu pflegen sind. Bis dereinst „wir gemeinsam herrschen" (4,8), wird das von der Welt unterschiedene göttliche Werteuniversum lebbar, auch für die, die noch unreif sind, in diesem familiären Raum von Kindern unter der Obhut und Führung des einzigen Vaters, Paulus.

§8

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20 im Rahmen des Galaterbriefes Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht ein Satz des Galaterbriefes, der eigentlich nur eine Anrede an die Adressatinnen und Adressaten des Schreibens1 ist: „Meine Kinder, mit denen ich wiederum in den Wehen liege, bis Christus in euch gestaltet w i r d ! " (4,19). Diese auffällige Geburtsmetapher verbildlicht die Beziehung zwischen Briefschreiber Paulus und seinen Konvertiten und Konvertitinnen, um in den Stoßseufzer überzugehen: „Ich wünschte, ich wäre jetzt bei euch und könnte meinen Ton ändern, denn ich bin ratlos euretwegen" (4,20). Über die Bedeutung von 4,19 sind die meisten Interpreten einig: Im Mittelpunkt des Bildes stehen Schmerzen. Es gehe Paulus darum, sein persönliches Engagement darzustellen durch den Vergleich mit einer Mutter, die Geburtsschmerzen erleidet um der Galaterlnnen willen 2 , 1

Die Frage, w o die Adressatlnrien lebten, trägt zur meiner Deutung nichts aus. Z u r Diskussion vgl. Breytenbach 1996; Witulski 2000, i 3 f f . Der Brief w i r d hier als einheitlich verhandelt. Eine f ü r diese Untersuchung relevante, weil antagonistische Interpolationshypothese hat jüngst Witulski a.a.O. vertreten: Gal 4 , 8 - 2 0 sei nachträglich in den vorhandenen Brief interpoliert worden. Seine Hauptbegründung ist, dass die Passage unterstelle, die Adressatinnen wollten in ihren heidnischen Götterkult in aktueller Variante zurückfallen, nämlich dem Kaiserkult anhängen, w ä h r e n d der ursprüngliche Brief eine judaistische Gegnerschaft bekämpfe. Damit nimmt Witulski der Argumentation ihre Spitze; vgl. unten Anm.96. Unbenommen dessen, dass literarkritische Operationen neue Texte ergeben können, die sich ihrerseits sinnvoll lesen lassen, ist der vorliegende Brief gerade mit dem Abschnitt 4 , 8 - 2 0 ein kohärenter Text mit deutlicher Pragmatik.

2

Das hindert Ausleger nicht daran, in ihm den Vater zu sehen, vgl. nur Dunns zusammenfassende Bemerkung (Gal, 241): "the characterization of his relationship to them had s w u n g from enemy to f a t h e r " , bezogen auf 4,16.19. Ahnlich spricht Becker von der erneuten Vaterschaft (Gal, 68.70); Lietzmann v o m „ B i l d von Vater und Kind e r n " (Gal, 29). Güttgemanns 1966, 170 fasst den Abschnitt direkt unter die Überschrift: „ D e r leidende Apostel als ,Vater' seiner G e m e i n d e " . Im Rahmen der „geistlichen Vaterschaft" interpretiert auch Gutierrez (1968, 2 1 3 f t ) die Metapher als Beschreibung des apostolischen A m t e s : Lebensvermittlung, Fürsorge, Abhängigkeit der Gemeinde, ja «l'union» mit dem Apostel. Der Schmerz spiele an auf die Leiden

438

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4 , 1 2 - 2 0

tiefe Gefühle 3 und Ratlosigkeit4 zu zeigen. In diesen Deutungen wird der Temporalsatz 4,19b in der Regel unabhängig von der Metaphorik in 4,19a verstanden, wenn nicht gar als eine zweite Metapher 5 . Denn wer genauer hinsieht, entdeckt eine Spannung zwischen V.iga und b. Gaventa sagt es pointiert: "Inside the 'womb' we would find the Galatians, and the object of the labor (sc. Paul's) is Christ who is born among the Galatians! The portrait is, to say the least, complicated." 6 Im Folgenden entfalte ich eine Auslegung, die die Metapher pointierter deutet als bislang und den Beitrag von 4,12-20 für das Sachanliegen des Briefes herausstellt. Der Autor appelliert an die Galaterlnnen, sich an ihm zu orientieren (4,12), und erinnert an die erste Begegnung und Freundschaft (4,13ff), die aufgrund des Werbens anderer in Feindschaft umgeschlagen scheint (4,i6ff). Der Rekurs auf die Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde wird zum Mittel, die Gemeinde bei der „Wahrheit des Evangeliums" zu halten. Die Erinnerung an das Zusammensein und die Verbildlichung der Beziehung haben aber nicht nur appellativen Charakter, sondern treffen ins Herz des Streites. Denn diese Gemeinschaft zwischen dem Autor jüdischer Herkunft und den Adressatinnen aus den Völkern wurde erst möglich durch die die ethnischen Unterschiede aufhebende Taufe „in Christus". An der gegenseitigen Beziehung wird also deutlich, was die Galaterlnnen im Begriff sind zu verspielen. Die folgende Auslegung setzt ein Gesamtverständnis des Gal voraus, das sie nicht einzeln entfalten kann. Ich orientiere mich darum an Sinnlinien, die das komplexe Textgewebe des Galaterbriefes zusammenhalten, semantischen Fäden, die den Brief durchziehen und immer wieder neue Muster bilden. Auch der Appell 4,12-20 ist durch Sinn-

des Apostels, ohne die seine Mission nicht zu tun sei. - Dass es in erster Linie u m den Schmerz, den Paulus erleidet, geht, w i r d fast durchgängig behauptet. So deuten Burton Gal, 248t; von Allmen 1 9 8 1 , 1 8 4 (als „ P o i n t e " ) ; Becker Gal, 67; Egger Gal, 3 2 ; V o u g a Gal, 106; Rohde Gal, 178; Longenecker Gal, 187; Oepke Gal, 146; Bormard Gal, 94.159; Dunn Gal, 23; Mußner Gal, 304; Legasse Gal, 334f; Bieringer 1994c, 242. 3

Diese betont vor allem Bieringer 1994c, 242t ("maternal l o v e " , 242).

4

Longenecker Gal, 194.197.

5

So pointiert Dunn Gal, 241, während das Verhältnis sonst k a u m problematisiert wird.

6

Gaventa 1990b, 189.

Zur Interpretation des Galaterbriefes

439

linien in d e n Kontext v e r w o b e n 7 . E i n g a n g s w i r d der briefliche C h a r a k ter des G a l s o w i e die Stellung u n d Funktion v o n G a l 4 , 1 2 - 2 0 im K o n text bestimmt (1). D a n n stelle ich dar, w i e der Brief die B e z i e h u n g v o n V e r f a s s e r u n d A d r e s s a t i n n e n im G e g e n ü b e r z u d e n G e g e n s p i e l e r i n n e n e n t w i r f t (2). G a l thematisiert das Verhältnis v o n J ü d i n n e n u n d J u d e n g e g e n ü b e r H e i d i n n e n coram D e o auf der Folie einer dualistischen Wirklichkeitskonstruktion, v o r der Familienmetaphern alte u n d n e u e „ V e r w a n d t s c h a f t e n " versinnbildlichen. Die G e b ä r m e t a p h e r 4,19 ist Teil einer u m f a s s e n d e n Sinnlinie v o n Familienbildern. Die A n a l y s e zeigt, w i e der Brief G r e n z e n verschiebt u n d mittels Inklusionsbildern f ü r die A u f h e b u n g sozialer Dichotomien argumentiert, die a u c h das Miteinander v o n A u t o r u n d A d r e s s a t i n n e n betrifft (3). E i n g e d e n k dessen ist die B e d e u t u n g der M e t a p h e r 4,19 im Kontext v o n 4 , 1 2 - 2 0 auszuleg e n (4). Die Ergebnisse w e r d e n abschließend z u s a m m e n g e f a s s t (5). Die folgende Auslegung von Gal 4,12-20 setzt eine bestimmte, per se streitbare Interpretation der im Brief entfalteten Theologie voraus. Die Interpretation kann nicht im einzelnen begründet werden, findet aber m.E. durch diese Deutung weitere Unterstützung. Mit der Diskussion vertraute Leserinnen werden die „Positionsmarker" erkennen8. Die wesentliche Prämisse ist, dass der Brief nicht ein Gegenüber von Juden und Christen voraussetzt, sondern ein Gegenüber von Juden und Jüdinnen einerseits, Heidinnen andererseits. Der Brief entwirft die Vision einer Gemeinschaft jenseits der Frage der Gesetzeseinhaltung 9 . Damit wird dem Gesetz auch jene soziale Funktion insbesondere in der Diaspora bestritten, die jüdische Identität in Differenz zur heidnischen zu definieren. Die Ablösung dieser Funktion des Gesetzes ist aus Sicht des Autors bereits Abraham verheißen und mit dem Kommen Jesu Christi bzw. dessen Fluchtod zum von Gott bestimmten Zeitpunkt geschehen. Der inklusive „Christus" tritt also an die Stelle des exklusiven Gesetzes. Die Aussagen über das Leben unter dem Gesetz bzw. dessen Ablösung bezieht man am besten nur auf die „geborenen" Juden und Jüdinnen (ήμεΐς φύσει'Ιουδαίοι, 2,15). Dann referiert auch das „Wir" in 3Λ3 10 ; 3,24-26; 4,3-53" auf ein nos natura Iudaicum, nicht 7

In dem Abschnitt kreuzen sich viele Sinnlinien, die den ganzen Brief bestimmen, und insofern ist 4,12-20 nicht, wie gelegentlich behauptet wird, erratisch; so Mußner Gal, 305 („wie eine große Parenthese"); Longenecker Gal, 188; Betz Gal 1979, 221; nach Schlier Gal, 208 u.a. ist der Gedankengang zudem in sich „sprunghaft"; weitere Belege bei Smith 1996, 493 Anm.46.

8

Vgl. ingesamt nur Dunn 1990; 1994; Strecker 1996; Wolter 2004 zur Forschungsgeschichte und dem „Paradigmenwechsel".

9

Vgl. Donaldson 1986, 97: "In Galatians a Jewish Christian author debates an opposing Jewish Christian position for the benefit of his Gentile Christian readers".

10

Vgl. Donaldson 1986; Schröter 2000, 39ff.

11

Zu 4,3 vgl. Longenecker Gal, 164, der allerdings die folgenden Sätze anders deutet als hier; Schröter 2000, 54ff. Zur hier vorausgesetzten Referenz von 4,4-7 vgl. unten Anm.95.

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4 , 1 2 - 2 0

440

aber auf die Adressatinnen. Auch das „Ich" in 2,19f ist am besten auf einen geborenen Juden zu beziehen, der zunächst paradigmatisch für die judenchristliche Biographie steht12. Dieses Verständnis impliziert, dass der Brief die Situation von Heidinnen ante Christum, obschon „versklavt", nicht als Leben unter dem Gesetz kennzeichnet, sondern die Geltung des Gesetzes nur auf Jüdinnen/Juden ante bzw. extra Christum beschränkt. Das Christusgeschehen wirkt dann unterschiedlich, als Loskauf der Juden/Jüdinnen aus dem Gesetz (3,13; 4,4), als Geistempfang aller (3,1-5; 3,14c; 4,6), der für die Heidinnen die Inklusion in die Gottesfamilie wirkt (4,6f) 13 . So distanziert der Autor die Heidinnen weitest möglich von dem jüdischen Gesetz.

1

Gal 4,12-20 im Duktus des Galaterbriefes

F ü r unsere F r a g e nach der Beziehungsgestaltung im G a l ist relevant, dass der G a l i m Vergleich mit d e n Briefen des P a u l u s d e n brieflichen R a h m e n lakonisch gestaltet u n d die epistolare T o p i k f ü r die Bezieh u n g s p f l e g e n u r reduziert einsetzt 1 4 . Er hat insofern eine N ä h e z u r Rede 1 5 , obschon er selbst in 4,20 die D i f f e r e n z z w i s c h e n m ü n d l i c h e r 12

N u r f ü r den Christen, die Christin jüdischer Herkunft gilt, dass er b z w . sie διά νόμου νόμω άπέθανεν.

13

Vgl. Schröter 2000,39ft zu Gal 3,10ff und unten Anm.95 zu Gal 4,iff.

14

Z u Formular und Topik von Briefen allgemein vgl. § 2.2. Der briefliche Rahmen des G a l wirkt durch Auslassung einer Danksagung (vgl. §2.2.1.3) sowie von Grüßen (vgl. §2.2.1.4) lakonisch, nur der Eigenhändigkeitsvermerk 6,11 ist auffällig (vgl. § 2.2.1.1). Briefliche Formeln (vgl. § 2.2.1.2) sind die disclosure-Formel in 1,11 und die Vertrauensäußerung in 5,10, die allerdings έν κ υ ρ ί ω statt der Adressatinnen als G r u n d des Vertrauens angibt. A n die Rekursformel erinnert i,8f. Diese Formeln haben verbindenden Charakter, in dem sie die Kommunikationsbeziehung hervorheben, doch philophronetische Topoi wie das Gedenkmotiv oder Besuchswünsche unterbleiben. A u c h ohne die genaue Kenntnis des „paulinischen B r i e f f o r m u l a r s " können damalige Leserinnen den Mangel an philophronetischen Topoi im Brief bemerkt haben (mit Mitternacht 1999, 1 7 9 - 1 8 8 ; Kremendahl 2000, 3 2 f t ; gegen Sängers Z w e i f e l daran, dass die damaligen Leserinnen das bemerkten [2002, 382 A n m . 1 7 ] ) . Manches kann man sogar als Parodie der Briefformeln ansehen: θ α υ μ ά ζ ω 1,6 erinnert an die ironische Wendung, die am Briefeingang Kritik unter Bekannten einleitet, besonders das Ausbleiben von Post des Adressaten einklagt (mit J.L. White 1972, 49; den ironischen Charakter unterstreicht Nanos 2002, 32ft). U n d 6,17 könnte gar als die Adressatinnen bloß stellende Inversion der Gesundheitsformel verstanden werden (vgl. § 2.2.2.6). - Vgl. aus pragmatischer Sicht auch du Toit 1992, 283.

15

Mit Schnider/Stenger 1987, 3 1 t ; hier liegt das relative Recht der rhetorischen Auslegungen. Doch erschließen m.E. die Thesen des rhetorical criticism z u m A u f b a u und zur Einordnung des G a l weder die Pragmatik des ganzen Briefes noch des im Mittelpunkt dieser Analyse stehenden Abschnitts 4,12-20, sondern sie setzen die Deutung bereits voraus. Ich umreiße knapp die Diskussion. Sie w u r d e angestoßen und nachhaltig bestimmt durch H.D. Betz' Kommentar v o n 1979 (bes. 1 4 - 3 3 ) . Seine These, Gal sei ein apologetischer Brief und von daher seien auch die Abschnitte entsprechend

Gal 4 , 1 2 - 2 0 im Kontext des Galaterbriefes

441

Rede und Brief thematisiert. Wichtiger ist aber die Folgerung, dass daher auf dem Appell an die frühere Freundschaft in 4,12-20, der

dem Redeaufbau zu bestimmen, ist seither Ausgangspunkt jeden Diskussionsbeitrags (vgl. die Übersichten der Forschungsgeschichte Anderson 1 9 9 9 , 1 2 9 f t ; Kremendahl 2ooo, i 2 o f f ; Tolmie 2005,iff sowie Betz' Reaktion in der deutschen Übersetzung des Kommentars Gal 1988, 1 - 4 ) . Nach der Deutung Betz' verteidigt sich Paulus mit dem Brief gegen V o r w ü r f e anderer vor den Adressatinnen als " j u r y " (Gal 1979, 24); 4 , 1 2 - 2 0 sei ein A r g u m e n t mit der Freundschaft, das fünfte A r g u m e n t der probatio 3,1-4,31. Die apologetische Funktion des Gal verteidigt mit Modifikationen Kremendahl: Der apologetische Brief müsse kein forensisches Szenario voraussetzen; 5 , 7 6,18 gehöre als eigenhändiges post scriptum einer anderen Gattung zu (2000,149 und passim). Er verarbeitet damit Kritik an der These Betz', dass die paränetische Passage in den apologetischen Brief nicht zu integrieren sei, dass keine Anklagepunkte explizit genannt werden und dass der Brief nicht in die Vergangenheit schaue, sondern in die Z u k u n f t (vgl. Smit 1989, 2 f f ; Longenecker Gal, cxss; Kremendahl a.a.O., i 2 5 f f ) . Die Frage der fehlenden Anklagepunkte ist allerdings nicht nur eine formale, sondern eine inhaltliche. Die hier vertretene Lektüre des Gal setzt keine explizite Opposition in Galatien oder bewusste Abkehr der galatischen Christinnen von ihrem Missionar Paulus voraus. Neben der exklusiven Alternative von Gesetz und Christus, die der Gal f ü r die Heidenchristinnen behauptet, sind andere trotz P a u l u s ' Polemik nicht illegitime christlich-jüdische Positionen denkbar (vgl. D u n n Gal, I 5 f f ) . Statt dessen w i r d v o r allem die Z u w e i s u n g zum symbuleutischen Genus vertreten; vgl. z.B. Kennedy 1984, 1 4 4 - 1 5 2 und mit ihm Esler Gal, 6of; Hall 1987 ( 4 , 1 2 - 2 0 ist einer der weiteren Beweisgänge des " P r o o f " 1 , 1 0 - 6 , 1 0 ) ; Dormeyer 1 9 9 3 , 1 9 6 ( „ f o r m vollendeter deliberativer B r i e f " ) ; A u n e 1987, 2o6f ( " a deliberative letter with some apologetic f e a t u r e " , 207); V o u g a 1988; Smit 1989, bes. 9 - 2 4 ; ihm schließt sich Brucker 1998, 225ff an. Während die apologetische Deutung vor allem Gal if und die Selbstdarstellung des Paulus berücksichtigt, orientiert sich die symbuleutische mehr an Kap.3f b z w . 5t (Kennedy 1984, i 4 5 f ; Hall 1987, 281 bes. an der Paränese). Diese Z u w e i s u n g trifft am ehesten. Z u bedenken ist aber, dass es in Gal kein gleichberechtigtes Gegenüber und kein Wahlangebot zwischen zwei gleichwertigen Alternativen gibt. Es geht dem Brief nicht u m den Rat in der Entscheidungssituation, sondern u m die Warnung, die bereits getroffene Entscheidung zu verspielen. (Vgl. auch Kremendahl a.a.O., I 4 i f f ; Jürgens 1999, 25f. Z u r problematischen Identifikation v o n 4 , 1 2 - 2 0 als conquestio, d.h. Beginn der peroratio, bei Smit und Brucker vgl. unten Anm.25). Der Vorschlag, den Brief dem rhetorischen b z w . epistolaren epideiktischen Genus zuzuordnen (L.M. White 2003), stellt den tadelnden A s p e k t in den Vordergrund, kann aber die paradigmatischen und paränetischen Aspekte schlecht integrieren. Die Lösung, dass es sich u m ein gemischtes Genus handele (vgl. so z.B. Jegher-Bucher 1991, 7 6 - 8 1 [mit überwiegend symbuleutischem Charakter]; Schoon-Janßen 1991, 6 6 f f . i i 2 f ; vgl. auch A u n e ebd.) vermeidet Festlegungen, trägt aber auch nichts aus. Zahlreich sind auch die Kritiker dieses taxonomisch orientierten rhetorical criticism (vgl. f ü r den Gal z.B. Dunn Gal, 20; Kern 1998; Sänger 2002, 3 8 o f f ; N a n o s 2002, 323 f t ; vgl. die rhetorische Analyse ohne Bestimmung des genus oder der partes orationis durch Anderson 1999, I 4 2 f f ; Longenecker Gal, c-cix plädiert f ü r eine rein epistolographische A n a l y s e des A u f b a u s ; vgl. auch Jürgens 1999, 2 5 - 2 8 ; Tolmie 2005,19.24ft). Das heißt nicht, dass der Brief nicht die persuasiven Mittel der Rhetorik einsetzt, u m seine Leserinnen im Sinne des eigenen Argumentationszieles zu beeinflussen, und z w a r gerade auch durch ήθος, π ά θ ο ς und den A p p e l l an die gemeinsame Beziehung (vgl. Anderson 1999, i 4 2 f f ; Thuren 1999 und Sänger 2002).

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

442

d u r c h d e n b r i e f l i c h e n S e h n s u c h t s t o p o s b e s c h l o s s e n w i r d ( 4 , 2 0 , s. 4 . 7 ) , b e s o n d e r s v i e l G e w i c h t liegt. In

den

besteht

rhetorischen

trotz

Selbständigkeit einem

aller

bzw.

epistolographischen

Unterschiede

Einigkeit

Metadeutungen16

über

die

der P a s s a g e G a l 4 , 1 2 - 2 0 . Ihr Ort w i r d

Brieftyp

oder

einer

vorgegebenen

Gattung

relative

fast nie

von

abgeleitet17.

Ich

schlüssele die L e i s t u n g des Abschnittes 4 , 1 2 - 2 0 f ü r d e n Brief v o n d e n P a s s a g e n her auf, in d e n e n das persönliche Verhältnis

angesprochen

w i r d , 1 , 6 - 9 ; 3 , 1 - 5 ; 4 , 8 - 1 1 ; 4 , 1 2 - 2 0 ; 5 , 1 - 6 ; 5 , 7 - 1 2 ; 6 , i i - 1 7 i 8 . O b w o h l sich auch die argumentativen Passagen des Briefes mit Applikationen die A d r e s s i e r t e n richten, sind v o n d e n prinzipieller Einheiten

diese

deutlich

anredenden,

an

sachorientierten

situationsbezogenen

zu

unterscheiden. D i e s e P a s s a g e n sind unterschiedlich miteinander u n d m i t d e n hier nicht a u f g e f ü h r t e n sachlich a r g u m e n t i e r e n d e n P a s s a g e n v e r s c h r ä n k t , sei es, d a s s sie S c h l u s s f o l g e r u n g e n a u s d e n v o r a u s g e h e n d e n A r g u m e n t a t i o n e n ziehen, sei es, d a s s sie ähnliche B e z i e h u n g s m u s t e r anvisieren. 1 , 6 - 9 k o r r e s p o n d i e r t mit 6 , 1 1 17 1 9 , i n s o f e r n j e w e i l s prinzipielle A u s s a g e n , A u s s c h l u s s - b z w . Inklusionskriterium, die A u s f ü h r u n g e n rahmen. 3 , 1 - 5 u n d 4 , 8 - 1 1 i n k l u d i e r e n die A r g u m e n t a -

16

Eine Übersicht über Gliederungsvorschläge bietet Kern 1998, 9off.

17

Anders ist dies, soweit ich sehe, nur bei Mitternacht 1999, 207ft; seine Auslegung kam mir erst bei Drucklegung zur Kenntnis und kann daher leider nicht ausführlich gewürdigt werden. Mitternacht identifiziert Gal als Petitionsbrief, dessen zentrales Anliegen in der Petition 4,12 formuliert werde, die so zu paraphrasieren sei: „Werdet wie ich, da ich (jetzt, zum Zeitpunkt der Briefabfassung) die Nachfolge Christi repräsentiere. Darm wird Christus in euch Gestalt annehmen (19b)" (a.a.O., 216). 4,13t erinnere die Adressaten daran, dass Paulus selbst „durch sein geplagtes Erscheinen" Christus selbst vergegenwärtigte (a.a.O., 217). Um die zentrale Passage 4,12-20 seien die weiteren Abschnitte chiastisch gruppiert (vgl. a.a.O., 22off.23o). Diese Lektüre kongruiert mit der hier entfalteten in der Ansicht, dass 4,12-20 eine zentrale Funktion im Brief hat und sowohl die theologische wie soziale Problematik anspricht. Doch die Annahme, dass die erst in 4,12 fallende Formel den Brieftyp bestimmt und das eigentliche Anliegen ausspricht, bleibt nicht nur angesichts dessen, dass die sonstige Rezeption den Brief nicht so liest, zweifelhaft. Die Aussage 4,12 ist wegen ihrer doppelten Ellipse mehrdeutig und schwerlich geeignet, den zentralen Inhalt zu transportieren. Auch Mitternachts Interpretation der Aufforderung ist nur eine mögliche und m.E. nicht die beste (vgl. unten 4.2 mit Anm.104 zu 4,12). Nicht plausibel ist m.E. auch die für die These nötige Annahme, in 4,13t erinnere Paulus an seine Schwäche als Repräsentation des Gekreuzigten (vgl. unten 4.3 mit Anm.121 ad 4,13t).

18

Zur Ringkomposition von 6,11-17 mit dem Ich des Paulus in V.14 im Zentrum vgl. genauer Schnider/Stenger 1987,145 ff.

19

Anders Brucker 1998, 232, der 5,7-12 als Rekurs auf 1,6-9 ausmacht.

Gal 4,12-20 im Kontext des Galaterbriefes

443

tion 3,6ff 2 0 . Eine Entsprechung besteht auch zwischen 4 , 8 - 1 1 u n d 5 , i - 6 2 1 . Beide P a s s a g e n sind Applikationen des z u v o r Gesagten auf die G e g e n w a r t der Adressierten mit der Alternative δ ο υ λ ε ύ ε ι ν , ε λ ε υ θ ε ρ ί α . 5 , 7 - 1 2 erinnert an 3 , 1 5 mit der rhetorischen Frage u n d d e m Rückblick auf die Missionssituation, blickt aber darüber hinaus in die Z u k u n f t : Die Angeschriebenen w e r d e n nichts anderes denken, die Gegenspieler hingegen ihr Urteil erhalten (5,10). N e u ist die Polemik (5,12) u n d der H i n w e i s auf die eigene V e r f o l g u n g , aber v o r allem die optimistische Vertrauensaussage 5,10. 4 , 1 2 - 2 0 ist i m R a h m e n d e s B r i e f e s n i c h t i s o l i e r t , a b e r e i n z i g a r t i g . D i e Erinnerung

an

die

gemeinsame

Freundschaft,

ihre

Bewertung

im

Unterschied zu den Motiven der anderen sind singulär; rückblickend lobt der Brief die sonst so scharf kritisierten Galaterlnnen22. Beispiellos ist

vor

allem

die

metaphorische

Beschreibung

der

gegenwärtigen

„Beziehungsarbeit" des Verfassers an den Adressatinnen, der dieses eine M a l die sachliche A r g u m e n t a t i o n g a n z zurückstellt. Die

Anrede

τ έ κ ν α μ ο υ entschärft die Beleidigung ώ α ν ό η τ ο ι Γ α λ ά τ α ι (3,1) wesentlich m e h r als die A n r e d e α δ ε λ φ ο ί , die n o c h d a z u in der ersten Briefh ä l f t e sehr s p a r s a m fiel23. N u r hier, i m e i n z i g e n W u n s c h s a t z d e s Briefes, b e g e g n e t u n s ein Sehnsuchtstopos24, der (als u n e r f ü l l b a r f o r m u lierte) W u n s c h , bei d e n A d r e s s a t i n n e n z u sein. D i e P a s s a g e arbeitet also mit d e m Einsatz v o n P a t h o s u n d Ethos für das Anliegen25. Diese affekterregenden Funktionen 20

21

22 23 24

25

auch tragen

So Kremendahl 2000, 226. Brucker 1998, 230 t will daraus den Beginn der peroratio in 4,12 ableiten, übersieht aber die anderen Bezüge. Die von Brucker als Indizien genannten rhetorischen Fragen und der Rekurs auf die Bekehrung begegnen auch in 5'7 - 1 2 · Anders Kremendahl 2000, 48t, der eine besondere Korrespondenz zwischen 5,2-6 und 6,11-15 erkennen will, nach seiner These den beiden in zwei Phasen entstandenen Schlüssen des Schreibens. Vgl. zu diesem Aspekt von 4,13-15 als Gegenstück zur vituperatio du Toit 1992, 290. 1,11; 3,15; vgl. dann 4,12.28.31; 5,11.13; 6,1.18. Vgl. zu 4,20 unten Anm.242. Funk 1966, 203ff.268 hält Gal 4,12-20 für das "surrogate" des für die paulinischen Briefe s.E. formkonstitutiven "travelogue", weil eine Reise außerhalb der Möglichkeiten stand. Die formgeschichtliche These Funks ist fragwürdig (vgl. §2.2.2.1), die Erklärung des Fehlens der Reisepläne spekulativ. Doch die Beobachtung, dass die aus anderen Briefen bekannten Ankündigungen eines Besuches fehlen, unterstreicht noch einmal die Bedeutung der brieflichen Zuwendung zu den Adressatinnen und deren metaphorische Beschreibung in 4,19. Zur Funktion des Pathos, der Erzeugung von bestimmten Gefühlen bei der Zuhörerschaft, als Beweismittel vgl. Aristoteles, Rhetorik 2,11378ai9ff: εστί 6έ τά πάθη öl' όσα μεταβάλλοντες διαφέρουσι πρός τάς κρίσεις οΓς επεται λύπη καϊήδονή, οΓον όργή έλεος φόβος και οσα άλλα τοιαύτα, και τά τούτοις έναντία. Dass Gal 4,12-20 den aristotelischen Kriterien zur Uberzeugung durch Pathos-Erregung entspricht, behauptet T.W. Martin 2001. Zum Einsatz von Ethos und Pathos im Gal vgl. weiter Longenecker Gal, cxv.cxviii. M.E. greifen diese Analysen jedoch zu kurz, weil sie

444

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

schließlich umso mehr Gewicht, als Formeln und Topoi, mit denen Briefe die gegenseitige Beziehung pflegen, im Gal selten sind 26 . Doch der Abschnitt 4,12-20 appelliert nicht nur 27 , er argumentiert auch in besonderer Weise mit der gegenseitigen Beziehung. Man kann ihn daher als Herz des Briefes lesen: Hier wird offengelegt, welche Bedeutung das Verhalten der Adressatinnen für die gemeinsame Beziehung hat, welche Freundschaft sie verspielen, aber auch, was der Autor für sie einsetzt. Weil aber die gegenseitige Beziehung mit der „Wahrheit des Evangeliums" unmittelbar zusammenhängt, kommt der Passage

verkennen, dass es nicht nur um die Erregung von Gefühlen bei den Leserinnen geht, sondern darum, mit der gegenseitigen Beziehung zu argumentieren und appellieren. - Smit 1989, i6f, und mit ihm Brucker 1998, 231 (vgl. auch Anderson 1999,133t für ein wohlwollendes Referat der These) halten 4,12-20 für den Beginn der conclusio, und zwar der conquestio, der es darum geht, Mitleid zu erregen. Doch mit den loci misericordiae, die Smits Gewährsmann Cicero für diese spezifische Affekterregung vorschlägt (De inventione 1,55,106, etwa an die Eltern oder an die Trennung von einer geliebten Person zu denken sowie das Elend der eigenen Person zu demonstrieren), soll der Redner nur sein eigenes Unglück oder das ihm angetane Unrecht gefühlvoll vor Augen stellen, um Sympathie zu erzeugen. Dieses Mittel lässt sich eher in 6 , 1 1 - 1 8 ausmachen (mit du Toit 1992, 292t). Hier hingegen geht es um die gegenseitige Beziehung, in der sich der Autor durchaus nicht demütig darstellt; die Beschreibung trifft also nicht den Nerv des Textes. (Auch die damit verbundene Identifikation von 4 , 2 1 - 3 1 als enumeratio, d.h. Wiederholung der wichtigsten Argumente [so Smit a.a.O., i 7 f f ; Brucker a.a.O., 232], verkennt den eigenen Skopus der Allegorie.) 26

Vgl. oben Anm.14.

27

Die Deutung des Textes als Appell wird allgemein geteilt, ohne dass doch, wie hier, die Funktion für den Gesamtbrief herausgearbeitet würde. Vgl. Longenecker Gal, 187: "personal appeals", also mehrere Appelle; Anderson 1999, 125.171t: "personal plea" als erster Teil des "emotional appeal" 4,12-5,12; er nennt rhetorische Frage, Kontaktaufnahme mit der Zuhörerschaft und die "bold metaphor" V.19 als Mittel, das Pathos zu unterstreichen. Vgl. auch Smith 1996, 493 mit Anm.47 für Kommentare, die den Passus als "personal appeal" überschreiben. Vouga Gal, 106 differenziert zwischen dem Appell von V.i2a.b und der folgenden Argumentation ad personam V.12C-20. Vgl. auch Kremendahl 2000, 224 ad 4,8-20: „ N u n wendet sich Paulus in der probatio ... seinem ureigenen und stärksten Argument zu, nämlich der besonderen Bedeutung seiner Person und seines Apostolats für das Geschick der Galater." Darunter versteht Kremendahl aber die leidenstheologisch enggeführte Rolle des Paulus, vgl. Anm.121. Zuletzt hat Tolmie (2005,156ft) 4,12-20 als "series of emotional arguments" bezeichnet, die 13. Phase des Briefes, die mit dem emotionalen Band zwischen Sprecher und Auditorium appellieren. Damit ist der sachliche Beitrag des Abschnitts nicht erfasst.

Gal 4,12-20 im Kontext des Galaterbriefes

445

auch für das sachliche Gesamtanliegen des Briefes große Bedeutung zu. Der Text ist darin thematisch kohärent28, trotz seines ,,elliptische[n] Stils", der gern mit der erregten inneren Beteiligung des Paulus entschuldigt wird 29 .

2 Dramatis personae. Die Akteure der brieflichen Kommunikation Der Gal hat ein deutlich erkennbares Sachproblem, die Frage, inwiefern zum christlichen Judentum konvertierte Heidinnen das jüdische Gesetz einhalten sollen. Das Sachproblem wird theologisch anhand der Relationen zu Gott und Jesus Christus und zu Personen der Heilsgeschichte besprochen. Die Relationsmatrix der Briefkommunikation ist vierstellig. Die Beziehung zwischen Verfasser und Adressatinnen, Missionar und Gemeinden wird vor allem durch den Begriff εύαγγέλιον bzw. εύαγγελίζεσθαι beschrieben. Damit ist die Beziehung zwischen Verfasser und Adressatinnen grundiert durch die religiöse zu Gott und Christus Jesus. Die Zugehörigkeit der „Wir" zu Gott durch das Heilsgeschehen in Christus wird bereits im Präskript in den dunklen Horizont der „gegenwärtig schlechten Zeit" eingezeichnet30. Eine bedrohliche Opposition stellt auch die vierte Größe der Matrix dar. Diese anderen werden zwar nur in Seitenbemerkungen erwähnt, sind aber als Gegenspieler des Paulus präsent. Eine unmittelbare Relation innerhalb der Matrix haben sie jedoch nur zu den angeschriebenen Christinnen in Galatien, weder zu Paulus noch zu Gott resp. Christus.

28

Nach Betz Gal 1979, 22of besteht der innere Zusammenhang zwischen den einzelnen Aussagen von 4,12-20 im Freundschaftsmotiv (vgl. die Bestimmung der Funktion von 4,12-20 a.a.O., 21: "an argument on friendship"). Nach unserer Analyse ist aber die Frage der gegenseitigen Beziehung mit dem Heidenevangelium gestellt.

29

Bonnard Gal, 91; vgl. Dunn Gal, 231. Ähnlich Oepke Gal, 140: Nach der Besorgnis, die hinter der „harten Schale das zarte Gemüt des Apostels" erkennen ließ (in V.11), schlägt nun „die Leidenschaft völlig in heißes Liebeswerben um." Wegen des „abgerissenen Ausdrucks" entziehe sich der Text „rein verstandesmäßiger Zergliederung". Güttgemanns (1966, 173) begründet die Berechtigung seiner leidenstheologischen Deutung des persönlichen Rekurses mit dem sonst nicht sichtbaren inneren Zusammenhang, zu Recht kritisch gegen eine Auskunft wie die Oepkes: „Der erfahrene Seelsorger weiß, daß kaum etwas die Gemeinschaft mehr stärkt, als gemeinsame große Erinnerungen" (Gal, 141).

30

1,4; vgl. Sänger 2002, 391.

446

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

2.1 Apostel und Autorität. Der Entwurf des impliziten Autors durch den Brief Der Brief erarbeitet die Autorität seines Verfassers gegenüber den Lesenden sowohl durch explizite Legitimierung als auch durch den Briefstil. Schon mit den ersten Worten des Briefes bekräftigt der Verfasser seine Autorität, und zwar in der den Brief prägenden polaren Grundstruktur: „Apostel nicht von Menschen und nicht durch Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat" (1,1). In i,iiff wird dieser Anspruch dann in der Erzählung der gottunmittelbaren Berufung durch Offenbarung begründet und gegen mögliche Bestreitungen der Autorität aufgrund der Vergangenheit des Paulus als Christinnenverfolger verwahrt 31 . Die Kategorie der άποκάλυψις ist für die Autoritätsabsicherung zentral32. Intertextuelle Anspielungen an Berufungen von Propheten unterstreichen den Anspruch 33 . Auch sie wurden durch Gott selbst berufen, auch sie kommunizierten mit Gott direkt. Diese Autorisierung als απόστολος 34 dient jedoch nicht der direkten Ableitung von Autoritätsansprüchen des Verfassers gegenüber den angeschriebenen Gemeinden. Sie soll vielmehr als gottgegeben legitimieren, dass Paulus unter den Völkern das Evangelium verkündet; dies wird in 1,16 als Ziel der Offenbarung genannt. Auch der Bericht vom Treffen in Jerusalem (2,iff) soll bezeugen, dass die dort als Autoritäten Geltenden anerkannten, dass Paulus von Gott selbst unter die unbeschnittenen Heiden gesandt wurde (i,7f). Ahnlich zeigt die Nennung „aller Geschwister mit mir" (1,2) in der superscriptio, dass „eine Gruppe hinter ihm steht" 35 . Der Apostel 31

Vgl. zu dieser Funktion der Erzählung Lategan 1988, 423ft; Jürgens 1999, 3if. Damit ist nicht gesagt, dass Gal if im engeren Sinne apologetisch ist, d.h. eine Verteidigung gegen explizite Angriffe auf die Person des Paulus. Gegen diese verbreitete Deutung vgl. Gaventa 1986; Lategan a.a.O.; Vorster 1992, 300ff. Es trifft allerdings auch nicht zu, dass Paulus sich selbst zum Kriterium des wahren Evangeliums macht (so aber Vorster a.a.O., 300: "claiming the position of normative criterion when apostleship to the Gentiles is at stake"); vgl. dazu unten Anm.84 zu i,6f. Ziel ist nicht die Verteidigung des Apostolats bzw. der Autorität. Vielmehr bekräftigt der Rekurs auf die Autorisierung des Apostolats die Gottgemäßheit und Wahrhaftigkeit des paulinischen Evangeliums ad gentes.

32

Vgl. Löning 1994,133 f.

33

Vgl. Sandnes 1991, 53ff; vgl. genauer § 4.1.3 mit Anm.34. Von Selbstbewusstsein zeugt auch die Parallelisierung des Autors mit einem „Engel vom Himmel" (1,8).

34

Zur Bedeutung des Begriffs bei Paulus vgl. § 4.1.

35

Mit Brucker 1998, 22of, Zitat 220.

Die Akteure der Kommunikation im Galaterbrief

447

ist nicht von Menschen autorisiert, aber er ist auch nicht isoliert unter den Christinnen mit seiner Version des Evangeliums. An dem Evangelium hat er sich selbst zu messen; darauf weist 1,8 hin. Um das Wirken des Verfassers für die Adressatinnen zu beschreiben, verwendet der Brief abgesehen von den unten besprochenen Metaphern prägnant nur καλειν 36 und vor allem εύαγγελίζεσθαι 3 7 . Es fällt auf, dass der Verfasser sich abgesehen von 4,11.12-20 meist zurücknimmt, wenn er von der Bekehrung der angeschriebenen Christinnen spricht38. Er beschreibt das Christwerden der Adressierten in erster Linie als Geschehen zwischen diesen und Gott, sich selbst nur als denjenigen, der das Evangelium brachte. So präsentiert er deren Christsein als unabhängig von der Evangelisierung durch ihn, Paulus. Es sind nicht „konfessionell gebundene" paulinische Christinnen, sondern vollgültige Kinder Gottes und Same Abrahams. Sie bedürfen nichts mehr. Nimmt der Verfasser seine Bedeutung für die Bekehrung der Heidinnen also außerhalb des Appells 4,12-20 zurück, so ist er doch im Brief selbst als Sprecher außergewöhnlich präsent.

36

Vgl. ό καλών ύμάς ι,6; 5,8, das freilich genauso gut im Sinne der biblischen Tradition wie in 1,15; 5,13 auf Gott referieren kann und doppeldeutig ist. Nach du Toit zeigt die Doppeldeutigkeit, "that the ultimate loyalty which Paul is battling to regain, is loyalty to God" (1992, 284^ Zitat 285).

37

Vgl. neben dem absoluten Gebrauch für das Handeln des Paulus vor allem die auf seine Mission unter den GalaterLnnen referierenden Verwendungen in 1,8.11; 4,13. Abstrahiert vom Evangelisten wird das Christwerden mehrfach angesprochen: Der einzig ausführliche Rekurs auf die Bekehrung außerhalb von 4,12-20 in 3,1-5 spricht nicht vom Verkündiger, sondern passivisch (προεγράφη 3,1) bzw. vom Höhren der Predigt (άκοή πίστεως) und ihren dynamischen Wirkungen (gegen Löning 1994, 134, der diese Passage als Aussage über das gegenseitige Verhältnis verbucht). Sollte die Partizipialwendung ό έπιχορηγών ύμΓν τό πνεύμα και ό ενεργών δυνάμεις έν ύμϊν in 3*5 a u f Paulus zu beziehen sein (so erwogen von Dautzenberg 2001a, 39-41 mit Verweis auf 2 Kor 12,12), wie dies auch für ό καλών in 1,6; 5,8 möglich ist (vgl. Anm.36), so verwischt die Formulierung jedoch die Identität des Geistmittlers bzw. Berufenden mit dem Briefautor. 4,9 spielt mit dem Wort „Erkennen" bzw. „ErkanntWerden" wieder auf das unmittelbare Gotteshandeln in der Bekehrung an; so ist auch κληθείς in 5,13 zu verstehen. Dialektisch ist in dieser Hinsicht 1,8: Einerseits wird das Evangelium als das „von uns verkündigte" bestimmt, andererseits aber nicht an die Person des Verkündigers gebunden: Auch der hat sich an eben dieses eine Evangelium zu halten.

38

448

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Paulus tritt in 1,1 als alleiniger Autor auf39. Er nennt sich selbst nach dem Präskript noch einmal mit Namen (5,2). Häufig verwendet er das emphatische έγώ40. In den narrativen Passagen erzählt er aus seiner eigenen Sicht, auf seine Rolle fokussiert (1,13-2,14 )4\ und er hebt seine Beteiligung am Geschehen hervor (vgl. besonders 2,iiff). Aber auch in den argumentierenden Passagen tritt er durch häufige metalinguistische Einschübe als Subjekt der Argumentation auf, und zwar durchgängig in der unzweifelhaft auf Paulus allein referierenden 1. Pers. Sg.42. Er selbst dient als exemplum des vom Gesetz befreiten Juden43. Ein Autoritätsanspruch äußert sich in den Imperativen, insbesondere im paränetischen Schlussabschnitt44. Wissen darum, was gilt, macht den impliziten Autor überlegen über seine „verständnislosen" (ανόητοι. 3,1) Adressatinnen, aber auch Petrus wird belehrt (2,i4ff). Der Verfasser kennt die Wahrheit des Evangeliums45, er kennt sogar die verborgenen Motive der anderen Akteure (4,16; 6,12f), ihr Scheitern am Gesetz46, und wenn er jemanden nicht namentlich identifizieren kann, ist dies unerheblich47. Der Gestus des auktorialen Erzählers findet seine Grenze allerdings an dem zukünftigen Verhalten der Adressatinnen: Wie sie reagieren werden, ist offen, hier bleibt nur das subjektive Vertrauen im Herren (5,10).

39

Gal verwendet fast durchgängig die 1. Pers. Sg. zur Referenz auf den Adressanten und auf dessen Handlungen, so dass dieser als alleiniger Verfasser und einziger Verkündiger zu den Adressatinnen spricht. Nur in i,8f wird die 1. Pers. PI. verwendet zur Referenz auf die Evangeliumsverkündigung, mit signifikantem Wechsel zum Sg. in V.9a. εύηγγελισάμεθα und προει,ρήκαμεν sind entweder als Plurale mit singularischer Referenz zu erklären (vgl. dazu den Exkurs nach § 2 ) oder meinen eine indeterminierte Gruppe von Verkündigenden. Die 1. Pers. PI. ist sonst für das übliche „Wir, die Christinnen", aber auch für ein prägnantes „Wir, die geborenen Juden und Jüdinnen" reserviert.

40

Vgl. 1,12; 4,12; 5,2 (unterstrichen mit ϊδε); 5,10t; 6,17.

41

Zu solcher „intradiegetisch-homodiegetischen" Erzählstimme, die besondere innere Beteiligung bezeugt (was nicht sein müsste, vgl. 2 K o r 12,2ft) vgl. Martinez/Scheffel 2000, 8off.

42

Vgl. das wiederholte Λέγω mit Bezug auf die Kommunikationssituation in 1,9; 3,15.17; 4,1; 5,2.16, das das schriftliche Medium verhehlt, vgl. aber auch γράφω i,20 und besonders 6,11; weiter γ ν ω ρ ί ζ ω ύμιν ι,ιι, μαρτυρώ ύ μ ϊ ν 4,15 und das eindringliche μαρτύρομαί 5,3, dessen Objekt παντΐ ά ν θ ρ ώ π ω aber über die Adressatinnen hinausweist.

43

Vgl. 4,12 (s. unten 4.2 ); 6,14. Gelegentlich ist die 1. Pers. Sg. am besten auf den impliziten Autor Paulus als exemplum des Judenchristen zu beziehen, so in 2,19t (vgl. die Einleitung zu diesem Paragraphen bei Anm.12). Auch in 6,14 schreibt Paulus als Jude, der nichts auf den „fleischlichen" Ruhm, das heißt hier Beschneidungen gibt. Diese Haltung wird dann erst mittelbar vorbildlich auch für Heidinnen.

44

Vgl. 4,12; 5,i.i3.i5f; 6,2 u.ö. Den Befehlston mindernde Ausdrücke wie παρακαλώ, έρωτώ fehlen. Bezeichnenderweise steht nur in 4,12 δέομαι.

45

Vgl. zu dieser Sinnlinie unten 4.4 zu 4,16.

46

Vgl. 6,13.

47

Vgl. so 2,6; 5,10.

Die Akteure der Kommunikation im Galaterbrief

449

D i e r ä u m l i c h e u n d d u r c h d e n P o s t w e g a u c h zeitliche D i s t a n z z u d e n A d r e s sierten nivellieren A n r e d e n , d a s „ n o s C h r i s t i a n u m " 4 8 , Kohortative 4 9 , I m p e r a tive 5 0 u n d v i e l e F r a g e n , die eine G e s p r ä c h s s i t u a t i o n fingieren 5 1 .

Doch diese suggerierte Nähe zwischen Verfasser und intendierten Leserinnen ist, sieht man von 4,12 ft ab, beschränkt auf das Gegenüber als Gesprächspartner. Im Ohr bleibt der schroffe Schluss, der die Probleme anderer angesichts des Leidens des Paulus als nichtige „Anstellerei" bloßstellt: „Für die Zukunft bereite mir niemand Mühe. Denn ich trage die Brandmale Jesu an meinem Körper" (6,17). Diese metaphorisch prägnante Deutung von Leiden durch Anspielung auf die Passion Jesu ist der Höhepunkt einer Sinnlinie, mit der sich der Autor in enge Beziehung zu Jesus Christus stellt52. Sie schließt den Bogen zur Selbstbezeichnung als Χριστοϋ δοΰλος (ι,ιο) 53 und der Selbstvorstellung als απόστολος δια Ίησοΰ Χριστοϋ, die diesen noch vor θεός πατήρ nennt (1,1). Dieser Linie folgt auch die narrative Entfaltung der Berufung zum Heidenapostel „durch eine Offenbarung Jesu Christi" (1,12, vgl. 1,16). Die Sätze demonstrieren das Bewusstsein einer ganz besonderen Christusbeziehung. Wenn das Heilsgeschehen am Ich des Briefautors in 2,19t und 6,14 dargestellt wird, so ist dies zwar nicht exklusiv, jedoch paradigmatisch als eigenes Erleben der Christus-Identität beschrieben54.

48

1,3t; 4,26.31; 6,9t u.ö.

49

5,25 f; 6,9 f.

50

Vgl. Anm.44 und die Imperative, die auf die Kommunikationssituation bezogen sind, 3,6; 4,21, vgl. ϊδε bzw. ϊδετε in 5,2; 6,11.

51

3,2-5; 4,9.21; 5,7.11, vgl. 1,6.

52

Vgl. ähnlich Jürgens 1999, 74f.

53

Vgl. zu dieser Metapher und der Sinnlinie in Gal § 4.3.

54

Die Paradigmatik bezieht sich nach der hier vorgestellten Deutung in 2,19 zunächst auf die Jüdinnen und Juden, insofern sie „dem Gesetz sterben" mussten. Die Formulierung in 6,14 von der Lösung vom κόσμος umfasst dann auch die heidnische Bekehrung, vgl. 4,9t. Zur Christus-Sinnlinie des Briefes und dem Begriff der Identität s. unten 4.6.2 mit Anm.199. Vgl. auch 4.3 mit Anm.121 gegen eine kreuzestheologische Engführung dieser Christusidentität. - Zur paradigmatischen Funktion der autobiographischen Aussagen in Gal if vgl. Gaventa 1986; Dodd 1999, i36ff.

450

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

2.2 Die Gegenspielerinnen im Entwurf des Briefes 55 Die vierte Größe wird ganz im Gegensatz zum Briefautor Paulus entworfen und mit allen Waffen des topischen Arsenals verunglimpft 56 . Eine Christus- oder Gottesbeziehung kommt gar nicht in den Blick. Bereits ihre sprachliche Gegenwart ist bezeichnend von der des Autors unterschieden. Während dieser mit Namen 57 sowie durch die 1. Pers. Sg. dauernd präsent ist, werden jene „anderen" nicht namentlich erwähnt, sondern nur durch Handlungen und behauptete Motive charakterisiert bzw. entlarvt. Trotz dieser rhetorischen Herabsetzung durch "non-naming" und Ignorieren58 sind sie in der brieflichen Fiktion aktiv und einflussreich bei den Angeschriebenen. Unklar bleibt für uns, ob sie eigentlich zur Gemeinde gehörten und wie sie selbst ihre Botschaft im Vergleich mit dem heidenchristlichen Evangelium des Paulus verstanden. Der Brief behandelt sie mit rhetorischer Strategie als Fremde und Gegenspieler. Das "alienating" soll ihren Einfluss auf die Adressatinnen minimieren59 und ihre Glaubwürdigkeit destruie-

55

56

Hier geht es nicht um die historische Rekonstruktion der alternativen Position, sondern um den tendenziösen Umgang des Paulus mit ihr. Zur Frage, welche theologische Position die sog. Gegner vertraten, vgl. Breytenbach 1996, 127-133; Longenecker Gal, lxxxviiiff; Thuren 1999, 3i4ff. Die verbreitete Annahme, dass judenchristliche Agitatoren von außen nach Galatien kamen, um die Beschneidung zu propagieren, stellt besonders Nanos 2002 in Frage (vgl. ähnlich Mitternacht 2002). Nach Nanos' These betreiben ortsansässige Juden und Jüdinnen, die nicht „Gegner" des Paulus sind, die Integration der heidnischen Christinnen in die Synagogengemeinschaft, um die politische Akzeptanz der jüdischen Gemeinschaft nicht zu gefährden. Das ist aber nicht weniger hypothetisch als die anderen Thesen und erklärt nur einen Teil des Textes (vgl. genauer die Rezension von Bachmann 2004). Die Diskussion bekräftigt, dass wir die Haltung der Diffamierten aus dem Brief wegen seiner tendenziösen Darstellung nicht mehr rekonstruieren können (vgl. so auch Thuren 1999, 3i3f)· Vgl. zu den verschiedenen Mitteln du Toit 1994; ders. 1992.

57

So 1,1 und in auffallender Rekurrenz 5,2.

58

Vgl. τίνες i,6; du Toit 1994, 406. Diesen Einsatz des pejorativen "non-naming" stellt Marshall 1987, 341-345 heraus: "It is a striking feature of Paul's 'undisputeted' letters that, though he mentions numerous friends and associates by name, he never once names an enemy" (342). Die periphrastische Nennung vermeide die direkte Auseinandersetzung. Jemanden nicht der Erwähnung und Erinnerung zu würdigen, "condems him to anonymity and allows for the disparagement of his accomplishments" - eine, wie das exegetische Rätseln um die Identität der „Gegner" zeigt, bis heute erfolgreiche Strategie.

59

Vgl. du Toit 1992, passim; Thuren 1999, 3i3f.

D i e A k t e u r e der K o m m u n i k a t i o n im Galaterbrief

451

ren 6 °. Nicht zuletzt d a z u positioniert der A u t o r sie in einer K a m p f l i n i e mit A n g r i f f e n auf sich selbst 61 . Von diesen anderen wird nur ihr angebliches Handeln an den Christinnen in Galatien angesprochen 62 , und das ist jeweils negativ konnotiert. Die Wiedergabe ihres Wirkens als ταράσσειν (1,7, 5,10) und άναστατοϋν (5,12) assoziiert sie mit politischen Aufrührern 63 . Vor allem 4,17t und, mit zunehmender Schärfe, 6,i2f behauptet, dass sie eigensüchtig und feige sind. Dementsprechend würdigt der Brief die Gegner nicht mit der Widerlegung ihrer Argumente als solcher, was ihre Aufwertung als Gesprächspartner im rationalen Diskurs bedeutete64. Durch „alienating", eine scharfe Invektive (5,12) und das α ν ά θ ε μ α über jede Version des Evangeliums, die der paulinischen ihr Recht abspricht (1,8), wird die Frontlinie gezogen. Zu den Gegnerinnen stellt der Autor auch die von ihm als ψευδάδελφοι „Exkommunizierten" durch seine Aussage, dass sie die „Wahrheit des Evangeliums" angreifen (2,4f) 65 .

2.3

Zwischen Paulus und den anderen: Die Adressatinnen u n d A d r e s s a t e n

D e r Brief positioniert die A n g e r e d e t e n z w i s c h e n d e m V e r f a s s e r u n d d e n anderen. Der A u t o r ringt u m Einfluss, ebenso w i e es nach Darstellung des Briefes auch die Gegenspieler tun, freilich mit anderen Motiven. Im Spiegel dieser anderen erhält auch das Bild der A d r e s satinnen Konturen.

60

V g l . z u Einzelheiten die H i n w e i s e v o n T h u r e n 1999, 3 1 1 f t ; z u d e n rhetorischen Mitteln der vituperatio d u Toit 1994, 4 0 3 - 4 1 2 .

61

V g l . d u Toit 1992, 287.

62

Vgl. τ α ρ ά σ σ ο ν τ ε ς ύ μ α ς και θ έ λ ο ν τ ε ς μ ε τ α σ τ ρ έ ψ α ι τό ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν τοϋ Χρίστου ( ι , 7 ) ; τις ύ μ α ς έ β ά σ κ α ν ε ν ; ( 3 , 1 ) ; 4 ' 1 7 f ; ύ μ α ς έ ν έ κ ο ψ ε ν ά λ η θ ε ί α μή π ε ί θ ε σ θ α ι ( 5 , 7 ) ; ό ... τ α ρ ά σ σ ω ν ύ μ α ς ... (5/W); οί ά ν α σ τ α τ ο ϋ ν τ ε ς ύ μ α ς {ζ,12); ο'ίτινες θ έ λ ο υ σ ι ν ε ύ π ρ ο σ ω π η σ α ι έν σαρκί, ούτοι ά ν α γ κ ά ζ ο υ σ ι ν ύ μ α ς π ε ρ ι τ έ μ ν ε σ θ α ι κτλ. (6,12f).

63

Mit B r e y t e n b a c h 1 9 9 6 , 1 2 7 ·

64

Dies gilt u n b e n o m m e n der Möglichkeit, d a s s der Brief auf G e g e n t h e s e n eingeht. Diese w e r d e n jedoch nicht als solche benannt.

65

D i e „ A u f w i e g l e r " in Galatien u n d die Kontrahenten in J e r u s a l e m w e r d e n parallisiert als O p p o n e n t e n d e r α λ ή θ ε ι α τ ο ϋ ε ύ α γ γ ε λ ί ο υ (2,4) b z w . d e r absoluten ά λ ή θ ε ι α (5,7), w i e auch 2,5 die A u s e i n a n d e r s e t z u n g in J e r u s a l e m direkt mit der F r a g e d e r H e i d i n n e n m i s s i o n in Galatien v e r k n ü p f t ( π ρ ό ς ύ μ α ς ) . - Gelegentlich w i r d angen o m m e n , dass 2,4 auf die „ G e g n e r " des Galaterbriefes referiere, nicht auf die Situation in J e r u s a l e m . D a s ist v o m Text her nicht indiziert. Eine textsemantische P e r s p e k tive, w i e hier v o r g e s c h l a g e n , lässt g l e i c h w o h l die Parallelisierung erkennen.

452

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Sie werden eingangs als έκκλησίαι angeredet (1,2) und damit noch vor jeder Problematisierung als Christinnen identifiziert66, die mit Paulus und „allen Geschwistern bei mir" aus dem gegenwärtigen Übel bereits herausgenommen sind (1,4). So läuft die Argumentation von 3,6ff darauf hinaus, den Ist-Zustand der Angeredeten als heilvoll zu beschreiben; sie sind in der Metaphorik des Briefes „Christi Eigentum, Same Abrahams, Erbinnen der Verheißung" (3,29) und „Kinder" Gottes (4,7). Der Brief unterstellt, dass die christliche Gemeinschaft mit dem Verfasser gegenwärtig noch besteht67. Der Autor spricht allerdings nicht von einer Bindung der Gemeinden an ihren Missionar in der Gegenwart, sondern er erinnert nur an eine gemeinsame Vergangenheit (vgl. 4.3 ad 4,i3ff). Für die Gegenwart virulent gezeichnet wird die Beziehung zu den Gegenspielerinnen. Ihr Bild impliziert auch eine Wertung der Adressatinnen : Passive Opfer von deren Einflüsterungen sind sie68. Der Ausdruck der Verwunderung 1,6 und die rhetorischen Fragen 3,1; 5,7 unterstreichen diese Botschaft: Rational ist die Bereitschaft, sich auf diese anderen einzulassen, nicht nachzuvollziehen. Die schrille Anrede ώ ανόητοι Γαλάται 3,i 69 drückt also nur aus, was der Brief durchgängig als Einschätzung der Adressierten sendet: Ihr handelt irrational. Wenn er sie dennoch vor allem mit Argumenten zu überzeugen sucht, so positioniert er sich und sein Evangelium gezielt auf der Seite der Rationalität und Plausibilität. Das Portrait der Adressatinnen als manipulierte Opfer ermöglicht diesen auch, sich ohne Gesichtsverlust wieder der Position des Autors zuzuneigen 70 . Die Angeschriebenen stehen nach dem brieflichen Entwurf also zwischen den Linien. Sie sind im Begriff, sich abzuwenden von der

66

„Ohne limitierenden Vorbehalt redet er sie als έκκλησίαι ... an und charakterisiert damit ihren gegenwärtigen Status" (Sänger 2002, 390).

67

Ebenso bringt das inkludierende „Wir", sofern es auf den „ekklesiologischen Plural" referiert, die bleibende Verbundenheit zum Ausdruck (mit Sänger 2002, 391).

68

Vgl. auch du Toit 1992, 288f.

69

Vgl. Löning 1994, 140 zu diesem „grobianistischen Einsatz" und dem ihm zugrunde liegenden weisheitlich belegten Topos als „indignierte Befragung der Schüler nach dem bisher genossenen oder verschmähten Unterricht"; vgl. weiter Anderson 1999, 161 dazu, dass dieser rhetorische Griff nach antiken Schulregeln kaum angeraten war.

70

Vgl. du Toit 1992, 288.

Die Akteure der Kommunikation im Galaterbrief

453

Botschaft des Paulus 71 . Die Anderen versuchen, sie abzubringen 72 . Die konditionalen Formulierungen 73 und verneinten Imperative 74 lassen Raum für die Hoffnung, dass sie sich noch nicht unwiederbringlich von dem paulinischen Evangelium abgewendet haben, d.h. in der Sache, dass sich die Männer unter ihnen nicht haben beschneiden lassen. Gleichwohl lässt der Autor Unsicherheit durchblicken, ob diese Einschätzung richtig ist75. Die Sache ist offen 76 . In diese Situation sprechen nicht nur die Argumentationsgänge des Verfassers, sondern auch sein persönlicher Appell 4,12-20. Der Brief demonstriert die Erwartung seines Erfolges bzw. der Plausibilität des beschneidungsfreien Evangeliums, wenn er zum Schluss der Argumentationen das Vertrauen in die Adressatinnen äußert, dass sie bei der Wahrheit bleiben, und damit den Argumentationsgang von i,6ff inkludiert (5,10). Die folgende Paränese setzt dementsprechend Einverständnis über die Freiheit des Evangeliums voraus.

3 Die Ordnung der Welt in der Darstellung des Briefes. Persuasive Strategien Liest man den Text als bewussten und gezielten Einsatz rhetorischer Mittel, nicht als Abbild der inneren Unruhe, ja Angst des Paulus 77 , werden sprachliche Mittel, Argumente und der Einsatz des Pathos erkennbar. Bereits die eben skizzierte Verteilung der Rollen zwischen Paulus, den Angeschriebenen und jenen anderen ist eine dezidierte Strategie von "alienation and re-identification". 78 Die Angeschriebenen sollen von den anderen distanziert und auf die Seite des Autors 71

Vgl. die Präsentia 1,6.9; 4/9^; 6,12; mit θέλειν in Bezug auf die Adressatlrmen 4,9c, vgl. 4,21.

72

Vgl. θέλειν 1,7; 4,17; 6,i2f. άναγκάζειν (6,12) ist wie die Verben, die auf eine Haltungsänderung der Galaterlrmen referieren (έπιτελεϊσθαι 3,3; παρατηρεΓσθαι 4,ιο; δίκαιοϋσθαΐ5,4), als praesens de conatu zu werten (mit Sänger 2002,393).

73

Vgl. 4,21; 5,2-4.

74 75

Vgl. 5,1 Vgl. in diesem Sinne είκη 3,4 (dazu Mußner Gal, 210) und 4,11.

76

Ähnlich Betz Gal 1979, 47; Sänger 2002, 393f.

77

Diese vor allem in der deutschen Exegese begegnende einfühlende Lektüre verfällt der Rhetorik; vgl. insgesamt Thuren 1999.

78

Vgl. du Toits unter diesem Titel veröffentlichte Analyse der den Brief durchziehenden Strategie (1992).

454

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

gezogen werden. Durch die Erzählung Kap.if, in die die Adressatinnen in 2,4 f einbezogen werden, wird ein Repertoire von guten und schlechten Rollen und Handlungsmöglichkeiten aufgeboten 79 . Dem Ziel, die Adressatinnen bei der paulinischen „Wahrheit des Evangeliums" zu halten, dienen auch weitere Argumentationsmittel. Hier kann nur angedeutet werden, in welches brieflich-diskursiv entworfene Weltbild von Zeiten und Relationen der Appell 4,12 ff spricht.

3.1

Die duale Wirklichkeit

Die Argumentation arbeitet mit scharfen Antithesen, exklusiven Alternativen. Mit dissoziativen Argumenten ordnet der Brief die den Leserinnen bekannte Wirklichkeit um80. Zunächst ist es ein zentrales Anliegen der narrativen und argumentativen sowie exhortativen Passagen des Briefes, eine streng dualistische Wirklichkeitskonstruktion zu vermitteln. Bereits mit dem ersten Satz ist die Opposition aufgerissen: Mensch oder Jesus Christus und Gott, wiederholt in 1,1ο 81 . Zentral werden die Oppositionen von Glaube und έργα νόμου, Geist und Fleisch82. Zwischen dem positiven und dem negativen Pol kennt der Brief kein Drittes83. So kann die Frage der Rechtfertigung aus dem Gesetz zum articulus stantis et cadentis der Christuszugehörigkeit werden (5,4). Pointe ist aber, dass die fundamentalen sozialen Dichotomien (3,28a) nicht mehr den beiden Polen zuzuordnen sind. Sie sind in Christus aufgehoben (bes. 3,28; 5,6; 6,15). Die Beschneidung ist für die Christinnen ohne Bedeutung. Nur dann, wenn sie als notwendig

79 80

81

82

83

Vgl. zur narratologischen Auslegung der Kapitel Jürgens 1999, 23ft, insbesondere 6yii zur Pragmatik. Vgl. zu dieser Argumentationsstrategie Vorster 1992, der allerdings ihre Pragmatik in Gal if anders deutet als wir (vgl. oben Anm.31). Erkennt man die dissoziative Struktur der Argumente, versteht man die Abgrenzungen vom Judentum richtig: Es geht nicht um Trennung vom Judentum, sondern eine andere Definition des Judentums als eines, das „Heidentum" integriert (vgl. Vorster a.a.O. 303t, der hier die Differenz zwischen Dunns und E.P. Sanders' Interpretation ausmacht). Die Relevanz der Alternative von 1,10, die wie in 1,1 an der Person des Paulus selbst demonstriert wird, daher als Ethos-Entfaltung gelten kann, für die weitere briefliche Argumentation betont Dodd 1999, H3ff· Zur polarisierenden Darstellung, um die Distanzierung von der Gegenpartei zu bewirken, vgl. Brucker 1998, 225t; s. auch Sänger 2002, 392ft zur „bipolaren Grundstruktur". Vgl. Thuren 1999, 3i8ff zu dieser „absoluten Theologie", die sentenzenhaft in 5,9 ausgedrückt ist.

Wirklichkeitsentwurf und Familienmetaphorik als persuasive Mittel im Gal

455

gefordert wird, ist sie falsch - und eben dies wäre in der Sicht des Briefes der Fall, ließen sich die Galater beschneiden84. Eine inklusive Identität als Überwindung dieser sozialen Dichotomien auszumalen, ist daher zentrales Anliegen des Briefes.

3.2 Der Jude Paulus und die Heidinnen in Galatien Das Verhältnis von Christinnen jüdischer und paganer Herkunft zueinander ist nicht nur die zentrale Sachfrage des Briefes, sondern betrifft auch die Relation zwischen Verfasser und Adressatinnen. Ihre persönliche Beziehung verdankt sich der Aufhebung einer der Dichotomien 85 : „Da ist nicht mehr Jude/Jüdin noch Heide/Heidin" (3,28). Das Christusereignis führt Heidinnen und Juden und Jüdinnen in die Freiheit, aber aufgrund der unterschiedlichen Ausgangspunkte je verschieden. Die Kommunikantinnen selbst verkörpern dies: Die indentierten Leserinnen dienten nach der Darstellung des Briefes „ den Göttern, die es in Wirklichkeit nicht gibt" (4,8), waren im Hause Gottes nur Sklaven (4,1.6). Der implizite Autor hingegen ist als Jude geboren, ist beschnitten, nicht „Sünder aus den Heidinnen" (2,15), war immer schon Kind Gottes (wenn auch unmündiges, 4,3). Die Differenz zwischen Juden/Jüdinnen einerseits, Heidinnen andererseits wird auf zwei Ebenen relevant: Theologisch stellt sich die Frage, ob Heidinnen ohne Einhaltung des Gesetzes christusgläubige

84

Dies verkennt Thuren 1999, 319, der hier "an enormous inconsistency and logical break" ausmacht. Auch Sänger übersieht den inklusiven Charakter des „Evangeliums Christi". Nicht die Beschneidung ist die Opposition zum Glauben (so Sänger a.a.O., 392ft in Bezug auf Gal 5,1-12), sondern die έργα νόμου, ein Konzept, mit dem bereits die Erwartung an eine rechtfertigende Wirkung der Gesetzeseinhaltung impliziert ist. Dementsprechend markiert 1,6 mit der Unterscheidung von ε ύ α γ γ έ λιον τοϋ Χρίστου und dem έτερον εύαγγέλιον keine exklusive Alternative (gegen Sänger ebd.). Nur wenn dieses „weitere Evangelium" dem heidenchristlichen Evangelium abspricht, dass es vollgültige Christinnen ohne Beschneidung gibt, wird es zum pervertierten Evangelium, wird das έτερον εύαγγέλιον zum αλλο ε ύ α γ γ έ λιον. Dieses αλλο rekurriert in 5,10. Vgl. zu dieser Deutung, dass Paulus das Nebeneinander zweier Evangelien (vgl. 2,7t) akzeptiert, solange die Heilsrelevanz allein des Glaubens feststeht, Kahl 1998; Schröter 2004. Kahl 2001 weist darauf hin, dass diese Nivellierung der Beschneidung auch für die Geschlechterdifferenz bedeutsam ist, wird doch diesem religiös besetzten Zeichen der Geschlechterdifferenz, genauer der Geschlechterhierarchie, seine Bedeutung abgesprochen.

85

Die Dichotomie zwischen Juden/Jüdinnen bzw. Beschneidung und Heidinnen bzw. Vorhaut sowie deren Negation durch Christus ist eine zentrale Sinnlinie des Briefes, vgl. 2,7t; 2,12.14t; 3,28; 6,15 bzw. in metaphorischer Version 4,iff.

456

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Juden werden können. Die beschnittenen Juden Jesus und Paulus könnten als exemplum argumentativ angeführt werden dafür, dass das Gesetz von allen Christinnen einzuhalten ist. Wer das nicht fordert, steht vor der praktischen Frage, ob Jüdinnen und Juden mit Heidinnen Tischgemeinschaft haben können. Die Nacherzählung vom „Zwischenfall in Antiochien" (2,11 ff) beantwortet diese Frage im Widerspruch gegen Petrus, der die Gemeinschaft nach Kritik von Leuten des Jakobus nicht aufrecht hielt. Eine Gemeinschaft jenseits der Differenzen ist (bzw. wäre) die ekklesiologische Aneignung der Heilsbotschaft nach dem Gal, die Praxis der theologischen Sachentscheidung. Dem Brief stellt sich damit die argumentative Aufgabe, die Bedeutungslosigkeit der unbestreitbaren Unterschiede in der Herkunft für die Gegenwart nachzuweisen. Der Autor selbst kann aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht direkt als Paradigma für die heidenchristlichen Adressatinnen dienen86. Die Darstellung seiner biographischen Wende in 1,13ff; 2,19f zeigt aber mittelbar, wie das Christusgeschehen auch für den Juden eine grundstürzende Veränderung seiner Identität und Lebenspraxis bedeutete.

3.3 Alte und neue Familien. Die metaphorische Argumentation des Galaterbriefes Für die Darstellung der neuen Identität und der unterschiedlichen Wege dorthin, für die Veränderung, die mit dem „Kommen des Glaubens" (3,23a) eingetreten ist, spielen die Genealogien und ElternKinder-Metaphern eine zentrale Rolle87. Die Anrede „meine Kinder" und die Gebärmetapher von 4,19 stehen in einem breiten metaphorischen Strom. Mehrere Familien werden erwähnt: Die familia Dei, seine

86

Dass Paulus diese Differenz zwischen jüdischer und heidnischer Biographie berücksichtigt und daher nur mittelbar zur „Nachahmung" auffordert, zeigt auch die ungewöhnliche Formulierung des Appells 4,12; vgl. dazu unten 4.2. Die Differenz ebnet z.B. Dodd 1999, 133 in seiner Analyse der paradigmatischen Selbstdarstellung des Paulus im Gal ein. Ihre Wahrnehmung hängt an der Deutung der Referenzen der 1. Pers. Sg. und PI. in 2,18-21 (vgl. oben die Einleitung zu § 8) und 4,4-6 (vgl. Anm.95).

87

Brucker 1998, 226 will Abraham und Isaak als für die Beratungsrede typische exempla verstehen. Es geht aber um mehr, um eine durch Genealogie gesicherte Zugehörigkeit der Adressatinnen.

Wirklichkeitsentwurf und Familienmetaphorik als persuasive Mittel im Gal

457

Kinder und Sklavinnen 88 , die Familie des Abraham mit seinem „Samen" Christus89, die beiden Söhne Abrahams von den zwei Müttern90, ja sogar die Mutter des Paulus (1,15) und eben Paulus als Mutter. Die Christinnen finden sich in der Metaphorik jeweils auf der Seite der Kinder. Nur der Verfasser durchbricht die Rollenverteilung mit seiner Selbstpräsentation als kreißender Mutter. Die Metaphorik ist nicht kohärent, doch „Vater" wird nur Gott genannt91. Abstammung bestimmt das Sein, die dem Brief offenbar z.T. vorgegebene Metaphorik dient also urspünglich der Qualifizierung. Wer zum σπέρμα Α β ρ α ά μ gehört, scheint in dieser Hinsicht umstritten92. Der Brief weist in einem komplizierten Gedankengang nach, dass auch 88

Die Bezeichnung Gottes als Vaters bzw. „unseres Vaters" fällt bereits am Briefanfang dreifach, öfter als traditionelle Verwendung im Präskript (1,1.3.4). I n 3' 2 6 werden die Adressatinnen an ihr υίοί Θεοϋ-Sein durch den Glauben an Jesus Christus mit der traditionellen Taufformel erinnert. (Vgl. zur Begründung der weithin geteilten Annahme einer vorpaulinischen Taufformel nur Betz Gal 1979 z.St.). Gal 4,4-6 begründet die υιοθεσία der Christinnen in Bezug auf Gott mit der Sendung des Sohnes Gottes und des Geistes seines Sohnes. Vorausgesetzt ist hier die quasilogische Vorstellung, dass der Sohn bzw. sein Geist die Glaubenden in diese Relation zu Gott mit hineinnimmt. Nach diesem „Beweis", dass die Galaterlnnen gerade ohne Gesetz Gotteskinder wurden, wird die Gotteskindschaft nicht mehr explizit thematisiert.

89

In Gal 3,7 wird aus Gen 15,6 bereits abgeleitet, dass die Glaubenden Abrahams „Söhne" sind. Gal 3,16.19 nennt Christus das σπέρμα'Αβραάμ, dem die Verheißung mit Abraham gilt. Darauf rekurrierend wird dann aus der Aussage, dass alle Getauften „einer in Christus Jesus" seien (3,28d), die Abrahamsabstammung auch für die Angeredeten postuliert, mittels der Interpretation von είς έν ΧριστώΊησοϋ (V.28d) als eines possessiven Verhältnisses: (ύμεϊς Χρίστου (V.29a).

90

Diese Familienverhältnisse des Abraham werden in 4,2iff zur Erklärung der Gegenwart aufgegriffen und sprechen eine andere Dichotomie an als die in Christus überwundene. Die zwei Mütter seiner Söhne werden allegorisiert, so dass die zwei Weisen, sich auf Abraham zu beziehen, einander gegenübergestellt werden können durch Verheißung (4,23) bzw. nach dem Geist (4,29), d.h. frei vom Gesetz, oder nach dem „Fleisch" (4,23.29). Diese Dissoziation ermöglicht, die gegenwärtige Konfliktsituation polemisch zugunsten des Autors darzustellen. Hier ist die Applikation wieder direkt ausgesprochen: „unsere Mutter" ist das obere Jerusalem (V.26), „wir sind ... Kinder der Freien" (V.31). Die inklusive Gemeinschaft, die Paulus will, ist also erkauft mit der Ausgrenzung anderer, etwa jener, die die Beschneidung nicht als Adiaphoron verstehen. Auf diese negative Implikation hat der jüdische Paulus-Exeget Boyarin besonders deutlich hingewiesen (1994, bes. ^f.iöff).

91

Die Linien von Gottesfamilie und Abrahamsabstammung kreuzen sich in Gal 3,2629, wo die auf die Gottessohnschaft zielende Taufformel aufgrund des ChristusBezugs appliziert wird als Beleg der Abrahamsabstammung.

92

Vgl. Lategan 1992, 26iff zum Rückschluss, dass die Frage der Abrahamsabstammung dem Brief als Problem vorlag, und zur argumentativen Bewältigung im Gal durch "redefinition of the essential relationship between God and Abraham in terms of Gen 15:6" (263).

458

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

die Angeredeten als in Christus Getaufte „Same Abrahams" sind (3,29). Denn sie gehören durch die Taufe Christus (3,29), welcher der eine Same Abrahams ist, dem mit Abraham die Verheißung galt (3,16). Dass die Adressatinnen Kinder Gottes sind, ist in der auffallend häufigen Prädizierung Gottes als Vaters bzw. „unseres Vaters" auch vorausgesetzt und Gegenstand eines eigenen Argumentationsganges (4,1-7). In der Bezeichnung und Anrede von Mitchristinnen als αδελφοί und anderer als ψευδάδελφοι (2,4) wird diese Metaphorik abgerufen und zum Ausschlusskriterium. Die Familienmetaphorik grenzt Drinnen und Draußen exklusiv ab93 und etabliert eine neue Gruppenidentität 94 . Die Erzählungen von Geburten und vom Mündigwerden der Kinder haben darüber hinaus die Valenz, die Veränderungen abzubilden, die Zeitdimension einzuschreiben. Gottes Eingreifen befreit aus der Bestimmung durch die Herkunft: Beispielhaft steht ganz am Anfang die Biographie des Paulus. Gott sondert ihn im Mutterleib aus, um ihn später zum Heidenevangelisten zu machen (1,15i). Gottes Eingreifen macht aus Unmündigen und Sklavinnen erbberechtigte Kinder Gottes (4/1-7)· Mit dieser Haushaltsmetaphorik gelingt es, unter Anerkenntnis der ehemaligen Unterschiede zwischen Heidinnen und Juden /Jüdinnen die Bedeutung dieser Differenzen nicht nur post Christum, sondern auch rückblickend zu negieren. Der unmündige Erbe des Hauses ist „in nichts unterschieden von dem Knecht, obgleich er der Herr über alles ist" (4,1). Die Differenz zwischen dem unmündigen Sohn und dem Sklaven ist unerheblich bis zu dem Zeitpunkt, den der Vater für die Mündigkeit seines Sohnes festgesetzt hat: Beide sind unfrei. Mit 93

Sänger übertreibt die polarisierende Funktion der Familienmetaphorik („Die τινές [sic!] gehören nicht zur Familie", 2002 392t Zitat 393). Kontrastierend im Gefüge der Kommunikationsrelationen wirkt zwar 4,2iff mit dem Appell, den Sohn der Sklavin hinauszutreiben (4,30). Doch auch hier überwiegt die positive Selbstzuschreibung (4,31), wie auch sonst die Familienmetaphorik inklusiv-deklarativ Kindschaft zuspricht (bes. 4,6), nicht abspricht.

94

Vgl. Jürgens 1999, 69 f und vor allem Lategan 1992, 262.270-273 für die kompensatorische Funktion der Familienmetaphorik, eine Alternative zu den bisherigen sozialen Relationen anzubieten, die wir vor allem in 1 Thess erkannt hatten (vgl. § 6.7.2). Esler hebt diesen Aspekt besonders hervor (vgl. 1997, bes. y i f f ; vgl. auch ders. 2000, i73ff). Ihm zufolge bestimmt das "family imagery" auch die Paränese von Gal 5,136,10 (vgl. die Metapher vom Haushalt in 6,10), prägen Familienwerte auch die Ethik. Paulus wolle mit diesem vertrauten Sozialmodell, das für die engste Bindung stand, die Identität der Gruppe in Abgrenzung zur jüdischen Gemeinde einerseits, zur heidnischen Gesellschaft andererseits aufbauen. Allerdings übersieht Esler, dass gerade die Metaphorik von der zwiefältigen Abrahamsfamilie (4,21ft) dazu dient, die „große Familie" auseinander zu dividieren.

Wirklichkeitsentwurf und Familienmetaphorik als persuasive Mittel im Gal

459

dem Kommen Christi ist die Differenz nicht mehr nur unerheblich, sondern beseitigt. Gott hat die unfreien Söhne durch die Sendung des Sohnes, der dem Gesetz unterlag, aus dem Gesetz freigekauft. Aber auch die Heidinnen, für die die Angeredeten exemplarisch stehen, sind Kinder Gottes und damit „auch Erbinnen durch Gott" (4,7). Ihnen wie auch den Juden und Jüdinnen sandte Gott „den Geist seines Sohnes in unsere Herzen", der Gott als „Vater" anrufen lässt.95

4 Freundschaftserinnerungen und ein Bild der brieflichen Anstrengung des Paulus. Gal 4,19 im Kontext von 4,11.12-20 Im Folgenden lege ich in dem Text entlang Gal 4,12-20 aus, um die Gebärmetapher 4,19 in ihrem Kontext zu deuten. Der briefliche Appell 4,12-20 setzt die Argumentation in 3,iff voraus, stellt nun aber die gegenseitige Beziehung in der Vergangenheit und in der Gegenwart 95

Vorausgesetzt ist in dieser Deutung, dass 4,4-6 zwei verschiedene Inklusionsvorgänge beschreibt, einerseits in 4,4t für die Jüdinnen und Juden, andererseits in 4,6 für die Heidinnen, namentlich die Galaterlnnen. Denn nur so lässt sich V.6a und der Wechsel von der 1. zur 2. Person verstehen sowie die parallele Erwähnung des έξαποστεϊλαι. V.6 (und möglicherweise V.4b) wechselt die Perspektive zum iriklusiven „Wir" (ήμών) aller den „Vater" Anrufenden, δτι V.6a ist die crux der Verse. Erwogen wird in der Regel nur die Alternative „dass" oder „weil", die in der Sache die Frage impliziert, ob die Pneuma-Gabe der Sohnschaft folgt („weil", so z.B. Mußner Gal, 275) oder der Pneuma-Empfang die Sohnschaft impliziert (so Lietzmann Gal, 27; Dunn Gal, 219 u.a., cm wird dann mit „dass" übersetzt und ein Hauptsatz ergänzt: „Dass ihr Söhne seid, könnt ihr daraus erkennen ...", so Lietzmann ebd.). Für die zweite Möglichkeit, für die ich hier mit anderer Ergänzung des δτι auch votiere, spricht der Tempuswechsel (die Sohnschaft ist Gegenwart, die Sendung Vergangenheit) und die Applikation V.7, nach der das „Sohn-Sein" der Sklavinnen aus dem Pneumabesitz folgt. Das δτι erklärt sich am besten als Neutrum des Relativums όστις im acc. graecus: „Was das anbetrifft, dass ihr Söhne seid: Gott sandte seinen G e i s t . . . " . Oder man versteht es rezitativ, έστε υιοί als freies Zitat aus Gal 3,28: „Was das betrifft: ,Ihr seid Söhne', so gilt: ..." Für diese Verwendung im Klassischen vgl. Pape 394 s.v. n.i). Der identische Sprachgebrauch findet sich in Barn 8,5: δτι δέ τό έριον έπί τό ξ,ύλον rekurriert elliptisch auf ein Zitat (vgl. die Übersetzung „Warum aber [ heißt es: ] die Wolle auf dem Holz ?" in der Ausgabe von Paulsen und Lindemann) wo sonst (8,4) διά τί steht (vgl. BDR § 3004). - Diese Auslegung wird bestärkt durch ihre Kohärenz mit dem Briefanliegen. Denn die Verse bearbeiten, so gelesen, implizit das mögliche Gegenargument, dass an der Tatsache, dass Jesus beschnitten wurde, die allgemeine Geltung der Beschneidung bzw. des Gesetzes zu belegen wäre: Er ist „unter das Gesetz getan" um die unter dem Gesetz lebenden Menschen herauszukaufen (4,4f). Dieses potenzielle Gegenargument entkräftet der Text schon in 3,15-19, wenn er Christus darstellt als das eine σπέρμα Abrahams, dem die Verheißung bereits vor der Einsetzung des Beschneidungsbundes gegeben wurde.

460

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

des Briefes in den Mittelpunkt. Die Metapher von der Anstrengung des Autors nimmt semantisch 4,11 auf. Daher ist zunächst der vorausgehende Abschnitt zu interpretieren.

4.1

Der Stand der Argumentation (4,8-11)

Mittels der oben beschriebenen Strategie, eine subjektive Deutung der Wirklichkeit als objektive Gegebenheit darzustellen, wird 4,8-11 die Situation der galatischen Christinnen beschrieben. Unter dem Rubrum δουλεύειν bzw. Stoicheia-Knechtschaft96 werden die jüdische und die heidnische Vergangenheit ante Christum parallelisiert, so wie die Differenz zwischen unmündigem Sohn und Sklaven für irrelevant erklärt worden war (4,if vgl. oben 3.3). Auf Basis dessen kann die von den galatischen Christinnen angestrebte Übernahme jüdischer Gesetzesregelungen nun bewertet werden als Rückfall in die Zeit der Knechtschaft97. Dies ist die Voraussetzung des folgenden Appells. Paulus kommt auf sein Verhältnis zur Gemeinde bereits in 4,11 zu sprechen98. Wie er eine Übernahme von Bestimmungen des jüdischen Gesetzes als Rückfall in die Vergangenheit darstellt, so schreibt er, dass 96

Vgl. zu den Bedeutungsmöglichkeiten von στοιχεϊον, d.h. zur semantischen Basis dieser pragmatisch motivierten Parallelisierung Schröter 2000, 55-57 mit Literatur. Witulski will die angebliche Unvereinbarkeit der Aussagen mit der These lösen, 4,820 sei interpoliert (vgl. oben Anm.i). Er übersieht, dass das jüdische und das heidnische Leben ante Christum bereits in 4,1t metaphorisch parallelisiert sind (gegen Witulski 2000, 61). Dass damit das jüdische Gesetz mit dem heidnischen Götzendienst identifiziert würde, stimmt gerade nicht (so a.a.O., 55ff). 4,9 redet nicht vom Rückfall in den Götzendienst, sondern nur in den Stoicheia-Dienst, während 4,3t tatsächlich polemisch - von der jüdischen Versklavung unter die Stoicheia spricht. (Witulski scheidet deshalb den Bezug auf die στοιχεία auch in 4,3 mit fragwürdigen sprachlichen Argumenten aus, a.a.O., 75 ff. Doch auch Witulski muss eine Parallelisierungsstrategie unterstellen, nämlich in 4,8ff zwischen der alten Stoicheia-Verehrung und dem neuen Kaiserkult, a.a.O., 143^·) Das δουλεύειν der στοιχεία ist eben das Rubrum, unter dem heidnische und jüdische Religiosität subsumiert werden. Dieser argumentative Kniff schlägt sich auch außerhalb von 4,8-20 nieder (vgl. etwa πάλιν 5,1, aber auch είκχ] 3,4). Vgl. auch Anm.137 gegen Witulskis Auslegung von 4,17.

97

Vgl. zu diesem quasilogischen Argument auf der Basis von begrifflichen Identifizierungen Siegert 1985, 53 f (Lit!).

98

Das wird meist übersehen. Einen Zusammenhang zwischen 4,11 und 12 erkennen jedoch Rohde Gal, i82f; ebenso Kremendahl 2000, 224ft; Martyn Gal, 418; L.M. White 2003, 338 mit Anm.111. Dass nach 4,11 dennoch eine Zäsur besteht, wird durch den Perspektivwechsel und die Anrede αδελφοί, die oft am Anfang von Absätzen steht, signalisiert. 4,11 kommt also eine überleitende Funktion zu (vgl. ähnlich Lambrecht 2001a, 184).

Gal 4,8-11

461

seine Mission in diesem Fall vergeblich wäre. Das ύμας bei φοβούμαι deutet an, dass der Missionar dies nicht um seinetwillen, sondern um der Adressatinnen willen befürchtet. Aber der Brief führt zugleich die Missionsarbeit des Paulus metaphorisch vor Augen als kraftraubende Arbeit auf ein Ziel hin". Damit präludiert 4,11 bereits das Gebärmotiv 100 . Das veränderte Interesse der Galaterlrtnen nimmt sich so nicht nur als Rückfall in heidnische Zeiten aus, sondern als Vernichtung der Arbeit und Frustration des Missionars selbst. Die persönlichen Aussagen schließen hier an.

4.2 „Werdet wie ich!" (4,12a) Der Imperativ V.i2a.b fällt aus dem Rahmen durch die im Brief bislang seltene Anrede αδελφοί und das metasprachliche δέομαι ύμΐν 1 0 1 . Eine „Bitte" spricht der Brief nur hier aus. Die Ellipse und die Mischung aus Chiasmus und Parallelismus 102 lassen aufhorchen, der knappe Satz stellt eine Denkaufgabe. Das zu imitierende Ich ist seinerseits flexibel gezeichnet103. Von dem Nebensatz οτι κ ά γ ώ ώς ύμεϊς (V.i2b) erfährt der Imperativ also seinen Inhalt; die Frage ist, inwiefern Paulus wie die

99

Zu κοπιαν als stehender Metapher Stichwort für die missionarische Arbeit des Paulus und anderer vgl. §5.1.1.

100 In Jes 65,23!.XX ist der Zusammenhang zwischen vergeblichem κ ο π ώ ν und fehlgeschlagener Schwangerschaft in einer Weise hergestellt, die an Gal 4 erinnert. Für die Heilszeit ist verheißen: οί δέ έκλεκτοί μου ού κοπιάσουσιν εις κενόν ού&έ τεκνοποιήσουσιν εις κατάραν οτι σπέρμα ηύλογημένον ύπό θεοϋ έστιν και τα εκγονα αύτών μετ' αύτών έσονται. ιοί

Nach Mullins 1962, äfli ist δεϊσθαι unter den Verben des Bittens höflich und weniger persönlich als etwa έρωταν oder παρακαλεϊν, und auch hier, dem einzigen Beleg von einfachem δεϊσθαι in den Paulinen, "his use is probably to be interpreted as more forensic than fond" (50).

102 Die 2. Pers. PI. und 1. Pers. Sg. sind chiastisch gruppiert, die Syntax aber parallel. 103 Das und die Reziprozität unterscheiden diese Aussage von den anderen des Vorbildmotivs (vgl. den Exkurs in §7.4.4). Die Reziprozität wird durch die aufgrund des sparsamen Einsatzes auffällige Geschwisteranrede unterstrichen. Nicht nur darum ist die These Lambrechts (2001a) hinfällig, dass die Metapher V.19 im Zusammenhang mit diesem Nachahmungsappell stehe, ebenso wie in 1 Kor 4,14-16 das Konzept von Vaterschaft und Nachahmung verbunden sei (vgl. auch W.P. de Boer 1962, i88ff, bes. 194: "The Galatians are being called by their father [!] to be real children of his" und ähnliche Erwägungen bei Mußner Gal, 305). Beide Motive sind in Gal 4 nicht in einen Zusammenhang gebracht, und die hier entfalteten Analysen zeigen, dass die Instantiierungen der Eltern-Metaphern in Gal 4 und 1 Kor 4 je unterschiedliche Implikationen haben.

462

Die schwierige Geburt. Der A p p e l l Gal 4 , 1 2 - 2 0

Angeredeten war oder wurde 104 . Der Satz referiert auf gemeinsames Wissen. Die Differenz zwischen dem Juden Paulus und den angeschriebenen Heidinnen (vgl. oben 3.2) stellt den Ausgangspunkt der im Satz geforderten Bewegung dar. Paulus lebt heidnisch. Was das konkret bedeutet, machte der Brief selbst an dem Zwischenfall in Antiochien sichtbar: Ιουδαίος ύπαρχων έθνικώς και ούχιΊουδαϊκώς ζην (2,14) 105 · Wenn die Christinnen in Galatien sich daran ein Vorbild nehmen sollen, fordert der Satz zunächst, dass sie heidnisch leben sollen. Wer bereits die jüdischen Gesetze achtet, sollte also davon zurücktreten 106 ; wer nicht, für den hieße es tautologisch: Bleib, wie du bist. Aber das sagt der Satz ja gerade nicht. Ihm geht es also um mehr, um Prinzipielleres 107 . Sinnvoll ist er darum als Forderung, sich die christliche Freiheit von der Einhaltung des jüdischen Gesetzes wie

104 Z u r Diskussion möglicher Ergänzungen vgl. Sieffert Gal, 256 ff mit Hinweisen auf ältere Deutungen; Longenecker Gal, 189; Mitternacht 2002, 42off. Das ώς ύ μ ε ϊ ς kann nur durch ήτε ergänzt werden, also auf die Vergangenheit der Galaterlnnen referieren, nicht auf ihr gegenwärtiges Gebaren; sonst w ä r e der ganze Imperativ sinnlos. Fraglicher ist das zu κ ά γ ώ zu ergänzende verbum finitum. Mit ή μ η ν w ü r d e gefordert : Werdet wie ich, weil auch ich so w a r w i e ihr, das heißt heidnisch. Dann w ä r e der Vorbildcharakter der Veränderung aber nicht ausgedrückt, und die A u s s a g e hat auch nur gegenüber den Adressatinnen, die das Gesetz einhalten, einen Skopos. So versteht Becker Gal, 67 den Satz: „ d e n n auch ich (bin), w i e ihr ( w a r t ) " . A u c h mit der präsentischen Ergänzung durch Bonnard „ c o m m e je suis actuellement" (Gal, 91; Hervorhebung übernommen; so auch Mitternacht 1999, 216; vgl. oben A n m . 1 7 ) geht die vorbildliche Dynamik des Paulus verloren. Pointenlos ist der Satz auch in der Vervollständigung mit γ ί ν ο μ α ι durch Oepke Gal, 1 4 1 ; es bleibt nur die Forderung des „ E n t g e g e n k o m m e n s " . A m besten ist deshalb έ γ ε ν ό μ η ν resp. γ έ γ ο ν α zu ergänzen (mit Sieffert Gal, 256; Schlier Gal, 208; Mußner Gal, 305; Rohde Gal, 183; V o u g a Gal, 106; D o d d 1999, ιβ^,ί u.a.). Das Gegenargument Mitternachts 2002, 42off gegen eine Ergänzung im Präteritum, dass Paulus gemäß 5,3 selbst toratreu lebte, also nicht „ h e i d n i s c h " , trifft nicht. Die Regel 5,3 gilt f ü r Paulus, der dem Gesetz gestorben ist (2,19, vgl. 3,13), nicht mehr. 105

Damit ist natürlich nicht der heidnische Götzendienst gemeint, wie Oepke Gal, 141 meint, der deshalb gegen diese Deutung votiert. Güttgemanns 1966, 172 und Becker Gal, 67 w e n d e n ein, dass nach 4,8 ff auch die Heidinnen nicht v o m Gesetz frei waren. Das steht dort jedoch nicht. Die Übereinstimmung besteht im Dienen, genauer im Stoicheia-Dienst, u n d auch 3,23; 4,3 sprechen nicht von dem heidnischen Leben ante Christum (vgl. oben die Einleitung zu diesem Paragraphen). - Einige Exegeten erinnern mit Recht an die sog. Akkomodationspraxis nach i K o r 9,2of, so Schlier Gal, 208; Betz Gal, 1979, 223; Egger Gal, 32; Mußner Gal, 305 f; Matera Gal, 159; Longenecker Gal, 189; V o u g a Gal, 106.

106 Darauf beschränkt sich die Aussage des Satzes nach Dunn Gal, 232; Becker Gal, 67; Longenecker Gal, 188. 107 Dass es jeweils u m Prinzipien, nicht einfach um konkrete Handlungsnachahmung geht, ist auch an den anderen Vorbildaufforderungen der Paulusbriefe zu beobachten, vgl. dazu den Exkurs in § 7.4.4.

Gal 4,12a

463

Paulus anzueignen. Für die galatischen Christinnen bedeutet es unabhängig davon, wie sie sich im Moment verhalten, die Übernahme von Gesetzen nicht für heilsrelevant zu halten und darum gar nicht erst zu erstreben108. Paulus ist Vorbild in diesem Schritt, gerade als Jude, denn er hat damit ein religiöses Privileg aufgegeben (2,15), dessen Bedeutung er allerdings aus der christlichen Perspektive bestreitet (vgl. 4,if). Die gesetzesfreie Lebensweise des Paulus ist nicht nur Vorbild, sondern auch Begründung (ÖTL) der Forderung. Damit kommt die Beziehung beider Seiten in den Blick. Die Nivellierung des jüdischen Gesetzes ist als Bewegung aufeinander zu beschrieben, nicht nur als Statusverzicht des einen oder Aufstieg des anderen. Gemeinschaft auf Augenhöhe, als αδελφοί, wird so möglich109. So klingen die Ideale der Reziprozität und Gleichheit oder Ähnlichkeit an, die zur Auffassung der φιΛία gehörten110. Freundschaft ist möglich geworden durch den Schritt des Paulus in die christliche Freiheit. Die Bedeutung der causa wird also an der persönlichen Relation der Kommunikanten verdeutlicht.

4.3 Erinnerung an die frühere Freundschaft (4,12^15) Die folgenden Sätze motivieren die Angeschriebenen, dieser Forderung nachzukommen, durch die Erinnerung an die Zeiten der Gemeinschaft. Sie beschreiben diese Gemeinschaft mit Werten des Freundschafts-

108 Als Aufforderung, die christliche Freiheit zu leben, lesen den Satz auch viele Kommentatoren; vgl. Lietzmann Gal, 27; Schlier Gal, 208; Bonnard Gal, 91; Mußner Gal, 305; Betz Gal 1979, 222f; Rohde Gal, 183; Matera Gal, 159; Vouga Gal, 106 (der allerdings darin auch einbezieht, dem Gesetz zu sterben, 2,19). Dies, nicht die Gesetzesfreiheit ist der eigentliche Sinn der Aufforderung nach Becker Gal, 67. Doch die Heidinnen müssen dem Gesetz gar nicht sterben (vgl. oben zur Differenzierung der Situation ante Christum bei Heidinnen und Juden/ Jüdinnen). - Vgl. auch Gaventa 1986, bes. 3 1 9 f t die meint, bereits in Kap.if würde Paulus sich paradigmatisch entwerfen, und die Nachahmungsaufforderung ziele auf seine Bereitschaft, sein Leben ganz vom Evangelium bestimmen zu lassen. 109 Vgl. ähnlich Schlier Gal, 209. 110

Vgl. Betz Gal 1979, 22if ad V.12; das Freundschaftsideal vernehmen auch Becker Gal, 68; Vouga Gal, 106. Deutlich wird das Ideal der Gleichheit und Gegenseitigkeit etwa bei Aristoteles, EN 8,8, ii59b2f: ή δ' ίσότης και όμοιότης φιλότης, και μάλιστα μέν ή των κατ' άρετήν όμοιότης. Vgl. Cicero, de amicitia 20: „Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio." S. weitere Belege bei Gustav Stählin, Art, φιλία κτλ., in: ThWNT 9 (1973) 112-169: i49f.

464

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

ideals 111 . Freunde sind nicht nur eines Sinnes, sondern stehen sich auch in Zeiten der Krankheit bei 112 . Wahre Freunde zeichnen sich durch Aufrichtigkeit aus" 3 . Die werbenden Gegner sind an diesem Kriterium gemessen Schmeichler, falsche Freunde 114 . V.nb lenkt den Blick zurück auf die gemeinsame Zeit: „Ihr habt mir damals kein Unrecht getan"" 5 , und dies wird erläutert durch eine Erinnerung an die eher abschreckenden Umstände, unter denen Paulus missionierte in V.13P 6 . 111

Vgl. zum folgenden vor allem den Nachweis der Topik durch Betz Gal 1979, 22if; Legasse Gal, 32off; L.M. White 2003 bzw. die hier folgenden Anmerkungen. Klauck 1991, 8f wendet ein, dass Paulus die Topik kaum aus der von Betz herangezogenen Literatur geläufig sei, sondern aus dem jüdisch-hellenistischen Korpus (bes. Sir 6). Das ist aber unerheblich für das Textverständnis. Wenn es sich um allgemeine Sozialkonventionen handelt, deren Kenntnis der Autor bei den Leserinnen unterstellt, dann sind die literarischen Belege nur für uns der Nachweis dessen, was Teil der Enzyklopädie war. - L.M. White a.a.O. hat die These Betz' aufgegriffen und weiterentwickelt. Im Vergleich mit Reden des Dio Chrysostomos und Favorinus, die Freundschaftsmotive aufnehmen, werde erkennbar, dass Gal auf die Freundschaft argumentationsstrategisch eingehe: Er tadele die Adressatinnen ob ihres Bruchs der Freundschaft. Zwei cluster der Motivik durchziehen nach White den Brief, die zerbrochene Freundschaft und die Offenheit ("frankness") des Freundes, die sich hier in Tadel äußere, und sie kreuzten sich in 4,11-20, bes. V.16. White verkennt m.E., wie stark sich Paulus in den argumentativen Passagen zurücknimmt, um das Sachproblem von seiner Person gelöst theologisch zu behandeln (vgl. 2.1).

112

Belege bei Betz a.a.O., 224 Anm.46; vgl. z.B. Aristoteles, EN 8,1, 1157a; Xenophon, Mem 2.4.3.

113

Betz Gal 1979, 228f ad V.16.

114

Betz Gal 1979, 229ft ad V.17. Nach Betz a.a.O., 221 konzipiert Paulus hier das Gegenüber von sich und den anderen gemäß dem Diskurs über die Unterscheidung von wahren und falschen Freunden; vgl. zu der These A. Mitchell 1997, 227t. Betz will das Freundschaftsmotiv auch in der Mutter-Metapher 4,19 sehen (1979, 233 mit Anm.150, unter Verweis auf Plato, Lysis 207E; Aristoteles, EN 8,1,3,1155815-20; Plutarch, De amicorum multitudine 2 [= Mor 93F-94A]). Doch der Vergleich mit der liebenden Mutter in der Freundschaftstopik ergibt nichts, wie Betz selbst eingesteht. Die angeführten Belege vergleichen Elternschaft und Freundschaft im Blick auf die Liebe, wovon in unserem Text nicht gehandelt wird (vgl. auch den Einspruch Gaventas 1990b, 192).

115

Diese Feststellung kommt etwas unvermittelt. Verschiedene Pointen werden erwogen (vgl. ausführlich Longenecker Gal, 190; Vouga Gal, 107). Betont sei das με: „mir habt ihr nicht Unrecht getan, aber euch oder Gott oder dem Evangelium" (in diesem Sinne Schlier Gal, 209). Dagegen und für die hier vorgelegte Interpretation ist vorzubringen, dass das με weder phonetisch noch von der Wortstellung her betont ist. Es geht wohl doch um den Gegensatz von vergangener unproblematischer Beziehung und der Gegenwart (so auch Mußner Gal, 306).

116

Ob πρότερον zwei oder nur einen früheren Besuch voraussetzt, ist nicht mehr zu entscheiden; zur Diskussion vgl. nur Vouga Gal, 108, der es ebenfalls offen lässt. Auch die Frage, an welcher physischen oder übertragenen Entstellung Paulus litt, die von allen Kommentatoren diskutiert wird, kann hier übergangen werden. Dass

Gal 4,i2b-i5

465

Die Vergleiche in V. 14 mit einem „Boten Gottes, Jesus Christus" lassen aufhorchen. Die Rolle des Paulus in der Gemeinde war sonst nur mit dem Wortfeld εύαγγελίζεσθαι beschrieben worden. Adversativ zum alliterativen und bildfälligen „gering achten" und „ausspeien" 1 1 7 mit plerophorer Verneinung steht die Annahme ώς ά γ γ ε λ ο ς θεοϋ, ώς Χριστός Ίησοΰς. In chiastischer Opposition zu πειρασμός, in Tonstellung am Ende des Satzes, in einer Klimax gipfelt die Aussage im Vergleich „wie Christus Jesus". Die hoch greifenden Analogien sind freilich nicht als Anspruch des Paulus, sondern aus der Perspektive der Galaterlnnen damals formuliert 118 . Die Erinnerung an die abscheuliche Schwäche stellt diese Wertschätzung besonders heraus 119 . Damit argumentiert der Autor geschickt für die Anerkennung seiner Autorität, ohne sie selbst zu fordern, sondern er beruft sich auf die zu Überzeugenden selbst. Freilich weist der Autor im brieflichen Kontext selbst auf seine besondere Nähe zum Christus Jesus (vgl. 3.2; 4.6.2)120. Auch unabhängig von seiner Person stellt der Autor Christus in das Zentrum seiner Argumentation, so wie er die Evangeliumsverkündigung rückblickend als „Jesus Christus den Gekreuzigten vor Augen Schreiben" zusammenfasst (3,1). Was der Brief den Christinnen in Galatien zu beweisen sucht, hatten diese damals bereits, so suggeriert der Vergleich, begriffen, in der Person des Botschafters verifiziert 121 . der Text auf eine spezifische physische Schwäche, und nicht „die Schwachheit der apostolischen Predigt" referiert (so z.B. Vouga ebd.; vgl. auch unten Anm.121 zu Kremendahl und Güttgemanns), ist von der möglichen Reaktion V.14 her deutlich (so auch Mußner Gal, 307-309, Rohde Gal, 185 u.a.). Zu έκπτύειν als Geste der Abwehr gegen Krankheit und böse Geister Lietzmann Gal, 28; Heinrich Schlier, Art. έκπτύω, in: ThWNT 2 (1935) 446t. Dass der Autor wegen Schwäche angegriffen würde, ist vom Text her nicht belegt (mit Becker Gal, 69). Die Erwähnung der Krankheit ist vielmehr der Beweis für die unbedingte Akzeptanz des Evangelisten, womöglich ein "test of 'true friendship'" (so Betz Gal 1979, 225). 1x7 Vgl. Anderson 1999,171 zur rhetorischen Wirkung der Alliteration. 118

So auch Longenecker Gal, 192.

119

Mit Dunn Gal, 234 kann man die Opposition noch stärker füllen: "instead of regarding Paul as a tool or victim of demonic powers, they had realized that he came with God's message".

120 Dass Paulus ώς Χριστός Ίησοϋς aufgenommen wurde, erinnert an 2 Kor 5,20 und an das synoptische Wort Mk 10,40 (mit Vouga Gal, 109). Damit ist aber kein Repräsentationskonzept verbunden (so Dunn Gal, 235; Legasse Gal, 327), sondern zunächst Gastfreundschaft, vgl. § 4.1. 121

Dies ist aber nicht in kreuzestheologischer Engführung der Christologie auf die Leiden des Apostels zu beziehen. Diese Deutung Güttgemanns (1966, i7off, durch Analogisierung der Front des Gal mit der Auseinandersetzung in 2 Kor 1 0 f f ; ähnlich auch Martyn Gal, 421; Vouga Gal, io8f; C. Strecker 1999, 296) hat jüngst Kremendahl repristiniert. „Paulus [nimmt] für sich in Anspruch ..., Christus nicht nur in seiner

4 66

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Bevor der Autor die Freundschaft mit dem Sprichwort vom Augenausreißen wieder heraufbeschwört (μαρτυρώ γ α ρ ύμΐν) 1 2 2 , kommt er in einer kurzen Frage auf die jetzige Situation zu sprechen: „Wo ist jetzt eure Seligpreisung geblieben?" 123 (V.15). Die Sätze zielen auf den Kontrast 124 : Waren die Galaterlnnen damals zur euphorischen Annahme bereit, willens, ihm ihr Teuerstes, ihr Augenlicht zu opfern (V.i^b), obgleich er verachtungswürdig war, so nehmen sie jetzt, da dieser Anstoß nicht mehr vorliegt, Abstand von Paulus.

Predigt zu verkündigen, sondern ihn zugleich durch seinen Leib und in seiner Gestalt zu versinnbildlichen" (2000, 273). „Die in 4,i4fin beinahe vollzogene Gleichsetzung von Paulus und Christus liegt demnach darin begründet, daß die Schwäche des Verkündigers mit einer Schwäche des Verkündigten zusammenfällt. ... Paulus macht sich an dieser Stelle gleichsam zur persönlichen Metapher des Gekreuzigten, da der leidende Christus in ihm Gestalt angenommen hat." (a.a.O., 227t). Für diese These projiziert Kremendahl 6,17, aufgefüllt mit Aussagen aus anderen Paulusbriefen, in die Aussagen 2,19t; 3,1; 4,13t zurück. Nach 4,19 wird die Vorstellung, „der gekreuzigte Christus nehme in Paulus Gestalt an, nicht allein auf den Apostel beschränkt ..., sondern Ziel einer jeden christlichen Existenz" (a.a.O., 275; die Metapher 4,19 hat Kremendahl in seiner Briefanalyse ansonsten übergangen, und wie sich die Kreuzestheologie im Leben „jeder christlichen Existenz" niederschlägt, bleibt offen). Paulus widerspreche mit seiner Repräsentanz des Gekreuzigten in Schwäche der gegnerischen Herrlichkeitstheologie. Doch ist weder vom Gekreuzigten in 4,14t die Rede noch setzt sich Paulus selbst mit Christus gleich, und die Schwäche, auf die der Text anspielt, dient der Illustration der Freundschaft. Im Gal ist die Kreuzesterminologie nicht konnotiert mit Schwäche oder Leiden (anders Kremendahl a.a.O., 278), sondern steht als pointierte Zusammenfassung des Sterbens Jesu für dessen heils- und individualgeschichtliche Bedeutung, den radikalen Umbruch vom Alten zum Neuen (bes. 6,14t aber auch 5,24). Fehl geht auch der Versuch Hafemanns 2000, seine Auslegung von 2 Kor 2,14ft am Gal ausgehend von 4,i3f zu bestätigen und zu zeigen: "Paul's suffering was the divinely ordained means by which the gospel itself was made clear to the Galatians" (2000, 171; vgl. ders. 1986 und §5.1.3.3 zur These). Gal 4,12-20 sei damit eine theologische Aussage, indem es erinnere daran, was die Galater ursprünglich akzeptiert hätten, aber dann aufgrund judaisierender Kritik am Leiden als Zeichen des Gesetzesfluches abgelehnt hätten (a.a.O., 172t). Gal 4,i3f lässt sich jedoch so nur verstehen, wenn man Hafemanns Deutungen der korinthischen Peristasenkataloge und von 2 Kor 2,14a kennt (wie er auch a.a.O., 174 indirekt sagt). 122 Freunde sind bereit zum Opfer, vgl. Betz Gal 1979, 227, z.B. Plato, Lysis 2igd. Zum möglicherweise sprichwörtlichen Hintergrund vgl. Betz a.a.O., 227t. Zum Topos, dass das Augenlicht das Teuerste sei, vgl. B A A s.v. έξορύσσω; Vouga Gal, io8f; Neuer Wettstein 2/1, z.St. 123 Auch dieser Satz ist in seiner Kürze mehrdeutig: Wer pries wen selig ? Die Aussage kann profan meinen, dass die Galater es „als Glück wahrgenommen [hatten], ... das Evangelium von Paulus empfangen zu haben" (Vouga Gal, 109; profan versteht μακαρίσμός auch Betz Gal 1979, 227). Dunn Gal, 235 sieht hingegen religiöse Konnotationen, eine Anspielung auf die Verheißung an Abraham oder auf die Sicht, die Götter seien selig, überhaupt "the typical euphoria which the converts often feel". 124 Vgl. auch die Verschränkung durch metasprachliche Floskeln, die die Gegenwart in den Blick rücken: οϊδατε δέ οτι (V.i3a) und μαρτυρώ γ ά ρ ύ μ ΐ ν κτλ. (V.i5b).

Gal 4,16

4.4

467

Ende der Freundschaft? (4,16)

Freundschaft kann leicht in Feindschaft umschlagen. Im damaligen Konzept führt Aufkündigung oder Bruch einer Freundschaft oft zur Weiterführung der Beziehung unter umgekehrten Vorzeichen 125 . Das setzt der Ausruf 1 2 6 V.16 voraus. Mit ihm identifiziert der Autor die Sach- und die Beziehungsfrage nun ausdrücklich, ά λ η θ ε ύ ω ν , sc. des Evangeliums, nimmt den Begriff auf, der im Brief das umkämpfte, von dem Verfasser verteidigte Gut kennzeichnet 127 . Diese tendenziöse Beschreibung und Verknüpfung von Sach- und Beziehungsebene ist Teil der persuasiven Strategie. Die Auffassung, dass das Interesse am jüdischen Gesetz das Evangelium verfälsche und die Beziehung zum Missionar unterhöhle, teilten die Christinnen in Galatien nicht notwendig. Der kurze Satz wertet auch durch seine Ausdrucksweise massiv. Die Kontrastierung mit der guten Vergangenheit 128 , der parad o x a l Inhalt drücken Unverständnis aus. Provozierend ist insbesondere die kausale Auflösung des Partizips: Paulus sei gerade deshalb „ F e i n d " geworden, weil er die „Wahrheit" sagt. Das ist sowohl nach Gesellschaftskonventionen als auch theologisch widersinnig. Es ist

125 Vgl. Marshall 1987, 18ff.35-37. Gal 4,16 legt Marshall (a.a.O., i 5 i f f ) allerdings anders aus als hier vorgeschlagen, entsprechend seiner Sicht der korinthischen Korrespondenz: Paulus werde von seinen Gegnern, die den Kontakt mit ihm unterbrechen wollten, vorgeworfen, er sei inkonsistent, wie es 4,12 beschreibe, er versuche, Menschen zu gefallen (vgl. 1,10). Die παρρησία - dafür stehe άληθεύων - sei Ausdruck seiner Feindschaft. Dieses "mirror-reading" ist nicht nur prinzipiell fragwürdig, sondern erklärt auch den vorliegenden Text kaum. Da der Autor seine Angleichung an die Adressatinnen in 4,12 als motivierendes Vorbild hinstellt, dürfte es kaum ein gegnerischer Vorwurf sein, άληθεύων wird hier anders als von Marshall als Freundschaftsobligation verstanden. 126 Üblicherweise wird V.16 als rhetorische Frage gelesen; doch Sieffert Gal, i b j i („tief wehmüthige[r] A u s r u f " ) ; Burton Gal, i45f; Longenecker Gal, 193 u.a. ist Recht zu geben, dass das ώστε keine Frage einleitet; der Satz ist am besten als "indignant exclamation that draws an inference from what is stated in vv 1 4 - 1 5 " (Longenecker ebd.) zu lesen. Anders etwa Becker Gal, 69, der meint, die Frage nach dem Zusammenhang von Wahrheit und Feindschaft sei zu verneinen: Die Feindschaft sei nur durch die eingedrungenen Missionare entstanden. 127 Vgl. 2,5.14 für die grundsätzliche Charakterisierung der Botschaft des Paulus, 5,7 zugespitzt auf die Situation in Galatien, in der die Haltung der Dortigen als Verleugnung der Wahrheit des Evangeliums gekennzeichnet wird. Der Sinnlinie folgen auch die Oppositionen ού ψεύδομαι ι,2ο; ψευδάδελφοι. 2,4; vgl. auch die Aussagen über die unwahrhaftigen Motive der anderen in 4,17t; 6,i2f. 128 Diesen kontrastiven Zusammenhang stellt ώστε her.

468

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

gerade Sache der Freunde, sich die Wahrheit nicht vorzuenthalten 129 . Paulus müsste also eigentlich, da er die Wahrheit sagt, als echter Freund gelten. Auch theologisch ist es absurd, dass die Wahrheit Feindschaft auslöst, denn erst die Wahrheit des Evangeliums, dass das Gesetz keine Barriere zwischen Heidinnen und Juden sowie Jüdinnen mehr ist, hatte die Freundschaft zwischen dem Juden und den Heidinnen ermöglicht130. Diese Deutung vermag den oft bestrittenen inneren Zusammenhang zwischen der Frage der Gesetzeseinhaltung und der gegenseitigen Beziehung zu zeigen und zu erklären, warum die gegnerische Position auf der Beziehungsebene angegriffen wird. Das Motiv der Feindschaft steht in Opposition zu Freundschaft bzw. „Werben" (V.17) und bezieht seine Aussagekraft auch aus der durch den Text geknüpften Sinnlinie „Verfolgung, Feindschaft": Paulus verfolgte die Gemeinde Gottes (1,13.23), der Sohn der Sklavin, die den Sinai-Bund verkörpert, verfolgt den der Freien - „so wie jetzt auch" (4,29). Paulus wird verfolgt, weil er die Beschneidung der Heiden ablehnt (5,11), die Aufrührer in Galatien wollen die Galater zwingen, sich beschneiden zu lassen, damit sie nicht verfolgt werden (6,12). Die Feindschaft besteht jeweils zwischen denen, die Beschneidung bzw. das Gesetz einhalten wollen, und denen, die die christliche Freiheit leben. In dieser Frontstellung steht Paulus - inzwischen - auf der richtigen Seite, seine Konkurrentinnen in Galatien also auf der falschen. Denen lastet er indirekt die Anfeindung an (4,17).

4.5 Die falschen Motive der anderen (4,17t) Der Text lenkt den Blick auf die wiederum keines Namens gewürdigten anderen (V.17). Ihre Erwähnung beantwortet, woher diese in jeder Hinsicht unsinnige Veränderung, „Entfremdung", ja Feindschaft gegenüber Paulus in Galatien rührt. Die Angeredeten werden, so unterstellt der Text, umworben von anderen, aber nicht „im Guten" (ού καλώς). Die Werbenden wollen, mit einem Wortspiel gesagt 131 ,

129 Vgl. die Zitate im Neuen Wettstein 2/1, 558t z.St.; Betz Gal 1979, 228f; Legasse Gal, 322; L.M. White 2003, bes. 338, die freilich den Bezug zum Sachproblem des Gal nicht sehen (vgl. diese Kritik durch A. Mitchell 1997, 228); vgl. auch Heinrich Schlier, Art. παρρησία κτλ., in: ThWNT 5 (1954) 869-884: 871t; Fredrickson 1996, 165ft (παρρησία unter Freunden). 130 Ähnlich doppelsinnig rekonstruieren Vouga Gal, 110; Becker Gal, 69. Ältere Kommentatoren erkennen den Zusammenhang zum Freundschaftsthema kaum und deuten nur auf die Evangeliumswahrheit, vgl. z.B. Mußner Gal, 109I. 131

Vgl. Anderson 1999, 172; er weist auf das doppelte Polyptoton hin (mit je drei Formen von ζηλοϋν und καλός).

Gal 4,17t

469

eigentlich selbst u m w o r b e n w e r d e n . Deshalb schließen sie die A d r e s sierten aus. Es gibt verschiedene Deutungen, wovon die Adressatinnen ausgeschlossen werden sollen132. Nur das Verständnis, dass die Christinnen aus der nicht paulinisch konzipierten (juden-)christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden, wenn sie nicht das Gesetz einhalten, passt zur Fortsetzung: Die Konkurrentinnen wollen selbst umworben werden, deshalb ziehen sie eine Grenze zwischen den nichtjüdischen Christinnen in Galatien und sich, die letztere erst überwinden müssen. Sie stellen aus der Sicht des Briefverfassers erst die Zugangskriterien auf, damit sich die Heidinnen um die Zugehörigkeit bemühen müssen. Zu denken wäre an die Verweigerung der Mahlgemeinschaft, wie es von Petrus und den Leuten des Jakobus in 2,iiff erzählt wurde. Wenn man die Szenerie so rekonstruiert, erinnert der Text mit dem erotisch konnotierten Verb ζηλοϋν 1 3 3 an den Topos des amator exclusus 134 . Ein Liebhaber wird von dem umworbenen Menschen ausgesperrt und wirbt - meist vergeblich - vor der Tür des oder der Angebeteten. Das Aussperren des Freiers dient auch dazu, das Interesse lebendig zu halten. Der Autor demaskiert die Eiferer dann durch Aufdeckung ihrer trügerischen Absichten 135 . Uber diese Andeutung auf die Form des Vorgehens hinaus kann man ζηλοΰν als inhaltliche Anspielung verstehen, ζήλος und ζηλοϋν bezeichnen im jüdischen Schrifttum, im NT, auch in paulinischen Briefen oft den Eifer für das Gesetz, für die Gesetzeseinhaltung 136 . Die Gegenspielerinnen erscheinen also als Eiferer für das Gesetz. Dieser Eifer ist im Judentum positiv konnotiert, und er ist auch hier nicht per se schlecht, sondern aufgrund der selbstbezogenen Motive und der 132 Geht es um Ausschluss von der Gemeinschaft mit Paulus, von dem gesetzesfreien Heidenchristentum, von der Gemeinschaft mit der Urgemeinde Jerusalems ? Vgl. die Übersicht bei Mußner Gal, 310t; Vouga Gal, u o f ; Breytenbach 1996, 133t, der den Ausschluss sowohl auf die synagogale Gemeinschaft wie, nach der vollzogenen Beschneidung, auf die christliche Gemeinschaft bezieht. Eine Lösung anhand der Rekonstruktion des tatsächlichen Vorgehens der Gegner (so Mußner ebd.) verbietet sich aufgrund des polemischen Charakters des Textes. 133

Zu ζηλοϋν als „den Hof machen" vgl. Longenecker Gal, 194; Betz Gal 1979, 228.

134 Vgl. Smith 1996; ihm folgt Legasse Gal, 332f. Man muss diese Anspielung des Textes nicht exklusiv gegen andere Bedeutungen setzen, wie dies Smith tut und auf andere Weise auch Betz Gal 1979, 229, der nur das Freundschaftsmotiv erkennen will. 135

So deutet Smith 1996 den Text: Die anderen seien porträtiert wie ein "deceitful lover", als wollten sie die Galaterlrmen manipulieren und zu Opfern machen. Das Ziel sei, dass Paulus demgegenüber als der "sincere lover" erscheine (a.a.O., 492), als einer, der ehrlich (καλώς κτλ.) den Hof mache (495). Von daher erklärt Smith auch den weiteren Kontext. Die Metaphorik V.15-19 sei zentriert um V.17. Die Anspielung auf das Motiv des ausgeschlossenen Freiers sei als Metapher der Disloyalität gerahmt von zwei Metaphern der Loyalität, und zwar V.i5b und V.19, weichletzterer "the deep commitment to the Galatians" in dem Bild der Mutter eindringlich zeige. Sie nehme die Geburt und damit Todesgefahr auf sich (497t, Zitat 498).

136 Vgl. besonders Gal 1,14; Phil 3,6; weitere Belege sind - trotz antisemitischer Wertung - zu finden bei Albrecht Stumpff, Art ζήλος κτλ. in: ThWNT 2 (1935) 879-890: 882f.886.889; v gl- z u dieser Deutung ausführlich Dunn Gal, 237t.

470

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Auswirkungen. So bekommt die Polemik Schärfe: Der Autor spricht der Aufrichtung von Zugangskriterien zur christlichen Gemeinschaft die Berechtigung ab, er behauptet den Gesetzeseifer der anderen, mit dem sie sich positiv darstellen könnten, als egoistisch motiviert. In ähnlicher Weise polemisiert er später in 6,12 f, die Vertreter des „Beschneidungszwangs" hätten eigennützige, feige Interessen137.

Die Aussage bewertet die Forderung nach heidenchristlicher Gesetzesobservanz als egoistische Errichtung von Zugangsschranken. Wiederum arbeitet die Argumentation mit der Reifizierung einer bestimmten Wirklichkeitssicht, hier über die Intention der anderen. Nicht das Evangelium schließe die Christinnen aus, die nicht das Gesetz halten, sondern diese Gegenspieler. Mit ihrer „exklusiven" Theologie 138 verkörpern sie in der Skizze des Briefes gerade das Gegenteil der inklusiven Gemeinschaftsstiftung des paulinischen Evangeliums. Der folgende Satz V. 18 schlägt den Bogen von jenen anderen zur Beziehung zwischen Autor und Adressatinnen zurück und spielt mit der Polyvalenz des Verbs ζηλοΰν 139 . „Schön ist es, im Guten jederzeit umworben zu werden, und nicht nur, wenn ich bei euch bin" 140 . Zeigt 137 Zu diesem polemischen Topos vgl. Betz Gal 1979, 223 t. - Witulski 2000, 170 ft will allerdings zwischen der Gegnerbeschreibung in 4,17 einerseits, 6,12t andererseits einen so tiefgreifenden Unterschied ausmachen (das eine Mal seien die Gegner auf sich bezogen, das andere Mal wollten sie vor Dritten gut aussehen), dass er 4,17 nicht auf das Problem der Gesetzeseinhaltung bezieht, sondern auf Propaganda für den Kaiserkult. Es gehe den anderen um den dort möglichen Prestige-Gewinn. Witulski überhört die Anspielung auf die exkludierende Funktion des jüdischen Gesetzes, übersieht die Parallelität in den Verunglimpfungen 4,17 und 6,i2f und unterschätzt das rhetorische Arsenal der vituperatio (vgl. oben 2.2). 138 Vgl. die Beschreibung der Funktion des Gesetzes durch Dunn: "It [sc. the metaphor έκκλείω] is thus very well suitet to describe the typical attitude of the Jewish zealot - that is, to draw the boundary line sharply and clearly between the people of the covenant so as to exclude those not belonging to Israel ...; or, in particular, of the Jewish-Christian zealot - to exclude all Gentiles other than proselytes from Christ, the Jewish Messiah, and from the eschatological community of his people" (Gal, 238). Martyn Gal, 422 mit Anm.91 wendet ein, dass das transitive Verb diese Bedeutung nicht habe, verkennt jedoch die spielerische Vieldeutigkeit des Verbs. 139 Dunn Gal, 239 übersieht den Genuswechsel des Verbs und die Mehrdeutigkeit, will daher auch hier den religiösen Eifer angesprochen sehen: "It is always good when zeal is displayed in something good". Doch damit entgeht ihm der inhaltliche Aspekt der Freundschaftstopik: Gemeinschaft wurde erst durch das paulinische Evangelium möglich. 140 Möglich wäre auch unpersönliches Verständnis: „gut, wenn im Guten allenthalben Eifer entfaltet w i r d " (so B A A s.v. 684). Dies bleibt aber blass, muss einen Bedeutungswechsel bei ζηλοϋν voraussetzen und erklärt nicht, wieso der Autor auf seine Anwesenheit zu sprechen kommt. Die exegetische Literatur übersieht den GenusWechsel allerdings oft. Vgl. neben Dunn (s. vorige Anm.) auch Becker Gal, 70; Vouga Gal, 106 f, die es als Aussage über guten Eifer der anderen Missionare deuten.

Gal 4,i7f

471

der erste Satz sentenzhaft 141 Verständnis für den Wunsch, umworben zu werden, so wendet der zweite den Blick auf die gegenseitige Beziehung. Wer ist logisches Subjekt, wer möchte von wem umworben werden? Schön ist es, wenn Paulus die Adressatinnen umwirbt 142 : Das könnte die Einleitung für den folgenden Ausruf sein, der die Mühe des Autors um die Gemeinde zum Ausdruck bringt 143 ; in diese Richtung deutet die inclusio von παρεΐναι. in V.i8b.2oa. Oder: Schön wäre es, wenn die Christinnen in Galatien Paulus umwerben 144 . Dann wünscht der Autor Loyalität auch nach seinem Aufenthalt. Für diese Deutung spricht, dass zuletzt vom Werben der Galaterlnnen um die anderen die Rede war, im Kontrast ist folglich ihr Werben um Paulus angesprochen. Die gemeinsame Zeit wird so noch einmal vergegenwärtigt. Der Unterschied zwischen Autor und Konkurrentinnen besteht nicht darin, dass diese sich gerne umwerben lassen, jener aber nicht, sondern darin, dass diese das Evangelium verfälschen und andere ausschließen, um sich umwerben zu lassen, Paulus aber nicht.

Der Satz bleibt doppeldeutig 145 und besagt so oder so, dass es schön wäre, wenn das gegenseitige Freundesband, das beim Aufenthalt des Paulus in Galatien geknüpft wurde, auch weiter gepflegt wird bzw. würde, auch jenseits der unter Freunden eigentlich erwünschten Anwesenheit 146 . Der Autor tut nichts anderes mit dem Brief 147 , und insbesondere mit der Beziehungsmetapher V.19. Sie verbildlicht seine Zuwendung zu den angeschriebenen Christinnen im Gegensatz zum Verhalten der Konkurrentinnen. Die inclusio παρεΐναι πρός ύμας (V.i8b.2oa), die auf die gegenwärtige räumliche Distanz anspielt, umfängt dieses Bild größter Nähe.

141

Mit Betz Gal 1979, 231.

142 So Breytenbach 1996,134; Vouga Gal, 111. 143 Nach Rohde Gal, 189 (ähnlich Becker Gal, 53; Longenecker Gal, 194) sagt Paulus, dass er Bemühungen um die Galater jenseits seiner eigenen akzeptiert, solange sie „im Guten" geschehen. Damit verliert der Satz seine Schärfe. 144 So Lietzmann Gal, 29; Mußner Gal, 311; Schlier Gal, 213. Diese Deutung wird wohl deshalb meist abgelehnt, weil die Vorstellung, dass Paulus sich gerne umwerben lasse, nicht in das Bild vom selbstlosen Apostel passt. Smith behauptet sogar, Paulus verwahre sich gegen den Vorwurf, er sei "monopolistic" in seinem Anspruch auf die Gemeinde (1996, 495). Doch warum sollte Paulus nicht wie in 2 Kor 7,7 ζήλος der Korintherinnen um sich wünschen ? 145 Ahnlich Lambrecht 2001a, i9if. 146 Freundschaft beweist sich darin, dass sie auch eine Trennung überdauert, vgl. Belege bei Betz Gal 1979, 232. 147 Vgl. zum Topos, dass der Brief die Anwesenheit ersetzt, § 2.2.2.2 und Betz Gal 1979, 2 3 2f.

472

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

4.6 Die schwierige Geburt (4,19) Der Text bereitet wie die Geburt der Galaterlnnen Schwierigkeiten. Wie eingangs erwähnt, verstehen die meisten die nun auszulegende Metapher als Ausdruck der Liebe und vor allem des Schmerzes, den Paulus um der Galaterlnnen wegen erleidet. Die metapherntheoretischen Überlegungen fordern hingegen, auch den Äußerungskontext der Metapher zum Verständnis heranzuziehen. In den vorausgehenden Sätzen hat der Text nach der hier entfalteten Deutung die vergangene Beziehung zwischen Paulus und den Christinnen als eine durch das gesetzesfreie Evangelium ermöglichte Freundschaft in Erinnerung gerufen. Diese sei nun durch das Auftreten anderer in Galatien bedroht. Ein Problem des Briefverfassers wird in 4,17f offenbar: Er muss aus der Entfernung um seine Beziehung zu den Christinnen in Galatien und seine Auffassung des Evangeliums ringen, während die anderen vor Ort Einfluss nehmen können. V.20 äußert gegen die jetzige Ratlosigkeit den Wunsch nach unmittelbarer Nähe. Die Rede von der Anwesenheit (V.i8fin.2oa) inkludiert die Metapher. Diese qualifiziert ihrerseits das gegenwärtige Vorgehen, also die briefliche Kommunikation, πάλιν (V.iga) übersteigt allerdings den Fokus der Metapher bereits. Diese wechselt überdies wie ein Vexierbild das Bild, um den Geburtsvorgang zeitlich und final zu perspektivieren (V.i^b) 148 ; damit kann die Metapher jenseits des engeren Fokus Christus in das Beziehungsgeschehen einzeichnen.

148 Zur Syntax: ους nach τέκνα ist entweder constructio ad sensum (so BDR §296,3), V.18 also ein Anakolouth (Schlier Gal, 213). Oder das Relativum bezieht sich zurück auf ύμας V.i8fin, so dass die Anrede parenthetisch ist und das mütterliche Bild enger mit den Aussagen über die Anwesenheit des Paulus verknüpft ist. Der Unterschied ist nicht gravierend (Belege für beide Deutungen bei Gaventa 1990b, 190). ώδίνω kann Ind. wie Konj. sein; als Konjunktiv bekäme der Nebensatz finalen Sinn (mit BDR §378), so dass die Gebärarbeit das Ziel eines weiteren Besuchs in Galatien wäre („Meine Kinder, damit ich euch wieder gebäre, bis Christus Gestalt gewinnt in euch, wollte ich schon bei euch sein"); gegen eine Subordination unter V.20 spricht aber das δέ in V.20. So ist indikativisch zu lesen, dass der Autor mit dem πάλιν ώδίνω seine jetzige Tätigkeit beschreibt.

Gal 4,19

4.6.1

473

Die Gebärarbeit des Paulus (4,19a)

Die Anrede τέκνα μονΗ9 betont die enge und bleibende Beziehung des Paulus zu den Galaterlnnen. τέκνα μου lässt im Unterschied zu υιοί nicht an die Rechtsstellung denken, sondern geschlechtsneutral an das Geborene, es betont mit dem Possessivum die Abstammung 150 . Die Metapher ist weit verbreitet und als solche fast lexikalisiert' 51 . Im corpus Paulinum werden Christinnen, die von Paulus bekehrt wurden, so prädiziert 152 . Doch die Fortführung des Satzes vitalisiert die bekannte Metapher, indem sie die in der Anrede implizierte Beziehung relativiert: Die Kinder sind noch „intrauterin", ungeboren. ώδίνω referiert auf den Vorgang der Geburt. Es bedeutet meist, „Geburtsschmerzen ... haben, unter Schmerzen gebären", und auch allgemein „heftige Schmerzen empfinden" 153 . In vielen Belegen ist durch den Kontext klar, dass es um Schmerzen geht. Von Schmerzen, welche die Adressatinnen Paulus bereiten, war aber bislang im Text keine Rede. Deshalb passt πάλιν in Bezug auf Schmerzen des Paulus schlecht154, ώδίνειν konnotiert auch gar nicht notwendig Schmerzen, sondern kann mit Akkusativobjekt einfach "to be in travail of a child" 155 heißen, vom anstrengenden, kraftraubenden Gebären reden.

149 Die gelegentlich trotz schlechterer Bezeugung bevorzugte Variante τεκνία mildert die Spannung zur Gebärmetapher, τέκνον vom Kind im Mutterleib steht auch in Barn 19,5; Did 2,2. Im Zusammenhang des Abtreibungsverbots soll es sicher indizieren, dass das Ungeborene bereits ein Kind ist. Gegen Longenecker, der τεκνία wegen seiner Einmaligkeit bei Paulus für "harder" hält, ist einzuwenden, daß die Anrede im NT gleichwohl geläufig ist (vgl. 1 Joh 13,33; l j o h 2,1.12.28 u.ö.). 150 Zum Wortfeld „ K i n d " vgl. P. Müller 1992,165ft; Delling 1970. 151

Vgl. Albrecht Oepke, Art παις κτλ., in: ThWNT 5 (1954) 636-653: 638,nff.

152 Vgl. 1, Kor 4,14.17; Phil 2,22; Phlm 10; l T i m 1,2.18; 2Tim 1,2; 2,1; Tit 1,4, vgl. iThess 2,11. 153 Pape 1383 s.v. 154 Dies wird gelegentlich in den Auslegungen bemerkt, aber nicht weiter in die Deutung eingebracht; vgl. Lietzmann Gal, 29; Oepke Gal, 146. 155 LSJ s.v. Vgl. Stephanus, Thesaurus Graecae Linguae Sp.1996: „Interdum casum adjunctum habet, et significat parturio, pario".

474

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Ob ώδίνειν Geburts-/Schmerzen denotiert, kann nur der jeweilige Äußerungskontext zeigen 1 ' 6 . Sowohl im biblischen Sprachgebrauch 157 als auch im klassischen 1 ' 8 gibt es Verwendungen der Wurzel, in denen der Kontext die Schmerzen nicht hervorhebt159. Auch das jüdisch-hellenistische Schrifttum kennt diesen Gebrauch 160 . Der nächste Beleg findet sich im selben Kapitel: Das Zitat von Jes 54,iLXX in Gal 4,27 verwendet das Verb parallel zu τίκτειν und hat wie die ganze Geschichte von der Mütterkonkurrenz Geburtsschmerzen nicht im Blick.

156 Die Mehrzahl der ntl. Belege von ώδίνειν κτλ. referiert auf Leiden oder Schmerzen und steht im Kontext apokalyptischer oder zumindest eschatologischer Vorstellungen. Vgl. i T h e s s 5,3; Mk 13,8; Mt 24,8; A p g 2,24 für ώδίν und Offb 12,2 für ώδίνειν sowie Rom 8,22 für συνωδίνειν. Dass es um eine leidensvolle Situation geht, ist jeweils durch den Kontext deutlich. 157 ώδίν κτλ. ohne besondere Konnotation von Schmerzen begegnet in Hld 8,5 (als Aussage über den Ort der Geburt); Jes 51,2 (von Sara als Gebärerin parallel zu Abraham als Vater) und in Parallelismen zu τίκτειν (Jes 23,4; 54,1; 66,8) sowie zum γ ε ν ν α ν des Vaters (Jes 45,10). 158 Vgl. Plato, Rep 395ε, eine Aufzählung von allem, was starke Männer der Wehr nicht nachahmen dürfen, so eine Frau, die κ ά μ ν ο υ σ α ... έρωσα ... ή ώδίνουσα. Das Gebären metaphorisiert Plato vor allem im Theaitet (i48eff), w o Sokrates, Sohn einer Hebamme, seine Hebammenkunst darstellt; hier ist gelegentlich von ώδίνειν κτλ. die Rede, ohne dass es um Schmerzen ginge, sondern um den Prozess der Geburt (i49e.i5ib8). Bei Lucian, De hist. 23,9 ist unser Sprichwort „der Berg kreißte und gebar eine M a u s " mit ώδίνειν formuliert, das auch hier nur Bemühungen, nicht Schmerzen konnotiert: ώδινεν όρος - das sagen die Zuhörer, wenn nach einem imposanten Proömium das Corpus der Geschichte nur klein und unscheinbar ist, nur ein „kleiner Erote". 159 Interessanterweise steht gerade im locus classicus, der Ätiologie für die Mühen der Geburt, in Gen 3,i6LXX nicht ώδίνειν κτλ., sondern τίκτειν, und die Pein des Gebärens wird mit σ τ ε ν α γ μ ό ς verdeutlicht und als λ ύ π α ι qualifiziert wie auch die Feldarbeit des Mannes (3,17; vgl. Schüngel-Straumann 1989 z.St.). Dieses Vokabular greift auch Joh 16,21 auf, um die Leiden unter der Geburt mit der Freude über das Geborene zu kontrastieren. Deutlich wird aber auch, dass Gebären als Belastung erfahren wird, und so verspricht Jes 66,7 die Geburt ohne Wehen und Mühe als Rücknahme der Strafe von Gen 3,16 für die Heilszeit. 160 In PsSal 3,9 steht ήμερα γ ε ν έ σ ε ω ς parallel zu ώδϊνες μητρός, in Sib 3,514 steht ώδίν ε ι ν von Gottes Hervorbringen der Sterne. Sonst ist das Verb im intertestamentarischen Schrifttum nur noch einmal belegt. Auch Josephus, Ant 2,206 bezieht ώδΓνες auf die Geburt, nicht auf die Schmerzen. Er differenziert vielmehr zwischen Wehen und Schmerzen: Die Hebräerinnen verdanken ihrem Glauben an Gott Geburten mit „milden Wehen" ohne Schmerzen (διά τήν των ώ δ ί ν ω ν έπιείκειαν και τω μή (3ιαίας αύτη προσπεσεϊν τάς άλγηδόνας), aufgrund deren sie unbemerkt von den Ägypterinnen gebären können (Ant 2,218, vgl. Ex 1,19). Ebenso gibt es die nicht auf Schmerzen abhebende Verwendung bei Philo, vgl. etwa Post 135 (ώδίνει και άποτίκτει); Quaest in Gen 2,26 (εις 'Αβραάμ τόν πατέρα ύ μ ώ ν και εις Σ ά ρ ρ α ν τήν ώ δ ί ν ο υ σ α ν ύμάς). Dies gilt auch von allegorisierenden Deutungen, so über Tamar in Imm 137,5 ( π λ η ρ ο υ μ έ ν η των αρετής σ π ε ρ μ ά τ ω ν κυοφορεί και ώδίνει καλάς πράξεις).

Gal 4,19a

475

Gaventa erklärt die mangelnde Aufmerksamkeit für Gal 4,19 in der exegetischen Literatur damit, dass "until recently, few women have been involved in the scholary exegesis of biblical texts" 101 . Vielleicht liegt es an fehlenden Kenntnissen der Ausleger über den Ablauf einer Geburt, dass die Wehen-Metapher auf den Ausdruck von Schmerzen reduziert wird. In der Antike wusste aber nicht nur der Hebammen-Sohn Sokrates, dass eine Geburt ein Prozess ist und der große Schmerzen bereitende Austritt des Kindes erst die letzte von mehreren Phasen 162 . Wehen, Krämpfe, sind als unwillkürliche Kontraktionen der Gebärmuttermuskulatur nicht beherrschbar, ihr Beginn nicht vorauszusehen. Sie nehmen zu und werden erst im Verlauf der Geburt schmerzhaft. Die Gebärende selbst kann auf unterschiedliche Weise in allen Phasen der Geburt für das Austreten des Kindes arbeiten, zuletzt mit den höchst schmerzhaften Presswehen pressen 103 . Das Einsetzen der Wehen ist ein Zeichen für den Beginn der Geburt, eines gerade für in der Antike lebende Frauen unbeherrschbaren, lebensgefährlichen Vorgangs 164 . Gebärende erfahren also beides, Aktivität, Anstrengung, Arbeit und Passivität, Leiden, Todesängste. Dementsprechend können auch Wehen metaphorisch Unterschiedliches versinnbildlichen. Sie können höchste Anstrengung auf ein erwünschtes Ziel hin ausdrücken, das Unausweichliche, Uberwältigende symbolisieren, oder als Zeichen stehen für den Beginn einer Not, von der man nur weiß, dass sie kommt, aber nicht, wann 165 .

161

Gaventa 1990b, 190.

162 Vgl. Plato, Theaitet i49eff. Der folgende Dialog ist das erfolgreiche Gebären unter der Hebammenkunst des Sokrates (210 b4; ώδίνειν κτλ. Theaitet 149t spricht nicht, wie etwa Schleiermacher übersetzt, von „Geburtsschmerzen", sondern von Wehen als Zeichen des Schwanger-Seins). Wissen vom Ablauf einer Geburt steht z.B. auch hinter der Rede von der άρχή ώδίνων in Mk 13,8, die impliziert, dass sich die Wehen notwendig steigern werden. Auch Rom 8,22t stellt Gebären als einen längeren Vorgang mit dem erlösenden Ziel vor. Vgl. auch Jes 13,8; 26,17t (die in Wehen Liegende ist kurz vor der Geburt); Jer 4,31; 22,23; Hos 13,13 und Sutter Rehmann 1995, 186ff. Für die medizinische Kenntnis vgl. das Galen-Zitat in der folgenden Anm. Zuvor sagt Galen, dass der Muttermund sich am Anfang der Geburt zu öffnen hat (De naturalibus facultatibus 2,152), was ebenfalls sein prozessuales Konzept zeigt. 163 Vgl. etwa die Beschreibung der Geburt durch Galen, De naturalibus facultatibus 2,i47ff: Wenn die Gebärmutter von ihrer haltenden Funktion zur austreibenden übergeht, stößt sie den Embryo hinaus, so dass der Muttermund eröffnet wird. Dann fordern die Hebammen die Mütter auf, selbst das Kind herauszustoßen. Diese verwenden dazu die willkürliche Muskulatur der Bauchdecke. Vgl. bes. 2,152: δταν δ' ίκανόν ή [sc. στόμα (der Muttermund)] πρός την τοϋ κυουμένου δίοδον, άνιστασιν [sc. die Hebammen] αύτάς [sc. die Gebärenden] και καθίζουσι και προθυμεϊςθαι κελεύουσιν ά π ώ σ α σ θ α ι τό παιδίον. εστί δ' ήδη τοϋτο τό έργον, ο παρ' έαυτών αί κύουσαι προστιθέασιν, ούκέτι των ύστερων, άλλά των κατ' έταγάστριον μυών, οϊ πρός τήν άποπάτησίν τε καί τήν οϋρησιν ήμΓν συνεργοϋσιν. 164 Die von Sutter Rehmann 1995,175ft zitierten antiken Grabgedichte zeigen, wie Frauen die Gefahr erlebten, unter der Geburt oder im Kindbett zu sterben. 165 So etwa 1 Thess 5,3. - Vor allem Jer bildet mit Frauen in Wehen militärische Not, „Kampf, Schmerz, Bedrohung und Todesgefahr" ab (Häusl 2003, 361); vgl. z.B. Jer 4,31; 15,9 und weiter Häusl a.a.O., 86ff, inbesondere die Textsammlung 89-93.

476

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Es ist also weder vom Lexikon noch von der Erfahrung noch vom Kontext her zwingend an die Schmerzen der Gebärenden zu denken 166 . Der Kontext spricht von der Kraftanstrengung (4,11), wie sie auch das Gebären bestimmt. Und die temporale Fortführung der Metapher (μέχρις ού) lässt den Prozess der Geburt vor Augen treten. Am besten verstehen wir daher ους πάλιν ώδίνω als Aussage über die Wiederholung dieser Anstrengung: „Wiederum nehme ich die Mühe auf mich, euch zu gebären". Die Geburt hat begonnen, die Wehen haben eingesetzt. Die Gebärende müht sich aktiv, als „kreißende Gebärarbeiterin " l 6 7 , auf das Ziel hin, die Geburt. Das Adverb πάλιν präzisiert bzw. irritiert allerdings diese Vorstellung. Dass ein Mensch „wiederum geboren wird", ist im Sinne der Physiologie unmöglich 168 - aber gerade hier liegt offensichtlich die Pointe der Metapher. So wie Nikodemus an der Metapher von der Neu-Geburt begreifen soll, dass dies ein übernatürlicher Vorgang 1st169, so bezieht auch das Bild in Gal 4,19 seine Aussagekraft aus der Widernatürlichkeit: Was eigentlich unnötig und überhaupt unmöglich ist, versucht der Autor. Auch πάλιν erhält seine Bedeutung von einer Sinnlinie des Briefes. Sie zieht die zeitliche Grenze zwischen Früher und Jetzt bzw. dem Rückfall in die Vergangenheit, der Wiederholung des Alten 170 , πάλιν selbst markiert im Gal dreimal die Zeitgrenze zwischen altem und neuem Leben 171 . In 4,19 setzt es den Rückfall der Adressatinnen voraus 166 Unterstützung findet diese Auffassung in der Vulgata, die nur parturio (kreißen, gebären) übersetzt. 167 So treffend Kahl 1998, 607. 168 Ich scheide damit wegen des Außerungskontextes ein vom Bildspender her mögliches anderes Textverständnis aus, dass die Wehen wieder aufleben, der Geburtsprozess seit dem ersten Besuch noch andauert. Es ist physiologisch möglich, dass Wehen zurückgehen und sich wieder steigern (und belegt bei Plato, Theaitet i49c-d). Doch der Kontext schließt diese Deutung aus, denn Paulus rekurriert mehrfach darauf, dass der Gründungsbesuch erfolgreich war. 169 Anders als die Metaphorik in Joh 3 gehört Gal 4,19 nicht in das Bildfeld von Taufe als Neuwerdung des Menschen (vgl. Joh 3,5; Tit 3,5; 1 Petr 1,3.23). Die Angeredeten sind bereits getauft, sie haben bereits den Geist erhalten (vgl. nur 3,2.2Öf). 170 Die Verwendung von πάλιν nutzt also dieselbe Doppeldeutigkeit wie im Deutschen „wieder", sowohl die wiederholende (repetive) wie die wiederherstellende (restitutive) Handlung zu bezeichnen. So geht es in Gal 2,18; 4,9b; 5,1 eigentlich um einen Rückfall, in 4,19 um eine Wiederholung. Vgl. Bachmann 1992,124ft unter Aufnahme einer Differenzierung R. Harwegs. 171

2,18 allgemein, 4,9 (2x) appliziert auf die Adressatinnen unter polemischer Beschreibung der judaisierenden Tendenzen als Rückfall in das Heidentum; 5,1 in der Aufforderung, nicht in die Knechtschaft zurückzukehren. Diesem πάλιν kor-

Gal 4,19a

477

und spricht von der Wiederholung des Schritts in das neue Leben, die aufgrund des Rückfalls nötig wird. So ruft die Metapher die Aussagen über die Gefährdung des Missionserfolgs ab. Wie Paulus sich erfolglos abgemüht haben könnte (4,ii) 172 , so kann auch Christus vergebens (δωρεάν) gestorben sein (2,21) bzw. die Geisterfahrung der Galaterlnnen nutzlos (είκη) gewesen sein (3,4).

4.6.2 Die Reifung des Embryos (4,19b) Die Metapher von Paulus als Gebärarbeiterin beschreibt den brieflichen Uberzeugungsversuch also als Wiederholung der Geburtsarbeit, die aufgrund des „regressiven" Verhaltens der Adressierten nötig wurde. Der Temporalsatz V.Kjb qualifiziert diese „Gebärarbeit" weiter. Er zeigt das erwünschte Ziel 173 , ist also in der Sache final 174 . Das seltene Verb μορφονν175 kann im Zusammenhang des bildspendenden Bereiches „Schwangerschaft/Geburt" verstanden werden. Die Texte aus der zeitgenössischen Literatur belegen, dass μορφοΰν u.a. das Reifen des Embryos in seiner äußeren Gestalt zu einem Kind bezeichnet176. Die Metapher wechselt also die Perspektive und spricht respondiert das ebenfalls auffallend häufige ούκέτι zur Abgrenzung der Gegenwart vom Früheren in 2,20; 3,25; 4,7, vgl. Bachmann 1992, i24f. 172 Vgl. auch 2,2. 173 Vgl. B D R § 455,3b. 174 Vgl. zur „gewissen Verwandtschaft" mit dem finalen Konjunktiv nach μέχρις ου BDR§ 3 83 2 . 175 Im NT ist es hapax legomenon, in der LXX begegnet es nur in Jes 44,13 in der Rezension des Aquila; auch sonst ist es selten. 176 Viele Belege aus paganer und gnostischer Literatur sind bei Johannes Behm, Art. μορφή κτλ., in: ThWNT 4 (1942) y^o-y6y:y6o( zitiert (der allerdings das Bild in Gal 4,19 „sehr inadäquat" findet [761 mit Anm.3] und seinerseits inadäquat mystisch deutet). Ich nenne nur Beispiele. Die Kapitelüberschrift bei Aetius, De placitis reliquiae 5,21; 433 (Ed. H. Diels) lautet: Έ ν πόσω χρόνω μορφοϋται τά ζωα έν γαστρί όντα. Philo, Spec 3,io8f spricht über Aborte: έάν δέ συμπλακείς γυναικί τις έγκύω π λ η γ ή ν έμφορήση κατά την γαστέρα, ή δέ άμβλωση, έάν μέν απλαστον και άδιατΰπωτον τό άμβλωθέν τύχη, ζημιούσθω, και διά την ϋβριν καί δτι έμποδών έγένετο τη φύσει ζωογονήσαι τό κάλλιστον τεχνιτευούση και δημιουργούση ζωον, α ν θ ρ ω π ο ν : εί δέ ήδη μεμορφωμένον, ά π ά ν τ ω ν μελών τας οικείους τάξεις καί ποιότητας άπειληφότων, θνησκέτω. Uber das bei Behm Aufgeführte hinaus sind folgende Texte aufschlussreich: Die nämliche Vorstellung, dass das Kind im Mutterleib geformt wird, ist auch - ohne μορφοϋσθαι - in SapSal 7,1; 4 Makk 13,20 zu finden. Nach dem späten Enzyklopädisten Isidor von Sevilla, Etymologiae 11,139 wird der Same während der Schwangerschaft durch Hitze zu einen Leib geformt (vgl. Laqueur 1996, 41). Dass Paulus diese Vorstellung teilte, erklärt nach Severian

47

8

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

nicht nur vom Gebärprozess als der Arbeit der/des Gebärenden, sondern auch von der Reifung des Geborenen während der Schwangerschaft. Kohärenz erhält die Metapher von ihrer Pragmatik, Regress und notwendigen Progress, die Arbeit des Autors und die Reifung der Adressatinnen zugleich ins Bild zu setzen177. Dieser Zusammenhang wird nicht erkennbar, wenn man die Pointe des ώδίνω in den Schmerzen sieht. Die Bedeutung ergibt sich aber erst durch den ganzen Ausdruck, μορφωθη Χριστός έν ύμΐν. Dieser Ausdruck verlässt den Vorstellungsbereich der Schwangerschaft. Eine wörtliche Übersetzung, „bis Christus ausgebildet wird in euch", macht Paulus zur Großmutter Christi, der gewissermaßen die Puppe in der Puppe ist. Die physiologische Absurdität ist nur um den Preis des Zusammenhangs zu V.i9a zu vermeiden 178 . Ein Gesamtverständnis von Gal 4,19 ist also nicht ohne weiteres zu gewinnen, und der Text kann unterschiedlich verstanden werden, wie die Auslegungsgeschichte bezeugt. Die Deutung des Temporalsatzes, einer Gleichung mit mehreren Unbekannten ähnlich, hängt davon ab, wie man έν ύμΐν versteht (intralokal „in euch" oder extralokal „an euch" oder instrumental „durch euch"), ob das ύ μ ΐ ν eher kollektiv oder individuell bestimmt ist, worauf genauer Χριστός von Gabala, Fragmentum in I Cor 15,9 (Staab 272) die Fehlgeburtsmetapher in iKor 15,9: Τά έκβαλλόμενα βρέφη πριν ή διαμορφωθήναι έν τη γαστρί καλείται. Bei einer Fehlgeburt ist der Embryo noch nicht fertig ausgebildet, noch unreif. - Bei Galen ist die Verwendung von μορφή κτλ. im Zusammenhang der Entwicklung des Kindes oft belegt. Vgl. nur de semine 4,63i,nff: οίον αύτίκα τό μέν άρρεν Άπαντες, οίς τούτων έμέλησεν, ούχ 'Ιπποκράτης μόνον, έλάττονί χρόνω διαπλάττεσθαι και μορφοϋσθαί φασι, τό δέ θήλυ πλέονι (sc. Embryo). Galen selbst widerlegt diese Annahme; er weiß aus seiner ärztlichen Kenntnis von Aborten, dass bereits der wenige Wochen alte Embryo die spätere Gestalt hat. Dennoch ist dieser Text besonders erhellend, weil er die stoische und auch sonst philosophisch verbreitete Annahme belegt, dass ein Embryo erst im Verlauf der Schwangerschaft Stück für Stück ausgebildet würde. Diese Vorstellung liegt offenbar auch Gal 4,19b zugrunde. 177 Die Zusammengehörigkeit der Metaphorik von V.iga und b sei noch einmal ausdrücklich unterstützt gegen Auslegerinnen, die einen Widerspruch entdecken oder das Bild für inkonzinn halten (Hermann 1955, 714; vgl. bereits das Zitat Gaventas in der Einleitung zu diesem Paragraphen. Die Probleme hat pointiert Burton aufgeworfen, vgl. die nächste Anm.). Die Reihenfolge ist nicht verkehrt (so Hermann 1955, 7i3f). Beschrieben wird der Geburtsprozess, der noch andauert. Auch eine Paraphrase wie „Die Geburt soll dadurch erfolgen, dass Christus in ihnen Gestalt genommen haben wird" (Vouga Gal, 112), erleichtert das Verstehen kaum. 178 So deutet Burton Gal, 248f es als "abrupt change of figure", unter Hinweis auf andere ungewöhnliche Metaphern des Paulus: "those who were just spoken of as babes in the womb, now being pictured as pregnant mother, awaiting the full development of the Christ begotten in them".

Gal 4,19b

479

r e f e r i e r e n soll u n d w e r als logisches Subjekt z u μ ο ρ φ ο ϋ σ θ α ι z u e r g ä n z e n ist: Gott, P a u l u s oder die Adressatinnen179. Eine Übersicht über Auslegungstypen verdeutlicht die F r a g e n : 1 ) V o r allem in der älteren A u s l e g u n g 1 8 0 unseres Jahrhunderts, aber nicht nur, w i r d die so genannte mystische Deutung im Sinne der „ C h r i s t u s - M y s t i k " des A p o s t e l s vertreten, welche die Vorstellung v o n der „ P u p p e in der P u p p e " ins Geistige übersetzt. So deutet B e h m 1 8 1 : „ D e r N e r v des v o n der Entwicklung des K i n d e s i m Mutterleibe hergenommenen Bildes ... ist, d a s s der Christus im Christen zur vollen A u s b i l d u n g , zur reifen Existenzform g e l a n g t . " Er liest das Bild also individuell, im Sinne der Mystik des Apostels v o m L e b e n des Christus in den Christen, die das Gestalten je einzeln vollziehen müssen, als „ G a b e u n d A u f g a b e in e i n e m " . D a s ist dann freilich - hier bricht B e h m das Bild b e w u s s t - ein „ i n diesem A e o n niemals abgeschlossener P r o z e ß " . Bemerkenswert ist auch die Variante Lietzmanns: Im Hintergrund stehe, „ d a ß Christus in jedem einzelnen Christen a u f s neue Mensch w i r d " 1 8 2 , v o n H e r m a n n gegeißelt als „ G e d a n k e n , die der romantisierende Katholizismus liebt" 1 8 3 . Diese D e u t u n g ignoriert den Kontext der temporalen A b z w e c k u n g , also den gebärenden Paulus, die noch nicht geborenen „ K i n d e r " . 2) Die ekklesiologische Deutung, die Schlier a m klarsten vertritt, beharrt zunächst gegen die mystisch-individuelle darauf, dass έν ύ μ ΐ ν nicht „ i n j e d e m e i n z e l n e n " , sondern „unter e u c h " heißt u n d Paulus die G e m e i n d e als ganze v o r A u g e n hat. „ P a u l u s gebiert durch sein E v a n g e l i u m die έ κ κ λ η σ ί α ι της Γ α λ α τ ί α ς " 1 8 4 , μ ο ρ φ ο ϋ ν referiere dabei nicht auf die im Mutterleib reifende Frucht, sondern auf die „ d u r c h die Geburt ins Dasein k o m m e n d e G e s t a l t " , s y n o n y m der „ μ ο ρ φ ή Χ ρ ί σ τ ο υ . In der έ κ κ λ η σ ί α tritt ja der Leib Christi h e r v o r " 1 8 5 . Diese D e u t u n g verdankt sich offensichtlich der Assoziation zur Leib-Christi-Metapher. V o n einer gemeinschaftlichen Identität spricht i m G a l selbst 3,28 u n d mittelbar auch 4,12, doch beide M a l e u m eine die D i f f e r e n z e n z w i s c h e n J u d e n / J ü d i n n e n und Heidinnen übergreifende. D a r u m geht es aber hier nicht.

17g Prinzipiell möglich wäre auch, dass Christus hier als der formgebende Vater zu ergänzen sei; das erwägt Burton Gal, 248. Doch dieses Konzept ist dem Brief ganz fremd. 180 Die Vorstellung begegnet aber auch in neuen Interpretationen, vgl. Longenecker Gal, 195 (es gehe um die Gestation Christi in den Galatem) und Segal 1990, 22^63. Er rückt Gal 4,19 zu den als Ausdruck eines mystischen Transformationsverständnisses gedeuteten Aussagen mit μορφοϋν κτλ. (z.B. Phil 3,7ft); vgl. dagegen unten die Kritik an der eschatologischen Auslegung. 181 Vgl. zum Folgenden Behm, ThWNT 4, 761,19 ft. 182 Lietzmann Gal, 129, unter Rekurs auf eine Formulierung Justins. 183 Hermann 1955, 716. Auch Oepke Gal, 145 vertritt eine mit der ekklesiologischen kombinierte mystisch-individuelle Deutung. Gegen die mystische Deutung vgl. weiter Hermann a.a.O., T y f f . 184 Schlier Gal, 214 (unter Rekurs auf 3,28t und 3,16); vgl. auch entsprechende Andeutungen bei Matera Gal, 167t. 185 Vgl. Schlier Gal, 214 und Anm.3. Diese Differenzierung ist schwer nachvollziehbar.

480

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

3 ) Eine kreuzestheologisch enggeführte christologische Interpretation der ganzen Perikope entfaltet Güttgemanns: Wie der A p o s t e l in der S c h w ä c h e das Leiden Christi „ e p i p h a n " mache, so sollten auch die A n g e r e d e t e n w i e Paulus w e r d e n , „ n ä m l i c h solche, deren Sein am K r e u z e J e s u begründet w u r d e " . Die N a c h a h m u n g s a u f f o r d e r u n g 4,12 u n d V . 1 9 liefen darin zusammen 1 8 6 . - Die These fußt auf einer unhaltbaren Rekonstruktion einer nomistisch-pneumatischen gegnerischen Ideologie s o w i e einer Implantation der kreuzestheologischen A r g u m e n t a t i o n aus 1 Kor i f 8 7 . 4) Eine ethische Deutung in d e m Sinne, dass es u m den W a n d e l gemäß d e m E v a n g e l i u m geht, vertreten Becker 1 8 8 u n d Guthrie 1 8 9 . A u c h d a v o n ist i m G a l bislang keine R e d e gewesen. 5 ) Ein eschatologisches Verständnis entfaltet V o u g a unter V e r w e i s auf die V e r w e n d u n g v o n ώ δ ί ν ε ι ν im eschatologischen Kontext der K o m p o s i t a v o n μ ο ρ φ ή κτλ. 1 9 0 : P a u l u s arbeite an der eschatologischen Geburt der G e m e i n d e ein zweites Mal, u n d es gehe u m die „(eschatologische) Verheißung der Gemeinschaft mit d e m T o d u n d der A u f e r s t e h u n g Jesu, d.h. der B e f r e i u n g v o n (der Gleichförmigkeit mit) dieser Welt u n d der V e r w a n d l u n g des Subjektes durch die Gestaltung des Vertrauens u n d der Selbsthingabe Christ[i] in i h m " 1 9 1 . V o u g a verwischt die D i f f e r e n z e n z w i s c h e n den A u s s a g e n , insbesondere den unterschiedlichen Herkunftsbereichen der Metaphorik in B e z u g auf die B e k e h r u n g in G a l 4 u n d auf das Sterben i m R o m u n d Phil 1 9 2 . 6) H e r m a n n vertritt in seinem oft rezipierten A u f s a t z 1 9 3 eine D e u t u n g im Sinne der richtigen Lehre, ähnlich der hier vorgeschlagenen Interpretation: Es gehe u m die „richtige Einsicht" 1 9 4 „ a l s eine A r t F o r m u n g u n d Gestaltung ,Christi' durch die Galater im Gegensatz zu den L e h r v e r z e r r u n g e n d o r t " , „ d a s Gestaltgewinnen des rechten Bildes v o n Christus" 1 9 5 .

Kohärenz ist m.E. nur zu finden, wenn man μορφωθfj Χριστός έν ύμϊν im Zusammenhang mit V.wja liest, es also von der pränatalen Reifung der Adressatinnen, nicht derjenigen Christi handelt196. Weiter ist die 186 Güttgemanns 1966,170ft, Zitat 189. Zu seiner These vgl. § 1.2.1.1. 187 Zur Kritik vgl. auch Mußner Gal, 3i4f. 188 Gal, 70. 189 Gal, 122. 190 Rom 8,29; 12,2; Phil 3,10.21. Auf die Komposita mit μορφοϋν verweist auch z.B. Martyn Gal, 424t. 191 Vouga Gal, l i i f , Zitat 112. 192 Zur Differenzierung der Konzepte vgl. Back 2002, i6off.i98. 193 Vgl. Mußner Gal, 312; Rohde Gal, 190, der aber die mystische Deutung nicht als dem widersprechend ansieht. 194 1955, 716, im Original gesperrt; in ähnliche Richtung weist Bormard Gal, 159. 195 1955, 718.726. Hermann kapriziert sich auf die Semantik von μορφοϋν κτλ. und führt länger aus, dass es resp. sein lateinisches Äquivalent formare auch das immaterielle Gestalten bedeutet (1955, 7i6ff). So ebnet er den metaphorischen Charakter der Aussage ein. 196 So aber Gaventa 1990b, 197 und de facto die mystische Deutung.

Gal 4,19b

481

Phrase nicht allein v o n der Präposition έν her z u verstehen,

sondern

als v e r d i c h t e t e r A u s d r u c k e i n e s k o m p l e x e n G e d a n k e n s . D i e μ ο ρ φ ή ist d i e ä u ß e r e E r s c h e i n u n g , a n d e r e i n M e n s c h e r k e n n b a r ist197. W e r

die

Gestalt eines anderen annimmt, w i r d also mit diesem in g e w i s s e r Hinsicht, z.B. m i t s e i n e m Status198, identifizierbar. D i e

Christus-Identifikation

b z w . Statusgleichheit w a r i m Brief bereits m e h r f a c h a n g e k l u n g e n . Die Phrase bündelt also eine ganze Sinnlinie des B r i e f e s 1 " . 1 ) Z e n t r a l u n d a u c h in d e n D e u t u n g e n i m m e r w i e d e r in d e n Z u s a m m e n h a n g mit 4,19 gestellt ist 2,19 f. Dort w i r d die r a d i k a l e V e r ä n d e r u n g des C h r i s t e n m e n s c h e n p a r a d i g m a t i s c h a m „ I c h " v o r g e f ü h r t . 2,19 stellt d u r c h διώ ν ό μ ο υ ν ό μ ω ά π έ θ α ν ο ν eine A n a l o g i e z w i s c h e n Ich u n d g e s t o r b e n e m C h r i s t u s her. D a s n e u e L e b e n ist m e t a p h o r i s c h vorgestellt als E i n w o h n u n g Christi 2 0 0 : ζ η ... έ ν έ μ ο ϊ Χ ρ ι σ τ ό ς . C h r i s t u s gibt d e m mit i h m G e k r e u z i g t e n n e u e s L e b e n , w i r d „ S u b j e k t " des L e b e n s „ f ü r G o t t " , d a s d a m i t u n v e r e i n b a r ist m i t e i n e m L e b e n i m Interesse a n der Gesetzesgerechtigkeit (2,19.21 ) 201 . A l s A u f n a h m e dieser M e t a p h e r lässt sich das έ ν in 4,19 a m besten erklären. 2 ) G a l 3,27 beschreibt die mit der π ί σ τ ι ς v e r b u n d e n e V e r ä n d e r u n g des M e n s c h e n m e t a p h o r i s c h als „ E i n t a u c h e n in C h r i s t u s " u n d „ C h r i s t u s - A n z i e h e n " . D i e T a u f e w i r d als Inkorporation visualisicrt 2 " 2 , die B e k l e i d u n g s m e t a -

197 Spicq 1978b, 569 s.v. μορφή; vgl. Polybius, Historien 4,21,2: διαφέρομεν ήθεσί τε και μορφαΓς και χρώμασιν; s. auch Wolfgang Pöhlmann, Art. μορφή, in: EWNT 2 (^992) 1089-1091:1090. 198 So Phil 2,6f; vgl. Walter Phil, 59 z.St.; Pöhlmann a.a.O., 1091. 199 Vgl. den ähnlichen Ansatz bei Gaventa 1990b, 195t die allerdings andere Schlussfolgerungen zieht (vgl. unten). - Den Begriff der „Identität" halte ich mit EngbergPedersen (2000, i39ff) für heuristisch produktiver als den der unio mystica und auch den der Partizipation, der insbesondere von E.P. Sanders (1977, 44off, bes. 453-477 bzw. 1985, 438ff) zur Ubersetzung dieser metaphorischen Beschreibung herangezogen wurde. Engberg-Pedersen, dem an der Analogie dieser Denkvorstellung mit der stoischen liegt, beschreibt als "self-identification" die Veränderung des alten ichbezogenen Menschen zu einem neuen Ich durch Begegnung mit Christus (resp. in der Stoa mit der Vernunft): "seeing oneself as a being whose normative identity is to be found in something one belongs to outside one's more immediate, individual self" (146), unter Bezug vor allem auf 2,19t; 3,26-28 (146ft). Für die ethische Relevanz führt er 4,i4f; 5,24; 6,14 als Aussagen der Christusidentifikation an (152ft). 200 Vgl. zu dem Konzept und seiner Tradition nur Meier 1998, 229ff.247· 201 Die Auslegung der Verse kann hier nicht geleistet werden; vgl. z.B. Dürrn Gal, i43ff; Martyn Gal, 257ft z.St. - Im Unterschied zur verbreiteten Auslegung gehe ich allerdings davon aus, dass das paradigmatische Ich für die judenchristliche Existenz steht, womit sich das Gegenüber von Sterbemetapher für den jüdischen Menschen unter dem Gesetz und Geburtsmetapher für die Heidinnen ergibt; vgl. oben die Einleitung zu § 8 bei Anm.12 und die folgenden Ausführungen. 202 Vgl. C. Strecker 1999, 195, der darauf hinweist, dass „die räumlich einverleibende Komponente in der Präposition εις bewußt mitzuhören" ist.

482

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

phorik impliziert einen Statuswechsel, denn „Kleider machen Leute" 203 . Diese Veränderung des Status als Aufhebung der sozialen Dichotomien bringt die folgende Formel 3,28 auf den Punkt204. 3) Die Identität der Glaubenden mit Christus als dem einen Samen Abrahams, dem die Verheißung galt (3,16), ist Voraussetzung für das Argument in Gal 3,29t: εί δε ύμεΓς Χρίστου αρα τοϋ Α β ρ α ά μ σπέρμα εστέ. Der auffällige maskuline Singular in der Metapher εις έν Χριστώ Ίησοϋ (3/28) evoziert die Vorstellung, dass durch die die Unterschiede beseitigende Taufe alle Christinnen zusammen, eben in dieser Gleichheit, den Christusmenschen verkörpern 205 . 4) Das Argument in 4,4-6 setzt eine gewisse Parallelisierung der Christinnen mit „dem Sohn" voraus, werden sie doch durch die Sendung des Sohn Gottes in ein jüdisches Leben bzw. durch die Gabe seines Geistes zu Gottes Kindern. 5) In räumlicher Metaphorik wird Χριστός schließlich in Gal 5,4 zum Inbegriff der Gnade Gottes206, gewissermaßen zum Bereich der Heilswirksamkeit (vgl. auch 5,2), die sich mit dem Wunsch, durch das Gesetz gerechtfertigt zu werden, vollkommen ausschließt. 5,6 konkretisiert, dass im „Christus-JesusRaum" Beschneidung und Vorhaut wirkungslos sind. In den für die Christus-Identität besonders prägnanten Aussagen der Sinnlinie 2,19 f; 3,27.29; 5,4 steht wie in 4,19 jeweils Χριστός allein ohne die im Namen Ίησοϋς implizierte Referenz auf den gesetzestreuen, beschnittenen Menschen, und die Verwendungen weisen über ein wörtliches Verständnis hinaus 207 . Die Kontexte setzen Χριστός in Opposition zum alten Ich, das dem Gesetz lebt (2,19t) bzw., daraus folgend, zur Zweiteilung der Menschheit (3,26-29), zur Rechtfertigung aus dem Gesetz (5,4).

Χριστός wird damit zur Kurzformel 208 für das schlechthin neue Leben der Glaubenden, und zwar das sichtbar neue, jenseits der Differenzen 203 Vgl. zur Statusrelevanz der Bekleidung die sozialanthropologischen Nachweise bei Vogel 2ooo, 452-455. Sprechend ist insbesondere der Wechsel des Gewandes bei lebenszyklischem Statuswechsel. 204 Vgl. zur Diskussion um diesen „Programmsatz der Communitas" und seine Bedeutung insbesondere C. Strecker 1999, 35iff. 205 Vgl. zur Diskussion über diese Deutung insgesamt Schäfer 1989, 96 ff. 206 Vgl. Longenecker Gal, 228. 207 Χριστός fasst auch in 5,2 das Heilsgeschehen in einem Wort zusammen, vgl. auch 3,24 sowie Donaldson 1986,105f zur repräsentativen Funktion von „Christus". 208 Χριστός fungiert dabei unterschiedlich, der semantische Prozess ist nicht deutlich abgrenzbar: So kann metonymisch die Ursache (Christus) für die Wirkung (Christsein bzw. die Gotteskindschaft) stehen. Die räumliche Metaphorik kennt den Christus im Christenmenschen und den Christenmenschen im Christus mit je unterschiedlichen Implikationen; eine spezifisch mystische Vorstellung muss nicht unterstellt werden. Der korporative Aspekt setzt nicht die Vorstellung von einer "corporate personality" voraus, sondern kann auch verstanden werden als metaphorisches Konzept, nach dem eine Menschengruppe etwas verkörpert (vgl. Horrell 2000, 324 mit Anm.18; dass ein Konzept von "incorporation of the group in an individual" im jüdischen Denken existierte, bestreitet Perriman 1999). Prägnant wird die Kurzfor-

Gal 4,19b

483

zwischen geborenen Juden und Jüdinnen einerseits, Heidinnen andererseits209. Identität bedeutet immer eine bestimmte Lebenspraxis 210 . Individuelle und gemeinschaftsbezogene Heilswirkung des Christusgeschehens sind daher gar nicht alternativ. So wird also ein positiv belegter, nach den Ausführungen des Briefes die Heilsgeschichte zusammenfassender Begriff zur Kennzeichnung der neuen Identität - und den anderen enteignet. Lesen wir auf dem Hintergrund dieser Überlegungen 4,19b. Die umständliche Formulierung erklärt sich am besten so, dass έν νμΐν eine Reminszenz an 2,20 ist. Was dort der geborene Jude sagt, „Christus lebt in mir", steht für die Galaterlnnen noch aus. Das Verb μορφωθηναι gibt in Verlängerung der Aussage über die Schwangerschaft des Paulus dem έν ύμιν jedoch eine andere Pointe. Der intra-vitale Aspekt wird durch den extra-korporalen überzeichnet 211 . Die Gläubigen sind in der Gestalt des Christus erst reif zum Leben. Auch 2,19t beschreibt einen für Menschen physiologisch unmöglichen Vorgang: Ein Gestorbener lebt wieder. Dort spricht der Autor rückblickend von seinem postmortalen Neuwerden, hier spricht er von dem natalen Werden der Angeredeten zu einem Leben, das die Gestalt des Christus verkörpert. Die Sterbe-Metapher betont die Beendigung des Lebens unter alten Bedingungen (vgl. 6,14 ) 212 , die Geburtsmetapher das neue Leben ohne Valenz für ein früheres Vorleben. Der Wechsel der Metaphorik trägt damit der unterschiedlichen Herkunft derer, die in die Christus-Identität eintreten,

mel gerade dadurch, dass sie diese verschiedenen Ausgestaltungen vereinigt. Vgl. auch die ritologische Rekonstruktion der besonders in der Taufe liegenden Erfahrungsgrundlage des χ έν Χριστώ bzw. seiner Umkehrung Χριστός έν χ durch C. Strecker 1999, i89ff. Beide Aussagekreise belegen den Eindruck, „daß die έν-ΧριστωSätze eine innige Gemeinschaft mit Christus artikulieren, eine Communitas, die mit einer Transzendierung des alten Ego zusammenfällt" (199). - Zu den paulinischen Abbreviaturen, in denen sich die Herkunft aus gesprochener Rede niederschlägt, vgl. Betz Gal 1979, 2.y{; Lategan 1988, 420 Anm.2. 209 So fungiert auch ε ύ α γ γ έ λ ί ο ν Χρίστου in 1,6 als Kennzeichnung des einen Evangeliums, sowohl an Beschnittene wie an Unbeschnittene, das kein abweichendes (άλλο) ist. - Damit ist eine Grenze des christlichen Judentums sowohl zum Judentum extra Christum wie zum Heidentum markiert; mit Horrell 2000, 3 4 1 f t vgl. 343 (dort hervorgehoben): "The disctinction to be drawn in terms of moral obligation and social interaction is not between Jew and Gentile but between those who are in Christ and those who are not." Zur Diskussion vgl. a.a.O., 322ff. 210 Diese wissenssoziologische Maxime macht Horrell 2000, 235ft in diesem Kontext fruchtbar; der Zusammenhang ist besonders deutlich in Gal 3,26-29 expliziert. 211

έν ist demnach trotz des Anklangs an 2,20 mit „ a n " (LSJ s.v. 4.: "on, a t " ) zu übersetzen ; im Deutschen kann man die Polysemie der Präposition nicht wiedergeben.

212 Zur Todesmetaphorik vgl. Dunn Gal, i43ff ad 2,19.

484

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Rechnung. Der beschnittene Jude stirbt dem Gesetz. Die Heidinnen müssen erst geboren, zu Kindern Gottes adoptiert, anerkannt werden (4,6.9). Die Formulierung Χριστός μορφωθη έν ύ μ ϊ ν bündelt also die christologischen Argumentationen des Briefes zum Beweis des Endes alter Knechtschaften, und zwar in einer Metapher, die darauf abhebt, dass das Christusgeschehen auch am Glaubenden sichtbar sein muss 213 . War Christus in 3,27 das Kleid, das man anzieht, so ist er hier sogar die „Physiognomie". Die äußere Erkennbarkeit als Christus stellt implizit eine Opposition zur Erkennbarkeit des Juden an seiner σάρξ, an der Beschneidung 214 her. Bisher offen geblieben war die Frage, wer als logisches Subjekt von μορφωθη vorzustellen ist. Verschiedene Deutungsmöglichkeiten ergeben unterschiedliche Implikationen. Im Sinne der biblischen Tradition ist μορφωθη ein passivum divinum. Gott ist derjenige, der den Menschen im Mutterleibe „bildet" 215 . Nach antiker Auffassung von der Fortpflanzung kommt dem Vater für die Identität des Kindes hervorragende Bedeutung zu216. Ist in Gal 4,19 der Vater nicht genannt, so ist er

213 Damit klingt das Motiv der Christus-Verähnlichung an, das sich mehrfach bei Paulus findet, aber in sehr unterschiedlichen Konzepten; vgl. insgesamt Back 2002. In Rom 8,28 f; i K o r 15,49; Phil 3/ 2 1 ist e s die Erwartung der endzeitlichen Verwandlung der bei der Parusie noch lebenden Christinnen nach dem Bilde Christi, in 2 Kor 3,18 Zeichen, „daß die Christen insgesamt göttliche Botschaft empfangen" (Back a.a.O., 158). Im Unterschied zu diesen Texten wie auch Gal 2,igf; 3,27 zielt die Metapher in Gal 4,19 nicht auf Veränderung. Sie meint nicht das, was vorher war, sondern das radikal Neue. So geht es nicht nur um ein bestimmtes Ethos, auch nicht nur um darum, sich mitkreuzigen zu lassen (so Gaventa 1990b, I95f )• 214 Vgl. die ebenfalls prägnante Verwendung von σάρξ, das nicht nur die Opposition zu πνεϋμα bildet, sondern zugleich eine Abwertung implizierende Metonymie für die Beschneidung ist, vgl. Gen 17,iiLXX und Gal 3,3; 6,i2f, aber auch 2,20 (νϋν ζην έν σαρκί bedeutet für Paulus als Juden u.a., beschnitten zu sein). 215 Gen 4,1; Ps 139,13 und 2 Makk 7,22; vgl. auch die Belege bei Lampe s.v. μορφόω für die Auffassung der göttlichen Formung des Menschen in der patristischen Literatur. 216 Zur antiken Diskussion darüber, ob nur der Vater den Samen gibt (sog. Ein-SamenTheorie) oder auch die Mutter (sog. Zwei-Samen-Theorie), vgl. Schubert/Huttner 1999,5i3ff und van der Horst 1990. Bei dieser Diskussion ging es weniger um physiologische Details als um die Erklärung von Ähnlichkeiten mit den Eltern und die Bestimmung der Geschlechterverhältnisse. Für Aristoteles als Vertreter der EinSamen-Theorie, der seine Anthropologie nach der Metaphysik entwirft, gilt das Zusammenwirken von „Akt und Potenz" (ένέργεια und ϋλη) auch für die Schwangerschaft. Der Vater ist derjenige, der mit dem Samen dem Kind μορφή und είδος gibt wie der Schreiner dem Bett die Form (vgl. de generatione animalium 729~73ob2 und 737a und Schubert/Huttner a.a.O. 5i7ff; van der Horst a.a.O., 293f). Die EinSamen-Theorie ist die im vorrabbinischen Judentum geläufige (van der Horst a.a.O, 296ff, vgl. etwa SapSal 7,if; 4 Makk 13,20; anders aber Hebr 11,11, vgl. van der Horst

Gal 4,19b

485

doch mitnichten pater incertus, vgl. nur 1,1.3.4. Die Vaterschaft Gottes f ü r die g l a u b e n d e n H e i d i n n e n w a r in 4 , 1 - 7 eigens nachgewiesen w o r d e n . Die metaphorisch u n d terminologisch v e r w a n d t e A u s s a g e R o m 8,2g217 hebt g e n a u so auf die Gestaltungsmacht Gottes ab: π ρ ο ώ ρ ι σ ε ν [sc. θ ε ό ς ] σ υ μ μ ό ρ φ ο υ ς τ η ς εικόν ο ς τ ο ϋ υ ί ο ϋ α ύ τ ο ϋ . So w a r Gott im Brief bereits als der die B e k e h r u n g Wirk e n d e dargestellt worden 2 1 8 . A n d e r s als in R o m 8,29 weist G a l 4,19 jedoch nicht auf eine E i n w i r k u n g Gottes hin. Der R a h m e n legt nicht nahe, an Gott zu denken als den, der die Reif u n g der Galaterlnnen wirkt. V o m Kontext her ist vielmehr der A u t o r derjenige, der auf die Christus-Gestalt der Adressatinnen hinarbeitet. Ergänzt m a n folglich Paulus als Subjekt 2 1 9 , so w i r d sein S c h a f f e n als Gebärerin hervorgehoben. A b e r auch diese Inferenz provoziert der Text nicht eindeutig, d e n n v o n der Syntax her hätte sich dann eine aktive V e r b f o r m ( μ έ χ ρ ι ς ο ύ μ ο ρ φ ώ σ ω Χ ρ ι σ τ ό ν έ ν ύ μ ϊ ν ) angeboten. Für die Galaterlnnen als logisches Subjekt schließlich spricht, d a s s sich hier der indirekte Imperativ „ W e r d e t endlich w i e C h r i s t u s ! " durchhören ließe, in A n a l o g i e zu V . 1 2 .

Der Text hat hier eine Leerstelle, und er ist gerade damit volltönend 220 . Ist es Gott, der eigentlich die Bekehrung wirkt (vgl. 4,9), so stellt Paulus seine Arbeit an den Galaterlnnen mit V. 198.20 in den Vordergrund; doch schließlich sind es die Adressatinnen selbst, die dem Appell enta.a.O.). Die Vorstellung, dass das Männliche das Formprinzip ist, steht auch hinter den gnostischen Texten, die zwar Kindschaft ohne Vater kennen, diese Wesen jedoch als amorph sehen (vgl. die bei Behm ThWNT 4, 761 zitierten Texte, in denen μορφοϋν eine zentrale Rolle spielt). Gal 4,2iff lässt erkennen, dass Paulus diese patrilineare Definition des Status der Kinder verfocht. Den Unterschied zwischen den beiden Söhnen desselben Vaters markiert nicht die jeweilige Mutter, sondern die unterschiedliche Zeugung bzw. Geburt κατά σάρκα resp. δι' έπαγγελίας (4,23). Wenn der Text auf die Geburt von Kindern zu sprechen kommt, redet er von den Müttern als dem Herkunftsort (έκ c.gen., vgl. 4,4 und 4,22), während die Väter - Gott oder Abraham - für die Abstammung wichtiger sind (gegen Kahl 1998, 607, die meint, Paulus schalte die biologische Vaterschaft hier aus). Auch in 3,16 und 29 wird die Abstammung von Abraham mit dem σπέρμα-Sein beschrieben, das hier also nur auf die Vaterschaft bezogen ist. Rein patrilineare Vererbung ist auch in Rom 9,8ff; i K o r 4,15 vorausgesetzt. Auch die σκεϋος-Metapher in iThess 4,4 ist wohl auf dem Hintergrund aristotelischer Naturkunde zu deuten (mit Schottroff 1994, 283 mit Anm.58). Auch i K o r n,8b.i2a setzt das Konzept der aus dem Samen des Mannes kommenden Fortpflanzung voraus. 217 Auf diesen Text wird in den Auslegungen oft verwiesen, vgl. nur Gutierrez 1968, 217; Martyn Gal, 424t. 218 Vgl. nur 4,9 und oben 2.1. 219 So der Sache nach Wolfgang Pöhlmann, Art. μορφόω, in: EWNT 2 (H992) 1091-1093: 1092. Er bezieht sich auf die in Anm.216 skizzierte Ein-Samen-Vorstellung und meint, „der Apostel ist Vater und Mutter der Gemeinde", Vater, insofern er der Gemeinde „durch seine Verkündigung die Christusgestalt eingeprägt hat". 220 Zur Funktion solcher "gaps" vgl. Lategan 1992, 268t am Beispiel der ethischen Anweisungen des Gal: "Imagination and participation of the reader are required in order to fill in these gaps" (268).

486

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

sprechen müssen (4,12). Im Grunde geht es darum, die Christus-Identifikation des Autors nachzuvollziehen (vgl. 4,14 und oben 2.1). War das Ziel eingangs als Bewegung auf das Bild Pauli hin gezeichnet worden (4,12a), so wird es nun, vertieft, als Identifizierung mit Christus gedeutet.

4.6.3 Zum möglichen Hintergrund der Metapher Die Metapher von Paulus als dem die Gemeinde erneut Gebärenden gehört demselben Bildfeld an wie die Bilder in 1 Thess 2,7-12 und 1 Kor 4,14 ff: Die missionarische Beziehung zur Gemeinde wird dargestellt als Relation von Eltern zu ihren Kindern. Für das Verstehen der anderen Paulus-Texte war nach meiner Auslegung jeweils neben dem Rahmen, der die Übertragung mitbestimmt, die „Realien" entscheidend. Bereichert wurden die Deutungen aber durch die auch sonst begegnende Assoziation des Vaters mit dem Lehrer (1 Kor 4,15) und durch die Vorstellung, dass Konvertitinnen eine neue Familie brauchen (1 Thess 2,10-12). Gal 4,19 haben wir bislang vom Alltagswissen über den Bildspender und von Sinnlinien des Briefes her ausgelegt. Gehört die Gebärmetapher jedoch auch in ein traditionelles Bildfeld ? Gewiss erinnert sie an die Vorstellung, dass der Gründer Vater oder Mutter der Gemeinde ist; doch damit ist für ihre Bedeutung nicht viel gewonnen. Zu fragen ist, ob die Mutter-Kinder-Metapher in Gal 4,19 in ihrer spezifischen Gestalt, als das Bild von der wiederholten und zielgerichteten Gebärarbeit, tieferen Sinn erhält, wenn man sie von einer traditionellen Metaphorik her versteht. Gefragt ist also nicht nach der Herkunft der Metapher, sondern nach ihrer Rezeption. Wie für die anderen Texte werden auch in Bezug auf Gal 4,19 in der Literatur verschiedene Thesen über die Herkunft der Metaphorik entfaltet. Sie verweisen auf Mysterienkulte, allgemeiner religiöse Wiedergeburtssprache, Vorstellungen aus Qumran oder aus der Apokalyptik. Ausleger sahen früher die Mysterienkulte religionsgeschichtlich im Hintergrund. Die Nähe beziehe sich auf die Vaterschaft des Mystagogen, die Wiedergeburt, die Angleichung an die μορφή des Kultgottes 221 . Die Annahme ist nicht nur aufgrund inzwischen vorgenommener Korrekturen am Bild der Mysterien-

221 Vgl. die Darstellung bei Reitzenstein 1927, 39f.262f; zur Ableitung der Vorstellung aus den Mysterienkulten vgl. auch § 7.4.3 zu 1 Kor 4,15. Vertreten wird eine solche Ableitung von Gal 4,19 etwa von Lietzmann Gal, 29; Oepke Gal, 145, allerdings reserviert ; Güttgemanns 1966,187^ der die Übernahme auf die Sprache beschränkt sieht,

Zum Hintergrund der Gebärmetapher Gal 4,19

487

kulte überholt222, sondern auch obsolet, da sie die Spezifika des Geburtsbildes in Gal 4,19 einebnet und die Differenzen zwischen Zeugen und Gebären verwischt 223 . O. Betz will mit der Auslegung eines fragmentarisch erhaltenen QumranPsalms und im Blick auf weitere Texte auch für Gal 4,19 zeigen, dass „ das Bild von der geistlichen Geburt ..., wenn auch der Vorgang noch nicht in einem einzigen Begriff gefaßt ist, nicht nur in die Welt der hellenistischen Mysterienreligionen [gehört], sondern ... sich schon im vorchristlichen Judentum [findet]" 224 . Die Nähe des Qumran-Psalms zu Gal 4 beschränkt sich aber auf diese allgemeine Feststellung. Der Psalm handelt vor allem von der Bedrängnis und den Schmerzen bei der Geburt des Erstgeborenen, kaum von dem Geborenen225. Auch in den weiteren von Betz angeführten Texten ist nie die Rede von der Geburt einer Menschengruppe durch einen anderen Menschen, sondern von stillenden Ammen 226 oder Gott als Vater 227 . Die Feststellung, dass „sich der pneumabegabte Lehrer und Gründer einer Gemeinde als deren Vater bzw. Mutter bezeichnen kann" 228 , erklärt die Eigenheit von Gal 4,19 nicht229. H. D. Betz favorisiert den Zusammenhang des Wiedergeburtskonzeptes, und zwar ein „conglomerate of concepts" 230 . Es sei bei Paulus belegt 231 . Spätere christlich-mystische und gnostische Texte bezeugten darin die Vorstellung von der Geburt Christi im Menschen. Doch dieser Hintergrund erklärt höchstens das μορφωθη Χριστός έν ύμϊν, nicht die Selbstdarstellung des kreißenden Autors. Die These verwischt einen Unterschied: Die - im NT auf die Taufe bezogene - Metapher der Wiedergeburt entwirft das restitutive Gegenüber von „fleischlicher" Geburt und „geistlicher" Geburt (vgl. Joh 3,6). In Gal 4,19 geht es hingegen um ein repetitives „Wieder" 232 . Denn bereits die „erste Geburt" war die erfolgreiche Bekehrung, deren Erneuerung nur wegen der Regression notwendig wurde.

die durch die theologia crucis gerade gebrochen werde. Ältere Vertreter dieser Ableitung ebd. 222 Vgl. nur Dieter Zeller, Art. Mysterien/ Mysterienreligionen, in: TRE 23 (1994) 504526, bes. 519 ff. 223 Vgl. auch die Kritik von H.D. Betz Gal 1979, 234. Geht es bei den Mysterien um eine postmortale Veränderung (darum μεταμόρφωσις, reformari, renatus etc., vgl. Reitzenstein 1927, 262t), so hier um eine wiederholte Neugeburt zunächst „ungestalteter" Embryos. 224 O. Betz 1956/57,322; vgl. auch ders., 1958. 225 Das Geborene sei ein männliches Kind und „ein wunderbarer Ratgeber aus seiner Kraft", 1 Q H 111,9f (bzw. IX,gi); vgl. O. Betz 1956/57, 3 1 4 t von dem auch die Übersetzung ist. 226 1QH VII,2of (bzw. XV,20f), vgl. O. Betz 1956/57,320. 227 OdSal 14,if, vgl. O. Betz 1956/57, 323. 228 So a.a.O., 326 als Schlusssatz. 229 Vgl. auch die Kritik von Maier i960, 73; Braun 1966, 211; H.D. Betz Gal 1979, 234. 230 Betz Gal 1979, 235. 231 Er verweist auf Gal 3,27; 6,15, a.a.O., 234. 232 Vgl. zu dieser Differenz oben Anm.170.

488

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

N a c h M a r t y n steht Jes 4 5 , 7 - 1 1 "consciously or i n s c o n c i o u s l y " im Hintergrund der Metaphorik v o n 4,19a· A u c h dort w e r d e ein M a s k u l i n u m (gemeint ist G o t t ! ) metaphorisiert mit d e m transitiven ώδίνει.ν 2 3 3 . Jes 45,7ft ist verdeutlicht jedoch die Freiheit des Schöpfers u n d nicht die Z u w e n d u n g z u Menschen. G a v e n t a s A u f s a t z v o n 1990 ist die einzige pointierte A u s l e g u n g v o n G a l 4,19. Sie ordnet V . i 9 b nicht in den metaphorischen Horizont v o n V.iga ein, sondern sieht im Gegenteil eine große S p a n n u n g z w i s c h e n beiden (s.o.). V . i 9 a sei zu verstehen auf d e m Hintergrund der breit belegten V e r w e n d u n g v o n ώ δ ί ν ε ι ν resp. ώ δ ί ν in apokalyptischen Kontexten 2 3 4 zur Darstellung der mit d e m k o m m e n d e n E n d e verbundenen Nöte. A u c h G a l 4,19 reflektiere " t h e a n g u i s h of the w h o l e created order as it awaits the fulfillment of G o d ' s action in Jesus Christ" 2 3 5 . A u s der Übernahme u n d der Brechung der Tradition ergebe sich die Pragmatik der M e t a p h e r : Das Christusgestaltet-Werden ( V . i 9 b ) sei kreuzestheologisch z u verstehen als A u s s a g e über die K r e u z i g u n g mit Christus, u n d z w a r die der Gemeinschaft, nicht der einzelnen Gläubigen. P a u l u s breche das Bild b e w u s s t ab, w e i l es i h m nicht auf die Geburt der individuellen Gläubigen ankomme, sondern auf Christus, der gestaltet w e r d e . Darin laufen nach G a v e n t a beide Teilsätze z u s a m m e n : " t h e apocalyptic maternity is completed only w h e n Christ is f o r m e d " . In diesem Prozess sei Gott der Handelnde, so hält sie gegen eine V o r o r d n u n g des P a u l u s fest. Damit sei deutlich, dass es nicht einfach u m den A u s d r u c k v o n Emotionen oder Freundschaft gehe, sondern u m einen theologischen A n s p r u c h , der den R a h m e n der Arbeit des Paulus darstelle u n d im Text die Basis f ü r den "personal appeal"236. G a v e n t a s W ü r d i g u n g der Metapher als theologischer A u s s a g e ist zu begrüßen. Doch ein Blick über die Texte zeigt, dass G a l 4,19 sich nicht v o r dieser Tradition verstehen lässt. Die apokalyptischen Texte, auch die paulinischen A d a p t i o n e n dieser Tradition, sprechen meist explizit v o n Schmerzen u n d interpretieren in unterschiedlichen N u a n c i e r u n g e n die A b l ö s u n g des Alten d u r c h d a s N e u e . Drohend u n d beängstigend w i e die Geburt k o m m t es, w e n n erst die Wehen eingesetzt h a b e n ; die Schmerzen sind unausweichlich 2 3 7 . Die a p o k a l y p tischen Gebärbilder stehen jeweils nicht f ü r sich, sondern sind in ein größeres Szenario eingezeichnet. V o n alledem lässt in G a l 4,19 w e d e r der metaphorische

233 Martyn Gal, 427-429, Zitat 429. 234 Belege bei Gaventa 1990b, 193; vgl. die monographische Abhandlung von Sutter Rehmann 1995. 235 έν ύμϊν kann nach Betz aber auch die ekklesiologische Vorstellung der Gemeinde als Leib Christi enthalten (Gal 1979, 234t). 236 A.a.O., 197. 237 So dringt in 1 Thess 5,3 der Vergleich mit den Wehen auf das Plötzliche und Unausweichliche des Verderbens. In Offb 12,2ft geht es in einem messianischen Bild eigentlich um Bedrohung und Rettung des zu gebärenden Kindes. Die einsetzenden Wehen und Schreie der Mutter werden erwähnt, um das Bild zu dramatisieren, denn sie zeigen deren Not, weil die Geburt nicht aufzuschieben ist; vgl. weiter Anm.162 und die folgende Anm. - Weiter gehören in diese apokalyptische Tradition Jes 26,17; Jes 13,8; Jer 6,24; syrBar 56,6; 4 Esr 4,42; Micha 4,10; 1 Q H 3,7-10. Nach äthHen 62,4 überfällt der Schmerz den Herrscher der Welt.

Z u m H i n t e r g r u n d der G e b ä r m e t a p h e r G a l 4,19

489

Fokus noch sein Rahmen, den Gaventa vernachlässigt, etwas erkennen. Was hier angesprochen ist - das Geborene, dessen Reifung, der Gebärer 238 , die Wiederholung der Geburt - , spielt hingegen in der apokalyptischen Metaphorik kaum eine Rolle.

Die zuletzt genannte Verwendung der Gebärmetaphorik in apokalyptischen Beschreibungen der kommenden Bedrängnisse mag die Bildung der Metapher erklären239. Sie bestimmt aber ebenso wenig wie die anderen genannten Texte das Verständnis der Metapher von Gal 4,19, reichert nicht ihre Pragmatik an. Deren Intention ergibt sich vielmehr aus dem Erfahrungswissen vom Bildspendebereich im Spiel mit dem Bildempfänger.

4.7

Die Grenzen der brieflichen Kommunikation oder der Wunsch, vor Ort die Stimme zu erheben (4,20)

Der den Passus abschließende Vers gibt eine andere Perspektive auf die Situation „gerade jetzt" 240 , die briefliche Kommunikation. Der Satz lädt zu verschiedenen Deutungen ein, je nachdem, wie man άλλάξ,αι την φωνήν μου interpretiert241. Deutlich ist aber, dass der Vorteil einer persönlichen Anwesenheit vor Ort in der Möglichkeit läge, die φωνή

238 D e r a p o k a l y p t i s c h e n M e t a p h o r i k f r e m d ist, dass d e r A u t o r sich allein als g e b ä r e n d darstellt. A l s k o l l e k t i v e E r f a h r u n g d e r g a n z e n S c h ö p f u n g ist das „ G e b ä r l e i d e n " e t w a in R o m 8,22t beschrieben. 239 V g l . G a v e n t a 1990b, 191ft. 240 ά ρ τ ι betont die G e g e n w a r t , schärfer n o c h als v ü v , v g l . L o n g e n e c k e r Gal, 196. 241

V g l . n u r die A u f l i s t u n g v o n D e u t u n g s m ö g l i c h k e i t e n bei Schlier Gal, 215 m i t A n m . i u n d W i l h e l m i 1974 o d e r bereits Sieffert G a l , 276f. U n k l a r ist schon, o b P a u l u s seine S t i m m e v o n d e r M i l d e z u r Härte ä n d e r n w o l l t e ( „ e i n b ö s e s D o n n e r w e t t e r " , W i l h e l m i a.a.O., 151) o d e r v o n der Härte z u r M i l d e ( s o e t w a M u ß n e r Gal, 314: „ D i e S t i m m e d e r b e s o r g t e n M u t t e r w ü r d e für die Galater viel h ö r b a r e r sein, w e n n der A p o s t e l p e r s ö n l i c h b e i ihnen sein k ö n n t e " ; v g l . a l l e r d i n g s a u c h B e c k e r G a l , 70: P a u l u s g e d e n k e „ v ä t e r l i c h z u ü b e r z e u g e n " ) . D e r R a u m ist f ü r A s s o z i a t i o n e n frei. D a s eine E x t r e m präsentiert Schlier, d e r meint, P a u l u s w o l l e v o r O r t in E n g e l s z u n g e n r e d e n (a.a.O., 215; ähnlich G ü t t g e m a n n s 1966, 184), d a s a n d e r e W i l h e l m i , d e r p a r a p h r a s i e r t : „ k ö n n t e ich d o c h m e i n e S t i m m e v e r ä n d e r n , sie so laut u n d w i r k u n g s v o l l m a c h e n , d a ß sie b i s n a c h Galatien d r ä n g e " (a.a.O., 153). U n b e g r ü n d e t sind a u c h S p e k u l a t i o n e n w i e die G u t h r i e s G a l , 122, P a u l u s b e d a u e r e , d a s s er d e n j e t z i g e n T o n w ä h l e n m ü s s e , u n d er sei ü b e r z e u g t , sie bei seiner A n w e s e n h e i t k o o p e r a t i v z u finden. O e k p e Gal, 146; V o u g a Gal, i i 2 f m e i n e n , d a s s d e m Satz ein A p p e l l impliziert sei: „ D i e Galater sollten sich so entscheiden, d a ß ein a n d e r e r T o n a n g e m e s s e n w ä r e " ( V o u g a ebd.). D a s s die Galater sich i m Sinne d e s P a u l u s e n t s c h e i d e n sollen, w i l l der T e x t g e w i s s ; die v e r ä n d e r t e S t i m m e w i r d j e d o c h d a m i t nicht in Z u s a m m e n h a n g gebracht.

490

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

zu verändern. Im Rahmen der brieflichen Topik, welche den sehnlichen Wunsch kennt, bei den Angeschriebenen zu sein242 bzw. allgemeiner das Verhältnis von Brief und leiblicher Anwesenheit thematisiert243, ist die Aussageabsicht des Satzes klar. Die Anwesenheit des Autors bei den Angeschriebenen würde ihm erlauben, seinen Appell eindringlicher zu machen. Er könnte auf die Angeredeten reagieren244. Die Formulierung des Textes lässt vor allem an die Mittel der pronuntiatio denken, durch Stimme und Gestik zu bekräftigen 243 . Im Unterschied zum geläufigen Motiv, dass ein Brief die leibliche Anwesenheit ersetzt, wird hier gerade der Mangel der nur brieflichen Kommunikation beschrieben246. Nicht, dass es weitere Argumente gäbe, aber andere Möglichkeiten durch „Modulation der Stimme" 247 . Die Begründung, οτι άποροϋμαι έν ύμΐν, gesteht die Ratlosigkeit 248 , der unerfüllbare Wunsch die Machtlosigkeit249. So unterstreicht der

242 Zum brieflichen πόθος-Topos s. §2.2.2.4 (Lit!); Kremendahl 2000, 36 Anm.29. Die briefliche Topik hat vor allem Betz Gal 1979, 235f herausgestellt, vgl. aber auch Mußner Gal, 313 Anm.110. Der Sehnsuchts-Topos wird hier freilich nur abgeblasst eingespielt, drückt der Autor doch nicht das Bedürfnis nach Nähe um ihrer selbst willen aus, sondern nach mehr Einflussmöglichkeiten. 243 Vgl. § 2.2.2.2. 244 Ahnlich Becker Gal, 70; Longenecker ebd.; Rohde Gal, 70f. 245 Mit Betz (Gal 1979, 236) ist an den rhetorischen Begriff der immutatio vocis zu denken, vgl. Lausberg i960 § 834. Der Bedeutung der pronuntiatio, des Sprechens und der Gestik über den geschriebenen Vortrag hinaus, war sich die antike Rhetorik bewusst, vgl. nur Cicero, De oratore 3,213: „Actio ... in dicendo una dominatur. Sine hac summus orator esse in numero nullo potest"; Lausberg i960 § 1091 und J. Martin 1974, 353-355 zur pronuntiatio mit ihrer Beachtung des Einsatzes von Gestik und Stimme (actio und vox). 246 Vgl. § 2.2.2.2 zum Brieftopos. Auch dass der Brief kein vollständiger Ersatz der Anwesenheit ist, wurde in antiken Briefen thematisiert, vgl. Bosenius 1994, 8yi; Schmidt 2003, 27t mit entsprechenden Reflexionen von Cicero. 247 Wir lassen offen, ob der Autor an „Donnerwetter" oder „Muttersorge" dachte. 248 Das Gefühl der „Ausweglosigkeit" könnte auf Erfahrungen anspielen, die unter der Geburt viele Gebärende ergreifen, also noch dem Bildspender zugehören. Ein medizinischer Gebrauch von άπορεΓν κτλ. ist jedoch nicht nachzuweisen; das Verb beschreibt als lexikalisierte Metapher die kognitive Not. Der terminologische Zusammenhang findet sich aber in der bereits erwähnten Darstellung der Mäeutik des Sokrates (Plato, Theaitet I5ia5ff): Gerade die von Hebamme Sokrates begleiteten Gebärenden (sc. Männer, vgl. 150b) erleben in ihren Wehen höchste Aporie, ärger noch als die gebärenden Frauen: πάσχουσι δέ δή οί έμοί σ υ γ γ ι γ ν ό μ ε ν ο ι και τοϋτο ταύτόν ταις τικτούσαις· ώδίνουσι γ ά ρ και απορίας έ μ π ί μ π λ α ν τ α ι νύκτας τε και ημέρας πολύ μάλλον ή 'κεϊναι: ταύτην δέ τήν ώδΐνα έγείρειν τε και ά π ο π α ύ ε ι ν ή έμή τέχνη δύναται. Doch auch hier ist απορία aus dem Zusammenhang des philosophischen Zweifels eingeflossen, vgl. 149a. 249 Zum unerfüllbaren Wunsch mit ήθελον vgl. BDR § 359.

Gal 4,20

491

Schlusssatz in Verlängerung der Metapher von V.19 die Anstrengung, Not der Gebärenden, die persönliche Betroffenheit. Doch der Autor lässt den selbstbewussten Anspruch jener Metapher hinter sich und offenbart, dass er an seine Grenzen stößt250. Grenzen gesteht er aber nur in Bezug auf die Konvertiten in Galatien ein, nur in Bezug auf seine Einflussmöglichkeiten, etwa im Unterschied zu den anderen, die vor Ort sind, nicht in Bezug auf seine Theologie und ihre Begründung 251 . So gibt er dem Appell abschließend Nachdruck mit dem fast Mitleid erregenden Geständnis, dass seine brieflichen Mittel am Ende sind 252 .

5 Gebärarbeiterin Paulus. Der Beitrag der Metapher für die Pragmatik des Briefes Im Rückblick auf die Ausführungen soll die Bedeutung der Metapher im Rahmen des Appells 4,12-20 und für das Briefanliegen zusammengefasst werden, obschon die Vielfalt der von der Metapher angeregten Assoziationen und Bezüge, wie bei jeder „lebendigen" Metapher, kaum zu bündeln sind. Der Autor beschreibt mit der Metapher sein gegenwärtiges Ringen um die theologische und religionspraktische 250 Insofern ist das δέ nicht zusammenfassenden Charakters (so Betz Gal 1979, 236 mit untauglichem Bezug auf Mußner Gal, 313) oder kopulativ (Mußner ebd.; Rohde Gal, 190), sondern wie meist adversativ. Nachdem V.19 die intime Zusammengehörigkeit ausgemalt hatte, wagt V.20 einen gegenteiligen, realistischen Blick auf die Distanz zwischen Autor und Adressatinnen. 251 Betz beschreibt die rhetorische Bedeutung der Selbst-Herabsetzung richtig: "According to the psychology of ancient rhetoric, ... people who are to be persuaded should not be left in such a low situation." Doch er greift zu weit, wenn er meint, "Paul removes himself from the haughty position of one who has all the arguments and all the answers" (1979, 237). Der Autor zeigt sich nur im Blick auf seine Ausdrucksmöglichkeiten am Ende, nicht im Blick auf seine Argumente. Dementsprechend ist er auch mit dem Brief noch nicht am Ende! 252 Der Text appelliert so an die Solidarität bzw. Sympathie der Leserinnen (mit Vouga Gal, 112). Hier liegt das Recht der Beschreibung der Funktion von 4,12-20 durch Smit (1989, i6f) und Brucker (1998, 231t) als „deutlicher Versuch ..., Mitleid bei den Angesprochenen zu erzeugen und an ihre einstigen freundschaftlichen Gefühle zu appellieren" (Brucker ebd.; vgl. oben Anm.25). Mitleid heischt aber nur 4,20. Vgl. zu diesem Mittel nur Aristoteles, Rhetorik 2,8, 1385b: εστω δή Ελεος λ ύ π η τις επί φαινομένω κακω φθαρτικω ή λυπηρω τοϋ αναξίου τ υ γ χ ά ν ε ι ν , ö καν αύτός προοδοκήσειεν αν π α θ ε ϊ ν ή των αύτοϋ τινα, και τοϋτο οταν πλησίον φαίνηται. - Den Ernst der Lage verkennt Betz Gal 1979, 236, der es für eine dubitatio hält. Dann wäre die Hilfloskeit nur ein vorgespieltes Fragen um Rat (vgl. zur dubitatio Lausberg 1960, §77 6 )·

492

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

Überzeugung seiner Adressatinnen. Er präsentiert sich als kreißende Gebärarbeiterin, welche die Wiederholung der Geburtsarbeit auf sich nimmt. Diese ist nicht vollendet, bevor nicht die Angeschriebenen reif sind, Christus selbst zu verkörpern. 1 ) Die Bedeutung der Metapher lässt sich nicht aus früheren Instantiierungen der Metapher erheben, sondern nur aus der Alltagserfahrung des Bildspendebereichs und dessen Interaktion mit dem Kontext. Entgegen den üblichen Deutungen ist weder die Rede von besonderen Schmerzen noch vom Muttersein des Paulus noch von besonderer Liebe. Im näheren und weiteren Kontext werden vielmehr die Person des Autors, der das Evangelium brachte, die nachteilige räumliche Trennung, die früher ungetrübte Freundschaft, die Konkurrenz anderer, der drohende Rückfall der Adressatinnen in Zeiten des Unglaubens, der die Arbeit des Evangelisten zu vernichten droht, thematisiert. Gal 4,19 verdichtet diese Anliegen in ein spannungsvolles Bild, das in seiner perspektivischen Dehnung die Anstrengung fast ansichtig macht und das die Vorgaben des Bildspendebereichs übersteigt. Durch diese Komplexität kann die Metapher mehrere Fäden des Kontextes aufgreifen und verknüpfen zu einer Aussage mit mehrsinniger Pragmatik. Um die Leistung der Metapher für den Briefabschnitt und damit den Brief darzustellen, greife ich diese Fäden nacheinander auf. 2) Im nächsten Kontext der Metapher (V.i8b.2o) spricht der Autor von den Grenzen seiner Einflussmöglichkeiten wegen seiner Abwesenheit. Er kann nicht seine Stimme modulieren, um zu wirken, sondern nur brieflich appellieren. Damit liegt er in deutlichem Nachteil gegenüber jenen anderen, die nach V.17 vor Ort sind und „unlauter werben". Die Metapher schreibt dagegen an: Sie zeichnet die Beziehung zwischen Autor und Adressatinnen als exklusive und intimste. Näher als eine Mutter und ihr Ungeborenes können sich Menschen nicht sein. 3) Die Metapher beschreibt aber auch die übergroße Anstrengung der Mutter um die Angeredeten, ganz im Gegensatz zu den anderen, die nur wollen, dass man sich um sie bemüht. Diese Mühe war bereits in 4,11 angeklungen und wird nun als Gebärarbeit in ein unkonventionelles, starkes Bild gefasst. 4) Hatte der Autor die Glieder der Gemeinden in Galatien zunächst als „meine Kinder" angesprochen, so wird diese Anrede irritiert durch die Vorstellung, dass diese noch gar nicht geboren sind.

Die Bedeutung der Gebärmetapher Gal 4,19 für das Briefanliegen

493

Und eben diese Irritation wird unterstützt durch das den Bildspendebereich sprengende πάλιν. Die Angeredeten, so impliziert es, waren schon geboren, aber die Geburt muss wiederholt werden. Das absurde Bild verdichtet eine wesentliche Aussage des Briefes: Die ehemaligen Heidinnen in Galatien sind bereits vollgültige Christinnen, ohne das Gesetz einzuhalten. Wenn sie dies in Frage stellen, fallen sie jedoch in den früheren Zustand zurück. Die Metapher äußert also scharfe Kritik: Die Angeredeten sind gar nicht „auf der Welt", sondern noch in statu nascendi, wegen ihres Hangs zum jüdischen Gesetz. 5) Die Metapher stellt die notwendige Reifung bis zum „Geburtstermin" dar. Das Ziel, wie Christus gestaltet zu sein, lässt frühere Aussagen des Briefes anklingen: Es gilt, wie Paulus zu werden (4,12), in dem „Christus lebt" (2,20) bzw. die Tauf Wirklichkeit zu realisieren, Christus als Kleid zu tragen (3,27). Es geht um den Wechsel in eine neue Identität. Die Gestaltmetaphorik verdeutlicht die Forderung, dass das Neue der Identität sich spezifisch sichtbar niederschlagen muss. Damit entwirft sie ein Gegenkonzept zu der bekämpften These, dass die Zugehörigkeit zur Familie Abrahams durch Beschneidung erkennbar sein müsse. Der „identity marker" ist Christus. 6) Die Gebärarbeit stellt also die Beziehung des Missionars Paulus an seinen Konvertitinnen in ganz besonderer Weise als einen unabgeschlossenen „Arbeitsprozess" dar. Hier liegt das besondere Vermögen der Gebärmetapher im Unterschied zur Zeugungsmetapher. „Gebären" deutet im Unterschied zu Zeugen auf den gestalterischen Prozess, die Mühe, die intime Beziehung zum Kind 253 . Die im Brief angesprochenen Relationen werden durch diese Arbeit definiert. In Abgrenzung von jenen Gegenspielerinnen arbeitet der Autor auf Christus hin an seinen Leserinnen. Wo Freundschaft auf gleicher Augenhöhe war, schreibt der Verfasser nun ein Gefälle ein254. Die Unreife der Kinder erfordert es. Die bildliche Einverleibung der Adressatinnen gibt dem Verfasser Autorität, auch wenn die weibliche Rolle weniger hierarchisch sein mag als die väterlich-patriarchale255. 253 Vgl. ähnlich Martyn Gal, 429. 254 Dies sei, da oft bestritten, hervorgehoben. Vgl. anders etwa Gaventa 1990b, 196 t; Bieringer 1994c, 242. Der Anspruch des Autors wird durch der Metapher implizit begründet: Er selbst war derjenige, der die Christinnen geboren, bekehrt hatte. Anders als in 1 Kor 4,i4ff wird dieser Aspekt vom Rahmen jedoch nicht betont. 255 So meint Gaventa 1996a, 44, das mütterliche Bild (auch in iThess 2,7; i K o r 3,iff) sei weniger hierarchisch als das väterliche. "He voluntarily hands over the authority of a patriarch in favor of a role that will bring him shame, the shame of a female-identified male. ... Paul presents himself as the authority who does not conform to

494

Die schwierige Geburt. Der Appell Gal 4,12-20

7) Der Appell enthält aber auch einen Zuspruch: Der Brief Schreiber überlässt die unreifen Adressatinnen nicht sich selbst, sondern arbeitet an ihrer Geburt. Als „kreißende Gebärarbeiterin" nimmt er die Mühe auf sich, lässt seine „Kinder" nicht fallen. Während er 5,4 nur noch mit dem irreparablen Verlust der Gnade droht, spricht er hier von seiner Anstrengung, alles wieder gut zu machen. Und so äußert er in 5,10 die Hoffnung, dass seine Gebärarbeit gelingen wird. 8) Da die Metapher die Zuwendung des Paulus zu den Adressatinnen ins Bild setzt und dabei die Sinnlinie des Briefes weiterführt, die in genealogischen Metaphern die neue Gottesfamilie darstellt (s. 3.3), kann man ihr schließlich auch ein „Familienangebot" entnehmen: An der Stelle alter Bindungen, die durch die Bekehrung brachen, oder statt der Einladung, durch die Beschneidung Glied der Abrahamsfamilie zu werden, bietet die Metapher 4,19 mit der Rede von der Gotteskindschaft und Christusrepräsentanz eine neue Familienidentität. Eine solche kompensatorische Funktion der Familienmetaphorik hatten wir am iThess beobachtet (vgl. §6.7.2). Geht es im Gal weniger um den Ersatz von Bindungen als um die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft256, so ist doch die Rolle des Paulus dabei besonders sinnfällig beschrieben. 9) Fragen wir schließlich gemäß unserem übergeordneten Interesse, wie der Autor Paulus seine Beziehung zu seinen Konvertitinnen und Konvertiten in Galatien entwirft, so erhalten wir einen anderen Eindruck als in den anderen Briefen. Die persönliche Bindung wird in

standard norms of authority. ... Taking seriously the presence of maternal imagery, in fact, subverts the reductionistic dichotomy between hierarchical and egalitarian texts". Der bildliche Geschlechterwechsel ist jedoch nicht überzuinterpretieren, denn "cross-gender imagery" ist in der Bibel, gerade auch in Bezug auf Gott, nicht ungewöhnlich (mit Wolters 1998). Vor allem aber ist unbenommen sonstiger gesellschaftlicher Missachtung die Mutter für ihre Un- oder Neugeborenen akzeptierte Respektsperson. - Kahl hebt den beispielhaften Autoritätsverzicht insgesamt hervor: Paulus nivelliere paradigmatisch jene in Gal 3,28 aufgeführten sozialen Dichotomien in seiner Selbstinszenierung, der „geschlechtstranszendierenden Selbstbeschreibung" (Kahl 2001,135). Als Gebärerin verlässt der Autor die gängigen Stereotypen für sein Geschlecht; als Mutter ist er nicht durch das Beschneidungszeichen identifiziert. Der Autor akzeptiere die unterlegenen Rollen der Trias Gal 3,28 für sich: Er ist δοϋλος (ι,ιο), allerdings gegenüber Christus (vgl. auch die Aufforderung zum gegenseitigen Sklavendienst 5,13), er ist"EMr|v (vgl. 4,12 und auch 2,14), und er übernimmt hier die weibliche Rolle. Allerdings wird dieser Aspekt der Metapher im Rahmen nicht herausgestellt; das Wort μήτηρ fehlt, die Handlung des Gebärens steht allein im Vordergrund, wie auch die Mütter in 4,2iff m.E. nur eine untergeordnete Rolle spielen (gegen Kahl ebd.). 256 Vgl. oben 3.3 mit Anm. 94.

Die Bedeutung der Gebärmetapher Gal 4,19 für das Briefanliegen

495

dem Brief nur in dem Appell 4,12-20 durch Erinnerung und die Metapher sichtbar gemacht, philophronetische Topik und die Vorstellung der brieflichen Begegnung fehlen fast ganz. Der Brief würdigt die Beziehung nicht als solche, sondern führt sie an als Pathos-Appell und als Sachargument. An der früheren Freundschaft kann man sehen, welche neue Gemeinschaft Christus eröffnet durch die Befreiung der Jüdinnen und Juden vom Fluch des Gesetzes (3,13); der Autor verdeutlicht das paradigmatisch an seiner Biographie (1,13ff; 4,12). Er selbst hat sich verändert. Eine neue Identität haben nicht nur die Heidinnen erhalten, sondern auch der Jude Paulus. Auch er ist neu geschaffen, auch er ist, wenn auch aus anderer Position, erst mit Christus mündiges Kind Gottes geworden. Im Rückblick wird keine exklusive Überordnung des Missionars über die Heidinnen in Galatien sichtbar, von der Zukunft schweigt der Brief. Das Gefälle von der Gebärenden zu ihren Ungeborenen ist die Gegenwart der Briefsituation als Wiederholung der Bekehrung. Die Hierarchie liegt nicht begründet in einer institutionellen Abhängigkeit oder an Paulus gebundenen Exklusivität des wahren Evangeliums, sondern in der Tatsache, dass Paulus als der, der den Adressatinnen das Evangelium verkündigte, dieses noch einmal ausrichten muss. Die Überordnung des Paulus entsteht durch die Regression, die Unreife der Adressatinnen, die sich von anderen verwirren lassen (1,7). Das Evangelium, um das es dem Brief geht, wird objektiv dargestellt, unabhängig von der Person des Paulus. Es umfasst jüdische wie heidnische Menschen, so lange die eine „Wahrheit" gewahrt bleibt, dass weder Beschnittenheit noch Unbeschnittenheit etwas sind: „Welche gemäß diesem Kanon marschieren: Friede über ihnen und Erbarmen, auch über das Israel Gottes" 257 . Das Bild der Kreißenden, die sich müht, echte Christenmenschen zu gebären, prägt also kein umfassendes Beziehungskonzept, sondern beschreibt das augenblickliche briefliche Bemühen, mit scharfer Kritik und pointiertem Selbstbewusstsein. Der Autor schreibt sich in die Genealogie der Gottesfamilie ein und verbildlicht die sozial-ethnische Bedeutung des Glaubens an Christus und der Taufe in Christus: Die jüdische Mutter Paulus gebiert Kinder, die unbeschnitten Christus verkörpern. 257 6,15 f. Zu dieser inklusiven Umdeutung des'Ισραήλ θεοϋ vgl. Dunn Gal, 344; sie liegt m.E. auf der Linie der Argumentation des Briefes. Nicht auszuschließen ist aber ein Verständnis im Sinne einer Substitution („dies ist das Israel Gottes", mit και explicativum), so etwa Breytenbach 1996,137 mit Anm.52.

Teil IV

Mit Sprachbildern Beziehungen gestalten. Ergebnisse der Studien Ein wesentliches Anliegen meiner Untersuchung war es, einzelne Texte in ihrer Eigenart zur Geltung zu bringen und Unterschiede herauszustellen: Der Apostolat des Paulus ist zu unterscheiden von seiner Rolle in den von ihm gegründeten Gemeinden, und die Beziehung des Paulus zu den von ihm evangelisierten Christinnen und den so entstehenden Gemeinden ist neuartig und anders als eingespielte Sozialbeziehungen. Die in den Briefen angestrebte und erarbeitete Relation muss von der tatsächlichen Beziehung unterschieden werden. Jeder Brief geht auf eine andere Situation ein, und ein Brief kann auch in seinem Akt die eingeschriebene Relation entwickeln. Je einzigartig sind schließlich auch die Metaphern und Vergleiche, die diese Beziehung in Sprache fassen, selbst wenn Ahnliches bereits begegnete. Am Schluss dieser Untersuchung kann und soll daher kein übergreifendes Fazit stehen über „die" Beziehung des Paulus zu den von ihm gegründeten Gemeinden oder über ein Modell, das den brieflichen Äußerungen zugrundeläge. Detailergebnisse und Schlussfolgerungen sind jeweils am Ende der Paragraphen dargestellt. Hier fasse ich in einer Thesenreihe grundlegende Einsichten zusammen und ziehe Schlüsse, die sich aus den differenzierenden Beobachtungen und Textdeutungen ergeben.

§9

Rückblick und Ausblick. Eine Thesenreihe i. Die Beziehungsmetaphern der Paulusbriefe sind eine Sprachform, die besondere exegetische Aufmerksamkeit fordert und verdient. 1.1 Die Auslegung der verschiedenen Metaphern hat gezeigt, dass der Autor Paulus Metaphern und Vergleiche gezielt einsetzt, um bestimmte Aspekte mitzuteilen. Bereits die Menge der Bilder, die seine Rolle und Beziehung zu den jeweiligen Adressatinnen darstellen, weist auf die Bedeutung dieser Sprachform hin (vgl. § 5.1). Aber auch die Art der Bilder und die Weise ihres Einsatzes belegen, wie wichtig die Bilder sind. Die Bildspender sind in der Regel „alltäglich". Sie rufen allgemein geteilte Erfahrungen ab und setzen keine besondere Kenntnis voraus. Damit sind sie auf verbindende Weise für Menschen unterschiedlicher sozialer und religiöser Herkunft verständlich. Auch und gerade das Alltägliche kann dazu dienen, das Besondere zu verdeutlichen. So kann der Briefautor Paulus seine außergewöhnliche Rolle als Wirken, das die Alltagslogik durchbricht 1 , verbildlichen oder ein bekanntes Bildfeld gegen seinen Usus verwenden 2 . 1.2 Die Praxis der Auslegung bekräftigte damit die methodische Forderung, Metaphern als Interaktion von Konzepten nachzuvollziehen, die Beteiligung des Bildempfängers an der Übertragung zu berücksichtigen und zur Erklärung einer Metapher nicht nur auf bekannte Metaphern und Bildfelder zu verweisen (s. §3). Leitend für die Deutung ist der jeweilige Aussagekontext, da der Rahmen der metaphorischen Äußerung bestimmt, auf welche Aspekte der Fokus den Blick lenkt. 1.3 Da Metaphern zeitbedingte Assoziationen vom Bildspender abrufen, bedarf es zur Übertragung metaphorischer Aussagen aus einer anderen Kultur besonderer Sorgfalt. Einfaches Nachsprechen der 1

Vgl. besonders i K o r 9,iff (s. §5.1.1.1) und 9,24-27 (s. §5.1.6.1); Phil 2,17 (s. §5.1.3.1); 2 Kor 2,14a (s. §5.1.5.1); Gal 4,19 (s. § 8).

2

Vgl. besonders 1 Kor yt, s. § 7.

500

Rückblick und Ausblick

biblischen Metaphern wird ihrer Bedeutung nicht gerecht und kann ihren Sinn nicht erfassen. 2. Die Texte des Paulus signalisieren durch ihre Form als Briefe die Bedeutung der Kommunikationsbeziehung, deren Ideal die Gemeinschaft vor Ort ist. 2.1 Briefe (vgl. § 2) sind neben mündlich überbrachten Nachrichten das wichtigste Mittel der Antike, Entfernungen zu überwinden. Das Ideal einer Gemeinschaft, das Beisammensein, wird suggestiv hergestellt durch den an eine persönliche Begegnung erinnernden Rahmen, vertrauliche Äußerungen und Anreden. Die Paulusbriefe folgen - je unterschiedlich - diesen Konventionen und weiteren Topoi. Besuchswünsche und das Senden von Verbindungsleuten lassen ebenfalls die persönliche Gemeinschaft als Ziel erkennen. 2.2 Die Briefe unterscheiden sich in der Verwendung von Form und Topik. Die Gestaltung der Briefe hat jeweils eine pragmatische Funktion. A n dem unterschiedlichen Gebrauch der Briefkonventionen wird erkennbar, wie verschieden die Briefe die bestehenden Beziehungen einschätzen und gewichten. Hier liegt die Bedeutung epistolographischer Analysen der Paulusbriefe und die Grenze der am genus und der dispositio orientierten rhetorischen Analysen. 2.3 Die Briefe stellen nicht die Evangeliumsverkündigung des Paulus dar, auch wenn sie für uns die einzige Quelle für diese sind, sondern die Fortsetzung der Kommunikation und haben als solche eine eigenständige Bedeutung. 3. Die paulinischen Beziehungsmetaphern spiegeln in ihrer Häufung und Originalität, dass diese missionarische Beziehung neuartig ist und nur durch metaphorische Sprache gestaltet werden kann, die im Rahmen des Bekannten das Neue auszusagen vermag. 3.1 Die große Bedeutung der im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden Rollen- und Beziehungsmetaphern liegt gerade darin begründet, dass es keine „eigentlichen" Bezeichnungen für diesen Bildempfänger gibt und keine allgemein geteilte Auffassung der Gegenseitigkeit. Noch ist diese Beziehung offenbar nicht habitualisiert. 3.2 Auch der hier heuristisch eingesetzte Begriff „Beziehung" liegt Paulus fern. Er ist jedoch sachgerecht, insofern er auf die besondere „Realität" des Bildempfängers weist: Obschon es keinen Begriff gibt, ist die Beziehung „wirklich", jedoch nie „objektiv", da sie - wie

Eine Thesenreihe

501

menschliche Beziehungen überhaupt - nur in den subjektiven Wahrnehmungen existiert, stets veränderlich ist und sich verändert. Bereits ein Brief kann versuchen, die Beziehung zu gestalten. So kann der Autor am Schluss des Briefes voraussetzen, dass die Adressatinnen seinem Anliegen folgend die Beziehung nun so wahrnehmen, wie der Brief es forderte 3 . 3.3 Dieses Anliegen der Paulusbriefe und diese Pragmatik ihrer Sprachbilder werden von uns oft überlesen, da wir die semantische und konzeptionelle Leerstelle, die sie füllen, nicht mehr wahrnehmen. So werden die Metaphern de facto substituiert. Die Subsumption der Gemeindearbeit des Paulus unter seinen „Apostolat", die gerade in englischer Literatur beliebte Beschreibung der Beziehungsarbeit mit dem moderne Seelsorgemodelle assoziierenden Ausdruck "pastoral care" oder die Zusammenfassung der Paulusrolle zum Konzept eines „geistlichen Vaters" sind Beispiele dafür, wie mit der Substitution der Metaphern das Gespür für die Bedeutung der einzelnen Aussagen und die Mannigfaltigkeit der angezielten Beziehungen verloren geht. 3.4 Ist die Beziehung in allen Briefen an Christinnen, unter denen Paulus evangelisiert hat, von Gewicht, so wird sie doch nicht gleichermaßen thematisiert. Ein Vergleich der Briefe nach Galatien und Philippi macht das deutlich. Der Gal stellt nicht die gegenseitige Beziehung in den Mittelpunkt, sondern das Sachthema, da es ihm darum geht, die „Wahrheit des Evangeliums" (Gal 2,5) nicht von der Person des Paulus her zu bestimmen (s. §8). Der Phil setzt eine besonders enge und relativ ausgeglichene Beziehung voraus und spart sich daher pointierte Beziehungsmetaphern (s. §5.2.3). 4. Die hier ausfiihrlich ausgelegten Bilder von „Paulus und seinen Kindern " sind von großer Bedeutung fiir die jeweilige Beziehung, beschreiben aber unterschiedliche Aspekte mit je eigener Pragmatik. Alle Eltern-KinderBilder lassen sich aus den lebensweltlichen Rollen von Vater, Mutter und Kindern verstehen. Anspielungen auf metaphorische Traditionen sind kaum bedeutsam. 4.1 Im i T h e s s (vgl. § 6 ) qualifiziert der Vergleich des Paulus bzw. der Adressanten mit einer Amme, die als Mutter ihre leiblichen Kinder ohne Anspruch auf Entgelt versorgt, den Unterhaltsverzicht der Missionare (iThess 2,7-9). Der anschließende Vatervergleich (2,10-12) zeigt die Wirkung der Missionare: Sie erziehen wie ein guter jüdischer

3

Diese Dynamik entfalten Gal (vgl. 5,10; s. § 8) und 2 Kor 1 0 - 1 3 (vgl. 13,6; s. §5.2.2).

502

Rückblick und Ausblick

Vater die Konvertiten zu einem gottwürdigen Leben. Die Vergleiche sind Teil einer umfassenden Familienfiktion des iThess, welche die christlichen Konvertitinnen, die unter Repressionen leiden, auffordert, sich als „Geschwister" mit entsprechendem Ethos gegenseitig zu unterstützen und sich bei den Missionaren als verantwortungsvollen „Eltern" zu bergen. Die Familiensprache und Eltern-Kind-Vergleiche haben offenbar die Funktion, zur Kompensation des Verlusts von Beziehungen und Heimat eine neue „Familie" anzubieten. 4.2 Am Schluss des Briefabschnitts iKor 1 - 4 (vgl. §7) dient die Familien-Metapher 4,14-16.17-21 dem Appell, sich statt an anderen Missionaren an Paulus und seinem „Sohn" Timotheus allein zu orientieren. Der Autor kreist mit mehreren Metaphern um die Bedeutung der Missionare (Kap.3f), bis er schließlich in der ErzeugerMetapher seinen Anspruch, exklusives Vorbild zu sein, ausspricht und ihn mit seiner Initiatorenfunktion als Evangelist in Korinth begründet. Der Vorbild- und Leitungsanspruch des Paulus ist umfassend (4,17) und dem Briefduktus zufolge „didaktisch" höchst notwendig, da die Adressatinnen im Gegensatz zu ihrem Dünkel (4,8) noch unreif sind (3,1-4) und der missionarischen Begleitung bedürfen. Das Bild vom Vater und den Kindern soll darüber hinaus rückwirkend verhindern, dass die zuvor geäußerte Kritik als ausgrenzend verstanden wird: Sie bewegt sich im Binnenraum der Familie (4,14). Die Metapher bietet schließlich eine Lösung für das Hauptanliegen des Mahnbriefes (1,10): Wenn sich alle unter einem Vater Paulus sehen, sind die entzweienden Konkurrenzen unmöglich. 4.3 Während im iKor keine theologischen Differenzen problematisiert werden, nimmt der Autor im Gal seine Person zugunsten der Sachfrage zurück (vgl. §8). Nur in Gal 4,12-20 kommt er auf die gegenseitige Beziehung zu sprechen. Die Erinnerung an die Freundschaft legt die menschliche und ekklesiologische Dimension des Streits offen, das Zusammenleben von heidnischen und jüdischen Christinnen. Mit einer ungewöhnlichen und mehrsinnigen Metapher vom Gebären der Adressatinnen (4,19) weist der Autor diese darauf hin, dass sie bereits unbeschnitten „geboren" waren, dass sie aber ihr „Leben" aufs Spiel setzen; die Beschneidung ist also nicht Kriterium der Zugehörigkeit zum Samen Abrahams. Der Autor qualifiziert seine Bemühungen um die Adressatinnen als Gebärarbeit und zeigt deren Ziel, die Christusgestalt der Adressatinnen. Damit nimmt er die Sinnlinien des Briefes auf, die von der Christusidentität und Familienzuge-

Eine Thesenreihe

503

hörigkeit sprechen, und verbindet sie zu einem Bild von der inklusiven Gemeinschaft, die jüdische und nichtjüdische Männer und Frauen verbindet als „einer in Christus" (3,28): Der jüdische Mann gebärt in die Gottesfamilie Heidinnen in Christusgestalt. 4.4 Weniger komplex sind die Familienbilder des 2 Kor, die nicht, wie oft behauptet, das Vater-Konzept revitalisieren und deren Zweck nicht der Ausdruck von Gefühlen ist. Der Vergleich 2 Kor 6,13 ist einer Körpermetapher ein- und untergeordnet und fordert, es Kindern gleichzutun, die ihren Eltern deren zuvorkommenden Einsatz entgelten (vgl. § 5.1.10.2). Das Analogieargument in 2 Kor 12,15 begründet den Unterhaltsverzicht (vgl. §5.1.10.3). Beide Bilder setzen voraus, dass zwischen Adressatinnen und Adressant eine Hierarchie wie zwischen Eltern und Kindern besteht. Es ist aber nicht speziell von Paulus als „Vater" oder „Mutter" die Rede, und die Gefühlsdimension ist nicht in diesen Metaphern impliziert, sondern wird jeweils im Kontext angesprochen. 5. Die Briefe vermitteln in den verschiedenen Rollen- und Beziehungsbildern einen exklusiven Autoritätsanspruch des Paulus. Zugespitzt ist er in den Eltern-Kind-Metaphern, die insbesondere den „ Primat des Paulus ", als Erster evangelisiert zu haben, abbilden. Eine besondere Bedeutung schreiben die Briefe ihrem Autor auch durch ihren sonstigen Gestus zu. 5.1 Die Eltern-Kind-Bilder konvergieren unbenommen aller Differenzen darin, dass sie durch ihren Bildspender eine Asymmetrie in die Beziehung einzeichnen und einen mit der Vater- und Mutterrolle gesetzten exklusiven Anspruch des Autors begründen. Die ElternKind-Beziehung hat im antiken Konzept ein deutliches Gefalle, insbesondere vom Vater, aber auch von der Mutter zu den Kindern, und diese asymmetrische Beziehung ist einseitig exklusiv, da Eltern mehrere Kinder haben können, Kinder aber nur einen Vater und eine Mutter. Die Aussagekontexte der Bilder betonen allerdings diese Hierarchie und implizite Exklusivität unterschiedlich stark. Dass Paulus die Vater- und Mutterrolle nur in Briefen an von ihm gegründete Gemeinden beansprucht, reflektiert ein wesentliches Moment der Metaphorik in 1 Kor 4 , 1 Thess 2 und Gal 4: Ursache und Ursprung zu sein wie Mutter und Vater, ist zentrales Moment der Autoritätsbegründung. 5.2 Auch viele der Rollenmetaphern, die in § 5.1 vorgestellt wurden, konvergieren in dem impliziten Anspruch des Autors, eine einzigartige

504

Rückblick und Ausblick

Bedeutung gegenüber den Adressatinnen bzw. der von ihm gegründeten Gemeinde zu haben. Unterschiede bestehen jedoch darin, wie umfassend der Anspruch ist und ob und wie er begründet wird. 5.3 Auch die Briefe als solche bekräftigen die Autorität und einzigartige Bedeutung ihres impliziten Autors Paulus, wenn auch wiederum je unterschiedlich. Als persönlich gehaltene, direkt adressierte Texte setzen sie voraus, dass der Autor als Person für die Adressatinnen Bedeutsames zu sagen hat. Dies unterstreichen christologische Autorisierungen durch Intitulationen als „Apostel" oder „Sklave Christi", aber auch die Paränesen, die die Vollmacht zur Mahnung voraussetzen. Besonders die Forderungen des Autors, seinem Vorbild nachzufolgen, verweisen die angeschriebenen Christinnen an seine Person. Beansprucht wird also eine personale Autorität als Anerkennung einer Einflussnahme, die nicht institutionell bestimmt ist. 6. Der Anspruch des impliziten Autors Paulus, umfassende geistliche Autorität zu sein, wird nicht, wie oft behauptet, relativiert durch die „Geschwisterlichkeit" aller Christinnen oder durch Kritik des Paulus am Statusgebaren oder das Eingeständnis seiner Schwäche. 6.1 Die Geschwisteranrede, die Gott-Vater-Metapher und die Vaterund Mutter-Metaphern stehen unverbunden nebeneinander. Die Geschwisteranrede impliziert nicht Egalität, sondern Zusammengehörigkeit (vgl. den Exkurs nach § 6). Die Gott-Vater-Metapher bezeichnet Gott mit der Tradition als höchste, einzige Autorität und als Schöpfer, zumal in Aussagen, die Gott als Vater und Christus als Herrn koordinieren. Dass Gott der einzige Vater ist, wird durch den Vater-Anspruch des Paulus nicht in Frage gestellt, ebenso wenig, wie die Vater-Gottund Mutter-Paulus-Metaphern ein „Elternpaar" darstellen sollen. 6.2 In i K o r 1 - 4 (vgl. § 7 ) kritisiert der Adressant die Verehrung von einzelnen Autoritäten, fordert aber die Anerkennung seiner einzigartigen Führungs- und Vorbildfunktion ein. Als Argument führt er seine „Erzeugerschaft" an (4,14^, die - nicht zwingend über allen Streit erhabene - Feststellung, „ G r ü n d e r " der Gemeinde zu sein (3,10). Der Fortgang des 1 Kor gibt einen Eindruck davon, wie diese Orientierungsfunktion des Paulus gemeint ist: Es gilt, in allen Fragen des gemeindlichen und familiären Zusammenlebens seinen Rat zu suchen und zu befolgen. 6.3 Die niedrige Existenz und Schwäche des Paulus wird weder als vorbildlich dargestellt noch als Signum des Apostolats thematisiert,

Eine Thesenreihe

505

sondern als faktische Gegebenheit, die gegen Missdeutungen verteidigt werden muss. Die Niedrigkeit gilt nach „weltlichen" Maßstäben, nicht nach geistlichen. Der Peristasenkatalog in 1 Kor 4,8-13 beschreibt die Lebensform, die den Aposteln von Gott auferlegt ist um ihrer Wirksamkeit willen (vgl. §7.3.7). Auch nach i K o r 2,1-5 stellt die niedrige Existenz nach menschlichen Maßstäben nicht die geistliche Autorität und Wirksamkeit in Frage. In 2 Kor 1 0 - 1 3 wird die am persönlichen Auftreten des Paulus wahrgenommene Schwäche als freiwillige Rücknahme der „Stärke" dargestellt. Der Autor behauptet, dass er Auftrag und Vermögen hat, auch in Anwesenheit vor Ort für Gott zu „kämpfen" und gegebenenfalls „niederzureißen" (10,8; 13,10; vgl. §5.2.2). Paulus kann der Gefährdung seines Lebens bei der Mission im Verbund mit seiner Lebenskraft christusverkündende Bedeutung zuschreiben (2Kor 4,10-12; vgl. §5.1.13). Nicht die Schwäche oder niedrige Existenz allgemein, sondern spezifisch Verfolgungsleiden werden als Gemeinsamkeit zwischen Paulus und Christus einerseits, Paulus und der Gemeinde andererseits herausgestellt. 6.4 Auch 1 Thess 2,7 spricht nicht, wie meist behauptet, von einem Autoritätsverzicht, sondern vom Verzicht auf die Wahrnehmung des Unterhaltsrechtes (vgl. § 6.4.2). 7. Die Äußerungen des Autoritätsanspruchs werden unterschiedlich begründet. Es gibt keine konsistente Legitimation, die dem Autoritätsanspruch ein allgemeingültiges theologisches Fundament gäbe. Die Metaphern, die aus dem „Primat des Paulus" bleibende Autorität ableiten, reflektieren die Uberzeugung von der Bedeutung der Bekehrung und der mit ihnen neu entstehenden Beziehungen. Dieser Autoritätsanspruch ist nicht „übertragbar". 7.1 Begründungen sind ein wesentliches Mittel, um eine Rolle und Autorität zu entwerfen und durchzusetzen. Die Bedeutung von Legitimationen zeigt sich nicht zuletzt in modernen Paulus-Deutungen, denen der exklusive Autoritätsanspruch des Paulus als solcher nicht mehr nachvollziehbar ist. So werden immer wieder Gegner auf den Plan gerufen: Aus dem Text wird eine gegnerische Haltung als Folie rekonstruiert, vor der der Autoritätsanspruch des Paulus dann nicht überzogen oder formal wirkt, sondern theologisch gerechtfertigt. Die Analysen von 1 Kor 1 - 4 , 2 Kor 2 - 7 aber auch 1 Thess 2 , 1 - 1 2 stellten die Argumente für solche Gegnerhypothesen in Frage. Ohne Zweifel verteidigt Paulus seine Reputation aber in 2 Kor 2 - 7 und 1 0 - 1 3 gegen Konkurrenz. Doch auch dort wird nicht explizit damit argumentiert,

5O6

Rückblick und Ausblick

dass die anderen eine falsche Theologie verträten. Dies tut der Autor nur im Gal. Hier weist er sowohl mit theologischen wie biographischen Argumenten die Legitimation des Heidenevangeliums nach. Es geht ihm aber im Letzten nicht um die Verteidigung seiner Autorität, sondern der Wahrheit des von ihm verkündeten Evangeliums (vgl. 1,8). 7.2 Der Apostolat des Paulus ist keine hinreichende Legitimation für den brieflich erarbeiteten Autoritätsanspruch. Die Hinweise auf die Aussendung durch Christus begründen, warum der Christenverfolger zum Verkündiger des Evangeliums in aller Welt und besonders an die Heidinnen wurde, nicht jedoch, warum er unter den Evangelisierten weiterhin eine besondere Bedeutung innehaben will (vgl. § 4.1). 7.3 Durch den Inhalt der Briefe wird deutlich, dass die angeschriebenen Gemeinden aus der Sicht des Autors in verschiedenem Maße Bedarf an weiterer Unterweisung haben, und er spricht das auch wiederholt aus. So wird nicht spezifisch das Wirken des Paulus autorisiert, aber die weitere missionarische Begleitung begründet 4 . 7.4 Mehrfach begegnen christologische Begründungen, doch auch sie ergeben kein System. Eine christologische Basis des „Diakonats" stellen die Metaphern in 2 Kor 2 - 7 heraus (vgl. §5.2.1). Paulus ist von Gott beauftragt und befähigt als Repräsentant Christi an der Gemeinde zu wirken. Seine individuelle Bedeutung für die Adressatinnen leitet er aus der Versöhnungstat Gottes ab, der ihn zum „versöhnten Versöhner" machte, und aus seinem besonderen Geschick. Nach dieser Darstellung hat Paulus aus christologischen und biographischen Gründen eine unersetzbare Mittlerrolle5. Diese vertiefte Reflexion auf die Wirksamkeit des Paulus in der korinthischen Gemeinde ist aber nicht notwendig in anderen Aussagen vorauszusetzen. Zwar beziehen viele der Metaphern die Rolle des Paulus auf Christus, indem sie Christus einen Platz in der metaphorischem Szene zuweisen 6 oder ihn formelhaft hinzusetzen7. Doch unbeantwortet lassen sie Fragen nach einer systema-

4

Ein Glaubensdefizit stellen die in III analysierten Briefe heraus, s.d. Auch 2 Kor 5,1820 unterstellt, dass die Adressatinnen das Versöhnungsangebot Gottes noch annehmen müssen (vgl. §5.1.9.1).

5

Vgl. 2 Kor 4,10-12; 5,18-20 und Schröter 1993, an dessen Titel die Formulierungen hier anspielen.

6

Vgl. i K o r 3,iof (Christus als Fundament s. §7.3.3); 2 K o r 5,18-20 (Paulus vertritt Christus, s. §5.1.9.1); 2 Kor 3,1-3 (Christus ist der Inhalt des Briefes, s. §5.1.4.1); 2 Kor 10,6 (Paulus zwingt unter den Gehorsam zu Christus, s. §5.1.5.3); 2 K o r 1 1 , 1 - 4 (Christus ist Bräutigam, s. §5.1.11.1); Gal 4,19b (die Geburt führt zur Christusgestalt der Adressatinnen, s. § 8.4).

7

So etwa in 1 Kor 4,14; 2 Kor 2,i4b-i6.

Eine Thesenreihe

507

tisch fundierten, christologischen Begründung des exklusiven Anspruchs des Paulus. 7.5 Paulus begründet wiederholt seine Bedeutung für die Gemeinde metaphorisch damit, dass er als Erster an einem Ort das Evangelium verkündete 8 . Die Metaphern stellen nicht nur das Faktum dar, sondern zugleich seine Bedeutung: Fundamentieren, Zeugen, die Braut Zuführen usw. sind punktuelle Handlungen, die eine Zukunft eröffnen. Die Metaphern implizieren, dass die Erstevangelisation bestimmend bleibt. Deutlich sagt das i K o r 4,14 t, da es hier gilt, die Konkurrenz fernzuhalten. Doch warum ausgerechnet der erste Missionar (bzw. sein „ S o h n " Timotheus) Ansprechpartner und Führungsperson der aus seiner Wirksamkeit entstehenden Gemeinde bleiben soll, wird seinerseits nicht mehr begründet. 7.6 Ein nicht legitimierter Autoritätsanspruch ist rhetorisch umso wirkmächtiger, weil er verschleiert, dass er disponibel ist. Er wird so „naturalisiert". 8. Mehrfach, aber auf unterschiedliche Weise wird die Führungsrolle des Paulus und die wechselseitige Beziehung eschatologisch bestimmt. 8.1 Die Führungsrolle des Paulus bzw. der Missionare kann auch begründet werden mit der Notwendigkeit, die Christinnen für die Teilhabe an der endzeitlichen Gottesgemeinschaft zu bereiten (1 Thess 2,12; 3,10; 2 Kor 11,2). 8.2 Während diese Motivierungen voraussetzen, dass sich die Parusie zu Lebzeiten des Paulus ereignen wird, berücksichtigt der Phil die Möglichkeit, dass Paulus sterben wird. Dem entspricht, dass dieser Brief den Adressatinnen Vorbilder und Lösungsmodelle anbietet, die unabhängig von der leibhaftigen Gegenwart des Paulus sind (s. §5·2·3)· 8.3 Das Engagement des Paulus für die eschatologische Tauglichkeit der von ihm gegründeten Gemeinden hat seine Entsprechung in der Erwartung, dass der Erfolg seines Wirkens endzeitlich gewürdigt werden wird 9 . Die Hierarchie wird damit nicht in Abrede gestellt, aber gemildert, insofern Paulus seine Abhängigkeit von der Glaubenstreue der Gemeinden zeigt. Dass dieses Motiv im Gal fehlt, zeigt, dass der

8

1 Kor 3,5-9.9-15; 4A5f (vgl. auch 3,1-5); 2 Kor 3 , 1 - 3 ; 1 1 , 1 - 4 ; impliziert ist die Erstmission auch in Gal 4,19; 1 Thess 2,10-12; vgl. auch Phlm 10 sowie 2 Kor io,i2ff zur Bedeutung dieses „Kanons".

9

Vgl. 1 Thess 2,17 (s. § 6.5.1); 1 Kor 3,i2ff (s. §7.3.3); Phil 4,1 u.ö.

508

Rückblick und Ausblick

Autor seines bleibenden Einflusses und des Erfolgs seines Briefes nicht gewiss ist. 9. In der Dimension der Beziehung als eines wesentlichen Anliegens der Briefe und ihres Autors finden die Variablen ihre Konstante, sind Kohärenz und Kontingenz in den paulinischen Schriften vermittelt. 9.1 In der vorliegenden Untersuchung wurde herausgestellt, dass die Briefe ihren Situationsbezug nicht nur in thematisch differenten Anliegen haben, sondern auch in der Kommunikationsbeziehung als solcher. Damit ergeben sich drei Variablen, die Person und Situation des impliziten Autors, die der impliziten und intendierten Leserinnen und die gegenseitige Relation. Insbesondere der Vergleich des Phil mit den anderen Briefen an paulinische Gemeinden zeigte, wie sich die Situation des Autors der Darstellung der gegenseitigen Beziehung und damit auch der eschatologischen Erwartung einprägt (s. §5.2.3). Der Einfluss der impliziten Adressatinnen und der Arbeit des Autors an einer gegenseitigen Beziehung sollte in der exegetischen Diskussion über die Wandlungen oder Identität der paulinischen Theologie 10 stärker berücksichtigt werden als Faktor, der einerseits die Veränderungen erklärt, andererseits den Briefen gemeinsam ist 11 . Die Bindung der Adressatinnen an ihren Evangelisten Paulus führt die einzelnen Glieder in eine Gemeinschaft und gibt ihnen so eine Identität, bestimmt Orientierung, Zugehörigkeit und Abgrenzung 12 . 9.2 Aus der Perspektive der Untersuchung blieb der Rom am Rande als ein Brief, der an eine nicht vom Autor evangelisierte Christenschar adressiert ist und sich nur im Briefrahmen metaphorisch um die Beziehung bemüht. Die Untersuchung hat so via negativa die Eigenart des Rom herausgestellt. Die als Diatribenstil charakterisierte Weise des Rom, Fragen zu stellen und im paradigmatischen Ich zu 10

Ich nenne nur beispielhaft für die Diskussion Beker 1980, auf den die Unterscheidung von „Kohärenz" und „Kontingenz" zurückgeht; er bestimmt als kohärent die apokalyptische Weltsicht; Schnelle 2003, der die Dialektik wissenssoziologisch als „Sinnbildung in Kontinuität und Wandel" bestimmt (a.a.O., u f f , Zitat 11).

11

Vgl. so auch Wuellner 1990,135, der sich auf Malherbe und andere bezieht: " . . . the coherence of Paul's letters is not to be found in his thoughts or the logic of his thoughts, his theology or ethics, his semantic universe or system of convictions which he shares with his readers, but is found rather in the intensity of his pastoral concerns".

12

Vgl. Wolter 1997 zur Frage, wie die paulinischen Briefe die Identität der Christinnen bestimmen, da es kein deutlich von der Umwelt unterschiedenes Ethos gebe, das die Grenzen zur Umwelt markiert. Nach Wolter macht Paulus statt des Handelns πιστεύειν zum distinkten Aspekt des Ethos.

Eine Thesenreihe

sprechen, kann als Mittel zur Kompensation dessen aufgefasst werden, dass dem Brief nicht wie den anderen eine persönliche Begegnung voraus- und zugrundeliegt. Für eine systematisierende Rekonstruktion der paulinischen Theologie ist der Rom am ehesten geeignet. 10. Unsere Lektüre der Paulusbriefe als Texte, die eine ganz bestimmte Leserschar nicht nur informieren, sondern auch an ihren Autor binden wollen, stellt die Distanz zwischen diesen Schriften und uns heraus. Die Bedeutung, die der Autor der persönlichen Vermittlung des Evangeliums gibt, und insbesondere sein Bemühen um eine den Adressatinnen gemäße Sprache für das Neue stellen hingegen Anknüpfungspunkte über die Zeiten hinweg dar.

10.1 Die in dieser Untersuchung gewählte Analyseperspektive hat die zeitliche und kulturelle Distanz zu dem Paulus, den uns seine Briefe bekannt machen, herausgestellt: Wie Paulus nicht damit rechnete, dass es Jahrhunderte später noch Christinnen auf Erden geben würde, sind wir fern davon, die Adressatinnen seiner Briefe zu sein. Die Analyse der Situationsbezogenheit der Schriften und ihrer Ausrichtung auf die Gestaltung der Beziehung zu den Adressatinnen heben diesen Abstand hervor. Dass diese Beziehungen ihr Ziel haben in der Begleitung der Gemeinde bis zum nahen Ende, zeigt, dass die Rolle des Paulus nicht übertragbar oder institutionalisierbar entworfen ist. Die Distanz zwischen den Briefen und uns wird auch betont durch die Metaphern. Sie setzen eine andere Lebenswelt voraus, sind daher schwer übersetzbar, und sie können sich in unserer Lektüre kaum durchsetzen gegen eine verfestigte Vorstellung von dem, was sie erst beschreiben wollen. Schließlich ist auch der Autoritätsanspruch des Paulus heute zumindest außerhalb kirchlicher Hierarchien eher suspekt. 10.2 Andererseits haben wir mit unserer Untersuchung der Beziehung zwischen Missionar und Gemeinde und ihrer Versprachlichung Aspekte bedacht, die über die kulturelle Distanz hinweg führen. Die Bedeutung einer persönlichen Vermittlung des Evangeliums ist evident, wo die Weitergabe von Traditionen abbricht, weil die Herkunftsfamilien wie zu Zeiten des Paulus kaum mehr Ort der christlichen „Sozialisation" sind. Auch die Bedeutung einer zeitgemäßen Sprache dafür ist heute wie damals unumstritten. Wenn diese Untersuchung gezeigt hat, dass der Briefautor Paulus Metaphern nicht deshalb gebrauchte, weil es galt, die Sache des Evangeliums in Bilder zu kleiden, sondern, um die Sache selbst - die soteriologische Botschaft, aber

5io

Rückblick und Ausblick

auch die mit ihr geschaffenen Beziehungen und Gemeinschaften überhaupt begreifen und vermitteln zu können, so wird nicht nur die Bedeutung der Metaphern erkennbar. Wir sehen auch, wie wichtig es ist, die paulinischen Metaphern wieder so - frei - zu übertragen, dass sie nicht als „eigentliche Sprache" oder gar Lehrterminologie verschwinden, sondern ihre Kraft entfalten, das Neue so auszusagen, dass es in den Erfahrungen des Lebens sehbar und verstehbar wird.

Register

ι

Sach- und Begriffsregister

A b s e n d e r / A d r e s s a n t / A u t o r , impliziter (s. auch Brief - 1. Pers. PI.) 6f, 8 - i o , 32, 54, 61, 78-80, 245, 249, 261-263, 26g, 271,328t, 332-334,366t, 422, 445-449, 504 ( u n d p a s s i m ) Adressaten/Adressatinnen 9, 54, 6if, 2

45' 2 7i/ 3 3 4 t 4 2 2 ' 445/ 451-453 (und passim) alienating 232A367, 386A150, 45of, 453 Als-ob-Anwesenheit / Unmittelbarkeit siehe Brieftopoi - Parusie Amme 282-285, 2 9 2 A m m e n v e r g l e i c h (s. auch Muttermetaphorik) 274-297,334 Analogieargument 103-105,157, 212, 214 Apokalyptik 259t, 324A335, 333, 474A156, 486, 488t Apollos 135 mit A71,198, 351,358A26, 359/ 3&3' 367/ 37 2 - 376,377-381, 386A150,393t, 410, 426f, 43if Apologie, apologetische P r a g m a t i k 271, 309-313 mit A272, 362-365, 429 Apostel / Apostelin / Apostolat / apostolisch (s. auch απόστολος) 3A2,4,12,1317,17-19, 25, 27,32f, 36f, 42-44,54-56, 57A44, 63A66, Ö7f, 76, 79A7,100f, 113-115,117-131,134A64,135A71,140142,146,148,150-152,153A1, 205, 232, 2

37/ 3 6 7/ 394-39 8 / 44 6 / 497/ 5°i/ 5 3 1 t 43/ 47~8o, 253-261, 497,500 1. Pers. PI. 78-80,140, 225, 232A363, 261-262, 326A349, 333A386,366f Briefaufbau, Disposition, Briefform 51, 53/ 57/ 356 Briefformeln siehe Brieftopoi Briefmetapher 175-181,227 Briefrahmen 55,59, 6if, 75t Brieftheorie/Epistolographie 47,49-54, 253-261,353-356/ 440-445/ 500 Brieftopoi und -formein 57, 61-74, 240, 353 Besuchsankündigung 74A138 Danksagung 64t, 72, 240A393, 251, 254t mit Ali, 255A16, 327, 329, 365, 440 A 1 4 disclosure-Formel 63,75A140, 440A14 Eigenhändigkeitsvermerk 62 f, 440A14 Eschatokoll 62 formula valitudinis siehe Gesundheitswünsche Freudenausdruck, Aufforderung zur Freude 63, 239A392, 240A393, Gedenken, wechselseitiges 72t, 240A393, 269 Gesundheitswünsche 64,74t, 331A379 Grüße / Grußaufträge / Grußausrichtungen 65t, 3 3 1 A 3 8 1 intitulatio 62,146,148 t, 151 Kundgabeformel siehe disclosureFormel Nachrichten, Bitte um 72, 75A140, 240 Parusie, briefliche / Als-ob-Anwesenheit 58, 66, 67-72, 75,166, 240, 247, 2 5 7 A 2 3 , 259f, 490 Präskript 6if, 7gf Rekursformel 64,440 A 1 4 Reisepläne 67,74 salutatio 55A33,62

Sehnsuchtsäußerung, Pothos-Topos 67, 72, 240, 257A 23, 442, 490 Selbstempfehlung, briefliche 68f, 312, 323A332 superscriptio 6if, 244, 267 Vertrauensäußerung 64, 440 A 1 4 visit talk 74 Brieftypen 5if apologetischer Brief 52A16, 440A15 deliberativer Brief 52A16, 441A15 Empfehlungsbrief 52A18,176-181, 231A359 Freundschaftsbrief 52A19, 59t, 66f, 239t mit A399, 257 Mahnbrief 53A26, 353-356, 365, 419, 502 paränetischer Brief 256A19, 258 Trostbrief 258-261 Brudermetapher (s. auch Geschwistermetapher) 36, 39, 208, 225, 414 captatio benevolentiae 65, 73,169, 365, 400 Christologie i4f, 39, 43,119,124t, 139,149, 159A22, 200, 219, 222, 225, 238A388, 359f/ 365/ 484/ 5°4/ 506 f Christus-Identifikation, Christus-Metapher 346, 449, 481-483, 486, 493, 502 Cicero 52A20, 53A27, 54A29 Collage 110, 233 f Danksagung siehe Brieftopoi, Danksagung Diakonos (s. auch διάκονος) 115, ii8,124, 1 3 1 - 1 4 2 , 1 5 0 - 1 5 2 , 205, 229t Dienst 131t, 139, 229 Dio Chrysostomos 292f Diskurs/discourse 22-24 Duftmetapher 130A45,172-174,176, 1 7 9 A 2 7 , 1 8 5 - 1 8 7 , 227 Egalität 25, 38-40, 240, 257, 344, 346, 349, 504 elocutio 50A9,56 Ehe, Ehemetaphorik 215-218, 222, 223A348, 233 Ehre (s. auch δόξα) 40, 272, 3 2 1 , 3 2 3 A 3 3 1 , 339A403, 361A39, 402f Ekklesiologie 35t 38-40,161,166, 238A388, 428A342,456, 479 Eltern (s. auch Vater; Mutter) 21, 304 Eltern-(Kinder-)Metaphern (s. auch VaterMetaphern ; Muttermetaphern) 5 f,

Sach- und Begriffsregister 42, 87,154, 205-218, 225, 228, 230, 233, 242, 249, 280, 315,334,343 f, 349, 486, 501-503 Enzyklopädie 7, 9, 41, 87, 88, 90A43, 92t, 96 f Epikur/Epikureer 29, 31t, 53 A26, 341A411 Epiktet (s. auch Stellenregister) 194A213, 341A411 Epistolographie siehe Brieftheorie Erwählung 265, 302 f, 335, 343 Erziehung 301, 305, 374 f, 398, 401, 409 f, 141, 418 Eschatologie 2 0 , 1 6 8 , 1 7 4 , 1 8 3 , 1 9 4 , 216 f, 244, 247f mit A428, 252, 265,325, 336, 380, 396f, 480 Ethos 5of, 68f, 2 9 6 , 3 1 1 , 3 1 3 , 4 4 1 A 1 5 , 4 4 3 t 507 Evangelium (s. auch ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν ) 14, 121 12 115, , 3, 208, 2 6 4 t 268, 277, 286,334, 423, 438,467 Extension 118,149 f Familie (s. auch Eltern; Kinder; Vater; Mutter) 3 4 t 4if, 207,304,307,338, 402 f Familienfiktion 38, 207A 280, 252 t, 270,

305,307, 332, 337-343, 494

Familienmetapher, -spräche (s. auch Eltern-Kind-Metaphern) 2,33-42, 5 3 A 2 4 , 92, 95f, 1 1 0 A 1 1 1 , 205 mit A276, 206-218, 222, 252 mit A 5 , 3 1 4 , 3 4 1 t 353, 374/ 423, 425, 4 2 7 t 456-459,495 f o c u s / F o k u s siehe Metapher Formel (s. auch Brieftopoi und formein) 59A52 Freude 168, 239, 241, 247, 256A19, 260, 269, 320, 327 Freundschaft, Freunde, Freundschaftstopik 2 7 - 2 9 , 5 9 , 66f, 7 1 A 1 1 9 , 1 5 7 A 1 6 , 1 9 2 , 2 1 1 f, 219A335, 240, 248, 257, 259, 261, 287, 307, 3 i 2 f , 323,338, 459, 463 f, 466-468, 471, 492 f Freundschaftsbrief siehe Brieftypen Fürbitte 72, 327, 336 Gebet 64 f, 76, 268, 327, 331 Gebären, Geburt (s. auch Wehen) 475, 476A168 Gebärmetapher 437, 472-489, 491-493, 502

515

Gegner /innen des P a u l u s ; Gegnerhypothesen 1 0 , 1 3 7 t , i8of, 228, 231, 2 5 1 A 1 , 309 f, 450 f, 464, 469, 480, 505 Geldmetapher 213,233 Gemeinde 4, 9f, 2 0 - 2 2 , 24-26, 234,326, 330,389 f, 426-435 Gemeindegründung 3 - 5 , 253, 264, 404, 410 Gericht, eschatologisches 321, 387, 390 Gesetz, jüdisches 4 3 9 t 445, 449A54, 4 5 4 t 4Ö2f, 468-470, 492 Geschlechterrollen 34A157,215, 307A254, 347, 455A84, 484A216, 493f Geschwister/Bruder, Schwester 345-347 Geschwisterliebe (s. auch φιΛαδελφία) 335 Geschwistermetapher / -anrede 22, 2 8 A 1 1 9 , 36, 39 f, 41, 42, 62,167, 206, 242, 307, 338, 344-349, 504 Gott-Vater-Metapher siehe Vater-GottMetapher Haus / Oikos 2 4 t 154,162, 384 Hausgemeinde 24f Heidenmission 3 3 , 1 2 5 , 1 3 0 , 1 4 1 , i5of, 1 6 9 - 1 7 1 , 224, 264 H o f f n u n g (s. auch έλτχίς) 326A350, 3 2 9 t 336 Identität 481A199 Inferenz, inferentieller Prozess 88, 99, 109 Intension 118,141 Interaktion siehe Metapher - Interaktion Interaktionstheorie siehe Metapherntheorie Intertextualität 54, 9 6 A 7 1 . 7 2 , 1 2 6 A34, 1 3 0 , 1 5 1 , 1 6 4 A 4 0 , 200A247, 293^ 446 inventio 50 A 9, 56 Katachrese/katachrestische Funktion siehe Metapher Kaufmannssprache 204 Kind, Kinder 207-209, 301, 307, 373 Kindermetapher (s. auch τ έ κ ν ο ν ) 207209,3°5,335, 424,492 Körper-(Raum-)Metapher 210 f, 228,503 Kognitionen 98 kognitivistische Theorie siehe Metapherntheorie Konkurrenz, Konkurrentinnen des Paulus 23if, 2 3 4 , 3 5 1 , 4 9 2 , 5 0 5 Konzeptmetapher siehe Metapher Korinth 190,193, 359, 385

5

i6

Register

Krankheit des Paulus 235-236, 238A388, 464 Kreuz, Kreuzeslogos, Kreuzestheologie 1 4 6 A 1 2 4 , 219A332, 237A387, 3 5 2 A 3 , 357, 360 f, 373, 376,389A169, 3 9 7 t 403, 412f, 417A305, 429, 449A54, 465A121, 480 f, 488 Kriegsmetapher 1 8 1 - 1 9 2 , i92f, 222, 2 2 7 229, 233t, 242-244 Kultmetapher 165-175, 222, 224, 227, 229, 242-244 Kyniker 29f, 5 3 A 2 6 , 1 3 2 A 5 6 , 292, 406A261 Laufmetapher (s. auch Wettkampfmetapher; τ ρ έ χ ε ι ν ) 194-196,271A81 Lehrer 2 9 - 3 2 , 332t, 398, 405t Leiden 14-16,120A6,140,151,185A157, 238A388, 241, 244, 256A19, 259t, 266, 268f, 271t, 3 1 2 , 3 1 4 A 2 8 6 , 3 2 0 , 3 2 3 ^ 397 A 214,419 Leser, impliziter/Modellleser 9,100 Lichtmetaphorik 1 9 8 - 2 0 1 , 218, 222, 227, 229 Liebe, Mutterliebe, Vaterliebe 35, 37,39, 207, 210, 213t, 233, 241A403, 274, 285, 294,305,307,326,334, 337,374,398, 409A278,472, 492 Macht 17t, 23, 44, 236 mapping siehe Metapher - Übertragung Metapher 1 , 5 , 24, 42, 83-87, 95,104,152, 499 (und passim) Ähnlichkeit 85,104 Äußerung, metaphorische 86, 95 Argumentation, metaphorische 102t Bildempfänger/ Bildempfängerbereich 42, 86f, 89-91, 93,104, 1 0 6 , 1 0 8 - 1 1 1 , 249, 274A90, 296, 409 Bildfeld 36, 93-97, i05f, 1 0 7 - 1 1 0 , 206, 2 1 5 , 3 7 5 , 3 8 2 , 4 0 5 , 486 Bildspender/ Bildspendebereich 42, 86f, 9 0 - 9 3 , 1 0 4 - 1 0 6 , 1 0 8 - 1 1 0 , 1 5 3 , 221, 227t, 249, 274A90, 296, 385 Focus, Fokus 87, 92,104, io6f, 282, 296,301, 317,373, 407, 499 frame siehe Metapher - Rahmen Instantiierung 91 Interaktion 88-92,105t Katachrese, katachrestische Funktion 84, 85A20, loof, 1 0 4 , 1 1 0 , 222, 3 4 2 f ' 345

Konzeptmetapher 9οι, 9 3 - 9 6 , 1 0 2 t , 109, 222 kühne Metapher 93A55, 296 Lexikalisierung 85 A 20, 93,100, 349 Projektion 89A38,90 Rahmen, Äußerungskontext 87, 92, 9 7 , 1 0 4 , 1 0 6 , 315, 407, 499 Übertragung 88-92 Usualität 93A55 Valenz 100 Metapherntheorie 43, 8 1 - 1 1 1 , 499 Bildfeldtheorie 81,93-96 Interaktionstheorie 87,88-92 kognitivistische Metapherntheorie 41, 82, 89-91, 9 3 - 9 6 , 1 0 2 f , 1 1 1 A 1 1 7 , 1 3 9 A 8 5 , 1 4 0 t , 144,179, 293 rhetorischer Metaphernbegriff 81, 84t Substitutionstheorie 84 Milch 371-375 Mission, Missionar 3 t, 184,196, 262, 296, 305, 332-334, 343, 359 (und passim) Modell 109 mit A l i o , 222 Modell-Leser 8A14.16, 9, 8 8 , 1 1 1 Mose 3 1 , 1 2 0 A 6 , 1 3 5 , 1 3 6 mit A72.73 Mutter 38, 302, 306t, 437, 457, 484A216 Mutter-Kinder-Metapher (s. auch Elternmetaphern) 3 4 - 4 1 , 45, 223, 274-297, 3 0 6 - 3 0 8 , 3 0 9 - 1 3 1 , 3 3 4 , 374, 457, 464A114,504 Mysterienkult, -terminologie 97, 405, 486 f Nachahmung siehe Vorbild non-naming 232, 420, 450 Offenbarung 54, 7 6 , 1 2 8 , 1 3 6 , 1 5 6 , 1 7 3 , 219, 230, 232, 259 t, 333 f, 446, 449 Offenbarungsbriefe 54-56 Onesimus 22, 207-209, 224t, 342, 345, 406, 415 A 296 Paradigma, paradigmatische Funktion (des Paulus) (s. auch Vorbild) 239A352, 245, 3 5 5 A 1 1 , 361-365, 3 9 2 ' 418, 429, 440, 449, 456, 463A108, 481, 495 Paränese/Paraklese, paränetische Funktion 5 3 , 1 6 3 A 3 7 , 252, 2 5 5 t 2 7 0 , 3 0 9 3 1 3 , 3 2 8 - 3 3 1 , 336f, 3 5 5 A 1 1 , 413, 428, 441A15,448,504 Parusie siehe Brieftopoi, briefliche Parusie

Sach- und Begriffsregister pastoral care 258,334A391,501 Pathos 50t, 322A330, 441A15, 443^ 495 Patronat 26f, 28,157A16 Paulus ίο, 1 1 7 t 152, 262, 325, 332, 377, 429-435 (und passim) Peristasenkatalog(e) 127,140,155,188, 394-396 Philophronesis siehe Beziehungspflege; φιΛοφρόνησις Philosophie, Philosophen, philosophischer Brief 29-32, 53, 273, 354A9 Prophet, Prophetie 32t 121,125t, 144t 148t 273, 310, 332f Prophetenbriefe 53-56 Ps.-Demetrius 51t Ps.-Libanius 5if Ps.-Proklus 5if Rahmen siehe Metapher Rede 49,58 Redeaufbau /Rededisposition 50 t, 254A12 Redegenera 50 t, 256 t apologetisch 364A54,440A15 deliberati ν / symbuleu tisch 256, 354t 363, 364A54/ 441A15, epideiktisch 52 A16, 256 t, 311A 276, 353 a 4- 355A11, 4 4 l A l 5 Repräsentation (s. auch Apostel) 119-121, 132,141 mit A92, 221, 229, 465 A120 Rezeptionsästhetik 6-9,87 rhetorical criticism 48-51, 254A12, 256t 353-356, 440-442, 500 rhetorical situation, rhetorische Situation 48A3,106, 262A53,363 Rhetorik, rhetorische Mittel 22-24, 44, 48-51, 231t 266, 322, 423, 453 Rolle 10-12 Satan 318,325A342.343,336 Scham, Beschämung, Schande 187, 361A39, 400, 402f Schwäche des Paulus 13A28,14t 127 mit A39, 235-238,504t Seneca 53 A 26,54 A 29,168 A 63,194 A 213, 354 A 9 Silvanus 25iAi, 261, 276A100 Sinnlinie 108,147,166,194,199, 219 t 249, 272, 313, 320, 438 Sklave 143 Sklave Christi (s. auch δοϋλος Χρίστου) 76,142-150,150-152, 2i8, 504

517

Sklavenmetapher 142-150, i58f, 2i8f, 222, 227, 229 Soteriologie 14,16, 20,150A142, 202, 220, 230 Spiritualisierung 165,168A66,175 Sportmetaphorik siehe Wettkampfmetaphorik Stärke 13A28,189, 235-238 Status 26-29, 4 1 ' 1:L4' H 7 / 1 2 7 - 1 3 1 , M 1 ' 151, 209, 292A176, 332, 342, 346t, 358362,366,373,394,423, 429t, 432^ 481 f, 504 Sterbemetaphorik 219-221,229, 316 A 294, 483 Sterben (des Paulus) 219-221, 228, 247 Taufe 407A266, 438, 458, 476A169, 481t, Φ 7 ' 495 Tempelmetapher 162,166,383t, 388f tertium comparationis 85, 91A47,104, 274 A 90, 296 Timotheus 101,137A78,146,148-151,156, 207f, 240A394.397, 242, 244, 261, 264, 266, 276A100, 324-326, 328, 335, 351, 400, 412-415, 419t 423f, 427, 431, 434, 502, 507 Topos (s. auch Brieftopoi) 59A52 Unterhaltsrecht bzw. -verzieht siehe Apostel Vater 302,306 f, 404-406, 409, 484 f Vater-Gott-Metapher 37, 89A38, 97 mit A73, 206, 267, 299,457A88, 458, 487, 504 Vater-( Kinder- )Metapher 18, 22, 30, 3442, 45,102f, 110, 206, 213A307, 214, 223, 294-306, 306-331, 334, 351, 398, 420 f, 424, 437A2,504 Vaterschaft, geistliche 36t, 45,109, 206, 208A287, 223, 303A240, 404, 422, 501 Vegetationsmetapher 197, 378-382, 427 Verein 25 f, 348 A 28 Vergleich 84,103 t 214 Vergleich, gerichteter i03f, 274A90, 296 Verlobung, Verlobungsmetapher 216218 Vermittler / Mittler 15 A 43,135,139,142, i5of, 174,188, 205, 217, 229t, 264t, 330, 506 Versöhnung/Versöhner 16,138^228 Vorbild/Nachahmung 19 A 69, 23, 37A168, 214, 237A387, 239A392, 245 t,

5 i8

Register 268t, 305,307,311 f, 329,337,354A9, 361-363,397,399, 411-420,423, 456A86, 461-463,502

Waisenmetapher 314-317,326 Wanderprediger/-philosopher! 273, 262, 292 t Wehen (s. auch Geburtsmetapher; ώδίν κτλ.) 475,476A168 Weisheit 360,362A42,367^ 370-373,

Weisheitstheologie, korinthische 352, 357f, 360A36, 361A38 Wettkampfmetaphorik i82f, 184A146, 192-197, 222, 242-244, 320 Wissenssoziologie i8f, 40, 98, 339f Zeugungsmetapher (s. auch γενναν) 403^406,493,502

423' 432

2 Register griechischer Worte αγάπη 421 αγαπητός 167, 20j, 209A289, 214, 242A409, 285,336A397,345, 401, 409, 414 ά γ ώ ν κτλ. 182,184A146,193195A216, 272A83 αδελφός κτλ. (s. auch Geschwistermetaphorik) 242A409, 252A4, 291, 326A351, 344-349, 369, 458, 461, 463/ άληθεύειν 467 αμεμπτος 295 άπορεϊσθαι 49° άπορφανίζειν 314_316 απόστολος, αποστολή, ά π ο σ τ έ λ λ ε ι ν (s. auch Apostel) 68,113,115/119-122, 133,136/139' 1 5 0 - 1 5 2 ' 174Α104, 2 2 2 ' 229, 245' 252Α4, 262Α49/ 267Α63, 276, 279-281, 332, 365,394/ 449 άπών 69-71 άρμόζεσθαι 216Α317' 217 αρχιτέκτων 3 8 4-Αι8ι, 386Α146, 387 ασθένεια 235-238 βάρος, έν βάρει είναι κτλ. 274Α92, 276, 278-280, 291 βασιλεία θεοϋ 265Α59, 2 9 9 , 3 ° 6 Α 2 5 2 γεννδν 2θ8, 214, 4°3f, 4°6f δεϊσθαι 202,451 διάκονος, διακονία, διακονεΓν (s. auch Diakonos) 115,118,128 A 41,131-142, 1 5 0 - 1 5 2 , 1 7 4 A 1 0 4 , 1 7 8 mit A122,188, 199, 205, 222, 226-228, 377, διδάσκαλος, διδάσκειν 3°, 413/ 422Α334

δίκαιος 295 δόξα 278f Α110.112, 319, 3 2 ΐ δοϋλος 143 δοϋλος θεοϋ 143-145 δοϋλος Χρίστου ι ι 8 , 1 4 2 - 1 5 2 , 2ο8, 2i8f, 449 δύναμις ι88, 227, 238, 420 εγκράτεια 195 f ειρήνη 55-^33, 62, 265Α59, 267 έλπίς 318_320 έν Χριστώ yjo, 406f έντρέπειν 4 0 0 - 4 0 2 , 4°9 επιείκεια 189Α178,236Α377 έργον 154,175 t 3 ^ 3 Α ΐ 3 ΐ ε ύ α γ γ έ λ ι ο ν , ε ύ α γ γ ε λ ί ζ ε σ θ α ι (s. auch Evangelium) 115,118,169,265,277, 326,335,357' 4°7' 445' 455Α84, 483A209 εύωδία 172-174 ζήλος κτλ. 217, 4&9~47 1 ήπιος 274Α92, 276, 288-291 θάλπειν 275,285 θεμέλιος 386Α146 θησαυρίζειν 212,214 θλΐψις 264, 266,343 θριαμβεύειν 182,185-187 θυσία 167 ίερουργεΓν 169 καθαίρεσις 163,233 καρδία 179, 2iof, 227^ 230Α357, 240Α398, 323 καρπός 198, 242Ä406, 244Α414

Griechische Worte καταλλαγή, καταλλάσσειν 201-205 καταναρκάν 192Α198 κενός 27ΐΑ8ι, 272 κερδαίνειν 159 κήρυξ 20ΐ, 333-^387 κηρύσσείν 196,199/ 20ΐ, 2i8f κοινωνός, κοινωνία 159, 239Α392, 241Α402 κόπος, κοπιάν 155, 242Α406, 288, 380Α125, 461Α99 λειτουργία, λειτουργός ι66,169, 243Α412 μεταδιδόναι 286Α149 μιμήτης, μιμεϊσθαι(5. auch Vorbild) \ίΐ, 415t 4i8A3i3 μισθός 3 2 2 Α3 2 9, 38°Αΐ25 μορφή, μορφοϋν 477' 479~4&1> 4^3 νέκρωσις 22of νήτιιος 276, 288-291, 315Α288, 335^395' 368-370, 373-375 νόημα 190,233 νουθετεϊν y$oAyj&, 354* 4 0 0 _ 4 0 2 / 4°9, 422Α334 οικοδομή ι6ο, 162-164, 2 33' 383t 388 οικονόμος, οικονομία 156,158,392Α180 οίκος 24f, 29Α119,154/ 3°4 όμειρόμενος 276t 286, 293Α183 οπλον 182, ι88 όσιος 295 όσμή 172-174 όψώνιον 182, i9if παιδαγωγός 3°/ 2 1 4' 399Α223, 403~4°8, 4ΐο, 4 2 of, 4 2 3 ^ 43 1 ' 4 22 Α334 πάλιν 176Α110,47 2 t 47^f,493 παρακαλεϊν, παράκλησις 64, 69, 202, 228, 297,3 2 8Α363,3 2 9 Α 365< 33°Α378, 354' 356Αι6,357' 3^5' 4 « παρουσία (s. auch Brieftopoi Parusie) 75,248 παρρησία, παρρησιάζεσθαι 271-273 mit Α81.82, 292

519

παρών 69-71 πατήρ 214, 296, 403 f πέμπειν 123Α27 περιπατεϊν 3 0 1 πνευματικός 369 πραϋτης 189Α178, 421 f πρεσβεύειν 139Α83, 20if, 204 προσφορά 171Α 83 πρόσωπον 200, 317Α298, 323 πυκτεύειν 193,195Α216 ράβδος 4 21 ,422Α334 σπένδειν 167 σπλάγχνον 2ο8, 209Α287, 210Α296 στέφανος 193,195,3 Ι 8~3 21 , 244Α415 στέφανος καυχήσεως 3 2 °f συλά ν 182,191 f συνεργός, συνεργοϋν 156, 204Α273, 381-383 mit Α128 σφραγίς 175 ταπεινός κτλ. 189,191, 2-35^ τέκνον 207-209, 212, 214, 275, 29^, 4 0 1 , 406,4M' 473 τρέχειν 193,195Α216 τροφός 214, 274Α92, 275 mit Α93, 277, 282-285 τύπος 4*5 ύπέρ Χρίστου 204f ύπερλίαν απόστολοι 124Α28,129 υπηρέτης 156,392Α180 ύπωπιάζειν 193,195Α216 φιλαδελφία 252Α4, 33°Α37 2 , 343, 347 φιλία 28Α119 φιλοφρόνησις 59^, 66 χαρά 3 1 8-3 2 ο χάρις 55 Α 33, 62, 63Α70, ι86, 265Α59, 267 Χριστός 478 ί 482 f ψευδαπόστολος 128Α41,129, 346 ψυχή 277, 2 ®6f ώδίν, ώδίνειν 47 2 Αΐ48, 473~47Ö, 478, 480, 488 ώς 103, 2 1 0

520

Register

3 Stellenregister (in Auswahl)

Antike Autoren

2,15,8-9 3,22,81t

162A36,384A138 406A261

Aetius

3