Parodie und Verkehrung: Formen und Funktionen spielerischer Verfremdung und spöttischer Verzerrung in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit [1 ed.] 9783737006644, 9783847106647

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Parodie und Verkehrung: Formen und Funktionen spielerischer Verfremdung und spöttischer Verzerrung in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit [1 ed.]
 9783737006644, 9783847106647

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Encomia Deutsch

Band 3

Herausgegeben von Andreas Bihrer und Timo Reuvekamp-Felber im Auftrag des Vorstands der Deutschen Sektion der ICLS

Seraina Plotke / Stefan Seeber (Hg.)

Parodie und Verkehrung Formen und Funktionen spielerischer Verfremdung und spöttischer Verzerrung in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5499 ISBN 978-3-7370-0664-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg.  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Carmina Burana: Mþnchen, BSB, Clm 4660, fol. 68v

Inhalt

Seraina Plotke / Stefan Seeber Parodie und Verkehrung. Versuch einer Annäherung

. . . . . . . . . . .

7

Nikolaus Henkel Parodie und parodistische Schreibweise im hohen und späten Mittelalter. Lateinische und deutsche Literatur im Vergleich . . . . . . . . . . . . . .

19

Carmen Cardelle de Hartmann Parodie in der Sammlung. Eine parodistische Nachbarschaft in den ›Carmina Burana‹ (CB 89–90) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Seraina Plotke Polydimensionale Parodie. Verfahren literarischer Verkehrung im ›Helmbrecht‹ Wernhers des Gärtners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Stefan Seeber Grüße nach Eilenburg. Johannes Zschorns Vorrede zu seiner ›Aithiopika‹-Übersetzung (1559) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Eva von Contzen Die Lust am Lesen. Parodie in den Vorreden englischer Übersetzungen antiker Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Seraina Plotke / Stefan Seeber

Parodie und Verkehrung. Versuch einer Annäherung*

I.

Intertextuelles recycling?1

Mit Blick auf die literarische Parodie ist nur eine Feststellung einfach: nämlich die, dass wir es mit einer außerordentlich komplexen Angelegenheit zu tun haben. In besonderem Maße ist die Parodie ein rezeptions- ebenso wie produktionsverhaftetes Phänomen. Sie kann nur ›funktionieren‹, wenn Prätext und Phänotext im intellektuellen Akt verknüpft werden, wenn der allgemeine Rahmen (u. a. das, was Julia Kristeva den Genotext nennt) bekannt ist.2 Nicht zuletzt ist ebenfalls von Bedeutung, dass die parodistische Absicht der intertextuellen Relation erkennbar ist und als solche decodiert wird. Die Parodie gehört mithin zu den voraussetzungsreichsten literarischen Erscheinungen, und der Zugriff über die Metaebene der literaturwissenschaftlichen Betrachtung erweist sich gerade im Falle vormoderner Parodien als besonders intrikat – müssen doch, ausgehend allein vom Phänotext, die Bezüge auf den Prätext und den Rezepti* Dass dieses Buch in der vorliegenden Form erscheinen konnte, ist der ›Internationalen Gesellschaft für höfische Literatur‹ (ICLS, German Branch) zu verdanken, die den Band erfreulicherweise in ihre Reihe ›Encomia Deutsch‹ aufgenommen hat. Die ›Wissenschaftliche Gesellschaft Freiburg‹ hat diese Aufsatzsammlung durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt, für den die Herausgeber herzlich danken. 1 Friedrich Wolfzettel: Parodie und Artusroman. Versuch einer Problematisierung, in: Ironie, Polemik und Provokation, hg. von Cora Dietl [u. a.], Berlin/New York 2014, S. 303–317, S. 305. Parodie als solche ist nicht auf literarische Erscheinungsformen beschränkt, sondern lässt sich »als umfassender kultureller Gestus« verstehen, der nicht nur sämtliche Kunstformen, sondern auch Sprechweisen, Mimik oder Gestik etc. betreffen kann (siehe dazu die programmatischen Überlegungen im Beitrag von Nikolaus Henkel im vorliegenden Band). 2 Zur Terminologie Kristevas sowie zu den Grenzen und Möglichkeiten der Anwendung ihrer Theorie auf mittelalterliche volkssprachige Texte vgl. Timo Reuvekamp-Felber : Literarische Formen im Dialog. Figuren der matiHre de Bretagne als narrative Chiffren der volkssprachigen Lyrik des Mittelalters, in: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Generische Interferenzen in mittelhochdeutscher Epik, Minnesang und Mystik, hg. von Hartmut Bleumer/ Caroline Emmelius, Berlin/New York 2011, S. 243–270 (die Parodie macht hierbei allerdings nur einen Teil der von Reuvekamp-Felber betrachteten intertextuellen Bezugnahmen aus und steht im größerem Kontext der Verweismöglichkeiten zwischen Texten).

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onsrahmen rekonstruiert, der Bedeutungs- und Wirkungsraum der Parodie also erst erschlossen werden, was unter den Bedingungen der Alterität vormoderner Literatur3 bzw. unserer heutigen Perspektive auf diese Literatur4 eine eigene Herausforderung darstellt. Dass dennoch eine »wachsende Konjunktur des Parodiebegriffs« zu bemerken ist,5 wie Friedrich Wolfzettel betont, hängt mit der Faszination zusammen, die diesem intertextuellen Kunstgriff eignet: Er bringt Kritik und Unterhaltung, Inhaltsbezug und Metaebene scheinbar mühelos zusammen und reizt die Rezipienten zu korrelationalen Überlegungen: Parodie als interaktive literarische Technik und als intertextuell hochgradig anspruchsvolles Verfahren ist eine Königsdisziplin der Literatur durch alle Zeiten,6 also weniger »intertextuelles recycling«7, sondern, um im Bild zu bleiben, im Idealfall ein upcycling, das in der Wiederverwendung bereits bekannter Stoffe, Gattungen, Motive oder Stile etwas Neues schafft: Schon das Beispiel der antiken ›Batrachomyomachia‹, die als Froschmäusekrieg die ›Ilias‹ Homers parodiert, verdeutlicht, dass Parodien auch ein Eigenleben zu entwickeln vermögen. Es zeigt, inwiefern Parodien ein Mehrwert jenseits der Bezugnahme auf eine Vorlage, sei es ein konkreter Text oder eine ganze Gattung, eignen kann – in diesem Zusammenhang stehen etwa auch die immer noch regelmäßig aufgeführten Parodien Nestroys, von denen einige ihre Prätexte deutlich überlebt haben und die nun ein Eigenleben als Komödien führen.8 Sobald also Parodien mehr leisten als bloße »Verschie3 Die jüngere Debatte um den Wert und Inhalt des Alteritätsbegriffs können wir hier nicht fortführen – vgl. dazu die Sammelbände: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, hg. von Anja Becker/Jan Mohr, Heidelberg 2012 (besonders den einführenden Beitrag der Herausgeber : Alterität. Geschichte und Perspektiven eines Konzepts, ebd., S. 1–60); Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität, hg. von Manuel Braun, Göttingen 2014 (bes. den Beitrag des Herausgebers: Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie: Kritik und Korrektiv, S. 7–38). 4 Vgl. dazu Rüdiger Schnell: Alterität der Neuzeit: Versuch eines Perspektivenwechsels, in: Braun (Hg.), [Anm. 3], S. 41–94. 5 Wolfzettel [Anm. 1], S. 304. 6 Eine neue Grundlage für die Verbindung von allgemeiner Rezeptionstheorie und spezifischen Fragestellungen der Rezeption komischer bzw. parodistischer Texte ist durch die Arbeit von Marcus Willand gegeben, die allerdings selbst keinen Bezug zu Komik und Parodie herstellt: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven, Berlin/New York 2014. 7 Wolfzettel [Anm. 1], S. 305. 8 Vgl. die immer noch grundlegende Arbeit von W. E. Yates: Nestroy. Satire and Parody in Viennese Popular Comedy, Cambridge 1972, bes. S. 96–120. Des Weiteren etwa: Susan Doering: »Es ist alles uralt, nur in andrer Gestalt«. Über die Vorlagen von Nestroys Werken, in: Vom schaffenden zum edierten Nestroy. Beiträge zum Nestroy-Symposium im Rahmen der Wiener Vorlesungen 28.–29. Oktober 1992, hg. von W. Edgar Yates, Wien 1994, S. 31–44; Jürgen Hein: Johann Nestroy und die Parodie im Wiener Volkstheater : Tradition und Modernität, in: Nestroy – Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab, hg. vom Österreichischen Theatermuseum, Wien 2000, S. 27–40.

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bungsoperation[en]«,9 erweisen sie sich als Kunstwerke eigenen Rechts, mehr oder weniger eng verbunden mit dem Prätext, aber eigenständig. Versucht man nun eine allgemeine Annäherung an Phänomene der Parodie zu leisten, dann lässt sich mit Blick auf die historisch wie generisch diversen Erscheinungsformen folgender gemeinsame Nenner herausdestillieren: Parodie changiert zwischen Gattung und Methode, sie funktioniert zuerst einmal nur auf der Basis eines intertextuellen Vorwissens, das Rezipient und Produzent teilen, und sie erfüllt als »autorisierte Transgression«10 Aufgaben, die im Spektrum von Kontrafaktur bis Travestie angesiedelt sind.11 Sie bezieht kritisch Stellung zur imitatio, die sie betreibt,12 insofern hat sie immer auch eine inhärent metapoetische Funktion. Das macht ihre Faszination aus, bedeutet aber, dass sie, gerade als historisches Phänomen, die Rezipienten mitunter vor einige Verständnisprobleme stellt: - Ist es richtig, einen Text oder eine Textpassage ›parodistisch‹ zu lesen, oder supponiert man den Konnex mit einem Prätext, der so gar nicht in Verbindung mit der vermeintlichen Parodie gebracht werden kann? - Darf man prinzipiell jeden Text als »parodieverdächtig[]« lesen?13 - Welche Rolle spielt Komik in der Parodie,14 welche Art von Lachen ist intendiert,15 so denn zum Lachen gereizt werden soll?16 9 Vgl. dazu Jörg Robert: Nachschrift und Gegengesang. Parodie und parodia in der Poetik der Frühen Neuzeit, in: ›Parodia‹ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit, hg. von Reinhold F. Glei/Robert Seidel, Tübingen 2006, S. 52f. (mit Bezug auf Henri Estienne). 10 Jaqueline Berndt: Parodie, in: Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, hg. von Achim Trebeß, Stuttgart/Weimar 2006, S. 288. 11 Theodor Verweyen und Gunther Witting sehen die Parodie im Gegensatz zur Kontrafaktur »in der Komisierung der Vorlage« erschöpft und im Gegensatz zur Travestie durch die stilistische Adaptation ausgezeichnet (Theodor Verweyen/Gunther Witting: Parodie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3., neubearb. Aufl., Bd. 3, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin 2003, S. 23–27, hier S. 24). Die Grenzen sind allerdings fließend, da die Komik im Spannungsfeld von Produktion und Rezeption außerordentlich vielschichtig ist und keinesfalls als poetologische Konstante epochenunabhängige Valenz beweist (zur Problematik von Komik mit Blick auf die mittelalterliche volkssprachige Literatur vgl. z. B. Sebastian Coxon: Laughter and narrative in the later Middle Ages: German comic tales 1350–1525, London 2008). G8rard Genette wiederum verwendet einen sehr engen Parodiebegriff, den er von verwandten Typen wie dem Pastiche, der Travestie oder der Persiflage abgrenzt (vgl. G8rard Genette: Palimpsestes. La litt8rature au second degr8, Paris 1982, dt.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Französ. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993, S. 9–47). 12 Peter Stocker : Parodie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, hg. von Gert Ueding, Darmstadt 2003, Sp. 637–649, hier Sp. 637. 13 Wolfzettel [Anm. 1], S. 306. 14 Zur Komik der Parodie in mittelhochdeutschen Texten vgl. z. B. Ariane Mhamood: Komik als Alternative. Parodistisches Erzählen zwischen Travestie und Kontrafaktur in den ›Virginal‹und ›Rosengarten‹-Versionen sowie in ›Biterolf und Dietleib‹, Trier 2012, S. 15–26.

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- Differiert das intendierte Lachen von einer eventuell in der Vorlage vorgefundenen Komik und wie steht es zu ihr in Bezug? - Wie lässt sich die Parodie metapoetisch, aber auch kulturhistorisch verorten, welche Bedeutung kommt ihr in der intertextuellen Spannung zu, die sie mit ihrem Bezugspunkt, sei es ein Einzeltext oder eine Gattung, erzeugt?17 - Wie ist der rezeptionstheoretische Rahmen der Parodie beschaffen,18 in dem sie sich bewegt und der von den Hörerinnen und Leserinnen per definitionem immer mehr als nur das Erfassen und die Kenntnis des einen Textes verlangt, wenn die Parodie als solche erkannt werden und gelingen soll? Diese Fragen erhalten zusätzliche Virulenz dadurch, dass der Begriff der ›Parodie‹ keineswegs als überzeitlich konstante terminologische Setzung zu verstehen ist. Ebenso wie heute keine einheitliche Begriffsbestimmung vorliegt,19 ist die Parodie durch die Jahrhunderte immer wieder neu akzentuiert und programmatisch verschieden aufgefasst worden: Die lateinischen Rhetoriken übernehmen das griechische Fremdwort bzw. trennen nicht scharf zwischen parodia und imitatio,20 im Mittelalter fehlt der Parodiebegriff in den gängigen Poetiken völlig, ohne dass deshalb das Phänomen als solches unbekannt gewesen wäre, und in der Renaissance-Poetik wird zuerst der Charakter als »Inversions- und Komplementärgattung«21 zu Epos und Drama betont. Besonders der Blick in die betreffenden Lexika im Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert verdeutlicht, wie wenig auch für den Bereich der jüngeren 15 Stocker [Anm. 12], Sp. 638 differenziert z. B. zwischen einer »an sich« komischen Imitation und der satirischen Bezugnahme auf die Vorlage. Generell ist die aptum-Verletzung das zentrale Phänomen der Komisierungsoperation, was von Verweyen/Witting [Anm. 11], S. 23f. als »Untererfüllung und/oder Übererfüllung« der Ansprüche der Vorlage konkretisiert wird. Hinzuzufügen wäre dabei jedoch, dass das aptum nicht nur in der Vorlage, sondern vor allem auch im Auge des Betrachters zu suchen ist. 16 Einen allgemeinen Versuch, die Poetik des Lachens für die mittelhochdeutsche Literatur zu erarbeiten, unternimmt Stefan Seeber : Poetik des Lachens. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen Roman um 1200, Berlin 2010. 17 Robert [Anm. 9], S. 47–66. 18 Vgl. zum besonderen Fall der ironisierten Rezeptionssituation der Parodie die Ausführungen von Margaret A. Rose: Parodie, Intertextualität, Interbildlichkeit, Bielefeld 2006, S. 23. 19 Begriffsbestimmungen bieten neben Verweyen/Witting [Anm. 11] und Genette [Anm. 11] etwa Simon Dentith: Parody, London 2000; für den mittellateinischen Bereich grundlegend Paul Lehmann: Die Parodie im Mittelalter, München 1922, außerdem Martha Bayless: Parody in the Middle Ages. The Latin Tradition, Ann Arbor 1996; für den englischen Bereich, mit dezidiertem Blick auch auf moderne Parodien Louise D’Arcens: Comic Medievalism. Laughing at the Middle Ages, Cambridge 2014. Verweyen hat seine Erlanger Vorlesungen zur Parodie, ergänzt um umfangreiche bibliographische Hinweise, online zur Verfügung gestellt: http://www.erlangerliste.de/vorlesung/parodie_0.html. 20 Stocker [Anm. 12], Sp. 642. 21 Ebd.

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Theorie eine Einheitlichkeit der Parodievorstellung gegeben ist: Johann Georg Sulzer betont 1774 die moralische Gratwanderung der Parodie, die idealiter gegen den »pedantischen Fanatismus« eingesetzt werden kann, de facto aber oft genug hohe Kunst erniedrigt und deshalb den »Leichtsinn« befördert.22 Ignaz Jeitteles geht 1839 in eine ähnliche Richtung, wenn er der Parodie etwas »Neidisches und Verkleinerndes« unterstellt und sie dem »negative[n] Princip« zuordnet.23 Zugleich thematisiert Jeitteles jedoch Fragen der Angemessenheit, also des aptum und der Grenzen und Lizenzen parodistischer Komik, wenn er betont: »Verwerflich sind nur Parodie und Travestie, wenn sie die Gränzen des Lächerlichmachens durch Nachspotten und Verdrehen überschreitend, verletzen«.24 Dadurch wird der Arbeitsrahmen der Parodie als komischer Textsorte im Bereich der allgemeinen Theorie der Komik und des ridiculum angesiedelt, wie es schon in der antiken Konzeption des Harmlosigkeitspostulats angelegt war.25 So erhält die Parodie eine eigene Legitimation als komische Dichtung jenseits des von Sulzer monierten Leichtsinns. Wilhelm Hebenstreits Wörterbuch betont nur vier Jahre nach Jeitteles im Gegenzug, dass Komik zwar häufig mit der Parodie verbunden sei, ihr aber nicht zwingend zugehöre: »Der zur Umgestaltung gewählte Inhalt kann nun zwar ein ernster oder komischer Stoff, mithin auch die Parodie selbst ein ernstes oder komisches Gedicht seyn.«26 Wo Jeitteles aktuelle Verwendungsräume öffnet, konzentriert sich Hebenstreit zudem auf die griechische Vergangenheit, der eigenen Zeit spricht er nur wenige »gelungene Versuche«27 in dieser Hinsicht zu. Bedenkt man zudem, dass mit Jean Pauls ›Vorschule der Ästhetik‹ der Konnex zwischen schaffendem Dichter und Werk als wesentliches Element in die Bestimmung der Parodie einfließt, so erweitert sich das Feld der theoretischen Betrachtung um die »Humoristik des Ich« und wird die Komik der Parodie um den Selbst- und Weltbezug des Autors bereichert sowie mit zusätzlicher Komplexität versehen.28 22 Johann Georg Sulzer : Allgemeine Theorie der schönen Künste. Zweiter Theyl, Leipzig 1774, S. 878f., hier S. 879. 23 Ignaz Jeitteles: Aesthetisches Lexikon enthaltend Kunstphilosophie, Poesie, Poetik, Rhetorik, Musik, Plastik, Graphik, Architektur, Malerei, Theather, Zweiter Band, Wien 1837, S. 167–169, hier S. 168. 24 Ebd., S. 169. 25 Harmlosigkeit als Voraussetzung des Verlachens wird betont etwa bei Aristoteles, Poetik, 1449a, 5 mit Fokus auf die Sache. Cicero, De oratore II, 237 hingegen vollzieht den entscheidenden Perspektivenwechsel und verortet die Harmlosigkeit im Auge des Betrachters, macht sie also vom Publikum, nicht von der Sache selbst, abhängig. 26 Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache, Wien 1843, S. 540f., hier S. 540. 27 Ebd. 28 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5, hg. von Norbert Miller, München 1963, § 34 (Humoristische Subjektivität), S. 136.

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Uns ist es aus diesen Gründen nicht um eine klare Abgrenzung von mittelalterlicher bzw. frühneuzeitlicher gegen neuzeitliche oder antike Parodie zu tun, und wir möchten auch über eine grundsätzliche Basisdefinition hinaus keine endgültige Festlegung dazu treffen, wie Parodie terminologisch zu fassen ist. Der vorliegende Band will stattdessen mit seinen Textanalysen neue Schlaglichter werfen, um das vielschichtige Bild von Parodie und Verkehrung in der Vormoderne zu ergänzen und zu verfeinern. Schwerpunkte liegen dabei auf dem Verhältnis von lateinischer und deutschsprachiger Lyrik, den ›Carmina Burana‹, der mittelhochdeutschen Versepik sowie auf der frühneuzeitlichen Vorredenpoetik im Deutschen und im Englischen. Der Blick soll auf die Differenzen, aber auch die Ähnlichkeiten der Parodiemodelle und -vorstellungen gelenkt werden, wie sie sich in den einzelnen Beispielen zeigen.

II.

Zu den Beiträgen des Bandes

Auf der Basis programmatischer Überlegungen zur Parodie analysiert Nikolaus Henkel die unterschiedlichen Bedingungen und Möglichkeiten parodistischen Schreibens in lateinischer und deutschsprachiger Lyrik des Mittelalters. Ausgehend von der Prämisse, dass Parodie als »Verfahren mit Distanzmarkierung« zugleich ein »kulturelle[r] Akt« ist, der »die Verständigung über die konstituierenden Merkmale parodierender Verfahren« beinhaltet, befasst sich Henkel mit den unterschiedlichen »Verständigungsgemeinschaften« des Latein und der Volkssprache. So liefert die weite Verbreitung und Jahrhunderte überdauernde Bekanntheit der Mariensequenz ›Verbum bonum et suave‹ eigene, spezifisch auf den geistlichen Rezeptionszusammenhang zugeschnittene Parodiemöglichkeiten, während die Parodien auf den Sangspruch Walthers von der Vogelweide (durch Ulrich von Singenberg) und auf die Gattung des Tagelieds (bei Steinmar) unter ganz anderen Verstehensvoraussetzungen entstehen, was den räumlichen und zeitlichen Verbreitungsgrad der Vorlage und ihre Bekanntheit betrifft. Parodie wird damit als literarisches Verfahren erkennbar, das der jeweiligen individuellen Zuspitzung und Vereindeutigung des Verwendungszusammenhanges bedarf, um wirksam zu werden: Übergreifende Theorien, so das Ergebnis, können spezifische Phänomene wie eine Tageliedparodie Steinmars nicht vollständig erfassen. Carmen Cardelle de Hartmann nutzt die sorgfältige Anlage des Codex Buranus durch einen bewusst arbeitenden Redaktor für ihre kontextuelle Analyse.29 Ausgehend von der Vorliebe der Handschrift für die paarweise Über29 Vgl. auch die im selben Kontext stehende Studie: Carmen Cardelle de Hartmann: Parodie in den ›Carmina Burana‹, Zürich 2014.

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nahme von Gedichten aus den Quellen widmet sie sich dem Textpaar 89 und 90 als »parodistischer Nachbarschaft«. Die beiden Texte stehen, so Cardelle de Hartmann, in einem gezielt evozierten parodistischen Sinnzusammenhang, der das zweite Lied als »Gattungskorrektur« des ersten erweist. So gibt der Codex Einblick in das Textverständnis seines Redaktors, dem die Parodie als rezeptionssteuernde Funktion der Textorganisation dient, wobei sich die konsekutivlesende Rezeption als Zielform herauskristallisiert. Seraina Plotke nimmt die Verserzählung ›Helmbrecht‹ Wernhers des Gartenaere in den Blick. Diese in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datierte Reimpaardichtung ist intertextuell vielseitig mit der Literatur der höfischen Klassik verknüpft, sie ruft zentrale Muster des Erzählens sowie Motive epischer wie lyrischer Stofftraditionen der Zeit auf und setzt sich zu ihnen in Beziehung. Plotke dokumentiert, wie ernsthafte Transformation vorgängiger Textmodelle mit spöttischem Spiel zusammengeht, indem Wernher umfassende Verarbeitung einerseits und punktuelle Allusion andererseits kombiniert. Aufgrund der Korrelation von inhaltlicher und stilistischer Parodie wird im ›Helmbrecht‹ letzten Endes eine Mehrstimmigkeit greifbar, die im Oszillieren zwischen den verschiedenen Ebenen der Darstellung und des Stils eine hybride Gesamtkonstruktion erschafft. In zwei thematisch eng miteinander verknüpften Beiträgen beschäftigen sich Stefan Seeber und Eva von Contzen mit den Funktionen der Vorrede für die volkssprachigen Übersetzungen antiker Romane im 16. Jahrhundert. Seeber widmet sich der ›Aithiopika‹-Übertragung Johannes Zschorns (gedruckt 1559), die gängige Vorredentopik der Zeit parodiert: An die Stelle prominenter Widmungsempfänger treten Verwandte des Übersetzers, anstatt poetologischer Reflexion über Wert und Struktur des Werkes finden sich biographische Einlassungen Zschorns. Wie Seeber zeigt, setzt der Text ein metapoetisches Ausrufezeichen: Er entkernt die Vorrede, beraubt sie ihres topischen Erwartungshorizonts und setzt in seiner banalen Reduktion auf biographische Bezüge neue Schwerpunkte – der unvergleichliche spätantike Roman wird gewöhnlich gemacht und so einem Publikum nahegebracht, das mit derartigen Erzähltexten bis dahin nicht vertraut ist, die Art der von Zschorn gepflegten Vorrede aber durchaus kennt, etwa von seinem Zeitgenossen Wickram. Eva von Contzen weitet den Fokus auf englische Übertragungen antiker Epen und Romane. Sie skizziert in einem ersten Schritt die Konventionen der Vorrede anhand von Epen-Übersetzungen des späten 16. Jahrhunderts. Diese auf gravitas und Erhabenheit ausgerichteten Paratexte werden in einem zweiten Schritt mit den Vorreden diverser Liebes- und Abenteuerroman-Übertragungen kontrastiert. Von Contzen arbeitet eine grundlegend parodistische Anlage der betreffenden einleitenden Texte heraus, die apologetischen Charakter hat: Die englischen Übersetzungen werden vorgeblich als ungeschliffen taxiert, allzu

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kritischen Reaktionen soll vorgebeugt werden. Nicht zuletzt wird, so die These, den neu entdeckten antiken Romanen eine »implizite Poetik des Vergnügens« vorangestellt, die rezeptionslenkend wirken will. Deutlich erweist sich in allen Beiträgen, dass es die eine, einzeltextübergreifend gültige Definition der Parodie nicht gibt, mehr noch, dass Parodie als Konzept mittelalterlich wie frühneuzeitlich niemals einheitlich gefasst worden ist.30 Notwendig ist mithin erstens die Analyse der konkreten intertextuellen Relationen, die die jeweilige Parodie ermöglichen und sie determinieren: Denn Parodie ist in ihrer Überbietung und Umkehrung der Vorlage immer als zuerst Abwehrbewegung zum Prätext zu verstehen, den sie mitunter kritisiert oder lächerlich macht.31 Zweitens ist von zentraler Wichtigkeit die Historisierung der Befunde ebenso wie ihre kulturelle Verortung. Insbesondere in der Differenz zwischen lateinischer und volkssprachiger Parodie manifestiert sich, wie Zugriffsmöglichkeiten und Bekanntheitsgrad des Prätexts (und damit die Erfolgsgaranten für die Parodie) von den unterschiedlichsten inner- und außertextlichen Faktoren abhängen, von einer gleichsam einhegenden Rezeptionsgemeinschaft mit ihren Vorstellungen von Literatur und deren Aufgaben ebenso wie von den konkreten medialen Bedingungen der Parodie im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literaturbetrieb. Drittens und letztens ist der Bezug der Parodie auf eine wie auch immer geartete Metaebene der Betrachtung in die Analyse mit einzubeziehen: Wenn etwa frühneuzeitliche Paratexte die zeitgenössische Vorredenpoetik aufs Korn nehmen, wird zugleich eine metapoetische Positionierung erkennbar.

III.

Intertextuell basiertes Lachen

Zentral ist für die Bestimmung der Parodie augenscheinlich das Lächerliche bzw. das Komische, was sich bereits in Basisdefinitionen wie der Paul Lehmanns zeigt: Ich verstehe hier unter Parodien nur solche literarischen Erzeugnisse, die irgendeinen als bekannt vorausgesetzten Text oder – in zweiter Linie – Anschauungen, Sitten und Gebräuche, Vorgänge und Personen scheinbar wahrheitsgetreu, tatsächlich verzerrend,

30 Der Umstand, dass nicht alle Texte, die parodistisch angelegt sind, sich als Parodien kennzeichnen, muss nicht Ausschlusskriterium für eine entsprechende Etikettierung durch die Forschung sein (vgl. dazu Wolfzettel [Anm. 1], S. 305). 31 Vgl. Renate Lachmann: Intertextualität, in: Metzler Lexikon Ästhetik [Anm. 10], S. 185f., hier S. 186 mit der Auffächerung der »drei Modi des Text-Text-Bezugs«, nämlich »Partizipation«, »Abwehr« und »Transformation«.

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umkehrend mit bewußter, beabsichtigter und bemerkbarer Komik, sei es im ganzen, sei es im einzelnen, formal nachahmen oder anführen.32

Diese Zuordnung zum Komischen unterscheidet die Parodie von anderen Formen der Intertextualität und bindet sie zusammen mit Phänomenen wie der Satire. Zwei Dinge sind dabei von besonderem Belang: Erstens Lehmanns Nachdruck auf intendierte Komik, zweitens, als Voraussetzung hierfür, eine genauere Bestimmung dessen, was ›Komik‹ bedeutet. Denn wenn Komik bewusst eingesetzt werden kann, wird damit präsupponiert, dass auch unbewusste Komik denkbar ist, wie man sie aus dem Bereich des Lächerlichen kennt. Terminologisch ist mithin zu differenzieren zwischen dem Lächerlichen und der Komik, so dass nicht pauschal von einer wie auch immer zeitgebundenen »Komisierungsoperation«33 allein auszugehen ist: Bereits seit der antiken Rhetorik wird das Lächerliche bzw. ridiculum als Oberbegriff für Phänomene verwendet, die zum Lachen reizen sollen,34 woraus in der Folge auch eine eigene »Rhetorik des Lächerlichen« destilliert werden kann.35 Getrennt hiervon ist die Komik zu sehen, die seit Jean Pauls ›Vorschule der Ästhetik‹ als ästhetisiertes Lächerliches gleichsam auf einer höheren Ebene der Artifizialität angesiedelt erscheint: Das Komische ist also der Genuß oder die Phantasie und Poesie des ganz für das Freie entbundenen Verstandes […]. Das Komische gleitet ohne Friktionen (Reibungen) der Vernunft und des Herzens vorüber, und der Verstand bewegt sich in einem weiten luftigen Reiche frei umher, ohne sich an etwas zu stoßen.36

Die Parodie selbst verortet Jean Paul, wie bereits angemerkt, nicht im Zusammenhang der Komik, sondern im Kontext der humoristischen Subjektivität, mithin auf der höchsten Bewusstseinsstufe im Umgang mit dem Lächerlichen: »Da im Humor das Ich parodistisch heraustritt […]«.37 Unabhängig von diesem teleologischen Dreischritt Jean Pauls, der im Humor als zentraler Wahrnehmungs- und Wesenskategorie gipfelt, kann die Parodie durchaus alle Register bedienen: Sie kann Lächerliches nutzen, um das Parodierte dem Verlachen preiszugeben, sie kann Komik ausstellen, indem sie sich von der direkten Ridikülisierung löst und ihr Objekt mit mehr Distanz (und damit auch mehr Eigensinn) betrachtet, letztlich kann sie – sobald das Konzept des Humors im 32 Lehmann [Anm. 19], S. 13. 33 Robert [Anm. 9], S. 50 (mit Bezug auf Scaliger). 34 Vgl. dazu grundlegend Mary A. Grant: The Ancient Rhetorical Theories of the Laughable. The Greek Rhetoricians and Cicero, Madison 1924, S. 101f. 35 Vgl. Gert Ueding: Rhetorik des Lächerlichen, in: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, hg. von Lothar Fietz [u. a.], Tübingen 1996, S. 21–36. 36 Jean Paul [Anm. 28], § 30 (Quelle des Vergnügens am Lächerlichen), S. 122. 37 Ebd., § 36 (Humoristische Subjektivität), S. 135.

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neuzeitlichen Sinne etabliert ist –38 auch einer humoristischen Weltsicht zuarbeiten, in die sie eingebettet erscheint. Diese Unterscheidung der Ebenen ergänzt Lehmanns oben aufgeführte Definition von der Parodie als bewusster Ausstellung von Komik. Es ist also notwendig, nicht pauschal von Komik oder Lachen zu sprechen, wenn die Parodie in den Blick genommen wird; im Gegenteil muss die Analyse darum bemüht sein, möglichst differenziert die unterschiedlichen Ebenen der Bezugnahme auf den Prätext zu eruieren, die im Text geboten wird. Auf diese Weise wird auch die ›Halbwertszeit‹ von Parodien leichter dechiffrierbar : Finden sich direkte, allein auf einen spezifischen Prätext bezogene Momente der ausgestellten Lächerlichkeit, so ist davon auszugehen, dass die Parodie zusammen mit ihrem Prätext aus dem Fokus der Aufmerksamkeit des Publikums verschwinden wird. Wenn das Amüsement im ästhetisierten Bereich der Komik im Jean Paulschen Sinne angesiedelt ist,39 erhält das Werk einen Eigenwert über die Preisgabe des Prätextes hinaus, wie dies etwa für Nestroys Parodien gilt, im mittelalterlichen Literaturbetrieb aber auch bei den sogenannten Neidharten zu erkennen ist. In dem mit zunehmender Präsenz durch die Jahrhunderte anschwellenden Œuvre Neidharts40 spielt der konkrete Bezug auf den ursprünglich parodierten Minnesang41 eine immer geringere Rolle. Neidharts Lieder tendieren, besonders in der späten Überlieferung, stärker zur Narrativierung42 und entwickeln ein Eigenleben noch zu einer Zeit, die keine Minnesangüberlieferung mehr kennt. Die Kombination aus ästhetisch anspruchsvoller Gestaltung der Komik in den Liedern und derbem inhaltlichem Spott43 bildet die Basis dieses Erfolges. Sobald 38 Vgl. dazu Stefan Seeber : Medieval Humour? Wolfram’s ›Parzival‹ and the Comic Concept of Middle High German Romances, in: Modern Language Review 109/2 (2014), S. 417–430. 39 Vgl. dazu auch Stocker [Anm. 12], Sp. 640, der zwischen Komisierung der Vorlage und dem »an sich« Komischen unterscheidet. 40 Die umfangreichste Neidhart-Handschrift, c (Berlin, Staatsbibliothek, mgf 779, dort auch als Digitalisat verfügbar), datiert auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, sie ist vollständig ediert in: Neidhart-Lieder : Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, 3 Bände, hg. von Ulrich Müller [u. a.], Berlin/New York 2007. 41 Zur Parodie bei Neidhart vgl. Ulrich Gaier : Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart, Tübingen 1967. Hier ist – wie schon bei Lehmann – die terminologische Anbindung der Parodie an die Satire programmatisch. Vgl. auch, allerdings mit starkem Fokus auf die Überlieferung Neidharts, Ulrich Müller/Ingrid Bennewitz-Behr : Neidharts Lied von der »Derr Plahen« (R 31, c 82, HW 46,28). Ein Beispiel für Satire und Parodie im späten Mittelalter, in: Parodie und Satire in der Literatur des Mittelalters, Greifswald 1989, S. 90–102. 42 Vgl. dazu Jan-Dirk Müller : Auf dem Weg zum Schwank. Der Spiegelraub im Berliner Neidhart, in: Fragen der Liedinterpretation, hg. von Hedda Ragotzky [u. a.], Stuttgart 2001, S. 91–102. 43 Vgl. dazu Seraina Plotke: Neidhart als Spötter – Spott bei Neidhart, in: Spott und Verlachen im Spätmittelalter zwischen Spiel und Gewalt, hg. von Stefan Seeber/Sebastian Coxon, Göttingen 2010, S. 23–34.

Parodie und Verkehrung

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diese Verknüpfung aufgegeben wird und Neidhart eine neue Karriere als Schwankheld beginnt,44 verliert sich seine Spur schnell: Neidhart Fuchs, in erster Linie auf Derbheit und Obszönität setzend, hat kein Alleinstellungsmerkmal, das ihn vor ähnlichen Schwankhelden des 16. Jahrhunderts auszeichnen würde, so dass die Figur bald an Attraktivität einbüßt. Komik45 erweist sich somit als zentraler Schlüssel zur Parodie als intertextuellem Verweisspiel. Wenn Lehmann außerdem betont, dass diese Komik deutlich wahrnehmbar sein muss, hebt er damit hervor, dass wir es mit einem grundlegend rezeptionsästhetischen Phänomen zu tun haben: Denn nur wenn die Komik erkannt wird, erfüllt die Parodie ihren Sinn – sie will zwar mitunter Kritik üben oder verzerrend bloßstellen, dabei aber eben nicht ernst bleiben, sondern den von der Rhetorik allgemein dem Wahrnehmungsbereich der levitas zugeordneten komischen Blick gewährleisten.46 Allein das Erkennen des Verweisspiels und seine Einordnung im lächerlich machenden bzw. komischen Kontext kann dies garantieren, und dem Urheber der Parodie bleibt nur die Möglichkeit, entsprechende Signale, durchaus auch paratextueller Art, zu nutzen, um diese Decodierungsleistung der Rezipienten zu ermöglichen. Ebenfalls im Sinne der Rhetorik macht er sich das lachende Publikum für sein Anliegen gewogen47 und schafft durch die Komik Inklusionsphänomene. So ist die Parodie als ›Literatur zweiter Ordnung‹48 auf kenntnisreiche, literarisch vorgebildete Rezipienten angewiesen, darf aber auch nicht zu sehr ins Detail gehen, um verständlich zu bleiben: Die mögliche Bandbreite der Verweisstrukturen stellen die Beiträge des Sammelbandes exemplarisch aus. Sichtbar werden multiple Stil- und Gattungsparodien mit metapoetischem Mehrwert ebenso wie parodistische Versatzstücke in literarischen Ordnungsverfahren. Das produktive Kapital der Parodie ist, auch dies wird in den ein44 Zur Figur des Neidhart Fuchs vgl. z. B. Ulrich Müller : Zur Lachkultur in der deutschen Literatur des Mittelalters: Neidhart und Neithart Fuchs, in: Laughter Down the Centuries, hg. von Siegfried Jäkel/Asko Timonen, Turku 1994, Bd. 1, S. 161–181. 45 Die Anzahl der Arbeiten zur Komik und zum Lachen im Mittelalter ist Legion. Vgl. neben den bereits genannten Beiträgen etwa auch die Studie: Joachim Suchomski: delectatio und utilitas. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern 1975. Des Weiteren vor allem die Sammelbände: Laughter in the Middle Ages and Early Modern Times: Epistemology of a Fundamental Human Behavior, its Meaning, and Consequences, hg. von Albrecht Classen, Berlin 2010; Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Werner Röcke/ Hans Rudolf Velten, Berlin 2005; Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Anja Grebe/Nikolaus Staubach, Frankfurt a. M. 2005; Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Werner Röcke/Helga Neumann, Paderborn [u. a.] 1999. 46 Vgl. Suchomski [Anm. 45], S. 66–73 (mit Verweis auf die einschlägigen Quellen). 47 Siehe etwa Rhetorica ad Herennium I, 10. 48 Genette [Anm. 11] spricht schon im Titel seiner Studie von »litt8rature au second degr8«.

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zelnen Analysen virulent, untrennbar mit der inhaltlichen wie formalen Unbestimmtheit verbunden, die der Parodie als Gestus und Schreibart eignet. Aus diesen Gründen kann eine Geschichte der Parodie, selbst in kleinsten Genreund Epochengrenzen, immer nur eine kumulative, addierende Arbeit sein, die Einzelbefunde zusammenträgt und im Vergleich der punktuellen Analysen systematische Schlussfolgerungen zu ziehen versucht. Diese Geschichte der Parodie ist kaum abschließend zu behandeln, und sie bleibt in den vielfältigen Bezügen zwischen den einzelnen Texten, den Gattungen, den Literaturen und Sprachen eine Angelegenheit größter Volatilität und metapoetischer Spannung, gerade deshalb, weil das Parodierte unausgesprochen in der Parodie mitschwingt und damit immer eine Aufforderung darstellt, auch zwischen den Zeilen zu lesen.

Nikolaus Henkel

Parodie und parodistische Schreibweise im hohen und späten Mittelalter. Lateinische und deutsche Literatur im Vergleich*

Ich beginne mit drei aus der Gegenwart gezogenen Beispielen literarischer Parodie aus der deutschen Tagespresse. Im September 2006 inszeniert Michael Thalheimer, einer der seinerzeit jüngeren deutschen Regisseure (*1965), am Deutschen Theater in Berlin die Orestie des Aischylos. Blutig geht es in dieser Trilogie zu: Klytämnestra erschlägt gemeinsam mit ihrem Liebhaber ihren aus Troja heimkehrenden Ehemann. Ihr Sohn Orest ermordet unter Mithilfe seiner Schwester seine eigene Mutter und deren Mittäter. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet über diese Inszenierung unter der Überschrift: »Blute nur du böses Herz!«1 Sie ist wenig spezifisch: Zwar geht es in der Orestie auch um Blut und um das Böse, doch bietet die Überschrift keine erschöpfende Kurzfassung der Tragödie. Erst der Untertitel verweist auf Thalheimers Inszenierung. Wozu dann aber die Überschrift »Blute nur, du böses Herz!«? Auffällig sind nur ihre sprachliche Geformtheit durch Alliteration und der alternierende Rhythmus. Im Fundus des kulturellen Wissens findet sich die Lösung: Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion enthält eine Sopranarie, die mit den Worten beginnt: »Blute nur, du liebes Herz!«2 Die Überschrift in der FAZ nutzt einen mehrfachen Effekt, zum einen den der Verfremdung: Der Gegenstand des Artikels hat kaum * Der vorliegende Beitrag wurde vorgetragen auf dem 14th Congress of the International Courtly Literature Society (ICLS) in Lissabon, 22.–27. Juli 2013. Meinen Kollegen Richard Trachsler, Keith Busby, Jean-Claude Mühlethaler, Raymond Cormier danke ich für ihre förderlichen Beiträge, ebenso meiner Kollegin Dorothea Kullmann. 1 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. September 2006, S. 35. Dieses und die beiden folgenden Beispiele entnehme ich den verschiedenen Weihnachtsrätseln, die ich alljährlich für die Studierenden meiner Vorlesungen und Seminare an der Universität Hamburg ausgegeben habe. 2 Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion, hg. von Hans Grischkat, Mainz 1968, Nr. 12, S. 50–54. Es ist eine der typischen das Passionsgeschehen reflektierenden Arien, hier auf den zuvor rezitativisch berichteten Verrat des Judas an seinem Herrn bezogen. Angeredet ist das Herz Jesu: »Blute nur, du liebes Herz! Ach, ein Kind, das du erzogen, das an deiner Brust gesogen, droht den Pfleger zu ermorden, denn es ist zur Schlange worden.« Die dichterischen Texte der Matthäus-Passion stammen von Christian Friedrich Henrici (Pseudonym: Picander, † 1764), der für Bach in seiner Leipziger Zeit der wichtigste Textdichter war.

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etwas mit der Überschrift zu tun; zum andern den der spielerisch sich ereignenden Überraschung, wenn der Leser, aus seinem allgemeinen kulturellen Wissen schöpfend, den verfremdeten Zusammenhang mit Bachs Passions-Arie erkennt. Ein weiteres Beispiel. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet am 30. Januar 2009 über das bittere Ende des Bergbaus im thüringischen Kombinat Mansfeld nach dem Ende der DDR, wodurch viele Tausende Arbeitsplätze verlorengingen. Das beigegebene Photo zeigt einen verwaisten Förderturm und hat die Unterschrift: »Ihr, die ihr hier einfahrt, lasst alle Hoffnung fahren!«3 Aus dem Fachwortschatz des Bergbaus stammt das Wort »einfahren«; die Funktion der persönlichen Anrede »Ihr, die ihr hier einfahrt« könnte auf die Bergleute bezogen sein, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Allerdings scheint das stilistische Pathos des Satzes nicht recht zur Nüchternheit des Sachverhalts zu passen, der hier bezeichnet werden soll. Bei Kenntnis des literarischen Bezugspunkts, den die Bildunterschrift parodiert, klärt sich die Sache. Es handelt sich um ein leicht abgewandeltes Zitat aus Dantes ›Commedia‹. Das Tor zur Hölle im dritten Gesang des Inferno trägt eine Inschrift, deren letzter Vers lautet: lascate ogni speranza, voi ch’ entrate.4 »Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr eintretet.« Erst im Rekurs auf dieses Dante-Zitat, beziehungsweise seine Übersetzung, erschließt sich die Aussage der Bildunterschrift in der FAZ in ihrer doppelbödigen Dimension. Und das dritte Beispiel: Im Spätsommer 2008 zeigte das Russische Museum in St. Petersburg die auch international beachtete Ausstellung »Die Gewalt des Wassers«. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet darüber unter der Überschrift: »Ertrinken, versinken, unbewusst, höchste Lust«.5 Die Faszination des Ausstellungthemas und seiner künstlerischen Manifestationen ist hier ins Wort gefasst, wenngleich von einem seltsam exzentrischen Punkt, der Aufmerksamkeit schaffen soll, doch ist das nicht alles. Ganz offensichtlich rechnet die Feuilleton-Redaktion damit, dass die Leserinnen und Leser – oder doch einige von ihnen – den Intertext der Überschrift kennen: Es sind Isoldes letzte Worte vor ihrem Liebestod, mit denen Wagners ›Tristan‹ schließt: »ertrinken, / versinken –, / unbewußt –, / höchste Lust!« Und in der musikalischen Gestaltung dieser Worte nimmt Wagner die ›Tristan‹-Harmonik des Vorspiels wieder auf.6

3 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Januar 2009, S. 37. 4 Dante Alighieri: Tutte le opere. A cura di Fredi Chiappelli, Milano 1965, Inferno, Canto III, V. 9, S. 12. 5 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. September 2008, S. 35. 6 Richard Wagner, ›Tristan‹ III,3, in: Richard Wagner : Die Musikdramen, München 1971, S. 384.

Parodie und parodistische Schreibweise im Mittelalter

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I. Damit sind wir mitten im Thema Parodie. Es ist hier nicht der Ort, die zahllosen Definitionen gegeneinander aufzuwiegen, um ihnen schließlich eine weitere, am besten in einem einzigen komplizierten Satz, hinzuzufügen. Das leisten die einschlägigen Handbücher und Themenbeiträge.7 Auch die inhalts- und wirkungsbezogenen Unterscheidungen zwischen komisch/scherzhaft/spielerisch/ verlachend und ernsthaft/kritisch/persiflierend, wie sie seit der Aufklärung diskutiert wurden, bleiben hier außer Betracht.8 Dabei wird auch öfter die Frage aufgeworfen, ob Parodie nicht als Gattung aufzufassen sei, so etwa von Beate Müller, die einen Ausgleich sucht und der Parodie »sowohl Gattungs- als auch Schreibweisencharakter« zusprechen möchte, indem man unter ›Schreibweise‹ das Instrumentarium parodistischer Techniken versteht, das dann, wenn es in einem Text zum dominanten Merkmal wird, diesen Text zu einer Parodie im Gattungssinn macht. Eine solche (gattungshafte) Parodie zeichnet sich durch eine Art doppelter Gattungszugehörigkeit aus, da sie zum einen zur Reihe

7 Ich nenne hier nur einige für die folgenden Ausführungen wichtige Titel. Theodor Verweyen: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur, Darmstadt 1979; Paul Lehmann: Die Parodie im Mittelalter, München 1922. Die Edition der einschlägigen Texte zur Untersuchung ist als Anhang beigegeben, aber auch selbständig gedruckt: Parodistische Texte. Beispiele zur lateinischen Parodie im Mittelalter, hg. von Paul Lehmann, München 1923; Fidel Rädle: Zu den Bedingungen der Parodie in der lateinischen Literatur des hohen Mittelalters, in: Literaturparodie in Antike und Mittelalter, hg. von Wolfram Ax/Reinhold F. Glei, Trier, 1993, S. 171–185; Martha Bayless: Parody in the Middle Ages. The Latin Tradition, Ann Arbour 1996; Carmen Cardelle de Hartmann: Parodie in den Carmina Burana, Zürich 2014. 8 Siehe dazu etwa Verweyen [Anm. 7]. Eine Übersicht über ältere Definitionsversuche gibt Winfried Freund: Die literarische Parodie, Stuttgart 1981, S. 6–14; eine Weiterführung der Definitionsversuche in die neuere Forschung bietet Cardelle de Hartmann [Anm. 7], S. 17–28. Beispiele für solche ›einsätzigen‹ Definitionen bieten etwa Lehmann, Parodie im Mittelalter [Anm. 7], S. 13: »Ich verstehe hier unter Parodie nur solche literarischen Zeugnisse, die irgendeinen als bekannt vorausgesetzten Text oder – in zweiter Linie – Anschauungen, Sitten und Gebräuche, Vorgänge und Personen scheinbar wahrheitsgetreu, tatsächlich verzerrend, umkehrend und mit bewußter, beabsichtigter und bemerkbarer Komik, sei es im ganzen, sei es im einzelnen, formal nachahmen oder anführen.«; Freund, Die literarische Parodie (s. o.) unterscheidet die »seriöse Parodie«, deren Kennzeichen die »kritisch-negierende Auseinandersetzung« sei, von der »trivialen Parodie«: »Ihr Hauptziel ist die gelegentlich bis zum Klamauk vergröbernde Belustigung.« (S. 14f.); weiterhin Margaret A. Rose: Defining Parody, in: The Southern Review 13 (1980), S. 8: »the critical refunctioning of performed literary material with comic effect«; Linda Hutcheon: A Theory of Parody : The Teaching of twentiethCentury Art Forms, New York 1985, S. 101: »repetition with critical distance«; Bayless [Anm. 7], S. 5 zur Parodie: »With regard to satire, I shall define it simply as any form of literature, in verse or prose, which ridicules vice or folly. As parody is a ridiculing composition of a particular type, it can justly be considered a subgenre of satire.«

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der Parodien, zum andern aber – rein formal gesehen – auch zur Gattung des Parodierten gehört.9

Ich halte diesen Kompromiss für wenig tragfähig, denn es würde mit dieser Auffassung Parodie auf einer Ebene neben Drama, Lyrik, Roman, Novelle, Hörspiel, Film etc. stehen, was nach meiner Auffassung problematisch ist. Sinnvoller erscheint mir, Parodie als prozesshaftes Verfahren aufzufassen, das in durchaus verschiedenen Feldern und medialen Erscheinungsformen von Kultur zu beobachten ist. Bezogen – und verengt (!)10 – auf die Welt der Texte würde das bedeuten, Parodie als Schreibweise, 8criture oder mode aufzufassen, als ein Verfahren, das sich unterschiedlicher Gattungen und Textsysteme bedienen kann, als »8criture de connotation«, wie es Claude Abastado formuliert,11 oder so wie Theodor Verweyen und Gunther Witting in einem neueren Beitrag sie definieren: nicht als »Gattung«, sondern als ein »in unterschiedlichen Medien vorkommendes Verfahren distanzierender Imitation von Merkmalen eines Einzelwerks, einer Werkgruppe oder ihres Stils.«12 Parodie als Verfahren mit Distanzmarkierung: Das scheint mir ein geeigneter Zugang zum Thema zu sein. Dass mit dieser Definition auch zentrale Aspekte von Intertextualität13 aufgerufen sind wie auch von Intermedialiät,14 liegt auf der Hand, ebenso kann zum Zug kommen der Palimpsest-Begriff G8rard Genettes.15 Damit ist ein möglichst umfassender, nicht mehr klar abgezirkelter Aspekt von Parodie gewonnen, der sowohl die Handhabung im Sinne einer parodistischen Schreibweise16 als auch 9 Beate Müller : Komische Intertextualität. Die literarische Parodie, Trier 1994, S. 31–49, das Zitat S. 48f. 10 Es scheint mir wichtig, im Blick zu behalten, dass Parodie als umfassender kultureller Gestus aufzufassen ist, der sich u. a. auch auf Gestisch-Mimisches, auf Sprache und Aussprache, auch auf die Bildenden Künste, auf Musik und Theater erstrecken kann. 11 Claude Abastado: Situation de la parodie, in: Cahiers du 20e siHcle 6 (1976), S. 9–37, hier S. 31. 12 Theodor Verweyen/Gunther Witting: Parodie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3., neubearb. Aufl., Bd. 3, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin 2003, S. 23–27, hier S. 23. 13 Manfred Pfister : Konzepte der Intertextualität, in: Intertextualität. Formen, Funktionen. Anglistische Fallstudien, hg. von Hermann Broich/Manfred Pfister, Tübingen 1985, S. 1–30; Intertextuality, hg. von Heinrich F. Plett, Berlin/New York 1991 (siehe in diesem Band besonders die Beiträge von: Heinrich F. Plett: Intertextualities, S. 3–29; Wolfgang Karrer : Titles and Mottoes as Intertextual Devices, S. 122–134; Linda Hutcheon: The Politics of Postmodern Parody, S. 225–236, sowie Hans-Peter Mai: Intertextual Theory – A Bibliography, S. 237–250). Siehe auch Beate Müller [Anm. 9]. 14 Siehe zusammenfassend Irina O. Rajewsky : Intermedialität, Tübingen/Basel 2002. 15 G8rard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993; siehe dazu auch Meinhard Winkgens: Palimpsest, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning, 4., akt. und erw. Aufl. Stuttgart/Weimar 2008, S. 554f. 16 Gemeint ist mit Schreibweise ein systematischer Begriff, der dem historischen Begriff der Gattung gegenübergestellt wird, siehe dazu Klaus W. Hempfer : Gattungstheorie, München

Parodie und parodistische Schreibweise im Mittelalter

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die Erscheinung in unterschiedlichen medialen Präsenzformen umfasst. Man könnte sogar für ein solch umfassendes Konzept von Parodie den von Umberto Eco geprägten und ungemein anschaulichen Begriff des »termine ombrello« oder, noch umfassender : »termine ombrellone« verwenden, eines umfassenden »Schirm-Begriffs«.17 In einer solchen weiten Auffassung von Parodie, die neben Schrift und Literatur auch andere mediale Präsenzformen von Kultur umfasst, sind zusammenfassende Definitionen nicht mehr sinnvoll. Wichtig und zielführend erscheint mir bei einer Auffassung von Parodie als kulturellem Akt die Verständigung über die konstituierenden Merkmale parodierender Verfahren zu sein. Als solche schlage ich vor: - Parodie ist abhängig vom historischen Ort und vom gesellschaftlichen und bildungsgeschichtlichen Umfeld, in dem sie entsteht und rezipiert wird, also hinsichtlich ihrer Hervorbringung wie auch ihrer Wahrnehmung. - Das Verstehen von Parodie über größere Zeiträume hinweg setzt beim Rezipienten die möglichst weitgehende Kenntnis der Entstehungsumstände voraus; gleichwohl ist die Wahrnehmung von Parodie über eine historische Distanz stets durch den Verlust kultureller Bezugsfelder gefährdet. - Parodie setzt in der Verfertigung wie auch in der Rezeption einen festen und gesicherten Bestand an kulturellem Wissen voraus, das es ermöglicht, die Differenz zwischen Parodiertem und Parodie wahrzunehmen. Wer etwa die Zeitungsüberschrift »Blute nur, du böses Herz!« liest und Bachs Matthäuspassion nicht kennt, nimmt auch die Parodie der Arie in der Überschrift nicht wahr ; für ihn existiert diese Parodie überhaupt nicht. - Daraus können wir ableiten: Bei der Parodie geht es also nicht nur um das »Verfahren distanzierender Imitation« (Verweyen/Witting), also um die Erzeugung der Parodie, sondern in gleichem Maße um die intellektuelle Fähigkeit ihrer Wahrnehmung. Nur durch die Wahrnehmung der distanzierenden Differenz wird Parodie erst eigentlich existent.18

1973; ders.: Schreibweise 2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3., neubearb. Aufl., Bd. 3, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin 2003, S. 391–393, bes. S. 392. 17 Umberto Eco: Apocalittici e integrati. Comunicazioni di massa e teoria della cultura di massa, Milano, 9. Aufl. 1990, S. 24 (auch deutsch unter dem Titel: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt a. M. 1992). 18 Das gilt natürlich in gleicher Weise für das Phänomen von Intertextualität allgemein, zu der Plett (Intertextualities [Anm. 13], S. 15) bemerkt: »The receiver, i. e. listener or reader, who comes across a quotation text, may either notice the quotations or he may not. If he overlooks them, the text misses its purpose which consists in opening up dialogues between pre-texts and quotation texts.« Siehe hierzu auch Rädle [Anm. 7], S. 176–179.

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- Parodie ist ein Spiel von ›Wissenden‹ mit ihrem zeittypischen und gruppenspezifischen kulturellen Wissen. Wer dieses Wissen nicht besitzt, hat nicht teil an diesem Spiel. Literatur ist in diesem Zusammenhang freilich nur e i n Segment von Kultur und kulturellem Wissen unter einer Vielzahl anderer. - Parodie besitzt daher eine exkludierende Wirkung, sie hat einen exklusivelitären und gruppenkonstituierenden Charakter. Dieser exkludierende, ja exklusiv-elitäre Charakter von Parodie ist die Grundbedingung für das intellektuelle Vergnügen an der Parodie. Parodie stiftet so Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Wissenden. Damit komme ich zur Sache.

II. Das lateinische Mittelalter beruht auf einer das ganze westliche Europa umfassenden Verständigungsgemeinschaft derjenigen, die eine Kloster- oder Domschule besucht haben und die das Lateinische beherrschen als Medium der Traditionsüberlieferung wie auch der aktuellen schriftlichen und mündlichen Kommunikation. Latein als Sprache der litterati, also der intellektuellen Eliten, grenzt sich damit ab von dem Kommunikationsinstrument der sie umgebenden und zeitgleichen Volkssprachen der illitterati.19 Der Zugang der illitterati zur Schriftlichkeit ist ein Akt sekundärer Aneignung und wird gebahnt durch die in der Schriftlichkeit Beheimateten, die litterati. Exklusiv, das meint: andere ausschließend wie die Bildungswelt der litterati insgesamt, ist auch der Umgang mit der Parodie. Ich greife einige Beispiele heraus. Aus dem 11. Jahrhundert stammt die Mariensequenz ›Verbum bonum et suave‹.20 Sie preist, leitmotivisch am Ave des Engelsgrußes orientiert, in drei regelmäßig gebauten gereimten Doppelversikeln die jungfräuliche Gottesmutter 19 Siehe dazu Nikolaus Henkel: Litteratus – illitteratus. Bildungsgeschichtliche Grundvoraussetzungen bei der Entstehung der höfischen Epik in Deutschland, in: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, Bd. 9, München 1991, S. 334–345; Martin Kintzinger : Bildungsgeschichte in der Wissensgesellschaft? Historische Forschung zur Geschichte der Bildung und des Wissens im Mittelalter, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 6 (2000), S. 299–316. Siehe auch die Untersuchung zur intellektuellen Elite im antiken Rom: William A. Johnson: Readers and Reading Culture in the High Roman Empire. A Study of Elite Communities, Oxford 2012. 20 Text: Analecta hymnica medii aevi, hg. von Clemens Blume/Henry Mariott Bannister, Bd. 54, Leipzig 1915, Nr. 216, S. 343; Text auch in: A Primer of Medieval Latin. An Anthology of Prose and Poetry, hg. von Charles H. Beeson, Folkestone 1973, S. 349f. Alle Übersetzungen sind hier und im Folgenden die des Verfassers. Wie beliebt diese Mariensequenz war, zeigt die Tatsache, dass etwa 15 weitere geistliche Dichtungen des späteren Mittelalters mit den Worten Verbum bonum beginnen, s. Analecta hymnica, Register Bd. 2, Bern/München 1978, S. 965f.

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als die, die den Erlöser der Menschheit, Jesus, zur Welt gebracht hat, und mündet in ein Gebet, Maria möge die Sünder ihrem Sohn anempfehlen. 1. Verbum bonum et suave Personemus, illud Ave, Per quod Christi fit conclave Virgo, mater, filia;

Lasst uns das gute, das süße Wort laut verkünden, jenes Ave, durch das eine Jungfrau, Mutter, Tochter zur Wohnung Christi wird.

2. Per quod Ave salutata Mox concepit fecundata Virgo, David stirpe nata, Inter spinas lilia.

Durch dieses Ave gegrüßt hat sie alsbald empfangen und wurde schwanger, sie, die Jungfrau aus dem Stamme David, eine Lilie unter Dornen.

3. Ave, veri Salomonis Mater, vellus Gedeonis, Cuius magi tribus donis Laudant puerperium;

Ave, sei gegrüßt, des wahren Salomo (= Christus) Mutter, Vlies Gideons, deren Niederkunft die Weisen mit dreierlei Gaben loben.

4. Ave, solem genuisti, Ave, prolem protulisti, Mundo lapso contulisti Vitam et imperium.

Ave, du hast die Sonne geboren (= Christus) Ave, du hast einen Sohn hervorgebracht und der in Sünde gefallenen Welt Leben und die Herrschaft geschaffen.

5. Ave, mater verbi summi, Maris portus, signum dumi, Aromatum virga fumi, Angelorum domina;

Ave, du Mutter des höchsten (göttlichen) Wortes, du Hafen des Meeres, du Zeichen des Dornbusches, Räucherzweig der Wohlgerüche und Herrin der Engel.

6. Supplicamus, nos emenda, Emendatos nos commenda Tuo nato ad habenda Sempiterna gaudia. Alleluia. Amen.

Wir bitten dich, hilf uns zu unserer Besserung, und wenn wir gebessert sind, empfiehl uns deinem Sohn, auf dass wir ewige Freude empfangen. Alleluja. Amen.

Das in den Anfangsworten aufgerufene gute und liebliche »Wort« ist das Ave des Verkündigungsengels, der der jungfräulichen Maria ihre Erwähltheit als Mutter des Gottessohnes ansagt. Dieses Ave ist auch das anaphorisch immer wieder aufgenommene Leitwort der gesamten Sequenz, die mehrere der geläufigen Bilder aufruft: das Vlies des Gideon (vellus Gedeonis, 3,2), die Gaben der drei Könige, Maria als Hafen, als brennender Dornbusch (signum dumi, 5,2), als Lilie unter Dornen (inter spinas lilia, 2,4).21 Die Sequenz mündet im sechsten Versikel 21 Siehe zu dieser und den folgenden Bildformeln die umfangreiche Sammlung von Anselm Salzer : Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und der lateinischen

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in ein Gebet der Gemeinschaft der Gläubigen: supplicamus, nos emenda, Maria möge die betende – und singende – Gemeinschaft bessern (nos emenda, 6,1) und ihrem Sohn anempfehlen, damit er sie zur Freude des ewigen Lebens führe: ad sempiterna gaudia. Der Verfasser von Text und Melodie dieser auch literarisch formvollendeten Sequenz ist nicht bekannt, ihre Wirkung aber ist im ganzen westlichen Europa seit dem 11. Jahrhundert zu beobachten. Überliefert ist sie in rund 180 gegenwärtig noch erhaltenen Handschriften, die ausnahmslos dem liturgischen Gebrauch entstammen: Missalien, Gradualien, Tropare etc.; ebenso in zahlreichen Druckausgaben liturgischer Bücher.22 Gesungen wurde diese Sequenz regelmäßig in der Liturgie der Marienfeste. Später haben Adrian Willaert (um 1490–1562) an San Marco in Venedig und andere diese Sequenz in mehrstimmigen Sätzen zum weiteren Gebrauch in der Messe vertont. Die weite europäische Verbreitung und der beständige liturgische Gebrauch seit dem 11. Jahrhundert erfüllen zwei notwendige Bedingungen für das Verfahren der Parodie, zum einen: die Sequenz gehört zum verfügbaren kulturellen Besitz, zum andern: sie ist exklusiv, ausgerichtet allein auf den weltlichen und monastischen Klerus, der am lateinischen liturgischen Gesang teilhat. Seit dem 12. Jahrhundert, also bald, nachdem die Sequenz in allgemeinen Gebrauch überging, ist eine Parodie in mehreren Fassungen überliefert.23

Hymnenpoesie des Mittelalters mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literar-historische Studie. Nachdruck aus den Programmen des Obergymnasiums Seitenstetten 1886–1894, Darmstadt 1967, hier S. 40–42 (vellus Gedeonis), 157f. sowie 505 (virga aromatum), 162–168 (lilium) u. ö., s. Register. Ergänzend die einschlägigen Artikel im Marienlexikon, hg. von Remigius Bäumer/Leo Scheffczyk, 6 Bde., St. Ottilien 1988–1994, s.v. Dornbusch, Gideon, Lilie. 22 Eine umfangreiche Zusammenstellung der Überlieferung, geordnet nach den europäischen Ländern, bietet die Ausgabe in den Analecta hymnica 54 [Anm. 20], S. 343–345. Die reiche Überlieferung in Missalien aus dem gesamten westeuropäischen Kulturraum verzeichnet Ulysse Chevalier : Repertorium hymnologicum, Bd. 2, Louvain 1897, Nr. 21343. 23 Der folgende Text nach Beeson [Anm. 20], S. 375. Drei weitere Texte sind ediert von Ed8lestand du Meril, Po8sies populaires latines du moyen .ge, Paris 1847 (Nachdruck GenHve 1977), S. 204f. Siehe auch Hans Walther, Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris latinorum, 2., durchges. Aufl., Göttingen 1969, Nr. 20365 mit Angaben mehrerer Überlieferungszeugen und weiterer Textabdrucke. Bislang ist die Textgeschichte nicht untersucht. Der Prozess der Fassungsbildung dürfte aber plausibel rekonstruierbar sein: Wer die Parodie kannte und nutzte, war frei, an jeder Stelle außer an der Kennmarke des Initiums und der sangbaren Form Änderungen einbringen, die der jeweiligen Situation passend erschienen und/oder den Witz der Parodie zu steigern versprachen; dazu auch weiter unten.

Parodie und parodistische Schreibweise im Mittelalter

1. Vinum bonum et suave, Bonis bonum, pravis prave, Cunctis dulcis sopor, Ave Mundana laetitia.

Guter und süßer Wein: gut den Guten, schlecht den Schlechten allen ein süßer Rausch: Sei gegrüßt, du irdische Lust.

2. Ave, felix creatura Quam produxit vitis pura Omnis mensa fit secura In tua presentia.

Ave, glückselige Schöpfung [= der Wein], welche die reine Rebe hervorgebracht hat. jeder Tisch/jedes Mahl wird fröhlich in deiner Gegenwart.

3. Felix venter quem intrabis,24 Felix os quod tu rigabis, Felix lingua quam lavabis, Et beata labia.

Selig der Leib, in den du eintrittst, selig der Mund, den du feuchtest, selig die Zunge, die du benetzt, und selig die Lippen.

4. O quam felix in colore, O quam fragrans in odore O quam placens es in ore, Dulce linguae vinculum.

O wie herrlich bist du in der Farbe, o wie duftend im Bukett, o wie gefällig bist du im Munde, du liebliche Fessel der Zunge.

5. Supplicamus, hic abunda, Omnis turba sit facunda,25 Ut cum voce nos iucunda Personemus gaudia.

Wir bitten, ströme hier im Überfluss; unsere ganze Schar sei so beredt, dass wir mit gefälliger Stimme laut unsere Freude verkünden.

6. Monachorum grex devotus, Clerus omnis, mundus totus, Bibunt adaequales potus Et nunc et in saecula.

Die fromme Schar der Mönche, der gesamte Klerus, ja der ganze Erdkreis, sie alle trinken den Trank, der alle gleichmacht, jetzt und in alle Ewigkeit.

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In der geistlichen Fassung der Sequenz betet im letzten Versikel die fromme Schar der Mönche und Kleriker um Erlösung. Hier, in der Parodie, ist die Schar der hingebungsvollen Trinker, ja die ganze Welt einbezogen, endend mit der liturgischen Gebetsformel: et nunc et in saecula. 24 Vgl. den Engelsgruß (Lc 1,42): benedictus fructus ventris tui; oder später : beatus venter, qui te portavit. (Lc 11,27b), auch gesungen als Antiphon an Weihnachten bzw. zu Epiphanias (siehe Ren8-Jean Hesbert: Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, Rom 1968, Nr. 1668); ebenso als Antiphon gesungen wird auch die alttestamentliche Prophetie in Ps 131,11: de fructu ventris tui ponam super sedem tuam (siehe Hesbert, ebd., Nr. 2106; dazu die Handschriftennachweise unter : http://cantus.uwaterloo.ca/id/002106). 25 Denkbar wäre auch, dass die ursprüngliche Lesart lautete: fit facunda »die versammelte Menge wird (plötzlich) beredt«, wie beim Pfingstwunder der Apostelgeschichte, das die Umherstehenden auf den Genuss süßen Weins zurückführen: alii autem inridentes dicebant / quia musto pleni sunt ist (Act 2,13).

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Das Loblied auf den Wein und das gemeinsame Trinken übernimmt exakt die Form der Mariensequenz; es wird auch auf die gleiche Melodie gesungen wie sein geistliches Vorbild. Hinzu kommt ein wesentliches Merkmal: Parodie ist hier nicht nur eine Sache des Bezugs auf der Ebene des Worts, der Texte, sondern auch der gemeinsam inszenierten musikalischen Präsenz und des ritualisierten Vollzugs, darin durchaus vergleichbar mit der Messe. Sie ist, in der Tat, mehrfach innerhalb von Messparodien (Missae potatorum) überliefert.26 Anders als die mit nur geringen Abweichungen überlieferte Mariensequenz zeigt deren Parodierung eine Fülle von offenbar jeweils ad hoc vorgenommenen Veränderungen und Fassungen. Davon möchte ich nur eine anhand des ersten Versikels vorstellen.27 Statt Vinum bonum et suave / bonis bonum, pravis prave / cunctis dulcis sopor, ave / Mundana laetitia heißt es hier :28 Vinum bonum cum sapore Bibit abbas cum priore Et conventus de peiore Bibit cum tristitia.

Den guten Wein trinkt mit Kennerschaft der Abt mit dem Prior, der Konvent jedoch trinkt vom schlechteren Wein unter Trauer.

Das Interesse hinter dieser Fassung dürfte deutlich sein: Hier war ein Bearbeiter am Werk, der als Mitglied eines Mönchskonvents die ihm bereits vorliegende Parodie umschreibt, um Klage darüber zu führen, dass die Leitung seines Klosters, Abt und Prior, die besseren Kreszenzen für sich behält, während sich der Rest des Konvents mit Wein minderer Qualität zu begnügen hat. Für den Gestaltungsspielraum, den diese Parodie bot, gilt, was Martha Bayless anhand eines anderen Falls festgestellt hat. Sie bezieht sich auf den in zwölf Handschriften überlieferten und dort mehrfach als ›Evangelium secundum marcas argenti‹ bezeichneten Text, das ›Mark-Silber-Evangelium‹ (›MoneyGospel‹). Bayless bemerkt dazu: »These twelve manuscripts of the Money-gospel, although virtually identical in plot, are so different in phrasing that collating them into a single edition can only be justified on the grounds that to print all twelve separately would try the reader’s patience too greatly.«29 In der Vielfalt der Textvarianten erkennt Bayless jedoch lediglich ein Problem 26 Siehe Lehmann, Parodistische Texte [Anm. 7], S. 63f.; Bayless [Anm. 7], S. 339. 27 Walther [Anm. 23], Nr. 20365. Siehe auch Lehmann, Parodie [Anm. 7], S. 176 sowie ders., Parodistische Texte [Anm. 7], S. 63. 28 Aus dem Codex 71 der Stiftsbibliothek Halberstadt (15. Jh.), wo diese Fassung innerhalb einer Messparodie (Missa potatorum) steht; vorangeht der Alleluja-Tropus Rorate coeli desuper […] es folgt eine Evangelienparodie (Sequencia ewangelii secundum Bachum. In illo tempore potatores loquebantur ad invicem). Text: Wilhelm Wattenbach: Aus einer Halberstädter Handschrift, in: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 25 (1878), Sp. 313–320, hier Sp. 317f. Weitere Fassung, gleichfalls in Trinkermessen integriert: Wattenbach ebd., 15 (1868), Sp. 135; Bayless [Anm. 7], S. 339; Lehmann, Parodie [Anm. 7], S. 176f.; ders., Parodistische Texte [Anm. 7], S. 63f. 29 Bayless [Anm. 7], S. 322.

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der Textkritik und der Editionspraxis. Im Grunde genommen liegt hier aber ein Phänomen vor, das für das Verfahren des Parodierens von ganz grundsätzlicher Bedeutung ist: Wer eine bereits existente Parodie nutzt – aufführend oder abschreibend – kann stets die Gelegenheit zu einer eigenen Gestaltung nutzen, etwa zur Schärfung des parodistischen Profils. In solchen Vorgängen der Reformulierung können neue Akzente gesetzt werden, in jedem Fall tritt aber die neue Fassung in ein konkurrierendes Verhältnis im Sinne einer Aemulatio gegenüber der vorgängigen Parodiefassung. Veränderbarkeit ist also gewissermaßen das typische ›Markenzeichen‹ von Parodie und ihrer Handhabung. Das, was parodiert wird hingegen – sei es die als Beispiel herangezogene Mariensequenz, die Liturgie, die Bibel –, bleibt von verlässlicher Konstanz. Welches ist die Lebenswirklichkeit solcher Parodien? Wo sind Ort und Gelegenheit, bei denen solch eine Parodie gesungen werden konnte? Sicherlich ist es der grex monachorum, die Schar der frommen Mönche und Kleriker, ebenso litterat gebildete Fahrende vom Typ des Archipoeta, die diese Parodie anstimmen, wenn sie im Refektorium oder im Wirtshaus beim Wein sitzen.30 Mögen auch illitterate Laien dabei sein: Den parodistischen Charakter genießen nur die Wissenden.31 Dem heutigen Betrachter will solch ein parodierender Umgang mit einem Stück der heiligen Messe blasphemisch erscheinen, nicht so in der mittelalterlichen Bewertung, wo das geistvolle Spiel mit dem Heiligen durchaus ein Teil des kulturellen Habitus der intellektuellen Elite ist. Das zeigt ein Beispiel aus der Handschriftenüberlieferung, auf das mich Felix Heinzer aufmerksam gemacht hat: Es handelt sich um eines der kostbaren liturgischen Bücher der Benediktinerabtei Lorch im nördlichen Württemberg, ein Antiphonar.32 Es bietet, der Gattung entsprechend, auf der kostbar ausgestatteten ersten Seite die Vesper zum ersten Advent. Auf das Rorate celi folgt die an diesem Tag zu singende Antiphon zum ›Magnificat‹ Ecce nomen domini venit de longinquo, et claritas 30 Siehe auch Cardelle de Hartmann [Anm. 7]. 31 Das gilt etwa auch für das (lateinische) Humanistendrama vom Verlorenen Sohn (›Acolastus‹) von 1576, das anlässlich eines Trinkgelages vermerkt, dass hier der Chor eine Gesangseinlage bieten soll: cantilenam sumptam ex Horlando. Gemeint ist die mehrstimmige Vertonung einer Parodie von ›Verbum bonum‹ durch Orlando di Lasso, die in Nürnberg 1568 zum ersten Mal gedruckt worden war. Siehe dazu Fidel Rädle: Über mittelalterliche lyrische Formen im neulateinischen Drama, in: Litterae medii aevi. Festschrift für Johanne Autenrieth, hg. von Michael Borgolte/Herrad Spilling, Sigmaringen 1988, S. 340–362, hier S. 349f.; aufgenommen auch von Christel Meier : Sakralität und Komik im lateinischen Drama der Frühen Neuzeit, in: Risus sacer – sacrum risibile. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel, hg. von Katja Gvozdeva/Werner Röcke, Bern/Berlin 2009, S. 163–184, hier S. 173f. 32 Stuttgart, Württembergischen Landesbibliothek, Cod. mus. I 28 63, f. 1r ; Abbildung in: 900 Jahre Kloster Lorch. Eine staufische Gründung vom Aufbruch zur Reform, hg. von Felix Heinzer/Robert Kretzschmar/Peter Rückert, Stuttgart 2004, Tf. 63.

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eius replet orbem terrarum (»Siehe der Name des Herrn kommt von ferne und sein Glanz erfüllt den Erdkreis«). Am unteren Blattrand interessieren uns zwei mit verschlungenen Spruchbändern ausgestattete Szenen, links eine weltliche Person und ein Benediktiner, die ein Tauschgeschäft vorhaben: eine Wurst frisch vom Rost gegen einen Schluck Wein, dazu das Spruchband Löschst du mir den turst / So gib ich dir die wurst. Rechts ein eilig, in großen Schritten sich entfernender Mönch, einen Gegenstand auf der einen Schulter und einen Weinschlauch über die andere gehängt. Links von diesem Mönch das Spruchband: Vinum bonum et suave / personemus illud ave etc. Was wir bis hierher an einem Beispiel geistlich-musikalischer Dichtung beobachtet haben, soll noch an wenigen Beispielen aus dem Bereich der Messliturgie der Kirche sowie des Breviers vertieft werden. Mit tagespezifischen Abweichungen bietet die Messe einen über Jahrhunderte hindurch konstanten Ablauf, der in lateinischer Sprache bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, bis zum II. Vaticanum, Gültigkeit besaß. Das in weiten Teilen auswendig beherrschte Formular der Messe wie auch des Breviers bot für Mönche und Kleriker bis in die frühe Neuzeit hinein einen idealen Ausgangspunkt für parodistische Bearbeitungen, seien es der Psalter oder die Lesungen und Gebete, die im sog. Kollektenton (tonus orationum et collectarum) gesungen wurden, seien es die sog. gregorianischen Melodien der eigentlichen Liturgie. Dazu wenige Beispiele. Zunächst das Graduale, also das Stufengebet, das der Priester singt, wenn er zu Beginn der Messe die Stufen zum Altar hinaufgeht. Es lautet, aufgeteilt in einen Versus und ein vom Diakon zu singendes Responsorium: V. Introibo ad altare Dei. R. Ad Deum, qui laetificat juventutem meam.33 V. Ich will zum Altar Gottes treten. R. Zu Gott, der mich von Jugend an erfreut.

Die zahlreichen sog. Sauf- und Spielmessen des Mittelalters (Missae lusorum vel potatorum) bieten dazu die Parodie: V. Introibo ad altare Bachi. R. Ad eum, qui letificat cor hominis.34 33 Missale Romanum, editio XXV juxta typicam Vaticanam. Ratisbonae 1943, S. 251.Vielleicht darf man an dieser Stelle daran erinnern, dass der Beginn von James Joyces ›Ulysses‹ genau dieses Graduale aufnimmt, wenn Buck Mulligan in seinem gelben Schlafrock, das Seifenbecken mit den Rasierutensilien in beiden Händen, die Stufen zum Turm hinaufschreitet und dabei intoniert: Introibo ad altare Dei. 34 So bei Lehmann, Parodistische Texte [Anm. 7], S. 59, der S. 59–67 die gesamte Messe in zwei Fassungen abdruckt. Dabei ist der Wein, der des Menschen Herz erfreut, gewissermaßen Parodie in der Parodie: Der auch im Stundengebet gesungene Ps 103 lobt die Taten des Schöpfergottes: »dass du Brot aus der Erde hervorbringst und der Wein erfreut des Men-

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V. Ich will zum Altar des Bacchus treten. R. Zu dem, der des Menschen Herz erfreut.

Ähnliches gilt für Versus und Reponsorium (nach Is 45,8) zur Vesper des Stundengebets an allen Tagen der Adventszeit, die auch als Introitus der Messe am vierten Adventssonntag gesungen werden:35 V. Rorate coeli desuper / et nubes pluant justum. R. Aperiatur terra, et germinet Salvatorem. V. Tauet herab, ihr Himmel – und die Wolken sollen herabregnen lassen den Gerechten (= Christus). R. Die Erde öffne sich – und lasse den Erlöser hervorsprießen.

Dieser liturgische Gesang wird in einer der Spieler- und Trinker-Messen parodiert: Nun sollen an Stelle des Himmels die Becher, cyphi, mit Wein gefüllt, das segensreiche Nass spenden, den Wein nämlich, und die Erde soll den Most, die Vorstufe des Weins hervorbringen. Und der Boden soll für Nachschub an Wein sorgen. Und im Anschluss daran soll die Sequenzparodie Vinum bonum gesungen werden: Rorate ciphi desuper / et terra pluat mustum aperiatur terra et germinet potationem sequitur Vinum bonum. Lasst es herabträufeln, ihr Becher, und die Erde soll Most regnen lassen die Erde soll sich öffnen und den Trank hervorsprießen lassen. Es folgt die Sequenz ›Vinum bonum‹.

Ein komplettes pseudo-liturgisches Ensemble ist hier erkennbar, dessen mit dem Messtext identische Silbenzahl die Übernahme der Melodie gewährleistet. Vergleichbares gilt auch für die Gebete der Messe und deren Parodierung. Hier als Beispiel die Collecta aus der Messe an Pfingsten, sie lautet: Oremus: Omnipotens Deus, qui hodierna die corda fidelium Sancti Spiritus illustratione docuisti, da nobis in eodem Spiritu recta sapere; et de eius semper consolatione gaudere. Per dominum nostrum Jesum Christum […].36 Lasst uns beten: Allmächtiger Gott, der du am heutigen Tag die Herzen der Gläubigen durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes belehrt hast, gib uns, dass wir durch ihn erkennen, was recht ist, und uns allzeit seines Trostes erfreuen. Durch unseren Herrn Jesus Christus […]. schen Herz und sein Antlitz schön werde vom Öl und Brot stärkt das Herz des Menschen« (ut educas panem de terra / et vinum laetificat cor hominis / ut exhilaret faciem in oleo / et panis cor hominis confirmat. Ps 103,14f.). 35 Breviarium Romanum, editio XII juxta typicam, amplificata X. Pars hiemalis, Ratisbonae 1929, S. 232, S. 237 etc.; Missale Romanum [Anm. 33], S. 14. 36 Missale Romanum [Anm. 33], S. 377; auch bei Bayless [Anm. 7], S. 103.

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Dieses Gebet nimmt eine Messparodie des 13. Jahrhunderts auf, die statt dem Heiligen Geist dem Würfelspiel gilt, dem neben dem Trinken zweiten wichtigen und vielfach behandelten Thema; es ist dasjenige Spiel, bei dem man buchstäblich bis auf die Haut alles verlieren konnte:37 Ploremus. Ventripotens deus, qui tres quadratos decios sexaginta tribus oculis mirabiliter illuminasti, concede propitius ut omnes qui vestimentorum suorum pondere pergravantur, quadrati Decii iactatione liberentur, tu, qui incessanter bibis et potas. Per omnia pocula poculorum. Lasset uns weinen: Bauchmächtiger Gott, der du drei Würfel mit 63 Augen wunderbar erleuchtet hast, gewähre uns gnädig, dass alle, die von der Last ihrer Kleider niedergedrückt werden, durch das Werfen des Würfels davon befreit werden, der du trinkst und säufst ohne Unterlass. Über sämtliche Becher hinaus.

In der einleitenden Aufforderung und ihrem Gleichklang (oremus – ploremus) wird das erste Parodiesignal gesetzt, gefolgt von der gezielt nachgebauten Strukturparallele des ›Gebets‹; sie führt von der Anrufung (Ventripotens deus) über den Lobpreis (qui tres … illuminasti) und die Bitten (concede … liberentur) bis zur Schlussformel (tu, qui … poculorum). Wortklang und Struktur des liturgischen Modells werden in der Parodie mit einem gegenläufigen Sinnangebot gefüllt. Ein weiteres Beispiel bietet eine Bearbeitung von Psalm 94. Mit ihm wird die Matutin, also das morgendliche Stundengebet des Mönchs- und Weltklerus, eröffnet, indem er dazu aufruft, gemeinsam das Lob Gottes zu singen, seine Größe und die Wunder seiner Schöpfung zu preisen. Der täglich gesungene Psalm gehörte er zum sicheren geistlichen Wissensbestand der Kleriker, und dies solange das lateinische Stundengebet gefeiert wurde, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.38 Venite, exultemus Domino Iubilemus Deo salutari nostro; Praeoccupemus faciem eius in confessione Et in psalmis iubilemus ei. Kommt herbei, lasst uns aufjauchzen unserem Herrn und lobsingen Gott unserem Heil. Lasst uns vor sein Angesicht kommen mit Danken und in Psalmen ihm zujubeln.

Das tägliche Singen gerade dieses Psalms machte ihn in besonderer Weise geeignet, eine Parodie zu generieren – und hier geht sie phrasenweise vom lateinischen Wortlaut aus und verlegt den parodistischen Effekt in die Volkssprache, 37 Text: Bayless [Anm. 7], S. 103. 38 Breviarium Romanum [Anm. 35], S. 2.

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man könnte musikalisch sogar von einer volkssprachlichen Tropierung des lateinischen Psalmtextes sprechen:39 Venite ir lieben gesellen one sorgen Der wirt der wil uns borgen Den abendt als den morgen salutari nostro. Darumb solt ir nit sein verzagt! Der wirth der hat ein schoene magd, die hat mir nechten zuogesagt in confessione; Und moeg sie uns nicht all bestan, sie woell ein gespilen zuo ir han: iubilemus ei.40

Ich fasse die Beobachtungen zur Parodie im lateinischen Mittelalter zusammen. Stundengebet und Messe sind Handlungen, deren ständige Wiederholung den Ablauf des Tages wie auch des Lebens des einzelnen Mönchs oder Klerikers bis ins 20. Jahrhundert strukturiert und geprägt haben. Und zwar geprägt in einer Intensität, die aus der säkularen Blickweise des heutigen Forschers kaum vorstellbar ist. Das gilt nicht nur für die Sprache, sondern auch für die performative Präsenz des Wortes im liturgischen Gesang. Stundengebet und Messe sind gesungene Vergewisserung im christlichen Glauben. Von daher bekommen die Parodien dieser Texte ihr eigenes Profil: Sie leben nicht im Buch, sondern gesungen in den Freiräumen, die Mönche und Kleriker haben, beim Trinken oder bei dem von der Kirche eigentlich verbotenen Würfelspiel. Von den Einzelheiten der Aufführung solcher Parodien haben wir keine genauen Kenntnisse, das liegt außerhalb des Interesses der Quellen. Sicher können wir nur sagen, dass sie nicht Gegenstand der Inkriminierung oder Verfolgung gewesen sind. Es ist ein exklusives intellektuelles Spiel mit der für diese Gruppe selbstverständlichen Kultur des Ritus. Die liturgischen Texte – und dazu gehört auch die Bibel im liturgischen Gebrauch –, denen die lateinische Parodie vor allem gilt, sind über Jahrhunderte eingeübt und präsent. Damit ist eine wichtige Bedingung für das Entstehen von Parodie gegeben. Über Jahrhunderte konstant ist auch die exklusive Verständigungsgemeinschaft der Mönche und Kleriker, in der an der Parodie gearbeitet und mit ihr gespielt wird. 39 Kurt Gärtner : Zechparodien auf den Invitatoriumspsalm (Psalm 94), in: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, hg. von Wolfgang Harms/L. Peter Johnson, Berlin 1975, S. 164–186. 40 Die ganze Fassung ist von Gärtner als Anhang 2, ebd., S. 175–180 herausgegeben. Grundlage sind neben drei Handschriften des 15. Jahrhunderts zwei Einblatt- und mehrere Libelldrucke des 15. und 16. Jahrhunderts; das Zitat hier bei Gärtner, S. 177.

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III. Hinsichtlich des Auftretens und der Erscheinungsweise von Parodie in der Volkssprache sind die Ausgangsbedingungen gänzlich andere. Der Zugang der Adelsgesellschaft des 12. Jahrhunderts zu Buch und Schrift ist ein vermittelter, geleitet und gestaltet durch die klerikal gebildete Schicht der litterati. Durch ihre Vermittlung tritt, nach vereinzelten, je singulär bleibenden Versuchen, erst in der zweiten Jahrhunderthälfte eine zusammenhängende, Reihen ausbildende Literatur in der Sprache der weltlichen Eliten auf den Plan.41 Was könnte in diesem Zusammenhang parodiert werden? Wo ist zu diesem Zeitpunkt ein gesicherter kultureller Besitz im Medium der Volkssprache erkennbar, mit dem parodierend gespielt werden könnte?42 Ich greife zwei in der Germanistik vielfach traktierte Beispiele heraus, die darauf antworten können. Das eine ist ein fahrender Sänger der Zeit um 1200, 41 Eine ›Literaturgeschichte‹ der Zeit vor 1150, die auf die Herstellung von Kohärenzen und Entwicklungslinien zielt, wird man wohl als Wissenschaftsfiktion bezeichnen dürfen. Zwar sind einige wenige Gruppenbildungen in der Volkssprache erkennbar, am ehesten noch bei den Übersetzungen von Vaterunser, Beichte und Glaube, doch schon die frühen Bibelübersetzungen scheinen ohne zwingende Kohärenzen, ohne Reihenbildung auszukommen. Erst die Überlieferungsgemeinschaften der späten, aus der Zeit um oder nach 1200 stammenden Sammelhandschriften der sog. frühmittelhochdeutschen Literatur zeigen Ansätze einer Gruppenbildung. Aus diesem Dilemma bieten die methodisch neu orientierten Darstellungen einen gangbaren Weg: so diejenige von Wolfgang Haubrichs, der Felder literarischer Interessenbildung zugrundgelegt, oder diejenige von Dieter Kartschoke, der nach Kriterien wie ›historische Voraussetzungen‹, ›literarische Technik‹, ›Literaturbetrieb‹ strukturiert (siehe Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, 2., durchges. Aufl., Königstein 1995; Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, 3., akt. Aufl. München, 2000). 42 Eine Geschichte der mittelalterlichen Parodie in deutscher Sprache, vergleichbar der Darstellung Paul Lehmanns zur lateinischen Parodie [Anm. 7], fehlt. Sie hätte den Bestand, die Gegenstände, Autoren- und Adressatentypen und deren bildungsgeschichtliche und kulturelle Einbindungen zu ermitteln und zu analysieren. Ein noch zu prüfender Materialfundus steht bereit über die aus dem Verfasserlexikon generierte Verfasser-Datenbank (siehe: http:// www.degruyter.com/databasecontent?dbid=vdbo& dbsource=%2Fdb%2Fvdbo). Unter dem Stichwort ›Parodie‹ sind an die hundert einschlägige Artikel verzeichnet; weitere Suchwörter stehen bereit. Eine größere Sammlung von Texten ist abgedruckt in: Parodie und Polemik in mittelhochdeutscher Dichtung. 123 Texte von Kürenberg bis Frauenlob samt dem Wartburgkrieg nach der Großen Heidelberger Liederhandschrift C, hg. von Günther Schweikle, Stuttgart 1986. – Exemplarische Einzelstudien liegen in größerer Zahl vor, neben den im Folgenden aufgeführten nenne ich hier nur : Walter Blank: Deutsche Minnesang-Parodien, in: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978, hg. von Volker Honemann [u. a.], Tübingen 1979, S. 205–218; Helmut Tervooren: Das Spiel mit der höfischen Liebe. Minneparodien im 13.–15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 104 (1985) (Sonderheft), S. 135–157; Albrecht Classen: Der komische Held Wigamur: Ironie oder Parodie?, in: Euphorion 87 (1993), S. 200–224; Martin Schubert: Parody in thirteenth-century German Poetry, in: Parody : Dimensions and Perspectives, hg. von Beate Müller, Amsterdam 1997, S. 237–273.

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Walther von der Vogelweide, und seine Bitte um materielle Sicherheit, adressiert an Kaiser Friedrich II. Das andere ist eine Gattung, die provenzalisch schon früh im 12. Jahrhundert erscheint, die Alba, die in Deutschland als Tagelied etwa seit 1180/90 auftritt. Bei beiden Fällen handelt es sich um gesungene Dichtung, die parodiert wird, gleichfalls für den gesungenen Vortrag, und zwar unmittelbar, nachdem sich dieser Texttyp etabliert hat. Walther von der Vogelweide gehört zu der Gruppe der fahrenden Sänger am Rand der Gesellschaft, die immer nur für begrenzte Zeit an den Adelshöfen Aufnahme fanden, ansonsten aber weitgehend mittellos umherziehen mussten. Dabei hat Walther sich für viele bedeutende Herrscher zum Sprachrohr ihrer Interessen gemacht: König Philipp von Schwaben, die Kaiser Otto IV. und Friedrich II. gehören dazu, ebenso auch andere mächtige Fürsten wie etwa Landgraf Hermann I. von Thüringen.43 Für die Gruppe der fahrenden Sänger ist es typisch, dass sie immer wieder Bettelstrophen verfassen, um so durch ihre Kunst um Unterstützung zu werben. Das ist bei Dichtern, die die deutsche Sprache benutzen, zu beobachten, ebenso aber auch in der lateinischen Lyrik der sog. Goliarden oder Vaganten.44 Um 1220 wendet sich Walther an Kaiser Friedrich II. mit der Bitte um Unterstützung (L 28,1):45

43 Siehe dazu die Darstellung von Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979 (s. Register). 44 Siehe Theresa Latzke: Die Mantelgedichte des Primas Hugo von Orleans und Martial, in: Mittellateinisches Jahrbuch 5 (1968), S. 54–58; dies., Der Topos Mantelgedicht, in: Mittellateinisches Jahrbuch 6 (1970), S. 109–131; Anne Betten: Lateinische Bettellyrik: Literarische Topik oder Ausdruck existenzieller Not? Eine vergleichende Skizze über Martial und den Archipoeta, in: Mittellateinisches Jahrbuch 11 (1976), S. 143–150. Die Bitte um einen Mantel ist auch in der deutschen Literatur der Neuzeit ein mehrfach genutztes Motiv, siehe Karl Polheim: Der Mantel, in: Corona quernea. Festgabe für Karl Strecker, Leipzig 1941, S. 41–64. Bemerkenswert ist der Blick auf den Einfluss Homers in Motivik und Diktion der Betteldichtung im östlichen, byzantinischen Mittelalter, siehe dazu: Mark8ta Kulh#nkov#: Parallelen zur antiken Literatur in der byzantinischen Betteldichtung, in: Studia minora Facultatis Philosophicae Universitatis Brunensis – Sborn&k prac& Filosofick8 Fakulty Brnensk8 Univerzity 13 (2008), S. 81–95. 45 Für diese Strophe Walthers L 28,1 und deren in der Liederhandschrift B unmittelbar folgende Parodierung durch Ulrich von Singenberg beziehe ich mich auf die in dieser Handschrift überlieferte, freilich mehrfach verderbte Fassung. Einen Orientierungspunkt bietet die Ausgabe Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sprüche. 15., veränderte und erweiterte Ausgabe […] von Thomas Bein, Berlin/Boston 2013, S. 84. Fehlerhaft ist beim Abdruck dieses Tons die Absetzung des von den beiden Stollen (V. 1–3 und 8–10) gerahmten Abgesangs (V. 4–7), wodurch in Beins Ausgabe die Struktur des Tons verunklärt wird.

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Von Rime ein vogt, von Pülle ein künic, l.nt iuch erbarmen, daz man mich siht b% r%cher kunst sus armen. ich wolte gerne, und moht ez s%n, b% eigenem fiure erwarmen. Zahiu, wie ich danne sunge von der haide und von den vogell%nen, als ich w%lent sanc! swelch schoene vrouwe mir danne gæbe ir habedanc, der liez ich gilien unde risen 0z ir wengel sch%nen. Sus r%te ich fruo und kume niht hein: gast, wÞ dir, wÞ! so mac der wirt baz singen von der haide und von dem grüenen clÞ. die nit bedenkent, milter künic, daz iuwer nit zergÞ ! Herrscher von Rom, König von Apulien, lasst euch erbarmen, dass man mich trotz so reicher Kunstfertigkeit so verarmen sieht. Wie gerne würde ich mich, könnte es nur sein, am eigenen Feuer erwärmen. Ach, wie ich dann von der Heide und von den kleinen Vöglein singen würde, wie ich es früher getan habe. Jeder schönen Dame, die mir dafür dankte, ließe ich Lilien und Rosen aus ihren zarten Wangen leuchten. So aber reite ich früh davon und komme niemals in ein Zuhause: weh dir, du Unbehauster, wehe! Wer hingegen ein eigenes Haus hat, der kann leichter von der Heide und vom grünen Klee singen. Denkt an diese meine Not, freigebiger König, dass Eure Not sich auflöse!

Als Schutzherr von Rom, also Kaiser des Römischen Reichs, und als König von Apulien wird der Herrscher angeredet. Friedrich, der mit großer Wahrscheinlichkeit die deutsche Sprache nicht verstand, dürfte nicht der eigentliche und direkte Adressat gewesen sein, wohl aber seine Anhänger im deutschen Sprachraum, die Walther mit dieser Strophe in die Pflicht nehmen wollte. Argumentierend wird in V. 2 der Gegensatz zwischen der reichen Kunst des Dichters und seiner Armut hervorgehoben. Sich am eigenen Feuer zu wärmen, ist der Wunsch des mittellosen Sängers. Wäre die materielle Not nur beseitigt, dann, so verspricht er, würde er Liebeslieder wie früher singen: von den Vöglein, von der Heide, von Blumen (diese nur in C), alles Elemente des locus amoenus, an dem sich Liebe, wie sie die Literatur der Zeit gestaltet, ereignen kann.46 Zudem sänge er auch von schönen Damen, ihnen würde er in seinen Liedern Lilien und Rosen aus ihren Wangen leuchten lassen. Die Gegenwart aber ist bitter (V. 8): Der Sänger hat kein Zuhause, früh muss er hinaus, ohne heimkehren zu können. Nur wer Besitz hat, kann schön von der Natur singen. Die Schlusszeile des Liedes gemahnt den König an seine Freigebigkeit, für sie will Walther danken, indem er

46 Der Verweis dieser Bildformeln auf Walthers sogenanntes Lindenlied L 39,11 ist überdeutlich und mehrfach schon erkannt.

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gegen die politischen Probleme Friedrichs mit den Mitteln seiner Dichtung angeht.47 Bei aller Typik, die in dieser Strophe und ihrem Inhalt liegt, hat sie gegenüber den sonst lateinisch und deutsch überlieferten Bettelstrophen von Fahrenden ein ganz eigenes Profil. Dass Walther von der Vogelweide mit seinen publizistischen und öffentlich vorgetragenen Dichtungen, wie er sie auch dem Kaiser verspricht, enormen Erfolg hatte, ist – freilich für einen anderen Fall – durch ein zwar ›nur‹ literarisch formuliertes, aber doch verlässliches Zeugnis belegt: Als Walther einmal in mehreren Strophen einen satirisch überzogenen Angriff auf Papst Innozenz III. und seinen auch nördlich der Alpen verbreiteten Kreuzzugsaufruf vom Frühjahr 1213 unternimmt, bezeugt der italienische Kleriker Thomasin von Zerclaere um 1215 Walthers verderbliche Wirkung auf die Massen, denn er habe mit seinen polemisch-aggressiven Strophen (L 34,4 und 34,14) Tausende in die Irre geführt: er h.t t0sent man betoeret.48 Das wird man auch auf Walthers Bittstrophe und ihrer Singweise übertragen dürfen. Mit ihrer weiteren Bekanntheit ist die Voraussetzung für ihre Parodierung gegeben. Und die verfasst ein begüterter Adliger aus der nördlichen Schweiz, der das Amt des Truchsessen am Kloster St. Gallen innehatte: Ulrich von Singenberg.49 Ulrichs Strophe nimmt gezielt Formulierungen Walthers auf, nennt sogar seinen Namen und bedient sich mit der sogenannten Gespaltenen Weise genau des gleichen Tons, in dem Walther seine Bettelstrophe gesungen hatte.50 47 Seine Bittstrophe dürfte Walther wahrscheinlich bei einem der Hoftage, in Gegenwart der Anhänger Kaiser Friedrichs, gesungen haben, in einer Singweise, in der er zuvor auch Friedrichs Widersacher, Otto IV., angegriffen hatte (L 26,23). Walther benutzt diese Melodie wenig später noch einmal, um sich für ein Lehen zu bedanken, das ihm der König auf seine Bitte hin verliehen hat (L 28,31): Jetzt brauche er nicht mehr den Frost der Winterszeit zu fürchten, jetzt gewinne er neues Ansehen in der Gesellschaft. 48 Siehe dazu Volker Schupp: Er h.t t0sent man betoeret. Zur öffentlichen Wirkung Walthers von der Vogelweide, in: Poetica 6 (1974), S. 38–59. 49 Siehe Max Schiendorfer : Ulrich von Singenberg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Burghart Wachinger, Band 10, Berlin 1999, Sp. 21–27. Quellenzeugnisse zu Ulrich sind verzeichnet in: Die Schweizer Minnesänger, hg. von Karl Bartsch, Frauenfeld 1886, S. XXVI–XXXII. Siehe auch zum Gesamtzusammenhang die umfassende Untersuchung von Max Schiendorfer : Ulrich von Singenberg, Walther und Wolfram. Zur Parodie in der höfischen Literatur, Bonn 1983; außerdem, freilich kaum weiterführend: Theodor Nolte: Ulrich von Singenberg als Sangspruchdichter und Walther-Parodist, in: Erbauendes Spiel – unendliche Spur. Festschrift für Zolt#n Szendi zum 60. Geburtstag, hg. von Rainer Hillenbrand, Wien 2010, S. 31–43. 50 Die Abweichungen in der Reimstellung in V. 4–7 tun dem keinen Abbruch. Ich gebe den Text nach der Handschrift B wieder, abgedruckt in: Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearb. von Max Schiendorfer. Bd. 1: Texte, Tübingen 1990, Nr. 29a, S. 129, Abdruck der in der Handschrift Z, freilich nur für die beiden Stellen (V. 1–3 und 8–10) überlieferten Singweise hier S. 403.

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Der welte vogt, des himels künig, ich lob iuch gerne, daz ir mich h.nt erl.n, daz ich niht lerne, als dirre und der an vrömder stat mit s%nem gesange scherne. M%n maister claget si sÞre von der Vogelweide, in twinge diz, in twinge daz, daz mich noch nie getwang. daz machet, daz ich mich so k0me von dem m%nem schaide, mir geben dann hihe herren und ain schœnez w%p ir habedank. Sus r%te ich sp.te und kume doch hain; mir ist niht ze wÞ, und singe ouch von der haide und von deme grüenen clÞ. daz stætent ir mir, milter got, daz ez mir iht zergÞ! Schutzherr der Welt und König des Himmels, euch lobe ich nur zu gerne, weil ihr mir erspart habt, lernen zu müssen, wie dieser und jener (fahrende Sänger) in der Fremde mit seinem Gesang Spott treibt. Mein guter Meister von der Vogelweide klagt so sehr, ihn belaste dies und das, das mir noch nie zur Last war. Das kommt daher, dass ich mich selten einmal von meinem Besitz entferne, es sei denn, hohe Herren oder eine schöne Frau ließen mir dafür ihre Anerkennung zukommen. So reite ich spät aus und komme auch wieder heim; ich leide überhaupt nicht darunter. Und ich besinge gleichwohl die Heide und den grünen Klee. Das mögt ihr mir auf Dauer gewähren, gütiger Gott, dass es mir nicht schwinde!

Statt der Anrede an den Kaiser wählt Ulrich von Singenberg im ersten Vers die nächst höhere Instanz: Gott, der ihn, den sesshaften Adligen und begüterten St. Galler Truchsessen, vor einem ärmlichen Leben bewahrt hat. Dann nennt Ulrich das Vorbild des parodierten Sangs mit Namen: M%n maister von der Vogelweide. Doch solche Not wie dieser hat der reiche Ulrich nie erfahren (V. 5). Auch Walthers Klage über seine Unbehaustheit wird parodiert: Sus r%te ich sp.te und kume doch hain; mir ist niht ze wÞ / und singe ouch von der haide und von deme grüenen clÞ. (V. 8f.). Und während Walther am Ende der Strophe sich noch einmal an den eingangs angerufenen Kaiser wendet, ruft Ulrich von Singenberg nochmals den höchsten Herrscher, Gott, an, der ihm seinen Besitz und seine Position ungeschmälert erhalten möge: daz stætent ir mir, milter got, daz ez mir iht zergÞ! (V. 10).51 Die Existenz dieser Parodie ist nicht denkbar ohne die offenbar verbreitete Kenntnis von Walthers Bettelstrophe, die einerseits durch die wörtlichen parodistischen Repliken Ulrichs, andererseits durch die Vortragsweise in Walthers eigener Melodie ihre besondere Schärfe gewinnt. Werfen wir noch einen Blick in 51 Die Form staetent könnte hier als Indikativ aufgefasst werden und würde dann die strikte Behauptung des Sängers ausdrücken, dass Gott ihm – selbstverständlich – seine Situation so sichert, dass sie ungefährdet ist. Ich halte die gleichfalls mögliche optativische Aussage für angemessener, daher meine Übersetzung.

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den spätmittelalterlichen Überlieferungszeugen, dessen Textfassung oben zitiert ist, die Weingartner Liederhandschrift B. Innerhalb des hier gesammelten Walther-Œuvres stehen die Strophen der gleichen Singweise als Gruppe beieinander. Unmittelbar nach Walthers Bettelstrophe ist vom gleichen Schreiber hier die Parodie Ulrichs von Singenberg eingetragen. Innerhalb der vorgängigen, über mehrere Jahrzehnte sich erstreckenden Textgeschichte könnte eines der kleineren verlorenen Liederhefte gestanden haben, in dem Ulrichs Strophe in das Walther-Œuvre einfügt worden ist mit dem Ziel, die gemeinsame Wahrnehmung von Vorlage und Parodie herzustellen. Und es ist denkbar, dass ein Sänger zunächst Walthers Strophe vorgesungen hat und dann, zur Erheiterung seines adligen Publikums, die gelungene Parodie. Das letzte Beispiel stammt aus der Gattung der Alba, des Tagelieds. Der in der Adelsgesellschaft lokalisierte Situationstyp, zwei Liebende verbringen die Nacht beieinander, dürfen aber am Morgen nicht entdeckt werden, ist auch in erzählenden Texten vielfach verwendet worden, und schließlich auch sogar im Drama: in Shakespeares ›Romeo and Juliet‹.52 Es handelt sich bei der Alba um eine Gattung, die im 12. Jahrhundert neben dem Fin’ amors, der Hohen Minne, der Liebeslyrik eine neue Sicht auf ihr zentrales Thema eröffnet: die erfüllte, von beiden Partnern gewollte Liebe. So gesehen kann das Tagelied auch verstanden werden als literarischer Entwurf einer utopischen Idealsituation zur Verwirklichung der Liebe gegen die – wiederum literarisch formulierten – Kontrollmechanismen der umgebenden Adelsgesellschaft. Kennzeichnend für diesen Liedtyp sind die Situation am Morgen, die narrative Komponente des Erzählers, die Figur eines Wächters, die oft dialogische Rede der Liebenden. Die Figuren der Liebenden gehören in der Regel, oft auch, ohne dass dies eigens markiert werden müsste, dem Ritter- bzw. Adelsstand an. Anders in der Parodie eines wohl aus dem deutschen Südwesten stammenden Liederdichters, Steinmar :53 52 Mehrere Sammlungen solcher Lieder und die Tageliedsituation aufnehmender Texte bzw. Passagen liegen vor; ich verweise nur auf: Owe do tagte ez. Tagelieder und motivverwandte Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Renate Hausner, Göppingen 1983; Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch – neuhochdeutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Martina Backes. Einleitung von Alois Wolf, Stuttgart 1992. 53 Siehe Ingeborg Glier: Steinmar, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Burghart Wachinger, Band 9, Berlin 1995, Sp. 281–284. Quellenzeugnisse zu Steinmar bietet Bartsch [Anm. 49], S. CVI–CXXI. Der Text des Liedes ist wiederum zitiert nach Schiendorfers Ausgabe: Die Schweizer Minnesänger [Anm. 50], Nr. 8, S. 289f. Ich weiche nur an einer Stelle von der Interpunktion Schiendorfers ab, der, wie auch andere Editoren, nach Str. 3, V. 2 einen Punkt setzt, während ich das Schließen der Augen seitens des Mädchens unmittelbar begründet oder verursacht und deshalb syntaktisch angebunden sehe an den folgenden Satz: so suozze kunde er machen […]. Eine eingehende und sensible Interpretation vor dem Hintergrund der Gattung bietet Karl Heinz Borck: Zu Steinmars Tageliedparodie Ein kneht der lac verborgen, in: Interpretation und Edition deutscher Texte des

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1. Ein kneht, der lac verborgen, b% einer dirne er slief, Unz 0f den liehten morgen. der hirte l0te rief: »Wol 0f, laz 0z die hert!« des erschrak diu dirne und ir geselle wert.

Ein Knecht lag im Verborgenen und schlief bei einer Magd bis zum hellen Morgen. Laut rief der Hirte: »Auf, lass die Herde heraus!« Davon erschraken die Magd und ihr lieber Freund.

2. Daz strou, daz muost er r0men und von der lieben varn. Er torste sich niht s0men, er nam si an den arn. Daz höi, daz ob im lag, daz ersach diu reine 0f fliegen in den dag.

Er musste heraus aus dem Stroh und weg von der Geliebten. Da fasste er sich ein Herz und schloss sie, ohne zu zögern, in seine Arme. Das Heu, mit dem er zugedeckt war, sah die Hübsche auffliegen ins Tageslicht.

3. Davon si muoste erlachen, ir sigen diu ougen zuo, Si suoze kunde er machen in dem morgen fruo Mit ir daz bettespil. wer sach .n geraete ie fröuden mÞ so vil.

Darüber musste sie lachen, die Augen sanken ihr zu: So süß wusste er früh an diesem Morgen mit ihr das Bettspiel zu treiben. Wer hat je größeres Glück so ganz ohne Aufwand gesehen.

Die Gattungskonstituenten des Tagelieds sind hier strukturell und in den Details aufgenommen: die Eröffnung durch den Erzähler, die Figuren der Liebenden, die Situation am Morgen, der Hirte (anstelle des Wächters), die letzte Liebesvereinigung vor der Trennung. Doch sonst markieren schon die beiden ersten Verse die Parodierung der Gattung: Bauernknecht und Magd nehmen die Rollen der sonst adligen Liebenden ein, sie haben die Nacht im Stroh verbracht, nicht in einer Kemenate der edlen Dame, geweckt werden sie nicht, weil niemand sie entdecken darf, sondern weil ein Hirte zur bäuerlichen Arbeit ruft: Die Herde muss auf die Weide gelassen werden. Dem Sujet entspricht auch die denkbar einfachste Form der Kanzone. Wir wissen zu wenig über den Dichter, doch über eins ist sich die Forschung einig: Für Bauern ist dieses Lied nicht geschrieben, sondern für die höfischadlige Gesellschaft der Zeit. Der Dichter war offenbar Teil dieser Gesellschaft und fand dort das kennerhafte Publikum, das mit dem Tagelied und seinen Gattungskonstituenten vertraut war und vor dem diese Parodie vorgesungen werden konnte. Bei diesem Publikum konnte nicht nur die parodierende Veränderung des Texttyps, sondern auch die Derbheit der Darstellung auf AnerMittelalters. Festschrift für John A. Asher, hg. von Kathryn Smits, Berlin 1981, S. 92–102. Zum Kontext siehe auch Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung, Tübingen 2008, S. 116–131, zu Steinmar bes. S. 125–130.

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kennung, auf connaisseurhaften Genuss stoßen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Schluss des Lieds. Die beiden letzten Verse mit ihrer Aussage: wer sach .n geraete / ie fröuden mÞ so vil konnte (und musste) die Adelsgesellschaft auf sich beziehen. Die Freuden der Liebe ereignen sich auch hier, im Ambiente dieses Liedes, .n geraete, wie der Text sagt: ohne den Aufwand und die Hindernisse, die die höfische Gesellschaft Liebenden in den Weg stellt und die literarisch vielfach dargestellt werden. Diese und andere Parodien des Tagelied-Typs entstehen innerhalb einer literarisch unterrichteten Gesellschaft, die mit der Gattung des Tagelieds wie auch dem Gedankenkonstrukt ›Hohe Minne‹ vertraut war.54 Damit ist die Grundvoraussetzung für die Etablierung von Parodie in der Volkssprache gegeben. Ihre Eigenart ist, auf aktuelle literarische Positionen relativ zeitnah, unmittelbar Bezug zu nehmen.

IV. Die herangezogenen lateinischen und deutschen Beispiele verweisen auf Zusammenhänge wie auch auf Differenzen. Die lateinische Parodie konnte auf das gewissermaßen ›parodiefähige‹ Material in den Gesängen und Texten der Messe, des Stundengebets oder der geistlichen Dichtung zurückgreifen, das durch jahrhundertelange Übung fest im kulturellen Habitus der Mönche und Kleriker verankert war. Das erst vom 12. Jahrhundert an – nach nur wenigen vorangehenden Zeugnissen – zu beobachtende breite Erscheinen parodistischer Texte ist jedoch bemerkenswert. Eine einlässliche Begründung fehlt, man könnte den Befund nur ganz allgemein mit der sog. Renaissance des 12. Jahrhunderts in Zusammenhang bringen, einer alle Bereiche des geistigen Lebens und der Kultur der intellektuellen Eliten umfassenden Aufbruchsbewegung von beträchtlicher Dynamik.55 Im kulturellen Wirkungsfeld der lateinischen Sprache konnten die althergebrachten Modelle als Grundlage parodierender Verfahren genutzt werden. Ob durch die lateinische Parodie auch die in der Volkssprache angeregt wurde, ob etwa einzelne Autoren deutschsprachiger Texte mit dem literarischen Spiel in lateinischer Sprache näher vertraut waren, ist kaum zu entscheiden und 54 Siehe dazu Werner Hoffmann: Tageliedkritik und Tageliedparodie in mittelhochdeutscher Zeit, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 66 (1985), S. 157–178; dazu auch die genauen Interpretationen von Ulrich Mehler : Techniken der Parodierung, dargestellt an ausgewählten Beispielen der mittel- und frühneuhochdeutschen Tageliedparodie, in: Architectura poetica. Festschrift für Johannes Rathofer zum 65. Geburtstag, hg. von Ulrich Ernst, Köln/Wien 1990, S. 253–276. 55 Siehe dazu etwa die Beiträge in: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, hg. von Peter Weimar, Zürich 1981; Aufbruch – Wandel – Erneuerung. Beiträge zur ›Renaissance‹ des 12. Jahrhunderts, hg. von Georg Wieland, Stuttgart/Bad Cannstatt 1995.

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bleibt hypothetisch. Direkte Verbindungen auf der Ebene der Texte sind jedenfalls nicht zu erkennen. Hypothetisch, wenngleich nicht ganz unwahrscheinlich bleibt ebenso die Annahme, das Verfahren des Parodierens sei im westeuropäischen Mittelalter so etwas wie ein allgemein verfügbarer geistiger Habitus, ein kulturelles Universale gewesen, unabhängig von der sprachlichen Sozialisation. Es fällt jedenfalls auf, dass im unmittelbaren Gefolge des Auftretens einer weltlichen Adelsliteratur in deutscher Sprache literarische Modelle ›kanonisch‹ wurden, auf deren Grundlage volkssprachliche parodistische Verfahren überhaupt erst entwickelt und zeitnah erprobt werden konnten. Deren erste Zeugnisse sind bereits kurz vor und um 1200 zu beobachten,56 nur wenige Jahrzehnte nach dem gehäuften Erscheinen der lateinischen Parodie.57 Generelles Merkmal parodistischer Verfahren ist jedoch eine Art von Zweipoligkeit, begründet in Intellekt und kulturellem Wissen. Einerseits bedarf die Herstellung von Parodie eines durch verbindliche kulturelle Praxis gesicherten Bezugspunkts, zu dem sie eine erkennbare Differenz mit aktuellem Gegenwartsbezug markiert, andererseits bedarf die Parodie der intellektuellen Wahrnehmung, ohne die sie praktisch nicht existent ist. Diese Wahrnehmung muss sich zum einen auf den Bezugspunkt der Parodie, zum anderen auf die parodistisch erstellte Differenz beziehen. In dieser allgemeinen Betrachtungsweise lassen sich Parodien unterschiedlicher kultureller Praktiken begreifen, in Gestik, Sprache, Literatur, Kunst, Musik, Architektur etc. Nimmt man diese Zweipoligkeit von Herstellung und notwendiger Wahrnehmung ernst, dann eröffnet sie den Blick auf Zeit und Hinfälligkeit von Parodie, der sie, vielleicht stärker als andere kulturelle Praktiken, unterworfen ist. Wo ihr Bezugspunkt nicht mehr erkannt wird, endet ihre Existenz. Zum Abschluss werfen wir noch einen Blick auf zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit. In den 1920er Jahren entstehen zwei literarische Parodien, die auf die Resonanz im Bildungsbürgertum der Zeit bauen: Bertolt Brechts ›Großer Dankchoral‹ aus der ›Hauspostille‹, »Lobet die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen!«58, und Erich Kästners Antikriegsgedicht ›Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?‹.59 Das Bildungsbürgertum dieser Zeit, das beiden Parodien ihre kritische Aktualität zuweisen konnte, existiert seit längerem nicht mehr. Jetzt ist die literarisch ausgerichtete Kulturwissenschaft aufgerufen, Texte 56 Siehe etwa die Interpretationen von Blank [Anm. 42]. 57 Es scheint, dass dies in der Romania ähnlich verläuft, siehe etwa: Isabelle Arseneau: Parodie et merveilleux dans le roman dit r8aliste au XIIIe siHcle, Paris 2012; Catherine L8glu: Between sequence and sirventes. Aspects of parody in the troubadour lyric, Oxford 2000. 58 Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11, Berlin [u. a.] 1988, S. 77, Kommentar ebd., S. 317. 59 Erich Kästner : Werke, hg. von Franz Josef Görtz, Bd. 1, München 2004, S. 26, Kommentar S. 406.

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wie diese als Parodien am Leben bzw. im kulturellen Gedächtnis zu halten mit den Mitteln kommentierender Erklärung und Entschlüsselung. Das wäre freilich nur eine rückwärtsgewandte, kultur-historische Sicht. In die Zukunft gewendet wird man sagen dürfen: Parodie generiert sich immer wieder selbst, sucht sich etablierte, aktuelle Bezugspunkte, zu denen aus der jeweiligen Gegenwart heraus parodierende Differenzen konstruiert werden, die auf eine intellektuell gesteuerte Wahrnehmung der Zeitgenossen ausgerichtet sind. Der Film mit seinen Parodien der Gattung bzw. des Typs, der Szene oder der Einstellung ist ein fast schon historisch zu nennendes Feld. Die brave new world der Medien eröffnet für parodierende Verfahren auch in der Zukunft ein weites Feld.

Carmen Cardelle de Hartmann

Parodie in der Sammlung. Eine parodistische Nachbarschaft in den ›Carmina Burana‹ (CB 89–90)

Mit dem Begriff ›Parodie‹ werden sowohl konkrete Texte bezeichnet als auch ein literarisches Verfahren: Insofern handelt es sich bei einer Parodie um eine Form der intertextuellen Bezugnahme, die einen Text entweder in seiner Gesamtheit prägt oder nur punktuell in diesem vorkommt. Die erstgenannte Verwendung des Begriffes findet sich zum Beispiel in den zwei einschlägigen Monographien zur Parodie im lateinischen Mittelalter von Paul Lehmann und von Martha Bayless.1 Beide Studien haben als Hauptziel die Erschließung bisher unbekannter Texte und bieten vorgängig eng gefasste Definitionen, die allerdings nicht immer im Einklang mit der Textauswahl stehen und auch keine Anwendung in der Textinterpretation finden.2 Ein anderes, breiteres Verständnis von Parodie zeigt sich in G8rard Genettes einflussreicher Abhandlung ›Palimpsestes‹. Genette definiert und beschreibt darin verschiedene Spielarten der Intertextualität sowie unterschiedliche Texttypen, die durch intertextuelle Bezugnahmen geprägt werden. Parodie bezeichnet nach seiner Auffassung die spielerische Transformation eines Stoffes und unterscheidet sich sowohl von der spielerischen formalen Imitation einer Vorlage (Pastiche) als auch von der satirischen Transformation eines Stoffes (Travestie).3 Genette versteht seine Kategorien als Orientierungshilfen, die Mischungen und Übergangsformen zu1 Paul Lehmann: Die Parodie im Mittelalter, Stuttgart 21963 (erste Edition München 1922/23); Martha Bayless: Parody in the Middle Ages. The Latin Tradition, Ann Arbor 1996. 2 »Ich verstehe hier unter Parodien nur solche literarischen Erzeugnisse, die irgendeinen als bekannt vorausgesetzten Text oder – in zweiter Linie – Anschauungen, Sitten und Gebräuche, Vorgänge und Personen scheinbar wahrheitsgetreu, tatsächlich verzerrend, umkehrend mit bewußter, beabsichtigter und bemerkbarer Komik, sei es im ganzen, sei es im einzelnen, formal nachahmen oder anführen« (Lehmann [Anm. 1], S. 3); »Throughout this study, therefore, I define a parody as an intentionally humorous literary (written) text that achieves its effect by (1) imitating and distorting the distinguishing characteristics of literary genres, styles, authors, or specific texts (›textual parody‹); or (2) imitating, with or without distortion, literary genres, styles, authors or texts while in addition satirizing or focusing on nonliterary customs, events, or persons (›social parody‹)« (Bayless [Anm. 1], S. 3). 3 G8rard Genette: Palimpsestes. La litt8rature au second degr8, Paris 1982, bes. S. 31–47.

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lassen; doch trotz dieser Flexibilität eignen sie sich kaum für die Beschreibung lateinischer Texte aus dem Mittelalter, in denen formale und inhaltliche Bezugnahmen auf die Referenztexte häufig miteinander einhergehen und die vielfach nicht auf einzelne Bezugstexte, sondern auf literarische Gattungen oder weit verbreitete Motive rekurrieren. Für andere Autoren – als Beispiel kann hier Linda Hutcheon mit ihrer Untersuchung zur Parodie in der postmodernen Kunst und Literatur4 genannt werden – ist Parodie in erster Linie eine Form der Bezugnahme auf andere Texte, auf Motive und Stoffe oder auf literarische Gattungen, die auf dem Zusammenspiel zwischen Ähnlichkeit und einer auffälligen Differenz basiert, zu der Komik oder Satire nicht unbedingt gehören und die in verschiedenen Textsorten realisiert werden kann. Auch in der Mediävistik findet sich der Ansatz, Parodie durch die ihr wesenhafte Spannung zwischen Analogie und Differenz und unabhängig von ihren möglichen komischen Effekten oder satirischen Bezügen zu definieren.5 In einer früheren Arbeit über die ›Carmina Burana‹ schloss ich mich diesem weiten Verständnis an6 und ging der Frage nach, wie die Differenz in einer parodistischen Beziehung gestaltet sein muss. Es ließen sich drei Grundformen beschreiben: Verkehrung, Verschiebung und ironische Distanzierung, wobei letztere aus der historischen Entfernung am schwierigsten zu erkennen ist. Die Analyse ausgewählter Texte aus den ›Carmina Burana‹ zeigte auch, dass deren Deutung von der Platzierung des jeweiligen Gedichtes in dieser sorgfältig geordneten Sammlung beeinflusst wird. Die Interpretation eines Textes wird nicht zuletzt auch von den Umständen geprägt, unter denen er aufgeführt oder gelesen wird. In diesem Sinne kann man etwa von einer ironischen Umgebung sprechen, die zum Verständnis eines Textes als ironisch führt,7 oder, wie JeanClaude Mühlethaler, von einer parodistischen Ausstrahlung (irradiation parodique), wenn ein parodistischer Text zur parodistischen Lektüre des ihm folgenden Textes leitet.8 Dieser Fall tritt auf, wenn sich in einem Text intertextuelle Bezugnahmen finden, die mehrdeutig sind und die durch die Einbettung des 4 Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, Urbana/Chicago 22002. 5 Es seien lediglich zwei Arbeiten zitiert, die nicht konkrete Beispiele, sondern die mittelalterliche Parodie in ihrer Funktionsweise und ihren Voraussetzungen in Augenschein nehmen: Max Wehrli: Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung, Stuttgart 1984, S. 271–284; Fidel Rädle: Zu den Bedingungen der Parodie in der lateinischen Literatur des hohen Mittelalters, in: Literaturparodie in Antike und Mittelalter, hg. von Wolfram Ax/ Reinhold Glei, Trier 1993, S. 171–185. 6 Carmen Cardelle de Hartmann: Parodie in den Carmina Burana, Zürich 2014; dort S. 17–28 Diskussion der hier kurz genannten Ansätze zum Verständnis von Parodie. 7 Dazu Cardelle de Hartmann [Anm. 6], S. 28–40 und 52–70. 8 Jean-Claude Mühlethaler : Irradiation parodique et logique du recueil. L’exemple des ›Cent Nouvelles nouvelles‹, in: Formes et fonctions de la parodie dans les litt8ratures m8di8vales, hg. von Johannes Bartuschat/Carmen Cardelle de Hartmann, Firenze 2013, S. 193–212.

Eine parodistische Nachbarschaft in den ›Carmina Burana‹

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Textes in einer bestimmten Umgebung als parodistisch verstanden werden können. In diesem Aufsatz soll eine vergleichbare Wirkungsweise der Parodie im Kontext einer Sammlung diskutiert werden, nämlich die parodistische Nachbarschaft. Darunter verstehe ich eine parodistische Beziehung, die aus der Nachbarschaft von zwei Texten entsteht. Beide Texte müssen zusammen rezipiert werden, damit ihre Beziehung als parodistisch interpretiert werden kann. Die ›Carmina Burana‹ eignen sich besonders, um darin nach solchen Relationen zu suchen, denn die sorgfältige Ordnung der Sammlung legt nahe, dass der Redaktor (die Person oder die Personen, welche die Sammlung angelegt haben) die Rezeption entsprechend lenken wollte. Deshalb hole ich zunächst etwas weiter aus und beginne mit der Diskussion des Gliederungskonzepts, das in der Sammlung des Buranus erkennbar wird, und dessen möglichen Rezeptionsformen.

I.

Die Ordnung der Sammlung

Als Codex Buranus wird die Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 4660 (und die dazugehörigen, losen Blätter Clm 4660a)9 nach ihrem Fundort, dem oberbayerischen Kloster Benediktbeuern bezeichnet. Der Codex ist allerdings nicht dort entstanden, sondern wahrscheinlich in Südtirol um 1230.10 Die Hauptsammlung wurde fast ausschließlich von zwei Schreibern (h1 und h2) in einer wohl relativ kurzen Zeitspanne geschrieben. Im 13. und 14. Jahrhundert wurden an den Rändern, auf den frei gebliebenen Blättern der letzten Lage und in einer zusätzlichen Lage weitere Texte eingetragen (CB 1*–26a*).11 Diese Nachträge, die nicht zum ursprünglichen Konzept der Sammlung gehören, werden im Folgenden nicht berücksichtigt. 9 Digitalisate von beiden Signaturen sind über die Homepage der Bayerischen Staatsbibliothek konsultierbar, siehe: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00085130-0 (Clm 4660) und urn: nbn:de:bvb:12-bsb00085131-5 (Clm 4660a). 10 Der terminus post quem ergibt sich durch zwei datierbare deutsche Strophen: Die eine stammt von Neidhart (in CB 168), entstanden zwischen 1217 und 1219, die andere von Walter von der Vogelweide (in CB 211) aus den frühen 1220er Jahren, siehe dazu: Carmina Burana. Text und Übersetzungen mit einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, hg. von Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1987, hier S. 900 und S. 1238. Paläographisch ist eine Entstehung nach 1230 wenig wahrscheinlich, dazu: Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. 1. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, 1. Textband, Wiesbaden 1987, S. 130–133. Eine Zusammenfassung der Diskussion um die Lokalisierung findet sich in Cardelle de Hartmann [Anm. 6], S. 10/11. 11 Kodikologische Beschreibung von Otto Schumann in: Carmina Burana. II. Band: Kommentar. 1. Einleitung (Die Handschrift der Carmina Burana). Die moralisch-satirischen Dichtungen, kritische Ausgabe von Alfons Hilka und Otto Schumann mit Benutzung der

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Carmen Cardelle de Hartmann

Bereits der erste Editor, Johann Andreas Schmeller, beobachtete, dass die Hauptsammlung thematisch geordnet ist.12 Auch Otto Schumann setzt sich in seiner sorgfältigen Untersuchung des Codex Buranus, welche die Grundlage für die kritische Edition bildet, mit dieser Frage ausführlich auseinander. Er beschreibt vier große thematische Abschnitte, die er »moralisch-satirische Dichtungen« (CB 1–55), »Liebeslieder« (CB 56–186), »Trink- und Spielerlieder« (CB 187–226) und »Geistliche Dramen« (CB 227–228) nennt.13 Diese Abschnitte sind insofern auf einer hohen Abstraktionsebene definiert, als sie auch Lieder enthalten, die dem gewählten Abschnittstitel nicht entsprechen. Insbesondere finden sich im dritten Abschnitt etliche Gedichte, die moralisch-satirischen Charakter haben. Schumann beobachtet ferner, dass sich innerhalb dieser großen Abschnitte kleine Gruppen von wenigen Gedichten bilden lassen, auch weist er auf eine weitere Gliederungscharakteristik hin: Im Codex finden sich mehrfach metrische Verse, die den Inhalt einer Reihe von Liedern zusammenfassen und mit der Überschrift Versus gekennzeichnet sind. Allerdings wird dieses Strukturmerkmal nicht im ganzen Codex regelmäßig eingesetzt, so dass Schumann eine überzeugende Einteilung nach diesem Kriterium allein nicht gelingt. Die Frage nach der Ordnung der Sammlung wurde von Burghart Wachinger wieder aufgenommen und weiter diskutiert.14 Wachinger beobachtete, dass sich auf einer mittleren Abstraktionsebene Gruppen nach inhaltlichen und formalen Kriterien bilden lassen. Zum Beispiel gliedert sich der erste Abschnitt (die moralisch-satirischen Lieder) in die Gruppen Lasterschelte (CB 1–13), Lehre für Kleriker im Kirchendienst (CB 14–40)15 und politische Aktualisierung der Lehre

12

13

14

15

Vorarbeiten von Wilhelm Meyer, Heidelberg 1930, S. 1*–96*, zu den Schreibern ebd., S. 13*–27*. Carmina Burana: lateinische und deutsche Lieder und Gedichte einer Handschrift des XIII. Jahrhunderts aus Benedictbeuren auf der Königlichen Bibliothek zu München, hg. von Johann Andreas Schmeller, Stuttgart 1847. Für seine Einteilung in ›Seria‹ und ›Amatoria Potatoria Lusoria‹ respektierte Schmeller allerdings nicht die Ordnung der Handschrift, sondern verfuhr nach seinem eigenen Kriterium. Carmina Burana 2.1, hg. von Hilka/Schumann [Anm. 11], S. 31*f., 41*–54*. Da der Anfang des Codex fehlt, ist es auch möglich, dass dem ersten Abschnitt weitere Lieder mit einem anderen thematischen Schwerpunkt vorangingen (vielleicht geistliche Lieder, wie in manchen deutschsprachigen Lyriksammlungen). Burghart Wachinger : Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der ›Carmina Burana‹, in: Ders., Lieder und Liederbücher. Gesammelte Aufsätze zur mittelhochdeutschen Lyrik, Berlin 2011, S. 97–123 (zuerst erschienen in: From symbol to mimesis. The generation of Walther von der Vogelweide, hg. von Franz H. Bäuml, Göppingen 1984, S. 1–34). Wachinger wählt die Bezeichnung »Lehre für geistliche Fürsten«, doch trifft das nur für die Gedichte CB 33–36 ganz zu, während die Gedichte allgemeineren Charakters (über Fortuna, über die Bekehrung) auch für andere Kleriker passend sind und CB 38–40 sich ausdrücklich auf Priester beziehen. Mir scheint, dass in dieser Gruppe die Kleriker im Kirchendienst

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(CB 41–52). Es folgen drei weitere Gedichte (ein Gedicht zur Beilegung eines Schismas, eine Teufelsbeschwörung und Zaubersprüche), die weder inhaltlich noch formal zu den anderen Liedern gut passen und vielleicht gerade deshalb hier zusammengeführt wurden. Wachinger prüfte die kleinen Gruppen von Schumann und schlug eine neue Aufteilung nach inhaltlichen und formalen Kriterien vor. Es ergibt sich so eine überzeugende Gliederung auf drei verschiedenen Abstraktionsstufen, die Benedikt Konrad Vollmann im Vorwort zu seinem Kommentar mit Korrekturen zu den kleineren Gruppen aufnimmt.16 Die kleinen Gruppen bereiten immer wieder Probleme, vor allem im dritten Abschnitt (den Trink- und Spielerliedern). Schumann misslingt hier eine Unterteilung, Wachinger gliedert diesen Abschnitt nicht weiter und Vollmann definiert statt Gruppen thematische Schwerpunkte.17 Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, lässt sich dieser Abschnitt dann in mittlere und sogar in kleine Gruppen gliedern, wenn wir berücksichtigen, dass die Ordnung nicht ganz konsequent ist, da immer wieder Texte zum Ausgleich unmoralischer Lieder eingeschoben wurden.18 Wir müssen bedenken, dass der Redaktor weder die Ansprüche noch die Arbeitsmöglichkeiten eines modernen Philologen hatte. Im dritten Abschnitt scheint ihm der moralische Ausgleich wichtiger als die inhaltliche Kohärenz gewesen zu sein. Ähnliches gilt für die Gruppe CB 89–102, die Vollmann durch das dominante Thema ›verkehrte Liebe‹ definiert; CB 94, 96 und 99 sind zwar Liebeslieder, passen aber nicht zu diesem thematischen Schwerpunkt und sollten vielleicht lediglich eine Kumulierung von unmoralischen Beispielen (Priesterliebe, Greisenliebe, homoerotische Liebe, Inzest, Ehebruch) vermeiden. Was seine Arbeitsmöglichkeiten betrifft, hat der Redaktor wohl über eine eingeschränkte Zahl an schriftlichen Quellen verfügt, die ihm zudem nicht zur selben Zeit vorlagen. Wie Peter Dronke vermutete, könnten die Gruppen mit vermischten Gedichten auch dadurch entstanden sein, dass der Redaktor eine Handschrift zurückschicken musste und schnell das notiert hat, was ihn interessierte.19 Und manche satirisch-moralische Lieder im dritten Abschnitt

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anvisiert werden (mit einer einzigen Ausnahme: CB 37, das sich an Mönche richtet), als Pendant dazu beginnt der dritte Abschnitt mit Gedichten, die sich an Höflinge (auch sie in der Regel clerici) richten (CB 187–191). Vollmann [Anm. 10], S. 905–912. Vollmanns Übersicht über den Aufbau des Codex (Vollmann [Anm. 10], S. 908f.) lässt den Eindruck stehen, als sei dieser letzte Teil in kleine Gruppen gegliedert. Bei näherem Hinsehen merkt man aber, dass in seiner Gliederung einige Lieder nicht erfasst sind (Gruppe 3 umfasst die Lieder 195–206, es folgt als Gruppe 4 ein einziges Lied (CB 211), als Gruppe 5 wieder ein einziges Lied (CB 215). Cardelle de Hartmann [Anm. 6], S. 52–70. Peter Dronke: Le antologie liriche del Medioevo Latino, in: Ders., Forms and Imaginings.

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könnten ihn erst erreicht haben, nachdem er die Arbeit am ersten Abschnitt bereits abgeschlossen hatte. Diese Beobachtungen und möglichen Erklärungen ändern allerdings nichts an dem Gesamteindruck einer durchdachten Ordnung, in die andere Faktoren als thematische und formale Kohärenz mitunter hineinspielen. Wie wichtig dem Redaktor diese Ordnung war, lässt sich an seinem Vorgehen bei der Übernahme von Gedichtgruppen beobachten. Auch andere Codices überliefern mehrere Lieder, die im Buranus zu finden sind; daher liegt die Vermutung nahe, dass diese Lieder in kleinen Sammlungen zirkulierten, die in die erhaltenen größeren Sammlungen aufgenommen wurden. Wenn dem so wäre, müssten sich diese hypothetischen kleineren Sammlungen entweder im Codex Buranus oder in der Parallelüberlieferung oder in beiden als Gedichtgruppe wiederfinden. Um dies zu prüfen, können wir zwei große Liedersammlungen heranziehen, die mehrere Lieder des Buranus parallel tradieren: die Florentiner Liederhandschrift, Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 29.1 (in der Edition F), vom Ende des 13. Jahrhunderts,20 und die so genannte Bekynton-Anthologie, Oxford, Bodleian Library, Add. A. 44 (in der Edition meistens O, auch gelegentlich Be), zusammengestellt um 1200. Nach den Angaben von Schumann21 finden sich in der Florentiner Handschrift CB 12, 14, 15, 19, 21, 22, 26, 27, 31, 33, 34, 36, 47, 63, 67, 131, 131a, 188, 189. In dieser Auflistung kann man beobachten, dass im Codex Buranus einige der Lieder als Paare auftauchen. Doch zeigt eine Überprüfung anhand der Digitalisate der Bibliothek, dass die betreffenden Gedichte nur in einem Fall, CB 131 und 131a (in der Edition Vollmann CB 130), auch in F nacheinander vorkommen (fol. 203r–204r), allerdings mit einem divergierenden Textbestand. Umgekehrt finden sich in zwei anderen Fällen in F zwei Texte nahe beieinander, die im Codex Buranus nicht zusammenstehen: CB 189 (F: fol. 416r-417r) und CB 63 (fol. 417rv); CB 19 (F: fol. 225rv) und CB 12 (F: fol. 226rv), zwischen beiden Gedichten steht in F ein weiteres Lied. Alle anderen Carmina sind in beiden From Antiquity to the Fifteenth Century, Roma 2007, S. 129–143, hier S. 140 (zuerst erschienen in: Critica del testo 2, 1 (1999), S. 101–107). 20 Digitalisate dieser Handschrift können auf der Homepage der Bibliotheca Medicea Laurenziana (http://teca.bmlonline.it/TecaRicerca/index.jsp) und auf anderen Websites konsultiert werden. Sie können mit der Identifikation IT:FI0100_Plutei_29.01 (auch über Google) gefunden werden. 21 In Carmina Burana. I. Band: Text. 1. Die moralisch-satirischen Dichtungen, mit Benutzung der Vorarbeiten Wilhelm Meyers kritisch herausgegeben von Alfons Hilka und Otto Schumann, Heidelberg 1930, S. IX–XI, findet sich eine Aufstellung von Handschriften, die Parallelüberlieferung zu mehreren Liedern aus dem Buranus enthalten. Sie kann allerdings ergänzt werden, wenn man die Edition der einzelnen Gedichte sorgfältig durchgeht. Ernst Hellgardt hat eine Übersicht erstellt, die er mir zur Verfügung gestellt hat, wofür ich ihm herzlich danke. Trotzdem können im Folgenden Gedichtpaare fehlen, die uns entgangen sind oder für die nach Erscheinung der kritischen Edition eine Parallelüberlieferung gefunden wurde.

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Sammlungen nicht als Gruppe präsentiert, was den Anschein erweckt, als seien sie aus unterschiedlichen (schriftlichen oder mündlichen) Quellen übernommen worden. In der Oxforder Handschrift gibt es hingegen einen Hinweis auf die mögliche Existenz einer kleinen Sammlung, wie sie sowohl in dieses Manuskript als auch in den Codex Buranus aufgenommen worden sein könnte.22 In der BekyntonAnthologie findet sich auf fol. 62v-65v eine Gruppe von Liedern, die auch im Buranus vorkommen: CB 27, 21 (beide auf fol. 63r), 188, 189 (fol. 63v), 33 (fol. 63v–64r), 10 (fol. 64rv), 8 (fol. 64v), 3 (fol. 65v). Nur ein Gedichtpaar (CB 188 und 189) steht sowohl im Codex Buranus als auch in diesen Blättern der Bekynton-Anthologie benachbart. Falls die betreffenden acht Lieder als kleine Sammlung überliefert wurden, hat der Bekynton-Redaktor sie gesamthaft übernommen, der Redaktor des Buranus sie jedoch an verschiedenen Stellen in seine Sammlung integriert. Wenn man Schumanns Übersicht der Parallelüberlieferung betrachtet, fällt auf, dass immer wieder zwei aufeinander folgende Lieder des Buranus auch in mindestens einer weiteren Handschrift auftauchen. Die Zahl erhöht sich noch, wenn man den kritischen Apparat durchgeht. Dies könnte heißen, dass der Redaktor mit Vorliebe Gedichtpaare aus seinen Quellen übernahm. Nach Überprüfung der Blattzahlen in der Parallelüberlieferung erweist sich diese Vermutung allerdings nur in sechs Fällen als korrekt:23 CB 36 und CB 37 finden sich in umgekehrter Reihenfolge in Oxford, Bodleian Library, Add. A. 44 (O, Bekynton-Anthologie), fol. 127r und 126rv ; CB 47 (nur eine Strophe) und CB 47a finden sich in umgekehrter Reihenfolge in Stuttgart, LB, H. B. I 19 (S), fol. 32v und 33r ; CB 83 und CB 84 stehen im Codex Roma, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. lat. 344 (V), in umgekehrter Reihenfolge auf fol. 36va und 36r ; CB 91 und CB 92 stehen im Codex Avignon, BibliothHque et Mus8e Calvet, 302 (A) in umgekehrter Reihenfolge auf fol. 59v-62r ; CB 131 und CB 132 finden sich in umgekehrter Reihenfolge in Stuttgart, LB, H. B. I 19 (S), fol. 33v und 34r, dort folgen sie auf CB 47a und CB 47;

22 Da bisher keine Reproduktion im Netz verfügbar ist, gehe ich hier von den Angaben von Hilka, Schumann und Bischoff im kritischen Apparat ihrer dreibändigen kritischen Edition aus. Band 1.1 wurde in Anm. 21 zitiert. Die zwei weiteren Textbände sind: Carmina Burana. I. Band: Text. 2. Die Liebeslieder, kritische Ausgabe von Otto Schumann, Heidelberg 1941 und Carmina Burana. I. Band: Text. 3. Die Trink- und Spielerlieder – Die geistlichen Dramen, kritische Ausgabe von Otto Schumann und Bernhard Bischoff, Heidelberg 1970. Vom geplanten Kommentar ist nur der erste Band erschienen [zitiert Anm. 11]. 23 Ich übernehme die Angaben aus der kritischen Edition und füge am Ende in Klammern die Siglen der Handschrift in der Edition hinzu; falls keine Sigle angegeben wird, handelt es sich um Ergänzungen von mir. In diesem Fall übernehme ich die Angaben aus dem jeweiligen Katalog.

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CB 133 und CB 134 (jeweils über die Namen von Vögeln und von Wildtieren) finden sich in einer Reihe von Handschriften, häufig mit deutschen Glossen: Frankfurt am Main, UB, Praed. 60 (F), beide fol. 74 (früher 83rb); Göttingen, SUB, Lüneburg 2 (G), beide auf fol. 181r ; Halberstadt, Domgymnasium, cod. 68 (H), beide fol. ult recto; Kremsmünster, Stiftsbib., CC 124, fol. 199ra (nach den Angaben im Katalog in der Reihenfolge CB 134–133, gefunden über Manuscripta Mediaevalia); München, BSB, Clm 614 (M), fol. 31rv und 31v-32r, Clm 3537 (E), beide 330va, und Clm 19488 (T), p. 121a.

In zwei Fällen findet sich ein Gedichtpaar des Buranus in einer weiteren Handschrift zusammen, in anderen aber auseinander : CB 26 und CB 27 sind auch in dieser Reihenfolge überliefert im Codex Darmstadt, UBuLB, cod. 2777 (Da), fol. 3va und 3va–vb, an unterschiedlichen Stellen in Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 29.1 (F), fol. 420v-421r und 430r-v ; Burgos, Monasterio de las Huelgas (H), cod. 3, fol. 167r und 161v (Strophen aus CB 26) sowie 164rv ; CB 101 und CB 102 sind zusammen in Oxford, Bodleian Library, lat. misc. D. 15, fol. 10rb-11ra, und an unterschiedlichen Stellen in Cambridge, Corpus Christi College, cod. 450 (Cc), pp. 192–194 und 198–200; München, BSB, Clm 459, fol. 190 v-191v und 193v ; Paris, BnF, lat. 8491, fol. 60v-61r und 70r.

In drei Fällen sind benachbarte Gedichte des Codex Buranus in der Parallelüberlieferung an unterschiedlichen Stellen in die jeweilige Handschrift integriert: CB 14 und CB 15: Oxford, Bodleian Library, Rawlinson C. 510 (R), fol. 12rv und 18rv ; Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 29.1 (F), fol. 351v und 223v-224r ; CB 36 und CB 37: Oxford, Bodleian Library, Add. A. 44, fol. 127r und 126rv (O); CB 119 und CB 120: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, H. B. I 95, fol. 73rv und 77v-78r (S).

Obwohl nicht die gesamte heute bekannte Parallelüberlieferung überprüft wurde, dürften diese Ergebnisse repräsentativ sein. Wir sehen, dass CB 133 und CB 134 in der Überlieferung öfters als Gedichtpaar vorkommen. Vier weitere Paare, nämlich CB 131 und CB 131a (auch in der Florentiner Handschrift), CB 188 und CB 189 (auch in der Bekynton-Anthologie), CB 26 und CB 27 sowie CB 101 und 102 finden sich in derselben Abfolge in einer anderen Handschrift, fünf weitere kommen in der Parallelüberlieferung in umgekehrter Reihung vor. Weitere sechs im Codex Buranus aufeinander folgende Gedichte sind in der bisher bekannten Parallelüberlieferung nirgends gruppiert: die drei genannten Paare (CB 14 und CB 15, CB 36 und CB 37, CB 119 und CB 120) sowie CB 21 und CB 22, CB 33 und CB 34, CB 188 und CB 189, die in F nicht aufeinanderfolgen. Der Redaktor hat wohl nur in einigen Fällen eine vorgefundene Ordnung übernommen, und dies anscheinend nur bei Gedichtpaaren. Der Vergleich mit

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der Bekynton-Anthologie legt nahe, dass er diejenigen Gedichte, die er in Gruppen vorfand, umorganisiert und seinem Konzept angepasst hat. Dies trifft wohl auch für die Sammlung deutschen Ursprungs zu, deren Existenz Wachinger postuliert.24 Für die Annahme einer solchen Sammlung geht Wachinger von der Beobachtung aus, dass die Lieder CB 129–131a thematisch mit CB 187–189 zusammenhängen. Die dazwischen liegenden Lieder CB 132–186 sind deutschen Ursprungs (im Gegensatz zu den meisten Gedichten der restlichen Sammlung), wie die Parallelüberlieferung oder die Sprache selbst zeigen. In dieser Gruppe befinden sich fast alle Lieder mit deutscher Schlussstrophe, die einen höchst ungewöhnlichen, nur in der Sammlung der ›Carmina Burana‹ belegten Aufbau aufweisen (lateinisches strophisches oder nicht strophisches Lied mit einer deutschen Strophe am Schluss). Dieser Befund legt die Annahme einer gemeinsamen Quelle nahe. Wachinger hat deshalb die These aufgestellt, dass die ›deutsche Gruppe‹ vom Redaktor als solche vorgefunden worden sei. Dabei habe er lediglich einige Gedichte, die thematisch besser in andere Abschnitte passten, an anderen Stellen in der Sammlung platziert, und zwar CB 48, CB 112–114 und CB 203, während er die Gruppe CB 132–186 als Ganzes in sein ursprüngliches Konzept, das dadurch unterbrochen wurde, eingepasst habe. Meines Erachtens dürfte der Redaktor auch diese Gedichte umorganisiert haben. Diese Gruppe teilt sich nämlich nach Vollmanns Gliederung in die kleinen Gruppen ›Liebeslieder mit Natureingang‹ (CB 132–160), ›Amor- und Venuslieder‹ (CB 161–175), ›vermischte Gedichte‹ (CB 177–178) und ›Refrainlieder verschiedenen Inhalts‹ (CB 179–186) ein. Wir beobachten hier dasselbe Verfahren wie im ersten Abschnitt, Gedichte, die sich in eine Gruppe nicht stimmig einfügen lassen, am Ende zusammen zu fassen. Es stellt sich also die Frage, warum der Redaktor die Gedichte genau so sortiert und geordnet hat. Es scheint wenig stichhaltig, dass dies zur schnellen Auffindung geschah. Dafür sind die Überschriften zu unregelmäßig (und meistens zu wenig aussagekräftig), so dass die Gliederung sich erst bei einer sorgfältigen Lektüre erschließt. Plausibler scheint die Annahme, dass der Redaktor an einen Rezipienten dachte, der sich die Sammlung in einem zusammenhängenden Leseprozess aneignete. Die besondere, unauffällige Form der Abmilderung unmoralischer Gedichte, die wir oben beschrieben haben, scheint diese Annahme zu stützen.

24 Wachinger [Anm. 14], S. 104–106.

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II.

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Ein Codex für die konsekutive Lektüre?

An dieser Stelle soll diskutiert werden, inwiefern die Hypothese, der Codex Buranus sei für die konsekutive lesende Rezeption konzipiert worden, plausibel ist. Die meisten rhythmischen Lieder (vielleicht auch die metrischen, obwohl es darunter viele losgelöste sentenzartige Zitate gibt) dürften gesungen worden sein. Einige wenige sind im Codex Buranus neumiert, bei anderen scheint eine Neumierung vorgesehen gewesen zu sein, denn die Zeilen stehen weit auseinander. Mindestens einige Lieder konnten demnach auf der Grundlage des Codex Buranus aufgeführt werden. Da die Neumen lediglich als Erinnerungsstütze dienten, setzten sie voraus, dass die Melodie bekannt war – was wiederum darauf hindeutet, dass die Lieder in dieser Zeit als solche zirkulierten.25 Auch die Tatsache, dass alle Texte des Codex Buranus anonym überliefert sind, kann auf eine primär hörende Rezeption hinweisen (obgleich sie auch andere Gründe haben könnte).26 Doch gibt es andere Aspekte der Sammlung, die eine lesende Rezeption als intendiert nahelegen, wie der Einsatz von Illustrationen, die thematisch mit den Gedichten in Beziehung stehen.27 Über die Maßgabe der konsekutiv-lesenden Rezeption kann auch die Zusammenführung von ursprünglich unterschiedlichen Texten unter einer Überschrift erklärt werden. Dies ist der Fall etwa bei den Versus, die häufig in einer Aneinanderreihung von Zitaten bestehen. Ein weiteres Beispiel, das die Annahme stützt, die Textsammlung sei im Hinblick auf die persönliche visuelle Lektüre zusammengestellt worden, bildet CB 175, das auf fol. 69v des Codex Buranus präsentiert wird.28 Unter der rubrizierten Überschrift Item de eodem beginnt das Gedicht mit der Initiale P (über sechs Zeilen, mit einem Gesicht dekoriert) gefolgt von den Buchstaben RE in Auszeichnungsschrift, um das erste Wort pre zu bilden. Jede der lateinischen Strophen beginnt 25 Es gibt eine Edition von Liedern aus dem Buranus mit musikalischer Notation: Carmina Burana lateinisch-deutsch. Gesamtausgabe der mittelalterlichen Melodien mit den dazugehörigen Texten, übertragen, kommentiert und erprobt von Ren8 Clemencic, Textkommentar von Ulrich Müller, Übersetzung von Ren8 Clemencic und Michael Korth, hg. von Michael Korth, München 1979. Um die Melodien zu rekonstruieren, wurde Parallelüberlieferung in anderen Notationssystemen herangezogen; in einigen Fällen wiesen die Editoren Liedern, die im Buranus nicht neumiert sind, bekannte Melodien zu, die zu ihrer rhythmischen Struktur passten. 26 Zu möglichen Gründen für die anonyme Überlieferung siehe Peter Dronke: Canzoni anonime nelle ›Carmina Burana‹, in: Filologia Mediolatina 23 (2016), S. 185–196. 27 Eine feinsinnige Analyse der Wechselbeziehung zwischen einer Illustration des Buranus (dem Liebespaar) und den sie umgebenden Gedichten findet sich bei Michael Curschmann: Epistemological Perspectives at the Juncture of Word and Image in Medieval Books Before 1300, in: Multi-Media Compositions from the Middle Ages to the Early Modern Period, hg. von Margriet Hoogvliet, Leuven 2004, S. 1–14. 28 Permalink dieses Blattes: http://daten.digitale–sammlungen.de/bsb00085130/image_142.

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mit einer kleinen roten Initiale, was auch für die deutsche Schlussstrophe gilt. Darauf folgen zwei metrische Verspaare, die inhaltlich unabhängig voneinander sind und in den Editionen die Nummer CB 176 (1 und 2) tragen. Sie beginnen in der Handschrift mit demselben Initialentyp wie die Strophen des Gedichtes, so dass graphisch der Eindruck entsteht, als sei die ganze Gruppe (das lateinische Gedicht, die deutsche Strophe, die zwei Verspaare) ein einziger Text. Die Zusammenfügung von lateinischem Gedicht und deutscher Schlussstrophe kommt in der Sammlung sehr häufig vor, deshalb kann angenommen werden, dass derartige Textverbindungen als Einheit verstanden wurden. Dies gilt jedoch nicht für die Versus, die in der Regel von den rhythmischen Gedichten durch das Layout und durch Überschriften abgesetzt sind. Die Gruppierung dieser Texte – die wir als CB 175 und CB 176 unterscheiden – unter einer Überschrift kann einem Fehler des Schreibers geschuldet sein (hier h2, der ohnehin nicht besonders genau arbeitete), doch ist kein Versuch zu beobachten, nachträglich eine Trennung einzufügen. Die Zusammenführung von unterschiedlichen Liedern und Gedichten würde bei einem Vortrag (vor allem bei einem musikalischen) störend sein, jedoch nicht bei der persönlichen Lektüre – bei der sich eher die Frage ergibt, ob die Versus als ironischer Kommentar zur Liebesthematik zu verstehen sind.29 Im Fall der Lieder mit deutscher Schlussstrophe ist die Form des Vortrags ungewiss. Man hat zwar vermutet, dass die Hinzufügung einer deutschen Strophe den Zweck haben könnte, die Melodie anzugeben, aber in etlichen Fällen sind der lateinische und der deutsche Teil rhythmisch so unterschiedlich, dass eine Aufführung mit derselben Melodie sich mindestens nicht als primärer Zweck dieser Zusammenführung aufdrängt.30 Auch die Vermutung, die deutsche Strophe richte sich an ein lateinunkundiges Publikum (zum Beispiel an Frauen), muss Spekulation bleiben;31 der inhaltliche Zusammenhang zwischen lateinischem und deutschem Text legt vielmehr nahe, dass die Rezipienten beides verstehen sollen.32 29 In diesem Sinne lässt sich nämlich fragen: Ist die pflegende Hand in CB 176,1 diejenige der Frau, die dem Liebeskranken (amoris transicio, CB 175, 3,1) helfen soll? Und relativiert das Lob der Beredsamkeit in CB 176,2 nicht etwa die Liebesbeteuerungen in den vorhergehenden Liedern? 30 Wachinger [Anm. 14], S. 116, diskutiert die mögliche Funktion einiger (nicht aller) deutscher Strophen zur Tonangabe. 31 Peter Dronke: A Critical Note on Schumann’s Dating of the Codex Buranus, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 84 (1962), S. 173–183, hier S. 182; ders., Le antologie liriche [Anm. 19], S. 141. 32 Dieser Meinung ist auch Ulrich Müller: Mehrsprachigkeit und Sprachmischung als poetische Technik. Barbarolexis in den ›Carmina Burana‹, in: Europäische Mehrsprachigkeit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Mario Wandruszka, hg. von Wolfgang Pöckl, Tübingen 1981, S. 87–104, hier 101. Besonders anregend ist Udo Kühnes Interpretation der lateini-

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Wenn man all diese Aspekte betrachtet, scheint die zusammenhängende Lektüre die primär anvisierte Form der Rezeption zu sein, ohne andere mögliche Rezeptionsformen (Lektüre oder Aufführung einzelner Gedichte) unmöglich zu machen. Sie steht allerdings in einem spannungsreichen Verhältnis zu der Aufführungsform, die den Liedern außerhalb dieser Sammlung eigen war und die gelegentlich dem Lied selbst eingeschrieben ist.

III.

Eine parodistische Nachbarschaft: CB 89 und CB 90

Grundsätzlich scheint der Redaktor kein besonderes Interesse gehabt zu haben, ein parodiertes und ein parodierendes Gedicht aufeinander folgen zu lassen. Es gibt in der Sammlung zwei solche Paare, aber sie stehen weit auseinander : CB 195 parodiert CB 61 und CB 197 bezieht sich auf CB 62. Da die Vorlagen einerseits und die parodistischen Lieder andererseits nah beieinander stehen, ist es sogar möglich, dass sie vom Redaktor zusammen aufgenommen und an unterschiedlichen Stellen eingeordnet wurden. Für diese Einordnung waren offenbar inhaltliche Kriterien ausschlaggebend. Die parodistische Beziehung ist in CB 195 und in CB 197 klar, denn sie beruht auf einer deutlichen formalen Ähnlichkeit mit gelegentlichen wörtlichen Entsprechungen.33 In den Fällen, die ich als parodistische Nachbarschaft verstehe, gibt es hingegen eine schwächere Analogie zwischen beiden Liedern, so dass der parodistische Bezug nur durch die Nähe im Codex bemerkbar wird. Es ist sogar fraglich, ob ein solcher parodistischer Bezug ursprünglich vom Dichter intendiert war ; denkbar wäre auch, dass er sich erst durch die Anordnung ergibt. Zwei Gedichte, die in einer parodistischen Nachbarschaft stehen, habe ich an anderer Stelle analysiert,34 nämlich CB 76 und CB 77. Diese weisen inhaltliche Ähnlichkeiten auf: In beiden Fällen schildert ein Mann in erster Person seinen Versuch, eine Frau zu verführen, in beiden Fällen hat er Erfolg und präsentiert sich am Ende als zu imitierendes Vorbild. Doch ist diese Ähnlichkeit nicht stark schen Lieder als eine Art poetischen accessus zu den deutschen: Udo Kühne: Deutsch und Latein als Sprachen der Lyrik in den ›Carmina Burana‹, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 122/1 (2000), S. 57–73. 33 Zur parodistischen Beziehung zwischen CB 197 und CB 62 siehe David A. Traill: Parody and Original. The Implications of the Relationship between Dum domus lapidea and Dum Diane vitrea, in: Medievalia et Humanistica 20 (1993), S. 137–146, der aus der Parodie Aufschluss über die ursprüngliche Gestalt von CB 62 gewinnen will, ferner Lehmann [Anm. 1], S. 145, und Vollmann [Anm. 10], S. 1226. 34 Cardelle de Hartmann [Anm. 6], S. 28–40. Auf die thematische Korrespondenz zwischen beiden Gedichten wies P. G. Walsh: Amor clericalis, in: Author and Audience in Latin Literature, hg. von Tony Woodman/Jonathan Powell, Cambridge 1992, S. 189–203 und S. 155–257, hin.

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ausgeprägt, sie erscheint nicht in den Details der Erzählung und ist auch nicht auf wörtliche Entsprechungen gestützt. Gleichzeitig gibt es eine klare Differenz zwischen beiden Gedichten: Während die geschilderte Beziehung im ersten Fall ausschließlich körperlich ist und durch Bezahlung zustande kommt, wird in CB 77 die Liebe des Mannes in einer Sprache ausgedrückt, die biblische und liturgische Anklänge aufweist und zum Teil marianischen Gebeten entnommen ist, und der Vollzug der Liebe wird von der Frau initiiert und kommt überraschend für den Mann. CB 77 ist ambivalent, in einigen Passagen wirkt die Erhöhung der Frau ernst gemeint, in anderen ironisch. Die Lektüre beider Gedichte hintereinander verstärkt die ironischen Aspekte von CB 77. Zwischen beiden Gedichten gibt es – mit einem Begriff von Max Wehrli ausgedrückt – eine ›Fallhöhe‹,35 wobei das höher stehende, geistig ausgerichtete, an zweiter Stelle steht. In diesem Sinn steht die Beziehung beider Gedichte einer Kontrafaktur nahe, wobei – auch in Worten Wehrlis – »Parodie und Kontrafaktur zwei analoge, aber konträre literarische Verfahren darstellen (…)«.36 Hier soll ein anderes Beispiel parodistischer Nachbarschaft im Mittelpunkt stehen: CB 89 und CB 90. Beide Gedichte können als Pastourellen beschrieben werden, beide werfen Probleme auf. CB 89 ist nur im Codex Buranus überliefert. Es wurde von dem Schreiber mit schlechteren Lateinkenntnissen (h2) geschrieben (der allerdings einige seiner eigenen Fehler selbst verbesserte) und anschließend von dem anderen Hauptschreiber (h1) korrigiert.37 CB 89 ist schwer verständlich, die Diskussion darüber hat vor allem darum gekreist, ob seine Dunkelheit durch Textverderbnis oder durch schwer deutbare Anspielungen im Text entsteht. Schumann sieht Probleme auf beiden Ebenen: »Das Gedicht ist ebenso rätselhaft als Ganzes wie im einzelnen verderbt«,38 und setzt sich in seiner Edition vor allem mit den textkritischen Problemen auseinander. Er nimmt etliche Konjekturen (eigene und von anderen Personen) auf, so dass der edierte Text an vielen Stellen von der Handschrift abweicht. Hans Spanke weist hingegen darauf hin, dass der überlieferte Text in dieser Form verständlich ist – wenn auch die Auslegung des Inhalts Probleme bereitet.39 Ferner zeigt er, dass das Gedicht durchaus anspruchsvoll ist, denn es weist einen raffinierten metrischen Aufbau auf und lässt sich inhaltlich als Dialog verstehen, der in eine Erzählung eingebettet ist. Vollmann bietet eine Interpretation, die von dem 35 Wehrli [Anm. 5], S. 273. 36 Wehrli [Anm. 5], S. 280. 37 Für die Identifizierung der Schreiber folge ich Schumann, der in seinem kritischen Apparat (Carmina Burana 1.2, hg. von Hilka/Schumann [Anm. 22], S. 84/85) sehr genaue Angaben macht. 38 Carmina Burana 1.2, hg. von Hilka/Schumann [Anm. 22], S. 84. 39 Hans Spanke: Die älteste lateinische Pastourelle, in: Ders.: Studien zur lateinischen und romanischen Lyrik des Mittelalters, hg. von Ulrich Mölk, Hildesheim 1983, S. 190–198.

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überlieferten Text ausgeht, und ediert ihn mit nur sehr wenigen Korrekturen.40 Zuletzt hat Susanne Daub hingegen die Meinung vertreten, der Text sei in dem überlieferten Zustand weitgehend verderbt.41 Sie verändert ihn durch zahlreiche Konjekturen, die über die Eingriffe von Schumann weit hinausgehen, um ein vermeintlich korrekteres und stimmigeres Original wiederherzustellen. Ich möchte an dieser Stelle die Diskussion um den Sinn eines hypothetischen Originals nicht weiterführen, sondern den Umgang des Redaktors mit diesem Lied, das er wohl in diesem oder einem sehr ähnlichen Zustand vorfand, nachvollziehen. Dafür gebe ich hier zuerst den Text der Handschrift wieder, und korrigiere ihn nur dann, wenn es offensichtliche, paläographisch oder phonetisch gut erklärbare Fehler gibt. Die Korrekturen werden durch Kursivdruck gekennzeichnet. Alle Stellen, die in der Fassung des Codex Buranus verständlich sind, werden so belassen, auch wenn ein stimmigerer Text sich durch eine Konjektur herstellen ließe. In Fußnote finden sich einige wenige Angaben zur Handschrift, die an den Digitalisaten der Bayerischen Staatsbibliothek überprüft und durch weitere Beobachtungen, die für unsere Zwecke nicht wichtig waren und deshalb hier nicht aufgenommen wurden, ergänzt werden können.42 Auf jeden Versikel folgt Vollmanns Übersetzung, die ich an einigen Stellen angepasst habe, um dem Text der Handschrift zu entsprechen. Änderungen gegenüber Vollmann sind kursiv formatiert. Ich übernehme Vollmanns Interpunktion des lateinischen Textes, allerdings ohne die Anführungszeichen, die Wortbeiträge verschiedener Figuren markieren sollen. Item aliud. a

1 . NOS Duo boni! sub aere tetro sint tibi toni sub celeri43 metro! tempore solis stant peccora retro. »Wir zwei sind tüchtige Burschen! / Unter dunkeldräuendem Himmel / sollst du ein Lied / im schnellen Metrum verfassen! / In der sonnigen Jahreszeit,44 / ziehen sich die Schafe zurück.«

40 Die Interpretation findet sich im Kommentar von Vollmann [Anm. 10], S. 1057–1059. 41 Susanne Daub: Carmen Buranum 89, in: Mittellateinisches Jahrbuch 40 (2005), S. 383–395. 42 Der Text findet sich im Codex Buranus, fol. 38rv, Permalink: http://daten.digitale-samm lungen.de/bsb00085130/image_79 und http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00085130/ image_80. 43 B: sceleri. 44 Vollmann: »wenn es donnert«, da er solis in toni korrigiert, um einen zweisilbigen Reim wie in der restlichen Strophe herzustellen.

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1b. Herba tenella flore coronatur, rosa nouella rubore notatur, nigra puella ueste coronatur. »Das zarte Gras / schmückt sich mit Blumen, / die junge Rose / prangt mit ihrer Blüte, / ein braun gebrauntes Mädchen / hüllt sich in ihrem Gewand ein45.« 2a. Tunica lata succincta baltheo, circumligata filo rubeo, stat inclinata sub alto pilleo.46 »Die weite Tunika / von einem Gürtel hochgehalten, / mit einer / roten Binde umwunden,47 / steht sie da in gebückter Haltung / unter einer hohen Haube.« 2b. Labor mutauit puelle faciem et alterauit eiusdem speciem, decolorauit eam per maciem. »Mühsal hat / das Aussehen des Mädchens geprägt / und ihre Schönheit / angegriffen, / sie bleich / und mager werden lassen.« 3a. Ducit puella gregem paruulum, et cum capella caprum uetulum, et cum asella ligat uitulum.48

45 Vollmann korrigiert coronatur in coram datur, und bezieht nigra auf ueste. Doch scheint der Bezug von nigra auf puella wegen des Parallelismus mit herba tenella und rosa novella wahrscheinlicher. 46 Der Text dieser Strophe wurde an zwei Stellen im Codex korrigiert: Das Wort lata ist wiederholt und durch Unterstreichung getilgt; vor circumligata steht frons, durch Unterstreichung getilgt. Nach Schumann ist die erste Tilgung von h2 selbst, die zweite von h1. 47 Vollmann übersetzt »den Kopf mit einer roten Binde umwunden«; dies scheint wahrscheinlich, die rote Binde könnte aber zusammen mit dem Gurt die Tunica binden. 48 Im Text dieser Strophe wurden zwei Fehler in der Handschrift getilgt: uetullum wurde durch Expungierung des zweiten l korrigiert; am Zeilenende nach puella steht puulu¯, halb radiert und durchgestrichen, u¯ aus a¯ korrigiert. Im Wort puulu¯ am Anfang der nächsten Zeile wurde par (abgekürzt) von h1 geschrieben. Schumann schlussfolgert: »h2

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»Das Mädchen leitet / eine bescheidene Herde: / eine Ziege / und einen alten Bock; / das Eselchen hat sie mit / einem Kälbchen zusammengebunden.« 3b. Polus obscura nube tegitur, uirgo secura mox egreditur, uoce matura nos alloquitur. »Der Himmel überzieht sich / mit einer schwarzen Wolke. / Nun tritt die Jungfrau / furchtlos vor / und spricht uns mit der Stimme / einer Erwachsenen an.« 3c. Ecce, pastores temerarii, gregis pastores conducticii, fabulatores uaniloquii49 »Seht, gewissenlose / Hirten, / Mietlinge / der Herde, / hohle und sinnlose / Schwätzer« 3d. Abhominantur opus manuum, lucra sectantur, amant ocium,50 nec meditantur curam ouium. »finden es scheußlich / mit eigener Hand zu arbeiten, / sie sind auf Gewinn aus, / lieben das Nichtstun / und denken nicht daran, / sich um die Schafe zu kümmern.« 4a. Prouida pastus est turba polorum copia lactis, non ordine morum; rebus atractis stat utile forum. »Die Meute des Himmels51 besorgt / eifrig das Weiden der Schafe – / um Milch zu gewinnen, / nicht um sie zur Sittlichkeit zu führen! / Für die vereinnahmten Dinge / erweist sich der Markt als nützlich.« hatte also ansch. par/uulum geschrieben« (Carmina Burana 1.2, hg. von Hilka/Schumann [Anm. 22], S. 84). 49 Zwei Korrekturen in der Handschrift: pastores ist wiederholt, vor conducticii steht ores. Beide Wörter wurden durch Unterstreichung getilgt. Tilgungsstriche von h1 (nach Schumann). 50 In der Handschrift acieum, e expungiert, darüber von h1 ocium geschrieben. 51 Vollmann nimmt bei polorum einen Gräzismus an, der von Wörtern wie bibliopola (auch gelegentlich in einer männlichen Form bibliopolus anzutreffen) abgeleitet worden sei

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4b. Nec res succedunt, nec locus in tuto, uellera cadunt de spinis in luto, palam accedunt lupi cane muto. »Nichts entwickelt sich zum Guten, / kein Ort ist geschützt, / die Wolle fällt, / von Dornen zerzaust, in den Schmutz; / ungehindert nähern sich die Wölfe, / weil der Wachhund stumm bleibt.« 5a. Aspero uerbo tractans52 de pratica, uel de acerbo uultu frenetica, ore acerbo cessauit rustica. »Nachdem sie mit harschen Worten / das tätige Leben abgehandelt hatte / – fanatisch und mit unerbittlichem / Gesichtsausdruck – , / endete die Bauerndirn / mit bitterer Miene.« 5b. Vellem, ut scires pastorum carmina. dum uiri uires non habes, femina, numquam aspires // ad uiri crimina53 »Ich wollte, du verstündest dich / auf die Lieder der Hirten. / Da dir, Weib, / Männerkraft nicht gegeben ist, / solltest du dich nie zur Anschuldigung eines Mannes versteigen.« 6a. Est tua cura labor femine, solum cura laborem54 femine! uirgo, mensura filum stamine! »Dein Betätigungsfeld / ist die Weiberarbeit; / drum kümmre dich auch / nur um Weiberwerk! / Mädchen, miss / den Faden im Gewebe!« (Vollmann [Anm. 10], S. 1060). Es ist jedoch möglich, dass an dieser Stelle klar ausgedrückt werden soll, dass mit den Schäfern Priester gemeint sind. 52 In der Handschrift tractas. 53 In der Handschrift cumula, durchgestrichen, darüber crimina von h1 geschrieben. Vollmann korrigiert cumula in culmina und übersetzt: »solltest du auch nicht nach den Höhen / trachten, die Männersache sind.« 54 In der Handschrift labor.

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6b. Gerit puella morem peccori: languet asella, stupent teneri, iungit capella latus lateri.55 »Ein Mädchen ähnelt in seinem / Verhalten den Schafen und Ziegen: / das Eselchen ist krank,56 / schauen die Jungtiere blöde drein, / und die Ziegen drängen sich / aneinander, Seite an Seite.« 6c. paruula fides sociis ocium. garrula rides magisterium, subdola strides precium.57 »Dein geringer Glaube58 bedeutet / für meinesgleichen nur Kurzweil. / Geschwätzig verspottest du / das Lehramt, / hinterrücks zischelst du / über das, was wertvoll ist.« 6d. Sumus pastores nos egregii, procurators gregis regii59, soli cantores soliloquii. »Wir sind die / überragenden Hirten, / die Pfleger / der königlichen Herde, / wir allein die Sänger, / denen der Sologesang zukommt!«

Hans Spanke hat den Aufbau des Gedichts klar dargelegt.60 Es gibt einen Erzähler, der seinen Begleiter zum Musizieren auffordert (1a). Was folgt, ist der Gegenstand des Gesangs: Nach einer kurzen Naturschilderung (1b) erscheint eine Schäferin, die in 2a und 2b beschrieben wird und die eine kleine Gruppe von Tieren führt (3a). Der Tag verfinstert sich (3b), die Schäferin richtet heftige Vorwürfe an die Hirten: Sie würden ihre Pflichten missachten, deshalb sei deren 55 In der Handschrift latus wiederholt und einmal durchgestrichen, nach Schumann von h2 selbst, dann noch von h1 unterstrichen. 56 Vollmann übersetzt languet asella als Konditionalsatz: »Wenn das Eselchen krank ist.« 57 Diese Strophe beginnt nicht mit einer kleinen roten Initiale. In der Handschrift socus korrigiert in sociis; suo dola. 58 Dass parvula fides auf die Schäferin bezogen wird, lässt sich nur aus einem inhaltlichen Parallelismus mit den restlichen Versen dieses Versikels erschließen, wie er auch in anderen Versikeln – bis hin zu Wiederholungen – zu beobachten ist. Vollmann übersetzt »Deine Kleinmütigkeit«. 59 In der Handschrift gregii, g expungiert. 60 Spanke [Anm. 39], S. 195f.

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Herde verwahrlost (3c–4b). Danach schweigt sie und blickt die Hirten vorwurfsvoll an (5b). Der Erzähler, einer der Hirten, antwortet darauf: Die Schäferin sei anmaßend und missachte die Würde der Hirten, die sich als procuratores gregis regii (»Verwalter der königlichen Herde«) beschreiben (6a–6d). Nach Spanke wendet sich der Hirte in 6d nicht mehr an die Schäferin, sondern an das Publikum bei einer Aufführung. Wie das Gedicht interpretiert werden soll, ist jedoch nicht klar. Spanke hat sich auf den Beginn mit der Aufforderung zum Musizieren gestützt, um eine Rivalität zwischen Sängern oder Sängergruppen inszeniert zu sehen. Vollmann hat hingegen eine allegorische Interpretation vorgeschlagen, die auf den schlechten Zustand der Kirche abhebt, worin Daub ihm folgt. Mir scheint, dass Einiges für diese Interpretation spricht, die jedoch nicht alle Aspekte des Gedichtes zu deuten vermag. Deshalb soll der Text detaillierter besprochen werden. Im ersten Versikel wird eine bedrohliche Kulisse aufgebaut: Es ist Sommer, die Zeit, in der sich das Vieh in den Schatten zurückzieht, trotzdem ist der Himmel finster. Warum dies so ist, wird im Versikel 3b klar : Eine dunkle Wolke breitet sich aus, ein Gewitter droht. Die Aufforderung zu musizieren dürfte – darin ist Spanke Recht zu geben – einer Aufführungssituation entsprechen. Alles, was folgt, ist ein Vortrag der Musiker, die in der ersten Person reden; der Dialog ist in diesen Vortrag eingebettet. Die Schäferin wird mit Zügen charakterisiert, die zum Teil an die Braut des Hoheliedes erinnern, worauf Susanne Daub hingewiesen hat:61 Sie wird wie diese als nigra bezeichnet (1b), ihre Farbe hat sie durch Arbeit (man muss wohl ergänzen: im Freien) verloren (mit einer wörtlichen Übernahme aus Ct 1,5: decolorauit, 1c). Ähnlich ist die Situation für die Braut des Hoheliedes, die einen Weinberg bewachen sollte.62 Dies lässt eine allegorische Ebene vermuten, auf die auch die seltsame, ganz und gar nicht bäuerliche Kleidung verweist: hohe Haube, hochgegürtete Tunika, (Kopf-)Binde. Die Wichtigkeit dieser Gewandung wird in Versikel 2a betont: Sie gehört zum Mädchen wie die Blume zum Gras oder die Farbe zur Rose. Susanne Daub hat zur Deutung dieser Beschreibung auf Ex 28 hingewiesen, wo die priesterliche Kleidung für Aaron und seine Söhne beschrieben wird, die ähnliche Bestandteile enthält: Zu zwei davon (tunica, balteus) gibt es in CB 89 eine wörtliche Entsprechung, während der pileus und das filum rubeum der Schäferin immerhin inhaltlich mit der tiara und der vitta hyacinthina (mit der eine Rosette an die Tiara gebunden werden soll) im Buch Exodus korrespon-

61 Daub [Anm. 41], S. 389. 62 Nigra sum, sed formosa, filiae Ierusalem sicut tabernacula Cedar, sicut pelles Salomonis. Nolite me considerare quod fusca sim, quia decoloravit me sol. Filii matris meæ pugnaverunt contra me; posuerunt me custodem in vineis (Ct 1,4–5).

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dieren.63 Diese biblischen Anklänge legen eine Interpretation der Schäferin als Ecclesia nahe, wie sie in der Exegese des Hoheliedes für die Braut häufig ist. Vollmanns Vorschlag, dass die Schäferin an Fides in der ›Psychomachia‹ des Prudentius erinnern soll, ist weniger wahrscheinlich, denn dort heißt es von Fides agresti turbida cultu, / nuda umeros, intonsa comas, exerta lacerto (»ungestüm, mit bäurischer Kleidung, nackten Schultern, ungekämmten Haaren, starkem Arm«, V. 21f.), während die in CB 89 beschriebene Kleidung nicht bäuerlich wirkt. Ein Blick auf die Darstellungen von Fides und Ecclesia in den bildenden Künsten unterstützt diese Interpretation: Fides wird nie mit ähnlichen Attributen präsentiert, während Ecclesia häufig eine Tunica trägt und mit einer Mauerkrone oder sogar mit einer Bischofsmütze dargestellt wird.64 Mit einer allegorischen Deutung der Schäferin als Ecclesia ist auch die Darstellung ihrer Herde vereinbar. Sie ist klein und schlecht sortiert, was der schwierigen Lage der Kirche, auf die sich die Vorwürfe an die Hirten beziehen, entspricht. Die Aussagen der Schäferin haben nämlich zahlreiche Parallelen in den satirischen Gedichten über den Zustand der Kirche: Die Hirten suchen ihren eigenen Gewinn (lucra sectantur, 3d), vernachlässigen die Herde (curam ovium, was an die cura pastoralis, die Seelsorge, erinnert). Zu cane muto (4b) vermerkt Vollmann: »Die ›stummen Hunde‹, die nicht bellen (Jesaja 56,10), sind in der mittelalterlichen Kirchenkritik die Bischöfe und Priester, die dem Bösen nicht wehren. Vgl. CB 39,7,2.«65 Die Bezeichnungen der Bischöfe als pastores, gregis pastores (3c) und procuratores (6d) sind im Mittelalter allgemein geläufig. Die Wendung fabulatores vaniloquii könnte sich auf eine Predigt beziehen, die den Taten nicht entspricht. In den anschließenden Worten des Erzählers und in der Antwort der Hirten gibt es weitere Ausdrücke, die diese Interpretation stützen: tractans de pratica (5a) erinnert an die uita practica des Weltklerus, im Gegensatz zur uita contemplatiua der Mönche; das Wort magisterium (6c) kann das bischöfliche Lehramt bezeichnen.66 In diesem Sinne dürfte auch das schwer verständliche 63 Vollmann [Anm. 10], S. 1060 verweist auf die vitta coccinea aus dem Hohelied (Ct 4,3), die Gregor der Große mit den Predigern vergleicht: Sie bändigen die Gedanken der Hörer wie ein Band die Haare bindet; die rote Farbe verweist auf die Flamme der Liebe (›Moralia in Iob‹ 2,52). 64 Ernst Kreuzer : Fides, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von Engelbert Kirschbaum/Wolfgang Braunfels, Bd. 2, Rom [u. a.] 1970, Sp. 31–34; Wolfgang Greisenegger : Ecclesia, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von Engelbert Kirschbaum, Bd. 1, Rom [u. a.] 1968, Sp. 562–569, siehe zum Beispiel Sp. 566, Bild 4 eine Darstellung der Mutter Ecclesia mit entblößten Brüsten und Bischofsmitra in einem Codex aus dem 12. Jh. (Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 48, entstanden 1143–1178, fol. 103v). Der Codex kann auch online eingesehen werden: http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bke/0048. 65 S. 1060, der Text von CB 39,7,1f. lautet episcopi cornuti / conticuere muti. 66 Albert Blaise: Lexicon Latinitatis medii aevi praesertim ad res ecclesiasticas investigandas

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turba polorum (4a) zu interpretieren sein, für das es zahlreiche Korrekturvorschläge gegeben hat: Die angesprochenen Hirten sind eine Meute des Himmels, der Kontrast zwischen dem Verweis auf Gott, in dessen Namen sie agieren, und der Bezeichnung als turba lässt die Pervertierung ihres Amtes anklingen. Die Vorwürfe der Hirten entsprechen mindestens zum Teil dieser Interpretation, denn sie halten der Schäferin vor, sich Aufgaben anzumaßen (über den Zustand der Kirche zu reden), die ihr nicht zukämen, und die (ihr gegenüber höher gestellten) Männer zu tadeln. Die Hirten bezichtigen sie sogar, einen geringen und schwachen Glauben zu haben, wie Jesus es gelegentlich in den Evangelien gegenüber seinen Jüngern tut.67 Die junge Frau sollte schweigen, denn die Hirten hätten das Monopol auf die öffentliche Rede (soli cantores / soliloquii, 6d). In diesem Licht scheint auch das drohende Gewitter verständlich: Auch in den kirchenkritischen Satiren findet sich gelegentlich eine dunkle, bedrohliche Natur, die auf den Zustand der Kirche verweist (zum Beispiel in einem Gedicht Walters von Ch.tillon: Umbra cum uidemus / ualles operiri […] CB 123,2,1f.). Diese Interpretation lässt allerdings viele Fragen offen. Die Schäferin scheint Ecclesia zu sein, doch steht sie in einem spannungsreichen Verhältnis zu den Bischöfen. Dies lässt sich erklären, wenn die Schäferin die Gemeinschaft der Gläubigen darstellt, die hier der kirchlichen Hierarchie (mindestens denjenigen Bischöfen, die ihre Aufgaben nicht erfüllen) gegenübergestellt wird. Deshalb wird ihr auch das Recht, die Lage zu deuten, verweigert. Die priesterliche Kleidung weist in diesem Fall auf das Priestertum aller Gläubigen hin. Die Vorstellung eines allgemeinen Priestertums spielte zwar im Mittelalter außerhalb von häretischen Bewegungen eine geringe Rolle, war aber wegen seines biblischen Ursprungs bekannt.68 Eine derartige Interpretation scheint plausibel, sie bedeutet aber eine Veränderung gegenüber der ekklesiologischen Deutung des Hoheliedes. Es ist außerdem unklar, ob den einzelnen Tieren der kleinen Herde eine Bedeutung zukommt und welche dies sein könnte.69 Ebenso bleibt offen, warum auf das Musizieren bzw. auf eine Aufführungssituation Bezug pertinens. Dictionnaire Latin-FranÅais des auteurs du Moyen ffge, Turnhout 1975, s.v. magisterium, S. 552. 67 Mit den Ausdrücken modicae fidei (Mt 6,30; 8,26; 14,31; 16,8) und vos pusillae fidei (Lk 12,28). 68 Harald Goertz/Wilfried Härle: Priester/Priestertum. II. Allgemeines Priestertum. 1. Systematisch–theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 27, hg. von Gerhard Müller, Berlin/New York 1997, S. 402–410. 69 Im Versikel 6b identifizieren die Hirten die Schäferin mit ihren Tieren, die deshalb die Gläubigen bedeuten könnten; sie sind verwahrlost, weil ihre Hirten deren Aufgaben nicht erfüllen. Unter den einzelnen Tieren könnte die Eselin auf Bileams Eselin hinweisen, die den Engel sieht, während dieser Bileam verborgen bleibt (Nm 22). Hier erscheint das Thema des Demütigen und Geringen, der Gottes Botschaft empfängt, was für die Schäferin in ihrer Auseinandersetzung mit den (Kirchen-)Hirten auch zutrifft.

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genommen wird. Vor allem aber scheint merkwürdig, dass die angeklagten Hirten das Geschehnis schildern und das letzte Wort behalten. Ein weiterer problematischer Punkt ist die Gattungszugehörigkeit des Gedichtes. Spanke hat darauf hingewiesen, dass CB 89 typische Eigenschaften der Pastourelle aufweist: die Verbindung zwischen Erzählung und Dialog, das Auftreten einer Schäferin, die Situierung in der Natur ; hier fehlt allerdings das erotische Element, das Gegenüber der Schäferin sind mehrere Hirten, nicht etwa – wie in der Pastourelle – ein sozial höher gestellter Mann. Wegen dieser Abweichungen vermutet Spanke, dass es sich um eine früh entstandene Pastourelle handelt, die er tentativ um das Jahr 1150, das Todesjahr Marcabrus, datiert. Gerade mit Marcabrus ›L’autrier jost’una sebissa‹, in der nach der Interpretation von Aurelio Roncaglia die Hirtin die kirchliche Auffassung der Liebe gegen die neue, laikale verteidigt,70 gibt es eine gewisse Ähnlichkeit. In beiden Texten vertritt eine Schäferin die rechtgläubige Einstellung, bei Marcabru gegen einen adligen Laien, in CB 89 gegen die kirchliche Hierarchie. Doch fehlen bei Marcabru völlig die allegorischen Ansätze, die wohl – wie Vollmann vermerkt – von der bukolischen Dichtung beeinflusst sein dürften. Diese hat nämlich häufig einen allegorischen Charakter.71 Charakteristische Beispiele hierfür sind die ›Egloga duarum sanctimonialium‹ des Paschasius Radbertus, in der zwei Schäferinnen, die die Klöster Corbie und Corvey darstellen, ihren toten Hirten, Abt Adalbert, beweinen, und vor allem die ›Ecloga Theoduli‹, eine verbreitete Schullektüre, in der die Schäferin Alithia (die christliche Wahrheit) ein Streitgespräch mit dem Hirten Pseustis (der heidnischen Lüge) führt. Beide Texte zeigen gewisse Analogien zu CB 89 (ohne dass dies eine Bezugnahme bedeuten müsste): Bei Paschasius stellt ein Hirte einen führenden Kirchenmann dar, in der ›Ecloga Theoduli‹ kommt es der Schäferin zu, die christliche Wahrheit zu verteidigen. In CB 89 stehen die allegorischen Aspekte sogar zum Teil im Widerspruch zur pastoralen Szenerie, wie im Fall der seltsamen Kleidung der Schäferin. Wie mir scheint, rühren diese interpretatorischen Probleme nicht von einem mangelnden Verständnis unsererseits oder von einer massiven Textverderbnis 70 Aurelio Roncaglia: Riflessi di posizioni cistercensi nella poesia del XII secolo, in: La lirica, hg. von Luciano Formisano, Bologna 1990, S. 257–282; dazu auch Nicolk Pasero: Pastora contro cavaliere. Marcabruno contro Guglielmo IX. Fenomeni d’intertestualit/ in ›L’autrier jost’una sebissa‹ (Bdt 292,30), in: Cultura Neolatina 43 (1983), S. 9–25; Roberto Antonelli: Metamorfosi. La pastorella da Marcabruno a Lorenzo il Magnifico, in: Formes et fonctions de la parodie dans les litt8ratures m8di8vales, hg. von Johannes Bartuschat/Carmen Cardelle de Hartmann, Firenze 2013, S. 133–157, bes. 140–144. 71 Carmina Burana, hg. von Vollmann [Anm. 10], S. 1060; zur mittelalterlichen Bukolik siehe Paul Klopsch: Mittellateinische Bukolik, in: Lectures m8di8vales de Virgile. Actes du Colloque organis8 par l’Pcole FranÅaise de Rome (Rome, 25–28 octobre 1982), Roma 1985, S. 145–165.

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her. CB 89 ist zwar ein anspruchsvolles, aber kein geglücktes Gedicht, vor allem lässt es sich schwerlich einer Gattung zuordnen. Der Redaktor hat es wohl auch so gesehen, jedenfalls legen die darauf folgenden Gedichte CB 90 und CB 91 dies nahe. Das im Codex Buranus unmittelbar folgende Gedicht CB 90 bereitet ebenfalls Probleme. Der Text lautet dort (fol. 38v) folgendermaßen72 (die Stropheneinteilung und die Interpunktion übernehme ich von Vollmann): ITEM 1. EXIIT Diluculo rustica puella cum grege, cum baculo, cum lana nouella. 2. Sunt in grege paruulo ouis et asella, uitula cum uitulo, caper et capella. 3. Conspexit in cespite scolarem sedere: »quid tu facis, domine? ueni mecum ludere!« »Aus zog in der Morgenfrühe eine Bauernmaid / mit ihrer Herde, ihrem Hirtenstab, mit neuer Wolle. Das ist ihre kleine Herde: ein Schaf und ein Eselchen, / ein Kuh- und ein Stierkälbchen, ein Bock und eine Ziege. Da sah sie auf dem Rasen einen Scholaren sitzen: / Was treibst du da, Herr? Komm, spiel mit mir!«73

Das Wort exiit markiert den Anfang des Gedichtes: Es ist in Auszeichnungsschrift und mit alternierenden roten und schwarzen Buchstaben geschrieben. An den Stellen, an denen Vollmann die Strophen zwei und drei beginnen lässt, findet sich eine rote Initiale. Schumann hat auf Unregelmäßigkeiten in Reim und Rhythmus in der letzten Strophe hingewiesen.74 Der letzte Vers hat nämlich eine Silbe zu viel im Abvers, außerdem, abweichend von den restlichen Versen, eine proparoxytone Kadenz, die auch den Reim stört (sed8re / lffldere). Schumann fand eine Parallelüberlieferung in der Handschrift München, BSB, Clm 5539, fol. 35rv, 14. Jh., aus Dießen am Ammersee.75 Diese Handschrift tradiert nur die ersten vier Verse; die Melodie der zwei ersten Verse wiederholt sich nicht für 3 und 4, deshalb nahm Schumann an, dass V. 1–4 eine Strophe bilden und V. 5/6 im Codex Buranus eine spätere Hinzufügung darstellen. Er edierte daher lediglich die zwei ersten Strophen der Handschrift und verbannte die dritte in den kritischen Apparat. Bereits Wolfram von den Steinen kritisierte diese Entschei72 Permalink: http://daten.digitale–sammlungen.de/bsb00085130/image_79 und http://daten. digitale–sammlungen.de/bsb00085130/image_80. 73 Übersetzung in Vollmann [Anm. 10], S. 313. 74 Carmina Burana 1.2, hg. von Hilka/Schumann [Anm. 22], S. 86. 75 Auch diese Handschrift kann online über die Seite der Bayerischen Staatsbibliothek konsultiert werden, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00079147-6.

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dung: Auch wenn diese zwei Verse eine spätere Hinzufügung darstellten, gehörten sie doch nun zum Gedicht, wie es uns im Codex Buranus überliefert wurde.76 Tatsächlich stellt CB 90 in seiner Kürze ein abgerundetes, stimmiges Gedicht dar. In der ersten Strophe wird die Hauptperson, ein Bauernmädchen, vorgestellt und durch ihren Stock, ihre Wolle und ihre Herde als Schäferin charakterisiert. Nicht nur die Tageszeit (der Tagesanbruch) wird angegeben, sondern auch die Jahreszeit angedeutet: Die Wolle ist neu, es muss also Mai oder Juni sein, wenn die Schafe geschoren werden. In der zweiten Strophe wird die Herde beschrieben, die so klein und heterogen wie diejenige in CB 89 ist. Doch gibt es einen wichtigen Unterschied: In Exiit diluculo werden die Tiere paarweise geführt und nur die ersten zwei sind nicht als (Liebes-)Paar zu verstehen. Kuh- und Stierkalb, Ziege und Bock stellen eine natürliche Ordnung dar, in der Weibchen und Männchen zusammen gehören. In der letzten Strophe trifft die Schäferin auf einen Studenten und fordert ihn zum Spiel auf. Das Wort ludere wird unter anderem für das Liebesspiel verwendet, das hier auch durch die Paarordnung der Herde suggeriert wird. Dichter, Sänger und Rezipienten des Liedes waren Lateinkundige, es ist nur folgerichtig, dass der Mann kein Ritter, sondern ein Student ist. In diesem Kontext gesehen, scheinen die Reim- und Rhythmusfehler der letzten Strophe sinnvoll: Es ist die ungebildete Schäferin, die hier das Wort ergreift; die holprige Sprache lässt ihre Ausdrucksweise anklingen. Nach dieser Interpretation sind die zwei letzten Verse dem ursprünglichen Konzept des Gedichtes zugehörig. Bereits Peter Dronke hat für die Einheitlichkeit dieses Gedichtes plädiert und sich dafür auf eine weitere Musikhandschrift bezogen, den berühmten Codex von Las Huelgas (Burgos, Monasterio de las Huelgas, Cod. 9, fol. 93), geschrieben im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts.77 Dort findet sich dieselbe Weise wie in der Handschrift aus Dießen, aber zu einem geistlichen Text über die Auferstehung und um zwei weitere Verse mit einem eigenen Melodieverlauf ergänzt. Diese Parallelüberlieferung zeigt, dass der vollständige Text des Codex Buranus durchaus gesungen werden konnte. Da die Melodie der zwei letzten Verse besser zum weltlichen als zum geistlichen Text (der lediglich aus den wiederholten Wörtern pangat, alleluya, alleluya besteht) passt, plädiert Dronke dafür, dass es 76 Wolfram von den Steinen: Exiit diluculo. Viele Worte zu wenigen Versen, in: Ders.: Menschen im Mittelalter. Gesammelte Forschungen, Betrachtungen, Bilder, hg. von Peter von Moos, Bern/München 1967, S. 246–248. 77 Peter Dronke: Poetic Meaning in the ›Carmina Burana‹, in: Ders., The Medieval Poet and His World, Roma 1984, S. 249–279, hier S. 252–257 (zuerst erschienen in: Mittellateinisches Jahrbuch 10 (1975), S. 116–137). Text und Melodie des Codex von Las Huelgas wurden ediert von Walter Lipphardt: Unbekannte Weisen zu den Carmina Burana, in: Archiv für Musikwissenschaft 12 (1955), S. 122–142, hier S. 128.

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sich beim Text von Las Huelgas um eine geistliche Kontrafaktur von CB 90 handelt. Hier interessiert uns allerdings in erster Linie eine andere Frage, nämlich der Bezug von CB 90 zu CB 89. Vollmann ist der Meinung, dass der Dichter von CB 90 Bezug auf CB 89 nimmt: Das Lied ist sicher im Anschluss an und als Antwort auf die rustica puella von CB 89 gedichtet worden (vgl. Versikel 3a) – was beweist, dass der Dichter von CB 90 (im Gegensatz zu seiner puella) alles andere als naiv war.78

Die Analogie zwischen beiden Liedern ist allerdings schwach. Sie besteht lediglich in der Ähnlichkeit zwischen CB 90,2 und CB 89,3a. In beiden Fällen führt die Schäferin eine kleine und heterogene Herde, in beiden gibt es eine Ziege (mit dem Diminutiv capella bezeichnet), ein Kalb (uitulum), eine Eselin (asella) und einen Ziegenbock (caper). Aber es gibt eine bedeutende Verschiebung, die über die Hinzufügung eines weiblichen Kälbchens und eines Schafs hinausgeht. In CB 89 wirkt die kleine Tierschar ärmlich: Es sind nur vier Tiere, die sich wohl kaum vermehren werden, denn Kälbchen und Eselin sind Einzeltiere in ihrer jeweiligen Gattung und der Bock ist schon alt. In CB 90 wirkt die Herde hingegen fröhlich, nur Schaf und Eselin sind Einzeltiere, während die Kälber und die Ziegen gepaart sind. Die Natur ist nicht bedrohlich wie in CB 89, sondern erotisch aufgeladen: Es ist ja der Frühling, der in der Lyrik zur Liebe einlädt. Mit dieser Verschiebung zum Erotischen wirkt CB 90 wie eine Gattungskorrektur von CB 89, in dem Elemente von Pastourelle, allegorischer Bukolik und antirömischer Satire (aus der einige Themen anklingen) wenig gelungen, ja geradezu konfus vereint werden. Die Analogie zwischen CB 89 und CB 90 ist so schwach, dass sie m. E. auch zufällig entstanden sein könnte, im Kontext des Codex Buranus wirkt sie allerdings eindeutig parodistisch. Zuletzt möchte ich kurz auf die Platzierung dieser zwei Gedichte innerhalb der Sammlung eingehen. Hier zeigt sich, dass die kleinen Gruppen eigentlich Orientierungspunkte in einem Kontinuum darstellen, weshalb die Einteilung auf dieser dritten Ebene besonders umstritten ist. Wachinger fasst die Lieder CB 56–131 in einer Gruppe ›Faszination und Gefahren der Liebe‹ auf mittlerer Ebene zusammen, die er nach formalen Kriterien unterteilt: ungleichstrophige Formen (CB 56–73), gleichstrophige Lieder (CB 74–96), planctus in gleichstrophigen rhythmischen Liedern (CB 110–131).79 Vollmann bildet mit diesen Liedern hingegen vier kleinere Gruppen nach inhaltlichen Kriterien: ›Lieder der Liebesfreude und des Liebesverlangens‹ (CB 56–88), ›verkehrte Liebe‹ (CB 89–102), 78 Vollmann [Anm. 10], S. 1061. Ist die Schäferin allerdings naiv? Sie ergreift sehr selbstbewusst die Initiative. 79 Wachinger [Anm. 14], S. 103f.

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›Liebesklagen‹ (CB 103–121) und ›verschiedene Klagen‹ (CB 122–131).80 Die Liebe, die in den Liedern des Codex Buranus gefeiert wird, ist eine natürliche Kraft, die die jungen Leute gerade dann beherrscht, wenn auch die Natur sich entfaltet, im Frühjahr und Frühsommer.81 Als verkehrt erscheint die Liebe, die gegen göttliche Gesetze (wie im Fall der Priester) oder gegen den normalen Gang der Natur (wie die gleichgeschlechtliche Liebe, aber auch die Liebe der Greisen) verstößt. Das Thema der verkehrten Liebe klingt bereits in CB 87 an, in dem ein Mädchen namens Theodota dazu aufgefordert wird, den jungen Dichter dem reichen Alten vorzuziehen. Auch CB 88 berührt den Bereich des Verbotenen. Dieses Gedicht ist durch die Zusammenführung von zwei Liedern entstanden, die auch selbstständig überliefert wurden.82 Das in CB 88 sprechende Ich behauptet, Caecilia keusch zu lieben, sagt aber in einer finalen revocatio mit einer parodistischen Verwendung liturgischer Sprache, die Jungfrau habe eine »süße Marter erlitten«. Ein zentraler Begriff im Gedicht ist das ludere, das sich in diesem Kontext im Sinne der geistreichen Unterhaltung verstehen lässt. In Strophe 2 führt nämlich der Mann auf, was er mit Caecilia machen möchte mit einem klaren Bezug auf die fünf Stufen der Liebe: ludere, contemplari, tangere, osculari, wobei er die fünfte Stufe explizit ausschließt (quintum, quod est agere, noli suspicari). Ludere steht hier eindeutig für das loqui. Nach einer wiederholten Aufforderung zum Spiel in der Strophe 8 lassen sich die Strophen 9–15 als Beispiele für ein solches Gespräch verstehen, das mit gelehrten Anspielungen auf Grammatik, Rhetorik und Astronomie befrachtet ist. Deshalb kann in dem Sprecher der Lehrer von Caecilia vermutet werden, was diese Liebe zur Übertretung werden lässt. Unmittelbar darauf folgen unsere allegorische Pastourelle CB 89 und ihr parodistisches Nachbarlied CB 90, in dem der angesprochene Mann ein junger Kleriker (scholarem) ist. Die Liebe der jungen Kleriker gehört in der lateinischen Liebeslyrik noch zum Bereich der natürlichen, erlaubten oder mindestens tolerierten Liebe. CB 90 gehört daher noch zum Übergangsbereich, während die verbotene Liebe unmissverständlich mit CB 91 – eine moralische Satire mit dem Titel De sacerdotibus, in der die Priesterehe gegeißelt wird – zum Thema wird. CB 91 ist mit den zwei vorangehenden Liedern inhaltlich verbunden: Mit 80 Vollmann [Anm. 10], S. 907f. 81 Dazu Burghart Wachinger : Natur und Eros im mittelalterlichen Lied, in: Ders., Lieder und Liederbücher. Gesammelte Aufsätze zur mittelhochdeutschen Lyrik, Berlin 2011, S. 67–95. 82 Wenn man das Lied in der Fassung des Codex Buranus kennenlernen will, ist es unbedingt notwendig, es in der Edition Vollmanns zu lesen. Schumann war in der kritischen Edition bestrebt, die »Urtexte« zu edieren, und hat deshalb den Text der zwei separat überlieferten Lieder als Grundlage genommen und ihn außerdem gegenüber den Textzeugen durch Strophenverschiebungen und Konjekturen verändert.

Eine parodistische Nachbarschaft in den ›Carmina Burana‹

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CB 89 hat es das Thema der Klerikersatire, mit CB 90 das Motiv der Klerikerliebe (der Student muss ja ein junger clericus sein) gemeinsam. Das Thema der Klerikerliebe wird in CB 92 fortgeführt, in dem Phyllis und Flora darüber streiten, ob der Kleriker oder der Ritter der bessere Liebhaber sei. Es stellt sich die Frage, inwiefern CB 89 überhaupt thematisch in diesen Grenzbereich zwischen erlaubter und verkehrter Liebe gehört. Als Pastourelle ist es prinzipiell zur erotischen Dichtung zu rechnen, obwohl darin andere Themen verhandelt werden. Diese Gattungszugordnung scheint den Ausschlag für die Einordnung von CB 89 in den Kontext der Liebesdichtungen gegeben zu haben; die Bindung dieses Liedes an das Thema Liebe geschieht allerdings lediglich durch sein parodistisches Nachbarlied CB 90.

IV.

Zum Schluss

Parodie als Beziehung zwischen Texten kann auf zwei verschiedenen Achsen funktionieren. Sie verbindet primär einen parodistischen Text mit seinen VorTexten, sie kann aber auch innerhalb einer Sammlung einen Text in Bezug zu seinen Ko-Texten setzen. Im ersten Fall gehört Parodie zur literarischen Produktion, im zweiten zur Rezeption, sei sie von einer ordnenden Instanz (dem Redaktor) vermittelt oder nicht. In diesem Aufsatz wurde als Beispiel die Sammlung des Buranus genommen, in der ein klares Konzept erkennbar ist und die Vorgehensweise eines Redaktors durch den Vergleich mit der Parallelüberlieferung mindestens in Umrissen rekonstruiert werden kann. Eine parodistische Nachbarschaft konnte erkannt und interpretiert werden, da wir von den überlieferten Texten ausgegangen sind. Die Frage nach dem ›Urtext‹ muss in diesem Kontext ausgeklammert bleiben, denn das ursprüngliche poetische Konzept wird in der Sammlung von der Interpretation des Redaktors überlagert. Daher lässt die parodistische Nachbarschaft das Textverständnis eines mittelalterlichen Lesers, des Redaktors, erkennen und gewährt einen Einblick in die Funktionsweise und die Bedeutung der mittelalterlichen Parodie.

Seraina Plotke

Polydimensionale Parodie. Verfahren literarischer Verkehrung im ›Helmbrecht‹ Wernhers des Gärtners

Die Geschichte von Helmbrecht, die Wernher der Gärtner in seiner knapp 2000 Verse umfassenden Reimpaardichtung erzählt, lässt sich allein vom Inhalt her mühelos zusammenfassen.1 Helmbrecht ist der Sohn eines reichen Bauern. Er hat wunderschönes, langes, blondes Haar und trägt eine ganz besondere Mütze, die reich bestickt ist mit Szenen aus der Literatur : So ist auf der Haube etwa die durch Paris und seinen Raub der Helena ausgelöste Belagerung Trojas zu sehen, aber auch Eneas, der mit dem Schiff den Flammen der zerstörten Stadt entkommt. Ebenso ist König Karl auf der Kappe abgebildet, zusammen mit Roland, Turpin und Olivier, des Weiteren Dietrich von Bern während der Rabenschlacht, ja sogar Szenen aus dem Minnesang werden gezeigt. Die Mütze wiederum ist Auslöser dafür, dass Helmbrecht auch entsprechend edle Kleider haben und Ritter werden möchte, weshalb er seinen Eltern so lange in den Ohren liegt, bis sie ihm diese Wünsche gewähren, obwohl der Vater schwere Bedenken trägt. Reich ausgestattet zieht der Bauernsohn los, wird jedoch – wie zu erwarten war – kein höfischer Ritter, sondern schließt sich einer Gruppe von Raubrittern an: Er terrorisiert die Bevölkerung und zieht brandschatzend durch die Lande. Zwischenzeitlich kehrt er an den elterlichen Hof zurück, doch ist er vollends zu einem eingebildeten Gecken geworden, der sich über die Familie mokiert. Als er von neuem aufbricht, nimmt er seine Schwester mit, um sie mit einem der Raubritter zu verheiraten. Mitten in das wilde Treiben der Hochzeitszeremonie treffen richterliche Schergen, die den Missetätern bereits auf der Spur waren. Sie nehmen die üble Gesellschaft gefangen und hängen alle außer Helmbrecht, dem sie die Augen ausstechen und die Hände und Füße abhacken. Dieser kriecht sodann als blinder Krüppel nach Hause, erntet nun aber seinerseits vom Vater

1 Die Erzählung ›Helmbrecht‹ von Wernher dem Gartenaere wird auf die Jahre 1270–80 datiert, über den Verfasser ist so gut wie nichts bekannt. Siehe weiterführend: Fritz Peter Knapp: Wernher der Gärtner, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10, Berlin/New York 21999, Sp. 927–936.

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nur Hohn und Spott. Zuletzt wird er von den wütenden Bauern, denen er als Raubritter geschadet hat, aufgegriffen und am nächsten Baum aufgeknüpft. Wernhers Erzählung ist nicht nur inhaltlich bemerkenswert aufgrund der unbarmherzigen Gewalt, die sie dem Titelhelden am Ende angedeihen lässt,2 sondern zeigt eine weitere Charakteristik durch ihre narrative Form, da sie mehrheitlich aus dialogischen Passagen besteht: Erzählt wird die Geschichte im Wesentlichen dadurch, dass Vater und Sohn zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Ereigniskette miteinander Gespräche führen, durch die der Gang der Handlung erkennbar wird.3 Insofern bestehen rund zwei Drittel des Textes aus direkter Figurenrede, während auf die Erzählstimme nur gut 700 Verse fallen.4 Passagenweise wird also weitgehend auf eine vermittelnde Instanz verzichtet, was dem Text Züge einer Dramenpartitur verleiht.5 Der formale Aufbau des Werks lässt sich denn folgendermaßen skizzieren: Nach einem kurzen Prolog schildert die Erzählstimme die Ausgangssituation, wobei die Beschreibung der Mütze des Protagonisten breiten Raum einnimmt. Es folgt als erste große dialogische Sequenz das Vater-Sohn-Gespräch vor Helmbrechts Auszug, in welchem der reiche Bauer warnende Schreckensbilder zeichnet, um seinen Sprössling von dessen Plänen abzubringen. In wenigen Dutzend Versen berichtet der Erzähler darauf vom Raubrittertum Helmbrechts. Mittels einer zweiten umfangreichen Gesprächspassage werden die Geschehnisse bei der ersten Rückkehr an den Hof der Eltern umrissen. Wiederum reden vornehmlich der Vater und der Sohn miteinander, auch wenn sich Mutter und Schwester mitunter ebenfalls zu Wort melden. Helmbrecht verhöhnt die bäurischen Verhältnisse zu Hause und zieht seine Schwester Gotelint dadurch auf seine Seite, dass er sie überzeugt, seinen Spießgesellen Lemberslint zum Mann zu nehmen. Der Erzähler schildert sodann kurz die Hochzeitszeremonie, die im Kreise der Raubritter stattfindet und von den Bütteln unterbrochen wird, die die Übeltäter zur Rechenschaft ziehen. Dialogisch gestaltet ist die erneute Heimkehr Helmbrechts, indem eine Unterredung präsentiert wird, im Zuge derer der Vater 2 Text und Zitate richten sich nach der Ausgabe: Wernher der Gartenaere, Helmbrecht, hg. von Friedrich Panzer/Kurt Ruh, 10. Aufl. besorgt von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 1993. 3 Siehe dazu die detaillierte Analyse von Fritz Tschirch: Die Struktur der Handlungsführung im ›Helmbrecht‹, in: Festschrift für Karl Bischoff, zum 70. Geburtstag, hg. von Günther Bellmann [u. a.], Köln/Wien 1975, S. 416–441. 4 Diesen Aspekt problematisiert Peter Göhler : Die Erzählung von der alten hovew%se im ›Helmbrecht‹. Ihre Bedeutung für den Gehalt und die Struktur der Erzählung, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg, München 1996, S. 233–241. 5 Vgl. zu diesem Gedanken Gertrude Durusoy : Das Märe vom ›Helmbrecht‹: Nur Erzählung oder schon Drama?, in: So wold ich in fröiden singen. Festgabe für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag, hg. von Carla Dauven-van Knippenberg/Helmut Birkhan, Amsterdam/Atlanta 1995, S. 169–176.

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den nun verkrüppelten, blinden Sohn zum Teufel jagt. Der Text schließt mit einem knappen Erzählerbericht vom Tod des Hauptakteurs und dem Epilog.6 Die spezifische Kombination von Plotstruktur und stilistischen Mitteln, wie sie im ›Helmbrecht‹ in eigentümlicher Weise zum Tragen kommt, hat zu den unterschiedlichsten Interpretationen geführt, wobei sozialgeschichtliche Lektüren neben genuin textwissenschaftlichen Deutungen stehen. Was die Intertextualitätsforschung angeht, sind insbesondere Bezüge zu Neidharts Liedern hervorgehoben worden,7 zumal sich die Erzählinstanz in der Exposition der Geschichte selbst auf den Minnesänger beruft. Während her N%thart zum Auftakt des Texts als Referenz explizit genannt wird (V. 217), greift der ›Helmbrecht‹ in Struktur und Substanz jedoch auch auf diverse weitere textuelle Muster und Modelle zurück, die sich in der volkssprachlichen Literatur des frühen 13. Jahrhunderts finden.8 Alle diese Bezugnahmen gestalten sich in der Art spezifischer Nachahmungsverhältnisse, von denen sich die meisten als Verfahren der Parodie beschreiben lassen. Tatsächlich kann man Wernhers Versnovelle von ihrer Machart her gleich in mehrfacher Hinsicht als Parodie lesen. Geht man von einer sehr allgemeinen Definition aus, die literarische Parodie als ein Referenz-Modell versteht, bei dem sich der neue Text auf eine Vorlage bezieht, die er konterkariert, häufig im Sinne einer spielerisch-verfremdenden oder auch spöttisch-verballhornenden Nachahmung,9 dann handelt es sich beim ›Helmbrecht‹ um eine polydimensionale Parodie: Zeichnet sich die Reimpaardichtung doch dadurch aus, dass sie sich zu einer Reihe von unterschiedlichen Prätexten in ein imitatorisch-verzerrendes

6 Aufgeschlüsselt nach genauen Versangaben kann der formale Aufbau der Dichtung wie folgt dargestellt werden: V. 1–225: Erzählerrede; V. 226–645: Vater-Sohn-Dialog (manchmal sind kurze Erzählerkommentare eingeschoben); V. 646–710: Erzählerrede; V. 711–1455: VaterSohn-Dialog (vereinzelt gibt es knappe Erzählerkommentare und Redebeiträge von anderen Figuren); V. 1456–1711: Erzählerrede (mitunter sind kurze Dialogpassagen eingeschoben); V. 1712–1811: Vater-Sohn-Dialog; V. 1812–1934: Erzählerrede (bisweilen durchsetzt mit kürzesten Figurenreden). 7 Vgl. Ulrich Seelbach: Hildemar und Helmbrecht. Intertextuelle und zeitaktuelle Bezüge des ›Helmbrecht‹ zu den Liedern Neidharts, in: Wernher der Gärtner, ›Helmbrecht‹. Die Beiträge des Helmbrecht-Symposions in Burghausen 2001, hg. von Theodor Nolte/Tobias Schneider, Stuttgart 2001, S. 45–69. 8 Mit summarischem Charakter: Theodor Nolte: Wernher der Gärtner, Helmbrecht, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: (22. 04. 2016); Knapp [Anm. 1], Sp. 930–932. 9 Siehe zur Problematik der Definition der Parodie auch die einleitenden Überlegungen der Herausgeber des vorliegenden Bandes. Auf die Schwierigkeiten, wie sie sich mit dem Parodiebegriff gerade hinsichtlich volkssprachiger mittelalterlicher Literatur ergeben, hat jüngst auch Friedrich Wolfzettel rekurriert (vgl. Friedrich Wolfzettel: Parodie und Artusroman. Versuch einer Problematisierung, in: Ironie, Polemik und Provokation, hg. von Cora Dietl [u. a.], Berlin 2014, S. 303–317, hier S. 303–307).

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Verhältnis setzt, wobei sie über den Rekurs auf Neidhart den prototypischen Parodisten als Schlüssel der Interpretation im Text installiert. Grundsätzlich ist die literarische Parodie als eine ludische Form der Textproduktion zu bestimmen, die spezifische Relationen zu einem Prätext oder mehreren Prätexten schafft.10 G8rard Genette subsumiert die Parodie denn auch unter die diversen Formen der Transtextualität, die sich als »Literatur auf zweiter Stufe« fassen lassen und die durch je unterschiedliche Relationen zwischen Hypertext und Hypotext, wie Genette die Bezugsebenen in diesem Fall nennt, geprägt sind.11 Was die genaue Definition angeht, verwendet der französische Literaturtheoretiker allerdings einen sehr engen Parodiebegriff, den er von verwandten Typen wie dem Pastiche, der Travestie oder der Persiflage abgrenzt.12 Alle diese Verfahren sind gemäß Genette dadurch gekennzeichnet, dass die in Abhängigkeit von den Vorlagen gestalteten Texte die Bezugsquellen entweder formal-stilistisch oder inhaltlich nachahmen bzw. transformieren. Während Genette die verschiedenen imitatorischen Vorgehensweisen unterschiedlichen Klassifizierungen der Hypertextualität zuordnet, fasst Theodor Verweyen das Phänomen in seiner Definition wesentlich allgemeiner, indem er Parodieren als eine »Nachahmungshandlung« bezeichnet, bei der die Absicht »auf ›verzerrende‹, ›brechende‹ Nachahmung des ›Gegenstands‹«13 zielt und der nachgeahmte ›Gegenstand‹ ein einzelnes Werk, ein formales Gattungsmuster, ein spezifischer Schreibstil usw. sein kann.14 Verweyens breitere Bestimmung der Parodie eignet sich in der Auseinandersetzung mit dem ›Helmbrecht‹ insofern besonders, als sie formale, stilistische und inhaltliche Aspekte des Nachahmungsverhältnisses gleichermaßen einbezieht. Da die Parodie nicht nur nachahmt, sondern in der Nachahmung zugleich vom Vorbild abweicht – wodurch sich die ›Verzerrung‹ resp. ›Brechung‹ einstellt –, hat sie »mit ›Mitteln‹ nachzuahmen, die für die Verwirklichung der Absicht einer Abweichung geeignet sind.«15 Was diese ›Mittel‹ anbelangt, nennt Verweyen die von Erwin

10 Das Phänomen der Parodie konzeptuell von verwandten Formen der Intertextualität abzugrenzen, ist aufgrund der Komplexität der Begriffsgeschichte der Parodie kein leichtes Unterfangen. Siehe einschlägig: Theodor Verweyen/Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt 1979, S. 1–26; G8rard Genette: Palimpsestes. La litt8rature au second degr8, Paris 1982, dt.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Französ. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993, S. 9–47; Margaret A. Rose: Parodie, Intertextualität, Interbildlichkeit, Bielefeld 22006, S. 1–74. 11 Genette [Anm. 10], S. 14. 12 Vgl. Genette [Anm. 10], S. 21–47. 13 Theodor Verweyen: Eine Theorie der Parodie. Am Beispiel Peter Rühmkorfs, München 1973, S. 64/65. 14 Vgl. Verweyen [Anm. 13], S. 64. 15 Verweyen [Anm. 13], S. 65.

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Rotermund beschriebenen Verfahren der ›Substitution‹, der ›Adjektion‹ sowie der ›Detraktion‹.16 Parodien haben aufgrund dieser imitatorischen Verzerrungen und Verkehrungen oft eine komische Wirkung, müssen aber den Prätext nicht per se abwerten, sondern können auch als Hommage an diesen verstanden werden, da sie dessen Gewicht und Bedeutung im Grunde genommen gerade hervorheben. Damit die (vom Autor intendierte) Parodie gelingt, muss sie einen Adressatenkreis anvisieren, der die Prätexte kennt und von daher in der Lage ist, die Imitation selbst sowie die Abweichungen von der Vorlage als solche wahrzunehmen.17 Insofern gilt es bei der Bestimmung eines Texts als Parodie, die nachgeahmten Muster und Modelle zu ermitteln und ihr Verhältnis zum neuen Text zu beschreiben. Was der ›Sinn‹ der Parodie ist, welche Bedeutung sie für die Interpretation des Hypertexts und unter Umständen auch für die über diesen gespiegelte Einschätzung der Hypotexte hat, lässt sich nicht generell beantworten, sondern kann nur über die Analyse des Einzelbeispiels für den betreffenden Fall eruiert werden. Sowohl auf der Handlungsebene wie auch hinsichtlich seiner Rhetorizität orientiert sich der ›Helmbrecht‹ an diversen textuellen Mustern, die der Verfasser bei seinem Publikum als bekannt voraussetzen konnte.18 Insofern darf man Wernher durchaus unterstellen, dass er bei der Konzeption der Reimpaardichtung davon ausging, die Rezipienten würden die parodistischen Elemente seines Texts erkennen.19 Verknüpft mit der spielerisch-verfremdenden Nachahmung der betreffenden Vorlagen zeigt die Verserzählung vor allem im ersten Teil markant satirische Züge.20 Welche Konsequenzen dies für deren Interpretation hat, lässt sich im Zusammenhang mit der Erörterung der diversen parodierten literarischen Muster herausarbeiten. Wie sich zeigen wird, handelt es sich beim ›Helmbrecht‹ insofern um eine polydimensionale Parodie, als 16 Vgl. Verweyen [Anm. 13], S. 65. Zu den genannten Verfahren der Abweichung: Erwin Rotermund: Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München 1963, S. 9. 17 Vgl. Verweyen [Anm. 13], S. 66. Siehe zu diesem Gedanken auch die Einleitung der Herausgeber sowie den Beitrag von Nikolaus Henkel im vorliegenden Band. 18 Die im ›Helmbrecht‹ parodierten Vorlagen gehören alle der volkssprachigen höfischen Literatur an. Dass sich Wernher mit seiner Verserzählung an ein adeliges Publikum richtete, zu dessen literarischem Horizont die einschlägige Epik und Lyrik der Zeit gehörte, ist heute unbestritten. 19 Siehe zur Supposition eines bestimmten Wissensstands der Rezipienten als grundsätzliche methodologische Problematik bei der Identifikation einer Parodie in historischer Perspektive die Überlegungen in der Einleitung des vorliegenden Bandes. 20 Satirisch hier verstanden im Sinne der »didaktisch-moralischen Verspottung des Lasters« (Burkhard Meyer-Sickendiek: Satire, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, hg. von Gert Ueding, Darmstadt 2007, Sp. 447–469, hier Sp. 447). Zur Verknüpfung von Parodie und Satire im lateinischen Mittelalter siehe die grundsätzlichen Überlegungen von Paul Lehmann: Die Parodie im Mittelalter, München 1922, insbes. S. 13.

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Wernhers Erzählung sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf derjenigen des discours verschiedene Textmodelle imitiert, was in der Zusammenschau zu eben jenem Konglomerat des unernsten Ernsts führt, der zwischen affirmativer und mokierender Geste changiert und sowohl in sozial- als auch in literaturkritischer Hinsicht interpretatorisch so schwer zu fassen ist. Die verschiedenen im ›Helmbrecht‹ imitierten und auch konterkarierten literarischen Modelle können zu heuristischen Zwecken wie folgt differenziert werden. Auf der Ebene der histoire ahmt die Erzählung über den Bauernsohn Helmbrecht die Makrostruktur des zweifachen Auszugs resp. der doppelten Aventiure-Fahrt des klassischen Artusromans nach, die in der mediävistischen Forschung häufig als Doppelwegstruktur bezeichnet wird.21 Wie Erec zieht Helmbrecht zunächst als unbeschriebenes Blatt in die Welt, kommt sodann mit einiger Erfahrung an den Hof zurück – allerdings nicht an einen Adelshof, wie im Artusroman, sondern an den elterlichen Bauernhof –, um nach einem zweiten Auszug und einer nachmaligen Handlungssequenz final zurückzukehren. Während die Helden des Artusromans im Zuge der Aventiure-Fahrten durch die Bewährungen reifen und zuletzt im positiven Sinne ihre wahre Bestimmung in der Gesellschaft finden, erhält Helmbrecht zum Schluss die erbarmungslose Quittung für sein Handeln, das eben nicht einem ehrenvollen Artusritter entspricht, sondern das Verhalten eines schändlichen Raubritters ist. Das arthurische Schema des zweifachen Auszugs und der damit verbundenen Bewährung dient für die Interpretation des ›Helmbrecht‹ als Kontrastfolie.22 Sie verdeutlicht, dass der Protagonist der Versnovelle auf seinen Wegen fern des heimischen Bauernhofs auf die Probe gestellt wird. Er selbst will ja explizit höfischer Ritter werden,23 versagt aber vollends, indem er sich nicht als ehren21 Das von Hugo Kuhn geprägte Strukturmodell ist zu einem festen Bestandteil der mediävistischen Forschung geworden, siehe grundlegend und weiterführend: Hugo Kuhn: Erec (1948), in: Hartmann von Aue, hg. von Hugo Kuhn/Christoph Cormeau, Darmstadt 1973, S. 17–48; Hans Fromm: Doppelweg, in: Werk – Typ – Situation: Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. Fs. Hugo Kuhn, hg. von Ingeborg Glier [u. a.], Stuttgart 1969, S. 64–79; Elisabeth Schmid: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1999, S. 69–87. 22 Vgl. zu diesem Gedanken Ernest W. B. Hess-Lüttich: Kommunikation als ästhetisches ›Problem‹. Vorlesungen zur Angewandten Textwissenschaft, Tübingen 1984, S. 188. 23 Vgl. V. 299–302, wo Helmbrecht vor seinem ersten Auszug seinem Vater gegenüber argumentiert: Vater, und wirde ich geriten, / ich tr0we von hovel%chen siten / immer alsi wol genesen, / sam die ze hive ie sint gewesen. Wenig später findet sich der wörtliche Bezug auf Hartmanns ›Iwein‹, indem Helmbrecht festhält (V. 328): ich wil mich niht durch w%p verligen. Vgl. dazu auch Ralf-Henning Steinmetz: Komik in mittelalterlicher Literatur. Überlegungen zu einem methodischen Problem am Beispiel des ›Helmbrecht‹, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 49 (1999), S. 255–273, hier S. 268.

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werter Kämpfer geriert, sondern als Raubritter sein Unwesen treibt. Gemäß der Artusstruktur müsste er an den Bewährungsproben wachsen, um dadurch zuletzt den verdienten Lohn als achtbarer Ritter und Teil der höfischen Gemeinschaft zu erhalten. Die Aventiure-Fahrten vom Hof weg und wieder zu diesem zurück dienen im Artusroman dem Lernprozess, der Einsicht und der Erkenntnis, wie gesellschaftlich angemessenes Handeln zu begreifen ist. Dieser Lernprozess findet bei Helmbrecht nicht statt, sondern wird in sein Gegenteil verkehrt: Der Bauernsohn geht den in der Doppelung gesteigerten Weg des Verderbens, der – in direkter Spiegelung des glücklichen Heimgangs der Artushelden – im vollständigen, gerade auch physischen Untergang des Protagonisten endet. So wird hier das an sich ernsthafte und in dieser Hinsicht auch ernst gemeinte Thema, nämlich die Frage nach der Möglichkeit sozialer Mobilität und gesellschaftlichen Aufstiegs,24 in einer Weise verhandelt, die den Text – aufgrund der Transposition ritterlich-höfischer Handlungsmuster ins bäuerische Milieu – in ein Licht parodistischer Komik rückt. Der Hof, der als Ausgangs- und Zielpunkt der Geschichte fungiert, ist nicht wie im Artusroman derjenige eines Königs, sondern gehört einem Meier, genau so, wie es sich beim Hauptakteur nicht um einen Adligen, sondern um einen Bauernsohn handelt. Diese Verschiebung markiert eine Fallhöhe der Ambition, die Komik hervorruft.25 Allerdings schlägt die Geschichte gegen Ende da in bitteren Ernst – zumindest für den Protagonisten – um, wo die Fallhöhe gleichsam zu groß geworden ist, so dass der ›Held‹ buchstäblich am Boden kriecht, weil er keine Füße mehr hat, und zuletzt ganz zu Grunde geht. Ist die Kontrastfolie auf der Ebene der histoire der klassische Artusroman, lässt sich mit Blick auf den discours die volkssprachige didaktische Literatur als Vorlagenmodell des ›Helmbrecht‹ identifizieren. Das Muster des Vater-Sohnoder Mutter-Tochter-Dialogs findet man in höfischen Lehrdichtungen aus dem frühen 13. Jahrhundert. In erster Linie anzuführen sind hier die sogenannten Winsbeckischen Gedichte, die in der Regel im Verbund miteinander überliefert sind: der ›Winsbecke‹ und die ›Winsbeckin‹.26 Während im ›Winsbecken‹ ein

24 Dazu weiterführend Anton Schwob: Das mittelhochdeutsche Märe von ›Helmbrecht‹ vor dem Hintergrund der mittelalterlichen ordo-Lehre, in: Geistliche und weltliche Epik des Mittelalters in Österreich, hg. von David R. McLintock [u. a.], Göppingen 1987, S. 1–16; Petra Menke: Recht und Ordo-Gedanke im ›Helmbrecht‹, Frankfurt a. M. [u. a.] 1993; Günter Lange: Zeitkritik im ›Helmbrecht‹ von Wernher dem Gärtner und ihre sozialgeschichtlichen Hintergründe, Baltmannsweiler 2009, S. 89–118. 25 Siehe zum Verhältnis von Parodie und Komik die grundsätzlichen Überlegungen der Herausgeber in der Einleitung des vorliegenden Bandes. 26 Die beiden in gleicher Strophenform gehaltenen Dichtungen werden auf die Jahre 1210–20 datiert, stammen jedoch nicht vom selben Verfasser (siehe Frieder Schanze: ›Winsbecke‹,

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Vater seinen Sohn in Fragen der ritterlichen Ethik belehrt und dabei in einer längeren monologischen Passage den Sohn wiederholt anaphorisch apostrophiert, der Sohn darauf seinerseits in einem ausführlichen Redebeitrag repliziert, ist in der ›Winsbeckin‹ der lehrhafte Dialog zwischen Mutter und Tochter in ständiger Wechselrede gestaltet, wie sie auch im ›Helmbrecht‹ über weite Strecken vorherrscht.27 Inhaltlich geht es in beiden Texten um höfische Tugendlehren, wobei in der ›Winbeckin‹ die Minne-Thematik im Vordergrund steht, im Vater-Sohn-Gespräch hingegen das ganze Spektrum der Belange der Ritterschaft abgehandelt wird.28 Insofern zeigen sich im ›Winsbecken‹ auch deutliche thematische Korrespondenzen zum ›Helmbrecht‹, dreht sich doch alles um das richtige Verhalten bei Hof, wobei die Vaterfigur in beiden Werken immerzu neue Lehren präsentiert und mitunter als Warner auftritt.29 Der Bezug des ›Helmbrecht‹ zur ›Winsbeckin‹ hingegen ist vor allem durch die manifeste Dialogstruktur in der Lehrsituation an sich gegeben, wie sie auch in der lateinischen Literatur der Zeit omnipräsent ist.30 Auch hinsichtlich der Imitation der didaktischen Literatur auf der Ebene des discours ist festzuhalten, dass das adlige Personeninventar der Prätexte im ›Helmbrecht‹ durch Exponenten der bäuerlichen Sphäre ersetzt ist und damit der höfisch-erzieherische Impetus der Vorlagen spielerisch verdreht wird.31 So gilt sowohl für die Nachahmung der Doppelwegstruktur des Artusromans als auch des Modells des lehrhaften Dialogs, dass die Relation von Hypertext und

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›Winsbeckin‹ und ›Winsbecken-Parodie‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10, Berlin/New York 21999, Sp. 1224–1231). Für formale wie inhaltliche Details zu beiden Dichtungen siehe die Edition: Winsbeckische Gedichte nebst Tirol und Fridebrant, hg. von Albert Leitzmann, 3., neubearb. Aufl. von Ingo Reiffenstein, Tübingen 1962. Siehe etwa: Bernd Bastert: den wolt er lÞren rehte tuon. Der ›Winsbecke‹ zwischen Didaxe und Diskussion, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium Bonn 2007, hg. von Elke Brüggen [u. a.], Berlin 2012, S. 303–318; Elke Brüggen: Minne im Dialog. Die ›Winsbeckin‹, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur, hg. von Henrike Lähnemann/Sandra Linden, Berlin 2010, S. 223–238. In der mediävistischen Forschung sind die Vater-Sohn-Gespräche, wie sie sich im ›Helmbrecht‹ zeigen, in erster Linie auf Hartmanns von Aue ›Gregorius‹ bezogen und als Nachbildung des Gesprächs zwischen dem Abt und Gregorius interpretiert worden, wobei sowohl Übereinstimmungen bei den Motiven als auch bei der Struktur des Dialogs erkannt werden, so: Erika Langbroek: Warnung und Tarnung im ›Helmbrecht‹. Das Gespräch zwischen Vater und Sohn Helmbrecht und die Haube des Helmbrecht, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 36 (1992), S. 141–168; Kurt Ruh: Helmbrecht und Gregorius, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 85 (1963) S. 102–106. Siehe grundlegend Carmen Cardelle de Hartmann: Lateinische Dialoge 1200–1400. Literaturhistorische Studie und Repertorium, Leiden 2007. Eine andere Form der parodistischen Imitation wählte der unbekannte Verfasser der sogenannten ›Winsbecken-Parodie‹, die nicht das höfische Personal auswechselt und an seiner Stelle Bauern setzt, sondern die Morallehre insofern verkehrt, als sie aus der Tugend- eine Lasterlehre macht (vgl. dazu Schanze [Anm. 26], Sp. 1228/1229).

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Hypotexten in ihrer Charakteristik zwar satirisch-verfremdende Züge aufweist, das Moment der Ridikülisierung der Vorlage selbst jedoch weitgehend fehlt. Die betreffenden Gattungsmuster werden im ›Helmbrecht‹ zwar transformatorisch gebrochen, aber nicht in spöttischer Weise ausgestellt. Tatsächlich sind jedoch auch ironisierende Überzeichnung und Persiflage augenfällige Elemente von Wernhers Versnovelle, was ebenfalls mit der Bezugnahme auf textuelle Motive und Schemata aus der höfischen Literatur der Zeit zusammenhängt. Im Zentrum entsprechender Konterkarierungen steht die Erzählinstanz, der Sprecher, der die Geschichte vom Bauernsohn zum Besten gibt. Eine erste diesbezügliche Besonderheit zeigt sich im ›Helmbrecht‹ bereits in den Auftaktversen. Bei der Erzählinstanz handelt es sich genau genommen nicht um eine heterodiegetische, wie es in mittelalterlichen Erzähltexten der Regelfall ist, sondern insofern um eine homodiegetische,32 als sich der Sprecher selbst als Beobachter der Geschehnisse inszeniert und den Bauernsohn mit den langen, blonden Haaren eigens gekannt haben will: hie wil ich sagen waz mir geschach, daz ich mit m%nen ougen sach. Ich sach, deist sicherl%chen w.r, eins geb0ren s0n, der truoc ein h.r, daz was reide unde val; ob der ahsel hin ze tal mit lenge ez vollecl%chen gie. in eine h0ben er ez vie, diu was von bilden waehe. (V. 7–15)

Zur hier formulierten Inanspruchnahme persönlicher Augenzeugenschaft kommt hinzu, dass sich der Erzähler gerade in den ersten gut 200 Versen, in denen er seinen Protagonisten vorstellt, mit diversen weiteren Wahrheitsbeteuerungen direkt an seine Adressaten wendet: ez ist w.r daz ich iu lise (V. 74); des ich bin / mit w.rheit wol bewaeret (V. 89/90); ich wil des mit w.rheit jehen (V. 208). Derartige Beglaubigungen des Erzählten sind typisch für narrative Instanzen, wie sie sich insbesondere in volkssprachigen Bearbeitungen antiker Stoffe finden, wobei dort mitunter die Schriftquelle an sich, der Verfasser der Vorlage oder ein antiker Autor als Garant für die Zuverlässigkeit des Berichteten 32 Die Unterscheidung von hetero- und homodiegetischen Erzählern geht auf G8rard Genette zurück, der Erzähler, die gleichzeitig eine Figur der Erzählung darstellen, und solche, für die dies nicht zutrifft, differenziert, wobei er erstere homodiegetisch, letztere heterodiegetisch nennt. Beim homodiegetischen Erzähler gibt es nach Ansicht Genettes verschiedene Spielarten: Er kann die Hauptfigur der Geschichte, eine Nebenfigur oder auch ein unbeteiligter Zeuge sein. Vgl. G8rard Genette: Discours du r8cit, in: ders., Figures III, Paris 1972, S. 67–273; dt.: Die Erzählung, mit einem Nachwort hg. von Jürgen Vogt, aus dem Französischen v. Andreas Knop, München 1994, S. 175/176.

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mit bemüht wird.33 Im ›Helmbrecht‹ häufen sich die nachdrücklichen Erklärungen, je expliziter es um die reich bestickte Kappe des Bauernsohns geht. So versichert der Sprecher den Zuhörern den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte, bevor er mit der Schilderung der auf der Mütze abgebildeten Szenen beginnt, wie folgt: mit einer kurzen rede sleht künde ich iu daz maere, waz 0f der h0ben waere wunders erziuget (daz maere iuch niht betriuget; ich sage ez niht n.ch w.ne). (V. 26–31)

Und ganz ähnlich konstatiert er, als er die Beschreibung der zweiten Hälfte der Kopfbedeckung ankündigt: daz maere iuch niht betrüllet (V. 60). Mit derartig übertreibenden Bekräftigungen des Tatsachenberichts persifliert Wernher offensichtlich einen bestimmten höfischen Erzählstil, der immer wieder formelhafte Wahrheitsbeteuerungen einflicht und auf Gewährsleute rekurriert, indem Augenzeugen an den Anfang der Überlieferungskette gestellt werden. Dieser vornehmlich in Antikenromanen verwendete Stil ist hier insofern spöttisch konterkariert, als die Beglaubigungstopoi nicht von einem heterodiegetischen Erzähler ausgehen, der über bedeutende Helden und ihre Taten berichtet, sondern von einem homodiegetischen, der als zu verbürgenden Sachverhalt das lange, blonde Haar und die spektakuläre Mütze eines Bauernsohns in den Mittelpunkt seiner Geschichte rückt. Die reichverzierte Kappe beschreibt der Erzähler denn auch sehr ausführlich. 33 So beispielsweise im Eneasroman Heinrichs von Veldeke: diu b0ch sagent uns vor w.r (V. 177), als uns daz b0ch saget vor w.r (V. 5199), als uns saget Virgili0s / von ir al vor w.r (V. 2706/2707), alsi hirde ich sprechen, / daz ez w.r w.re (V. 8418/8419), daz saget man uns vor ungelogen (V. 9425). Zitiert nach der Ausgabe: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1997. Omnipräsent sind derartige Wahrheitsbeteuerungen etwa auch in Rudolfs von Ems ›Alexander‹, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen: daz ist w.r (V. 2288, V. 2357, V. 5391, V. 9438, V. 12869, V. 15695, 15709, V. 16329, V. 17051), als diu w.rheit w%set mich (V. 5125, V. 21114), des diu w.rheit giht (V. 12410), diu schrift der rehten w.rheit / hat uns gewaerl%che geseit (V. 12863/12864), giht die w.rheit (V. 13236), diz ist w.r .n allen w.n (V. 15388), uns tuot die w.rheit gewis (V. 17306), uns seit diu w.rheit der schrift (V. 21018). Zitiert nach der Edition: Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, hg. von Victor Junk, Leipzig 1928 (Nachdruck Darmstadt 1979). Was die Pointierung der Augenzeugenschaft angeht, findet sich gerade in den Bearbeitungen des Trojastoffs das Motiv der Quellenkette, die auf einen unmittelbaren Augenzeugen der erzählten Geschehnisse zurückgeführt wird. Siehe einschlägig zu diesem Problemkomplex: Stefanie Schmitt: Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman, Tübingen 2005.

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Seiner Auskunft gemäß sind auf ihr viele Szenen aus der Literatur mit prominenten Akteuren wie Eneas, Dietrich von Bern, Karl dem Großen und Roland dargestellt.34 Im Zuge der Schilderung dieser Szenen benennt der Sprecher in possenhaft übersteigerter Genauigkeit exakt die Stellen auf Helmbrechts Kopf,35 an denen die jeweiligen Helden und ihre Insignien vorgeblich zu sehen sind, wobei er die betreffenden Angaben mit den oben zitierten Formeln der Beglaubigung kombiniert.36 Die zahlreichen Inzitationen lassen sich an dieser Stelle als übersteigertes Spiel der Aufbietung höfisch-literarischer Topoi interpretieren, die über die ekphrastische Rhetorik hinaus mit der Hybris korrespondieren, welche der Protagonist mit seinem gesellschaftlichen Aufstiegswunsch an den Tag legt. Letzteres ist von der Plotstruktur her unmittelbar mit der bilderreichen Haube verknüpft, die den Bauernsohn mit einer Hypothek an Ansprüchen versieht und ihn damit aus seiner der ständischen Ordnung entsprechenden Position hinauskatapultiert: Wie ausdrücklich festgehalten wird, ist es die schöne Kappe, die Helmbrecht zum Anlass nimmt, sich reich ausstatten zu lassen und Ritter zu werden, was den Ausgangspunkt für alle weiteren Geschehnisse bildet. Indem die hyperbolische Ekphrastik Szenen aus der höfischen Literatur anzitiert, die so gar nicht zum bäuerlichen Milieu der Hauptfigur passen, distanziert sich der Sprecher einerseits von seinem ›Helden‹, stellt andererseits aber auch sich selbst in ein Licht zweifelhafter Kredibilität (was über die ridikülisierende Art, Beglaubigungsformeln zu bemühen, gerade pointiert wird). Offenkundig will der Erzähler bei diesen Ausführungen nicht vollständig ernst genommen werden. Schon die den gesamten Handlungsgang der Geschichte auslösende Haube Helmbrechts müsste von überdimensionaler Größe sein, sollte sie tatsächlich sämtliche Szenen abbilden, die sie angeblich zeigt. Auch die Angabe der Herkunft der Mütze – sie sei von einer lebenslustigen Nonne genäht worden, deren ganzes Trachten dem Hofleben gegolten habe und deren Lebenswandel nicht gerade klösterlich gewesen sei (V. 104–130) – lässt sich sowohl 34 Das Bildprogramm auf Helmbrechts Haube hat eine Reihe von Interpretationen erhalten, siehe beispielsweise: Helmut Brackert: Helmbrechts Haube, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 103 (1974), S. 166–184; Hess-Lüttich [Anm. 22], S. 186–191; Mario Klarer : Ekphrasis, or the archeology of historical theories of representation: Medieval brain anatomy in Wernher der Gartenaere’s ›Helmbrecht‹, in: Word & Image: A Journal of Verbal/ Visual Enquiry 15/1 (1999), S. 34–40; Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2003, S. 250–258. 35 Eine andere Interpretation der exakten Angaben hinsichtlich der Lage der einzelnen Abbildungen nimmt Klarer [Anm. 34] vor, der eine Korrespondenz mit mittelalterlichen Vorstellungen der Anatomie des Gehirns und der Lokalisierung der Memorialfunktionen festmacht; gemäß dieser Deutung werden die späteren Fehltritte des Bauernsohns bereits über die missgeleiteten Gehirnfunktionen sichtbar. Dazu auch Wandhoff [Anm. 34], S. 250–258. 36 Vgl. Wernher der Gärtner, Helmbrecht, V. 32–34, 42, 72–75, 85–90.

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als Hinweis auf erzählerische Unglaubwürdigkeit wie auch als Brandmarkung der Unzulänglichkeit der Figuren lesen.37 Der Bericht des Erzählers, dass ausgerechnet die Mutter ihren geliebten Sohn mit Rüstung und Schwert ausstattete (V. 147–150), kehrt die realiter männlich dominierte Initiationspraxis um und kann von daher nur selbstironisch oder satirisch verstanden werden. Wenn der edle Unterpelz, den Helmbrecht trägt, just von demjenigen Tier stammt, das auf der Weide Gras frisst (V. 143–146), dann erscheint ebenfalls nicht nur die Figur, sondern auch der Gewährsmann, der entsprechend informiert, als nicht gerade vertraut mit den vornehmen Usancen, die er vermeintlich beschreibt. Ein wichtiges Textsignal, in welchem Sinne des Unernsts die Bekundungen des Erzählers aufgefasst werden sollen, liefert in diesem Zusammenhang die explizite Erwähnung Neidharts (V. 217–220), der in seinen Minneliedern seinerseits bäuerliche Helden zeichnet, die als Möchtegern-Ritter auftreten, wobei sich der Sänger selbst als eine Figur inszeniert, die an dieser Dörperwelt teilhat. Mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Neidhart wird schon zu Beginn der Versnovelle eine Art Schlüsselfigur der Parodie genannt, lässt sich in diesem Dichter, dessen umfangreiches Œuvre in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datieren ist,38 doch ebenfalls ein Parodist erkennen, ein Parodist des höfisch-ritterlichen Minnesangs.39 Und genau so, wie sich die Erzählinstanz des ›Helmbrecht‹ über

37 Vgl. dazu auch Steinmetz [Anm. 23], S. 266. 38 Was die Überlieferung der Lieder Neidharts angeht, hat sich die betreffende Editionsforschung intensiv mit dem Problem beschäftigt, dass einschlägige Textzeugen die lebendige Auseinandersetzung mit diesem Dichter noch im 15. Jahrhundert belegen. Siehe weiterführend etwa: Ulrich Müller/Ruth Weichselbaumer : Erschließungen eines Textkorpus für Forschung und Lehre am Beispiel der Salzburger Neidhart-Edition oder: Wie soll und kann mittelhochdeutsche Lyrik heute ediert werden?, in: Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert. Grazer Kolloquium 17.–19. September 2008, hg. von Wernfried Hofmeister [u. a.], Tübingen 2009, S. 139–160; Burghart Wachinger : Wie soll man Neidhart-Lieder edieren? Zur Salzburger NeidhartAusgabe, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 131/1 (2009), S. 91–105; Edith Wenzel/Horst Wenzel: Die Handschriften und der Autor – Neidharte oder Neidhart?, in: Edition und Interpretation. Neue Forschungsparadigmen zur mittelhochdeutschen Lyrik, hg. von Johannes Spicker [u. a.], Stuttgart 2000, S. 87–102. 39 Ob man Neidharts Lieder als Minnesang-Parodien interpretieren kann, hängt mit der Verwendung des Parodiebegriffs zusammen. Geht man mit Theodor Verweyen von einem Verständnis der ›Nachahmung mit Abweichung‹ aus, lässt sich Neidharts Verfahren, den Minnesang ins bäuerische Milieu zu transponieren, durchaus als parodistisch bezeichnen. Vor allem die ältere mediävistische Forschung hat Neidhart unumwunden als Parodisten des Minnesangs bezeichnet, vgl. etwa Winfried Frey : Einführung in die deutsche Literatur des 12.–16. Jahrhunderts, Bd. 2: Patriziat und Landesherrschaft 13.–15. Jahrhundert, Opladen 1982, S. 12. Konkrete entsprechende Analysen etwa in: Ingrid Bennewitz/Ulrich Müller : Neidharts Lied von ›Derr Plahen‹ (R31, c 82; HW 46, 28): Ein Beispiel für Satire und Parodie im späten Mittelalter, in: Parodie und Satire in der Literatur des Mittelalters, hg. von Peter Richter, Greifswald 1989 , S. 90–102. Grundsätzlich zu Parodie und Satire bei Neidhart:

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die Bezugnahme auf Neidharts dichterische Fertigkeiten selbst in ein unmittelbares Vergleichsverhältnis mit diesem rückt – und sich damit bereits zum Auftakt der Erzählung als Parodisten markiert –, so unverkennbar korrespondieren der Bauernsohn und seine Spießgesellen mit dem Personeninventar insbesondere der Winterlieder Neidharts. Gerade Wernhers Hauptakteur ist von der mediävistischen Forschung mit Neidharts Hildemar in Zusammenhang gebracht worden, der ebenfalls eine hübsch bestickte Haube über dem langen lockigen Haar trägt.40 Doch auch die Raubritter, die mit Helmbrecht gemeinsam ihr Unwesen treiben, erinnern an die Figuren der Neidhartschen Minnelieder sowie an die satirische Neidhart-Tradition, insbesondere von ihren Namen her. Ähnlich wie im deutlich später entstandenen ›Ring‹ Heinrich Wittenwilers haben die Mittäter Helmbrechts allesamt sprechende Namen; diese weisen auf die bäuerliche Sphäre und drücken gleichzeitig die raubritterliche Gier aus: Lemberslint, Slickenwider, Küefr.z, Wolvesguome etc.41 Dazu kommt das geckenhafte Verhalten, das der Protagonist bei seiner ersten Rückkehr zum elterlichen Hof an den Tag legt: Vor allem seine vermeintlich schicken fremdsprachigen Ausdrücke, insbesondere sein Flämeln findet eine direkte Spiegelung im Benehmen der Dörper Neidharts.42 Denn auch die getelinge, wie Neidhart die ungehobelten Kerle in seinen Liedern oft bezeichnet,43 verhalten sich prahlerisch und zeigen ein rüpelhaftes

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Ulrich Gaier : Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart, Tübingen 1967, S. 7–96. Vgl. etwa Seelbach [Anm. 7], S. 59; Bernhard Sowinski: Parzival und Helmbrecht: Höfische Kalokagathie und bäurische Usurpation, in: Von wyssheit würt der Mensch geert. Festschrift für Manfred Lemmer zum 65. Geburtstag, hg. von Ingrid Kühn/Gotthard Lerchner, Frankfurt a. M. 1993, S. 117–127, hier S. 122; Schwob [Anm. 24], S. 4. Dies bedeutet in etwa: »Lämmerschlinger«, »Widderschlucker«, »Kühefresser« und »Wolfsrachen« (vgl. V. 1185–1205). Dazu weiterführend: Friedhelm Debus: Namen im ›Helmbrecht‹ und ihre textuelle Einbettung, in: Sprachgeschichte – Dialektologie – Onomastik – Volkskunde. Beiträge zum Kolloquium am 3./4. Dezember 1999 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Wolfgang Kleiber zum 70. Geburtstag, hg. von Rudolf Bentzinger [u. a.], Stuttgart 2001, S. 225–239; Trude Ehlert: Zu Semantisierung von Essen und Trinken in Wernhers des Gartenaere ›Helmbrecht‹, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 138 (2009), S. 1–16, hier S. 12–14. Vgl. ›Helmbrecht‹, V. 717–748 und 764–68. Siehe dazu etwa: Norbert Voorwinden: Ist er ze Sahsen oder ze Brabant gewahsen? Beobachtungen zum ›Flämeln‹ des jungen Helmbrecht, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 57 (2003), S. 311–319; Fritz Peter Knapp: Standesverräter und Heimatverächter in der bayerisch-österreichischen Literatur des Spätmittelalters, in: Wernher der Gärtner, ›Helmbrecht‹. Die Beiträge des HelmbrechtSymposions in Burghausen 2001, hg. von Theodor Nolte/Tobias Schneider, Stuttgart 2001, S. 9–24, hier S. 11. Zur Funktion der getelinge bei Neidhart siehe etwa: Ursula Peters: Text und Kontext: Die Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie, Wiesbaden 2000, S. 24–34; Jan-Dirk Müller : Strukturen gegenhöfischer Welt: Höfisches und nichthöfisches Sprechen bei Neidhart, in: Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Le-

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Benehmen, wobei gerade das Flämeln immer wieder zur Karikierung der Möchtegern-Eleganten verwendet wird.44 Wie bereits erwähnt, liefert der Minnesänger quasi den Schlüssel zur Interpretation der Versnovelle, insbesondere für die satirisch-parodistischen Passagen in der ersten Hälfte der Dichtung. Der Erzähler des ›Helmbrecht‹ stilisiert sich in Neidhartscher Manier selbst zu einem Mitglied des Figureninventars, indem er sich als jemanden inszeniert, der den Bauernsohn persönlich gekannt haben will. Wie in den Liedern Neidharts das Sänger-Ich seltsam schillernd bleibt, teils stärker als Mitglied der Dörperwelt agiert, teils größere Distanz zu dieser zeigt, ja sich selbst in mehreren Namen spiegelt,45 so ist auch der Erzähler im ›Helmbrecht‹ nicht eindeutig zuzuordnen, sondern oszilliert zwischen Selbstironie und Verhaltenskritik, zwischen Spott – auch über die höfische Welt – und ernsthafter Verurteilung des anmaßenden und verbrecherischen Handelns des Bauernsohns. Dass die Erzählstimme durchaus auch die höfische Literatur aufs Korn nimmt, registriert derjenige, der mit der zeitgenössischen Epik vertraut ist, bereits am Anfang der Versnovelle, als die Haube des Protagonisten in übertrieben-karikierender Manier beschrieben wird mit ihren zahlreichen Szenen aus der literarischen Tradition, die diese Mütze angeblich zeigt. Der Kenner von Hartmanns von Aue ›Erec‹ beispielsweise wird sich sofort an die umfangreiche Schilderung von Enites Sattelzeug erinnert fühlen, dessen reiche Illustration über mehrere hundert Verse gleichsam nachgezeichnet wird.46 Greifbar wird damit, wie oben erwähnt, eine weitere Dimension der Parodie, die ebenfalls auf bensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983), hg. von Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986, S. 409–451, hier S. 423–434 [wieder abgedruckt in: J.-D. M.: Minnesang und Literaturtheorie, hg. von Ute von Bloh/Armin Schulz, Tübingen 2001, S. 39–79, hier S. 53–64]. 44 Siehe zu den Attributen des besonderen Kleiderprunks oder des ›Flämelns‹ bei Neidhart etwa Müller [Anm. 43], S. 434–440. 45 Siehe zu diesem Problemkomplex etwa: Christa Ortmann/Hedda Ragotzky/Christelrose Rischer : Literarisches Handeln als Medium kultureller Selbstdeutung am Beispiel von Neidharts Liedern, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1 (1976), S. 1–29; Elisabeth Lienert: Spiegelraub und rote Stiefel. Selbstzitate in Neidharts Liedern, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 100 (1989), S. 1–16; Ursula Peters: Neidharts Dörperwelt. Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie, in: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, hg. von Martin Huber [u. a.], Tübingen 2000, S. 445–460; Seraina Plotke: Neidhart als Spötter – Spott bei Neidhart, in: Spott und Verlachen im Spätmittelalter zwischen Spiel und Gewalt, hg. von Stefan Seeber/ Sebastian Coxon, Göttingen 2010, S. 23–34. 46 Vgl. Hartmann von Aue: Erec, V. 7426–7762 (nach der Ausgabe: Hartmann von Aue: Erec, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985).

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die Erzählinstanz zurückverweist, welche die in der höfischen Epik omnipräsenten ekphrastischen Beschreibungen hochkomplexer Bilder auf Kleidern oder Gegenständen persifliert.47 Wie in Neidharts Minneliedern48 ist auch im ›Helmbrecht‹ oft nicht zweifelsfrei nachzuvollziehen, wer bzw. was das unmittelbare Ziel des Spotts ist. Je expliziter Helmbrecht in den späteren Dialogpassagen seine eigenen Verbrechen benennt und dadurch die schändliche Charakteristik seiner Figur verdeutlicht, desto eindeutiger wird die Erzählstimme in ihren Kommentaren, die sich im Lauf der Narration vom komischen und ironischen zum ernsthaften Berichterstatter wandelt und zuletzt ohne Doppelbödigkeiten und Verstellung spricht,49 als Helmbrecht für seine Vergehen bestraft und zugleich moraldidaktisch als Negativ-Exempel etabliert wird. Parallel dazu verschwinden die ironisierenden Wahrheitsbekundungen sowie die Hyperbolik, und auch die Augenzeugenschaft des Erzählers wird nicht mehr argumentativ bemüht. Alles in allem überlagern sich im ›Helmbrecht‹ Dimensionen des spöttischen Spiels mit den Vorlagen und der ernsthaften Transformation derselben. Neben den diversen genannten parodierten Textmodellen werden in dieser Versdichtung eine ganze Reihe weiterer literarischer Muster berührt. Dass sich im ›Helmbrecht‹ stilistische Bezüge zu Wolfram von Eschenbach50 und zu Gottfried von Straßburg51 beobachten lassen, haben frühe mediävistische Untersuchungen nachgewiesen. Neben der zeitgenössischen Literatur fungiert nicht zuletzt auch die Bibel als Prätext: Auf das Neue Testament rekurriert der unbarmherzige Schluss von Wernhers Erzählung, der als eine Art Gegenprogramm zum Gleichnis vom verlorenen Sohn gelesen werden kann.52 47 Zu den einschlägigen Passagen der illustrativen Gegenstands- und Kunstbeschreibung in der mittelhochdeutschen Epik: Wandhoff [Anm. 34]. 48 Dazu Plotke [Anm. 45]. 49 Die theoretische Grundlage für die Form der satirisch-parodistischen Verstellung, wie sie die Erzählinstanz vor allem in der ersten Hälfte der Versnovelle an den Tag legt, liefert die Rhetorik, fassbar im Stilmittel der rhetorischen Ironie (vgl. Steinmetz [Anm. 23], S. 266). So definiert etwa Cicero in der Schrift ›De oratore‹ die feinsinnige Verstellung, urbana dissimulatio, wie folgt (De orat. II 269): Urbana enim dissimulatio est, cum alia dicuntur ac sentias, non illo genere, […] cum contraria dicas, […] sed cum toto genere orationis severe ludas, cum aliter sentias ac loquare (»Feinsinnig nämlich ist die Verstellung, bei der man anderes sagt, als man meint, nicht in der […] Art, dass man das Gegenteil sagt, […] sondern mit der gesamten Redeweise einen gespielten Ernst zeigt, wobei man es anders meint, als man es sagt.«, Übers. von der Verfasserin). 50 Vgl. etwa Ludwig Pfannmüller : Meier-Helmbrecht-Studien, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 43 (1918), S. 252–257. 51 Vgl. etwa Fritz Tschirch: Wernhers ›Helmbrecht‹ in der Nachfolge von Gottfrieds ›Tristan‹. Zu Stil und Komposition der Novelle, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 80 (1958), S. 292–314. 52 Vgl. etwa Peter von Matt: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München/Wien 1995, S. 75; Werner Schröder : Zur Tragik des Vaters im ›Helm-

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Durch die Multiplikation der spielerischen Imitationen und Konterkarierungen entsteht im ›Helmbrecht‹ – ähnlich wie in den Liedern Neidharts – ein schillerndes und zugleich brüchiges Bild, indem oft nicht desambiguiert werden kann, wer oder was komisiert wird. So sorgt gerade die Mehrstimmigkeit im Bachtinschen Sinne,53 die Dialogizität, die sich nicht zuletzt in der markanten Verteilung von Erzähler- und Figurenrede äußert, für das Oszillieren zwischen Verhaltenskritik und Selbstironie, zwischen der scharfen Abgrenzung gegenüber den Bauern und dem Verlachen der eigenen sozialen Gruppe. Thematisch handelt Wernhers Verserzählung von der Störung der göttlichen Ordnung, die durch den gesellschaftlichen Aufstiegswunsch des Protagonisten und dessen daraus resultierende Taten vollzogen wird.54 Die im Artusschema gespiegelten Bewährungsfahrten Helmbrechts müssen zwangsläufig scheitern, da er ein Bauernsohn und kein Ritter ist, sondern eben nur ein MöchtegernRitter. Der durch sein Ansinnen virulent werdende Missstand korrespondiert mit einem Berichterstatter, der nicht in allen Punkten seiner Darstellung ernst genommen werden kann, so dass auch das Erzählen als solches gleichsam aus den Fugen geraten ist. Zu guter Letzt jedoch, als zum Schluss der Dichtung auf der Ebene der histoire die Ordnung durch die Bestrafung der Übeltäter wieder hergestellt wird, ist auch auf der Ebene des discours alle Doppeldeutigkeit und Mehrstimmigkeit aufgehoben, indem der Erzähler nur noch narrativ vollzieht, was der warnende Vater zu Beginn der Dichtung bereits prognostiziert hat. Das polydimensional verwendete parodistische Verfahren konvergiert im ›Helmbrecht‹ also auch mit zentralen Aspekten der Plotstruktur. So wie Parodie »auf ›verzerrende‹, ›brechende‹ Nachahmung des ›Gegenstands‹«55 zielt, so beschreibt der fehlgeleitete Weg des Protagonisten zum Rittertum eine ›Nachahmungshandlung mit Abweichung‹. Das Konzept der sozialen Mobilität, das bereits mit den heldisch-höfischen Imaginationen auf der prächtigen Haube ins Spiel kommt, setzt den Vorgang gelingender (und gesellschaftlich akzeptierter) kultureller Mimesis voraus. Doch Helmbrecht kann den Ausbruch aus der agrarischen Lebenswelt und seiner durch die ständische Ordnung vorgegebenen Position nur als verzerrte resp. gebrochene Nachahmungshandlung vollziehen, indem er durch seine Taten nicht zum angesehenen Ritter avanciert, sondern als schmählich bestrafter Raubritter endet.

brecht‹ Wernhers des Gärtners, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 34/2 (2002), S. 183–206, hier S. 183; Ehlert [Anm. 41], S. 10. 53 Zu Bachtins Theorie der Mehrstimmigkeit siehe: Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt a. M. 1979, S. 192–219. 54 Dazu weiterführend: Schwob [Anm. 24]; Menke [Anm. 24]; Lange [Anm. 24], S. 89–118. 55 Verweyen [Anm. 13], S. 64/65.

Stefan Seeber

Grüße nach Eilenburg. Johannes Zschorns Vorrede zu seiner ›Aithiopika‹-Übersetzung (1559)*

Die ›Aithiopika‹ als Katalysator der modernen Romanpoetik 1534 beginnt das Zeitalter des ›modernen‹ Liebesromans in Europa: In diesem Jahr bringt Vincentius Obsopoeus in Basel die editio princeps von Heliodors ›Aithiopika‹ auf den Markt. Der Roman ist keineswegs neu, die Geschichte um die Liebe und die Abenteuer der Helden Theagenes und Chariklea ist ganz im Gegenteil aus der Spätantike überliefert,1 ihr Autor, Heliodor aus Emesa (das ist das heutige Homs in Syrien), schreibt sie auf Griechisch. Heliodors Werk steht wohl am Ende der längeren Tradition antiker griechischer Liebes- und Abenteuerromane2 – es bildet eine Art krönenden Abschluss des Themenkreises und sticht vor allem durch seinen Einsatz medias in res und die daraus folgende ungewöhnlich verschachtelte Handlungsführung aus dem Gros der Romane heraus, die ihm vorangehen.3 * Teile dieses Aufsatzes habe ich im Rahmen von Vorträgen in Freiburg 2013 und 2014 vorstellen und diskutieren dürfen. Besonders von den Hinweisen von Martina Backes (Freiburg/Fribourg) habe ich dabei sehr profitiert, ihr möchte ich herzlich danken. Außerdem entwickeln meine Überlegungen Gedanken weiter, die ich in meiner Habilitationsschrift (masch.) mit dem Titel ›Ihrer Zeit voraus. Deutschsprachige Romane und ihre intendierten Rezipienten, 1314–1587‹, Freiburg 2014 nur angerissen habe, ohne sie entfalten zu können. 1 Die Chronologie der spätantiken Romane ist umstritten, vgl. z. B. Niklas Holzberg: Der antike Roman. Eine Einführung, Darmstadt 2006, S. 39. Holzberg datiert Heliodors Werk auf das zweite Viertel des 3. Jahrhunderts n. Chr. (ebd., S. 136), ich folge dem neuen Datierungsvorschlag von Laura Mecella und sehe die ›Aithiopika‹ als Produkt des späten 4. Jahrhunderts: vgl. Laura Mecella: Heliodor zwischen Historie und Legende. Überlegungen zum Problem der Datierung, in: Heliodorus redivivus. Vernetzung und interkultureller Kontext in der europäischen ›Aithiopika‹-Rezeption der Frühen Neuzeit, hg. von Christian Rivoletti und Stefan Seeber (erscheint vorauss. 2017). 2 Überliefert sind die folgenden Texte: Charitons ›Kallirho[‹, Xenophons von Ephesos ›Ephesiaka‹, Achilleus Tatios’ ›Leukippe und Kleitophon‹ sowie Longos’ ›Daphnis und Chlo[‹, vgl. die zweibändige Edition: Im Reich des Eros. Sämtliche Liebes- und Abenteuerromane der Antike, hg. von Bernhard Kytzler, Zürich 2001, dort auch die lateinischen Romane der Antike. 3 Zu diesem ›homerischen‹ Romananfang vgl. z. B. Tomas Hägg: Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt, übersetzt von Kai Brodersen, Mainz 1987, S. 74.

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Eine erste Renaissance erlebt Heliodor im Byzanz des 12. Jahrhunderts, und aus Byzanz gelangt sein Roman dann im 16. Jahrhundert in die Hände des Vincentius Obsopoeus (der den Text nach einer Handschrift druckt, die ein Soldat aus der Bibliotheca Corviniana entwendet hat).4 Das schafft die Grundlage für einen regelrechten Heliodor-Hype in ganz Europa:5 1547 übersetzt Jacques Amyot die ›Aithiopika‹ direkt aus dem Griechischen ins Französische,6 sein Text erlebt bis 1700 einundzwanzig Auflagen und wird auch zur Vorlage für eine spanische Übersetzung von 1554.7 Erst fünf Jahre nach der Übersetzung ins Französische findet sich eine erste Übertragung aus dem Griechischen ins Lateinische durch Stanislaw Warschewiczki (1552),8 dessen Text sodann Grundlage für die Übersetzungen ins Deutsche (1559)9 und ins Englische (1569) wird.10 Verbunden mit dieser europaweiten Präsenz der Geschichte von Theagenes und Chariklea ist auch schon früh ein umfangreiches Nachdenken über Struktur und Status des Romans, das seinen Niederschlag vor allem auch in den Vorreden der Texte findet: Amyots ›Proesme‹ wird zum »manifeste«11 einer Gattung, die sich noch im Werden befindet. Auch Obsopoeus’ und Warschewiczkis Versuche, den Stoff und seine Präsentation durch Heliodor zu legitimieren, tragen Wesentliches zum Diskurs darüber bei, was ein Roman ist, was er leisten kann und weshalb man ihn gerne lesen soll. Scaligers Lob12 in seiner ›Poetik‹ und der Lobpreis auf den »Heliodorus Homericus«,13 den Crusius seiner ›Epitome‹ des 4 Zum Raub des Textes aus der Bibliothek des Matthias von Ungarn vgl. die Anmerkungen von Obsopoeus in der ›Epistola dedicatoria‹, [a 2v], in: [Vincentius Obsopoeus]: Historiae Aethiopicae libri decem, nunquam antea in lucem editi, Basel: Johann Herwagen 1534. 5 Weinreich spricht vom »Siegeszug«, den Heliodor mit diesem Druck durch Europa antrete (Otto Weinreich: Der griechische Liebesroman, Zürich 1962, S. 60). 6 Vgl. die moderne Edition des Textes: H8liodore: L’Histoire Aethiopique. Traduction de Jacques Amyot. Pdition critique 8tablie, pr8sent8e et annot8e par Laurence Plazenet, Paris 2008. 7 Vgl. dazu Laurence Plazenet: Jacques Amyot and the Greek Novel: The Invention of the French Novel, in: The Classical Heritage in France, hg. von Gerald Sandy, Leiden [u. a.] 2002, S. 237–280, hier S. 251. Grundlegend zur ›Aithiopika‹-Überlieferung bleibt weiterhin Michael Oeftering: Heliodor und seine Bedeutung für die Litteratur, Berlin 1901. 8 Heliodori Aethiopicae Historiae libri decem, nunc primum e Greco sermone in Latinum translati: Stanislao Warschewiczki Polono interprete, Basel: Johannes Oporinus 1552. 9 Vgl. Heliodorus Emesenus: Aethiopica Historia. In der deutschen Übersetzung von Johannes Zschorn. Faksimiledruck der Ausgabe von 1559, hg. und eingel. von Peter Schäffer, Bern [u. a] 1984. Ich zitiere Zschorn nach dieser Ausgabe unter Angabe der Blattzahl im Fließtext, Abkürzungen löse ich auf, übergeschriebene Buchstaben für Umlaute ebenfalls. 10 Zur englischen Übersetzung vgl. den Beitrag von Eva von Contzen im vorliegenden Band. 11 Camille Esmein: Introduction, in: Po8tiques du roman: Scud8ry, Huet, ›Du Plaisir‹ et autres textes th8oriques et critiques du XVII. siHcle sur le genre romanesque, hg. und komm. von Camille Esmein, Paris 2004, S. 9–57, hier S. 24. 12 Iulius Caesar Scaliger : Poetices libri septem, Bd. 3: Buch 3, Kapitel 95–126. Buch 4, hg., übers., eingel. und erl. von Luc Deitz, Stuttgart 1995, S. 22f. (III,95). 13 Martini Crvsii Aethiopicae Heliodori Historiae Epitome. Cvm Observationibvs Eivsdem.

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Werkes von 1584 vorausschickt, fügen sich ein in das Bild eines vorbildlichen, poetologisch höchst relevanten Autors, dessen Werk weit reichende Wirkung erzielt. Die Paratexte der Editionen geben sich entsprechend vollmundig und ambitioniert:14 Der griechische Text der editio princeps ist den Nürnberger Ratsherren gewidmet,15 der lateinische ist dem polnischen König Sigismund zugeeignet,16 Warschewiczki hat noch ein Empfehlungsschreiben Melanchthons vorzuweisen und gibt eine knappe Biographie Heliodors. Amyot hingegen verzichtet auf eine Dedikation, stellt sich selbst als »Traducteur« (so der Titel seines ›Proesme‹) in den Vordergrund und bietet poetologische Erwägungen, denen sich Leseanweisungen ›Au Lecteur‹ auf Französisch und Lateinisch anschließen.17 In allen Fällen geht es um die angemessene Aufnahme eines komplexen Werkes, dessen Dignität anerkannt wird und das dem Publikum erschlossen werden soll.

Der Sonderfall: Die deutsche Übertragung und ihre Widmung Die deutsche Übersetzung allerdings sticht vor diesem Hintergrund heraus: Johannes Zschorn sendet, bevor er die Übersetzung der ›Aithiopika‹ ins Deutsche bietet, seinen Vettern Bartholomeus und Hans in Eilenburg in Sachsen einen herzlichen Gruß aus dem fernen Westhofen im Elsass, wo er als Schulmeister arbeitet. Freuntliche liebe Vetteren / man sagt vnnd ist ein alt sprichwort / so weitter Brueder / Schwesteren / Vettern vnd Schwaeger von einander sind / so vil lieber si einander haben. Ist disem also / so werden ihr mich ohn zweyfel nit hassen / dann meines erachtens habe ich euch in fünff vnd zwentzig jaren oder lenger / wenig wasser betruebt. (A 2r)

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Omne tulit punctum, qui miscuit vtile dulci. Eivsdem De Parentibus suis narratio […], Frankfurt a. M.: Johann Wechel, Bernhard Jobin 1584. Das Zitat findet sich in einer Marginalie in der ›Epistola dedicatoria‹, S. 10. Zur Widmungsvorrede als Textsorte vgl. Karl Schottenloher : Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jahrhunderts, Münster 1953. Vgl. Obsopoeus [Anm. 4], ›Epistula dedicatoria‹, [a 1v]. Warschewiczki [Anm. 8], ›Praefatio‹, S. 1. Zur politischen Lesart der ›Aithiopika‹ in den Widmungen der griechischen und lateinischen Ausgabe vgl. Victor Skretkowicz: European erotic romance. Philhellene Protestantism, Renaissance translations and English literary politics, Manchester/New York 2010, S. 115. Vgl. in der Edition [Anm. 6], S. 157–164 und S. 165. Dass die Wendung an den Leser durchaus auch widmenden Charakter hat, betont G8rard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2001, S. 130.

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In der Folge plaudert Zschorn über seine Reisen in ferne Länder und erwähnt, dass wohl bereits etliche [seiner] Opuscula oder buechlin (A 2v) ihren Weg zu den Buchhändlern Eilenburgs gefunden hätten – deshalb will er die Veröffentlichung der ›Aithiopika‹ nutzen, um das Werk seinen Vettern zu dedizieren, aus zwei Gründen: Vrsach fürs erst / Dieweil ich villeicht aus schwaeche meines leibs / vnd hindernus des weitten wegs zuo euch nit kummen moecht / vnd aber meine kinder euch mit der zeit heimsuochen moechten. (A 3r)

Zweitens, weil die Poetische Histori / souil schoener Moralia in sich hatt (ebd.), dass sie allen Menschen aller Stände zu lesen taugt – vor allem junge gesellen vnd junckfrawen (ebd.) sollen profitieren und keuschen Lebenswandel aus der Lektüre des Schicksals von Theagenes und Chariklea erlernen. Das bedeutet allerdings, dass weder Hans noch Bartholomeus zur Zielgruppe gehören – wenn Zschorn sie schon fünfundzwanzig Jahre nicht gesehen hat, sind weder er noch die Vettern junge gesellen, als er 1559 seine Widmung schreibt. Im Gegenteil: Mit der schwaeche des Leibes scheint Zschorn richtig zu liegen, 1560 ist er im Alter von etwa vierzig Jahren gestorben, die ›Aithiopika‹ waren seine letzte Arbeit.18 Ein zweites Mal benutzt Zschorn in der ›Vorrede‹ sodann den klassifikatorischen Begriff Poetische Histori (A 3r), um die ›Aithiopika‹ zu identifizieren: Sie sind es als solche wert, ins Deutsche übertragen zu werden, nachdem sie bereits auf Griechisch und Latein vorliegen. Der nach Selbstbeschreibung nur gering begabte Übersetzer – der Hinweis auf mangelnde Fähigkeiten ist topisch – betont nochmals, dass er seine Vettern als meine nechste gsipte freund (ebd.) damit erfreuen will, der hoffnung / ihr werdens als von ewerem vettern zuom freundtlichsten auffnemmen (ebd.). Den Abschluss der vier Seiten umfassenden ›Vorrede‹ bildet sodann die Verwahrung gegen den Zoilus, der diese Epistolam Dedicatoriam euch oder mir / Per Petulantiam vel Arrogantiam auffzwacken wolt (A 3rf.), gleich als ob Zschorn sich und seine Verwandten berhuempt vnnd kanntlich machen wolt (A 3v). Das hat der Autor, so sagt er, nämlich gar nicht nötig, sind doch seine Vettern sunsten gnuogsam kantlich (ebd.). Wer Zschorn angreift, [d]em sey geantwortet wie ihenem bauren / der nicht bysem schmecken / vnd Pomerantzen essen wolt / so würt er vnser vergessen (ebd.), und mit dem Bauernhinweis verlässt der Autor den Kreis der Topik, die man gemeinhin in einer Vorrede vermuten würde. Mit dem Hinweis: Allein vmb erzelter meinung [der Vettern] ist dis geschehen (ebd.) und der Bitte um Gottes Segen endet die Vorrede. Ich habe den Gang der vier Seiten von Zschorns ›Vorrede‹ nicht so ausführlich paraphrasiert, weil hier Besonderes über Inhalt, Wert und Bedeutung der ›Ai18 Vgl. dazu Peter Schäffer : Vorwort, in: Schäffer [Anm. 9], S. 7*-56*, hier S. 15*.

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thiopika‹ zu erfahren wäre – ganz im Gegenteil geht es mir darum zu zeigen, dass Zschorn genau das verweigert, was man sich gemeinhin von einer Dedikation erwartet. Wir haben es mit einem Widmungsbrief zu tun, der geläufigsten Form der Widmung19 zu Zschorns Zeit, und in der deutschsprachigen Literatur ist die zeitgenössische Widmungspraxis hochgradig kommerzialisiert: Gemeinhin wendet sich die Widmung an Gönner, die der Autor umschmeichelt und deren Wohlwollen er erlangen will. Dies geschieht, indem der Wert des Widmungsempfängers betont und der hohe Anspruch des gewidmeten Buches ausgestellt wird; zugleich werden in der Widmung Stilproben gegeben, die die Qualität des anschließenden Textes bezeugen.20 All das findet sich hier nicht. Aber eine rein freundschaftliche Widmung21 liegt auch nicht vor – Zschorn adressiert jemanden, den er ein Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen hat, an den ihn also nur entfernte Erinnerung und die nicht zu leugnende Verwandtschaft bindet. Er betont selbst, dass ihm schlicht kein anderer Verwandter einfällt, dem er sich zuwenden könnte: dann ich yetzundt kein naehere [gsipte freund] hab noch waiss (A 3v). Auch die dritte Option, die Vorrede als Vehikel für poetologische Überlegungen zu nutzen, wie dies v. a. Amyot vormacht, fällt für Zschorn aus – zu banal bleiben seine Ausführungen. Damit sticht sein Text nicht nur vor den anderen Vorreden der ›Aithiopika‹-Ausgaben heraus, sondern auch im Kontext der übrigen Antikenübersetzungen der Zeit. Murners ›Aeneis‹ (1515) z. B. schaltet einen Lobpreis des Widmungsempfängers Kaiser Maximilian vor,22 Schaidenreissers ›Odyssea‹, 1537 und 1538 (und noch ein letztes Mal 1570) gedruckt, ist Johann Ferrenberger von Egenberg gewidmet, der – Achilles gleich – das Werk zu schützen sich berufen fühlen soll und dem Schaidenreisser unter Aufbietung aller Topoi preist. Getrennt von dieser Widmung findet sich sodann eine poetologisch aufgeladene ›Vorred‹ des

19 Vgl. zu den Widmungsarten Wolfgang Leiner : Der Widmungsbrief in der französischen Literatur (1580–1715), Heidelberg 1965, S. 31–33, bes. S. 32 sowie, detaillierter, Christian Wagenknecht: Widmung, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3., neubearb. Aufl., Bd. 3, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin 2003, S. 842–845, bes. S. 842f. Vgl. zur deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts Burkhard Moenninghoff: Die Kunst des literarischen Schenkens. Über einige Widmungsregeln im barocken Buch, in: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen, hg. von Frieder von Ammon/Herfried Vögel, Münster/Berlin 2008, S. 337–35, bes. S. 343–346 zum Widmungsbrief. 20 Ausführlich beschreibt die rhetorischen Prinzipien der Widmung Leiner [Anm. 19], S. 34–96. 21 Schottenloher [Anm. 14], S. 175: »Die einfachste und selbstloseste Widmung war die des Freundes an den Freund.« 22 Vergilii Maronis Dryzehen Aeneadischen Bücher von Troianischer zerstörung und Uffgang des Römischen Reichs, durch Doctor Murner vertütst, Straßburg: Johannes Grüninger 1515. Die Widmung findet sich auf der Verso-Seite des Titelblatts.

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Übersetzers, die seine Übersetzungsprinzipien (sinnsweiß)23 ausstellt, den Wert der Dichtung reflektiert und den konkreten Nutzen des Textes aufzeigt. Der Übersetzer will einen Rezipientenkreis erreichen, der sich ansonsten nur kurtzweil auß Teütschen buechern vnd historien suochen24 kann. Sieder, der Übersetzer des moralisch fragwürdigen ›Goldenen Esels‹ (gedruckt erstmals 1538), verfährt wieder anders und wendet sich direkt an den Leser allgemein, da er einen solch heiklen Stoff nicht widmen kann – auch hier hat die Vorrede poetologisches Potential, Sieder geht so weit, die Verantwortung für den Text auf die Rezipienten auszulagern: Vnnd kurtzlich ist kein schrifft besser / dann ir leser.25 Wickram wiederum, der Albrechts von Halberstadt ›Metamorphosen‹Übersetzung neu bearbeitet und 1545 in Druck gibt, erlaubt dem Widmungsempfänger, dem Obervogt von Rufach Wilhelm Böckle, Einblick in die Textgenese. Er legt seine eigenen Kompetenzen und ihre Grenzen vorbehaltlos offen (dann ich deß Lateins gar unkundig bin)26 und geriert sich eher als Bewahrer denn als Neuerer, als jemand, der einen Text wieder ins Gedächtnis ruft, der schon einmal präsent gewesen ist: Die Dankbarkeit dem Gönner gegenüber steht im Vordergrund der Ausführungen. In allen Fällen wird die Relevanz der Dichtung mehr oder weniger ausführlich begründet und wird versucht, ein Verhältnis zum Rezipienten aufzubauen, den Paratext also im Genetteschen Sinne als Schwelle zu nutzen, die in den antiken, berühmten, im einen Fall auch moralisch komplizierten Stoff einführt und erklärt, welche Bedeutung ihm zukommt. Bei Schaidenreisser und Murner geht dies soweit, dass der Adel des Adressaten der Widmung auf die Dignität des Werkes zurückstrahlt, die Widmung also eine legitimierende Funktion erfüllt. Nichts von alledem findet sich bei Zschorn, er liefert das genaue Gegenteil von dem, was seine Vorgänger bieten, und enttäuscht entsprechende Erwartungen seiner Leser an die Widmung. Die Art und Weise, wie er das tut, ist im Folgenden für mich zentral. Ich möchte erstens herausarbeiten, dass wir es mit einer gezielten parodistischen Verkehrung von Schemata der Widmungsadresse zu tun haben. Zweitens will ich zeigen, dass Zschorn nicht nur in diesem Werk, sondern auch in seinen anderen opuscula so verfährt und in Georg Wickram ein Vorbild 23 Schaidenreissers Odyssea: Augsburg 1537, hg. von Friedrich Weidling, Leipzig 1911, hier ›Vorred‹, S. 7, Z. 20. Vgl. zu dieser Passage z. B. Regina Toepfer : Mit fleiß zuo Teütsch tranßferiert. Schaidenreissers ›Odyssea‹ im Kontext der humanistischen Homer-Rezeption, in: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Britta Bußmann [u. a.], Berlin/New York 2005, S. 329–347, bes. S. 336–338. 24 Schaidenreisser [Anm. 23], ›Vorred‹, S. 7, Z. 23. 25 Ain Schön Lieblich auch kurtzweylig gedichte Lucij Apuleij von ainem gulden Esel […] / grundtlich verdeutscht / durch Herren Johan Sieder Secretarien, Augsburg: Alexander Weißenhorn 1538, S. 2. 26 Georg Wickram: Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff. Dreizehnter Band, erster Teil: Ovids Metamorphosen, Berlin/New York 1990, S. 5.

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für seine Widmungspraxis haben dürfte. Aufbauend darauf wird es darum gehen, die seltsame Widmung, die in der Germanistik für bare Münze genommen und als Sehnsucht nach einer Nahkommunikation mit der Familie abgetan worden ist,27 neu zu lesen: als Schlüssel zu Zschorns Verständnis der ›Aithiopika‹ und ihrer Präsenz auf dem Buchmarkt seiner Zeit.

Zschorns Widmung als Parodie: Voraussetzungen und Umsetzung Parodie als Erkenntnisrahmen Parodie ist ein vager und volatiler Begriff,28 der sich auch nur schwer von Kontrafaktur, Satire oder Travestie abgrenzen lässt und der zwischen Gattungsbezeichnung und Schreibweise oszilliert.29 Einzig der intertextuelle Bezug auf einen Prätext (oder eine Gruppe von Prätexten wie z. B. eben Widmungen) ist vorgegeben, denn eine Parodie kann nun einmal nur funktionieren, wenn sie etwas parodiert. Dem Vorbild wird immer formal (z. B. stilistisch), nicht zwingend, aber doch häufig auch inhaltlich gefolgt, ohne dass die Nachahmung 27 Vgl. Werner Röcke: Antike Poesie und newe Zeit. Die Ästhetisierung des Interesses im griechisch-deutschen Roman der frühen Neuzeit, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993, S. 337–354, hier S. 343: »[Die Vorrede] eröffnet über die weite Distanz die Fiktion eines persönlichen Gesprächs, das realiter gerade wegen der faktischen Trennung der Gesprächspartner nicht möglich ist, an dem aber auch noch der Leser des Romans teilhaben soll. […] Zschorns vorrangiges Interesse also, zumindest die Fiktion einer unmittelbaren und personalen Bindung an Freunde und Familie aufrecht zu erhalten, ist nur außerordentlich widersprüchlich realisierbar.« 28 Ich habe die gängigen Einführungen in die Thematik konsultiert, allen voran Theodor Verweyen/Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt 1979, Winfried Freund: Die literarische Parodie, Stuttgart 1981 und Simon Dentith: Parody, London/New York 2000. Alle betonen die große Bandbreite an Bedeutungen des Begriffs, vgl. z. B. die Übersicht bei Freund, S. 1–17. Dentith beschränkt sich darauf, Parodie als historisch je neu aktualisierte und konkretisierte »cultural practice« (S. 37) zu lesen, um die Anwendbarkeit des Parodiebegriffs über den engen Bereich des Einzelfalls hinaus zu gewährleisten. Vgl. auch den grundlegenden Artikel: Peter Stocker : Parodie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, hg. von Gert Ueding, Darmstadt 2003, Sp. 637–649, hier Sp. 637: »Der Begriff ›P[arodie]‹ bezeichnet im engen Sinn eine spezifische literarische Schreibweise, die im wesentlichen durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: Sie ist (a) intertextuell auf eine Vorlage bezogen und (b) komisch.« 29 Vgl. dazu die instruktive historische Darstellung von Jörg Robert: Nachschrift und Gegengesang. Parodie und parodia in der Poetik der Frühen Neuzeit, in: ›Parodia‹ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit, hg. von Reinhold F. Glei/Robert Seidel, Tübingen 2006, S. 47–66 sowie die knappen forschungsgeschichtlichen Bemerkungen bei Carmen Cardelle de Hartmann: Parodie in den Carmina Burana, Zürich 2014, S. 6f.

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vollständig und in letzter Konsequenz vollzogen würde: Der Abstand zwischen Imitation und Vorlage macht den Eigenwert der Parodie aus, die Absatzbewegung ist eine »Komisierungsoperation«,30 für die die Parodie verschiedene »Verschiebungsoperation[en]« nutzt.31 Erwin Rotermund hat diese in enger Anlehnung an Quintilians rhetorische Parodietheorie32 als »totale oder partiale Karikatur, Substitution (Unterschiebung), Adjektion (Hinzufügung) [und] Detraktion (Auslassung)« beschrieben.33 Immer geht es darum, den Prätext als Bande zu nutzen, über die der Ball so gespielt wird, dass die Parodie einen Mehrwert an Sinn generiert. Die Crux ist dabei, dass ›Parodie‹ als Diagnose für ein literarisches Verfahren außerordentlich voraussetzungsreich ist: Nicht nur unterstellt die Forschung gemeinhin einen parodistischen Impetus, d. h. eine »Tendenz des Parodisten«, der der konkrete Text dient.34 Auch der komische Anspruch der Parodie bedeutet eine Gratwanderung, insbesondere, wenn man vormoderne Texte in den Blick nimmt, deren Komik sich dem modernen Betrachter nicht ohne weiteres erschließt und in der Folge oft anachronistisch missverstanden wird.35 Deshalb lohnt es sich, die Parodie vom Komikaspekt her aufzuzäumen: Definiert man Komik ganz allgemein als Konfliktphänomen36 im weiten Bereich der Inhalte, für die das Harmlosigkeitspostulat gilt,37 und das Lachen, das Komik hervorruft, als Distanzmarker,38 der den Lachenden von dem trennt, über das gelacht wird, greift man parodistische Komik deutlicher. Die Parodie ist dann eine Absatzbewegung: entweder von der parodierten Vorlage, oder aber, indem

30 Robert [Anm. 29], S. 50 umschreibt so Scaligers Definition der Parodie. Andere Parodiedefinitionen unterscheiden zwischen komischen und ernsten Parodien, wobei die parodia sacra eine Entwicklung des 16. Jahrhunderts darstellt, vgl. dazu ebd., S. 49. 31 Ebd., S. 52f. mit Bezug auf Henri Estienne. 32 Vgl. Beate Müller : Komische Intertextualität: Die literarische Parodie, Trier 1994, S. 213. 33 Erwin Rotermund: Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München 1963, S. 9. 34 Rotermund [Anm. 33], S. 9. Kritik an dieser Sichtweise übt Müller [Anm. 32], S. 21. 35 Die zahllosen Definitionsversuche zur Komik kranken zumeist daran, dass sie die Komplexität des Phänomens nicht zu erfassen vermögen, dies gilt z. B. für die Darstellung von Frank Wünsch: Die Parodie. Zu Definition und Typologie, Hamburg 1999. Er definiert ebd. S. 11, Anm. 9: »Komik steht hier generell als Oberbegriff für alles, was Lachen erregt«, berücksichtigt dabei aber nicht, dass Lachen nicht nur von komischen Phänomenen erregt werden muss. 36 Dies tut z. B. Friedrich Georg Jünger : Über das Komische, Hamburg 1936, S. 9: »Alles Komische geht aus einem Konflikt hervor.« 37 Harmlosigkeit liegt dabei im Auge des Betrachters, wie Cicero, De oratore II, 237 deutlich macht. 38 Henri Bergson definiert das Lachen in seiner viel zitierten Beschreibung als Konsequenz einer »vorübergehenden Anästhesie des Herzens«, das beschreibt das Distanzierungsphänomen prägnant (Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Aus dem Französischen übersetzt von Roswitha Plancherel-Walter, Zürich 1972, hier S. 12).

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das geschätzte literarische Vorbild als »Medium der Invektive«39 gegen Inhalte genutzt wird, die in der Parodie vorgeführt werden. Hier kommt sodann die Frage nach der Intention erneut und unter anderem Blickwinkel ins Spiel. Freund geht so weit, der Parodie einen »durch und durch progressiv[en]« Charakter und eine spezifische, historisch-dialektische Intellektualität zu attestieren;40 liest man sie jedoch nicht produktionsästhetisch (also mit Blick auf die Intention des Parodisten), sondern rezeptionsästhetisch mit Blick auf die Wirkung, die sie beim Leser entfaltet, ergibt sich ein anderes Bild: Das Lachen als Distanzierungsphänomen erlaubt die kritische Auseinandersetzung mit den dargestellten Inhalten und ermöglicht eine eigenständige Positionierung des Rezipienten zum Parodierten – und zur Parodie. Denn die Grundvoraussetzung für die angemessene Rezeption einer Parodie ist die Kenntnis des Prätextes bzw. der Tradition, mit der die Parodie spielt. Das Textverstehen durch den Rezipienten transzendiert damit immer und automatisch die Grenze des einzelnen Textes selbst und weist in einen größeren, intertextuellen und auch außerliterarischen Sinnzusammenhang hinaus, in dem sich jeder Leser zu verorten hat. Parodien sind mithin grundlegend rezeptionsästhetisch zu lesende Texte, ihr Angebot an die Leser verortet sie in ihrem literarischen wie kulturellen Kontext, und erst in dem Zusammenspiel von Parodie und Rezipient entfaltet sich ihr Sinn. Damit gehört die Parodie zum weiten Feld der komischen Texte, die mit dem grundlegenden Problem zu kämpfen haben, dass Komik vor allem im Auge des Betrachters, nicht so sehr des Produzenten von Literatur liegt41 und dass allein die Maßstäbe der Rezipienten darüber entscheiden, was als komisch wahrgenommen wird und was nicht. Eine ›gute‹ Parodie transportiert also nicht einfach die kritische Intention ihres Autors (dazu eignet sich die Didaxe besser), sondern lenkt die Rezipienten in einem zweistufigen Prozess, der Komik und intertextuelle Bezüge kombiniert. Dass diese Komik mitnichten immer einen kritischen Hintergrund haben muss, sondern durchaus auch der bloßen »Erheiterung« dienen kann, versteht sich von selbst.42 Als Parodiemarker dient dabei einerseits die imitierende Referenz auf die Vorlage,43 andererseits die komische Ausstellung von Differenzen zu eben dieser Vorlage, eben die Rotermundsche Substitution, Adjektion und Detraktion. Um ein distanzierendes Lachen zu erreichen, stehen dem Parodisten alle Mittel der 39 Robert [Anm. 29], S. 50 mit Bezug auf Scaligers Parodietheorie. 40 Freund [Anm. 28], S. 20 grenzt Parodie damit gegen die »rekonstruktiv[e]« (ebd.) Satire ab. 41 Zum komischen Angebot der Parodie, auf das der Rezipient reagieren kann, vgl. Verweyen/ Witting [Anm. 28], S. 58. 42 Dies konstatiert auch Rotermund [Anm. 33], S. 9. 43 Vgl. dazu Wünsch [Anm. 35], S. 225 mit Literaturhinweisen aus dem Kontext der Intertextualitätstheorie Bachtins.

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»Rhetorik des Lächerlichen«44 zur Verfügung, die etwa die ›Rhetorica ad Herennium‹ aufführt.45 Ein zentraler Themenbereich ist in diesem Zusammenhang die Ironie in ihrer rhetorischen Fassung als dissimulatio,46 also der Differenz von Gesagtem und Gemeintem.47 Diese Differenz kann nur dann zur Geltung kommen, wenn Produzent und Rezipient der Parodie einen Welt- und Vorstellungshorizont teilen, der es erlaubt, die Abweichung zu erkennen, sonst verpufft die dissimulatio und es besteht die Gefahr des Missverständnisses.48 Die Besonderheit des Widmungsbriefes ist dabei die zweigeteilte Öffentlichkeit, die der Widmungsgeber adressiert: Denn auch wenn ein Gönner oder, wie im Falle Zschorns, ein Verwandter angesprochen wird, liest beim gedruckten Widmungsbrief das gesamte Publikum mit – und auf dieses weitere Publikum ist der Brief in letzter Konsequenz hin ausgerichtet.49 Ironie ist damit eine Textfunktion, die Autor und Publikum verbinden, nicht aber den Widmungsempfänger einbeziehen muss, das macht die besondere Konstellation dieses Paratextes aus.

44 Vgl. zu diesem weiten Themenkomplex einführend Gert Ueding: Rhetorik des Lächerlichen, in: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, hg. von Lothar Fietz [u. a.], Tübingen 1996, S. 21–36. 45 Rhetorica ad Herennium I,10 (die Zählung der Einzelpunkte stammt von mir): Si defessi erunt audiendo, ab aliqua re quae risum movere posit 1) ab apologo, 2) fabula veri simili, 3) imitatione depravata, 4) inversione, 5) ambiguo, 6) suspicione, 7) inrisione, 8) stultitia, 9) exsuperatione, 10) collectione, 11) litterarum mutatione, 12) praeter expectationem, 13) similitudine, 14) novitate, 15) historia, 16) versu, 17) ab alicuius interpellatione aut 18) [ab alicuius] adrisione. »Wenn die Zuhörer vom Zuhören ermüdet sind, beginnen wir mit etwas, das Lachen erregen kann, mit einer allegorischen Erzählung, einer wahrscheinlich klingenden erdichteten Erzählung, einer Vertauschung, einer Entstellung, einer ironischen Spottrede, einer Zweideutigkeit, einer Verdächtigung, einer Verspottung, einer Albernheit, einer Übertreibung, einem Gleichnis, einer Vertauschung der Buchstaben, mit etwas Unerwartetem, mit einer Analogie, einer Überraschung, einer geschichtlich beglaubigten Erzählung, einem Vers, einem Zwischenruf oder dem beifälligen Lächeln von jemandem.« (Vgl. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-Deutsch, hg. u. übers. von Theodor Nüsslein, München/Zürich 1994, S. 19). 46 Wünsch [Anm. 35], S. 225 geht so weit, Parodie- und Ironiesignale gleichzusetzen. Zur Ironie als Methode der Parodie vgl. Freund [Anm. 28], S. 25. 47 Cicero, De oratore, II, 269. 48 Grade der Ironiemarkierung und ihrer Entschlüsselbarkeit diskutiert für die Literatur des Mittelalters D. H. Green: On Recognising Medieval Irony, in: The Uses of Criticism, hg. von A. P. Foulkes, Bern/Frankfurt a. M. 1976, S. 11–55. 49 Vgl. zur Öffentlichkeit der Widmungsbriefe etwa Gabriele Schramm: Widmung, Leser und Drama. Untersuchungen zu Form- und Funktionswandel der Buchwidmung im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2003, S. 113f. und S. 519–523. Vgl. außerdem allg. Genette [Anm. 17], S. 131f.

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Zschorns Widmung In diesem Sinne nun ist Zschorns Widmung an seine Vettern als formale und auch inhaltliche Parodie zu lesen. Es wird das Genre des Widmungsbriefes aufgenommen, und zwar augenscheinlich bereits durch den ersten Satz des Textes, der als Grußformel fungiert. Zuerst deutet höchstens die etwas seltsam anmutende Adressatenwahl darauf hin, dass hier etwas nicht stimmt,50 und bereits das Diktum zu Beginn des Briefes macht klar, dass die gängigen Vorstellungen von Widmungen hier ins Leere laufen. Der Brief geht ins Nichts, eine Beziehung zwischen Zschorn als Widmungsgeber und den Vettern als Empfänger existiert de facto nicht, im Gegenteil: Der Grund für die Widmung besteht gerade darin, dass man sich ein Vierteljahrhundert lang nicht zur Last gefallen ist und so weit voneinander entfernt wohnt, dass an einen Besuch nicht zu denken ist. Die Form wird aufgerufen, ihr Inhalt wird neu definiert. Dies kommt auch zum Tragen, wenn Zschorns (vermeintlich) provinzieller Autorstolz durchbricht:51 Er betont in der Vorrede, dass er davon gehört habe, dass seine Werke auch in Eilenburg bekannt seien – das invertiert die topische Bescheidenheitsformel, die der Widmung gemeinhin eignet und die Zschorn an anderer Stelle seines Briefes auch selbst aufruft (A 3v). Prahlerisch erscheint auch Zschorns Begründung dafür, ausgerechnet die ›Aithiopika‹ als Gegenstand für sein wercklin (A 3r) gewählt zu haben: Das ich aber dise Poetische Histori / vnnd nichts anders für mich genummen / thuot dis / das mich für guot angesehen (die weil sie aus dem Griechischen ins Latein transferiert ist) sie sey auch werdt in das Teutsch zuobringen. (A 3v)

Der Umstand, dass der griechische Text bereits eine Übersetzung erfahren hat, ist Qualitätskriterium genug (die französische Übersetzung Amyots, die 1559 schon ihre zweite Auflage erlebt, erwähnt Zschorn hingegen nicht, es geht ihm also allein um die Dignität der klassischen Sprachen, auf die er sich beruft). Im Zentrum der Rechtfertigung steht nicht so sehr der Text selbst, über dessen Inhalt sein Übersetzer nur wenige, eher banale Worte verliert (A 3r), sondern das Ego Zschorns: Er hat als Fremdsprachenkenner den Text für gut befunden – kein Gönner stützt ihn, keine Freunde bedrängen ihn, kein moralischer Impetus bringt ihn dazu, er ist der Mittelpunkt der Widmung, nicht das Werk und nicht die Vettern in Eilenburg. Der Topos des Home¯rom#stix52, der in der Literatur der Zeit weit verbreitet ist, 50 Dazu, dass Zschorn hier ein Vorbild in Wickram gehabt haben kann, vgl. unten. 51 Dies entgegengesetzt zu Röcke [Anm. 27], der ebenso wie Barbara Lafond-Kettlitz: De l’amour courtois / ›l’amour mari8‹. Le roman allemand (1456–1555), Bern [u. a.] 2005, S. 188 die verwandtschaftliche Bindung in der Widmung als vorherrschend sieht. 52 Vgl. dazu allg. Stephanos Matthaios: Zoilos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg.

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wird in der Folge von Zschorn aufgerufen und invertiert: Denn es ist ihm nicht darum zu tun, Kritik am Werk abzulehnen, das er vorlegt, sondern allein seine Widmung zu schützen, die er von übelwollenden Zeitgenossen gefährdet sieht. Es geht ihm vordergründig darum zu betonen, dass er sich und seine Verwandten nicht ungebührlich heraushebt, sondern angemessen lobpreist: dann ihr sunsten gnuogsam kantlich (A 3v). Geht man davon aus, dass weder Zschorn noch seine Vettern irgendeine politische, kulturelle oder anderweitige Relevanz in ihrer Zeit erlangt haben (und nichts spricht dafür, dass es sich um Berühmtheiten handelt),53 haben wir es hier jedoch mit einer Inversion der tatsächlichen Verhältnisse zu tun, indem der Bescheidenheitstopos zweckentfremdet und zudem noch mit dem prominenten Bild der Homergeißel verbunden wird.54 Dass diese aufgerufen wird, geht ebenfalls über die topische Allusion hinaus: Heliodor, der Homer des Romans, setzt sich intensiv mit dem Epos des Vorbilds auseinander und macht Homer zum Leitbild seines Erzählens, er lässt auch Odysseus im Traum seines erzählerischen alter ego Kalasiris erscheinen, der gesamte Text ist von Homerzitaten und strukturellen Anleihen beim homerischen Epos durchzogen.55 Zschorn weiß das, und er ruft das Bild der Homergeißel mit voller Absicht in einem absolut unangemessenen Kontext auf. Hier wird wieder das Große ins Kleine verkehrt und so eine Komik erzeugt, die mit der Banalität der Widmung spielt: Der Übersetzer stellt sich in den Mittelpunkt, Zschorn ist so viel wichtiger als Heliodor, dass der Name des Autors kein einziges Mal in der Widmung fällt – und er fehlt auch in den anderen Paratexten; die ursprüngliche Sphragis, in der sich Heliodor selbst nannte, ist in Zschorns Übersetzung zudem ausgelassen (anders als in seiner Vorlage),56 so dass nichts auf den Autor der ›Aithiopika‹ hinweist.

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von Hubert Cancik [u. a.], Stuttgart 2002, Bd. 12/2, Sp. 825. Den Beinamen erhielt Zoilos wegen seiner heftigen Kritik an Homer. Vgl. zu Zschorns Leben und Karriere immer noch Wilhelm Teichmann: Johannes Zschorn von Westhofen. Ein Beitrag zur elsässischen Literaturgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts, Diss. Straßburg 1905 und Viktor Nessmann: Geschichte der Stadt Westhoffen im Elsass, Straßburg 1917 sowie die Zusammenstellung der älteren Forschung bei LafondKettlitz [Anm. 51], S. 187f. Vgl. Stefanie Stockhorst: Dichtungsprogrammatik zwischen rhetorischer Konvention und autobiographischer Anekdote. Die funktionale Vielfalt poetologischer Vorreden im Zeichen der Reformpoetik am Beispiel Johann Rists, in: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen, hg. von Frieder von Ammon/Herfried Vögel, Münster/Berlin 2008, S. 353–374, hier S. 355 und S. 357f. zur Positionierung des ZoilusBezuges in der Vorrede allgemein. Vgl. dazu z. B. Ulrich Johannes Beil: Die hybride Gattung. Poesie und Prosa im europäischen Roman von Heliodor bis Goethe, Würzburg 2010, S. 45f. Zum Odysseus-Traum vgl. Richard Hunter : Homer and Greek literature, in: The Cambridge Companion to Homer, hg. von Robert Fowler, Cambridge 2004, S. 235–253, hier S. 252. Vgl. Warschewiczki [Anm. 8], S. 195.

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Ein letzter Punkt fällt ins Gewicht: Zschorn schreibt zwar einen persönlich gehaltenen Widmungsbrief, nennt ihn aber (darin auch der Konvention der Zeit entsprechend) vorred.57 Das ist zum einen Ausdruck einer verbreiteten terminologischen Ungenauigkeit, die nicht zwischen prologus praeter rem (dem huldigenden Prologteil) und prologus ante rem (der ins Programmatische geht) unterscheidet,58 sondern stattdessen ein hybrides Ganzes aus Widmung und Programmatik bietet.59 Diese Struktur wird allerdings – und dies betrifft nicht nur Zschorns vorred, sondern gilt allgemein – dem einen ebenso wenig wie dem anderen Bereich wirklich gerecht: Bei Zschorn ist die spezifische Wirkung die einer Widmung ins Leere, verbunden mit wortreichem Schweigen über den Text, den er präsentiert. Der spezifische Zugang zu den ›Aithiopika‹ trägt damit eigene, die etablierten Schemata des Texttyps ›Widmung‹ konterkarierende Züge, die ich der Parodie zurechnen möchte. Zschorn muss dieser Zugang als der gangbarste erschienen sein, um den hochkomplexen Text zum Publikum zu bringen und zwei Ebenen der Rezeption zu entwerfen, eine einfache, geradlinige und eine, die die Metaebene zu erkennen vermag. Denn erstens hat die Parodie einen allgemein komischen Unterton, es geht ihr um die Komisierung von etablierten Mustern. Das bedeutet, dass eine grobe Kenntnis der ›Gattung‹ ausreicht, um die Devianzen in Zschorns Widmung zu erkennen und zu goutieren; die Widmung kann dennoch – und die Fokussierung der modernen Forschung auf den Familienmenschen Zschorn zeigt dies eindrücklich – auch einfach als ›gewöhnliche‹ Adresse gelesen werden. Zweitens und weiterreichend wird mit der Parodie über die bloße Komik hinaus ein Bezugsfeld poetologischer Möglichkeiten eröffnet, das eine intensivere Beschäftigung mit dem Paratext und seinem Spiel mit dem Potential des Widmungsbriefes erlaubt, aber eben nicht zwingend notwendig macht. In diesen Bereich gehört der Abusus der Homergeißel ebenso wie die ostentative Ausstellung des Ego, das in anderen Widmungen nur hinter rhetorischem Ornatus und devoter Widmung hervorlugt, sich aber nicht offen zur Schau stellt. Zschorn verschiebt den Schwerpunkt der Widmung explizit vom Widmungsempfänger auf den Widmungsgeber, und er rückt den Text, der auf die Widmung folgt, in eine zweitrangige Position: Man erfährt nur, dass man es mit einer nützlichen Poetischen Histori zu tun hat, mehr nicht, kein Autorname, kein 57 Für das 17. Jahrhundert betont Schramm [Anm. 49], S. 93 hingegen die Trennung zwischen Widmung und der Vorrede, die sich auch explizit als »An den Leser« gerichtet ausweist. Zur rezeptionslenkenden Funktion der Vorrede vgl. ebd., S. 98–110. 58 Vgl. allg. Stockhorst [Anm. 54], S. 353. 59 Zum Typus der Widmungsvorrede und ihrer Funktion im 16. Jahrhundert vgl. allg. Herbert Wolf: Das Druckwesen im Lichte deutscher Vorreden des 16. Jahrhunderts, in: Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen. Gerhard Kettmann zum 65. Geburtstag, hg. von Rudolf Benzinger/ Norbert Richard Wolf, Würzburg 1993, S. 136–156.

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Hinweis auf die Geschichte wird geboten.60 Die Widmungsvorrede löst die vom Titel evozierte Spannung auf das exotische Abenteuer ganz im Gegenteil nicht auf, sie erklärt keine Genese und Herkunft des Textes und spielt stattdessen in parodistischer Absicht nicht nur mit den Vorgaben der Textsorte ›Widmung‹, sondern auch mit den damit verbundenen Lesererwartungen. Zschorns Ablenkungsmanöver von der eigentlichen Geschichte ist dabei, so meine These, ein Trick: Statt die Neuigkeit und das Erstaunliche des so fremden, in kein Schema sich fügenden Romans auszustellen, schafft er in seiner Widmung eine Aura der Banalität, komisch angehaucht, in ihrem parodistischen Charakter für Kenner decodierbar, vor allem aber als Schwelle gedacht, die den Eintritt in den Text erleichtern soll. Dieser Genettesche Schwellencharakter der Widmungsvorrede fügt sich ein in ein Gesamtbild der Paratexte der ›Aithiopika‹ von 1559, die allesamt darauf bedacht sind, die Rezipienten niedrigschwellig an die Herausforderung heranzuführen, die die Lektüre des Romans bedeutet: Das Titelblatt stellt die Exotik und den ethischen Wert der Geschichte aus, die Widmung gibt sich banal und einfach, sie ist das genaue Gegenteil zu den poetologisch aufgeladenen Paratexten des griechischen, französischen und auch lateinischen Heliodor, spielt aber parodistisch mit den Gattungsschemata. Zschorn schließt an die vorred noch ein Register an, das unter dem Titel Ein kurtzer Innhalt dieser Historien durch alle Buecher vnnd Kapitel als Inhaltsverzeichnis fungiert (wieder fällt, wie schon bei der Widmungsvorrede, die eigentümliche Benennung auf, denn ein Register im eigentlichen Sinne bietet Zschorn gerade nicht).61 Hier werden nicht die einzelnen Kapitelüberschriften, die in der deutschen Übersetzung unabhängig von der Vorlage in den Text inseriert sind, gegeben, vielmehr bietet das Register eine anonymisierte Form der Geschichte, die nur den Jüngling, die Jungfrau, den alten Mann handeln lässt und so eine Kurzfassung des Handlungsgangs in vereinfachter Form skizziert. Eine weitere Schwelle erleichtert so den Einstieg in die Handlung, und als die Geschichte endlich beginnt, bietet die Ausgabe nicht nur eine Unterteilung in knappe, leicht kommensurable Einzelabschnitte, sondern noch einmal – einer historia der Zeit angemessen – Kapitelüberschriften zur Orientierung und Marginalien, die durch den gesamten 60 Diese Information ist komplett ins Titelblatt ausgelagert. Der Titel lautet: Aethiopica Historia. Ein schoene vnnd liebliche Histori / von einem großmuetigen Helden aus Griechenland / vnd einer vber schoenen Junckfrawen / eines Koenigs dochter der schwarzen Moren (der Jüngling Theagenes / vnnd die Junckfraw Chariclia genant) darinn Zucht / Erbarkeit / Glück vnd Vnglück / Freud vnd laid / zuo sampt vil guoter leren beschriben werden. Aus dem Griechischen ins Latin / vnnd yetzundt newlich ins Teutsch bracht / gantz kurtzweilig vnnd nutzlich zuo lesen. 61 Warschewiczki hingegen verschlagwortet seine Übersetzung zumindest selektiv, vgl. dazu Margaret Anne Doody : The True Story of the Novel, New York 1997, S. 238.

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Text hindurch kommentierend, erläuternd und vereindeutigend erklären, worum es geht.62 Nie wird der Rezipient allein gelassen,63 die ›Aithiopika‹ wirken nie ungefiltert auf ihre Leser ein – und in dieses Gesamtbild fügt sich Zschorns vorred ein, die verharmlost und vereinfacht, und die sich dabei auch Seitenhiebe auf den größeren Zusammenhang erlaubt, in den der Übersetzer sein Werk stellen könnte, wenn er denn wollte.

Zschorns Widmung im Kontext Zschorn ist selbstverständlich nicht der einzige Widmungsschreiber, der vom etablierten Muster abweicht, besondere Akzente setzt und sich so positioniert. »Vorreden als programmatische Reden«64 fordern zur variatio geradezu heraus – ein beliebtes Phänomen, das auch bei Zschorn zu finden ist, ist die »[a]utobiographische Stilisierung«,65 die dem Text den »Eindruck von Aufrichtigkeit (sinceritas)« gibt:66 Der Autor ›menschelt‹ und schafft damit eine unmittelbarere Anbindung an die Rezipienten, als dies im Rückgriff auf die üblichen topischen Mechanismen der demutsvollen Widmung und der betonten Ethik des Gegenstandes sonst möglich wäre. Zschorn selbst ist, davon war bereits die Rede, keineswegs eine so berühmte Persönlichkeit, dass er den Zoilus zu fürchten hätte, ganz im Gegenteil: Was wir von ihm wissen, hat er zum größten Teil selbst in seinen Widmungsadressen der erhaltenen opuscula preisgegeben bzw. zum Zwecke der Rezipientenbindung entsprechend aufbereitet und dargestellt. Bekannt sind insgesamt drei Texte: Neben den ›Aithiopika‹ (1559) gibt es eine ›Chronica oder Kayserbüchlein‹,67 1559 ebenfalls bei Messerschmidt gedruckt; außerdem erschien bereits 1558 beim selben Drucker ein ›Türcken Büchlin‹,68 zu großen Teilen eine Übersetzung von Bartolomej Georgijevic´s ›De afflictione tam

62 Eine Übersicht über die Marginalien und ihre Struktur bietet Schäffer [Anm. 18], S. 19*-24*. Schäffer betont auch die Neueinteilung der ›Aithiopika‹ in der Ausgabe (ebd., S. 19*). 63 Vgl. auch Jutta Eming: Historia und Episteme in der ›Aethiopica Historia‹, in: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit, hg. von Martin Baisch/Jutta Eming, Berlin 2013, S. 255–273, hier S. 266. 64 Stockhorst [Anm. 54], S. 355. 65 Ebd., S. 364. 66 Ebd., S. 365. 67 Chronica, oder Keyser Büchlin, darinnen alle römischen Keyser, von dem ersten Keyser Julio, biß auff den yetzt regierenden Keyser Ferdinandum, mit eygentlicher abconterfeytung […], Beschriben durch Johan Zschornen Eylenbergensem, [Straßburg: Paul Messerschmidt 1559]. 68 Türcken Büchlin: Ganz warhaftige vnnd aber erbaermkliche beschreibung von der pein marter schmertzen vnd Tyranney so die Türcken den gefangnen Christen mann vnnd weib jungen vnnd alten an thuon […], Straßburg: Paul Messerschmidt 1558.

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captivorum quam etiam sub Turcae tributo viventium Christianorum‹ aus dem Jahr 1545. Die Vorreden beider Bücher sind weniger unkonventionell als die der ›Aithiopika‹, weisen aber mit ihrer horizontalen Anlage, die nicht danach strebt, von einem höherstehenden Gönner Wohltaten zu erfahren, in dieselbe Richtung wie die Vorrede des Romans: Im ›Türcken Büchlin‹ spricht Zschorn Wolfgang Stultz vom Straßburger Hochstift an, nicht als Geldgeber, sondern als Freund gleich der zweiten Generation; bereits seinem Vater, Christoph Stultz, war Zschorn eng verbunden. Die Widmung hat ihren Grund darin, dass Stultz sich auf Reisen bereits mit anderen Ländern vertraut gemacht hat und auch mehrsprachig ist, diese Fähigkeit teilt er mit Zschorn, dem seine Slavischkenntnisse bey den Türcken vnnd Ungern das Leben gerettet haben (A 2v). Zschorn erzählt die Geschichte des Buches, er stapelt tief, was seine Lateinkenntnisse angeht, um sodann natürlich mit dem lateinischen Sinnspruch Audaces fortuna iuvat die Arbeit auf den Weg zu bringen: So stellt er seine Bildung aus und ironisiert seine Unfähigkeitsbeteuerung. In der ›Chronica‹ wiederum adressiert er Jonas Graner, burger zuo Strassburg und lieben freundt vnnd günner (A 2r), auch hier geht es ihm nicht darum, Geld und Gunst zu erwerben, sondern um Dankbarkeit für erwiesene Freundschaft: Graner ist Zschorns Jugendfreund, er und seine Verwandten haben sich des kranken Autors angenommen und ihn gepflegt. Dafür spricht Zschorn seinen Dank aus, indem er dem Historienfreund (dieweil ihr ein sondern lust haben Historien zuolesen / vnd keynen kosten sparen die selbigen buecher zuo bekommen [A 2v]) das handtbuechlin (ebd.) über die Herrscher widmet, an dem er Gefallen finden wird – historia wird von ihm hier im Zusammenhang mit chronikalem Schreiben und terminologisch eng auf Geschichtsschreibung bezogen benutzt und weist Graner als Geschichtsinteressierten aus. Beide Widmungen sind freundschaftlich, bezogen auf räumlich und emotional dem Autor nahestehende Personen, angereichert durch biographische Details und ein wenig Prahlerei mit der eigenen Kompetenz etwa in Sachen Fremdsprachen – die Vorreden sind ohne doppelten Boden und stehen mit der ›Aithiopika‹-Vorrede nur insofern in Zusammenhang, als sie auch die horizontal orientierte, an die Verwandten gerichtete Widmung, die Zschorn dem Roman voranstellt, aufweisen. Gleichzeitig stellen sie die Besonderheit aus, die dieser Vorrede eignet, denn in den ›Aithiopika‹ fehlt genau der Bezug zu den Widmungsempfängern, den ›Chronica‹ und ›Türcken Büchlin‹ unter Beweis stellen und der dazu beiträgt, sie authentisch erscheinen zu lassen. Gerade im Kontext der beiden anderen Vorreden erweist sich der parodistische Ton der dritten Widmung besonders. Zschorns Widmung der ›Aithiopika‹ erinnert zudem an einige Vorreden

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Wickrams, die auch das horizontale Element betonen.69 Sie lohnen einen kurzen vergleichenden Blick, gerade auch deshalb, weil Wickram als Straßburger Dichter, der zeitlich kurz vor Zschorn auf dem Markt erscheint, durchaus zu dem Kreis der Autoren gehört, deren Namen und Werke dem Übersetzer der ›Aithiopika‹ geläufig gewesen sein dürften – zumal auch Zschorn in Straßburg drucken ließ und nur wenige Kilometer entfernt wohnte. Harald Fricke hat herausgearbeitet, dass Wickram ab 1551 anstelle von Mäzenen Freunde mit Widmungen bedenkt und dass er Romane, die er als bloß unterhaltend ansieht, nicht dediziert.70 Wickram, so stellt Fricke fest, »widmet also nicht dem, der seinem Buch nützt, sondern demjenigen, dem das Buch nützt«.71 Das lässt sich etwa an Texten wie dem ›Apostelspiel‹ (1551) belegen, das Wickram Ludwig Gutjahr, Burger und des rahts zuo Neüwenburg widmet, weil er an euch gespürt / das ir eine besundere neygung zuo disem Spyl gehabt.72 Diesen Zug übernimmt Zschorn in den Vorreden zu seiner ›Chronica‹ und dem ›Türcken Büchlin‹ – folgerichtig nimmt er auch, ebenso wie Wickram, einen »Sonderstatus unter den Widmungsautoren seiner Zeit« ein.73 Das ist von entscheidender Bedeutung, nimmt man das Publikum der ›Aithiopika‹ in den Blick, denn es wird augenscheinlich das etablierte Widmungsmuster aufgebrochen zugunsten einer Herangehensweise, die näher an der Lebenswirklichkeit der Rezipienten angesiedelt ist. Auch Wickrams Widmungen weisen bisweilen komische Elemente auf, ohne dass, wie z. B. beim ›Irr reitenden Pilger‹ (1556), genau zu entscheiden ist, ob es sich um absichtliche oder unfreiwillige Komik handelt: Hier setzt Wickram Georg Tüffe in Ensisheim, seinem früntlichen lieben Vettern, die unterschiedlichen Todesarten auseinander, die den Menschen aus dem Nichts ereilen können – fußend auf der eigenen Krankheitserfahrung (hauptwe),74 was sodann in der Feststellung kulminiert, dass wir armen ma69 Harald Fricke: Wieviel Sozialgeschichte gehört zur Werkanalyse? Wickrams Widmungen und ihre Bedeutung für die sozialgeschichtliche Einordnung seiner Romane, in: Ders.: Literatur und Literaturwissenschaft. Beiträge zu Grundfragen einer verunsicherten Disziplin, Paderborn [u. a.] 1991, S. 79–110, S. 95, Anm. 36 nimmt eine Beeinflussung der FaustbuchWidmung durch Wickram an, erwähnt Zschorn aber nicht. 70 Fricke [Anm. 69], S. 82 und S. 85. Die Enthaltsamkeit bzgl. der Dedikation unterhaltsamer Werke gilt nicht für Schwänke: Das ›Rollwagenbüchlein‹ widmet Wickram Martin Neu, dem Wirt des Gasthauses ›Zur Blume‹ in Colmar mit dem expliziten Hinweis, dass die Sammlung niemants zuo underweysung noch leer gedacht sei: Georg Wickram: Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, Bd. 7: Rollwagenbüchlein, Berlin/New York 1973, S. 5, vgl. dazu Fricke [Anm. 69], S. 89. 71 Fricke [Anm. 69], S. 90. 72 Georg Wickram: Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, Bd. 12: Apostelspiel. Knaben Spiegel, Berlin/New York 1968, S. 9. 73 Fricke [Anm. 69], S. 93 mit Bezug auf Wickram. 74 Georg Wickram: Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, Bd. 6: Der irr reitende Pilger, Berlin/New York 1972, beide Zitate auf S. 5.

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densaeck und misthauffen75 ins Nachdenken über die eigene Endlichkeit geraten sollen, um dann anzuschließen: Hoff lieber herr Vetter / ir werdent nit wenig kurtzweil in diesem buechlin haben.76 Eindeutig absichtlich ist die Komik im Roman77 ›Von guoten und boesen Nachbaurn‹ inseriert: Wickram dediziert den Text Caspar Hanschel, seinem lieben gevattern, der ihm lange Zeit ein angenehmer Nachbar gewesen ist; der Roman soll ihn darüber belehren, wie unangenehm es ist, sich mit einem zenkischen / ungetrewen nachbaurn herumschlagen zu müssen, die Komik lebt vom Kontrast zwischen in der Widmung gewürdigter Lebenswirklichkeit und dem Anspruch der Didaxe.78 Diese Einzelaspekte tragen alle zu einem Gesamtbild bei, das Zschorns ›Türcken-Büchlin‹ und ›Chronica‹ in der Tradition Wickrams zu verorten erlaubt, der Freundesanreden in der Widmung umfangreich kultiviert und sich stark darum bemüht, seinen Widmungstexten eine persönliche Komponente zu geben. Umgekehrt wird vor dem Hintergrund der Wickramschen Paratexte noch deutlicher die besondere Rolle beleuchtet, die der ›Aithiopika‹-Vorrede zukommt: Hier werden die besonderen Muster noch einmal übertrumpft und weitergedacht, indem die horizontale Widmung nicht nur mit Komik, sondern mit parodistischen Strukturen kombiniert und so als Schwelle zu einem komplexen Text konstruiert wird, den Zschorn erschließen will. Nicht nur bei Zschorn finden sich, das sei abschließend zumindest angedeutet, Widmungsparodien in der deutschsprachigen Literatur der Zeit. Zu denken wäre etwa an Michael Lindeners ›Katzipori‹ (1558), das die »erste[] offenkundig fingierte[] Dedikation in der deutschen Literatur«79 bietet, die wohl dem Gegenstand des Buches geschuldet ist, das man kaum ernsthaft zu widmen vermag. Während andere Autoren ihre Schwankbücher verteidigen,80 geht Lindener in die Offensive: Dem Ersammen vnd nammhaftigen Hansen Greüther / Burger vnd Papyrer zuo Landsperg / auf der Mühle da man Lumpen macht / 75 Ebd., S. 9. 76 Ebd., S. 10. 77 Zur unsicheren Gattungszuweisung vgl. Gerhard Wolf: Gattungsvermischung in Wickrams ›Von Guoten und Boesen Nachbaurn‹, in: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung, hg. von Maria E. Müller/Michael Mecklenburg, Frankfurt a. M. [u. a.] 2007, S. 293–311, S. 297 zu den Paratexten. 78 Georg Wickram: Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff. Vierter Band: Von guoten und boesen Nachbaurn, Berlin 1969, beide Zitate auf S. 5. Vgl. dazu auch Martina Backes: Erzählen und Belehren. Zur narrativen Umsetzung und graphischen Visualisierung von Normen in Jörg Wickrams Nachbarroman, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, hg. von Elke Brüggen [u. a.] Berlin/New York 2012, S. 453–463, bes. S. 457 zu den Leseanleitungen der Paratexte. 79 Fricke [Anm. 69], S. 93. 80 Vgl. allg. Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1996, S. 124.

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meinem guotten Herren vnd Freündt etc. widmet Hans Compan / von Schleüsing das Buch.81 Lindener driftet nicht nur in Unsinn und Dreistigkeit ab, sondern betreibt eine strukturelle Inversion aller Widmungsparadigmen, die das parodistische Element nur mehr schwer von einer satirischen Schreibart trennen lassen – ähnlich, wenn auch weniger drastisch, verfährt er auch in der Widmung des ›Rastbüchleins‹, das eine vertikale, gunstheischende Widmung invertiert und Anthon Baumgartner adressiert.82 Lindeners Texte bewegen sich in anderen Sphären als die ›Aithiopika‹, nichts desto trotz zeigen sie auf, welche Bandbreite an Widmungsadressen denkbar sind, und sie entstehen ebenfalls am Ende der 1550er Jahre, die augenscheinlich eine Dekade der experimentellen Dedikation sind. Die vertikalen und horizontalen Widmungen, ernst, unernst oder parodistisch, motiviert oder an den Haaren herbei gezogen, formen ein Spektrum von denkbaren Konstellationen, das eine intensive Auseinandersetzung mit der Textsorte ebenso wie mit ihrer Funktion und ihren Grenzen bezeugt. Zschorns Vorrede bewegt sich in diesem größeren Kontext, entwickelt dabei aber eine ganz eigene Dynamik. Welche Blüten eine solche Widmungspraxis treiben kann, zeigen in der Folge, nach Zschorns Zeit, die Vorreden der ›Amadis‹-Reihe, die Sigmund Feyerabend ab 1569 in kurzer Folge in Übersetzungen auf den Markt bringt. Besonders die Widmung des zwanzigsten Bandes von F.C.V.B.83 an Hein Bergfürst und Else Habermäderin, zwei Schwarzwaldbauern, sticht in dieser Serie heraus:84 Hier wird die Rezeption der Rittergeschichte und ihres Ethos in die bäuerliche Sphäre transponiert, so wird nicht nur die intendierte Poetik des Romans, sondern auch das Zielpublikum parodistisch aufs Korn genommen. Zschorns Vorrede wäre damit auch im umfassenden Romandiskurs des späteren 16. Jahrhunderts, wie ihn die ›Amadis‹-Serie mit ihren umfangreichen paratextuellen, poetologischen Einlassungen skizziert, kein Einzelfall. Parodistische Elemente gibt es nicht nur in der Vorrede der ›Aithiopika‹, sie entfalten auch im Kontext des Schwanks und der zeitgenössischen Romanproduktion ihre Wirkung und realisieren dabei ein poetologisches Potential, denn die Widmung als Ort der Auseinandersetzung über Sinn und Anspruch des nachfolgenden Textes ist ein Brennpunkt der sich entwickelnden Romanpoetik des 16. Jahrhunderts. Gerade die parodistische 81 Michael Lindener : Schwankbücher. Rastbüchlein und Katzipori, hg. von Kyra Heidemann, Bern [u. a.] 1991, Band 1: Texte, hier ›Katzipori‹, S. 65 und S. 69. 82 Vgl. zu Lindener die Ausführungen von Stephanie Altrock: Gewitztes Erzählen in der Frühen Neuzeit. Heinrich Bebels Fazetien und ihre deutsche Übersetzung, Köln 2009, S. 229–235. 83 Das ist Fridrich Castalio von Basel, vgl. dazu Hilkert Weddige: Die ›Historien vom Amadis auss Frankreich‹. Dokumentarische Grundlegung zur Entstehung und Rezeption, Wiesbaden 1975, S. 81–87. 84 Ich danke Henrike Schaffert für ihren Hinweis auf diese Vorrede. Vgl. zur ›Amadis‹-Reihe auch Schafferts Studie: Der ›Amadis‹-Roman. Serielles Erzählen in der Frühen Neuzeit, Berlin 2015. Vgl. zur Vorrede von Band XX auch Weddige [Anm. 83], S. 125.

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Verkehrung spricht dafür, dass ein spielerischer Umgang mit dieser Praxis möglich ist. Dieser Befund steht wiederum für eine Versiertheit im poetologischen Diskurs, der so eingeübt ist, dass er Abweichungen und Verkehrungen nicht nur erlaubt, sondern auch ins proto-poetologische System zu integrieren vermag. Und vor diesem breiteren Hintergrund ist Zschorns Bemühen zu lesen, auch wenn es spezifische, eigene Wege geht.

Fazit: Audaces fortuna iuvat Zschorns Vorrede zu den ›Aithiopika‹ ist das Produkt einer Zeit, die die Textsorte der Widmungsadresse diversifiziert – der Vergleich mit seinen anderen Widmungen macht deutlich, wie sehr sie von seinem eigenen Stil geprägt ist. Er legt aber gleichzeitig auch offen, dass es signifikante Unterschiede nicht nur zu Zschorns übriger Widmungspraxis, sondern auch zu der von Wickram durchexerzierten Art und Weise der horizontalen Widmung allgemein gibt, die Zschorn als Vorbild gedient haben mag. In parodistischer Weise nimmt die Widmung der ›Aithiopika‹ nicht nur die Topik des Widmens aufs Korn. Sie schafft es durch Inversion gängiger Muster auch, das poetologische Potential des Romans, das die Paratexte der griechischen, französischen und lateinischen Ausgabe entfalten, auszublenden, indem es anzitiert wird. Alle Anknüpfungspunkte laufen ins Leere, die poetische Histori, von der Zschorn auf engstem Raum gleich zwei Mal spricht, bleibt eine Leerform, die Homergeißel erschließt ihren Witz nur dem Leser, der die Rolle Homers in den ›Aithiopika‹ kennt und den Zoilus in seiner besonderen Funktion für dieses Werk adäquat zu verorten vermag. Das alles führt dazu, dass die Parodie auf die Widmungsvorrede, die Zschorn hier liefert, weit mehr ist als der »Wunsch nach Integration in Familie und Freundschaft, d. h. nach kollektiven Vergesellschaftungsformen und Aufhebung seiner Isolation«.85 Zschorn tastet sich vorsichtig an einen Roman heran, den es so in deutscher Sprache niemals zuvor gegeben hat und dessen Potential die deutschsprachige Literatur erst auf Umwegen – nämlich vermittelt über die französische Tradition – im 17. Jahrhundert nutzbringend anwenden wird.86 Zschorn macht das Ungewöhnliche gewöhnlich, indem er es paratextuell ein85 Röcke [Anm. 27], S. 343. 86 Vgl. die Feststellung von Florian Gelzer : Der Einfluss der französischen Romanpraxis des 17. Jahrhunderts auf die Romane Philipp von Zesens, in: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur, hg. von Maximilian Bergengruen/Dieter Martin, Tübingen 2008, S. 119–139, hier S. 120: »Die Bezugnahme auf den hellenistischen Roman, allen voran auf die ›Aithiopika‹ des Heliodor, ist in der Romandiskussion des siebzehnten Jahrhunderts ein schon beinahe obligatorisches Leitmotiv.«

Johannes Zschorns Vorrede zu seiner ›Aithiopika‹-Übersetzung (1559)

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hegt, seine verharmlosende Vorrede mit ihrem komischen Anklang liefert hierfür den Auftakt. Sie zeigt zugleich, weil sie eben nicht allein komisch, sondern parodistisch angelegt ist, dass aus dem Text des Romans mehr zu holen ist, als Zschorns Paratext preisgibt. Die vorsichtige Annäherung will nicht das letzte Wort sein, sondern ist der Versuch, einem ungewöhnlichen Text ein Publikum zu erschließen, das einen solchen Roman in der Volkssprache noch nie zu Gesicht bekommen hat. Zschorn verkauft die ›Aithiopika‹ als gewöhnliche historie, das ist sein Ansatz und das ist die Rechtfertigung für seine Vorrede, die aus dem Rahmen fällt. Dass er mit seinem Ansinnen, den ›Aithiopika‹ ein Publikum zu erobern, Erfolg hat, beweist die Druckgeschichte seiner Übersetzung: Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein sind Nachdrucke belegt.87 Seiner Vorrede war nicht das gleiche Glück wie dem Text beschieden – sie überlebt den Erstdruck nicht. Bereits der zweite Druck der Übersetzung (1580), der sowohl das Register als auch die Marginalien übernimmt, ersetzt Zschorns launige Widmung durch einen neuen Text des Druckers Nikolaus Basse, der ganz klassisch gehalten ist: Basse widmet den Druck seinem günstigen Herren vnd Freundt Bartolomeus Schoenkap und ruft die üblichen Topoi auf, insbesondere die vielfältigen Aufforderungen, einen Nachdruck zu veranstalten und die ideale Eignung des Herren als Patron für das Werk, der sich durch Großzügigkeit und Bildung auszeichnet.88 Die ›Aithiopika‹ werden gerühmt und müssen sich hinter den ansonsten gelesenen Stoffen, namentlich dem ›Tristan‹ und dem ›Amadis‹ nicht verstecken. Es wird die Geschichte der Handschrift aus der Bibliotheca Corviniana genannt, was ein sicheres Zeichen dafür ist, dass Basse nicht einfach Messerschmidts Text nachdruckt, sondern sich in den anderen Editionen und ihren Paratexten umgesehen hat. Die Besonderheiten der Übersetzung und der Name des Übersetzers werden genannt, Basse schmückt sich nicht mit fremden Federn, anders als in der Erstausgabe des Textes wird auch der Autor Heliodor in sein Recht gesetzt und identifiziert.89 Die ›Aithiopika‹ sind damit in einem Diskurs angekommen, den Zschorn so augenscheinlich noch nicht für seine Übersetzung voraussetzen konnte, als er sie 1559 in Druck brachte. Sein Mittel der parodistischen Distanzierung von der Tradition der gelehrten Antikenübersetzung, sein spielerischer Umgang mit den Vorgaben der Textsorte wird nicht mehr benötigt und fällt schlicht und ergreifend weg. Die Widmung hat sich ganz offenkundig überlebt, und das beweist in paradoxer Weise, dass sie ihre Funktion erfüllt und den Weg in die ›Aithiopika‹ 87 Vgl. die Auflistung bei Schäffer [Anm. 18], S. 48*–57*. 88 Heliodori Historia Aethiopica, Das ist: Ein schöne liebliche Histori, von dem fürtrefflichen tapffern Helden auß Griechenland, Theagene, und der uber auß schönen Jungkfrauwen Chariclia, der schwartzen Moren Königs Tochter […], Frankfurt a. M: Nikolaus Basse 1580, A 2r. 89 Vgl. ebd., A 2r–A 5r.

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geebnet hat. Die Schwelle des zweiten Druckes kann höher liegen – dass in der weiteren Tradition der Name Zschorns verloren gehen wird und seine Übersetzung ein Eigenleben fernab von ihrem Schöpfer führt, gehört zur Ironie, die mit den parodistischen Grüßen nach Eilenburg verbunden ist.

Eva von Contzen

Die Lust am Lesen. Parodie in den Vorreden englischer Übersetzungen antiker Romane

Parodie, in der Definition von Meyer Howard Abrams, ist eine Form der »high burlesque« und als solche durch »incongruous imitation« charakterisiert: A parody imitates the serious manner and characteristic features of a particular literary work, or the distinctive style of a particular author, or the typical stylistic and other features of a serious literary genre, and deflates the original by applying the imitation to a lowly or comically inappropriate subject.1

Im mittelalterlichen wie frühneuzeitlichen Kontext ist für den modernen Leser nicht immer augenfällig, ob es sich um eine Parodie handelt, da ihre Identifikation die Kenntnis genrespezifischer Parameter, die untergraben, überhöht, verkehrt oder verzerrt imitiert werden, voraussetzt. Dies gilt bereits für Texte, die in ihrer Gesamtheit als Parodie angelegt sind, wie beispielsweise das mittelenglische Gedicht ›Land of Cockaigne‹ (frühes 14. Jahrhundert) oder Geoffrey Chaucers ›Nun’s Priest Tale‹ (spätes 14. Jahrhundert), das als mock epic angelegt ist. Schwieriger noch sind die Fälle, in denen ein Text parodistische Züge trägt – diese können unter Umständen auch als ironische oder komische Elemente identifiziert werden. Die Frage, ob diese parodistischen Elemente erkannt werden, wenn sie denn als solche intendiert waren, kann die Interpretation eines Werks stark beeinflussen, wie im Falle des schottischen Versromans ›Sir Tristrem‹ (spätes 13. Jahrhundert). Die einzig in der Auchinleck-Handschrift überlieferte Version präsentiert den Tristan-Stoff in merkwürdiger Kondensation und im Detail ungewöhnlicher Fokussierung.2 In der Annahme seiner

1 Meyer Howard Abrams: A Glossary of Literary Terms, Boston 71999, S. 27. Siehe ähnlich Paul Lehmann, der Parodien als literarische Erzeugnisse definiert, »die irgendeinen als bekannt vorausgesetzten Text oder – in zweiter Linie – Anschauungen, Sitten und Gebräuche, Vorgänge und Personen scheinbar wahrheitsgetreu, tatsächlich verzerrend, umkehrend mit bewußter, beabsichtigter und bemerkbarer Komik, sei es im ganzen, sei es im einzelnen, formal nachahmen oder anführen« (Paul Lehmann: Die Parodie im Mittelalter, München 1922, S. 13). 2 Die Auchinleck-Handschrift (NLS, Advocates; entstanden zwischen 1330 und 1340 in London) ist eines der bedeutsamsten Überlieferungszeugnisse der mittelenglischen Literatur.

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Ernsthaftigkeit ist der Roman aufgrund der kruden Darstellungsweise als spätmittelalterliches Derivat abqualifiziert worden. Versteht man ›Sir Tristem‹ dagegen als parodistische Bearbeitung, erscheinen die angeblichen Ungereimtheiten in einem neuen, humoristischen Licht, die dem Text Kohärenz verleihen.3 Ein weiteres Beispiel ist Chaucers ›Tale of Sir Thopas‹, dessen ernsthafte Aussageabsicht bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert nicht angezweifelt wurde. Heute dagegen besteht kaum Zweifel, dass die Erzählung typische formale und strukturelle Elemente von mittelalterlichen Romanen karikiert.4 In welchem Maße ein Text seine parodistische Intention flankiert, ist demnach nicht allein ausschlaggebend für die Identifikation einer Parodie. Vielmehr gilt, was Wayne C. Booth für die Ironie konstatiert: »Whether a given word or passage or work i s ironic depends […] not on the ingenuity of the reader but on the intentions that constitute the creative act. And whether it is s e e n as ironic depends on the reader’s catching the proper clues to those intentions.«5 Ironie wie Parodie sind damit zwar textuell verankert, können aber nur kontextuell dekodiert werden, vorausgesetzt, das Publikum erkennt die im Text gelieferten Signale. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass der Begriff ›Parodie‹ notorisch unscharf und auch rezeptionsgeschichtlich problematisch ist. In der aristotelischen Definition wird parodia in den Zusammenhang einer pragmatischen Nachahmung – nämlich als Gegenstück zur Rhapsodie oder epischen Dichtung – gestellt und bezeichnet eine spezifische literarische Form erzählender Dichtung, die sich zum Epos etwa so verhält wie die Komödie zur Tragödie. Demnach ist eine Parodie »eine ins Lächerlich gewendete epische Darstellung«.6 Julius Caesar

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Siehe weiterführend z. B. The Auchinleck Manuscript. New Perspectives, hg. von Susanne Fein, York 2016. Interpretationen, die keine parodistischen Elemente nennen, finden sich z. B. bei Helaine Newstead: A Manual of the Writings in Middle English 1050–1500, Bd. 1, New Haven 1967, S. 79 sowie Susan Crane: Insular Romance. Politics, Faith and Culture in Anglo-Norman and Middle English Literature, Berkeley 1986, S. 192–195. Für eine Parodie spricht sich Alan Lupack aus (Lancelot of the Laik and Sir Tristrem, hg. von Alan Lupack, Kalamazoo 1994, S. 45–55). Siehe zu spätmittelalterlichen Parodien insbesondere von Romanen Keith P. Talyor: The Middle English Parody/Burlesque, in: A Companion to Old and Middle English Literature, hg. von Robert T. Lamdin/Laura Cooner Lamdin, Westport 2002, S. 315–335; Wim Tigges: Romance and Parody, in: Companion to Middle English Romance, hg. von Henk Aertsen, Amsterdam 1990, S. 129–151; D. H. Green: Irony in the Medieval Romance, Cambridge 1979. Wayne C. Booth: A Rhetoric of Irony. Chicago [u. a.] 1974, S. 91 (Hervorhebungen im Original). Reinhold F. Glei: Aristoteles über Linsenbrei. Intertextualität und Gattungsgenese am Beispiel der antiken Parodie, in: Philologus 136.1 (1992), S. 42–59, hier S. 52. Siehe zur antiken Begriffsbestimmung auch Reinhold F. Glei: Parodie, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. von Hubert Cancik/Helmuth Schneider, Stuttgart 2000, Bd. 9, S. 345–349; Jörg Robert: Nachschrift und Gegengesang. Parodie und parodia in der Poetik der Frühen Neuzeit

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Scaliger (1561) greift die aristotelische Definition auf, wenn er die Parodie als »umgekehrte Rhapsodie« bezeichnet, wobei durch eine Veränderung der Worte Lächerlichkeit hervorgerufen werde: Est igitur parodia rhapsodia inversa mutatis vocibus ad ridicula sensum retrahens.7 Ganz ähnlich ist auch die knappe englischsprachige Definition bei John Florio in seinem Wörterbuch ›AWorlde of Wordes‹ von 1598 formuliert, wonach eine Parodie »a turning of a verse by altering some words« sei.8 In der äußerst einflussreichen Poetik Henri Estiennes (›Parodiae morales‹, 1575) bezeichnet die Parodie eine bestimmte imitatorische Schreibweise, die sich als parodia sacra, parodia seria oder parodia iocosa manifestieren kann.9 Allen diesen Begriffsbestimmungen ist gemein, dass sie die Parodie in der Dichtung verorten. Entgegen diesen relativ eng gefassten theoretischen Ausführungen möchte ich im Folgenden eine Textsorte in den Mittelpunkt rücken, die in den vormodernen Definitionen von Parodie keine Berücksichtigung findet, da es sich sowohl um Prosa als auch um paratextuelles Material handelt: Widmungstexte und Vorreden in frühneuzeitlichen Drucken, insbesondere Übersetzungen antiker sowohl lateinischer als auch griechischer Werke, die in England zwischen der Mitte des sechzehnten und der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts publiziert wurden. Für die englische Literatur der frühen Neuzeit gibt es bisher keine Überblicksdarstellung über Formen und Funktionen von Widmungsvorreden; allerdings stellt Henry B. Wheatley fest: »In English literature the dedications written previous to the Restauration are mostly of a genuine character ; but there were many which were directly the opposite to genuine.«10 Angesichts der be-

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in: ›Parodia‹ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit, hg. von Reinhold F. Glei/Robert Seidel, Berlin [u. a.] 2006, S. 47–66 und Margaret A. Rose: Parody. Ancient, Modern, and Post-modern, Cambridge 1993, S. 6–36. »Die Parodie ist demnach eine umgekehrte Rhapsodie, die durch eine veränderte Ausdrucksweise den Sinn ins Lächerliche zieht«: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. 1: Buch 1 und 2, hg. von Luc Deitz, Stuttgart [u. a.] 1994, S. 370 (Übersetzung S. 371) (= lib. I, cap. 42). AWorlde of Wordes, Or Most copious, and exact Dictionarie in Italian and English. London: Arnold Hatfield for Edw. Blount 1598 (STC 2nd ed. 11098), fol. 259, col. 2. Parodiae morales H. Stephani, in poetarum veterum sententias celebriores, totidem versibus graecis ab eo redditas. GenHve: Henri II Estienne 1575. Siehe Robert [Anm. 6], S. 51–55. Zur Bedeutung von Estienne siehe Thomas Schmitz: Die Parodie antiker Autoren in der neulateinischen Literatur Frankreichs und der Niederlande (XVI. Jahrhundert), in: Antike und Abendland 39 (1993), S. 73–88. Henry B. Wheatley : The Dedication of Books to Patron and Friend. A Chapter in Literary History, London 1887, S. 9. Eine Überblicksdarstellung der englischen Paratext-Tradition ist zwar ein Desiderat, doch gibt es eine Reihe von wichtigen Einzelstudien, darunter David M. Bergeron: Textual Patronage in English Drama, 1570–1640, Aldershot 2006 und Kevin Dunn: Pretexts of Authority. The Rhetoric of Authorship in the Renaissance Preface, Stanford 1994. Für deutsche und französische Traditionen liegen umfassende Studien vor; siehe für die deutsche Literatur Gabriele Schramm: Widmung, Leser und Drama. Untersuchungen zu

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grifflichen Unschärfe erscheint die eingangs genannte umschreibende Definition der Parodie als ›incongruous imitation‹ ein geeigneter Kompromiss, um vormoderne Phänomene parodistischer Praxis inklusive ihrer unernsten Elemente und deren Funktionen zu beschreiben. Die Absenz eines Parodie-Begriffs, der die Phänomene entsprechend bezeichnet, bedeutet – wie wir schon anhand der mittelalterlichen Beispiele gesehen haben – selbstverständlich nicht, dass das Konzept des parodistischen Schreibens als solches unbekannt war. Offenkundig wurde die Parodie im vormodernen Kontext als Diskurs oder Modus des Schreibens praktiziert statt theoretisiert.11 Die Parameter dieser Diskurse und Modi gilt es näher zu untersuchen.

Widmungen und Vorreden in Übersetzungen antiker Werke Ab etwa der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts wurde in rascher Folge eine Vielzahl von antiken Werken ins Englische übersetzt. Julia G. Ebels Statistik zufolge belief sich allein die Zahl der Übersetzungen aus dem Lateinischen zwischen 1560 und 1603 auf über 340.12 Dass sich die Texte großer Beliebtheit erfreuten, belegt die zum Teil hohe Auflagenzahl. Apuleius’ ›Der goldene Esel‹, Form- und Funktionswandel der Buchwidmung im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2003; Karl Schottenloher : Widmungsvorreden im Buch des 16. Jahrhunderts, Münster 1953; Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1996. Für den französischen Raum siehe Wolfgang Leiner : Der Widmungsbrief in der französischen Literatur (1580–1715), Heidelberg 1965. Siehe auch Reinhard Wittman: Der Gönner als Leser. Buchwidmungen als Quellen der Lesergeschichte, in: Parallelwelten des Buches. Beiträge zu Buchpolitik, Verlagsgeschichte, Bibliophilie und Buchkunst. Festschrift für Wulf D. von Lucius, hg. von Monika Estermann [u. a.], Wiesbaden 2008, S. 1–28. 11 Beate Müller argumentiert zu recht, dass die Parodie sowohl »Gattungs- als auch Schreibweisencharakter« besitzt, »indem man unter ›Schreibweise‹ das Instrumentarium parodistischer Techniken versteht, das dann, wenn es in einem Text zum dominanten Merkmal wird, diesen Text zu einer Parodie im Gattungssinn macht« (Beate Müller : Komische Intertextualität. Die literarische Parodie, Trier 1994, S. 48f.). 12 J[ulia] G. Ebel: A Numerical Survey of Elizabethan Translations, in: Library 22 (1967), S. 104–127, zitiert in: Appendices, Table 5, in: The Cambridge History of the Book in Britain, Bd. 4, 1557–1695, hg. von John Barnard/D. F. McKenzie, Cambridge 2002, S. 789. Siehe zur Übersetzungspraxis in der Frühen Neuzeit sowie zu Übersetzungen antiker Texte Peter Burke: Lost (and Found) in Translation. A Cultural History of Translators and Translating in Early Modern Europe, in: European Review 15.1 (2007), S. 83–94; Robert Cummings: Recent Studies in English Translation, c. 1520–c. 1590, in: English Literary Renaissance 37.2 (2007), S. 274–316; Robert Cummings: Recent Studies in English Translation, c. 1590–1660. Part I: General Studies and Translations from Greek and Latin, in: English Literary Renaissance 39.1 (2009), S. 197–227; Robert Cummings/Stuart Gillespie: Translations from Greek and Latin Classics 1550–1700. A Revised Bibliography, in: Translation and Literature 18 (2009), S. 1–42.

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übersetzt von William Adlington, erscheint in fünf Auflagen zwischen 1566 und 1639, Arthur Goldings Übersetzung von Ovids ›Metamorphosen‹ in sieben Auflagen zwischen 1567 und 1612, ›The Lives of the noble Grecians and Romanes‹, eine Plutarch-Übersetzung von Jacques Amyots französischer Übersetzung aus dem Altgriechischen von Sir Thomas North wird sechsmal aufgelegt zwischen 1579 und 1675, und die zwölf Bücher der ›Aeneis‹, übersetzt von Thomas Phaer und Thomas Twyne, ebenfalls sechsmal im Zeitraum von 1573 bis 1620.13 Die diesen und anderen Werken vorangestellten Widmungen und Vorreden an den Leser scheinen auf den ersten Blick durch ihren unmittelbaren Bezug zu den Prozessen der Textproduktion und -rezeption wenig parodistisches Potenzial aufzuweisen, da sie Ausdruck des Patronatssystems sind, innerhalb dessen literarisches Schaffen im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert situiert ist: »These subliminal – or, if you like, transliminal – features of the Renaissance book significantly encode in bibliographical artefacts the essential issues of patronage, dissemination, demographics, and stylization of audience status.«14 Als Ausdruck der »sozialen Spannung« gehen Vorreden »vom Stand, der Dichtung produziert, zum Stand, der Dichtung protegiert«.15 Der Gestus der Bescheidenheit angesichts der vollbrachten literarischen Leistung des Autors markiert neben den obligatorischen förmlich-preisenden Dankesworten an die Gönner oder Förderer, die den Autor monetär oder ideell unterstützt haben, ein weiteres topisches und typisches Element der Textsorte. Die Adressaten sind in der Regel Vertreter der adligen Oberschicht und gesellschaftlich einflussreich, so dass die erhoffte Wertschätzung der Anerkennung der literarischen Leistung oftmals eine politische, zumindest eine eigennützige, Dimension impliziert. Ohne einen Anspruch auf statistische Genauigkeit erheben zu wollen, lässt sich bei den Übersetzungen antiker Werke eine Korrelation zwischen der Gewichtigkeit des Stoffes und der Ernsthaftigkeit ihrer Prätexte konstatieren: Epos, Historiographie und philosophische Texte werden in der Regel nicht von parodistischen Widmungen und Vorreden eingeleitet. Hier folgen die Autoren den typischen Mustern. Arthur Hall, der 1581 die erste Übersetzung von zehn Büchern der ›Ilias‹ ins Englische vorlegte, widmet sein Werk Sir Thomas Cecil, Earl of Exeter.16 Die Widmung ist persönlich und beschreibt, wie Hall, während er als

13 Siehe die Übersicht in Cummings/Gillespie [Anm. 12]. 14 Randall Anderson: The Rhetoric of Paratext in Early Printed Books, in: The Cambridge History of the Book in Britain, Bd. 4, 1557–1695, hg. von John Barnard/D. F. McKenzie, Cambridge 2002, S. 636–644, hier S. 643. 15 Schramm [Anm. 10], S. 18. 16 Die Übersetzung erfolgte über die französische Übersetzung von Hugues Salel. Siehe zu Hall Michael A. R. Graves : Hall, Arthur (1539–1605), in : Oxford Dictionary of National

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scholar in Cecils Haus weilte, auf seine einige Jahre zuvor verfassten Übersetzungsversuche gestoßen ist, die er schließlich überarbeitet und auf zehn Bücher erweitert.17 Angesichts der langen Reihe von erfolgreichen Vorgängern und Zeitgenossen, die ebenfalls antike Werke übersetzt haben, zweifelt Hall – den Bescheidenheitsgestus evozierend – an seiner Leistung: Againe, when I considered of the ripe wittes of this age, and had read diuerse workes so exquisitely done in this kinde by our owne Nation. As the trauaile of M. Barnabe Googe in Palingenius, the learned and painefull translation of part of Seneca by M. Iasper Heywood, the excellent and laudable labour of M. Arthur Golding, making Ouid speake English in no worse Termes, than the Authors owne gifts gaue him grace to write in Latine, the worthy workes of that noble Gentleman my L. of Buckhurst, the pretie and pythie conceites of M. George Gascoyne, and others in great number, no more to be liked than praised, and not so much to be praised, as to be recorded for their eternall commendation. These persons, whose bookes I am not worthy to carie, when I minded, I wished I had beene otherwise occupied, I condemned my trauaile, I scratched my head as men doe, when they are greatly barred of their willes.18

Obgleich Hall sich und seine Übersetzung vordergründig für minderwertiger erklärt als die der genannten englischen Übersetzer, stellt er sich implizit mit ihnen in eine Reihe: Das Lob der anderen ist zugleich die Aufforderung, Halls Übersetzung im Kontext der genannten Autoren zu verorten. Bevor Hall seine Widmung mit einer praeteritio der Details von Sir Thomas’ Freundschaft schließt, stellt er ein weiteres Mal sein eigenes poetisches und linguistisches Können in den Vordergrund. Da in seiner französischen Vorlage der Schiffskatalog aus dem zweiten Buch der ›Ilias‹ nicht übersetzt wurde, habe er, um die Lücke zu füllen, den lateinischen Text zugrunde gelegt und entsprechend übersetzt.19 Ähnlich gattungskonform ist auch George Chapmans Widmung an Robert Devereux, Earl of Essex, in seiner Übersetzung der ersten sieben Bücher der ›Ilias‹ von 1598. Chapman beginnt mit einem Exkurs über »the Crowne of the soule« und die Fakultäten der Seele, die durch Homers unübertroffenes Werk geadelt werden, bevor er den Earl direkt anspricht:

Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/view/article/11943, letzter Zugriff 7. Sept. 2016]. 17 Siehe fol. 1 in: Ten Books of Homers Iliades, translated out of French, by Arthur Hall Esquire. London: Ralphe Newberie 1581 (STC 2nd ed. 13631). 18 Ebd., sig. A.iii.v. 19 Siehe ebd., fols. 33–44. Dass die Übersetzung an dieser Stelle aus dem Lateinischen erfolgte, wird auf fol. 33 mit einem separaten Titel angekündigt.

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To you then (most abundant President of true Noblesse) in whose manifest actions all these sacred obiects are diuinely pursude, I most humblie and affectionatlie consecrate this President of all learning, vertue, valour, honor & societie […]20

Homers Epos als Ausdruck des Heroischen durch seine Tugend, Kraft und Ehre ist auch zentrales Thema in Chapmans Vorrede an den Leser, die wie folgt eingeleitet wird: »I suppose you to be no meare reader, since you intend to reade Homer : and therefore wish I may walke free from their common obiections, that can onelie reade«.21 Der Leser Homers, der mehr als ein gewöhnlicher Leser ist, wird durch seine Lektüre geadelt, die wiederum erst durch Chapman ermöglicht wird. Das Lob des Lesers scheint damit direkt auf den Übersetzer zurück, der Homers Text auf English zugänglich macht, und untermauert zugleich den didaktischen Anspruch des Werks. Thomas Twyne, Mit-Übersetzer der 1596 veröffentlichten Gesamtausgabe der ›Aeneis‹ und Maffeo Vegios Supplement, ist prosaischer : In seiner Widmung an Robert Sackville, Earl of Dorset, dankt er seinem Gönner wortreich, aber ohne ins Detail zu gehen, für dessen »manifolde curtesies«.22 Dem Leser teilt Twyne mit, dass er entgegen der Tendenz anderer Autoren, denen es aus diversen Gründen schwerfalle, ihre Arbeiten zu beenden, seine Übersetzung zügig fertigstellen konnte, auch deshalb, weil ihm gerade viel Zeit zur Verfügung stehe: But peraduenture either they lack good will, which I assure you aboundeth in me for my simple skill, or else leasure, whereof I haue more at this present then I would gladly wish […] But I, who haue bin brought vp in the Vniuersitie, and meetly trained in other places, haue learned it to be good maners to bee doing with that which is before me.23

Auch Twyne, obgleich er sich hier in positivem Gegensatz zu nicht näher genannten anderen Autoren positioniert und mit größerem Selbstbewusstsein auftritt, spielt seine poetische Leistung herunter : »I trust I haue attained to the Poets meaning, though my verse be far from finenesse.«24 Die genannten Prätexte mögen ausreichen, um die Konventionen der Textsorte in ihrer ernsthaften Applikation im Kontext von Übersetzungen antiker Autoren zu illustrieren. Einen besonderen Status haben eine Reihe von Vorreden 20 Sig. A4.r, in: Seaven Bookes of the Iliades of Homere, Prince of Poets, Translated according to the Greeke, in iudgement of his best Commentaries by George Chapman Gent. London: Iohn Windet 1598 (STC 2nd ed. 13632). 21 Ebd., sig. [A6.r]. 22 Sig. a.ii.r. in: The Thirteene Bookes of Aeneidos. The first twelue being the worke of the diuine Poet Virgil Maro, and the thirteenth, the supplement of Maphaeus Vegius. Translated into English Verse to the first third part of the tenth Booke, by Thomas Phaer Esquire: and the residue finished, and now newly let forth for the delight of such as are studious in Poetrie: By Thomas Twyne, Doctor in Phisicke. London: Thomas Creede 1596 (STC 2nd ed. 24803). 23 Ebd., sig. [a.iii.v]. 24 Ebd.

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und Widmungen, in denen die Autoren mit den Konventionen der paratextuellen Rahmung spielen bzw. diese untergraben oder brechen. Wie bereits erwähnt, sind diese parodistischen Elemente Genres vorangestellt, die zum einen nicht dem Anspruch der gravitas und Erhabenheit eines Epos gerecht werden können und wollen, die aber zum anderen ihrerseits nach einer Rechtfertigung verlangen, da ihr Inhalt oder ihre Form potenziell problematisch (anstößig, ungeeignet für bestimmte Lesergruppen, zu wenig didaktisch usw.) sind. Einen prominenten Platz in dieser Gruppe nehmen die antiken Romane bzw. deren Übersetzungen ein: Achilles Statius’ ›Leucippe und Kleitophon‹ in der Übersetzung von William Burton (1597), Apuleius’ ›Metamorphosen‹, übersetzt von William Adlington (1566), sowie Thomas Underdownes Übersetzung von Heliodors ›Aithiopika‹ (1569).25

Spiel und Liebe: Vorreden in Übersetzungen antiker Romane Von den genannten Werken chronologisch das erste ist Adlingtons ApuleiusÜbersetzung.26 Über William Adlington ist praktisch nichts bekannt, auch nicht über die Details seiner Beziehung zu Thomas Radcliffe, Earl of Sussex, dem das Werk gewidmet ist. Radcliffe, Lord Deputy Irlands, trat in den 1560er Jahren als ein vehementer Gegner der Pläne, Königin Elizabeth mit Robert Dudley, Earl of Leicester und Chancellor of Oxford, zu verheiraten, auf.27 Im Gegensatz zu epischen Texten oder den ›Metamorphosen‹ Ovids, deren moralischer Gehalt seit dem Mittelalter und der ›Ovide moralis8‹-Tradition unproblematisch war, 25 Die Widmungsvorrede an Sir William Hatton in Angell Days Übersetzung respektive Bearbeitung von Longus’ bukolischem Roman ›Daphnis und Chloe‹ von 1587 gehört nicht in diese Gruppe. Angell Day, gelernter Schreibwarenhändler, verfasste außerdem ein äußerst erfolgreiches Handbuch über das Briefeschreiben, ›The English Secretorie‹ (1586, 1595, 1599, 1607, 1614). Thema sind die diversen Genera des Briefes, von beschreibenden und deliberativen Briefen bis zu Gerichtsbriefen und Liebesbriefen, stets mit ausführlichen Beispielen. Die Widmung wird dort jedoch nicht als eigenes Genus aufgeführt. 26 The .xi. Bookes of the Golden Asse, Conteininge the Metamorphosie of Lucius Apuleius, enterlaced with sondrie pleasaunt and delectable Tales, with an excellent Narration of the Mariage of Cupide and Psiches, set out in the .iiii. v. and vj. Bookes. Translated out of Latine into Englishe by William Adlington. London: Henry Wykes 1566 (STC 2nd ed. 718). Weitere Ausgaben folgten 1571, 1582, 1596 und 1639. Zur Apuleius-Rezeption in der Frühen Neuzeit siehe insbesondere Robert H. F. Carver: The Protean Ass. The ›Metamorphoses‹ of Apuleius from Antiquity to the Renaissance, Oxford 2007 sowie Julia Haig Gaisser : The Fortunes of Apuleius and the ›Golden Ass‹. A Study in Transmission and Reception, Princeton 2008. Die Rezeption im deutschen Sprachraum behandelt Franziska Küenzlen: Verwandlungen eines Esels: Apuleius’ ›Metamorphoses‹ im frühen 16. Jahrhundert, Heidelberg 2005. 27 Siehe Wallace T. MacCaffrey : Radcliffe, Thomas, Third Earl of Sussex (1526/7–1583), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/view/ article/22993, letzter Zugriff 7. Sept. 2016].

Parodie in den Vorreden englischer Übersetzungen antiker Romane

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sieht sich Adlington gezwungen, seine Übersetzung der zum Teil derb-witzigen Verwandlungsgeschichte des Erzählers Lucius in einen Esel zu rechtfertigen, da das Werk »a meere iest and fable« zu sein scheine, »worthy to be laughed at«, und daher auch negativ auf den Autor abfärben könne, der sich mit solchen Albernheiten abgibt (»to occupy my selfe in such friuolous and trifling toyes«).28 In der Vorrede an den Leser unternimmt Adlington daher den Versuch, den ›Goldenen Esel‹ christlich-allegorisch auszulegen. Auf eine kurze Zusammenfassung des Plots folgt die Deutung, die noch expliziert und mit Beispielen untermauert wird: Verely under the wrappe of this transformation, is taxed the life of mortall men, when as we suffer our mindes so to be drowned in the sensuall lustes of the fleshe, and the beastly pleasure thereof: (which aptly may be called, the violent confection of witches) that we leese wholy the use of reason and vertue (which properly should be in man) & play the partes of bruite and sauage beastes.29

Die Lektüre dient demnach der moralischen Erbauung, lehrt die Erzählung von Lucius’ Verwandlung doch die Hinwendung von den animalischen Instinkten hin zur vernunftbasierten Selbsterkenntnis. Dass Adlington die allegorische Deutung für sein Publikum sicherstellen möchte, ist offensichtlich. Dennoch gibt es Anzeichen, dass Adlington sich weniger aus echter Überzeugung den Moralisierungen des ›Goldenen Esels‹ anschließt, als dass er sich dem Druck gesellschaftlicher Erwartungen beugt. Zum einen ist seine allegorische Erklärung vergleichsweise oberflächlich, gerade auch, wenn man sein Vorwort mit denen anderer Apuleius-Übersetzungen oder der Vorrede Goldings in dessen Ovid-Übersetzung vergleicht; auch die Erzählung von Amor bzw. Cupid und Psyche wird außer auf der Titelseite nicht erwähnt, obgleich sich ihre erbauende Intention, vor allem im Licht neuplatonischer Interpretation, aufdrängt.30 Adlington beendet sein Vorwort ›To the Reader‹ mit den Worten: »But how so euer it be (gentle Reader) I pray thee take it in good part, considering that for thee I haue taken this paine, to the intent, that thou maist, Reade the same with pleasure.«31 Hier steht allein die Freude oder sogar die Lust an der Lektüre im Mittelpunkt – vielleicht, wie Supriya Chaudhuri vorschlägt, tatsächlich eine Anspielung auf Voluptas, die Tochter von Amor und Psyche.32 In jedem Falle wird das horazische Diktum vom Nutzen und Unter28 Adlington [Anm. 26], sig. A.ii.r.–A.ii.v. 29 Ebd., sig. A.ii.v.–A.iii.r. Chaudhuri hat gezeigt, dass Adlingtons christliche Deutung Ähnlichkeiten zu Philip Beroaldus’ Kommentar zu Apuleius (›Asinus Aureus‹, 1500) aufweist. Siehe Supriya Chaudhuri: Lucius, Thou Art Translated. Adlington’s Apuleius, in: Renaissance Studies 22.5 (2008), S. 696–704, hier S. 689–691. 30 Siehe Chaudhuri [Anm. 29], S. 673f.; Carver [Anm. 26], S. 324–326. 31 Adlington [Anm. 26], sig. A.iii.v. 32 Chaudhuri [Anm. 29], S. 692.

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haltungswert der Dichtung (hier der Prosa) zugunsten der Unterhaltung ausgelegt. Zugleich spielt Adlington auf Apuleius’ Vorwort an: »Reade the same with pleasure« nimmt Apuleius’ Aufforderung in seinem Vorwort lector intende: laetaberis (»Leser, pass auf: Du wirst dein Vergnügen haben«) vorweg.33 Der unterschwellige Unernst, der in der Vorrede an den Leser durchscheint, tritt noch deutlicher in Adlingtons Widmungsvorrede zutage. Chaudhuri argumentiert, dass die Vorrede »a slight edge of unease«34 angesichts des potenziell problematischen Stoffes transportiert. Dies ist durchaus möglich, aber der Aufbau und die Argumentationsstruktur der Widmung schließen auch eine parodistische Intention nicht aus. Nach der wortreichen Anrede des Adressaten führt Adlington aus, dass er am Inhalt der ›Metamorphosen‹ durchaus Gefallen hatte: »beynge moued thereunto by the right pleasant pastime, and delectable matter therein«.35 Gleich zweimal wird hier das Erfreuliche respektive der Unterhaltungswert des Stoffes betont, bevor der Autor von seinen Überlegungen berichtet, wem er nun das Werk widmen solle: I eftsones consulted with my selfe, to whome I might best offer so pleasant and worthy a worke, deuiled by the Author, it beyng now barbarously and simply framed in our Englishe tongue. And after longe deliberation had, your Honorable Lordshippe came to my remembrance. […] But when I againe remembred the lestinge and sportfull matter of the booke unfitte to be offred to any man of grauitie and wisedome, I was wholly determined to make no Epistle dedicatory at all[.]36

Erst auf Drängen seiner Freunde habe Adlington sich nun entschlossen, das Werk Radcliffe zu widmen, mit dem Hinweis, dass auch heitere und leichte Themen eine tugendhafte Moral nicht ausschließen. Dass sich Radcliffe offensichtlich nicht sofort als Gönner aufdrängte, ist bemerkenswert, ebenso wie die Feststellung Adlingtons, dass viele antike Texte in ihrer allegorischen Relevanz nicht nur für Kinder, sondern auch für Männer von Bedeutung seien. All dies lässt Radcliffe eher in einem zweifelhaften, durchaus komischen Licht erscheinen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die Auswahl der allesamt abschreckenden Beispiele antiker Erzählungen, die Adlington anführt: Aktaeon, Tantalus, Atreus, Thyestes, Tereus und Prokne, Ikarus, Midas und Phaeton. Lediglich die Dioskuren werden als positive Vorbilder genannt. Den Schluss, den Adlington daraus für Apuleius zieht, ist ein non sequitur : »And in this fable of feigned ieste of Lucius Apuleius is comprehended a figure of mans life, minist33 Das Ende ist damit noch deutlicher an Apuleius’ Formulierung angelehnt als die umschreibenden Worte in der Einleitung der Leser-Vorrede (»there might be some freshe and pleasante matter, to recreate the mindes of the Readers withal«; sig. A.ii.r), die Chaudhuri [Anm. 29] anführt. 34 Chaudhuri [Anm. 29], S. 672. 35 Adlington [Anm. 26], sig. *[i].r. 36 Ebd., sig. *[i].v.

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ringe moste sweete and delectable matter, to such as shalbe desirous to Reade the same.«37 Die Charakterisierung trifft auf keinen der zuvor genannten antiken Mythen zu, die kaum »sweete and delectable« sind. Adlington spielt mit den Erwartungen an eine Widmungsvorrede und bricht ihre Konventionen, indem er den moralischen Anspruch an seinen bzw. Apuleius’ Stoff untergräbt und statt der zu erwartenden erbaulichen die unterhaltende Intention in den Vordergrund rückt. Es scheint nicht abwegig, dass Adlington sich bewusst als alter Lucius inszeniert, der in vorgeschützter Ernsthaftigkeit seine Leser – und seinen Gönner – unterhält und auf die ›Metamorphosen‹ einstimmt. Eine weitere Roman-Übersetzung in dieser Kategorie ist William Burtons ›The most delectable and pleasaunt History of Clitiphon and Leucippe‹ (1597).38 William Burton, der ältere Bruder Robert Burtons, der ›The Anatomy of Melancholy‹ verfasste, ist vor allem für seine Verdienste als Antiquar und Vorreiter der Regionalgeschichte bekannt.39 Burtons Übersetzung von Achilles Tatius’ Roman ist Henry Wriothesley, Earl of Southampton gewidmet, einem äußerst einflussreichen literarischen Gönner. Shakespeare widmete ihm 1593 sein Gedicht ›Venus und Adonis‹. Nur von Königin Elizabeth sind mehr zeitgenössische Portraits überliefert.40 Burtons Widmung zeugt nicht von einem besonders engen Verhältnis zu Wriothesley : Der Ton ist ehrerbietend distanziert und es gibt keinen Hinweis auf eine persönliche Beziehung. Dennoch finden sich auch hier komisch-verzerrende Elemente. Mehr als die Hälfte des Widmungstextes nimmt nämlich eine Anekdote aus Lukian ein: wie Diogenes seine Tonne über den Marktplatz rollte, um nicht untätig zu erscheinen, während die gesamte Stadt damit beschäftigt war, die

37 Siehe ebd., sig. *[i].v.–*ii.r. 38 Auf der Titelseite sind nur die Initialen W. B. ausgewiesen. Der vollständige Titel lautet: The most delectable and pleasaunt History of Clitiphon and Leucippe: Written first in Greeke, by Achilles Statius, an Alexandrian: and now newly translated into English, by W. B. Whereunto is also annexed the argument of euery Booke, in the beginning of the same, for the better vnderstanding of the Historie. London: Thomas Creede for William Mattes 1597 (STC 2nd ed. 90). Nach seiner Publikation scheint das Werk schnell in Vergessenheit geraten zu sein; siehe Frederick A. Todd: Some Ancient Novels. ›Leucippe and Clitophon‹, ›Daphnis and Chloe‹, the ›Satiricon‹, the ›Golden Asse‹, Oxford 1940, S. 12f. Anthony Hodges’ Übersetzung von 1638 galt lange als die erste in englischer Sprache (veröffentlicht anonym unter dem Titel The Loves of Clitophon and Levcippe. A most elegant History, written in Greeke by Achilles Tatius: And now Englished. Oxford: William Turner for Iohn Allam 1638 [STC 2nd ed. 91]). 39 Siehe Richard Cust: Burton, William (1575–1645), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/view/article/4141, letzter Zugriff 7. Sept. 2016]. 40 Siehe im Detail Park Honan: Wriothesley, Henry, Third Earl of Southampton (1573–1624), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/ view/article/30073, letzter Zugriff 7. Sept. 2016].

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Belagerung Korinths unter König Phillip vorzubereiten.41 Lukians ›Wie man Geschichte schreiben soll‹ war seit den Übersetzungen und Nachahmungen von Thomas Morus und Erasmus zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts in humanistischen Kreisen weithin bekannt.42 Rabelais verwendet dieselbe Episode umfangreich in seinem Vorwort zur 1546 erschienenen Fortsetzung der Erzählung von Gargantua und Pantagruel, ›Tiers Livre des faictz et dictz Heroiques du noble Pantagruel‹.43 Aufgrund der weiten Verbreitung der Anekdote ist eine bewusste Imitation Rabelais’ durch Burton unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen. Bei Ralph Robynson, der in seiner englischen Übersetzung von Thomas Morus’ ›Utopia‹ von 1551 ebenfalls die Anekdote verwendet, ist der Bezug zu Rabelais eindeutig, da er die listenförmigen Erweiterungen aus dem französischen Text übernimmt.44 Bei Burton fehlt der Rabelais’sche Exzess, aber auch er zieht den Vergleich zwischen sich und Diogenes: In like maner (right noble Lord) since the same hath hapned to me now, as it was in Diogines age, that amogst so many multitudes of writers, which eueryday doo publish and set foorth new workes, I alone might not be idle, I haue thought good with Diogenes to rowle my small Tub also[.]45

Sowohl die Lukian-Passage als auch deren Verwendung bei Rabelais und in der Morus-Übersetzung legen nahe, dass Burton sich bewusst in die Reihe der humanistischen Spielfreude einreiht. Wie bei Adlington steht auch bei Burton der Unterhaltungswert seiner Übersetzung im Mittelpunkt: »being a meane to beguile the time, and other exercises being past, to serue for recreation«.46 In der Vorrede an den Leser wird ein Nutzen zwar erwähnt, aber nicht expliziert: »the morall dooth yeelde unfained profit: whose copious eloquence, pleasant & delightful stile, I leaue to the gentle Readers to commend.«47 Es bleibt also dem Leser überlassen, aus der unterhaltsamen Lektüre eine Moral zu ziehen. Insge41 Lucian. With an English Translation by K. Kilburn, Bd. 6, hg. von A. M. Harmon [u. a.], Cambridge 1959, S. 4f. 42 Siehe beispielweise die gemeinsame Übersetzung von Morus und Erasmus: Luciani compluria opuscula ab Erasmo et Thoma Moro interpretibus traducta. Paris: o. Dr. 1506. 43 Paris o. Dr. 1546. Siehe Floyd Gray zur Signifikanz der Tonne, auch als strukturelles Element des Buches (Structure and Meaning in the Prologue to the ›Tiers Livre‹, in: L’Esprit Cr8ateur 3, [1963], S. 57–62). Siehe auch Edwin M. Duval: The Design of Rabelais’ ›Tiers livre de Pantagruel‹, Genf 1997 sowie Hugh Roberts: Dogs’ Tales. Representations of Ancient Cynicism in French Renaissance Texts, Amsterdam 2006. 44 A fruteful, and pleasaunt worke of the beste state of a publyque weale, and of the newe yle called Vtopia: written in Latine by Syr Thomas More knyght, and translated into Englyshe by Raphe Robynson Citizein and Goldsmythe of London, at the procurement, and earnest request of George Tadlowe Citezein & Haberdassher of the same Citie. London: [S. Mierdman for] Abraham Vele 1551 (STC 2nd ed. 18094), sig. ii.r–iii.r. 45 Burton [Anm. 38], sig. A.3.v. 46 Ebd. 47 Ebd., »To the Curteous Reader« [k. A.].

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samt ist die Vorrede an Wriothesely so anspielungsreich wie ludisch, da die topischen Elemente in der »Epistle Dedicatorie« – der Bescheidenheitsgestus und die förmliche Widmung – wenig ernsthaft erscheinen und den Angesprochenen viel mehr einladen, sich auf das Spielerische einzulassen und auch den antiken Roman in diesem Sinne zu lesen. Die Gattungskonventionen werden vordergründig zwar gewahrt, jedoch unterschwellig verzerrt, so dass die Widmungsvorrede weniger eine echte Widmung als ein Spielfeld für den Autor darstellt und als solches parodistische Züge trägt. Eine weitere, parodistische Elemente aufweisende Vorrede findet sich bei der einflussreichsten Übersetzung eines antiken Romans in englischer Sprache, Thomas Underdownes Heliodor-Übersetzung ›An Aethiopian Historie‹ von ca. 1569.48 Über Underdowne ist über seine Tätigkeit als Autor und Übersetzer hinaus wenig bekannt. Neben Heliodor übersetzte und kommentierte er Ovids ›Ibis‹ (›Ovid his Invective Against Ibis‹, 1569) und verfasste die lose auf Ovid basierende, in vierzehnsilbigen Versen gestaltete Erzählung ›The Excellent Historye of Theseus and Ariadne‹ (1566).49 Mit kleinen Verbesserungen wurde der englische Text der ›Aithiopika‹ 1577 und 1587 nochmals gedruckt und erschien bis 1622 in drei weiteren Ausgaben. Underdowne übersetzte dabei nicht direkt aus dem Griechischen, sondern verwendete die lateinische Übersetzung von Stanislaus Warschewiczki (Basel 1551). Die ›Aithiopika‹ hat eine Reihe von prominenten Autoren der Frühen Neuzeit, darunter Robert Greene, Philip Sidney, Edmund Spenser und William Shakespeare, maßgeblich beeinflusst; in 48 Der vollständige Titel lautet: An Aethiopian Historie written in Greeke by Heliodorus: very wittie and pleasaunt, Englished by Thomas Vnderdoune. With the Argumente of euery Booke, sette bifore the whole Woorke. London: Henry Wykes for Fraunces Coldocke o. J. (STC 2nd ed. 13041). 49 Siehe zu Underdownes Leben und Werk David Freeman: Underdowne, Thomas (fl. 1566–1577), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www. oxforddnb.com/view/article/27995, letzter Zugriff 7. Sept. 2016] sowie Fred Schurink: Underdowne, Thomas, in: The Encyclopedia of English Renaissance Literature A-F, Bd. 1, hg. von Alan Stewart/Garrett A. Sullivan, Malden 2012, S. 993f. Die vollständigen Titel der beiden Werke lauten: Ouid his inuectiue against Ibis. Translated into English Meeter, whereunto is added by the Translator, a short draught of all the stories and tales contayned therein, very pleasant to be read. London: Thomas East, & Henry Middleton 1569 (STC 2nd ed. 18949) sowie The Excellent Historye of Theseus and Ariadne. Wherein is declared her feruent loue to hym: and his Trayterous dealynge towarde her : Written in English Meeter in Commendacion of all good women: and to the Infamie of suche lyght Huswyues as Phedra the sister of Ariadne was: which fled away with Theseus her Sisters Husbande: as is declared in this History. By Thomas Vnderdowne. London: Rycharde Iohnes 1566 (STC 2nd ed. 24517). Die Vorrede zu der Bearbeitung des Theseus-Mythos ist eine Invektive gegen Frauen, an die sich eine bitterböse Ballade ›A Rule for Women to brynge up their Daughters‹ anschließt. Hier ist eine parodistische Motivation ebenfalls wahrscheinlich. Siehe auch Renaissance Tales of Desire. ›Hermaphroditus and Salmacis‹, ›Theseus and Ariadne‹, ›Ceyx and Alcione‹ and ›Orpheus his Journey to Hell‹, hg. von Sophie Chiari, Newcastle upon Tyne 2012, S. 87–114.

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der Rezeptionsgeschichte des Romans spielt Underdowne dabei eine wichtige Rolle.50 Die erste Ausgabe der Übersetzung ist dem Earl of Oxford, Edward de Vere, gewidmet, jenem illustren und streitbaren courtier an Königin Elizabeths Hof, der auch selbst als Dichter tätig war und in zahlreichen zeitgenössischen Widmungen erwähnt und gepriesen wird.51 Statt mit einer Preisung des Adressaten beginnt Underdowne mit einer ungewöhnlichen Aussage: Entgegen der Meinung, dass die besten Staatsmänner auch »in all manner of Sciences greate Artistes, and altogether Bookishe« sein sollten, vertritt Underdowne die Ansicht, sie sollten zwar nicht gerade »vnlettered, and flat idiots« sein, aber auch nicht übermäßig gebildet.52 Als Beispiel führt er die Griechen an, die zwar die Römer in Bezug auf ihre Gelehrsamkeit übertroffen hätten, ihnen aber im Kampf unterlegen waren, da die Römer durch ihre mittelmäßige Bildung letztlich mehr erreicht hätten. Underdowne schlägt vor: »I doo not denie, but that in many matters, I meane matters of learninge, a Nobleman ought to haue a sight: but to be to muche addicted that waye, I thinke is not good.«53 Bis zu diesem Punkt mag der Leser zweifeln, ob Underdownes Absage an das humanistische Bildungsideal ernst gemeint oder ironisch gebrochen zu verstehen ist.54 Die zweite Hälfte der Vorrede legt jedoch nahe, dass Underdowne die Parameter des Genres bewusst verzerrt und somit auch die Kritik an übermäßiger Gelehrsamkeit parodistisch zu lesen ist. An den Vergleich zwischen Griechen und Römern schließt Underdowne die eigentliche Widmung an de Vere an – die überraschenderweise offenlegt, dass dem Autor der Angesprochene persönlich nicht bekannt ist. Dennoch ist sich Underdowne sicher, dass sein Adressat aufgrund seiner Qualitäten an der Übersetzung seine Freude haben wird:

50 Siehe Samuel Wolff: The Greek Romances in Elizabethan Prose Fiction, New York 1902; Steve Mentz: Romance for Sale in Early Modern England. The Rise of Prose Fiction, Aldershot 2006, darin zu Heliodor insbesondere S. 47–72; Helen Moore: Romance, in: A New Companion to English Renaissance Literature and Culture, Bd. 1, hg. von Michael Hattaway, Malden 2010, S. 238–248. Siehe auch Jonathan Crewe: Believing the Impossible. ›Aethiopika‹ and Critical Romance, in: Modern Philology 106.4 (2009), S. 601–616. 51 Siehe Alan H. Nelson: Vere, Edward de, Seventeenth Earl of Oxford (1550–1604), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/view/article/ 28208, letzter Zugriff 7. Sept. 2016]. 52 Underdowne [Anm. 48], sig. ii.r. 53 Ebd., sig. ii.v. 54 Zur Ironie als literarischem Konzept siehe z. B. Booth [Anm. 5], und bes. Green [Anm. 4], mit der basalen Definition ebd., S. 4: »The simplest definition, occupying a traditional place in classical rhetoric, is to regard irony as a statement in which the real meaning is the opposite of the apparent meaning«.

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For such vertues be in your Honour, so hautie courage ioined with great skill, such sufficiency in learning, so good nature, and common sense, that in your Honour is, I thinke, expressed the right patterne of a Noble Gentelman, whiche in my head I haue conceiued. It nothinge did dismay me, or for that I was not knowen to your Honour, neither maye it seeme any rashe attempte for that cause. For suche is the force of vertue, that shee maketh vs to loue, not onely our owne Countrie men by sight vnknowen, but also Straungers, whiche by Lande & Sea be seuered from vs. Therefore I beseeche your Honour, fauourably to accepte this my small trauaile in translatinge Heliodorus, whome, if I haue so wel translated as he is woorthy, I am perswaded, that your Honour will like very well of.55

De Vere werden die Tugenden zugesprochen, die Underdowne zuvor mit den Römern assoziiert: »sufficiency in learning« sowie »common sense«. Mit anderen Worten: Underdowne »preist« de Vere, der zum Zeitpunkt der Widmung neunzehn Jahre alt ist, für seine mittelmäßige Bildung. Die Parodie gipfelt schließlich in den merkwürdig doppeldeutigen finalen Sätzen. Underdowne merkt an, dass Heliodors Roman zuvor weit mächtigeren Gönnern gewidmet wurde: »Sure I am that of other translatours he hath benne dedicated to mighty Kinges, and Princes«.56 Offensichtlich fällt de Vere nicht in diese Kategorie. Die Aussage »if opportunitie shall serue hereafter, there shall greater thinges appeare vnder your Honours name«57 mag entweder ein Versprechen von Seiten Underdownes implizieren, wonach er nicht ausschließen will, zu einem späteren Zeitpunkt de Vere ein anderes, heroischeres Werk, zu widmen, oder aber er prophezeit seinem Adressaten umständlich, dass dieser in der Zukunft noch Großes vollbringen könnte. Insgesamt wird Edward de Vere als wenig gebildeter Adliger, dessen Status weit hinter dem eines Prinzen oder Königs zurückfällt, mit einer zweifelhaften Zukunft dargestellt – die gesamte Vorrede ist ein besonderes ›Lob der Dummheit‹, das mit humanistischen Ansprüchen spielt und diese, indem Underdowne sie ablehnt und untergräbt, letztlich affirmiert. Ein weiteres ungewöhnliches Element in Underdownes Widmung ist das Fehlen einer Rechtfertigung oder Begründung des moralischen Gehalts der Übersetzung. Offensichtlich war dies problematisch, denn in die Ausgabe von 1577 wird als Reaktion auf die Kritik zusätzlich zu der Widmungsvorrede eine weitere Vorrede »To the gentle reader« veröffentlicht. Darin macht Underdowne mehrfach deutlich, dass er auf äußeren Druck reagiert, wenn er die Wahl seines in der ersten Ausgabe unkommentiert gelassenen Themas rechtfertigt: »I am at thy hand forced, to craue pardon of my boldnesse«; »For this cause haue I (thoughe unwilling) viewed it againe«.58 Underdowne ist sich der Kritik bewusst: 55 56 57 58

Ebd. Ebd., sig. [iii].r. Ebd. Ebd., London 1577, sig. iii.r.

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»it were meeter to publish notable examples of godly christian life, then the most honest (as I take this to be) historie of loue.«59 Underdowne verteidigt seine Stoffwahl: Englische und französische romances, darunter die Artus-Sage, seien deutlich brutaler. Er bittet Gott, dass die Lektüre seiner Übersetzung »profitable« sei und setzt hinzu: »for I feare not, but that it wilbe pleasaunt to many«.60 Der Unterhaltungswert der Erzählung steht nicht in Frage. Dass Underdowne weniger auf den Nutzen denn auf das Vergnügen seiner Werke abzielt, bezeugt auch die Vorrede an den Leser in seiner ›Ibis‹-Übersetzung. Dort heißt es zum einen über die Kommentare, die Underdowne dem Text beigefügt hat: »the reading of it, no doubte, wylbe very pleasant, & perhaps not without profit.«61 Zum anderen beschließt er die Vorrede mit der Aufforderung an den Leser : »thinke that [so litle a boke] commeth from one, who hath inough if he please thee«.62 Vordergründig mag Underdowne mit seiner Vorrede zu der HeliodorÜbersetzung dem Wunsch seiner Kritiker Genüge tun, indem er zumindest seinen Stoff zum Thema macht und dessen Nutzen erbetet. Die Vorrede an den Leser enthält jedoch keine christlich-moralische oder allegorische Erläuterung, sondern bekräftigt ihren Status als Liebesgeschichte, die vor allem eines ist: gute Unterhaltung. Bereits zwei Jahre vor Underdownes Übersetzung war ein Teil der ›Aithiopika‹ ins Englische übersetzt worden, und zwar von James Sanford. Bei Sanford nimmt im Gegensatz zu Underdowne der moralisch-christliche Geltungsanspruch des Textes einen deutlich größeren Stellenwert ein. Sanford, über den über seine Tätigkeit als Übersetzer mehrerer antiker Texte hinaus ebenfalls wenig bekannt ist, veröffentlichte ›The Amorous and Tragicall Tales of Plvtarch wherevnto is annexed the Hystorie of Cariclea & Theagenes, and the sayings of the Greeke Philosophers‹ im Jahre 1567.63 Das Buch, gewidmet Hugh Paulet, steht unter dem thematischen Aspekt der Liebe in ihren verschiedenen Manifestationen. Heliodors viertes Buch, das die Hochzeit von Chariklea und Theagenes beinhaltet, ist als positives Beispiel für die Ehe inkludiert. Sanford betont die wechselseitige Liebe der beiden Protagonisten sowie ihre Treueschwüre und voreheliche Enthaltsamkeit.64 In den Vorreden wird Heliodor allerdings nicht 59 60 61 62 63

Ebd. Ebd., London 1577, sig. iii.v. Underdowne, Ibis [Anm. 49], sig. A.iiii.r. Ebd., sig. [A.vi].v. London: H. Bynneman for Leonard Maylard 1567 (STC 2nd ed. 20072). Siehe zu Sanfords Biographie und seinen anderen Werken Vivian Salmon: Sanford, James (fl. 1567–1582), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/view/ article/24637, letzter Zugriff 7. Sept. 2016]. 64 Siehe zur Darstellung der Ehe in Sanfords Übersetzung Darlene Ciraulo: Tales of Erotic Suffering. Romance in Sidney and Shakespeare, Ph.D. Dissertation, The University of Georgia, Athens 2003, S. 35–37.

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explizit erwähnt. Stattdessen ist Sanford bemüht, sein Thema zu rechtfertigen respektive in einen moralisch-didaktischen Rahmen zu stellen. Die Intention seines Werks ist demnach die moralisch-sittliche Erbauung im Umgang mit der Liebe. Sanford ist eher unfreiwillig komisch als explizit oder bewusst parodistisch: Seine Widmung beginnt mit einer Referenz auf die Drakonischen Gesetze und deren Brutalität, so dass – wenn auch der Kern der Ausführungen auf die Gefahren durch übermäßige Leidenschaft (»lawlesse lust«) abzielt, derentwegen Drakon evoziert wird65 – man unwillkürlich den Adressaten in Beziehung zu dem antiken Gesetzesgeber setzt. Zudem ist auffällig, dass der Angesprochene außer im Titel und im letzten Satz der Widmungsvorrede nicht erwähnt wird.66 Es fehlen Dankes- oder Lobesworte ebenso wie Hinweise, die Rückschlüsse auf eine persönliche Beziehung zwischen Sanford und Paulet zulassen. Ob das Werk im Kontext von Paulets zweiter Heirat im Jahre 1560 steht (Paulet war von der Mutter seiner drei Kinder verwitwet), ist unklar ; das Thema ist jedenfalls passend.67 Sanford erwähnt die Überlieferung, wonach Lukrez von seiner Frau im Wahn umgebracht wurde, und verweist auf viele ähnliche Berichte, setzt aber dagegen: »In stead of this wicked meanes we ought to use gentle and midle manners, louing them which loue us.«68 Auf weitere, positive Beispiele folgt die Einsicht: »Gentle manners is the true charmed drynk whereby the woman ought to win the husband.«69

Antike Stoffe in der Frühen Neuzeit: Affirmation und Spiel Auch Übersetzungen anderer antiker Texte weisen parodistische Elemente in ihren Vorreden auf. Ein besonderer Fall ist die Vorrede, die Christopher Marlowes posthum veröffentlichter Übersetzung des ersten Buches von Lucans Epos ›Pharsalia‹ vorangestellt ist: Thomas Thorpe, der 1609 Shakespeares Sonette publizieren sollte und mit Marlowes unvollendeter Übersetzung seine Karriere als Verleger begann, widmet das Werk seinem Freund Edward Blount in Erinnerung an den 1593 verstorbenen Marlowe. Blount, ebenfalls späterer

65 Sanford [Anm. 63], sig. A.ij. 66 Sanford [Anm. 63], sig. A.ii.r. Siehe die Anrede »To the right worshipful Sir Hugh Pawlet Knight, Iames Sanforde wisheth long health, with increase of all prosperitie« (ebd.) und den finalen Satz: »Thus I leaue to trouble your worship, beseching almighty God to preserue you and all yours in health and prosperitie« (sig. A.iiii.r). 67 Siehe C. S. L. Davies: Paulet, Sir Hugh (b. before 1510, d. 1573), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/view/article/21619, letzter Zugriff 7. Sept. 2016]. 68 Sanford [Anm. 63], sig. A.iii.v. 69 Ebd.

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Shakespeare-Verleger, hatte Thorpe das Manuskript überlassen.70 Die Widmung ist schon deshalb bemerkenswert, weil Blount weder dem Adel entstammt noch ein Gönner oder Förderer im Sinne des Patronatssystems ist. Thorpes Ton ist familiär und heiter : »Blount: I purpose to be blunt with you, & out of my dulnesse to encounter you with a Dedication in the memory of that pure Element all wit Chr. Marlow; whose ghoast or Genius is to be seene walke the Churchyard in (at the least) three or foure sheets.«71 Marlowes Geist oder Genius, fährt Thorpe fort, sei die vorliegende Übersetzung, die Blount seinem Freund überlassen hat. Untypisch für eine Widmungsvorrede ist zudem der saloppe Stil eines imaginierten Dialogs: Thorpe stellt sich vor, dass Blount angesichts des Gespensts auf dem Friedhof »humorously frantique« werde und fügt hinzu: »Well, least you should, let mee tell you.«72 Thorpe gibt Blount eine Reihe von ›Ratschlägen‹, wie er sich in seiner neuen Rolle als Patron gehaben solle. Diese kulminieren schließlich in einer Freundschaftsbekundung: Thorpe fordert nichts ein außer Blounts Liebe und – nicht ganz uneigennützig – die weitere Zusammenarbeit: »One speciall vertue in our Patrons of these daies I haue promist my selfe you shall fit excellently, which is to giue nothing; Yes, thy loue I will challenge as my peculiar Obiect both in this, and (I hope) manie more succeeding offices[.]«73 Eine Kuriosität ist Richard Hattons Übersetzung des pseudo-ovidianischen Gedicht ›Nux‹ (›Der Walnussbaum‹):74 Das Werk ist Hattons Mutter, Lady Mary Hatton, gewidmet und sorgfältig um die Metapher der ›Umpflanzung‹ angelegt. Der Autor habe als »poore planter« Ovids Baum aus seinem heimatlichen Boden

70 Der Titel lautet: Lucans first booke translated line for line by Chr. Marlow. London: P. Short 1600 (STC 2nd ed. 16883.5). Siehe zu Marlowe Charles Nicholl: Marlowe, Christopher (bap. 1564, d. 1593), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www. oxforddnb.com/view/article/18079, letzter Zugriff 7. Sept. 2016] sowie Charles Nicholl: The Reckoning. The Murder of Christopher Marlowe, Chicago 1992 und A. A. D. Wraight/Virginia F. Stern: In Search of Christopher Marlowe, London 1965. Siehe zu Marlowe und Blount mit weiterführender Literatur David Kathman: Thorpe, Thomas (1571/2–1625?), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/view/article/ 27385, letzter Zugriff 7. Sept. 2016]; Gary Taylor: Blount, Edward (bap. 1562, d. in or before 1632), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb. com/view/article/2686, letzter Zugriff 7. Sept. 2016]. Zu Marlowes Übersetzung siehe Roma Gill: Marlowe, Lucan, and Sulpitius, in: Review of English Studies 24.96 (1973), S. 401–413. 71 Marlowe [Anm. 70], sig. A.ii.r. 72 Ebd. 73 Ebd., sig. A.ii.v. 74 Ouid’s Walnut-Tree transplanted. London: [W. Stansby] for Robert Milbourne 1627 (STC 2nd ed. 18973). Der Vorname ist Richard, nicht Robert (siehe Christopher Martin: Translating Ovid, in: A Companion to Ovid, Blackwell Companions to the Ancient World, hg. von Peter E. Knox, Malden 2009, S. 469–484).

Parodie in den Vorreden englischer Übersetzungen antiker Romane

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in Italien nach England verpflanzt.75 Der Baum sei deutlich standhafter und widerstandsfähiger als »the okes of Hauering Parke«, die Eichen in einem Park im östlichen London.76 Angesichts des kalten englischen Klimas befürchtet Hatton »by reason of the vnskilfulnesse of the gardner«, dass die lateinische Pflanze Schaden nehmen werde.77 Seiner Mutter wünscht der Übersetzer, dass der Baum ihr gefalle und nütze: »in hope that you will vouchsafe to look vpon this tree, set in our fields at home, on purpose for your owne view: though you are like to finde very little fruit vpon it worthie your tasting«.78 Dass es durchaus gelingen kann, lateinische oder griechische literarische ›Gewächse‹ in England zu beheimaten, zeigt der Erfolg der Übersetzungen von Adlington, Burton oder Underdowne. Das vorgeblich Ungeschliffene der Übersetzungen in der englischen Sprache ist stets Thema und wird apologetisch den Werken vorangestellt. Nichtsdestotrotz zeugen die Vorreden aller genannten Übersetzungen von dem humanistischen Anspruch, den die Autoren an sich und an ihre Texte stellen, selbst wenn sie ihn – wie Underdowne – explizit untergraben. Dass gerade antikes Material von parodistischen Vorreden begleitet wird, auch wenn die parodistischen Elemente im Detail und in ihrer Explizitheit divergieren, ist wohl kaum ein Zufall. Die stoffliche Homogenität legt nahe, dass die Autoren, gerade weil sie das potenziell prekäre antike Material für ihr Publikum akkommodieren und dieses Material selbst keinen Raum für Parodie oder komische Verkehrung bietet, ihre ludischen Explorationen in die Prätexte verlagern. In jedem Fall wird deutlich, dass parodistisches Schreiben praktiziert wurde. Für den deutschen Sprachraum ist argumentiert worden, dass es vor der Aufklärung einen parodistischen Impuls praktisch nicht gab, da die Affirmation antiker Texte maßgeblich war. Dagegen wendet sich Robert Seidel, der unter Hinzuziehung eines erweiterten Literaturbegriffs zeigt, dass das Instrument der Parodie durchaus angewendet wurde.79 Wenn man davon ausgeht, dass im nachreformatorischen Europa im Kontext des Humanismus und der Verbreitung des Buchdrucks literarische Artikulationsformen in weiten Kreisen bekannt waren, ist es kaum verwunderlich, dass auch in England parodistische Elemente – wie wir gesehen haben, mit einem stark ludischen Anspruch – verbreitet waren.80 Die englischen Beispiele zeigen, dass sich Antike-Affirmation 75 Hatton [Anm. 74], sig. A3.r–A3.v. Die Bezeichnung »poore planter« beschließt die Widmungsvorrede; siehe [A6].r. 76 Ebd., sig. A3.v. 77 Ebd., sig. A4.v. 78 Ebd., sig. A5.v. 79 Vgl. Robert Seidel: ›Parodie‹ in der Frühen Neuzeit – Überlegungen zu Verbreitung und Funktion eines intertextuellen Phänomens zwischen Humanismus und Aufklärung, in: Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen 27 (2003), S. 112–134. 80 Siehe zum Spielerischen in Prätexten Johannes Klaus Kipf: Auctor ludens. Der Topos des spielerischen Schreibens in poetologischen Paratexten unterhaltender Literatur im Re-

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und ironisch-parodistische Verkehrung keineswegs ausschließen, sondern sich ergänzen und letztlich den Status des Autors und seines Geltungsanspruchs als Übersetzer und Schreibender stärken. Dabei propagieren beinahe alle der behandelten Autoren eine implizite Poetik des Vergnügens – die antiken Romane sollen weniger nützen als ihre Leser unterhalten. Abschließend möchte ich auf einen parodistischen Paratext par excellence verweisen, auch wenn dieser nicht einem antiken Werk vorangestellt ist: Thomas Urquharts Vorrede zu seinem 1653 in London erschienenen Werk ›Logopandecteision, or an Introduction to the Vniversal Langvage‹. Darin führt Urquhart die Vorrede ad absurdum. Inhalt des oftmals unernsten und im Detail übertriebenen Werks ist eine neue Sprache, die Urquhart zu entwickeln sucht. Damit greift der Autor sein Interesse an spielerischer Absurdität auf, das er bereits in ›Ekskybalauron: Or, The Discovey of A most exquisite Jewel‹ (1652) zur Schau stellte und das auch in seinen berühmten Rabelais-Übersetzungen zum Tragen kommt.81 Die dem ›Logopandecteision‹ vorangestellte Widmung ist »To Nobody«:82 Most Honourable, My non supponent Lord, and Soveraign master of contradictions in adjected terms, that unto you I have presumed to tender the dedicacie of this introduction, will not seem strange to those, that know how your concurrence did further me to the accomplishment of that new Language.83

Am Ende verkehrt Urquhart seine ironische Verzerrung ein weiteres Mal, indem er verkündet, sich nun von seinem Adressaten abwenden zu müssen, um sich dessen Feinden – everybody und somebody – zuzuwenden: [I must needs promise] to approve my self your faithless, implacable and wicked enemie; and consequently, to your contrary opposite (every body) upright, true, and

naissance-Humanismus und in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit, in: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Aspekte, hg. von Thomas Anz/ Heinrich Kaulen, Berlin 2009, S. 209–229. 81 Siehe R. D. S. Jack: Urquhart, Sir Thomas, of Cromarty (1611–1660), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com /view/article/28019, letzter Zugriff 7. Sept. 2016]. Siehe auch Nicholas McDowell: Urquhart’s Rabelais. Translation, Patronage, and Cultural Politics, in: English Literary Renaissance 35 (2005), S. 273–303; Michael Spiller : Pioneers of Prose. Sir Thomas Urquhart and Sir George Mackenzie, in: Literature of the North, hg. von David Hewitt/Michael Spiller, Aberdeen 1983, S. 26–41; Robert E. Stillman: In Quest of the Universal Language. Romance and the History of an Idea, in: Language Problems & Language Planning 263 (2002), S. 299–313. 82 Zum »Niemand« in der Literatur allg. siehe Hannes Fricke: »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe«. Über den Niemand in der Literatur, Göttingen 1998. 83 Thomas Urquhart: Logopandecteision, or an Introduction to the Vniversal Langvage (London 1653), sig. A2.r.

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honest: and to your contradictorie foe (some body) an affectionate, trustie, stedfast, and unalterable both Friend, and Servant.84

Der Autor schreibt nicht länger an niemanden: Das eigentliche Werk beginnt mit der Wendung an jedermann – und damit an das Publikum. Urquhart parodiert zwar die Konventionen einer Vorrede, zeigt aber auf, was jenseits der Abhängigkeit des Autors von seinen Gönnern die Realität des literarischen Schaffens ist bzw. sein sollte: Die solitäre literarische Okkupation, von niemandem abhängig außer vom Autor selbst, wird öffentlich durch die Publikation und damit zugänglich für einen jeden Leser. Urquhart ist seiner Zeit voraus. Indem er der Vorrede ihren Status der Abhängigkeit nimmt und die Autorität des Textes ganz in die Hände des Autors legt, wird der Paratext zur Makulatur. Seine Vorgänger in der parodistischen Vorrede – Adlington, Burton, Underdowne, aber auch Thorpe und Hatton – haben mit ihren spielerischen Verkehrungen der Gattungskonventionen den Weg bereitet und auf scheinbar nebensächlichem Terrain ihr Selbstverständnis als englischsprachig schreibende, in humanistischen Traditionen verankerte Autoren erprobt.

84 Ebd., sig. [A3].v.